Diskursstrategien in der interkulturellen Kommunikation: Analysen deutsch-chinesischer Gespräche 9783110953459, 9783484302860

Die Buchreihe Linguistische Arbeiten hat mit über 500 Bänden zur linguistischen Theoriebildung der letzten Jahrzehnte in

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German Pages 334 [336] Year 1993

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Table of contents :
Einleitung
Gegenstand und Ziel der Arbeit
1. Interkulturelle Kommunikation: Forschungsgeschichte und zentrale Fragestellungen
1.1. Motive für die Erforschung interkultureller Kommunikationsprozesse
1.2. Ansätze zur Erforschung interkultureller Kommunikation
1.3. Zum Kulturbegriff in der interkulturellen Kommunikation
1.4. Die interaktive Begegnung mit dem ‘Fremden’
2. Methodologische Grundlagen der Arbeit
2.1. Ethnographie der Kommunikation
2.2. Ethnomethodologische Konversationsanalyse
2.3. Interpretative Soziolinguistik und der Begriff der Kontextualisierung
2.4. Datenmaterial, ethnographischer Hintergrund und Transkriptionskonventionen
3. Aspekte des chinesischen Interaktionsethos
3.1. Prinzipien chinesischer Rhetorik
3.2. Konfuzianistische Prinzipien der Interaktion
3.3. Der ‘Gesichts’-Begriff in der chinesischen Gesellschaft
3.4. Kollektivismus und ‘high-context’-Kulturen
3.5. Harmonie, Indirektheit und Vermeidung offener Konfrontation als Interaktionsideale: Prinzipien des KEQI HUA 客气话
3.6. Langsames ‘Zur Sache Kommen’ – 转弯抹角 (zhuanwan mojiao)
3.7. Die Signalisierung von Bescheidenheit 谦虚(qianxu)
3.8. Einige Einschränkungen
4. Verstehensprobleme und ihre lokale Reparatur
4.1. “Ich habs jetzt grad gar nicht ganz begriffen” – Verständigungsprobleme aufgrund lernersprachlicher Defizite
4.2. “Ein Durchforsten im Nebel trüber Unbestimmtheit”: Unbestimmtheitstoleranzen und Verstehensvorgaben
4.3. Verstehensprobleme aufgrund divergierenden soziokulturellen Hintergrundwissens
5. Unterschiede in der Diskursorganisation “Hua long dian jing” 画龙点暗 oder ‘‘Kai men jian shan” 开门尖山
5.1. Chinesisch-deutsche Unterschiede im Diskursstil
5.2. Topik-Konstruktionen
5.3. ‘Tilgung’ von Nominalphrasen
5.4. ‘Auslassung’ von Satzkonnektoren
5.5. Weitere diskursive ‘Auffälligkeiten’ in den Äußerungen chinesischer Deutschlernender
6. Unterschiede im Rezipientenverhalten – Mhm’s, ja’s und Echos
6.1. Kulturspezifische Rezipientenreaktionen
6.2. Hörersignale in deutsch-chinesischen Interaktionen
6.3. Rezipientenechos
7. Chu kou cheng zhang 出口成聿 (viele gute Texte kommen aus dem Mund). Sprichwörtliche Redensarten, ihre Funktion und stilistische Einordnung
7.1. Sprichwörter als kleine kommunikative Gattung
7.2. Zur kommunikativen Funktion der Sprichwörter
7.3. Spruchweisheiten im chinesischen Diskurs
7.4. Spruchweisheiten in der chinesischen Rhetorik – “Zu Ehren gelangt, wer sich an den Aussprüchen der Alten orientiert” (Xünzi)
7.5. ‘Shouguo jiaoyu’ 受过教育 – ein Zeichen von Bildung
8. Analyse eines argumentativen Gesprächs
8.1. Anmerkungen zum Gespräch YANG
8.2. Kulturelle Unterschiede in der Argumentations- und Konfrontationsbereitschaft
8.3. Zur Analyse argumentativer Gespräche in der Sprachwissenschaft
8.4. Einstieg in die Argumentation
8.5. Signalisierung von Dissens
8.6. Stützen der eigenen Position
8.7. Möglichkeiten und Angebote zur Beendigung einer Argumentation
9. Zusammenfassung der Analyseergebnisse –
Mögliche Konsequenzen für den Fremdsprachenunterricht
Literaturverzeichnis
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Diskursstrategien in der interkulturellen Kommunikation: Analysen deutsch-chinesischer Gespräche
 9783110953459, 9783484302860

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Linguistische Arbeiten

286

Herausgegeben von Hans Altmann, Peter Blumenthal, Herbert E. Brekle, Gerhard Heibig, Hans Jürgen Heringer, Heinz Vater und Richard Wiese

Susanne Giìnthner

Diskurs Strategien in der interkulturellen Kommunikation Analysen deutsch-chinesischer Gespräche

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1993

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Giinthner, Susanne : Diskursstrategien in der interkulturellen Kommunikation : Analysen deutsch-chinesischer Gespräche / Susanne Giinthner. - Tübingen : Niemeyer 1993 (Linguistische Arbeiten ; 286) NE: GT ISBN 3-484-30286-0

ISSN 0344-6727

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1993 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt Einband: Hugo Nädele, Nehren

An dieser Stelle möchte ich allen Freundinnen und Freunden, insbesondere Peter Auer, Ulrike Endres, Ursula Fischer, Anna Gerstlacher, Harro Gross, Helga Kotthoff, Renate Krieg, Rainer Rothenhäusler und Andreas Ulrich fur ihre Diskussionsbereitschaft, ihre Kritik und ihre Geduld herzlich danken. Ohne die zahlreichen Gespräche mit Ji Ghun, Li Xin, Pan Yi-Ling, Zhang Jing, Zhang Hua, Zhu Yii-Mei und vor allem Wang Yü-Fei, die ich über Jahre hinweg mit Fragen, Gesprächsausschnitten und Transkripten aufsuchen konnte, wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen. Die zahlreichen Essenseinladungen, Frühstücksgespräche und die seelische Unterstützung der Blumenweg-Wohngemeinschaft sind untrennbar mit dieser Arbeit verbunden. Ganz herzlich danke ich auch meinen beiden 'Doktorvätern' Prof. Dr. Aldo di Luzio und Prof. Dr. Fritz Pasierbsky fur ihre Ermutigungen, ihr Interesse an der Arbeit und ihre kritischen Anmerkungen. Darüberhinaus gilt mein Dank Prof. Dr. J.J. Gumperz fur seine Unterstützung und die Anregungen, die ich aufgrund der Gespräche und Seminardiskussionen während meines Aufcnhaltes an der University of California in Berkeley bekam. Ein ganz besonderer Dank geht an Hansjörg Lehner, der ein ständiger Diskussionspartner war und mir nicht nur beim Formatieren meiner Arbeit, sondern auch meines Alltags half.

Inhaltsverzeichnis

1. 1.1. 1.2.

Einleitung

1

Gegenstand und Ziel der Arbeit

3

Interkulturelle Kommunikation: Forschungsgeschichte und zentrale Fragestellungen

6

Motive fur die Erforschung interkultureller Kommunikationsprozesse

8

Ansätze zur Erforschung interkulturcller Kommunikation

11

1.2.1.

Sozialpsychologische Arbeiten

12

1.2.2.

Die kontrastive Pragmatik

13

1.2.3.

Die Theorie kulturspezifischer kommunikativer Codes

13

1.3.

Zum Kulturbegriff in der interkulturellen Kommunikation

15

1.4.

Die interaktive Begegnung mit dem'Fremden'

21

Methodologische Grundlagen der Arbeit

24

Ethnographie der Kommunikation

25

2.1.1.

Entstehungsgeschichte und zentrale Fragestellungen

25

2.1.2.

Zum methodischen Vorgehen der Ethnographie der Kommunikation

26

2. 2.1.

2.1.3. 2.2. 2.2.1.

Ethnographie der Kommunikation und die Analyse interkultureller Kommunikationssituationen

28

Ethnomethodologische Konversationsanalyse

30

Die Entstehung der Konversationsanalyse aus der Ethnomethodologie

30

2.2.2.

Zur Methodologie der Konversationsanalyse

31

2.2.3.

Konversation und Kultur: Die interaktive Relevanz von Maktophänomenen

32

Interpretative Soziolinguistik und der Begriff der Kontextualisierung

38

Zentrale Fragestellungen der Interpretativen Soziolinguistik

39

2.3. 2.3.1.

vin

2.3.2.

Das Konzept der Kontextualisierung

43

2.3.3.

Kontextualisierungskonventionen und interkulturelle Kommunikation

47

Methodische Konsequenzen fur die Analyse 'fremdkultureller' Kontextualisierungskonventionen

53

Datenmaterial, ethnographischer Hintergrund und Transkriptionskonventionen

56

Aspekte des chinesischen Interaktionsethos

62

3.1.

Prinzipien chinesischer Rhetorik

64

3.2.

Konfuzianistische Prinzipien der Interaktion

65

3.3.

Der 'Gesichts'-Begriff in der chinesischen Gesellschaft

67

3.3.1.

'Gesicht'in der zwischenmenschlichen Interaktion

67

3.3.2.

LIAN Bfe und MIANZI fi^: Chinesische 'Gesichts'-Konzepte

69

3.4.

Kollektivismus und'high-context'-Kulturen

71

3.5.

Harmonie, Indirektheit und Vermeidung offener Konfrontation als Interaktionsideale: Prinzipien des KEQI HUA Ç ^ l t

73

3.5.1.

Harmonie als Interaktionsideal

73

3.5.2.

Die Vermeidung offener Nichtübereinstimmung und direkter Konfrontation (pangqiao ceji)

74

2.3.4. 2.4.

3.

3.5.3.

Eine Rhetorik der Anspielung: "Auf einen Hirsch zeigen und ihn 'Pferd' nennen (zhi lu wei ma)

78

3.6.

Langsames 'Zur Sache Kommen' -

3.7.

Die Signalisierung von Bescheidenheit tfejÍE (qianxu)

gj

3.8.

Einige Einschränkungen

83

3.8.1.

Gespräche unter Bekannten - Gespräche unter Fremden

83

3-8.2.

Ein soziokulturelles Niemandsland

84

Verstehensprobleme und ihre lokale Reparatur

87

4. 4.1.

(zhuanwan mojiao)

79

"Ich habs jetzt grad gar nicht ganz begriffen" - Verständigungsprobleme aufgrund lernersprachlicher Defizite

89

4.1.1.

Implizite Techniken zur Signalisierung von Verstehensproblemen

91

4.1.2.

Explizite Klarifìkationsaufforderungen

93

Metasprachliches Thematisieren von Verstehensproblemen

95

4.1.2.1.

IX

4.1.2.2.

Verwendung von Fragewörtern und Partikeln

100

4.1.2.3.

Fremdwiederholung mit Frageintonation bzw. mit W-Fragewörtern

104

4.1.2.4.

Fremdparaphrasen

106

4.2.

"Ein Durchforsten im Nebel trüber Unbestimmtheit": Unbestimmtheitstoleranzen und Verstehensvorgaben

4.3.

Verstehensprobleme aufgrund divergierenden soziokulturellen Hintergrundwissens

5.

108 113

Unterschiede in der Diskursorganisation " H u a long dian jing" ¡ Í y f e j r í I H

oder

" K a i men jian shan"

ffHJÄLllj

1 2

5

5.1.

Chinesisch-deutsche Unterschiede im Diskursstil

130

5.2.

Topik-Konstruktionen

150

5.3.

Tilgung'von Nominalphrasen

161

5.4.

'Auslassung' von Satzkonnektoren

165

5.5.

Weitere diskursive 'Auffälligkeiten' in den Äußerungen chinesischer Deutschlernender

167

6.

Unterschiede im Rezipien tenverhalten Mhm's, ja's und Echos

172

6.1.

Kulturspezifische Rezipientenreaktionen

175

6.2.

Hörersignale in deutsch-chinesischen Interaktionen

176

6.3.

Rezipientenechos

187

6.3.1.

Rezipientenechos mit Bestätigungsfunktion

190

6.3.2.

Rezipientenechos als Signale erfolgreicher Informationsübermittlung

195

6.3.3.

Rezipientenechos im Anschluß an ein Äußerungsduett

199

6.3.4.

Rezipientenechos als Zeichen von Höflichkeit?

201

7.

Chu kou cheng zhang (viele gute Texte kommen aus dem Mund) Sprichwörtliche Redensarten, ihre Funktion und stilistische Einordnung

7.1.

Sprichwörter als kleine kommunikative Gattung

204

7.2.

Zur kommunikativen Funktion der Sprichwörter

208

7.2.1.

Chinesische Sprichwörter als Beleg bei der Vermittlung kulturspezifischer Normen und Weisheiten

208

χ

7.2.2. 7.3. 7.4. 7.5.

8.

Chinesische Spruchweisheiten zur Stütze eigener Verhaltensweisen

219

Spruchweisheiten im chinesischen Diskurs

222

Spruchweisheiten in der chinesischen Rhetorik - "Zu Ehren gelangt, wer sich an den Aussprüchcn der Alten orientiert" (Xünzi)

224

'Shouguo jiaoyu'

227

- ein Zeichen von Bildung

Analyse eines argumentativen Gesprächs

230

8.1.

Anmerkungen zum Gespräch YANG

230

8.2.

Kulturelle Unterschiede in der Argumentations- und Konfrontationsbereitschaft

232

8.3.

Zur Analyse argumentativer Gespräche in der Sprachwissenschaft

233

8.4.

Einstieg in die Argumentation

238

8.5.

Signalisierung von Dissens

243

8.5.1.

Oppositionsformate

246

8.5.2.

Der Einsatz gegnerischer Zitate

250

8.5.3.

Fremde Rede zur Dementierung potentieller Gegenargumente

253

8.5.4.

Umfokussierungen

256

8.5.5.

Persönliche Konfrontation versus 'face-work'-Techniken?

262

8.5.6.

Die indirekte Dissensmarkierung der chinesischen Teilnehmerinnen

266

Stützen der eigenen Position

279

8.6.1.

Persönliche Erfahrung als Beleg

279

8.6.2.

Zitieren von Autoritäten

281

Möglichkeiten und Angebote zur Beendigung einer Argumentation

284

8.7.1.

Zugeständnisse

285

8.7.2.

Kompromißangebote

287

8.7.3.

Wechsel der Aktivität

289

Zusammenfassung der Analyseergebnisse -

297

Mögliche Konsequenzen fiir den Fremdsprachen Unterricht

302

Literaturverzeichnis

305

8.6.

8.7.

9.

Einleitung Angenommen Sie arbeiten als deutsche/r Gastdozentin oder -dozent1 an einer chinesischen Hochschule und gehen an einem Spätnachmittag auf dem Campus Ihrer Hochschule spazieren. Ein chinesischer Kollege kommt Ihnen entgegen und begrüßt Sie in Deutsch mit "Guten Tag, Frau X (Herr Y). Haben Sie schon gegessen?" Vermutlich werden Sie diese Äußerung des Chinesen als Einleitung zu einer nun folgenden Essenseinladung interpretieren. Voller Erwartung antworten Sie: "Nein, noch nicht". Doch Ihr Bekannter reagiert zu Ihrer Verwirrung mit: "Na, dann möchte ich Sie nicht weiter stören. Sie haben sicherlich Hunger." Was ist geschehen? Der Bekannte hat eine idiomatische Begrüßungsfloskel aus dem Chinesischen wörtlich ins Deutsche übersetzt: Chi guo le ma? (Haben Sie schon gegessen?) stellt in China lediglich eine Routineformel zur Begrüßung dar. Sie haben diese Formel jedoch wörtlich verstanden und gemäß unseren Konventionen als Vorankündigung einer Essenseinladung interpretiert. Wohl jeder, der sich fur einige Zeit in einer fremdkulturellen Umgebung aufgehalten hat, bringt als Erfahrung eine Sammlung von Anekdoten über Mißverständnisse, Faux-pas oder sonstigen Bizarrerien zurück Unkenntnis der kulturellen Gepflogenheiten, der kommunikativen Konventionen und Interaktionsnormen können unter Umständen sehr viel gravierendere Folgen haben als in unserem Beispiel, wo Sie vielleicht etwas enttäuscht nach Hause gehen und den Bekannten als 'seltsamen Menschen' klassifizieren. Nicht selten entscheiden interkulturelle Unterschiede im Kommunikationsverhalten über den Erfolg von wirtschaftlichen und politischen Verhandlungen, privaten Kontaktmöglichkeiten und den beruflichen Werdegang. Interkulturelle Mißverständnisse und Schwierigkeiten, die jeweils andere Seite zu verstehen, haben seit jeher die Begegnungen zwischen Chinesen und Europäern erschwert. Was die Missionarsberichte aus dem 19. Jhd. mit zeitgenössischen Beobachtungen von Geschäftsleuten und Erfahrungsberichten von Europäern, die sich fur einige Zeit in China aufhielten, verbindet, sind die Klagen über die angebliche 'Undurchschaubarkeit', 'Rätselhaftigkeit' und 'Indirektheit der Chinesen', über die "Schwierigkeiten herauszufinden, was der chinesische Gesprächspartner nun eigentlich will und meint" und Hypothesen über eine angeblich 'andere' oder gar 'fehlende' Logik der Chinesen. Probleme in Situationen interkultureller Kommunikation treten nicht nur aufgrund unterschiedlicher Sprachen (im Sinne von Grammatik und Lexikon) auf, sondern vor allem aufgrund verschiedener Konventionen, die die soziale Etikette, die Diskursorganisation und die Strategien zur Signalisierung und Interpretation interaktiver Bedeutung betreffen. Kulturen unterscheiden sich darin, was in bestimmten Situationen gesagt wird, wie man es sagt und welche Bedeutung die Äußerung des Gegenübers hat. So wußte ein britischer Journalist nicht, ob er nun besonders sarkastisch oder besonders freundlich behandelt worden war, als er von einer Pekinger Zeitung folgendes Schreiben erhalten hatte: 1

In dieser Arbeit werden alternierende Konventionen geschlechtsneutraler Formulierungen verwendet, um Frauen aus der Position des eventuellen 'Mitgemeintseins' herauszuholen und sprachlich sichtbar zu machen.

2

Wir haben Ihr Manuskript mit grenzenlosem Genuß gelesen. Wenn wir Ihren Beitrag veröffentlichen würden, wäre es uns in Zukunft unmöglich, eine Arbeit von geringerem Standard zu publizieren. Und da es undenkbar ist, daß wir in den nächsten tausend Jahren etwas Gleichwertiges zu sehen bekommen werden, sind wir zu unserem Bedauern gezwungen, Ihren göttlichen Aufsatz zurückzusenden. Wir bitten tausendfach um Nachsicht für unsere Uneinsichtigkeit und Furcht. (Zitiert in: Knapp 1988:51)

Persönliche Erfahrungen während meiner Tätigkeit als Deutschlektorin an verschiedenen Hochschulen in der V R China (1983-86 und 1988), wo Mißverständnisse und Verunsicherungen Begleitmomente vieler Interaktionssituationen waren, weckten mein Interesse, Kommunikationssituationen zwischen Chines/innen und Deutschen genauer zu analysieren und Quellen fur systematische Mißverständnisse zu erforschen. Die tagtägliche Auseinandersetzung mit einer fremden Umgebung, fremden Verhaltensweisen und Einstellungen war überwiegend eine äußerst anregende und lehrreiche Erfahrung, doch waren diese Jahre des ständigen Hinterfragens bisheriger Selbstverständlichkeiten auch mit zahlreichen Verunsicherungen, Irritationen und Selbstzweifeln verbunden. Die Begegnung mit dem 'Fremden' war stets auch (vielleicht sogar primär) eine Konfrontation mit dem 'Vertrauten': Mein N o r m e n - und Wertesystem wurde seiner Allgemeingültigkeit beraubt und meine Präsuppositionen als kulturell bedingte entlarvt. Die gemeinsamen Treffen unter Europäern, die häufig von stundenlangem Erzählen 'seltsamer' Begegnungen begleitet waren, bildeten ein notwendiges Moment des Erfahrungsaustausche und der gegenseitigen Bestätigung eigener Normen, Werte und Interpretationsweisen. Aber auch die zahlreichen Gespräche mit chinesischen Freundinnen und Freunden über fur mich unerklärliche bzw. nicht genau zu interpretierende Vorfalle stellten einen wesentlichen Teil der Kommunikationserfahrung und des Lernprozesses im Umgang mit 'anderen' Interaktionskonventionen dar.

3

Gegenstand und Ziele der Arbeit Interkulturelle Kommunikation wird allgemein als Kommunikation unter erschwerten Bedingungen beschrieben, als Interaktion, bei der 'Selbstverständlichkeiten' plötzlich in Frage gestellt werden und erprobte Verhaltens- und Interpretationsmuster an Gültigkeit verlieren. Die Folgen reichen von Verunsicherung über stereotype Zuschreibungen bis zu Kulturschockphänomenen. In der vorliegenden Arbeit werde ich interkulturelle Mißverständnisse und Schwierigkeiten bei der Bedeutungsaushandlung zwischen Deutschen und Chinesen untersuchen. Dabei soll eine Brücke zwischen makrosoziologischen Beschreibungen der Begegnung mit Fremdkulturellem, der Erfahrung von kommunikativen Fehlschlägen und Verunsicherung einerseits und der Mikroanalyse von face-to-face-Interaktionen und damit verbalem Handeln im situativen Kontext andererseits hergestellt werden. Ansätzen der interpretativen Sozialwissenschaft und Soziolinguistik folgend gehe ich davon aus, daß soziale Interaktionen die wichtigsten Mittel zur Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit und damit auch zur Übermittlung, Bestätigung und Modifikation kultureller Identitäten und sozialer Typisierungen sind. Zur Beschreibung und Systematisierung der in interkulturellen Kommunikationssituationen auftretenden Schwierigkeiten, Mißverständnisse und Verunsicherungen erachte ich es somit als methodisch sinnvoll, konkrete Interaktionen als Ausgangspunkt der Analyse zu nehmen. Ziel der vorliegenden Arbeit ist die systematische Beschreibung des fortlaufenden Interpretationsprozesses der Gesprächsteilnehmer sowie der unterschiedlichen Interaktionskonventionen, die in interkulturellen Gesprächen zwischen Deutschen und Chinesen die gemeinsame Bedeutungsaushandlung erschweren. Der Gegenstandsbereich ist bewußt so weit gewählt, daß sich an ihm bestimmte Strukturen, Typen und Verfestigungen aufzeigen lassen, die nicht Ergebnis einer definitorischen Vorabfestlegung der Analytikerin sind, sondern aus den Interaktionen, der kooperativen Herstellung verbaler Aktivitäten und der gemeinsamen Konstruktion interaktiver Bedeutung der Teilnehmenden entwickelt werden können. Die von chinesischer und deutscher Seite verwendeten Kommunikationsstrategien, Diskursverfahren und sprachlichen (syntaktischen, lexikalischen, diskurspragmatischen) Ressourcen zur Bedeutungsherstellung werden anhand von Gesprächsanalysen bestimmt und in Zusammenhang mit der bisherigen Erforschung kultureller Unterschiede im Kommunikationsverhalten diskutiert. Leitende Fragestellungen der Arbeit sind: Wie beeinflussen sprachlich-diskursive Faktoren die Interpretation kommunikativer Aktivitäten? Welche systematischen Unterschiede in den Gesprächskonventionen zwischen den deutschen und chinesischen Interagierenden lassen sich anhand des vorliegenden Datenmaterials herausfiltern? Inwiefern erschweren oder verunmöglichen diese das gemeinsame Aushandeln von Bedeutung? Welche Mißverständnisse und Verständigungsprobleme werden von den Interagierenden selbst thematisiert und beseitigt? Lassen sich die spezifischen Strategien der chinesischen Sprecher und Sprecherinnen auch in den chinesischen Kontrolldaten finden, oder sind sie auf lernersprachliche Ursachen und damit fremdsprachliches Handeln zurückzufuhren? Inwiefern tragen kulturspezifische Unterschiede in den Interaktionsstrategien zur Konstruktion stereotyper Zuschreibungen bei?

4

Eng verknüpft mit dem skizzierten Untersuchungsprogramm ist zwangsläufig eine methodologische Fragestellung: Da der Analysegegenstand interaktivem Handeln im situativen Kontext entstammt, erfordert die Arbeit ein methodisches Vorgehen, das der Kontextbezogenheit sprachlicher Interaktion gcrecht wird. Anhand einer Kombination ethnographischer, konversationsanalytischer und soziolinguistischer Ansätze werden methodische Voraussetzungen zur Analyse interkultureller Gespräche entwickelt und ihre Anwendbarkeit überprüft. Neben ihrer schwerpunktmäßigen Zuordnung zur Sprachwissenschaft (zur interpretativen Soziolinguistik) greift die vorliegende Arbeit Fragestellungen und Methoden aus angrenzenden Disziplinen auf. Der Kulturanthropologie und anthropologischen Linguistik entstammen Fragen nach der Beziehung zwischen Kultur und Interaktion, nach den kommunikativen Haushalten, Gattungen und Sprechstilen verschiedener Kulturen sowie nach kulturspezifischen 'Gesichts'Konzepten. Fragen hinsichtlich der kommunikativen Begegnung mit dem 'Fremden' und der interaktiven Aushandlung kultureller Identitäten berühren soziologische Ansätze. Der Sozialpsychologie entnehme ich Forschungsergebnisse zu den Konzeptionen des 'Selbst' im chinesischen und europäisch-amerikanischen Kontext. Die Sinologie liefert mit ihren Arbeiten zur chinesischen Rhetorik und zur chinesischen Grammatik und Stilistik einen weiteren Bezugspunkt. Fragen nach interimsprachlichen Phänomenen in Gesprächen zwischen Lernern und Muttersprachlerinnen und nach möglichen Konsequenzen der interkulturellen Kommunikation für den Fremdsprachen Unterricht sind eng mit der Fremdsprachenforschung verknüpft. Grundlage der Analyse bilden 25 Gespräche zwischen Deutschen und Chinesinnen und sechs chinesische Kontrollgespräche. Neben eigenen Erfahrungen als Beteiligte und Beobachterin in Gesprächen zwischen Deutschen und Chinesen beziehe ich weitere Informationen über deutschchinesische Kommunikationsunterschiede aus zahlreichen Gesprächen und Datensitzungen mit chinesischen Muttersprachler/innen, denen ich immer wieder Gesprächsausschnitte vorspielte bzw. vorlegte, und deren Interpretationen in die Analyse einflossen. Die Arbeit ist folgendermaßen gegliedert: Im theoretischen Teil werde ich zunächst das relativ junge Forschungsgebiet der interkulturellen Kommunikation, seine Geschichte und Verankerung in der Linguistik und der Sozialpsychologie sowie die wichtigsten Ansätze zur Erforschung interkultureller Kommunikation präsentieren. Daran anknüpfend stelle ich den der Arbeit zugrundeliegenden KulturbegrifF vor und diskutiere soziologische bzw. sozialpsychologische Ansätze zur interaktiven Begegnung mit 'Fremdkulturellem'. Anschließend werde ich verschiedene methodische Ansätze zur Analyse von Gesprächen — die Ethnographie der Kommunikation, die ethnomethodologische Konversationsanalyse und die interpretative Soziolinguistik — präsentieren, sie auf ihre Anwendbarkeit fur Fragestellungen der interkulturellen Kommunikation überprüfen und darauf aufbauend das methodische Instrumentarium der vorliegenden Arbeit entwickeln. Im Anschluß an die Methodenklärung wird das Datenmaterial vorgestellt. In einem weiteren Schritt diskutiere ich auf der Grundlage eigener ethnographischer Beobachtungen, Interviews und Literaturrecherchen Prinzipien des chinesischen Interaktionsethos und Aspekte der chinesischen Rhetorik. Im empirischen Teil werden die Grundzüge einer interpretativen Analyse interkultureller Kommunikation erarbeitet. Die Analyse umfaßt verschiedene interaktive Ebenen, auf denen Ver-

5

ständigungsprobleme und Schwierigkeiten der interaktiven Aushandlung von Bedeutung auftreten: Kapitel 4 wird diejenigen Verständigungsprobleme beleuchten, an denen sich die Interagierenden explizit orientieren. Diese betreffen sowohl lerncrsprachliche Schwierigkeiten (im Bereich der Grammatik und des Lexikons) als auch Differenzen im soziokulturellen Hintergrundwissen. Unterschiede in der Diskursorganisation, der Signalisierung von 'alten' und 'neuen' Informationen sowie in den Kohärenz- und Kohäsionskonventionen werden in Kapitel 5 diskutiert. Kapitel 6 beleuchtet mögliche Differenzen im Rczipientenverhalten: Existieren kulturspezifische Unterschiede bei der Signalisierung aktiver Zuhörerschaft? Welche Konsequenzen haben diese Unterschiede fur den Gesprächsablauf? Aufgrund der Vielzahl an sprichwörtlichen Redensarten auf chinesischer Seite werden in Kapitel 7 Unterschiede im Bereich kommunikativer Gattungen thematisiert und die spezifische Funktion dieser Weisheitssprüche in der interkulturellen Kommunikation analysiert. Im letzten Kapitel des empirischen Teils stelle ich die Analyse eines argumentativen Gesprächs zwischen deutschen und chinesischen Studierenden vor. Dabei werden Unterschiede in der Signalisierung von Dissens, in der Konfrontationsbereitschaft, den Techniken zur Stütze von Behauptungen und unterschiedliche 'face-work'-Strategien diskutiert. Im Anschluß an die empirische Analyse zeige ich im Schlußwort mögliche Konsequenzen der Untersuchungsergebnisse fur die Fremdsprachenforschung und den Fremdsprachenunterricht auf.

1.

Interkulturelle Kommunikation: Forschungsgeschichte und zentrale Fragestellungen

Die Analyse interkultureller Kommunikation ist ein noch recht junges Forschungsgebiet, obgleich der Zusammenhang zwischen Sprache und Kultur in verschiedenen Forschungstraditionen in der Sprachwissenschaft und der Kulturanthropologie seit dem 19. Jhd. immer wieder thematisiert wurde. In der Vergleichenden Sprachwissenschaft des letzten Jahrhunderts erreichte die Auseinandersetzung mit 'Kulturmerkmalen',1 die sich in den Sprachstrukturen widerspiegeln, einen Höhepunkt. Die Beschäftigung mit dem Fremden und die damit verbundene Neubestimmung des Eigenen beeinflußte das kontrastive Sprachdenken in der Sprachwissenschaft von W.V.Humboldt über Schleicher zu Steinthal. Gerade die chinesische Sprache und Schrift lieferten einen fruchtbaren Boden fur zahlreiche Hypothesen und Spekulationen hinsichtlich einer möglichen Parallelisierung von kulturellen Merkmalen und Denkweisen auf der einen Seite und grammatischen Strukturen und Verschriftlichungen von Ideen auf der andern. W.v.Humboldt (1906:321-322) wies in seinem Aufsatz "Über den grammatischen Bau der chinesischen Sprache" auf den Zusammenhang von Grammatik- und Denkstrukturen hin. Aufgrund der Flexionslosigkeit und bloßen Aneinanderreihung von Begriffen im Chinesischen entstehe fur den Hörer bzw. Leser ein "intellectuelles Vergnügen, das vorzüglich durch die Kühnheit bewirkt wird, lauter gehaltvolle, selbständige Begriffe bezeichnende Ausdrücke in überraschender Vereinzelung nebeneinander hinzustellen". Gleichzeitig benötige diese Sprachstuktur eine stärkere "auf das blosse Denken gerichtete Geistesthätigkeit", um den Sinn einer Äußerung zu erfassen. Da jedoch ein Gedanke nur durch die Sprache "Deutlichkeit und Bestimmtheit" erhalte, sei seine Wirkung nur dann vollständig, wenn er in Sprachen - wie den indoeuropäischen — vollständig ausdrückbar sei. (W.v.Humboldt 1906:323). Die Diskussion über den Einfluß der chinesischen Grammatik (und dabei speziell der Flexionslosigkeit, der Wortstellung und der häufigen Subjekttilgungen) und der Schrift auf das chinesische Denken und damit über den Zusammenhang von Sprache, Denken und Kultur setzte sich innerhalb der Sinologie und Sprachinhaltsforschung im 20. Jhd. fort.2 Die eine Seite (repräsentiert u.a. durch die Sinologen Forke (1927) 3 und Holz (1953) 4 sowie den Sprachwissenschaftler Gipper (1972)) behauptet, daß die fehlende Flexion und die chinesische Satzstellung für "explizite logische Denkoperationen weniger geeignet ist als unsere Sprache" (Gipper 1972:261). Als Beweis wird das Nichtvorhandensein einer formalen Logik in der chinesischen Philosophie angeführt. Hier ist jedoch einzuwenden, daß auch in der chinesischen Philosophie logische Operationen thematisiert wurden, wie beispielsweise im späten Mohismus, wo u.a. logische Verknüpfungen der Äquivalenz (da g u ^ f ö ; der große Grund) und Implikation (xiao gu ; der kleine Grund) behandelt 1 2 3 4

Voßlers (1904) stilistischer Vergleich zwischen dem Deutschen und Französischen und seine Anbindung dieser stilistischen Unterschiede an die deutsche und romanische Mentalität ist bezeichnend für diese Richtung der Sprach- und Kulturbetrachtung. Gipper (1972:215-279). Zitiert in Gipper (1972:224ff.). Zitiert in Gipper (1972:224ff.).

7 wurden.5 Mit diesen beiden Beziehungen sowie der 'logischen Negation' sind sämtliche logischen Operationen ableitbar.6 Die Gegenseite (repräsentiert durch den französischen Sinologen Margouliès7), die ebenfalls einen Zusammenhang zwischen der chinesischen Sprachstruktur, der Schrift und der Denkweise der Menschen herstellt, vertritt die These, daß aufgrund des Wegfallens 'sinnloser' Grammatikkategorien (wie z.B. die Genusmarkierung) das chinesische Denken 'objektiver' sei. Es bewege sich in 'absoluten' sprachlichen Formen. Westliche Denker blieben dagegen - aufgrund des Flexionszwangs - an konkrete sprachliche Bestimmungen gebunden, weshalb sie schließlich die Mathematik als Instrument zur abstrakten Geistesoperation schufen.8 Die Tendenz, von formalen sprachlichen Strukturen direkte Rückschlüsse auf Mentalität und Denkprozesse einer Kultur zu ziehen, fuhrt allzu oft zu Spekulationen, die Gefahr laufen, in einem Sammelsurium von Stereotypen zu enden.9 Neben der Vergleichenden Sprachwissenschaft und der Sprachinhaltsforschung hatte auch die amerikanische Kulturanthropologie stets ein Interesse am Zusammenhang von Sprache und Kultur. Sie untersuchte die Sprachen einfacher Gesellschaften (vor allem Indianersprachen in Nordamerika), um auf diese Weise einen Zugang zur Kultur zu erhalten und warf in diesem Zusammenhang Fragen nach der sozialen und kulturellen Bedeutung bestimmter sprachlicher Kategorien auf. Hundert Jahre nach W.v.Humboldt entflammte schließlich erneut die Diskussion um den Einfluß von Sprache auf die Weltanschauung bzw. von Sprache auf das Denken: Der amerikanische Linguist und Kulturanthropologe B.L.Whorf, ein Schüler Sapirs, löste durch seine zugespitzte Formulierung des sprachlichen Relativitätsprinzips eine heftige Debatte in der Sprachwissenschaft und Anthropologie aus. Aus der T a t s a c h e der Strukturverschiedenheit der Sprachen folgt, was ich das 'linguistische Relativitätsprinzip' genannt habe. Es besagt grob gesprochen folgendes: Menschen, die Sprachen mit sehr verschiedenen G r a m m a t i k e n benutzen, werden durch diese Grammatiken zu typisch verschiedenen Beoba c h t u n g e n u n d verschiedenen Bewertungen äußerlich ähnlicher B e o b a c h t u n g e n geführt. Sie sind daher als Beobachter einander nicht äquivalent, sondern gelangen zu irgendwie verschiedenen Ansichten von der Welt. (Whorf 1 9 6 3 : 2 0 )

Neben der philosophischen Kritik an den Voraussetzungen 'relativistischer' Thesen und dem der These Whorfs scheinbar widersprechenden Argument der 'Übersetzbarkeit' wurden jedoch auch zahlreiche Versuche unternommen, empirisch überprüfbare Hypothesen zu formulieren und die 5 6

Die Prinzipien des kleinen und großen Grundes werden bei Moritz (1990:172) vorgestellt. Außerdem ist anzumerken, daß auch im europäischen Kontext eine streng formalisierte Logik als Gesamtsystem erst im 19- Jhd. entwickelt wurde.

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Zitiert in Gipper (1972:230). Sehr viel vorsichtiger argumentiert Kratochvil ( 1968) bzgl. einer möglichen Einflußnahme des Schriftsystems auf die Wahrnehmung sprachlicher Kategorien: Während unser Phonemsystem eher das Bewußtsein für Kategorien wie Phonem und Wort entwickle und weniger fur die Kategorie des Morphems, schaffe die chinesische Schrift eher ein Bewußtsein für morphologische Erscheinungen. Der Wortbegriff als kleinste operative Einheit des Satzes sei für Chinesinnen, deren Schrift keine Wortgrenzen markiert, weniger zugänglich als fur uns. Vgl. hierzu auch Lippert (1979:10). Auch heute noch finden sich Parallelisierungen von kulturellen Merkmalen, Mentalitäts-Aspekten und grammatischen Strukturen. Beispielsweise stellt Wierzbickas (1986) die Vermutung an, daß das reiche System der expressiven Derivationsmorphologie in südromanischen und slavischen Sprachen ein Ausdruck der "ungehinderten Darstellung von Emotionen" in diesen Kulturen sei. Umgekehrt zeuge das Fehlen dieser morphologischen Mittel im Englischen davon, daß in der angelsächsischen Kultur der offene Ausdruck von Emotionen ein Tabu" sei.

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sprachliche Relativitätstheorie - vor allem in Zusammenhang mit Farbwahrnehmung und dem sprachlichen Farbfeld - zu testen. Die These vom sprachlichen Relativismus und daran anknüpfend Fragen nach dem Zusammenhang von Sprache, Kultur und Weltanschauung waren in den letzten 40 Jahren Gegenstand der Sprachwissenschaft und Kulturanthropologie.10 Dabei reichten die Hypothesen von einem strikt deterministischen Standpunkt zu einer vagen Formulierung hinsichtlich eines gewissen Einflusses sprachlicher Kategorien auf die Denkstrukturen.11 Innerhalb der kognitiven Linguistik greift Lakoff (1987) die Frage nach der Beziehung zwischen sprachlichen Phänomenen und Denk- bzw. Erfahrungsstrukturen erneut auf und argumentiert, daß diejenigen Phänomene, die in einer Sprache grammatikalisiert sind (beispielsweise bestimmte zeidiche oder räumliche Konzepte) auch spontaner, automatischer und unbewußter 'gedacht' und 'erfahren' werden: I am convinced by Whorf s arguments that the way we use concepts affects the way we understand experience. (Lakoff 1987:335) Like Whorf, I believe that differences in conceptual systems affect behavior in a significant way. (Lakoff 1987:337)

Wenig (bzw. keine) Beachtung fand bei den vorgestellten Forschungsrichtungen zur kontrastiven Sprachbetrachtung der hier interessierende Aspekt der Kommunikation zwischen Angehörigen verschiedener Kulturen und Sprachen und damit verbunden die Frage nach Ursachen systematischer Mißverständnisse und Probleme in der Aushandlung interaktiver Bedeutung. Erst mit dem Aufkommen der interkulturellen Kommunikationsforschung in den 70er Jahren rückten diese Fragestellungen ins Zentrum wissenschaftlicher Untersuchungen. Im folgenden sollen zunächst die Motive fur das Aufkommen der Erforschung interkultureller Kommunikation dargelegt werden, bevor ich die aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen stammenden Ansätze, die sich mit Schwierigkeiten interkultureller Kommunikation befassen, skizzieren werde.

1.1.

Motive für die Erforschung interkultureller Kommunikationsprozesse

Der Beginn einer systematischen und stark interdisziplinär ausgerichteten Erforschung interkultureller Kommunikation in den USA basierte auf verschiedenen soziopolitischen, ökonomischen und wissenschaftsthereotischen Faktoren. Ende der 60er Jahre begannen die USA im Zuge des 'Peace-Corps'-Programms Tausende von 'volunteers' zur medizinischen, technischen und sozialen Entwicklungshilfe in die '3. Welt' zu entsenden. Die Peace-Corps-Mitarbeiter/innen sollten sich so weit wie möglich an den Lebensstil der einheimischen Bevölkerung anpassen. Die Konfrontation mit fremden Kulturen 10 Hierzu ausfuhrlich Lakoff (1987:304-337). 11 Siehe in diesem Zusammenhang auch die Diskussion innerhalb der feministischen Linguistik. Pusch 1984.

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brachte jedoch zahlreiche Probleme mit sich, und der 'Kulturschock' wurde Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen.12 Ferner führte der Anstieg multinationaler Handelsbeziehungen zu einer Zunahme interkultureller Begegnungen in der Geschäftswelt. Interaktionsprobleme, die auf unterschiedlichen Kommunikationsstrukturen, Verhaltensweisen und Organisationsformen zwischen Verhandlungspartnern aus verschiedenen Kulturen basierten, zogen oft wirtschaftliche Mißerfolge nach sich. Da interkulturelle Interaktionsprobleme häufig den Geschäftsinteressen im Wege standen und stehen, bat man Sozialpsychologen und Kommunikationswissenschaftler um Rat, mit dem Erfolg, daß erste Orientierungsprogramme' bzw. 'cross-cultural training programs' initiiert wurden.^ Ein weiterer wichtiger Faktor fur das Interesse an der Erforschung interkultureller Interaktionssituationen stellte die 'Civil-Rights'-Bewegung mit ihrer Forderung nach Gleichbehandlung aller Rassen und ihrer Kritik am ethnozentrischen Blickwinkel der weißen Mehrheit dar. Die Diskriminierung ethnischer Minderheiten in den USA aufgrund ihres vom anglo-amerikanischen abweichenden Kommunikationsverhaltens wurde Analysegegenstand der 'ethnic studies' und 'Kommunikationswissenschaft'.14 Die ersten sprachwissenschaftlich orientierten Arbeiten zu Fragen der 'intraracial' 15 , 'interracial' 16 und 'interethnic communication' entstanden in dieser Zeit: The focus of attention on minority cultures (...) made us realize not only that intercultural contact was inevitable but that it was often unsuccessful. We found, in short, that intercultural communication

was difficult. Even when we overcome natural barriers of language, we could still fail to under-

stand and be understood. These failures in both the international arena and the domestic scene gave rise to the marriage of culture and communication and to the recognition of intercultural communication as a field of study. (Porter/Samovar 1972:4. Hervorhebung :S.G.)

Als weiterer Grund fur das aufgekommene Interesse an der Erforschung interkultureller Kommunikation kann die zunehmende kulturelle Diversität in der modernen städtischen Gesellschaft (speziell in den USA) gesehen werden. Das Nebeneinander verschiedenster kultureller Gruppen ist zwar keine neue Erscheinung, doch zeichnet sich die heutige urbane Situation durch die Notwendigkeit der Kommunikation zwischen den Gruppen aus. So müssen beispielsweise Angehörige ethnischer Minderheiten mit Vertretern der Mehrheit in institutionellen Kontexten (Arbeitsamt, Job-Interview, Gesundheitswesen, Bildungsbereich etc.) interagieren und treffen dabei häufig auf Kommunikationsschwierigkeiten, d.h. ihre Intentionen und Motive werden mißverstanden, ihre Fähigkeiten und Verdienste unterschätzt. Ferner können die Ausbreitung des Tourismus, der längere Aufenthalt von amerikanischen Armeeangehörigen und Technikern (und deren Familien) in fremden Kulturkreisen, die Auswei12 Oberg I960; Furnham/Bochner 1986. 13 Einen sehr schönen und ausfuhrlichen Überblick über 'cross-cultural training methods' geben Brislin/Pedersen 1976. Siehe auch Brislin/Cushner/Cherrie/Yong (1986:7), die verschiedene Trainingstechniken in ihrem Ratgeber zur Vorbereitung auf interkulturelle Begegnungen beschreiben. 14 Lein 1975. 15 Vgl. hierzu die Studien Kochmans (1974; 1981) zum Interaktionsverhalten von Schwarzen in amerikanischen Großstädten. 16 Hierzu Erickson (1969; 1975).

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tung des akademischen Austausches sowie sonstige Folgeerscheinungen der zunehmenden internationalen Mobilität (Kulturaustausch, Sportbegegnungen, internationale Städte- und Hochschulpartnerschaften etc.) als wichtige Ursachen für die wachsende Beschäftigung mit Schwierigkeiten in interkulturellen Gesprächssituationen genannt werden. In diesem Zusammenhang wurden beispielsweise auch spezielle 'survival kits' fìir wesdiche Besucher, die sich aus geschäftlichen oder privaten Gründen in einem nicht-europäischen Land aufhalten, entwickelt. Diese sollten ihnen die Alltagskultur und Interaktionsregeln des jeweiligen Landes näher bringen, um allzu grobe Verletzungen der im Gastland geltenden Sitten zu vermeiden.17 Als Reaktion auf die Schwierigkeiten in interkulturellen Kommunikationssituationen erhielten Trainingsprogramme mit Sensibilisierungsübungen für fremdkulturelle Begegnungen im Laufe der letzten 20 Jahre in den USA starken Zulauf. Im Zusammenhang mit diesen Programmen, die zunächst vor allem von Sozialpsychologen und Kommunikationswissenschaftlern durchgeführt wurden, kamen auch Diskussionen um sozialpsychologische Hintergründe bei der Begegnung zwischen Angehörigen verschiedener Kulturen auf. 18 Ferner wurden in den USA Zentren fur "Intercultural Education, Training and Research" gegründet, die Forschungen im Gebiet der interkulturellen Kommunikation forderten.19 Amerikanische Universitäten führten die ersten Lehrveranstaltungen im Bereich der 'intercultural communication'20 durch, zunächst innerhalb der Sozialpsychologie und Kommunikationswissenschaft, in den 80er Jahren dann auch in sprachwissenschaftlichen und anthropologischen Fakultäten. Grundlage fur das bundesdeutsche Interesse an diesem Thema bildeten zunächst einmal Kommunikationsschwierigkeiten ausländischer Arbeitnehmer.21 Zwar hatten die sprachlichen Probleme von Gastarbeitern und deren Kindern seit Anfang der siebziger Jahre zu Untersuchungen und Projekten gefiihrt, die in eine 'Gastarbeiterlinguistik' mündeten, doch erst im Zuge der 'pragmatischen Wende' wurden tatsächliche Kommunikationssituationen mit Gastarbeitern analysiert.22 Phänomene wie Code-Switching, 23 schulische Interaktionen, 24 Aspekte einer 'Lernerpragmatik'25 sowie die interaktive Konstruktion gesellschaftlicher Herrschaftsstrukturen und die Diskriminierung von Gastarbeitern in Interaktionen mit Deutschen 26 stehen im Zentrum dieser neueren Arbeiten.

17 Eine speziell fur interkulturelle Begegnungen zwischen Europäern und Asiaten herausgegebene Serie dieser 'Survival kits' trägt den Titel 'Culture shock und wurde bislang für Burma, Indonesien, Philippinen, Singapore und Malaysia sowie Thailand erstellt. Kulturelle Besonderheiten (Höflichkeitsformen, Eßtraditionen etc.) und Differenzen zur europäischen Kultur werden in diesen Büchern thematisiert Vgl. Craig 197918 Porter/Samovar 1972; Condon/Yousef 1975. 19 Casse 1979. 20 In den USA und Großbritannien trifft man auch häufig auf den Begriff der 'interethnic communication', wobei Kommunikationssituationen zwischen Angehörigen verschiedener ethnischer Gruppen - meist mit Englisch als Muttersprache ('Black English', 'Indian English' etc.) - gemeint sind. 21 Dittmar/von Sutterheim 1984; Hinnenkamp 1989. 22 Siehe u.a. Auer/Di Luzio 1984. 23 Auer/Di Luzio 1984, Auer 1983. 24 Meyer-Ingwersen/Neumann/Kummer 1977. 25 Hüllen 1984. 26 Hinnenkamp 1989.

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Einen Schwerpunkt der Analyse interkultureller Kommunikation stellen institutionelle Kommunikationssituationen zwischen Deutschen und Angehörigen sprachlicher Minderheiten dar. 27 Hierbei entstehen häufig Unsicherheiten und diskriminierende Handlungen auf Seiten der Muttersprachlerinnen, die meist zugleich als Vertreter/innen der Institution interagieren, und Resignation und Handlungsverzicht auf selten der Minderheiten. 28 Der Einfluß soziolinguistischer Konventionen der Minderheitenkultur auf das Interaktionsverhalten in der Fremdsprache wird bei diesen Arbeiten jedoch kaum thematisiert. Ferner wächst auch in der Bundesrepublik - aufgrund der Zunahme des akademischen Austauschs und den damit verbundenen Kommunikationsschwierigkeiten ausländischer Gastwissenschaftler/innen und Studierender — das Interesse an der Erforschung interkulturellen Kommunikationsveihaltens. 29 Darüberhinaus motivieren Schwierigkeiten, denen sowohl Vertreter bundesdeutscher Institutionen als auch deutsche Geschäftsleute in der fremdkulturellen Umgebung begegnen, die Durchführung weiterer Untersuchungen in diesem Bcreich. Mittlerweile organisieren auch bundesdeutsche Institutionen, wie der Deutsche Entwicklungsdienst (DED), Dienste in Übersee (DÜ), die Deutsche Stiftung fur Internationale Entwicklung (DSE), die Carl Duisbeig Centren (CDC) und die Evangelische Akademie Bad Boll sowie zahlreiche internationale Firmen, die Projekte in Ländern der 'Dritten Welt' durchführen, interkulturelle Orientierungsprogram me. Auf diese Weise sollen die deutschen Mitarbeitenden auf fremdkulturelle Verhaltensund Interaktionsweisen vorbereitet werden und ihnen dadurch Kulturschockphänomene erspart bleiben. 30 Durch die wachsende Anzahl von Aussiedlern und Asylanten und den bevorstehenden Zusammenschluß der EG-Länder wird eine systematische Beschäftigung mit Kultur und interkultureller Kommunikation auch fur den deutschsprachigen Raum immer dringlicher.

1.2.

Ansätze zur Erforschung interkultureller Kommunikation

Seit den 70er Jahren befassen sich unterschiedliche Forschungsrichtungen - von der Sozialpsychologie über die Anthropologie, Soziologie und Fremdsprachenforschung bis zur Linguistik - mit Schwierigkeiten, die in interkulturellen Interaktionen auftreten. Diese Forschungsrichtungen verbindet die Beobachtung, daß Kommunikationsprozesse zwischen Angehörigen verschiedener Kulturkreise (bzw. verschiedener ethnischer Herkunft) leichter zum Scheitern verurteilt sind als solche zwischen Angehörigen derselben Kulturgruppe. 31 Die Ursachen fur dieses Scheitern versuchen die verschiedenen Ansätze anhand unterschiedlicher methodischer Vorgehensweisen und Fragestellungen herauszufiltern.

27 28 29 30 31

Hinnenkamp 1985; Rehbein 1985. Rehbein (1985:9). Hann 1985; Günthner/Kotthoffl988; Günthner 1989a; Kotthoff 1989. D adder 1987. Streeck 1985.

12

1.2.1.

Sozialpsychologische Arbeiten

Zahlreiche sozialpsychologische Arbeiten werfen Fragen nach möglichen Unterschieden im Interaktionsverhalten bei Angehörigen verschiedener Kulturen auf 3 2 und zeigen, daß die interaktive Konfrontation mit 'fremden' Verhaltensweisen nicht selten zu Verunsicherungen und Stereotypisierungen der 'fremden' Interaktionspartnerinnen fuhrt. 3 3 Stereotypisierungen werden hierbei als Ergebnis kognitiver Voreingenommenheiten betrachtet, die mehr oder weniger fiktive Zusammenhänge zwischen der Gruppenzugehörigkeit und bestimmter psychologischer Eigenheiten postulieren. 34 Aufgrund kulturspezifischer Stereotypen haben wir bestimmte Erwartungen an andere Personen und sind bemüht, diese Erwartungen zu bestätigen: Die Kommunikationsmuster der 'fremden' Interagierenden werden dabei in Hinblick auf die vorhandenen Stereotypen interpretiert. 35 Stärker kognitiv ausgerichtete Ansätze der Sozialpsychologie befassen sich mit kulturell divergierenden Wissensschemata und den daraus resultierenden Schwierigkeiten in interkulturellen Begegnungen. Diesen Ansätzen liegen folgende Annahmen zugrunde: 36 1. Kultur und Kognition sind eng miteinander verbunden. Als Mitglieder einer Kultur erwerben Individuen bestimmte Schemata zur Organisation und Bewältigung ihres Alltags und zur Aushandlung interaktiver Bedeutung. 2. Kommunikation basiert auf gemeinsamen kulturspezifischen Wirklichkeitsrepräsentationen (Schemata). 3. Das Vorhandensein gemeinsamer kognitiver Repräsentationen bzw. Schemata ist zentral fur das Gelingen zwischenmenschlicher Kommunikation. 4. In interkulturellen Kommunikationssituationen weisen die Interagierenden teilweise unterschiedliche, kognitive Repräsentationen auf. Diese können zu Kommunikationsproblemen fuhren. 5. Der Erfolg interkultureller Kommunikation ist abhängig vom Ausmaß geteilter kognitiver Strukturen zwischen den Interagierenden. Bzgl. des methodischen Vorgehens dieser Forschungsrichtung ist jedoch einzuwenden, daß kaum Untersuchungen in natürlichen Kontexten durchgeführt werden: Die Ergebnisse hinsichtlich eines Zusammenhangs von kognitiven Repräsentationen und kultureller Zugehörigkeit basieren auf Laborexperimenten und Fragebogenauswertungen. Zwar betont Foigas (1988:208), daß die bisherigen soziokognitiven Studien lediglich den ersten Schritt bei der Erforschung interkultureller Kommunikation darstellten. Der nächste wichtige Schritt erfordere konkrete Untersuchungen derjenigen Konsequenzen, die sich aufgrund konfligierender kognitiver Schemata in interkulturellen Kommunikationssituationen ergeben. Doch bislang steht dieser Schritt noch aus.

32 Hierzu u.a. Kim/Gudykunst 1988. 33 Gudykunst 1988. 34 Hewstone/Giles 1986. 35 Auf Stereotypen in Zusammenhang mit chinesischem bzw. deutschem Interaktionsverhalten werde ich in Kapitel 3 eingehen. 36 Forgas (1988:187-188).

13

1.2.2.

Die kontrastive Pragmatik

Die 'Kontrastive Pragmatik' führte in den vergangenen fünf Jahren vereinzelt Untersuchungen zur Realisierung bestimmter Sprechakte in verschiedenen Sprechgemeinschaften durch. Beispielsweise kontrastiert Coulmas (1981) Begrüßungs- und Verabschiedungsformeln, Anredeweisen sowie sonstige routinisierte Sprechereignisse in deutschen und japanischen Sprachgemeinschaften. Mißverständnisse in interkulturellen Kommunikationssituationen werden hierbei auf 'pragmatische Interferenzen' zurückgeführt, d.h. man geht davon aus, daß vertraute kulturelle Sprechgewohnheiten in die Zielsprache transferiert werden und dort u.U. unangemessen sind. Was das methodische Vorgehen der kontrastiven Pragmatik betrifft, so versucht diese anhand von Fragebögen und Testsituationen die kulturelle Angemessenheit bestimmter Sprechakte zu eruieren. 37 Die Untersuchungseinheit der Analysen ist meist der einzelne Sprechakt. Beim 'discourse computation'-Test ( D C T ) erhalten Sprechende unterschiedlicher Muttersprachen einen unvollständigen Dialog, in den sie den fehlenden Sprechakt einzutragen haben. 38 Dieser Test wird dann statistisch ausgewertet. Sicherlich besteht hierbei der Vorteil der Vergleichbarkeit der Daten. Jedoch kann aufgrund der Konstruiertheit der Situation keineswegs darauf geschlossen werden, was tatsächlich in realen Kommunikationssituationen abläuft, d.h. welche Sprechakte Angehörige verschiedener Kulturen tatsächlich, wie, in welchem Kontext, mit welcher interaktiven Funktion produzieren. Konkretes Sprachhandeln in natürlichen Situationen wird von der kontrastiven Pragmatik bislang leider noch nicht untersucht. Darüberhinaus ist anzumerken, daß sich verbale Aktivitäten meist nicht einfach in die Kategorie eines Sprechaktes einordnen lassen; 39 ihre kommunikativen Funktionen können nur sequentiell, d.h. in der interaktiven Entfaltung unter Einbeziehung der Rezipienten, erfaßt werden. 40

1.2.3.

Die Theorie der kulturspezifischen kommunikativen Codes

Die ersten Untersuchungen tatsächlich ablaufender interkultureller Gespräche entstanden innerhalb der interpretativen Soziolinguistik. Mit J. J. Gumperz' ethnographischen und soziolinguistischen Studien drang das Thema der interkulturellen Kommunikation schließlich auch in die Sprachwissenschaft ein. Gumperz (1982) führte zunächst Feldforschungen in multilingualen Gegenden (Indien, Norwegen, Großbritanien) durch, wo interkulturelle Kommunikationssituationen zum Alltag gehören. Im Zusammenhang mit diesen empirischen Arbeiten und den Ansätzen der interpretativen Soziolinguistik entwickelte der Anthropologe und Linguist Gumperz wesentliche Konzepte der Erforschung interkultureller Kommunikation für die Linguistik. Seine Feldforschung führte ihn zu der Erkenntnis, daß Unterschiede im Kommunikationsstil eine wichtige Rolle für die Erhaltung von Macht- und Statusverhältnissen spielen. Statt bei allgemeinen Aussagen über Probleme und Diskriminierung ethnischer Minderheiten zu verweilen, 37 Coulmas 1981; Naotsuka/Sakamoto 1983; Blum-Kulka/House/Kasper 1989. 38 Siehe beispielsweise das CCSARP-Projekt (Cross-Cultural Speech Act Realization Projekt) Blum-Kulka/House/Kasper 198939 Streeck 1980. 40 Vgl. hierzu auch Kapitel 6 .

14

analysierte Gumperz interkulturelle Mißverständnisse und deren sprachliche und soziokulturelle Ursachen und führte damit den methodisch wichtigen Schritt zur Analyse konkreter Interaktionsvorgänge durch: Interaktionssituationen zwischen Angehörigen verschiedener Kulturen wurden aufgezeichnet, transkribiert und somit linguistischen Analysen zugänglich gemacht. Gumperz' Ansatz geht davon aus, daß wir als Mitglieder einer Kultur mit dem soziokulturellen Wissen auch bestimmte Interaktionskonventionen erwerben, die uns jedoch meist nicht voll bewußt sind. Kommunizieren wir mit Angehörigen einer anderen Kultur, so wenden wir diese Interaktionskonventionen in zweierlei Hinsicht an: zur Konstruktion interaktiver Handlungen und zur Interpretation der Äußerungen unserer Gesprächspartner. Eine seiner Hauptthesen ist nun, daß Schwierigkeiten in interkulturellen Kommunikationssituationen aufgrund von Unterschieden im soziokulturellen Wissen, in der Informationsstrukturierung und in der Handhabung und Interpretation konversationeller (verbaler und nonverbaler) Signale entstehen. Werden konversationelle Konventionen (und speziell Kontextualisierungshinweise 41 ) nicht geteilt, so haben Interagierende Probleme, gemeinsame Aktivitäten auszuhandeln und die Äußerungen des Gegenübers adäquat zu interpretieren. Die Resultate sind nicht selten Fehlinterpretationen, Verunsicherungen und Irritationen. So zeigen Gumperz/Jupp/Roberts (1979) im 'Cross-Talk'-Projekt, daß ethnische Minderheiten (Asiaten in Großbritanien) aufgrund ihrer Sprechstile und -konventionen in 'gate-keeping'-Situationen (u.a. in Job-Interviews) häufig erfolglos kommunizieren. Selbst wenn alle Beteiligten guten Willens sind, können Mißverständnisse aufgrund der Verwendung unterschiedlicher kommunikativer Codes zu stereotypen Zuschreibungen und zur Diskriminierung ethnischer Minderheiten fuhren. Sowohl Streeck (1985) als auch Hinnenkamp (1989) stellen dem Gumperz'schen Ansatz 4 2 die Arbeiten des Soziologen Barth sowie der Erziehungswissenschaftler und Ethnographen Erickson und Shultz gegenüber. Barths (1969) "Theorie der ethnischen Grenzen" beschreibt das identitätsstiftende Abgrenzungsverhalten bestimmter ethnischer Gruppen und verdeutlicht die Funktion von Unterschieden im Sprechstil als wichtige identitätsstiftende Faktoren: Durch Abgrenzung nach Außen soll die eigene Gruppenidentität gestärkt werden. Barths Thesen beziehen sich vor allem auf multiethnische Gesellschaften, in denen Angehörige der gesellschaftlich diskriminierten Minderheit auf Angehörige der Mehrheit treffen und hierbei die Notwendigkeit einer Abgrenzung sehen. Den Unterschied zwischen dem Ansatz von Barth und dem von Gumperz sehe ich jedoch weniger inhaltlich als methodisch. Während Gumperz anhand authentischer Gesprächssituationen aufzeigt, wie Identitäten ausgehandelt, wie Bedeutung hergestellt und wie Mißverständnisse aufgrund der Verwendung unterschiedlicher kommunikativer Stile auf der Mikroebene des Gesprächs produziert werden, liefert Barth (1969:l4ff.) ethnographische und sozialpsychologische Beschreibungen auf der Makroebene und verdeutlicht dabei, daß bestimmte kul-

41 Auf den Begriff der Kontextualisierungshinweise werde ich in Kapitel 2 noch ausführlich eingehen. 42 Bei Streeck (1985:105) wird dieser Ansatz als "die Theorie der kommunikativen Kodes", bei Hinnenkamp (1989:6ff.) als "die Theorie der kulturell bedingten kommunikativen Verschiedenheit" bezeichnet.

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turclle Merkmale (wie Sprachstile) von den Interagierenden als "Signale und Embleme von Unterschieden benutzt, andere aber ignoriert werden" können. Was nun die Arbeit von Erickson/Shuitz (1982) betrifft, so siedeln diese ihre Analysen interkultureller Kommunikation im Bereich der 'microethnography' an, einem Ansatz, der dem G um perz'schen methodisch sehr verwandt ist. Ihre Untersuchung ist stark emprisch ausgerichtet und basiert auf konkreten Gesprächssituationen zwischen Angehörigen verschiedener Kulturen (schwarze und weiße Studenten und 'Counselors' an amerikanischen Hochschulen). Die Analyse verdeutlicht, daß kulturspezifische Kommunikationskonventionen zu Gesprächsstörungen fuhren können, doch den Interagierenden stets Reparaturmechanismen zur Verfugung stehen, um mögliche kommunikative Fehlschläge zu korrigieren. Auch stellt die Kulturzugehörigkeit nicht immer die einzig relevante Identitätskategorie dar; vielmehr können in interkulturellen Kommunikationssituationen durchaus andere Identitätsfaktoren, wie gemeinsame Sportinteressen, gleicher Heimatort, gleiche Geschlechtszugehörigkeit etc. in den Vordergrund treten und dadurch ethnische Differenzen und Unterschiede im Kommunikationsverhalten sekundär werden lassen. Kulturelle Zugehörigkeit wird somit zu einer aushandelbaren Größe, die von den Interagierenden zu verschiedenen Zwecken aktiviert werden kann (bzw. de-aktiviert im Hintergrund bleibt). Dies heißt jedoch nicht, daß in interkulturellen Kommunikationssituationen keine Mißverständnisse oder 'uncomfortable moments' entstehen könnten. Falls es den Beteiligten jedoch gelingt, gemeinsame Identitäten (co-membership) zu aktivieren, ist die Chance groß, daß weniger Kommunikationsstörungen auftreten bzw. diese weniger gravierende Auswirkungen haben. 43 Insgesamt verdeutlicht die Arbeit von Erickson/Shuitz (1982), daß die Grenzen der Verständigung, die Auswirkung kultureller Identitätsaktivierung und die Toleranz fur interaktive Unbestimmtheit und Kommunikationsstörungen stark abhängig sind von der individuellen Bereitschaft, sich auf interkulturelle Situationen einzulassen und von der sozio-ökonomischen Stellung der Interaktionsteilnehmenden. Dieser Umstand erklärt auch, weshalb deutsche Studierende, die sich mit chinesischen Kommilitoninnen und Kommilitonen unterhalten und dabei gemeinsame Interessen verfolgen, in der Regel eher bereit sind, bestimmte Gesprächsstörungen in Kauf zu nehmen, als beispielsweise deutsche Angestellte in Interaktionen mit türkischen Gastarbeitern.44

1.3.

Z u m Kulturbegriff in der interkulturellen Kommunikation

Wodurch werden Gespräche zu interkulturellen Gesprächen? Wann und wie wird der Faktor Kultur in einer Interaktionssituation relevant? Ist interkulturelle Kommunikation also gleichzusetzen mit Gesprächssituationen zwischen Vertretern verschiedenen Nationalitäten? Handelt es sich aber nicht auch bei Gesprächen zwischen Angehörigen verschiedener ethnischer Gruppen mit derselben Muttersprache, beispielsweise zwischen Schwarzen und Weißen in den USA, um interkulturelle Situationen? Können wir bei einer Interaktion zwischen einem Punk und einer 43 Erickson/Shuitz (1982:184-185). 44 Vgl. hierzu Hinnenkamp 1989.

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Hochschuldozentin von interkultureller Kommunikation sprechen? Maltz/Borker (1982) und Tannen (1990) wenden den Begriff der interkulturellen Kommunikationssituation gar auf Gespräche zwischen Frauen und Männern an, da diese aufgrund ihrer 'kultur'-spezifischen Sozialisation (als Frau bzw. als Mann) unterschiedliche Diskursstile erworben haben. Die meisten Arbeiten, die sich der Analyse interkultureller Begegnungen widmen, liefern entweder keine oder nur unzureichende Definitionen dessen, was sie unter Kultur verstehen.4^ Neben der Diskussion, unter welchen Bedingungen von interkulturellen Begegnungen gesprochen werden kann, bleibt bei der Analyse von Gesprächssituationen zwischen Angehörigen verschiedener Gemeinschaften die zentrale Frage, wie der Faktor Kultur in der Kommunikationssituation selbst zum Tragen kommt, d.h. mit welchen Strategien die Interagierenden die Kommunikationssituation zu einer Begegnung verschiedener Kulturen machen. Wie werden kulturelle Differenzen interaktiv konstruiert? Wann und wie wird Kulturzugehörigkeit als Identitätskategorie in den Gesprächen überhaupt relevant? Ich werde im folgenden neuere kulturanthropologische Ansätze zum Kulturbegriff vorstellen und dabei verdeutlichen, daß Kultur, kulturelle Gewohnheiten und Differenzen keine vom Interaktionsprozeß losgelösten Entitäten repräsentieren, sondern wesentliche Bestandteile der Interaktion sind. Gleichzeitig soll jedoch betont werden, daß kulturelle Zugehörigkeit lediglich eine mögliche Identitätskategorie darstellt (neben anderen wie Geschlecht, soziale Zugehörigkeit, institutionelle Rolle etc.), die den Interagierenden als Ressource zur Verfügung steht und aktualisiert werden kann. Ich trete in einer Kommunikationssituation nicht permanent als 'Deutsche' auf, sondern kann je nach Kontext andere mir verfügbare Identitätsressourcen aktivieren: Akademikerin, Frau, Süddeutsche, Feministin, Tochter von ..., etc. 46 Der Kulturbegriff hat in den letzten hundert Jahren viele Bedeutungsunterschiede durchgemacht, und mittlerweile liegen zahlreiche Definitionen fiir Kultur v o r . L a n g e Zeit wurde Kultur als Gradmesser der zivilisatorischen Entwicklung einer Gemeinschaft betrachtet. Je mehr Kultur eine Gesellschaft hatte, desto kultivierter und zivilisierter waren ihre Mitglieder — zumindest ihre Bildungselite.48 Die Vorstellung der fortschreitenden Entwicklung des menschlichen Lebens von 'primitiv* zu 'erhaben' offenbarte sich auch in der Einteilung: 'Naturmenschen' versus 'Kulturmenschen'. Diese Kulturvorstellung bringt Tylor in 'Primitive Culture' (1871), einer der frühesten ethnographischen Studien zur Gesellschaft und Kultur, zum Ausdruck. Nach Tyler stellt die menschliche Kultur, ebenso wie die Religion, ein Produkt der natürlichen Evolution mentaler Kapazitäten des Menschen dar. Kultur wird hierbei als ein Komplex betrachtet, which includes knowledge, belief, art, morals, law, custom, and any other capabilities and habits acquired by man as a member of society. (Tyler 1871:1) 45 Ausnahmen stellen die Arbeiten von G u m p e n (1982); Moerman (1988); Hinnenkamp (1989) dar. 46 Hierzu auch Erickson/Shultz 1982. 47 Anstatt die Vielzahl an Kulturdefinitionen vorzustellen, sollen lediglich die Hauptströmungen des Kulturbegriffs, der für den Zusammenhang von Sprache und Kultur, bzw. Interaktion und Kultur und damit für die interkulturelle Kommunikation von Bedeutung ist, aufgezeigt werden. 48 Goodenough (1971:1-50).

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Kultur kommt nach Tyler einem Phänomen gleich, das das Verhalten der Menschen lenkt und sich zugleich ständig weiter entwickelt. Boas (1948) kritisiert Tylers Kulturkonzept und betont, daß Kultur nicht etwa ein Mysterium sei, das außerhalb der Gesellschaft und seiner Mitglieder existiere und sich auf geheimnisvolle Weise durch eigene Kraft vorwärts entwickle, sondern von den Angehörigen einer Gesellschaft in deren Handlungen entwickelt und fortgesetzt werde. Dieser von Boas entwickelte Kulturbegriff beeinflußte die amerikanische Anthropologie nachhaltig: Kultur wurde nun als distinktives Ganzes bzw. als ein fiir jede Gesellschaft charakteristisches Konglomerat (body) aus Gewohnheiten, Glauben und sozialen Institutionen gesehen. Statt wie bislang davon auszugehen, daß verschiedene Kulturen sich auf unterschiedlichen Stufen befinden (auf einer Skala von primitiv zu zivilisiert; vom Naturmenschen zum Kulturmenschen), hob Boas (1948:381) die Eigenständigkeit der einzelnen Kulturen hervor und lehnte damit als einer der ersten die Vorstellung einer linearen Kulturevolution ab. Anhand empirischer Untersuchungen sollten demzufolge die eigenständigen "practices, needs, and pressures" jeder Kultur ermittelt werden. Boas Betonung auf empirischer Forschung beeinflußte den Untersuchungsgegenstand der Kulturanthropologie und der anthropologischen Linguistik nachhaltig: Die Ara der Feldforschung begann. Da die Ethnographie der Kommunikation sowie einige der Ansätze zur Erforschung interkultureller Kommunikation stark vom Kulturbegriff der kognitiven Anthropologie bzw. 'new ethnology' beeinflußt wurden, möchte ich im folgenden näher darauf eingehen. Kennzeichend für die kognitive Anthropologie ist das Goodenough'sche Konzept der Kultur als Ansammlung all dessen, was man wissen und glauben muß, um fur andere Mitmenschen in einer akzeptablen Art zu handeln: As I see it, a society's culture consists of whatever it is one has to know or believe in order to operate in a manner acceptable to its members, and do so in any role that they accept for any one of themselves. Culture, being what people have to learn as distinct form their biological heritage, must consist of the end product of learning: knowledge, in a most general, if relative, sense of the term. By this definition, we should note that culture is not a material phenomenon; it does not consist of things, people, behavior, or emotions. It is rather an organization of these things. It is the forms of things that people have in mind, their models for perceiving, relating, and otherwise interpreting them. As such, the things people say and do, their social arrangements and events, are products or by-products of their culture as they apply it to the task of perceiving and dealing with their circumstances. (Goodenough 1964: 36)

Kultur existiert demnach aus Entscheidungsstandards hinsichtlich der Erfahrungs- und Emotionsverarbeitung und der Art und Weise, wie Handlungen auszuführen sind. Als "Produkt des menschlichen Lebens" setzt sich Kultur aus folgenden vier Teilaspekten zusammen: 1. The ways in which people have organized their experience of the real world so as to give it structure as a phenomenal world of forms, that is, their percepts and concepts. 2. The ways in which people have organized their experience of their phenomenal world so as to give it structure as a system of cause and effect relationships (...). 3. The ways in which people have organized their experience of their phenomenal world so as to structure its various arrangements in hierarchies of preferences, that is their value or sentiment systems. 4. The ways in which people have organized their experience of their past efforts to accomplish recurrent purposes into operational procedures for accomplishing these purposes in the future, that is, a set of 'grammatical' principles of action and a series of recipies for accomplishing particular ends. (Goodenough 1971:22)

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Was die Sprache angeht, so hebt Goodenough (1971:19) diese als wichtigen Teilaspckt einer Kultur hervor: Sprache ist ein 'cultural artifact'. Sic besteht aus all dem, was man wissen muß, um sich adäquat mit Angehörigen einer Gemeinschaft auf eine Weise unterhalten zu können, die diese als ihrer eigenen Sprechweise entsprechend akzeptieren. 49 Im Sinne der kognitiven Anthropologie setzt sich Kultur aus psychologischen Strukturen zusammen, mit deren Hilfe einzelne Menschen oder Gruppen ihr Verhalten lenken. Die Beschreibung von Kultur gleicht damit dem Aufstellen von Regelapparaten: Folgt ein Außenstehender dem betreffenden ethnographischen Algorithmus, so funktioniert er, als wäre er ein Mitglied der betreffenden Gemeinschaft. Dieser Versuch der Kulturbeschreibung ist jedoch mit äußerster Skepsis zu betrachten. Die Schwierigkeiten und das Scheitern der KI (Künstlichen Intelligenz)Forschung bei der Formalisierung einfachster Alltagsphänomene^ 0 fuhrt die Unmöglichkeit vor Augen, Alltagswissen (beispielsweise scheinbar einfache räumliche Beziehungen wie 'unten', 'oben', 'nah', 'fern' etc.) anhand von Algorithmen und formalen Regelsystemen darzustellen. Ferner bleibt die Frage bestehen, ob eine derart formalisierte Kulturbeschreibung tatsächlich das reflektieren kann, was die Mitglieder der Kulturgemeinschaft erfahren, denken und fühlen. Reicht das reine 'Wissen' und der 'Glauben' aus, um ein vollwertiges Mitglied einer Gemeinschaft zu sein? Ferner bleibt die Frage unbeantwortet, wie die Kultur, die "die Menschen in ihren Köpfen haben" anhand von Interaktionssituationen erworben wurde und wie sie in den Alltagswelten zum Vorschein kommt. Kultur kann unmöglich als individuelle Erscheinung im Kopf eines Einzelnen betrachtet werden, vielmehr werden kulturelle Wissensschemata interaktiv erworben, bestätigt und verändert. Das kognitive Kulturverständnis müßte somit hinsichtlich seiner analytischen Handhabbarkeit in konkreten Alltagsinteraktionen vervollständigt werden.5' Einzelne neuere Arbeiten im Bereich der kognitiven Anthropologie und kognitiven Linguistik weisen auch tatsächlich in diese Richtung, indem sie die Frage aufwerfen, wie 'Folkmodelle' bzw. kulturelle Modelle im Diskurs zum Tragen kommen, und wie kulturelles Wissen in zwischenmenschlichen Interaktionen übermittelt wird. Dabei werden vermehrt Analysen von Interviews und natürlichen Interaktionen als methodische Vorgehensweise propagiert.^2 Einige der hier aufgekommenen Kritikpunkte an dem frühen kognitiven Kulturbegriff Goodenoughs werden auch von dem Kulturanthropologen Geertz aufgegriffen. Anlehnend an den weiten Textbegriff von Ricoeur, sieht Geertz (1972:26) eine Kultur als "an assemblage of texts". Ethnographie wird somit als eine Wissenschaft der Interpretation gesehen und zwar als 'thick description' (dichte Beschreibung), die tief in die kontextuelle Reichheit des sozialen Lebens ein49 Göhring (1980:73-74) wandelt in seiner Thematisierung interkultureller Kommunikationsfertigkeit bei Fremdsprachenlernern den Goodenough'schen Ansatz etwas ab, indem er 'know' und 'belief durch 'wissen und empfinden' ersetzt: "Kultur ist all das, was ein Individuum wissen und empfinden können muß, 1 ) damit es beurteilen kann, wo sich Einheimische in ihren verschiedenen Rollen so verhalten, wie man es von ihnen erwartet (Erwartungskonformität), und wo sie von den Erwartungen abweichen; 2) damit es sich in Rollen der Zielgesellschaft, die ihm offen stehen, erwartungskonform verhalten kann, sofern es dies will und nicht etwa bereit ist, die Konsequenzen aus erwartungswidrigem Verhalten zu tragen; 3) zur Kultur gehört auch all das, was das Individuum wissen und empfinden können muß, damit es die natürliche und die vom Menschen geprägte oder geschaffene Welt wie ein Einheimischer wahrnehmen kann." 50 Dreyfus 1985. 51 Hinnenkamp (1987:50). 52 Holland/Quinn 1987.

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gebettet sein m u ß . ^ Wie weit eine 'dichte Beschreibung' allerdings gehen soll und was die Kriterien für eine adäquate Interpretation sind, thematisiert Geertz nur am Rande. Ethnographien sollen zwar herausfiltern "what our informants are up to and what it all means", doch wird hierfür nur ein äußerst vages Vorgehenskriterium angegeben: "doing the best we can". Auf der Grundlage seines semiotischen Kulturkonzeptes kritisiert Geertz die frühen Arbeiten der 'new ethnology' und 'new ethnographers' insofern, als er verdeutlicht, daß das Wissen um eine Angelegenheit dieser noch lange nicht gerecht wird. Bedeutung ist nach Geertz nicht 'in people's heads', sondern Bedeutungen werden unter den Angehörigen einer Kultur ausgehandelt. Sie sind nicht privater, sondern öffentlicher Natur. Der 'kognitivistische Irrtum', der besagt, daß Kultur aus 'mentalen Phänomenen' bestehe, die mit formalen Methoden untersucht werden können, welche denen der Mathematik und Logik ähnlich sind, verunmöglicht in Geertz' Augen eine sinnvolle Anwendung des Kulturbegriffs: In such a way (new ethnology, S.G.), extreme subjectivism is married to extreme formalism, with the expected result, an explosion of debate as to whether particular analyses (...) reflect what the natives 'really' think or are merely clever simulations. (...) The cognitive fallacy - that culture consists of 'mental phenomena which can (...) be analyzed by formal methods similar to those of mathematics and logic' is as destructive of an effective use of the concept as the behaviorist and idealist fallacies to which it is a misdrawn correction. (...) Culture (...) is no more (...) a psychological phenomenon, a characteristic of someone's mind, (...) than Tantrism, genetics or the progressive form of the verb. (Geertz 1973:11-13)

Was uns in einer fremden Kultur am stärksten daran hindert, die Handlungen anderer zu verstehen, ist weniger die Unkenntnis darüber, wie Erkennen vor sich geht, als "ein Mangel an Vertrautheit mit der Vorstellungswelt, innerhalb derer ihre Handlungen Zeichen sind" (Geertz 1987:19). In diesem Zusammenhang verweist Geertz auf Wittgenstein: Wir sagen (...) von einem Menschen, er sei uns durchsichtig. Aber es ist fur diese Behauptung wichtig, daß ein Mensch für einen anderen ein völliges Rätsel sein kann. Das erfährt man, wenn man in ein fremdes Land mit gänzlich fremden Traditionen kommt; und zwar auch dann, wenn man die Sprache des Landes beherrscht. Man versteht die Menschen nicht. (Und nicht darum, weil man nicht weiß, was sie zu sich selber sprechen.) Wir können uns nicht in sie finden. (Wittgenstein, zitiert in Geertz 1987:20)

Geertz (1987:9) geht in seinem Kulturkonzept in Anlehnung an Max Weber davon aus, daß der Mensch "in selbstgesponnenen Bedeutungsgeweben verstrickt ist", wobei Kultur eben dieses Gewebe darstellt. Kultur wird nicht in erster Linie als Zusammentreffen konkreter Verhaltensmuster, als Sitten, Gewohnheiten und Traditionen gesehen, wie dies bei Goodenough noch der Fall ist, sondern vielmehr als ein Metakonstrukt von Plänen und Regeln, die Geertz (1973:44) als 'Gefiige von Kontrollmechanismen' bezeichnet. Kultur stellt also keine statische Entität dar, sondern einen permanenten Werde-Prozeß: Eine Kultur veräußert sich ständig in den alltäglichen Aktivitäten seiner Mitglieder. Zentral bei Geertz 53 Geertz (1987:7ff.). 54 Geertz' Kritik an der kognitiven Anthropologie und deren Kulturkonzepc bezieht sich allerdings lediglich auf die frühen Arbeiten, die mit der engen Kulturdefinition Goodenough's arbeiten. In den 80er Jahren wurde dieser Kulturbegriff erweitert und Kultur als "folk models of behavior betrachtet, deren Erforschung nicht mit rein formalen Methoden zu bewältigen ist. (Holland/Quinn 1987).

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ist der Gedanke, daß Kultur nicht als Ornament menschlicher Existenz betrachtet werden kann, sondern vielmehr eine wesentliche Bedingung fiir das menschliche Verhalten überhaupt darstellt. 55 Der Mensch wird zum Menschen durch die Kultur. Das Set an Kontrollmechanismen, bestehend aus signifikanten Symbolen, wird vom Individuum im Laufe seiner Sozialisation als Mitglied einer Gemeinschaft erworben und gehört zu den Selbstverständlichkeiten, die uns häufig erst in Konfliktsituationen bewußt werden. Unsere Ideen, Wertvorstellungen, Handlungen, ja selbst unsere Emotionen sind kulturelle Produkte. Der Mensch selbst wird zum kulturellen Artefakt: 5 6 Alle Menschen sind zwar mit denselben biologischen Charakteristiken ausgestattet, doch ist es unsere spezifische Kultur, die bestimmt, wie diese biologischen Funktionen verwendet und 'kultiviert' werden. 57 Wir alle besitzen ζ. B. die Fähigkeit und Notwendigkeit zu essen, zu schlafen und andere körperliche Funktionen auszufuhren. Wie dies jeweils geschieht, bestimmt unsere kulturelle Umwelt. Nehmen wir beispielsweise die Tätigkeit des Essens: Menschsein beinhaltet in diesem Zusammenhang nicht nur die mechanische Essenseinnahme, sondern auch spezifische Tischsitten und Aspekte, wie die Vorliebe für gewisse Gerichte, die auf eine bestimmte Art zubereitet werden, die Art und Weise wie das Essen eingenommen wird (Besteck, Stäbchen, Hände ...), zu welchen Zeiten welche Art von Mahlzeiten gegessen werden etc. Ebenso wie einem Individuum seine eigene Identität erst bewußt wird, wenn es mit einem sozialen 'Anderen' interagiert, wird uns unsere Kultur (und damit unsere kulturellen Kontrollmechanismen) erst in der Konfrontation mit einer anderen bewußt, 58 d.h. wenn wir uns in fremdkulturellen Grenzbereichen befinden, in denen bisherige Selbstverständlichkeiten hinterfragt werden. Beispielsweise wurden mir viele Verhaltensweisen deutscher Studierender im Seminarraum erst bewußt, als ich chinesische Studierende im chinesischen Universitätskontext erlebte. 59 Doch wie auch Cohen (1982:5) betont, geht mit der interkulturellen Erfahrung meist auch eine Bewertung einher: Spuckt beispielsweise ein chinesischer Student im Klassenzimmer auf den Fußboden, so reagiere ich angeekelt, verstört oder gar entrüstet, während chinesische Studierende entsetzt sind, wenn ich in ein Taschentuch schnäuze und das 'angeschnäuzte' Taschentuch anschließend in die Hosentasche stecke. Die organisierten Signifikanzsysteme einer Kulturgemeinschaft regulieren auch unser Interaktionsverhalten. Die Interaktion stellt quasi die Kreuzung zwischen Mensch und Gesellschaft dar, der Ort an dem kulturelle Kontrollmechanismen bestätigt und ausgetauscht werden. Der Kommunikationswissenschaftler und Anthropologe Prosser (1978:5) formuliert diesen Zusammenhang wie folgt:

55 Geertz (1973:46). 56 Geertz (1973:55). 57 Der Geertz'sche Ansatz weist starke Parallelen zum Kulturkonzept des Anthropologen Hall (1976:16ff.) auf, wenn dieser betont, daß Kultur das menschliche 'Medium' schlechthin sei. Es existiere - so Hall (1976:17) - kein Aspekt des menschlichen Lebens, der nicht kulturell geprägt und verändert wird. Doch gerade die alltäglichsten Aspekte der menschlichen Interaktion werden aufgrund ihres 'taken-for-granted'- Charakters kaum auf ihre kulturelle Bedingtheit hin hinterfragt. 58 Cohen (1982:5). 59 Günthner 1988.

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Communication and culture are so closely bound together that virtually all human social interaction is culturally linked. Even when we engage unconsciously or consciously in intra- or interpersonal communication, our own cultural background affects all of our actions and reactions. We have relatively little choice about much of our cultural heritage and background: we carry our cultural baggage with us and cannot isolate ourselves from our cultural roots. (Prosser 1978:5)

1.4.

Die interaktive Begegnung mit dem 'Fremden'

Der dieser Arbeit zugrunde liegende Kulturbegriff geht davon aus, daß Kultur kein dem Interaktionsprozeß aufgepfropftes Etwas darstellt, sondern integraler Bestandteil jeder menschlichen Interaktion ist. In Interaktionen bestätigen, perpetuieren und verändern wir kulturelle Normen, Werte und Relevanzen. Kultur ist somit ein Teil des Interpretationsprozesses und beeinflußt die Inferenzen, die wir in konkreten Kommunikationssituationen ziehen. Wodurch unterscheiden sich nun Interaktionen zwischen Angehörigen derselben Kultur von Begegnungen mit Angehörigen fremder Kulturen? Die in intrakulturellen Gesprächen mögliche Unterstellung prinzipiell ähnlicher soziokultureller Konventionen und Wissensbestände bzw. 'Kontrollmechanismen' unter den Interagierenden kann in interkulturellen Situationen zu Mißverständnissen und Kommunikationsstörungen fuhren: Die "Unterstellung von Typikalität und Gleichheit von Erfahrungsmuster" (Schütz/Luckmann 1979:277) ist hierbei nur noch begrenzt möglich, bzw. die Grenzen geteilter Erfahrungsmuster müssen ständig neu eruiert werden. U m gegenseitige Verständigung zu erzielen, nehmen wir im allgemeinen gewisse Idealisierungen vor. Dazu gehört zum einen die Idealisierung der 'Austauschbarkeit der Standpunkte' (Schütz/Luckmann 1979:88): Wäre ich dort, wo mein Interaktionspartner jetzt ist, so würde ich die Dinge in gleicher Perspektive, Distanz und Reichweite erfahren wie er; und wäre er hier, wo ich jetzt bin, so würde er die Dinge in gleicher Perspektive erfahren wie ich es tue. Eine weitere Idealisierung besteht in der 'Kongruenz der Relevanzsysteme' (Schütz/Luckmann 1979:88-89): Bis zum Gegenbeweis setze ich als selbstverständlich voraus, daß die Unterschiede in den Perspektiven zwischen mir und meinem Interaktionspartner, die auf unsere je einzigartige biographische Situation zurückgehen, fur die Absichten, die wir beide gerade verfolgen, bedeutungslos sind. D.h. ich nehme an, daß wir so handeln und uns so verständigen können, als ob wir die gemeinsamen Gegenstände und ihre Merkmale in einer identischen Weise erfahren und interpretieren würden. Interagierende unterstellen somit, daß sie und ihre Partner/innen von einer gemeinsam geteilten sozialen Welt sprechen. Eine weitere Idealisierung betrifft das automatische, von Gewohnheiten geleitete 'Denken-wie-üblich', das auf bestimmten Kultur- und Zivilisationsmustern fußt. Diese stellen Rezepte und typische Haltungen bereit und werden von den Mitgliedern einer Kulturgruppe als fraglose 'Selbstverständlichkeit' aufgenommen. Folgende Annahmen liefern das Fundament für dieses 'Denken-wie-üblich': 60 1. Das (soziale) Leben wird so weiterbestehen, wie es gewesen ist 60 Schütz (1978:58-59).

und folglich werden dieselben Probleme, welche die

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gleichen Lösungen verlangen, wiederkehren. Somit werden unsere früheren Erfahrungen genügen, um Situationen in der Zukunft zu meistern. 2. Wir können uns auf unser Wissen, das uns unsere Eltern, Lehrerinnen, Traditionen usw. überliefert haben, verlassen. Und zwar auch dann, wenn wir dessen Ursprung und reale Bedeutung nicht kennen. 3. Für den normalen Ablauf der Dinge genügt es, etwas über den allgemeinen Typus oder Stil der Ereignisse zu wissen, die uns in unserer Lebenswelt begegnen, um diese zu meistern. 4. Weder die Rezept-Systeme, die als Auslegungs- und Anweisungsschemata fungieren, noch die ihnen zugrunde liegenden Grundannahmen (siehe Punkt 2) sind unsere Privatangelegenheiten, sondern sie werden von unseren Mitmenschen in gleicher Weise akzeptiert und angewandt. Aufgrund dieser Idealisierungen gelingt es den Interagierenden - trotz persönlicher, biographischer etc. Differenzen - eine praktisch wirksame 'Fiktion des Verstehens' solange aufrecht zu erhalten, bis gravierende Störungen diese Idealisierungen ins Stocken bringen und bislang angenommene Selbstverständlichkeiten, bzw. das 'Denken-wie-üblich', hinterfragt werden. In interkulturellen Situationen müssen diese Idealisierungen u.U. überprüft werden, bzw. ihre Anwendbarkeit und Grenzen müssen neu festgestellt werden. Unbestimmtheiten und Unsicherheiten sind die Konsequenz dieser Begegnungen. In seiner Abhandlung "Der Fremde: Ein sozialpsychologischer Versuch" beschreibt Schütz (1972) gerade jene Situation der fremdkulturellen Begegnung, in der die unhinterfragte und selbstverständliche Anwendung kultureller Muster und das automatische, halb-bewußte und von Gewohnheiten geleitete Verhalten — das 'Denken-wie-üblich* — außer Kraft gesetzt wird: Der Fluß der Gewohnheiten wird unterbrochen und eine 'Krise* entsteht. 61 D.h. in der neuen Umgebung entlarven sich die bislang als selbstverständlich angenommenen Orientierungsmuster als nur noch bedingt brauchbar. Doch auch die Orientierungsmuster der fremden Kultur können nicht einfach übernommen werden. Noch kann eine "allgemeine Transformationsformel fiir beide Zivilisationsmuster" erstellt werden, die es dem Fremden erlaubt, sämtliche "Koordinaten des eigen-kulturellen Orientierungsschemas in solche umzuwandeln, die fur das fremdkulturelle Schema gültig sind" (Schütz 1972:66). So zeigt sich in interkulturellen Begegnungen, daß die Auslegung der Ereignisse und Handlungen häufig nicht mit den Interpretationen der Mitglieder der anderen Kultur zusammenfallen. Folglich sind die Kultur- und Zivilisationsmuster der Gruppe, welcher sich der Fremde nähert (...) für ihn kein Schutz, sondern ein Feld des Abenteuers, keine Selbstverständlichkeit, sondern ein fragwürdiges Untersuchungsthema, kein Mittel um problematische Situationen zu analysieren, sondern eine problematische Situation selbst und eine, die hart zu meistern ist. (Schütz 1972:67)

Die Konsequenz der ins Wanken geratenen 'Weltanschauung' reicht von Faszination über Verunsicherung und Abwertung des 'Fremden' bis zum Kulturschock.

61 Schütz (1972:59).

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In Anlehnung an Geertz und Schütz gehe ich davon aus, daß Interaktion und Kultur eng verbunden sind, bzw. Kultur in die Kommunikationsmuster hineinreicht und somit als Teil der Interaktionsstrategien, Diskursstile, Wissens- und Interpretationsschemata zu verstehen ist. Folglich ist eine detaillierte Beschreibung und Analyse derjenigen kommunikativen Umstände, unter denen verschiedene kulturelle Systeme zusammentreffen, bzw. unter denen 'Fremdheit' konstruiert und erfahren wird und kulturelle Zugehörigkeit bzw. Differenzen aktiviert werden, fur die Erforschung interkultureller Kommunikation vonnöten.

2.

Methodologische Grundlagen der Arbeit

Der Analysegegenstand der vorliegenden Arbeit - die Aushandlung von Bedeutung in interkulturellen Kommunikationssituationen - entstammt interaktivem Handeln im situativen Kontext und erfordert somit ein methodisches Vorgehen, das der Kontextbezogenheit sprachlicher Aktivitäten gerecht wird und folgende Beschreibungsebencn einbezieht: 1. Kulturspezifische Interaktionskonventionen und soziokulturelles Hintergrundwissen. Dies betrifft den Bereich der sozialen Etikette und umfaßt 'face-work'-Strategien, Tabubereiche, Direktheitsgrade, Aspekte des kommunikativen Haushalts einer Gemeinschaft sowie kulturspezifische Erwartungen an die Interaktionssituation. 2. Die lokale Gesprächsorganisation. Diese Ebene betrifft die sequentielle Analyse von Interaktionsstrategien, die Gesprächsteilnehmende verwenden, um bestimmte Aktivitäten zu erzeugen. (Beispielsweise: Wie wird Dissens übermittelt? Mittels welcher Strategien signalisieren die deutschen und chinesischen Rezipienten aktive Zuhörerschaft? Welche Techniken wenden die Interagierenden an, um Verstehensschwierigkeiten zu signalisieren?) 3. Aspekte der Infbrmationsorganisation. Wie werden Informationen dargeboten? Welche Kohärenz- und Kohäsionsmittel werden verwendet? Wie signalisieren die Sprecher 'neue' und 'gegebene' Informationen? Welche prosodischen, syntaktischen bzw. diskurspragmatischen Mittel werden verwendet, um bestimmte Informationen zu fokussieren? etc. Aufgrund dieser Kombination von Beschreibungsebenen (kulturspezifischer Interaktionskonventionen, Strategien der Gesprächsorganisation und Techniken der Informationsstrukturierung) und der notwendigen Integration ethnographischer, konversationsanalytischer und linguistischer Methoden liefert die interpretative Soziolinguistik mit Anleihen aus der Ethnographie der Kommunikation und der ethnomethodologischen Konversationsanalyse den methodischen Bezugspunkt der Untersuchung. 1 Erst das Zusammenspiel der verschiedenen Analyseansätze ermöglicht eine fruchtbare Auseinandersetzung mit der vorliegenden Problemstellung. Alle drei methodischen Ansätze zur Interaktionsanalyse sind innerhalb des 'interpretativen Paradigmas' (Wilson 1980:58) der Sozial- und Geisteswissenschaften verankert und betrachten soziale Interaktion als einen interpretativen Vorgang, in dem sich die Teilnehmenden gegenseitig ihre Handlungsabsichten, Einstellungen und Interpretationen signalisieren und Bedeutungen lokal aushandeln. Bei der folgenden Vorstellung dieser Forschungsrichtungen (der Ethnographie der Kommunikation, der ethnomethodologischen Konversationsanalyse und der interpretativen Soziolinguistik) wird der Schwerpunkt auf deren Anwendungsmöglichkeiten und -grenzen in Hinblick auf die Analyse interkultureller Kommunikation liegen.

1

Weitere Impulse liefern verschiedene mit den genannten Ansätzen verwandte Forschungstraditionen, wie die linguistische Pragmatik, Diskursanalyse, Hermeneutik, Wissenssoziologie und kognitive Linguistik.

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2.1.

Ethnographie der Kommunikation

2.1.1.

Entstehungsgeschichte und zentrale Fragestellungen

Die Ethnographie der Kommunikation2 entwickelte sich in den 60er Jahren in Auseinandersetzung mit der linguistischen Anthropologie.3 1962 verfaßte Dell Hymes den fur diese Richtung als programmatisch anzusehenen Aufsatz "The Ethnography of Speaking", wobei er unmittelbar auf die kulturanthropologische Tradition von Sprache als Bestandteil 'historisch geschaffener Lebenspläne'4 aufbaute. Eines der zentralen Anliegen der Ethnographie des Sprechens stellt - so Hymes (1962) - die Erforschung des Sprechens in Hinblick auf seine eigenen Muster dar. Die Betonung liegt dabei auf der 'parole', der gesprochenen Sprache, dem Sprachgebrauch. Sprache wird also nicht mehr als ein abstraktes, von den Bedingungen, der Verwendung und der kulturellen Einbettung losgelöstes System behandelt, sondern als ein intersubjektives, kulturell verankertes Kommunikationsinstrument. Der Behauptung de Saussures (1967:23), daß das Sprechen 'individuell und momentan' sei und es "nichts weiter als die Summe der speziellen Fälle" gäbe, wird entgegengehalten, daß sprachliches Verhalten keine ungeordnete Tätigkeit darstellt, sondern in seinem Ablauf bestimmten Mustern und Regeln folgt. Ebensowenig wie die Sprache bzw. Grammatik regellos und chaotisch ist, ist das Sprechen eine regellose, unsystematische Aktivität:' "Gleich der Sprache ist auch das Sprechen strukturiert, funktioniert als ein System und kann durch Regeln beschrieben werden" (Hymes 1979:87). Die Strukturen, die dem Sprechen zugrunde liegen, variieren jedoch von Sprechgemeinschaft zu Sprechgemeinschaft. Bezeichnend fur die Ethnographie der Kommunikation ist ihre Mittlerposition zwischen der Ï Jngiikril· und der Anthropologie. Diese interdisziplinäre Ausrichtung sollte von Anfang an ermöglichen, daß jene Forschungslücken gefüllt werden, die bislang sowohl von der Linguistik (in ihren Grammatikbeschreibungen) als auch von der Anthropologie (in ihren Ethnographien) ver-

2

In Anlehnung an die von G u m p e n und Hymes 1964 vorgenommene Begriffserweiterung von 'ethnography of speaking' zu ethnography of communication', wobei das Aufgabenfeld um nonverbale und paraverbale Aspekte ergänzt wurde, soll nier - sofern non- und paraverbale Aspekte der Kommunikation miteinbezogen sind - der umfassendere Begriff der 'Ethnographie der Kommunikation' verwendet werden. D a sich Hymes' frühe Schriften jedoch lediglich auf das Sprechverhalten beziehen, soll der eingeschränkte Begriff der Ethnographie des Sprechens dann verwendet werden, wenn von den frühen Schriften die Rede ist.

3

Bereits in den 20er Jahren hatte Sapir innerhalb der amerikanischen Kulturanthropologie und anthropologischen Linguistik den engen Zusammenhang zwischen Sprache und gesellschaftlichen Faktoren thematisiert:"It is peculiarly important, that linguists, who are often accused, and accused justly, of failure to look beyond the pretty patterns of their subject matter, should become aware of what their science may mean for the interpretation of human conduct in general. Whether they like it or not, they must become increasingly concerned with the many anthropological, sociological, and psychological problems which invade the field of language." (Sapir 1929:214). Coulmas (1979:7). Die Ähnlichkeit zu Wittgensteins (1984) Konzept des 'Sprachspiels' ist keine zufällige. Auch Wittgenstein plädiert in seinen 'Philosophischen Untersuchungen' dafür, Sprache als Teil unseres Verhaltens zu betrachten, und somit die Sprachanalyse auf die pragmatischen Regeln, die den Gebrauch der verschiedenen Ausdrucksformen steuern, zu zentrieren. Dabei entwickelt er das Konzept der Sprachspiele als kommunikative Situationen, innerhalb derer diese Regeln funktionieren. Die Sprachspiele wiederum sind eingebettet in die umfassenderen Lebensformen. Die Bedeutung des Sprachspiels ist als Teil der Lebensformen zu verstehen. Eine Sprachanalyse sollte sich nicht auf die formale Struktur beschränken, sondern vielmehr die Lebensformen, ja die "Naturgeschichte des Menschen" in Betracht ziehen. Wittgenstein plädierte - wie auch Hymes - dafür, den tatsächlichen Gebrauch der sprachlichen Ausdrücke im Kontext aer jeweiligen Kultur zu betrachten.

4 5

26 nachläßigt wurden. 6 Die Kulturanthropologie betont zwar die Notwendigkeit der Erforschung sprachlicher Phänomene und Funktionen des Sprechens, doch fehlt ihr eine Konzeption für die Einbettung von Sprache in den anthropologischen Rahmen: In e i n e m solchen Kontext ist es für die Anthropologen allzu einfach, a m V o r m i t t a g in der Einfuhrungsvorlesung Loblieder auf die Unentbehrlichkeit der Sprache fur den Menschen u n d die Kultur zu singen, und a m Nachmittag ihren einzigen Linguisten zur Fakultätskonferenz zu schicken. (Hymes 1 9 7 9 : 2 2 3 )

Was die Linguistik angeht, so bezweifelt Hymes sehr stark, daß die Theorien und Vorgehensweisen der Sprachwissenschaft in der Lage sind, eine adäquate Erforschung der Sprechfunktionen und Regeln des Sprechens zu liefern: W e n n w i r aus der Linguistik der letzten beiden Jahrzehnte etwas lernen können, dann, d a ß die Anthropologen es sich nicht leisten können, die Sprache den Linguisten zu überlassen. ( H y m e s 1979:224)

Die in der formalen Linguistik entwickelten Methoden und Beschreibungsverfahren sind nach Auffassung der Ethnographie der Kommunikation aus mehreren Gründen ungenügend: 1. Die Sprache wird aus ihrem Verwendungszusammenhang und aus der Interdependenz mit anderen Kommunikationsmodi herausgelöst. 2. Ihre Strukturen werden unabhängig von ihren Funktionen analysiert; bzw. die Strukturen werden als primär gegenüber den Funktionen betrachtet. 3. Es wird lediglich nach der Identifizierung einer Strukturebene gefragt, nicht aber nach den funktionalen Beziehungen zu anderen Strukturebenen. 4. Häufig wird nur die referentielle Funktion der Sprache in Betracht gezogen. 7 Die Konzepte der Ethnographie des Sprechens stellen insofern einen starken Bruch mit der formalen Linguistik dar, als sie dieser folgende Annahmen entgegensetzen: 1. Das Sprechen einer Gruppe bildet ein System. 2. Sprechen und Sprache weisen kulturspezifische Unterschiede in ihren Funktionen auf. 3. Sprache ist als soziales Zeichcnsystem innerhalb seiner soziokultuiellen Einbettung zu analysieren. 8 Statt die Sprache eines idealen Sprechers in einer homogenen Sprachgemeinschaft formal zu beschreiben, werden nun die Sprechaktivitäten einer Sprechgemeinschaft zum Hauptgegenstand der Forschungsaufmerksamkeit erhoben. 9 Da Sprache, so betont Hymes wiederholt, nicht unabhängig von ihrem Gebrauch und ihrer Funktion analysiert werden kann, haben ethnographische Studien den Gebrauch sowie die Struktur von Sprache und Sprechen im Zusammenhang mit der sozialen Organisation einer Gemeinschaft zu analysieren. Die Ethnographie des Sprechens befaßt sich also damit, wie Sprechen eingesetzt wird, um soziale Identitäten und gesellschaftliche Strukturen herzustellen, bestimmte Handlungen durchzufuhren, gesellschaftliche Wissenskonzepte zu aktivieren und um kulturelle Barrieren aufzubauen bzw. abzubrechen. 10 Dabei sollen die Situationen und Gebrauchsweisen, die Muster und Funktionen des Sprechens als einer "gesellschaftlich und kulturell organisierten 6 7 8

Hymes (1962:16). Coulmas (1979:11). Hiermit knüpft Hymes an Jakobsons Plädoyer für die Einbeziehung einer 'Soziologie der Sprache' in die Linguistik an. 9 Hymes (1979:90). 10 Durand (1988:212-213).

27 Aktivität eigenen Rechtes" (Hymes 1962) in den Gesichtskreis der Analyse rücken. Mittels ethnographischer Methoden werden kulturspezifische Sprechmuster, d.h. die kommunikativen Gewohnheiten einer Sprachgemeinschaft 11 (speech community) analysiert. Jede Sprechgemeinschaft verfugt über einen Sprechhaushalt 12 (speech economy) mit kulturspezifischen Sprechereignissen (speech events). Sprechereignisse, die die grundlegenden Untersuchungseinheiten der Ethnographie des Sprechens verkörpern,13 sind verbale Aktivitäten, die bestimmten Normen und Regeln unterliegen und in bestimmte Sprechsituationen eingebettet sind. Ein Sprechereignis kann sich wiederum aus kleineren Einheiten (Sprechakten) zusammensetzen.14

2.1.2.

Zum methodischen Vorgehen der Ethnographie der Kommunikation

Die Vertreterinnen der Ethnographie des Sprechens bedienen sich der Methodik der allgemeinen Ethnographie, die Hymes (1979:195) als "eine disziplinierte Methode des Betrachtens, des Fragens, Aufzeichnens, Reflektierens, Vergleichens und Berichtens" bezeichnet. Mittels teilnehmender Beobachtung und Informantenbefragung soll der Sprechhaushalt und damit die Sprechereignisse einer Sprechgemeinschaft erforscht werden. '5 Methodische Probleme und Schwierigkeiten, die sich im Zusammenhang mit der Informantenbefragung und teilnehmenden Beobachtung ergeben, werden von selten einiger Ethnographen angesprochen.16 Sicherlich besteht in Zusammenhang mit Interviews und Informantenbefragung die Gefahr, daß stark typisierende Aussagen über soziale Vorgänge und Sachverhalte wiedergegeben werden: Die Aussagen von Informanten sind bereits eigenen Deutungsmustern unterworfen und je nach Grad der Offenheit und Standardisierung von den Interviewenden bereits vorstrukturiert.17 Bei den teilnehmenden Beobachtungen werden zwar soziale, interaktive Vorgänge als Ganzes, d.h. in ihrem Ablauf, festgehalten, doch besteht die Gefahr, daß diese aufgrund der beschränkten Erinnerungs- und Wiedergabefahigkeit sowie der bereits gefilterten Wahrnehmung sozialer Ereignisse nicht über typisierte und resümierende Darstellungen hinausgehen.18 11 Auf methodische und theoretische Probleme bei der Bestimmung einer Sprechgemeinschaft soll hier nicht näher eingegangen werden. Dies ist nachzulesen in Saville-Troike (1982:17ff.). 12 Der Begriff 'speech economy' soll hier mit 'Sprechhaushalt' wiedergegeben werden und nicht mit 'Sprechökonomie', wie häufig in deutschen Übersetzungen zu lesen ist. Der Begriff der Sprechökonomie ist in der Sprachwissenschaft bereits mit dem Konzept besetzt, daß mit einem Minimum an Aufwand ein Maximum an Informationen vermittelt werden (vgl. Lewandowski 1976:725). Dieses Konzept hat jedoch nichts mit dem von Hymes entwickelten Konzept der 'speech economy' zu tun. 13 Die Begriffe 'Sprechgemeinschaft', 'Sprechereignisse', 'Sprechhaushalt' weisen innerhalb der Arbeiten zur Ethnographie des Sprechens häufig unterschiedliche Definitionen auf. Einheitliche, kanonisierte Definitionen existieren selten. Vgl. beispielsweise die Definitionen der 'Sprechgemeinschaft' von Hymes (1972a:54), Gumperz (1972:16). 14 Hymes (1972a; 1979) stellt in verschiedenen Aufsätzen Analysekriterien der Sprechaktivitäten vor, wobei er u.a. in Anlehnung an Jakobson auf die Faktoren (die Teilnehmenden, die Form der Mitteilung, den Übertrag ungskanaJT den Kode, den Gegenstand der Mitteilung, den Schauplatz des Sprechereignisses) und die Funktionen (expressive, ditektive und poetische Funktion, Kontaktfunktion, metasprachliche Funktion, Darstellungsund Referenzfunktion, situationsbezogene Kontextfunktion) der Sprechereignisse eingeht. 15 Einen ausgezeichneten Überblick über die wichtigsten Methoden der Ethnographie des Sprechens liefert SavilleTroike (1982:108-162). 16 Albert 1972; Saville-Troike 1982. 17 Bergmann 198518 Bergmann 1985.

28

Eine weitere wesentliche Herangehensweise bzgl. der Bestimmung der in einer Sprechgemeinschaft vorherrschenden Sprechereignisse stellt das ethnosemantische Verfahren dar, mit dessen Hilfe die lokalen Nomenklaturen fur die in der betreffenden Gemeinschaft existierenden Sprechereignisse erfaßt werden. 1 9 Mit diesem Verfahren soll ein bewußt emischer Blickwinkel eingenommen werden 2 0 , der danach fragt, "was die Mitglieder einer Sprechgemeinschaft als Bestandteil des Beschreibungsgegenstandes akzeptieren". Zwar können auf diese Weise bestimmte - von unseren Wahrnehmungsmustern nicht ohne weiteres aufgenommene - Ereignisse ausfindig gemacht werden, doch bedeutet dieses Verfahren zugleich, daß die Forscher/innen sich auf die im Lexikon der betreffenden Sprechgemeinschaft vorhandenen Sprechereignistypen verlassen. Eine solche Analyse geht von der metasprachlichen Ebene aus, nämlich von der Repräsentation von Sprechereignissen im betreffenden Lexikon und nicht etwa von den sprachlichen Mustern, wie sie in Interaktionen in der Gemeinschaft auftreten. Ferner erschwert dieses Vorgehen die Möglichkeit des Vergleichs zwischen mehreren Sprechgemeinschaften und verschiedenen Studien. 21 Ein Kritikpunkt, der vor allem frühe Arbeiten der Ethnographie der Kommunikation betrifft, ist, daß diese Arbeiten zu starr an den Kategorien der 'Sprechereignisse' festhalten. Anstatt sequentielle Analysen von Sprechaktivitäten durchzuführen, wurde versucht, den verbalen Ablauf von Interaktionssituationen in 'speech events' zu zerlegen. Doch nicht alle Gesprächsaktivitäten und Kommunikationssituationen lassen sich in klar abgetrennte Sprechereignisse aufteilen. U n d selbst wenn einzelne, als prototypisch geltende Sprechereignisse eindeutig festzulegen sind, so wurden diese von Seiten der Ethnographie der Kommunikation meist nicht als interaktiv produzierte soziale Aktivitäten verstanden und analysiert, sondern - ohne Beachtung ihrer interaktiven Entfaltung - anhand inhaltlicher und sprachlicher Merkmale klassifiziert.

2.1.3.

Ethnographie der Kommunikation und die Analyse interkultureller Kommunikationssituationen

Wie Studien innerhalb der Ethnographie der Kommunikation verdeutlichen, unterliegen Interaktionsmuster kulturellen Konventionen: Um adäquat in einer Gesellschaft kommunizieren zu können, benötigen die Interagierenden neben dem grammatikalischen und lexikalischen Wissen auch ein Wissen um Sprechregeln und Interaktionskonventionen. Im Laufe der sprachlichen Sozialisation erwerben wir als Mitglieder einer Sprechgemeinschaft ein Repertoire an Regeln, die besagen, wann wir wo und unter welchen Umständen, mit wem, auf welche Weise zu sprechen haben:

19 So werden die Begriffe der betreffenden Gemeinschaft übernommen, um auf bestimmte Sprechereignisse zu referieren, beispielsweise 'Gespräch unter vier Augen', 'Predigt am Sonntagmorçen' oder z.B. die KunaTerminologie 'namakke, sunmakke, kormakke' für rCongreßversammlungen, medizinische Heilvorgänge und Pubertätsriten bei den Kuna-Indianer. Siehe auch Saville-Troike (1982:33). 20 Die Parallele zu Boas (1938) Forderune für ethnographische Untersuchungen ist offensichtlich:"Wenn wir uns ernsthaft darum bemühen, die Vorstellungen eines Volkes zu verstehen, muß die ganze Analyse der Erfahrung auf ihren, nicht auf unseren Begriffen basieren." Die Unterscheidung zwischen emisch versus etisch geht jedoch aufPike (1967) zurück. 21 Aus ähnlichen Gründen fordern sowohl Sherzer (1977:53) als auch Saville-Troike (1982:34) eine Ergänzung der ethnosemantischen Methode durch andere Verfahren.

29 W e have (...) to account for the fact that a normal child aquires knowledge of sentences, not only as grammatical, but also as appropriate. He or she acquires competence as to when to speak, when not, and as to what to talk about to whom, when, where, in what manner. In short, a child becomes able to accomplish a repertoire of speech acts, to take part in speech events, and to evaluate their accomplishment by others. This competence, moreover, is integral with attitudes, values, and motivations concerning language, its features and uses, and integral with competence for, and attitudes toward, the interrelation of language, with the other codes of communicative conduct. (Hymes 1972b:277-278)

Der von Hymes (1972b) entwickelte Begriff der kommunikativen Kompetenz ist insofern als Erweiterung des Chomsky'sehen Kompetenz-Begriff zu sehen, als er die grammatische Kompetenz um die interaktive ergänzt. Kommunikative Kompetenz stellt die Fähigkeit von Angehörigen einer Sprechgemeinschaft dar, situationsadäquat kommunizieren zu können. Der Begriff der kommunikativen Kompetenz beeinflußte die sogenannte 'kommunikative Wende' im Fremdsprachenunterricht nachhaltig und verdeutlichte, daß gewisse Sprechweisen und Interaktionsstrategien in einer Sprechgemeinschaft adäquat sein können, die in einer andern Sprechgemeinschaft unangemessen sind. Bleibt ein Fremdsprachenlerner unberührt von kommunikativen Konventionen in der Zweitsprache, so läuft er Gefahr, einem 'kulturellen Monster* gleichzukommen, wie Giglioni (1972:15) jene non-nativen Sprecher bezeichnet, die lediglich über eine grammatische Kompetenz in der Fremdsprache verfugen. Die Ethnographie der Kommunikation repräsentiert somit eine Forschungsrichtung, die das Verhältnis zwischen Sprache und Kultur mittels linguistischer und anthropologischer Ansätze beschreibt. Dabei werden die unterschiedlichen Funktionen, die einem Sprechereignis zukommen, in Zusammenhang mit dem betreffenden soziokulturellen Hintergrund beleuchtet. In den letzten zehn Jahren konnten aufgrund der Einfuhrung audio-visueller Techniken in die Ethnographie der Kommunikation die bisherigen Methoden der teilnehmenden Beobachtung, ethnographischen Protokolle und der Informantenbefragung ergänzt und die zu analysierenden Kommunikationsvorgänge technisch reproduzierbar gemacht werden. Diese methodische Entwicklung führte zur 'microethnography'22. Dieser u.a. von Erickson entwickelte Ansatz - mit ihren Anleihen aus der Ethologie, Soziolinguistik, Kontextanalyse, ethnomethodologischen Konversationsanalyse und den Arbeiten Goffmans - untersucht auf Tonband oder Video aufgenommene Interaktionsvorgänge in Hinblick auf die lokale, kooperative Produktion kommunikativer Aktivitäten. Da die Mikroethnographie primär in der Anthropologie, Kommunikations- und Erziehungswissenschaft verankert ist, werden linguistische Fragestellungen nur am Rande berücksichtigt. Doch wird hierbei keineswegs - wie dies bei Konversationsanalyse der Fall ist - auf eine ethnographische Beschreibung der Kommunikationssituation verzichtet. Die dialektische Spannung zwischen der Mikroebene (d.h. der lokalen Produktion von 'Bedeutung' in der konkreten Gesprächssituation) und Makroebene (d.h. gesellschaftliche Faktoren und Wissensvorräte, die die Interaktionsteilnehmer in die Kommunikationssituation 'mitbringen', die sie interaktiv reproduzieren und die ihre Interpretationen leiten) charakterisiert geradezu diesen Ansatz.23

22 Erickson (1988:1081-1095). 23 Erickson (Persönliches Gespräch. Konstanz, Juli 1990).

30

Meiner Ansicht nach liefert die Ethnographie der Kommunikation und speziell die neueren Ansätze der 'microethnography' in mehrerer Hinsicht wesentliche Ansätze zur Erforschung interkultureller Kommunikationssituationen: a. Das Gesprächsverhalten wird in konkreten face-toface-Interaktionen analysiert, b. Sprechen und Kommunikationsverhalten werden als regelgeleitet betrachtet, wobei die Regeln wiederum kulturellen Konventionen unterliegen.2'4 c. Die kulturelle Einbindung von Sprechkonventionen ist Gegenstand der Analyse, d. Die Notwendigkeit, die Interpretation der Teilnehmer als Ausgangspunkt der Analyse zu nehmen, wird stets betont, e. Kommunikation wird als kooperative Leistung zwischen Sprecher und Rezipient betrachtet, f. Die kommunikative Kompetenz und damit die Fertigkeit, situationsädaquat zu kommunizieren, rückt in den Blickpunkt der Analyse.

2.2.

Ethnomethodologische Konversationsanalyse

2.2.1.

Die Entstehung der Konversationsanalyse aus der Ethnomethodologie

Das Analyseinteresse des von Garfinkel (1967) als 'Ethnomethodologie' bezeichneten Ansatzes besteht darin, die formalen Prinzipien und Mechanismen zu bestimmen, die Interagierende anwenden, um eine sinnhafte Strukturierung ihrer interaktiven Handlungen zu erzielen. Der Prozeß der Sinngebung wird hierbei nicht etwa als individueller, 'privater Bewußtseinsvorgang betrachtet, sondern als soziales, interaktives Geschehen. 2 * Um in zwischenmenschlichen Begegnungen zu gemeinsamen Sinnerzeugungen zu gelangen, muß dieser Prozeß bestimmte formale und beschreibbare Strukturen aufweisen; er muß bis zu einem gewissen Grad 'methodisch' ablaufen. 26 Die Ethnomethodologie setzt sich nun als Ziel, diejenigen Methoden und Verfahren zu erforschen, die Mitglieder einer Gemeinschaft verwenden, um bei der Abwicklung alltäglicher Angelegenheiten bestimmte Handlungen durchzufuhren. 'Ethnomethodologie' bezeichnet daher die von Mitgliedern einer Gesellschaft im Handlungsverlauf praktizierte Methodologie, über die die als vorgegeben erfahrbare gesellschaftliche Wirklichkeit erst konstruiert wird. 2 7 Die Methoden, die von den Beteiligten verwendet werden, um soziale Handlungen durchzuführen, machen zugleich diese Handlungen erkennbar (accountable): D.h. soziale Handlungen liefern in ihrem Vollzug immer schon einen Bedeutungskontext fur sich mit und - umgekehrt - wird der Bedeutungskontext durch die vollzogenen Handlungen bestätigt 28 ("das Prinzip der Reflexivität" und "das Prinzip der Indexikalität"). Der Kontext und die Einzelaktivität bestimmen sich somit gegenseitig und sind keine analytisch unabhängigen Entitäten. Wirklichkeit wird in der Ethnomethodologie als 'Vollzugswirklichkeit' betrachtet, die von den Interaktionsteilnehmer vor Ort, im Ablauf des Handelns (lokal), in und aus der Handlungssituation (endogen) und durch Hören, 24 Die Nähe zu dem dieser Arbeit zugrunde liegenden Kulturbegriff ist offensichtlich. 25 26 27 28

Bergmann Bergmann Bergmann Bergmann

in Druck. 1981. (1981:1 lf.). in Druck.

31

Sprechen, Wahrnehmen und Agieren (audiovisuell) erzeugt wird. 2 9 Eine der zentralen Forschungs maxi men ist deshalb, daß "every feature of an activity's sense, facticity, objectivity, accountability, communality is to be treated as a contingent accomplishment of socially organized common practices" (Garfinkel 1967:33). Forschungsinteresse der aus der Ethnométhodologie stammenden Konversationsanalyse ist nun, diejenigen verbalen (und nonverbalen) Verfahren zu ermitteln, mittels derer Interagierende in konkreten Kommunikationssituationen bestimmte verbale Handlungen erzeugen. Die in den letzten 20 Jahren entstandenen Arbeiten im Bereich der Konversationsanalyse konnten - ähnlich wie auch die Arbeiten der Ethnographie der Kommunikation - überzeugend demonstrieren, daß zwischenmenschliche Kommunikation alles andere als 'chaotisch' und 'individuell' verläuft, sondern einer gewissen Geordnetheit unterliegt, die die Mitglieder einer Kultur füreinander methodisch produzieren: Wir gingen und gehen immer noch von der Annahme aus (...), daß das Material, mit dem wir arbeiten, wenn es eine Geordnetheit zeigte, diese Geordnetheit nicht nur uns zeigte, ja nicht einmal in erster Linie uns, sondern den Beteiligten, die dieses Material produziert hatten. Wenn das Material (Aufzeichnungen natürlicher Gespräche) geordnet war, dann deshalb, weil es die Mitglieder einer Gesellschaft füreinander auf methodische Weise produziert hatten. U n d es war ein - von uns als Untersuchungsobjekt betrachtetes - Merkmal der Gespräche, daß sie in einer Weise produziert wurden, die es den Gesprächsteilnehmern möglich machte, wechselseitig füreinander sowohl die Geordnetheit dieser Gespräche aufzuzeigen, als auch ofFenzulegen, wie sie diese Geordnetheit analysierten, verstanden und benutzten. Dementsprechend versuchen wir mit unserer Analyse zu explizieren, mittels welcher Methoden unser Material von den Gesellschaftsmitgliedern als geordnetes Material produziert wird, - als Material, das seine Geordnetheit offenbart, dessen Geordnetheit von den Gesprächsteilnehmern erkannt und benutzt wird, und in dem dieses Erkennen zum Ausdruck gebracht und als Grundlage für nachfolgende Handlungen in Anspruch genommen wird. (Schegloff/Sacks 1973, auf Deutsch zitiert in: Bergmann 1988: 2-3)

Die in der Interaktion gemeinsam hergestellten Sinnproduktionen sind an den sequentiellen Ablauf des Gesprächs gebunden: Indem sich die Gesprächsteilnehmer in ihren Redebeiträgen wechselseitig aufeinander beziehen, demonstrieren sie zugleich ihre Interpretation der Handlungen bzw. Äußerungen des/der Gesprächspartners/in. Äußerungen werden also nicht als isolierte Phänomene betrachtet, sondern ihre Bedeutung soll aus ihrer Einbettung im Gesprächskontext ermittelt werden.

2.2.2.

Zur Methodologie der Konversationsanalyse

Was das methodische Vorgehen der Konversationsanalyse betrifft, so ist es bezeichnend fur sie, daß keine ausformulierte Methodologie existiert. Klare methodologische Aussagen werden vermieden, 3 0 da die jeweiligen Methoden aus der einmaligen Gegebenheit des betreffenden Gegenstands entwickelt werden sollen: Dem Untersuchungsgegenstand sollen keinesfalls a priori An29 Bergmann (1981:12). 30 Konversationsanalytiker und insbesondere die Begründer Sacks und seine Mitarbeiterinnen Schegloff und Jefferson haben sien, abgesehen von kurzen Hinweisen im Rahmen empirischer Einzelstudien, nie explizit über ihre Methode geäußert. Die folgende Darstellung des methodischen Vorgehens habe ich sowohl empirischen Einzelarbeiten als auch einigen in den letzten Jahren erschienenen erläuternden Darstellungen zur Konversationsanalyse entnommen (vor allem Bergmann 1981).

32 nahmen und Kategorien übergestülpt werden; die Analysekategorien sind dem betreffenden Material selbst zu entnehmen. Auf diese Weise will man verhindern, daß vorformulierte Regeln und Kategorien das Untersuchungsmaterial einschränken. Die ethnomethodologische Konversationsanalyse strebt - im Gegensatz zur Ethnographie der Kommunikation — eine grundlagentheoretische Reflexion der mikrosozialen Sphäre der Interaktion an. Während sich die Ethnographie der Kommunikation um die Entwicklung von Instrumenten zur Analyse alltäglicher Lebensbewältigung innerhalb des Bezugsrahmens der Sprechgemeinschaft bemüht, konzentriert sich die ethnomethodologische Konversationsanalyse auf den mikrosozialen Interaktionsbereich, d.h. auf die tatsächlichen Handlungsperformanzen, ohne dabei auf makrogesellschaftliche Zusammenhänge einzugehen. Das der Konversationsanalyse zugrundeliegende Datenmaterial basiert auf Video- und Tonbandaufnahmen von authentischen Gesprächssituationen. Kontrollierte und manipulierte Gesprächssituationen werden vehement abgelehnt, da fraglich ist, ob Interagierende in Experimentalsituationen zur Produktion experimenteller Handlungen dieselben Methoden und Verfahren verwenden, die sie in natürlichen Alltagssituationen auch verwenden. Ferner wird auch auf Interviews, die für das methodische Vorgehen der Ethnographie der Kommunikation von großer Bedeutung sind, verzichtet, da diese das Vorhandensein bestimmter Kategorien sowie die Bewußtheit bestimmter Phänomene voraussetzen. 31 Die Konversationsanalyse will ja gerade diejenigen Verfahren zur Herstellung alltäglicher Handlungen ermitteln, die wir unterbewußt bzw. halbbewußt tatsächlich verwenden, und nicht diejenigen Verfahren, von denen wir annehmen, wir würden sie verwenden. Um herauszufinden, wie Angehörige einer Kultur bestimmte Alltagsaktivitäten realisieren, werden auf Band aufgenommene und dadurch technisch reproduzierbare Gesprächssituationen analysiert. 32 Strukturen der Gesprächsorganisation sollen unabhängig von den spezifischen Identitäten, psychologischen und sozialen Realitäten des Kontextes erforscht werden. Um dabei dem "actor's point of view" (den Perspektiven der Handelnden; d.h. die Interpretation der Interagierenden soll als Ausgangspunkt der Analyse genommen werden) gerecht zu werden, werden jedoch nicht etwa - wie bei mikroethnographischen Analysen oder bei der interpretativen Soziolinguistik üblich - die Beteiligten selbst im Nachhinein über das Gespräch befragt, vielmehr werden die Interpretationen rein textimmanent begründet. Die Zauberformel konversationsanalytischer Vorgehensweise lautet nicht umsonst: "stick to your data". Der Prozeß der Interpretation soll nahezu ausschließlich in der Konversationsaktivität lokalisiert werden. Auf der Basis der sequentiellen Anordnung des Interaktionsverlaufs und des gemeinsamen Alltagswissen ist es für den/die Analytikerin — so die Konversationsanalyse — möglich, die Interpretation der Gesprächsteilnehmer zu rekonstruieren: On the basis of such sequential materials being available to the conversation analyst, the analyst is able to locate the organisational basis which interlocutors have themselves used to comprehend and structure their own utterances. They are available from the details of the talk in the way in which conversationalists, via their orientation to them, have guided or organised the talk. In principle therefore

31 Vgl. Kapitel 2.1.2. 32 Hierzu Bergmann 1985.

33

conversationalists' definition or analysis of the situation is available in conversation without the need for speculation, and rather than posing a problem as to its relationship to activity, we have seen that it is available as part and parcel of that activity. (Lee 1987:44)

Konversationsanalytikerlnnen verweisen immer wieder auf die Tatsache, daß Interaktionen von den Teilnehmenden füreinander lokal und kontextsensitiv produziert und somit in Abstimmung mit den Interagierenden entworfen werden. Dies bedeutet jedoch nicht, daß Interaktionen eine 'objektive' Analyse irrelevant oder unmöglich machen. Vielmehr ist es Aufgabe der Analytiker/innen die Aktivitäten, Relevanzen und Orientierungen, die die Teilnehmenden füreinander produzieren, zu beschreiben: It is what the action, interaction, field of action are to the parties that poses our task of analysis. (ScheglofF 1987:209)

Daß letztendlich bei der Interpretation und Beschreibung der Kommunikationsprozesse auch Alltagswissen, Erfahrung im Umgang mit Gesprächen und eine gewisse nicht näher zu bestimmende 'Sensibilität', die sogenannte 'analytische Mentalität' 33 miteinfließt, wird zwar von Konversationsanalytikcrlnnen angesprochen, doch in ihrer methodischen Konsequenz nicht thematisiert. Die Forderung der Konversationsanalyse nach einer voraussetzungslosen Beobachtung empirischer Phänomene ignoriert m. E. den kulturellen und auch wissenschaftlichen Hintergrund des/der Analytikers/in. Bereits erworbenes Wissen um Interaktionsprozesse fließt stets in die Beobachtung und Hypothcsenbildung ein und leitet das Erkenntnisinteresse. Welche Konsequenzen ergeben sich nun in Hinblick auf eine mögliche Analyse interkultureller Kommunikation? Inwiefern müssen konversationsanalytische Methoden erweitert werden, um kulturspezifische Diskursstrategien zu ermitteln?

2.2.3.

Konversation und Kultur: Die interaktive Relevanz von Makrophänomenen

Da in jede Kommunikation kulturelle und soziale Faktoren einfließen bzw. diese interaktiv konstruiert werden, 34 stellt sich fur die Analyse von interkultureller Kommunikation die Frage, mit welchen Interaktionsstrategien die Teilnehmenden 'kulturelle Zugehörigkeit' bzw. 'kulturelle Differenzen' aktivieren? Welche Kommunikationsstrategien tragen dazu bei, daß die Gesprächspartner die Interaktion als 'fremd', 'anstrengend' oder 'verunsichernd' wahrnehmen? Welche Art der Beziehung läßt sich herstellen zwischen dem Mikrobereich des Interaktionsprozesses und dem Makrobereich der Kultur? Bisherige konversationsanalytische Arbeiten meiden jedoch Fragestellungen, die den Zusammenhang von interaktiven Verfahren bzw. Methoden und kulturellen Wissensvorräten bzw. kulturspezifischer Diskursmuster thematisieren. Die Analyse einer Verbindung zwischen interaktiven Prozessen und kulturellen bzw. sozialen Phänomenen wird von Schegloff (1987), der die orthodoxe Richtung der Konversationsanalyse vertritt, explizit abgelehnt. Er polemisiert gegen den Versuch, Mikrophänomene der Diskursorganisation mit Makrostrukturen wie Klasse, Ethnizität, Kultur, Geschlecht etc. zu verbinden: 33 Schenkein 1978. 34 Siehe Kapitel 1 zum Zusammenhang von Kultur und Interaktion.

34 Efforts to link to the level of culture and society in the search for variation are unassured of success and uncertain in motive. Efforts to relate levels of analysis via macro-relevant attributes of the participants in micro-level processes threaten underdevelopment of a full technical exploration of the micro-level processes. (Schegloff 1987:229)

Der Konversationsanalyse gehe es vielmehr darum, "a rigorous account of the details of social action in its own terms" 35 zu liefern. Kontextparameter (soziale und kulturelle Phänomene bzw. situative Kontextphänomene wie beispielsweise Klassenzimmerinteraktionen, Krankenhausgespräche etc.) sind nach Schegloff (1987:219) nur dann fur die Analyse von Bedeutung, wenn diese Parameter von den Interagicrenden selbst "relevant gemacht werden", d.h. wenn die Interagierenden sich selbst darauf beziehen. Jedoch wird bei Schegloff nicht klar definiert, was "relevance to the participants" beinhaltet: Kommt beispielsweise die kulturelle Zugehörigkeit als Analysekategorie nur dann in Betracht, wenn die Interagierenden explizit darauf Bezug nehmen: "Als Chinese denke ich ..."? Sollte nicht auch bei weniger expliziten Bezugnahmen von 'relevant gemachten Kategorien* gesprochen werden, beispielsweise wenn eine chinesische Sprecherin eine Einladung auf sehr indirekte Weise ablehnt, doch ihr deutscher Gesprächspartner die Ablehnungszeichen nicht als solche interpretiert und daraus ein Mißverständnis entsteht? In solch einem Falle gäbe es jedoch nach Schegloff keinerlei Möglichkeit die kulturelle Zugehörigkeit als Analysekategorie heranzuziehen, da diese von den Teilnehmern nicht manifest gemacht wurde und somit eine "von außen herangetragene Interpretationsleistung" darstellt. Wie explizit muß also eine Manifestation sein, damit sie als 'relevant' gilt? Beispielsweise kann eine Sprecherin durch den Einsatz para- und nonverbaler Mittel (Lächeln, Intonation, Körperhaltung etc.) ihrem Gesprächspartner Flirtsignale übermitteln. Inwiefern Konversationsanalytikerlnnen in solch einem Falle, in dem zwar nicht explizit auf die Geschlechtszugehörigkeit Bezug genommen wird, das Interaktionsverhalten sich jedoch an geschlechtsspezifischen Aktivitäten (Flirt) orientiert, 'Geschlecht' als Analysekategorie einbeziehen würden, bleibt unklar. Drews (1989:39) methodische Abgrenzung von den Vorgehensweisen Gumperz' und Erickson/Shultz' zielt in eine ähnliche Richtung wie Schegloffs Argumentation, nämlich daß das konversationsanalytische Vorgehen nur solche Diskursphänomene zum Analysegegenstand erheben kann, die "demonstrably relevant to the participants themselves" sind und damit "in the details of talk" manifest werden. In diesem Zusammenhang zitiert er Gumperz' und Erickson/Shultz' Arbeiten, die davon ausgehen, daß unterschiedliche soziokulturelle Wissensbestände und Interaktionskonventionen zu interkulturellen Mißverständnissen fuhren können. Jedoch würden bei diesen Arbeiten — so Drew (1989:38) — der Mangel an Übereinstimmung in der Bedeutungsaushandlung der Interagierenden und folglich die interkulturellen Mißverständnisse im Datenmaterial nicht explizit, d.h. die Äußerungen der Teilnehmenden zeigten die inferentiellen Differenzen, die angeblich auf unterschiedliche soziokulturelle Faktoren zurückzufuhren seien, nicht unbedingt. Vielmehr führe der Analytiker kulturelle Differenzen von außen — d.h. ohne daß diese Differenzen im Interaktionsprozeß von den Teilnehmenden tatsächlich relevant gemacht wurden - als mögliche Ursache fur interaktive Prozesse an.

35 Schegloff (1987:229).

35

Da dieser Kritikpunkt fur die Fragestellung der vorliegenden Arbeit von zentraler Bedeutung ist, soll hier ein mittlerweile klassisches Beispiel aus Gumperz' Arbeiten angeführt werden, das seine Vorgehensweise kurz skizziert und dabei die Kritik der Konversationsanalytiker besser veranschaulichen kann: In der Cafeteria eines Londoner Flughafens mehrten sich die Beschwerden der Kundschaft, daß das Personal, das sich vor allem aus pakistanischen und indischen Angestellten zusammensetzte, äußerst unfreundlich und unkooperativ sei. Gumperz' (1982:173) Analysen zeigten nun, daß diese Frauen bestimmte Intonationskonventionen des Indischen Englisch verwendeten, die von britischen Rezipienten fehlinterpretiert wurden. Beispielsweise verwendeten sie eine fallende Intonationskontur, wenn sie die Kunden und Kundinnen fragten, ob diese Soße zum Fleisch wollten. Für Briten signalisierte die Äußerung: 'Wollen Sie Soße.', bzw. 'Soße.' mit fallender Intonation in einem Kontext, wo eigentlich eine Frage: 'Soße?' mit steigender Intonation erwartbar wäre, Unfreundlichkeit und Mißmut. Dieses Zusammentreffen unterschiedlicher Interaktionskonventionen im Bereich der Prosodie führte zu intcikulturellen Mißverständnissen: Was die britische Kundschaft als unhöfliche Aussage interpretierte, war als ein Angebot intendiert. Zu diesen Ergebnissen gelang Gumperz jedoch nicht aufgrund expliziter Thematisierung des Mißverständnisses im Datenmaterial selbst, sondern anhand eines Vergleichs von Gesprächsaufnahmen und Informantenbefragung zum Britischen und Indischen Englisch. Das Gumperz 1 sehe Beispiel verdeutlicht, daß auch in Situationen, in denen kulturelle Zugehörigkeit nicht explizit relevant gemacht wird, kulturell divergierende Interaktionsstile zu Mißverständnissen und zur Attribution 'unfreundlich', 'unverschämt' etc. fuhren können. Da jedoch die Gesprächsteilnehmenden (die Angestellten und Kundschaft) die unterschiedlichen Interpretationen, nicht "manifest in the details of talk" machen, wird diese methodische Vorgehensweise von Drew und Schegloff abgelehnt. In ihrer Kritik diskutieren jedoch weder Drew noch Schegloff wie ihrer Meinung nach - anhand konversationsanalytischer Vorgehensweisen — Diskursphänomene mit sozialen und kulturellen Phänomenen in Beziehung gebracht werden können: Welche Verfahren werden von Interagierenden verwendet, um beispielsweise Macht, Dominanz, Geschlechterrollen oder kulturelle Differenzen interaktiv zu konstruieren? Wie werden soziale Makrophänomene auf der Ebene konkreter Interaktion produziert? Schegloffs (1987) Befürchtungen, daß bei der Analyse von Gesprächen allzu schnell Makrokategorien zur Erklärung diskursiver Strategien herangezogen werden, sind sicherlich gerechtfertigt: Häufig werden Interaktionsphänomene zur Bestätigung bestimmter Hypothesen verwendet, ohne daß die genaue interaktive Organisation der Phänomene im Kontext analysiert wird. 36 Hierzu soll ein Beispiel aus den Arbeiten von West/Zimmerman (1983) angeführt werden. West/Zimmerman vertreten die These, daß Frauen von Männern häufiger unterbrochen werden und diese Unterbrechungen als geschlechtsspezifische Machtausübung und männliches Dominanzverhalten zu interpretieren sind: Female:

So uh you really can't bitch when you've got all those on the same day (4.2) but I uh asked my physics professor if I couldn't chan/ge that/

36 Giinthner/Kotthoff 1991.

36

Male:

Female: Male:

/Don't/ touch that (1.2) What? (pause) I've got everything jus'how I want it in that notebook, you'll screw it up leafin' through it like that.

Da der männliche Sprecher mit seinem Redebeitrag einsetzt, obwohl die Sprecherin noch mitten in der Produktion ihrer Äußerung ist, wird die Unterbrechung als Rederechtverletzung und Zeichen männlicher Machtgebaren interpretiert. Unabhängig davon, ob die Unterbrechung interaktional an dieser Stelle 'gerechtfertigt' ist, stellt sich anhand dieses Beispiels das Problem der Inkorporation konversationsexterner Kategorien: Wodurch wird das Einbringen des Faktors 'Geschlecht' von Seiten der Analytikerinnen gerechtfertigt? Der Zusammenhang zwischen Geschlechtszugehörigkeit und Unterbrechung wird hier nicht demonstriert.37 Um vorschnelle Interpretationen bzw. das Einbringen von Zusatzinformationen, die in den sprachlichen Handlungen keineswegs zum Tragen kommen, zu vermeiden, verfallt die orthodoxe Richtung der Konversationsanalyse jedoch ins andere Extrem. Eine bewußte Ignorierung ethnographischer Daten (bzw. Kontextfaktoren) läuft nämlich Gefahr, in rein technische Beschreibungen überzugehen, ohne dem eigentlichen Anspruch der 'Ethno-Methodologie' - unter Berücksichtigung der Ethno-Komponente - gerecht zu werden und ohne Möglichkeiten aufzuweisen, wie nun tatsächlich soziale Parameter (Geschlecht, Kultur, Schicht etc.) lokal konstruiert werden (im Sinne von 'doing gender', 'doing culture' etc.). Darüberhinaus darf die Tatsache, daß sowohl das auf Band oder Video aufgezeichnete Material als auch die Transkriptionen des Datenmaterials stets einer Selektion unterworfen sind, nicht aus den Augen verloren werden. In seiner Kritik an Goffmans methodischem Vorgehen betont Schegloff (1988:104) allzu naiv, die Konversationsanalyse gewähre dem Leser einen authentischen Zutritt zu den Daten: "the data being analysed are made available in a form which allows the reader independent access". Diese Position verwundert all diejenigen, die mit der Transkription von Daten vertraut sind. Jede Transkription beinhaltet bestimmte Interpretationen: Allein die Wahl des Transkriptionssystems entscheidet bereits darüber, welche verbalen und nonverbalen Aspekte hervorgehoben und welche vernachlässigt werden. Von daher hat ein Leser, der Zugang zu den Transkripten hat, niemals einen 'independent access'. Die Vorstellung, daß wir 'naiv-naturalistisch' an das 'objektive' Material herangehen, muß aufgegeben werden. Ebenso wie die Interaktionsteilnehmenden haben auch die Konversationsanalytikerlnnen einen Bestand an kulturellen, geschichtlichen, geschlechtsspezifischen, sozialen etc. Normen, Konventionen und Weltwissen gespeichert, die sowohl in den Interaktionsprozeß als auch in den Analyseprozeß einfließen. Zwar wird von Bergmann (in Druck) bzgl. der Logik des konversationsanalytischen Vorgehens die 'eigene Intuition' und "die Kompetenz als Gesellschaftsmitglied" angesprochen, die zur Herausarbeitung kommunikativer Prinzipien eingesetzt werden sollen, 37 Im Falle von West/Zimmerman wird das Einbeziehen der Analysekategorie 'Geschlecht' durch statistische Methoden abgesichert, worauf an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden soll.

37 doch fehlt cinc systematische Diskussion und Problematisierung dieser Verfahren in Hinblick auf die orthodoxen Postulate der Konversationsanalyse. Stattdessen wird meist vorgegeben, daß sämtliche Analysekategorien dem Interaktionsprozeß selbst entstammen. Dieses Ignorieren des in den Analyseprozeß einfließenden Vorwissens (inklusive kulturspezifischer Konventionen und den daraus folgenden Erwartungen) verschleiert eher den Analyseprozeß als daß es ihn fördert. Eine Folge des Ignorierens ethnographischer Daten in der Konversationsanalyse zeigt sich u.a. darin, daß allzu schnell amerikanische Techniken des Interaktionsmanagements als 'universal rules' deklariert wurden, ohne jedoch systematische Untersuchungen in anderen Kulturkreisen durchzufuhren. Strukturen, die Gesprächen der weißen amerikanischen Mittelklasse entnommen sind, wurden rasch als 'universell' deklariert. Doch verdeutlichen z.B. Interaktionen im japanischen Kontext und Gespräche unter Indianern, daß die von Sacks/Schegloff/Jefferson (1974:697) postulierte Regel "someone's turn must always and exclusively be in progress" auf jene Kulturen nicht zutrifft, die die westliche Wertschätzung des Redens nicht teilen. 38 Die Toleranz gegenüber Schweigephasen unterliegt ebenso kulturspezifischen Konventionen wie die gegenüber gleichzeitigem Sprechen und Länge der Überlappungen. 39 Tannen (1979) verdeudicht, daß Sprecher und Sprecherinnen aus New York wesentlich längere Überlappungen durchstehen als ihre Gesprächspartner/innen von der Westküste und die New Yorker/innen deshalb häufig den Sieg im Kampf ums Rederecht davontragen. Dies fuhrt dazu, daß sie als dominant wahrgenommen werden. Gerade in bezug auf die Analyse interkultureller Kommunikationssituationen ist die Frage nach dem Zusammenhang von Mikrophänomenen des Diskurses und Makrostrukturen kultureller Ordnungen von zentraler Bedeutung. Das methodische Vorgehen sowie die bisherigen Untersuchungsergebnisse der Konversationsanalyse zur Organisation interaktiver Prozesse liefern durchaus wichtige Aspekte und Ergebnisse zur Analyse authentischer Gesprächssituationen. D a Sprechereignisse und -aktivitäten jedoch nicht losgelöst vom kulturellen Kontext betrachtet werden können, erachte ich eine Verbindung zwischen den Methoden der Konversationsanalyse und der Ethnographie der Kommunikation, ja eine Art 'kulturell verankerte Konversationsanalyse' wie Moerman (1988) diese Mischung bezeichnet, fur notwendig. Was ich jedoch an Moermans Konzept vermisse, ist die sprachwissenschaftliche Komponente, d.h. die Synthese ethnographischer und konversationsanalytischer Aspekte mit der Analyse sprachlicher (syntaktischer, semantischer, pragmatischer, prosodischer) Phänomene. Doch genau diese Interaktion von sprachlicher Struktur, konversationeller Organisation und ethnographischem Hintergrund sollte meiner Ansicht nach im Zentrum der Analyse interkultureller Konversation stehen. In Hinblick auf den Forschungsgegenstand dieser Arbeit ist es somit erforderlich, die Konversationsanalyse sowohl ethnographisch als auch linguistisch anzureichern: Sowohl Fragen zur Kulturbedingtheit bestimmter Gesprächskonventionen als auch Fragen hinsichtlich der Beziehung zwischen sprachlichen Strukturen und konversationellen Mustern müssen stärker ins Zentrum der Analyse rücken. Diese Verbindung stellt meiner Ansicht nach am ehesten eine ethnographisch ausgerichtete interpretative Soziolinguistik dar. 38 Scollon/Scollon 1979; Naotsuka/Sakamoto 1983. 39 Philips 1976; Scollon/Scollon 1979-

38

2.3.

Interpretative Soziolinguistik und das Konzept der Kontextualisierung

Die in Zusammenhang mit der Ethnographie der Kommunikation und ethnomethodologischen Konversationsanalyse aufgeworfenen methodischen Fragestellungen und Anforderungen an eine Analyse interkultureller Kommunikationssituationen fuhren zu einem vor allem von J. J . G u m perz entwickelten Analyseansatz: zur interpretativen Soziolinguistik. 40 Was sind nun die Fragestellungen und Methoden einer Soziolinguistik, die sich als 'interpretative 1 bezeichnet? Ähnlich wie der Ethnographie der Kommunikation geht es auch der interpretativen Soziolinguistik um die Erforschung des Sprachgebrauchs, der interaktiven Bedeutungsaushandlung und der kulturspezifischen Organisation verbaler und nonverbaler Aktivitäten; und ähnlich wie bei der Konversationsanalyse bilden Tonband- oder Video-Aufzeichnungen von Gesprächssituationen das Datenmaterial fur die sequentielle Analyse lokaler Interaktionsvotgänge. Allen drei Ansätzen ist ferner gemein, daß sie ihre Aufmerksamkeit auf Interaktionssituationen des Alltagslebens lenken und nicht etwa Interaktionen - um der besseren Meßbarkeit willen - auf Experimente im Labor reduzieren. Im Gegensatz zur frühen Ethnographie der Kommunikation hat die interpretative Soziolinguistik jedoch den Anspruch, nicht nur bestimmte Aktivitäten und Sprechereignisse einer Sprechgemeinschaft zu beschreiben, sondern auch zu analysieren, wie die Aktivitäten interaktiv ausgehandelt werden und aufgrund welcher Strategien die Interagierenden zu welchen Interpretationen gelangen. Anhand eines Beispiels soll der Unterschied der Herangehensweisen dieser beiden Ansätze kurz skizziert werden. Sherzer (1974) beschreibt in seiner ethnographischen Arbeit "Namakke, Sunmakke, Kormakke, three types of Cuna speech event", die methodisch vor allem auf eigenen Beobachtungen, Tagebuchaufzeichnungen und Informantenbefragung beruht, drei verschiedene Typen von Sprechereignissen bei den Kuna-Indianern. Dabei werden die sprachlichen (phonologischen, morphologischen, syntaktischen und lexikalischen) und inhaltlichen Aspekte, die verschiedenen Sprecher- und Hörerrollen und die typischen Kommunikationssituationen (Kongreßversammlung, medizinischer Kontext, Pubertätsriten), in denen diese drei zeremoniellen Sprechereignisse auftreten, votgestellt und ihr Stellenwert in der Lebenswelt der Kuna diskutiert. Die Vorgehensweise der interpretativen Soziolinguistik würde sich dadurch unterscheiden, daß sie Tonband- oder Videoaufnahmen in verschiedenen Kommunikationssituationen bei den Kuna machen und auf dieser Grundlage analysieren würde, wie in der konkreten Situation - beispielsweise beim medizinischen Heilvorgang - aufgrund welcher verbalen und nonverbalen Elemente die betreffende Aktivität sequentiell hergestellt und fur die Teilnehmenden interpretierbar gemacht wird. Beispielsweise könnte aufgezeigt werden, mit welchen prosodischen und lexikalischen Mitteln der Übergang vom Alltagsgespräch zum zeremoniellen Heilsritual kontextualisiert wird und wie die Zuhörenden signalisieren, daß sie sich nun an diesem Aktivitätenwechsel orientieren. Die Sprechaktivität wird von Seiten der interpretativen Sozio-

40 Ich werde mich hierbei vor allem auf den von J. J . Gumperz entwickelten interpretativen Ansatz stützen. 41 Gelegentlich wird der Begriff der 'interpretativen' Soziolinguistik durch den der 'interaktionalen' (Hinnenkamp 1989) ersetzt.

39

linguistik in ihrer Interaktionsdynamik, d.h. im kooperativen, sequentiellen Aushandeln, analysiert. Dabei liegt der Blickpunkt weniger auf der Struktur einer verbalen Aktivität als vielmehr auf den Strategien, die die Interagierenden verwenden, um bestimmte Interpretationen der jeweiligen Aktivität zu signalisieren.42 Von der ethnomethodologischen Konversationsanalyse unterscheidet sich die interpretative Soziolinguistik insofern, als sie methodisch 'offener' ist: Informantenbefragungen können ebenso in die Analyse einbezogen werden wie ethnographische Zusatzinformationen. Auch wird die Beziehung zwischen interaktiven Strategien und größeren sozialen und kulturellen Phänomenen thematisiert. 43 Darüberhinaus stellt die interpretative Soziolinguistik sprachliche Phänomene der zu analysierenden Aktivitäten stärker in den Vordergrund 44 : Die Verwendung bestimmter grammatischer, lexikalischer und prosodischer Elemente wird als wesentlicher Beitrag zum Inferenzprozeß analysiert. 45

2.3.1. Zentrale Fragestellungen der Interpretativen Soziolinguistik Das Aufkommen der interpretativen Soziolinguistik in den 70er Jahren war eng mit einer Kritik an den Verfahren der traditionellen Soziolinguistik verbunden. Diese hatte zwar den systematischen Zusammenhang zwischen sprachlichen Variablen und sozialen Phänomenen demonstriert und wichtige Beiträge fur die Untersuchung von Sprachwandelprozcssen geliefert, doch wurden dialogische und interaktive Strukturen der Aushandlung sozialer Bedeutung ignoriert: Man beschränkte sich darauf, sprachliche Variablen über statistisch-technische Korrelationen mit sozialen Kategorien (wie Rolle, Status, Klasse, Geschlecht, Alter, Ausbildungsstand etc.) zu verknüpfen, ohne jedoch dabei zu analysieren, wie diese Kategorien in konkreten Interaktionssituationen von den Gesprächsteilnehmenden konstruiert werden. Abgesehen davon, daß soziale Kategorien wie 'Schicht', 'Status', 'Klasse' etc. keineswegs fixe und stabile Größen darstellen, die problemlos meßbar sind, vernachlässigen diese Untersuchungen die Frage, wie in konkreten Interaktionen mit welchen sprachlichen Mitteln diese Identitätskategorien aktiviert werden. Die interpretative Soziolinguistik betrachtet Kategorien wie 'Ethnizität', 'Klasse' oder 'Geschlecht' keineswegs als konstante Größen sondern als interaktiv erzeugte Parameter, deren Bedeutungen erst in den sich

42 Man könnte an dieser Stelle einen Vergleich zur Literaturtheorie ziehen und sagen, daß die interpretative Soziolinguistik nicht nur Kriterien und Merkmale spezifischer Gattungstypen und Textsotten analysieren will, sondern eher 'rezeptions- bzw. wirkungsästhetisch' vorgeht, indem sie versucht, diejenigen Textstrategien und Techniken der Leserlenkung herauszufiltern, die die Interpretation steuern. Die von den Interagierenden (bzw. Lesern) vorgenomme Konstruktion von Sinnkonsistenz soll anhand der Analyse des Interaktionsvorgangs (der Textstrategien) rekonstruiert werden. (Iser 1976:42). 43 Siehe hierzu die Diskussion in Kapitel 2.2.3. 44 G u m p e n 1982. 45 Eine detallierte Diskussion über genaue methodische Vorgehensweisen und die mit einem interaktiven Ansatz zweifelsohne gekoppelte Frage nach tjualitativen Kriterien einer Interpretation wird bislang noch vermißt. In seinem Vorwort zu Discourse Strategies' listet Gumperz (1982) die Analyse der sequentiellen Organisation des Gesprächs, die Relevanz non-verbaler und rhythmischer Hinweise, das Einbeziehen linguistischer Fragestellungen, die Durchführung direkter Interviews mit den Interagierenden sowie das Heranziehen von Vergleichsdaten als methodische Voreehensweisen auf. Dabei wird jedoch nicht diskutiert, welche Art der Informantenbefragung methodisch sinnvoll wäre. Auch wird das Problem des Auffindens von Vergleichsdaten sowie die Frage nach möglichen und notwendigen Kriterien, die einen Vergleich überhaupt sinnvoll machen, nicht thematisiert.

40 dynamisch entwickelnden Interaktionssituationen ausgehandelt werden.46 Während also in der quantitativen Soziolinguistik sprachliche und soziale Kategorien als unabhängige, obgleich eng miteinander verbundene Phänomene betrachtet werden, die situationsunabhängig korrelierbar sind 4 7 , sieht die interpretative Soziolinguistik Sprache und Gesellschaft bzw. Sprache und Wirklichkeit nicht als zwei voneinander unabhängige Systeme. Der Analyseschwcrpunkt liegt somit auf der Einbettung von Sprache in der Gesellschaft bzw. auf der Konstruktion sozialer Wirklichkeit mittels verbaler (und non-verbaler) Aktivitäten: Wie, d.h. mit welchen verbalen und non-verbalen Mitteln wird in Interaktionssituationen aufgrund soziokulturellen Wissens Bedeutung hergestellt? Ahnlich wie die interpretativ orientierten Ansätze der Soziologie (und damit auch der Ethnomethodologie48) geht die interpretative Soziolinguistik davon aus, daß a) gesellschaftliche Wirklichkeit in Interaktionssituationen durch sprachlich vermittelte Wissensbestände mitkonstruiert wird; b) soziales Handeln als interaktives (und zwar weitgehend als verbales) abläuft; c) soziales und kommunikatives Wissen weder meßbar ist, noch in deduktiv ermittelte Kategorien gepreßt werden kann, sondern im Interaktionsprozeß durch die non-verbalen und verbalen Aktivitäten der Interagierenden selbst geschaffen, bestätigt und perpetuiert wird. Realität wird demnach als nicht einfach gegeben betrachtet, sondern als von den Beteiligten situativ erzeugt. Dies wirkt sich auf die Beziehung zwischen Sprache und sozialer Wirklichkeit insofern aus, als Sprache und Wirklichkeit (Sprache und Kultur) nicht als zwei unabhängig voneinander existierende Aspekte zu betrachten sind, die korreliert werden können. Das 'Sozio'-Moment der interpretativen Soziolinguistik ist also nicht auf die Kombination von Faktoren wie Geschlecht, Schicht, Alter und sozioökonomischer Status der Sprechenden beschränkt, vielmehr wird Kommunikation als soziales Handeln betrachtet, das auf Systemen kulturellen Wissens basiert. Gegenstand der interpretativen Soziolinguistik ist es zu beschreiben, wie sprachliches und anderes Wissen im sozialen Handeln zusammenwirken, wie sprachliche Äußerungen andere Wissenssysteme relevant machen und inwiefern kontextuelle Bedeutung auf solchen Wissenssystemen beruht.49 Die interpretative Soziolinguistik konzentriert sich also auf (...) participants' ongoing process of interpretation in conversation and on what it is that enables them to perceive and interpret particular constellations of cues in reacting to others and pursuing their communicative ends. (Gumperz 1982:4f.)

Der Begriff 'interpretativ bezieht sich folglich auf diejenigen Strategien, die Gesprächspartner verwenden, um sprachliche Handlungen in einer Weise durchzufuhren, die diese interpretierbar machen. D.h. die Gesprächspartner sind im Interaktionsprozeß auf zweifache Weise mit interpretativen Vorgängen beschäftigt, indem sie a) ihre eigenen sprachlichen Äußerungen anhand bestimmter Interaktionsstrategien interpretierbar machen und b) die Äußerungen der Gesprächspartner aufgrund der gegebenen 'Hinweise' interpretieren. Der interpretative Vorgang im Kommunikationsprozeß basiert - so Gumpeiz (1990:1) - auf folgenden Grundannahmen: 46 47 48 49

Gumperz/Cook-Gumpeiz (1982:1). Gumperz (1972:14-15). Siehe Kapitel 2.2.1. Auer/Di Luzio (1984:VIII).

41

1. Der situative Gebrauch bestimmter verbaler und nonverbaler Zeichen (grammatischer/lexikalischer Mittel, phonologischer und intonatorischer Elemente, diskursoiganisatorischer Strategien) gekoppelt mit außersprachlichem Weltwissen leitet die Gesprächsteilnehmerinnen in ihren Interpretationen der betreffenden Kommunikationssituation. Diese Zeichen (Kontextualisierungshinweise)5° sowie das gespeicherte Weltwissen ermöglichen Inferenzen^ 1 , die die Grundlage der situationsbezogenen Interpretation bilden. 2. Der Inferenzprozeß basiert auf Präsuppositionen und ist deshalb eher tentativ. Er beinhaltet hypothesenartige, vorläufige Annahmen hinsichtlich der kommunikativen Absicht der Sprecherin. Diese Annahmen können nur in Beziehung mit anderen Hintergrundannahmen überprüft werden und haben keinen absoluten Wahrheitswert. 52 3. Obwohl diese Hintergrundannahmen auf außersprachlichem Weltwissen beruhen, wird in jeder einzelnen Konversation dieses Wissen - als Teil des Interaktionsprozesses - reinterpretiert und dadurch sozial konstruiert. To summarize then, we conclude that the conversational inference processes we have discussed involve several elements. On the one hand is the perception of contextualization cues. On the other is the problem of relating them to other signalling channels. Interpretation, in turn, requires first of all judgements of expectedness and then a search for an interpretation that makes sense in terms of what we know from past experience and what we have perceived. We can never be certain of the ultimate meaning of any message, but by looking at systematic patterns in the relationship of perception of surface cues to interpretation, we can gather strong evidence for the social basis of contextualization conventions and for signalling of communicative goals. (Gumperz 1982:170) Der Interaktionsvorgang stellt also einen 'lebenden Organismus' im Lotmanschen (1972:92ff.) Sinne dar, der von den Interagierenden kreiert und durch den Inferenzprozeß rückgekoppelt ist. Während nun der alltägliche Interpretationsvoigang der Gesprächsteilnehmer auf implizites Wissen rekurriert und die Verstehensleistungen und -regeln meist implizit bleiben, geht es der interpretativen Soziolinguistik um die Explikation derjenigen Verfahren, die die Sprecher anwenden, um Bedeutung zu signalisieren, und auf die die Rezipienten wiederum ihre situative Interpretation stützen. D.h. das interpretative Vorgehen der Soziolinguistik unterscheidet sich vom alltäglichen Interpretationsvorgang sowohl durch den höheren Reflexionsgrad und der expliziten Thematisierung des Interpretationsprozesses, als auch dadurch, daß der wissenschaftliche Interpretationsprozeß nicht Teil des Interaktionsgeschehens selbst ist, sondern 'außerhalb' verortet ist und damit eine bereits vergangene Interaktionssituation analysiert.^ 3 Diese rekonstruktive Außenperspektive ermöglicht dem/der Analysierenden eine detaillierte, explizite und dis-

50 Hierzu ausfuhrlicher Kapitel 2.3.2. 51 Unter Inferenz verstehe ich - in Anlehnung an Gumperz (1982:153) - den kontextabhängigen Interpretationsprozeß, durch den die Interaktionsteilnehmer die kommunikative Absichten der Gesprächspartner ermitteln. 52 Da Inferenzen unterbemißt gemacht werden und den Interagierenden nicht ohne weiteres bewußt verfügbar sind, ist es auch methodisch problematisch, Informationen über den Inferenzprozeß anhand direkter Fragen zu erhalten. 53 Hierzu auch Soeffner (1984:19).

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tanzierte Herangehensweise an die Interpretationsverfahren, die die involvierten Gcsprächsteilnehmer situativ vornehmen.54 Um den Interpretationsvorgang der Teilnehmenden zu beschreiben,55 verwenden Soziolinguist/innen Transkriptausschnitte natürlicher Interaktionen. Diese Ausschnitte werden insofern dem dialogischen Charakter der interaktiven Bedeutungsaushandlung gerecht, als sie verdeutlichen, wie auf eine bestimmte Äußerung situativ reagiert wird und damit auch, wie diese lokal interpretiert wird. 56 Nicht die Bestimmung fester, kontextunabhängiger Bedeutungen ist Ziel einer interpretativen Analyse, sondern die Analyse der Bedingungen kooperativer Kontextherstellung in der spezifischen Kommunikationssituation. 57 Die Aufgabe der Analysierenden wird von Gumperz (1982:35-36) wie folgt dargestellt: T h e analyst's task is to make an in depth study of selected instances of verbal interaction, observe whether or not actors understand each other, elicit participants' interpretations of what goes on, and then (a) deduce the social assumptions that speakers must have made in order to act as they do, and (b) determine empirically how linguistic signs communicate in the interpretation process.

Die methodische Nähe zu hermeneutischen Verfahren der Textinterpretation ist offensichtlich: Gumperz' 'in depth-study'-Anspruch weist durchaus Parallelen zum Geertz'schen Konzept der 'dichten Beschreibung' auf. Die Interpretation kultureller Vorgänge sieht Geertz (1987) als Teil einer fortschreitenden wissenschaftlichen Untersuchung, deren Basis diejenigen Interpretationen bilden, die die Erfahrungen der Informanten leiten. Was Geertz in seinem Konzept einer 'dichten Beschreibung' (1987:7-43) als interpretative Verfahren der Kulturanthropologie versteht, gilt ebenso für interpretative Verfahren einer Soziolinguistik: D e m Verhalten m u ß Beachtung geschenkt werden, eine recht gründliche Beachtung sogar, weil es nämlich der Ablauf des Verhaltens ist - oder genauer gesagt, der Ablauf des sozialen Handelns -, in dessen Rahmen kulturelle Formen ihren Ausdruck finden. Sie finden ihn natürlich in verschiedenen Artefakten u n d Bewußtseinszuständen; aber diese beziehen ihre B e d e u t u n g von der Rolle (Wittgenstein würde sagen ihrem 'Gebrauch'), die sie in einer fortgesetzten Lebensform spielen, und nicht aus den inneren Beziehungen, in denen sie zueinander stehen. (Geertz 1987:25-26)

Die interpretative Soziolinguistik betrachtet die kommunikativen Handlungen der Interagierenden als interaktive Phänomene, die mit Hilfe von bestimmten Signalen ausgehandelt und koordiniert werden. Nun stellt sich die Frage, mittels welcher Signale die Interagierenden interaktive Bedeutung inferieren und kommunikative Aktivitäten verstehbar und interpretierbar machen. Der innerhalb der interpretativen Soziolinguistik entwickelte Ansatz der Kontextualisierung setzt genau an dieser Fragestellung an und liefert eine theoretische und methodische Grundlage fur die Analyse konkreter Kommunikationssituationen, indem er verdeudicht, wie soziokulturelles Hintergrundwissen, grammatisches Wissen und Wissen bzgl. des Sprachge54 Hierbei weist die interpretative Soziolinguistik große Ähnlichkeit mit anderen hermeneutisch-interpretativen Analyseverfahren auf, wie beispielsweise der 'wissenschaftlichen Hermeneutik' in der qualitativen Soziologie. Siehe Soeffner 1984. 55 Dabei stehen die interaktiven 'Methoden' und 'Verfahren', mit denen Bedeutung kommuniziert wird, im Zentrum der Analyse und nicht etwa die persönlichen, psychologischen etc. Motive der Äußerungen ("warum sagt X dies?"). 56 Auer/di Luzio (1984:VIII). 57 Auer/di Luzio (1984:VIII).

43 brauchs, rhetorischer Konventionen, kinetischer und prosodischer Elemente das Verstehen und Handeln der Kommunikationsteilnehmer in der betreffenden Interaktionssituation beeinflussen. 2.3.2.

Das Konzept der Kontextualisierung

Das 1976 von Cook-Gumperz und Gumperz entwickelte Konzept der Kontextualisierung wurde in den letzten Jahren zu einem Schlüsselbegriff innerhalb der interpretativen Soziolinguistik und erweist sich - wie u.a. Gumperz' Arbeiten verdeutlichen - als brauchbarer theoretischer und methodischer Ansatz zur Analyse interkultureller Kommunikation. Die Theorie der Kontextualisierung geht davon aus, daß Interagierende durch die Ausführung ihrer (verbalen und nonverbalen) Handlungen diese zugleich interpretierbar machen und dadurch den Kontext, in den die Handlungen eingebettet werden, selbst konstruieren. Kontext ist also nicht einfach als ein Aggregat materiell gegebener Entitäten vorhanden, sondern wird von den Interagierenden selbst aktiv aufgebaut.^8 D.h. Sprache gilt nicht mehr nur als semiotisches System, dessen aktueller Gebrauch kontextabhängig ist, sondern der Gebrauch dieses semiotischen Systems macht darüberhinaus einen bestimmten Kontext verfugbar, der wiederum notwendig ist, um die betreffende Information zu interpretieren.59 Auf diesen reflexiven Kontextbegriff stützt sich Gumpen' Konzept der Kontextualisierung.60 Kontextualisierung bezeichnet nun das Verfahren, mittels dessen Interagierende in ihren Sprechhandlungen Kontext herstellen. Dabei stehen ihnen bestimmte kulturell geprägte, empirisch erfaßbare Zeichen, die sogenannten Kontextualisierungshinweise (contextualization cues) zur Verfugung, mit denen den Gesprächspartner zugleich signalisiert wird, wie eine bestimmte Aktivität zu interpretieren ist: That is, constellations of surface features of message form are the means by which speakers signal and listeners interpret what the activity is, how semantic content is to be understood and how each sentence relates to what precedes or follows. These features are described as contextualisation cues. (...) the meanings of contextualisation cues are implicit. They are not usually talked about out of context. Their signalling value depends on the participants' tacit awareness of their meaningfulness. (Gumperz 1982:131-132.)

Sprecher produzieren also nicht nur Äußerungen, um referentielle Bedeutungen und Informationen zu übermitteln, sie kontextualisieren ihre Redebeiträge auch und machen dadurch ihre sprachliche Handlungen zugleich interpretierbar.61 Kontextualisierungshinweise können sowohl durch bestimmte syntaktische und lexikalische Optionen zum Ausdruck gebracht werden, als auch mittels bestimmter Idiomatik, durch Codeswitching-Techniken oder durch prosodische und paralinguistische Mittel, wie Lautstärke, Tonhöhenverlauf, Sprechtempo, Pausenstruktur, Rhythmus. Sie haben jedoch keine stabile referentielle Bedeutung, die außerhalb der sequentiellen Einbettung formuliert werden kann. Da der Ansatz der Kontextualisierung verdeutlicht, wie verschiedene verbale und nonverbale Phänomene die interaktive Bedeutungsaushandlung 58 59 60 61

Vgl. die Ähnlichkeit zum Konzept der 'Vollzugswirklichkeit' der Echnomethodologie. Auer (1990:26). Die Ähnlichkeit mit dem ethnomethodologischen Prinzip der 'Reflexiviiät' ist keineswegs zufallig. Hierzu auch Auer (1986:22-47).

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leiten und somit eine Gesamtperspektive zur integrativen Beschreibung von Einzelphänomenen (prosodischer, syntaktischer, lexikalischer etc. Art) anbietet, ist er für eine funktionale Sprachbeschreibung von großem Interesse. 62 Im folgenden sollen einige Transkriptausschnitte zur exemplarischen Verdeutlichung des Kontextualisierungsansatzes herangezogen werden. Im Gesprächsausschnitt YANG 28 diskutieren die Teilnehmenden, ob Mütter nach der Geburt eines Kindes zu Hause bleiben sollten. Hierbei werden prosodische Mittel der Kontextualisierung eingesetzt: Die Sprecherin D gibt die zitierte, gegnerische Position ("das Kind braucht die Mutter") mittels extrem hoher Stimme und schneller Sprechgeschwindigkeit 'verzerrt' wieder. Anhand dieser prosodischen Mittel liefert D zugleich bestimmte Signale, wie die betreffende Äußerung zu interpretieren ist: YANG 28 44D: 45 46 47 48 49 50A:

/es is nor/malerweise so, daß du IMMER immer eh: eh du kannst IMMER sagen ((hohe Stimme)) und der Mann sagt auch ++ das Kind braucht die Mutter++ und ER macht NIE was = = s' braucht au en Vater.

Die Theorie der Kontextualisierung geht nun davon aus, daß mit Hilfe von Kontextualisierungshinweisen Schemata des Hintergrundwissens verfugbar gemacht werden, die zum Aushandeln eines fur die Interagierenden gemeinsamen Interpretationsrahmens erforderlich sind. Zur Konstituierung von Kontext stellen die Interagierenden folglich eine Beziehung zwischen zwei Bereichen her: Einem empirisch gegebenen Datum (dem Kontextualisierungshinweis), das der/die kontcxtualisierende Teilnehmerin aus ihrem Zeichenvorrat sprachlicher oder nichtsprachlicher Art auswählt und einer Komponente des Hintergrundwissens. Dieses Hintergrundwissen ist in Form von Schemata organisiert. Durch die Verwendung bestimmter Kontextualisierungshinweise werden zugleich Schemata aus dem Hintergrundwissen verfugbar gemacht. 6 3

Im folgenden Gesprächsausschnitt berichtet Du ihren deutschen Gesprächspartnerinnen A und E, daß es während der Kulturrevolution illegal war, westliche Radiosender zu empfangen:

DU 7 1 Du: 2 3 4E: 5 6E:

man kann nur unter eh unter der Familie in der Familie ja. etwa darüber reden. auch sehr leise= =mhm. (1.5) mhm.

62 Hierzu auch Gumperz (1982:208). 63 Auer (1986:24).

45 7Du: 8 9 10 11 12E: 13Du: 14E: 15Du: 16 17

und früher haben wir auch eh' (richtige) ANGST gehabt, ja einmal eh habe ich eh bei mei eh' bei meiner Eltern auch diese amerikanische voice? /american voice'/ /ja voice of america/ ja. ja. empfangen= =mhm. ahh und dann ehm' hat meine Mutter GRO:ßE Angst ge:'eh' bekommen, und sagt ((flüsternd)) < schalt mal aus>

Dieser Textausschnitt verdeutlicht, wie den Rezipientinnen durch prosodische Mittel (Reduzierung der Lautstärke, Flüsterton) bestimmte Interpretationssignale gegeben werden: Die in Flüsterstimme zitierte Anweisung der Mutter 'schalt mal aus' (17) verdeutlicht geradezu ikonisch die Gefährlichkeit der Situation. Der prosodische Kontextualisierungshinweis gibt gewisse Richtungen fur den Inferenzprozeß vor, ohne jedoch die betreffende Interpretation explizit zu machen. Die hier verwendeten prosodischen Mittel (leise Stimme, Flüstern) können jedoch in anderen Situationen eingesetzt werden, um dort einen andern Kontext hervorzurufen (beispielsweise zur Signalisierung von Hintergrundinformationen). Es ist also nicht möglich, bestimmten Kontextualisierungshinweisen wie beispielsweise 'Erhöhung der Lautstärke', 'Code-Switching ins Chinesische' oder "Wechsel in eine höhere Intonationskontur" eine stabile referentielle Bedeutung zuzuordnen. Dennoch gelangen wir häufig erst dann zu einer plausiblen Interpretation eines Gesprächsausschnitts, wenn wir die Kontextualisierungshinweise mit einbeziehen.·*4 Beispielsweise können wir die Bedeutung des folgenden Lachens (als Auslachen, humorvolles Lachen, peinlich berührtes Lachen, zynisches Lachen ...) von Ma nur dann adäquat interpretieren, wenn wir die Art (Lautstärke, Tonhöhenverlauf, Lachpartikeln etc.) und Plazierung des Lachens mitberücksichtigen: MA7 17T: 18Ma: 19T: 20Ma: 21T: 22Ma: 23T: 24 25Ma:

wo haben Sie das gehört( )? ehm: ehm jemand eh von jemand + VON WEM?+ hahaihihi ((scharf)) + + VON WF.M?++ eh VIELE LEUTE - eh ( ) ICH MÖCHTE NAMEN. SAGEN SIE MIR VON WEM. hahahihihihi (von wem?) hihi vie((hi))le hihi Leute hihi

Da Kontextualisierungshinweise selbst keine inhärente, referentielle Bedeutung haben, fungieren sie lediglich als Richtungshinweise fur den situativen Inferenzprozeß. Doch wie beeinflussen sie 64 Eine detaillierte Beschreibung der Kontextualisierungshinweise liefen Auer 1990.

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den Inferenzprozeß, wenn sie keine referentielle Bedeutung haben? Levinson 6 ^ stellt in diesem Zusammenhang den Vergleich mit einem Knoten im Taschcntuch her, der uns an etwas Bestimmtes erinnern soll; doch anhand des Knotens ist der zu erinnernde Gegenstand nicht ersichtlich. Es läßt sich also keine 1:1 Zuordnung von Kontextualisierungshinweis zu einer kontextfreien Bedeutung herstellen. Trotz ihrer essentiellen Vagheit verhelfen uns Kontextualisierungshinweise dazu, gemeinsam mit unseren Gesprächspartnern einen Interpretationsrahmen auszuhandeln. Wie kann nun die Kontextherstellung analysiert werden, wenn ein einzelner Kontextualisierungshinweis in unterschiedlichen Situationen unterschiedliche Bedeutungen hervorruft? Wie willkürlich können Kontextualisierungshinweise gewählt werden? Im einfachsten Falle fungieren sie - ähnlich wie in Levinsons Beispiel - als reine Indikatoren, die auf etwas aufmerksam machen wollen. Sie haben dann die Funktion der Signalisierung von Kontrast: Der Wechsel der Lautstärke, die Veränderung der Tonhöhe, der Wechsel von einer sprachlichen Varietät in eine andere etc., all diese Phänomene lenken den Inferenzprozeß auf das Kontrastmoment. Die einzige Bedeutung dieser Kontextualisierungshinweise wäre somit das Indizieren von Differenz. 66 Bisherige Untersuchungen demonstrieren jedoch, daß Inferenzen aufgrund bestimmter Kontextualisierungshinweise, die - wenn auch vage - so doch nicht völlig willkürlich sind, gezogen werden. Die prosodische Verpackung einer Äußerung (beispielsweise Sprechgcschwindigkeit und Lautstärke) kann zwar je nach situativer Einbettung unterschiedliche Kontexte herstellen, dennoch existieren kulturelle Konventionen und kognitive Vorgaben bzgl. einer prototypischen Herstellung bestimmter situativer Kontexte. D.h. Kontextualisierungshinweise indizieren nicht nur einen Wechsel und lenken damit die Aufmerksamkeit darauf, daß etwas Neues kommt,' sondern sie haben auch ein gewisses semantisches Potential, das dem Inferenzprozeß eine bestimmte Richtung vorgibt. Die Grundlage dieses semantischen Bedeutungspotentials basiert sowohl auf kulturellen Konventionen als auch auf gewissen kognitiven Aspekten (bzw. einer Mischung aus beiden Faktoren). 67 Beispielsweise werde ich zur Signalisierung einer 'geheimnisvollen Nachricht' sicherlich nicht die Lautstärke erhöhen. Eine ähnliche ikonische Beziehung existiert bezüglich der prosodischen Prominenz und dem Grad an Wichtigkeit einer Information: Die neue Information (Fokus) wird meist prosodisch hervorgehoben.68 Die analytische Frage und der Forschungsschwerpunkt der interpretativen Soziolinguistik ist somit: Wie handeln Interagierende mittels Kontextualisierungshinweisen bestimmte Sprechaktivitäten aus, wie stellen sie soziale Beziehungen her und wie bauen sie gemeinsam einen Interaktionsrahmen auf?

65 66 67 68

Levinson 1988). Auer (1990:39). Auer (1990:40-41). Lambrecht (1986:157).

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2.3.3.

Kontextualisierungskonventionen und interkulturelle Kommunikation

Wesentlich fur die Analyse interkultureller Kommunikationssituationen ist nun, daß die Verwendung und Interpretation von Kontextualisierungshinweisen von soziokulturellen Konventionen geprägt ist. Um die Kommunikationsintentionen meiner Gesprächspartner situationsadäquat interpretieren zu können, muß ich die vorliegende Kommunikationssituation und die darin enthaltenen Kontextualisierungshinweise als Instanz typisierter Schemata wiedererkennen und in Verbindung zu meinem gespeicherten soziokulturellen Wissen setzen. Ein gemeinsames Repertoire an Kontextualisierungskonventionen stellt somit eine wesendiche Voraussetzung für die kommunikative Kooperation dar. Teilnehmer interkultureller Gesprächssituationen verfugen jedoch — wie ich anhand einzelner Beispiele skizzieren werde und wie die vorliegende Arbeit demonstrieren wird - unter Umständen über divergierende Kontextualisierungshinweise. Dies kann dazu fuhren, daß die Anwendung bestimmter, kulturell geprägter Kontextualisierungskonventionen zu unterschiedlichen Inferenzen fuhrt. Das gemeinsame Aushandeln von Kontext und Bedeutung wird erschwert bzw. unter Umständen ganz verunmöglicht.69 Wie Auer (1986) verdeutlicht, lassen sich die Funktionen von Kontextualisierungsprozessen unter fünf Fragen subsumieren, deren Beantwortung unter den Gesprächspartnern einheitlich sein muß, um einen interpretationsrelevanten Kontext herzustellen: 1. Reden wir (gerade) miteinander? 2. Wer redet (gerade) mit wem? 3. Was tun wir (gerade) miteinander? 4. Worüber reden wir (gerade) miteinander? 5. Wie stehen wir (gerade) zueinander? Ich werde diese fünf Bereiche kurz skizzieren und dabei anhand von Beispielen aus meinem Datenmaterial mögliche interkulturelle Konflikte verdeutlichen. Die erste Frage "Reden wir (gerade) miteinander?" betrifft die Kontextualisierung fokussierter Interaktion: Es geht dabei also um die gegenseitige Signalisierung von Aufmerksamkeit. Das Rezipientenverhalten ist hierfür ein wichtiger Hinweis. Verschiedene Kulturen verfugen jedoch über unterschiedliche Konventionen hinsichtlich der Art und Häufigkeit der Signalisierung aktiver Zuhörerschaft. Maynard (1986) und White (1989) zeigen, daß in japanischen Konversationen dreimal so häufig Rezipientensignale produziert werden als im amerikanischen Kontext. Meine chinesischen Daten weisen darauf hin, daß chinesische Rezipienten sehr viel seltener 'continuers' in Form von 'mhm' produzieren als ihre deutschen Gesprächspartner dies tun. 70 Zu ähnlichen Eigebnissen kommen auch Tao/Thompson (1990) bzgl. chinesisch-amerikanischer Interaktionen. Wie Kapitel 6 zeigen wird, signalisieren chinesische Rezipienten ihre aktive Zuhörerschaft häufig anhand sogenannter 'Rezipienten-Echos'. Die unterschiedliche Handhabung von Rezipientensignalen (Art und Frequenz) kann in interkulturellen Kommunikationen der Auslöser fiir Mißverständnisse und Unsicherheiten sein. Die Analysen von

69 Selbstverständlich können auch zahllose Schwierigkeiten in intrakulturellen Kommunikationssituationen auf Unterschiede im Bereich der Kontextualisierung zurückgeführt werden. 70 Vgl. Kapitel 6.

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Erickson/Shultz (1982:199) verdeutlichen, daß kulturspezifische Unterschiede in der Signalisierung aktiver Zuhörerschaft in Gesprächen zwischen weißen Amerikanern und Angehörigen ethnischer Minderheiten in den USA und Kanada zu Kommunikationskonflikten fuhren können: Weiße 'councelors', die ein unterstützendes, solidarisches Verhalten gegenüber ihren Klienten kontextualisieren wollen und aktive Zuhörerschaft durch Kopfnicken und verbale Elemente (viele 'mhm' etc.) signalisieren, wirken in den Augen von Amerikanern indianischer Abstammung häufig 'hyperaktiv' und 'penetrant'. Die zweite Frage "Wer redet (gerade) mit wem?" bezieht sich auf die Kontextualisierung der Sprecher- und Adressatenrollen. Hierzu gehört neben der Sprach-, Dialekt- und Registerwahl auch der Aspekt des Rezipientendesigns71, d.h. des Zuschnitts der Äußerung auf das Hintergrundwissen des/der betreffenden Gesprächspartnerin: Sprecher und Sprecherinnen produzieren in der Regel ihre Äußerung in Abhängigkeit des Rezipientenwissens, d.h. sie nehmen Rücksicht darauf, was den Rezipienten bereits bekannt ist und welche Informationen neu sind. Die Sprechenden sind also bestrebt, das "Wort mit seinem spezifischen Horizont am fremden Horizont des Verstehenden zu orientieren" und errichten somit ihre Äußerung "vor dem Apperzeptionshintergrund des Hörers" (Bachtin 1979:175). 72 Auer/Kotthoff (1987) zeigen, daß non-native Sprecher im Vergleich zu Muttersprachlern dazu tendieren, die gleiche sprachliche Handlung zu elaboriert, zu umständlich und zu wenig mit dem Rezipienten kooperierend zu gestalten. Die Orientierung am Gesprächspartner "design your talk to another with an orientation to what you know they know" (Sacks 1972a) stellt eine wichtige Maxime der Interaktion dar: Wenn ich weiß, daß mein Gesprächspartner die betreffende Person oder den betreffenden Gegenstand kennt, so werde ich anders darauf referieren, als wenn ich weiß, daß keinerlei Kenntnisse darüber vorliegen. Doch fur Interaktionspartner aus verschiedenen Kulturkreisen ist es schwierig abzuschätzen, welches Weltwissen vorausgesetzt werden kann und was spezieller Erläuterungen bedarf.7^ Der Zuschnitt einer Äußerung kann schnell inadäquat sein, da die Sprecherin das Wissen des Gegenübers über- bzw. unterschätzt. Im Fall einer Überschätzung wird meist eine Reparatur in Gang gesetzt: A ist ein chinesischer Germanist. Β eine deutsche Touristin in China: 74 1A: 2B: 3A: 4 5 6B:

ja, Wang Meng hat das auch gesagt. wer? WANG wer? WANG MENG, ein ganz bekannter Schriftsteller in China, er ist jetzt auch der Vorsitzende des chinesischen Schriftstellerverbands. ahja.

71 Sacks/Schegloff/Jefferson (1975:727). 72 Bachtin (1979:175) spricht in diesem Zusammenhang von einer Dialogizität auf der Basis der subjektiven Horizonte der Interagierenden. 73 Siehe hierzu Kapitel 1.5. 74 Dieser Konversationsausschnitt wurde unmittelbar nach dem Gespräch notiert.

49 Im folgenden Gesprächsausschnitt zwischen M, einer Deutschen, die bereits neun Monate in China lebt und Qin, einem chinesischen Germanisten, tritt eine Unterschätzung des Vorwissens der Rczipientin auf: QIN 1 14Qin: 15 16 17M: 18Qin: 19 20M: 2IQ: 22M&Q: 23M: 24Qin: 25 26

wirtschaftliche Reform, die politische Reformen auch die kulturelle Reform auch die Studienreform. mhm. ich glaube vor der Kulturrevolution ' ++ja Sie wissen sicher++ die Kulturrevolution haha/ha ein weit ((HI)) verbreitetes ((HI)) Thema ((HI))/ /hi hahahahahahahahahahahhhhhhaha/ hahaahahahahahahahhhahahahahah /wenn man/ /ja vor/ der Kulturrevolution ja, dann werden ja auch die Absolventen aus der MittelSCHULE ja direkt - zur Universität

Qin fuhrt hier den Begriff der 'Kulturrevolution' ein, doch seine anschließende Nachfrage (1819), die prosodisch durch Erhöhung der Sprechgeschwindigkeit markiert ist "++ja Sie wissen sicher++ die Kulturrevolution"' verdeutlicht seine Unsicherheit bzgl. des Wissensrepertoires der deutschen Gesprächspartnerin. M reagiert auf die 'Überthematisierung' lachend "haha/ha ein weit ((HI)) verbreitetes ((HI)) Thema ((HI))". Für Deutsche, die sich fur China interessieren und vor allem fiir diejenigen, die in China leben, wirkt diese 'Überthematisierung', die ja impliziert, man wisse nichts über die chinesische 'Kulturrevolution', geradezu absurd. Doch fur Qin scheint es keine Selbstverständlichkeit zu sein, daß eine Ausländerin über dieses Wissen verfugt. Mit der dritten Frage "Was tun wir (gerade) miteinander?" wird auf die Kontextualisierung der Interaktionsaktivität bzw. des Modus (Ernst, Spiel..) referiert. Im folgenden Transkriptausschnitt zeigen sich Kommunikationsprobleme aufgrund von Mißverständnissen im Bereich der Interaktionsmodi: Schcrz versus Ernst. Der Chinese Zheng kommt zu F, der Vertreterin einer deutschen Institution, in die Sprechstunde und unterhält sich mit ihr über seine anstehende Deutschprüfung. Da er große Probleme mit Hörverständnisübungen hat, schlägt er vor, heimlich einen Kasettenrekorder in die Prüfung mitzunehmen: ZHENG 9 12Zheng: 13 14 15F: 16Zheng: 17F:

aber ich eine ( ) eh ich könnte eine eh (mini) tape recorder Kasettenrekorder eh nach eh mitnehmen = =((schnell, hohe Stimme)) zur Prüfung? ja'hh ((hohe Stimme)) SIND SIE DES WAHNSINNS?

21F: 22

Sie dürfen keinen eh'h bei der Prüfung wissen Sic, Sie dürfen -

50 23 24Zheng: 25F:

NU:R einen - Stift zum Schreiben mitbringen ja und sonst - NICHTS

36Zheng: 37F: 38 Zheng: 39F: 40F: 41 42 43 44 45Zheng: 46F: 47F: 48Zheng: 49F: 50 51

ha /aber ich könne eine SEHR KLEINE/ /Sie dürfen NUR EINEN Stift/ SEHR KLEINE eh Aufnahme eh hihihi hier /hhhh/ /ja/ wissen Sie daß das wissen Sie, daß das auffallt', in dem Moment eh eh sind SEHR strenge Kontrollen', in dem Moment, wo man Sie erwischt, sind Sie DURCHGEFALLEN, fertig, keine DiskuSSION. (0.5) DAS weiß nicht hihihihi hhh/hhhihhh/ /glauben/ /Sie es mir. glauben Sie es mir./ /das ist nur ne das ist nur eine Spaß/ glauben Sie es mir, ich habe hier in Shanghai zwei eh - PNDS::: eh Prüfungen MITerlebt ne

An der Reaktion F's ist zu erkennen, daß sie Zhengs Vorschlag (12-14) als ernsthaft interpretiert. Wie Sacks (1972a) ausführt, macht eine scherzhafte Bemerkung ein Lachen als nächste Handlung erwartbar. Doch hier zeigt F ihre Empörung und weist Zheng auf die Prüfungsvorschriften hin. In Zeile 36 setzt Zheng jedoch seinen Votschlag fort, indem er ihn etwas modifiziert: "eine SEHR KLEINE SEHR KLEINE eh Aufnahme", und mit einem Kichern begleitet. Doch auch hier interpretiert F seine Äußerung als ernsthaften Vorschlag, ohne die von Zheng implizierte Scherz-Modalität zu bemerken. In Zeile 48 liefert Zheng nun eine Metaerklärung: "das ist nur ne das ist nur eine Spaß" und rahmt somit auf explizite Weise rückwirkend den Modus 'Scherz*. Die Ursache fur das Mißverständnis bzgl. der Interpretation der Interaktionsmodalität liegt darin begründet, daß F Zheng's Kontextualisierungshinweise (Prosodie, Kichern etc.7^) nicht verstanden hat. Das Beispiel verdeutlicht ferner die Schwierigkeit herauszufinden, welches soziokulturelle Wissen (Wissen um die Prüfungsregeln und Wissen um Gesprächskonventionen: Wann ist ein Scherz über welches Thema angebracht?) in interkulturellen Situationen als geteilt vorausgesetzt werden kann und was erklärungsbedürftig ist (F nahm an, daß Zheng die Prüfungsbestimmungen nicht kennt). Die Annahme der "Kongruenz der Relevanzsysteme"76 erweist sich auch hier als problematisch. Die vierte Frage "Worüber reden wir (gerade) miteinander?" betrifft Kontextualisierungshinweise im Bereich der Diskursorganisation. Hierzu gehören u.a. Strategien der Informationsverpackung, d.h. Techniken zur Signalisierung von 'gegebener' und 'neuer' Information, Kontrastfoki, sowie Mittel zur Herstellung von Diskurskohärenz und -kohäsion. Während beispielsweise in der deutschen und amerikanischen Gesprächskultur eine gewisse 'Direktheit' in der 75 Inwiefern auch nonverbale (gestische oder mimische) Kontextualisierungsweise von Zheng verwendet wurden, kann nicht geklärt werden. 76 Hierzu 1.4.

51 Themenentfaltung erwartet wird, wird in anderen Kulturen (z.B. in China) in ähnlichen Situationen eine stärkere Indirektheit und zirkuläre Bewegung auf die Hauptinformation hin verlangt. So kann eine scheinbar harmlose Frage wie "Wie gefallt es dir hier in Konstanz?" zu erheblichen Kommunikationsstörungen fuhren: Während der/die deutsche Gesprächspartnerin eine direkte Antwort erwartet (z.B. "recht gut. Allerdings finde ich die Winter etwas triste."), stellt im chinesischen Kontext Indirektheit die unmarkierte Form dar: "Es gibt den Bodensee, auch ist die Landschaft wunderschön und die Menschen sehr nett. (...)". Unter chinesischem Blickwinkel gilt die direkte Äußerung einer persönlichen Meinung in zahlreichen Kontexten, in denen Direktheit bei uns erwartbar ist, als unhöflich und grob. Stattdessen knüpft der chinesische Sprecher bzw. die Sprecherin häufig bei einem Detailaspekt an und tastet sich langsam, das Thema umkreisend, an die zentrale Aussage heran. Dieses Verfahren wird jedoch von deutschen Gesprächsteilnehmern als langatmig und ausweichend empfunden: "Man weiß nie so recht, was Chinesen wirklich denken", so ein deutscher Informant. Kapitel 5 wird sich ausfuhrlich mit unterschiedlichen thematischen Strukturierungs- und Kontextualisierungsverfahren befassen. Die fünfte Frage "Wie stehen wir (gerade) zueinander?" bezieht sich auf die Kontextualisierung sozialer Rollen und 'face-work'-Techniken. Kulturelle Unterschiede in der Kontextualisierung gesichtsbedrohender Handlungen können zu Mißverständnissen fuhren: Das chinesische Lachen bei Gesichtsbedrohungen fallt in diesen Bereich. Ein weiteres Beispiel, das ebenfalls unterschiedliche Kontextualisierungshinweise in Bezug auf 'peinliche' Situationen betrifft, entstammt einem Gespräch zwischen der Chinesin Bao und den Deutschen F und A: BAO 2 1 F: 2 3 4 5 6 7 8 9Bao: I OF: II Bao: 12

nu: wa was bedeutet des fur dich, du warst doch bevor du verheiratet warst sicherlich auch mit irgendeinem andern Mann noch zusammen oder? (0.5) oder oder bist du oder ist ER dein erster Mann? ja ((hohe Stimme)) /ja/ (0.6)

Die deutsche Gesprächsteilnehmerin überschreitet hier soziale Intimitätsgrenzen: Die Gesprächssituation wird zunehmend 'peinlicher'. Mit Schweigen und Ausbleiben der erwartbaren Antwort kontextualisiert Bao, daß die Frage F's die soziale Intimitäts- und Peinlichkeitsgrenze überschritten hat. Unter sequentiellem Gesichtspunkt ist auffallend, daß Baos entscheidende Äußerung, in der sie verdeutlicht, daß sie - im Gegensatz zu den Erwartungen ihrer deutschen Gesprächspartnerinnen - vor ihrem Ehemann mit keinem anderen zusammen war (vgl. die Minimalreplik 'ja' in Zeile 9), nicht unmittelbar auf die erste Frage der Deutschen folgt, sondern auf vielfältige Weise verzögert ist: Bao reagiert auf F's erste Frage (die als Annahme verpackt Bao zur Bestätigung vorgelegt wird; Zeile 1-4) nicht, und es entsteht eine kurze Pause. Doch auch auf

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die nachgeschobcne Nachlaufpartikel 'oder?' (Zeile 5) kommt keine Reaktion von Bao (eine Pause von 0.5 Sek. entsteht). F läßt jedoch nicht locker, sondern formuliert die Vermutung, die praktisch "in der Luft liegt". Bao's Minimalreplik 'ja' verdeutlicht nochmals, daß sie nicht gewillt ist, dieses Thema auszuweiten. Mittels extrem hoher Stimme (10) kontextualisiert F ihr völliges Erstaunen über Bao's Reaktion und fragt erneut nach. Nach Bao's zweiter Minimalreplik 'ja' entsteht erneut eine Schweigephase, die als weiteres Zeichen der aufgekommenen 'peinlichen Situation' betrachtet werden muß. Das explizite Nachhaken und Insistieren auf eine Antwort von F verdeutlicht, daß F die Peinlichkeit dieser Situation, und damit die Tabuverletzung nicht erfaßt. Der Kontextualisierungshinweis 'Schweigen' als Replik auf den ersten Teil einer Paarsequenz (Frage) und der damit ausbleibenden konditionell relevanten Folgeäußerung (Antwort) wird von der deutschen Gesprächspartnerin nicht verstanden. Im chinesischen Kontext dagegen ist das Ausbleiben einer erwarteten Antwort, d.h. die Produktion von Schweigen, ein Kontextualisierungshinweis dafür, daß das Thema nicht erwünscht ist. W i r haben hier ein Beispiel für eine 'komplementäre Schismogenese' in der 'Kulturberührung' (Bateson 1985:99-113): Die Interaktion zweier Subsysteme produziert im Laufe der Zeit eine größer werdende progressive Differenzierung und Distanz zwischen den Interagierenden: Während die chinesische Gesprächspartnerin Bao mittels Schweigen signalisiert, daß eine gesichtsbedrohende Situation vorliegt, zweifelt die deutsche Teilnehmerin an der Verstehensfertigkeit ihrer chinesischen Partnerin und reformuliert ihre gesichtsbedrohende Frage. Es kommt zu einer Expansion des Themas. Im Idealfall müßte die deutsche Fragende — hätte sie die Kontextualisierungshinweise von Bao verstanden - das Thema wechseln und ihre Frage 'vergessen'. Die chinesische Gesprächspartnerin wüide dann ebenfalls vorgeben, sie hätte die Frage nicht gehört. Wei, eine chinesische Muttersprachlerin, der ich diesen Gesprächsausschnitt vorlegte, bemerkte: W i r Chinesen schweigen einfach, wenn so ein Thema wie Sexualität behandelt wird. Und noch stärker müssen wir schweigen, wenn man uns persönlich dazu fragt. Gerade vor zwei Tagen fragte ich einen deutschen Kommilitonen Hans nach Peter, einen Mitbewohner in unserem Wohnheim. Hans meinte, ja dieser Peter ist schwer zu erreichen, er geht zur Zeit immer schon um 8 Uhr ins Bett, jedoch schläft er nicht gleich. Daraufhin kicherte Hans ein bißehen, und ich wußte, daß er meinte, Peter hat eine Freundin, die dann bei ihm ist. Doch konnte ich nicht darauf reagieren. Ich schwieg einfach und dachte, Hans würde nun das Thema wechseln. Doch der wiederholte nochmals, was er gesagt hatte, weil er dachte, ich hätte den sexuellen Sinn nicht verstanden und wurde nun deutlicher und sagte, er ist mit seiner Freundin so früh im Bett. Dann reagierte ich immer noch nicht. Und schließlich redeten wir über etwas anderes, aber die Situation war sehr seltsam.

Xü, eine zweite chinesische Informantin, kommentierte den Gesprächsausschnitt folgendermaßen: Ja der Chinesin ist es peinlich zu antworten, dann schweigt sie. In China würden wir dieses Schweigen sofort verstehen. Es heißt, sie will darüber nicht reden, doch die Deutschen verstehen das nicht und fragen immer nach. Als ich im Sommer mit einer anderen Chinesin zusammen in einer deutschen Firma arbeitete, und wir mit einem deutschen Kollegen Spaß machten, fragte dieser die andere Chinesin, 'Gibt es eigentlich auch Situationen, wo du rot wirst', daraufhin schwieg die andere Chinesin. Mir war sofort klar, daß es ihr peinlich war, und sie das Thema nicht hören wollte. Doch der Deutsche wiederholte seine Frage, da er dachte, sie hätte ihn nicht verstanden. Doch ihr Deutsch ist so gut. Natürlich hat sie verstanden. Als sie dann noch immer nicht reagierte und wegschaute, wiederholte er nochmals. Schließlich merkte er es und wurde still.

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Da die Verwendung der Kontextualisierungshinweise meist unbewußt verläuft und ihre Bedeutung nicht explizit ist, sondern als Teil des Interaktionsprozesses übermittelt wird, werden die Quellen fiir eventuelle Mißverständnisse und Fehlinterpretationen von den Interagierenden meist nicht erkannt. Vielmehr werden, wie Gumperz (1982:132) zeigt, Fehlinterpretationen und Mißverständnisse, die auf (kulturell) divergierenden Kontextualisierungshinweisen beruhen, als Inkompetenz, Unhöflichkeit oder Unkooperativität des Gesprächspartners interpretiert. Das Resultat solcher Mißverständnisse bilden nicht selten stereotype Zuschreibungen, Gesprächsabbrüche oder - in 'gatekeeping'-Situationen - sogar schwere soziale Nachteile fur die Angehörigen der sprachlichen Minderheit.

2.3.4.

Methodische Konsequenzen für die Analyse 'fremdkultureller' Kontextualisierungskonventionen

Mit dem Ansatz der Kontextualisierung bietet die interpretative Soziolinguistik ein wichtiges theoretisches und methodisches Konzept zur Analyse interkulturcllcr Kommunikation. Eine methodische Überlegung, die sich nun anschließt, lautet: Wie ist eine Studie fremdkultureller Kontextualisierungskonventionen überhaupt zu leisten, wenn in die Analyse stets das eigene kulturelle Wissen, die eigene Intuition und die Kompetenz als Gesellschaftsmitglied einfließt 77 und dabei die Interpretationen der Teilnehmenden als analytische Grundlage dienen sollen? In Hinblick auf die chinesischen Gesprächsdaten kann eine deutsche Analytikerin ihre fremdkulturelle Kompetenz nur sehr begrenzt geltend machen. Ist es dann überhaupt möglich als deutsche Analytikerin interkulturelle Kommunikationssituationen zwischen Deutschen und Chinesinnen/Chinesen zu beschreiben und systematische Differenzen in den Kontextualisierungskonventionen herauszuarbeiten? Zur Beantwortung dieser Fragen muß zunächst hervorgehoben werden, daß Kulturen keine monolithisch vom Alltag und damit auch der Alltagsinteraktion abgekoppelte Entitäten sind, sondern vor allem in Interaktionen, im sozialen Handeln hergestellt und bestätigt werden. 7 8 Kultur kommt in der Art der Signalisierung von Bedeutung ebenso zum Tragen wie in den Inferenzen, die ich aufgrund bestimmter Kontextualisierungskonventionen ziehe. Eine Beschreibung derjenigen Strategien, die chinesische und deutsche Gesprächsteilnehmende im konkreten Sprachhandeln anwenden, um verbale Aktivitäten herzustellen, sowie eine Analyse der kontextbezogenen Interpretation kommunikativer Signale berührt stets kulturspezifische Aspekte der Bedeutungsherstellung. Ferner ist anzumerken, daß wir auch bei der Analyse deutscher Interaktionen trotz unserer Mitgliedschaft in der Kultur auf divergierende Wissensbestände und Interaktionskonventionen treffen können, wie beispielsweise wenn wir Kantinegespräche unter Arbeiterinnen, WG-Gespräche unter Punks oder Spielsituationen unter kleinen Kindern analysieren. Trotz des unterschiedlichen kulturellen bzw. subkulturellen Hintergrundwissens ist eine Analyse solcher Gespräche dennoch möglich. 79 In interkulturellen Situationen 77 Siehe hierzu Kapitel 2.2.3. 78 Siehe Kapitel 1. 79 Hierzu auch Auer (1983:26ff.).

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können gerade die entstehenden Mißverständnisse, die 'uncomfortable moments' 80 , die Verwirrungen und Klarifikationsaufforderungen beim Auffinden kulturspezifischer Kontextualisierungsverfahren hilfreich sein. Als Analytikerin kann ich diese Mißverständnisse und Störungen 'ausnützen', um Hypothesen Uber Differenzen im Hintergrundwissen und in den Kontextualisierungstechniken der Interagierenden zu gewinnen. Ferner kann die Analyse durch die Inkorporation konversationsexterner Wissensbestände im Sinne ethnographischer Informationen über die Gesprächssituation verbessert weiden. 81 Ein methodisches Verfahren, um bei interkulturellen Gesprächen die eigene Interpretation zu überprüfen, besteht darin, das Datenmaterial Informantinnen und Informanten aus dem 'fremden' (chinesischen) Kulturkreis vorzuspielen und deren Interpretation in die Analyse einfließen zu lassen. Eine weitere Möglichkeit liegt in der Einbeziehung vorhandener Literatur zur chinesischen Rhetorik, zu chinesischen Interaktionskonventionen, zur Syntax des gesprochenen Chinesisch und zu Mißverständnissen zwischen Europäern bzw. Amerikanern und Chinesen. Ferner ist eine möglichst breite Vergleichsbasis verschiedener Gespräche fur ein solches Unterfangen wertvoll. Anhand eines Einzelgesprächs ist selbstverständlich nicht entscheidbar, ob die darin dokumentierten Interaktionsstrategien der deutschen und chinesischen Sprecher auf individuelle oder systematische Differenzen zurückgeführt werden können. Diese Schwierigkeiten lassen sich reduzieren, wenn eine größere Anzahl von Gesprächen mit verschiedenen Teilnehmerinnen und Teilnehmern vorhanden ist und ferner chinesische Kontrolldaten verfugbar sind, die lernerspczifische Strategien ausschalten. Aus diesen methodologischen Erwägungen heraus werden die meiner Arbeit zugrundeliegenden Analysen natürlicher - auf Tonband aufgenommer - Gespräche zwischen Chinesinnen und Deutschen (sowie chinesischen Kontrollgesprächen) durch ethnographische Hintergrundinformationen, Originalaussagen und Interpretationen chinesischer Informantinnen, denen ich Ausschnitte aus dem Datenmaterial vorspielte, überprüft bzw. 'angereichert'. Darüberhinaus werde ich Aufzeichnungen über interkulturelle Begegnungen während meines China-Aufenthalts, sozialpsychologische Abhandlungen zum westlichen und chinesischen Interaktionsverhalten sowie Interviewmaterial mit chinesischen Dolmetscherinnen, die Erfahrung in deutsch-chinesischen Verhandlungen haben, heranziehen. Diese 'Zusatzdaten' liefern m.E. wertvolle Hinweise, die beim Verständnis um und Zugang zu der 'fremden' Kultur helfen können. Gleichzeitig bin ich mir darüber im klaren, daß diese Materialien — auch wenn sie wichtige ethnographische Hintergrundinformationen Uber Interaktionskonventionen in der betreffenden Gesellschaft liefern können - sehr viel stärker als Bandaufnahmen durch das Bewußtsein der betreffenden Personen gefiltert sind und sich mangels sequentieller Detailliertheit keineswegs fur 'in depth'-Analysen eignen. Da die vorliegende Arbeit neben der Fragestellung nach Problemen der gemeinsamen Bedeutungsaushandlung in interkulturellen Interaktionen auch methodische Vorgehensweisen zur Erforschung interkultureller Kommunikation ins Zentrum der Analyse rückt und - in 80 Erickson/Shultz (1982:104ff.). 81 Zwar besteht die Gefahr, daß die Analytikerin die von den Interaktionsteilnehmerinnen organisierten verbalen Handlungen auf dem Hintergrund ihres Zusatzwissens interpretiert, ohne zu zeigen, daß dieses Wissen auch von ihnen selbst eingesetzt wird. (Hierzu auch Schegloff 1987b.) Dennoch wäre es unangemessen, aufgrund dieser Gefahr die ethnographischen Hintergrunddaten zu ignorieren.

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Anlehnung an das ethnomethodologischc Vorgehen - die jeweiligen Methoden aus der einmaligen Gegebenheit des betreffenden Gegenstands zu entwickeln sind, werden methodische Reflexionen die gesamte Arbeit begleiten. Da interkulturelle Begegnungen nicht auf losgelöste, außerhalb des Interaktionsprozesses stehende Kategorien reduziert, sondern in ihrer Komplexität vorgeführt werden sollen, erachte ich die offene Darlegung des Forschungsprozesses, die ständige methodische Reflexion und die Thematisierung von Schwierigkeiten bei der Bewältigung solch eines Unterfängens fur unabkömmlich. Denn wie Geertz (1987:26) schreibt: Nichts hat meiner Meinung nach mehr zur Diskreditierung von Kulturanalysen beigetragen als die Erstellung einwandfreier Abbildungen formaler O r d n u n g e n , an deren Existenz niemand so recht glaubt.

Was die Darstellungsform der behandelten Interaktionsphänomene betrifft, so werden exemplarische Einzelfalle vorgeführt, die bestimmte im Korpus erkannte Strukturen repräsentieren. Hierbei ist jedoch anzumerken, daß die Repräsentativität der dargestellten Transkriptsegmente keine Frage der Quantität der Belege ist, die für das betreffende Phänomen herangezogen werden können. 82 Anhand der präsentierten Transkriptausschnitte soll vielmehr - in Anlehnung an die Konversationsanalyse - die Systematizität der darin enthaltenen Strukturen verdeutlicht werden. Die zitierten Transkriptausschnitte weisen - je nach Phänomen — eine unterschiedliche Länge auf. Eine Bezugnahme auf die Forschungsliteratur wird im konkreten Zusammenhang mit den betreffenden Interaktionstechniken und -phänomenen geschehen. Auf diese Weise werden Forschungsergebnisse zu Reparaturstrategien und zur 'frame semantics' Kapitel 4 begleiten. Auf Aspekte der chinesischen Grammatik und Diskursorganisation (Topik-Kommentar-Phänomene, Kohärenz- und Kohäsionsbildungen etc.) werde ich in Kapitel 5 eingehen. Kapitel 6 wird Forschungsliteratur zum Rezipientenverhalten einbeziehen und Kapitel 7 zur Frage kommunikativer Gattungen. In Kapitel 8 werde ich sprachwissenschaftliche Arbeiten zum Argumentationsverhalten sowie konversationsanalytische Studien zur Organisation von Nichtübereinstimmung heranziehen. Die empirischen Kapitel werden somit von notwendigen Erläuterungen, methodischen Diskussionen und Kurzdarstellungen der Forschung zu den betreffenden Phänomenen 'unterbrochen'.

82 Hierzu auch Auer (1983:47).

56

2.4.

Datenmaterial, ethnographischer Hintergrund und Transkriptionskonventionen

Als Datenmaterial fur die Arbeit dienen Bandaufnahmen von 25 face-to-face-Interaktionen (auf Deutsch) zwischen Chinesinnen und Deutschen:

Beteiligte

Anlaß

Ort der Aufnahme

Dauer

Du-A-E Su-Yao-P-A-K Wang-Yue-Jiang Yan-Pan-R Cui-S Qin-M Lin-B Fan-U

sozialer Anlaß sozialer Anlaß

VR China VR China

75 Min. 62 Min.

sozialer Anlaß sozialer Anlaß sozialer Anlaß sozialer Anlaß sozialer Anlaß

VR VR VR VR VR

30 42 45 34 10

II. 8. LU Lu-R 9. MA Ma-T 10. ZHENG Zheng-F

Sprechstunde Sprechstunde Sprechstunde

VR China VR China VR China

30 Min. 25 Min. 25 Min.

III. 11. ZHAO 12. BAO 13. HU 14. BAN

sozialer Anlaß sozialer Anlaß sozialer Anlaß sozialer Anlaß

BRD BRD BRD BRD

45 30 40 60

Min. Min. Min. Min.

15. GUO 16. LIU 17. YANG 18. SHU 19. BU

Zhao-B Bao-F-A Hu-S Ban-Wu-GuLuo-S Guo-Zhu-A Liu-B Yang-Tan-D-A Shu- U-A-B Bu-S

sozialer Anlaß sozialer Anlaß sozialer Anlaß sozialer Anlaß sozialer Anlaß

BRD BRD BRD BRD BRD

20 34 65 20 20

Min. Min. Min. Min. Min.

IV. 20. ZHU 21. XU 22. W U 23. XUE 24. JI 25. YU

Zhu-H Xu-Li-G Wu-U Xue-U Ji-U Yu-A

Gespräch Gespräch Gespräch Gespräch Gespräch Gespräch

BRD BRD BRD BRD BRD BRD

30 23 14 18 15 30

Min. Min. Min. Min. Min. Min.

Gespräch83 I. 1. DU 2. SU 3. WANG 4. CUI 5.QIN 6. LIN 7. FAN

(Univ.) (Univ.) (Univ.) (Univ.) (Univ.) (Univ.)

China China China China China

Min. Min. Min. Min. Min.

83 Die einzelnen Gespräche werden nach dem Namen eines/einer chinesischen Teilnehmerin aufgelistet.

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Gespräche der Kategorie I: Beteiligt sind deutsche Lektorinnen und Lektoren, die bereits seit einigen Monaten bzw. Jahren in China arbeiten und chinesische Deutschlehrende. Der Anlaß der Treffen war stets eine Einladung der Lektoren zum Kaffeetrinken bzw. Abendessen. Die Teilnehmer trafen sich in den Wohnungen der deutschen Lektoren in der VR China. Das sprachliche Niveau der Chinesinnen, die an chinesischen Hochschulen Deutsch studiert hatten und seit einigen Jahren Deutsch unterrichten, kann als 'fortgeschritten' bezeichnet werden. Drei der chinesischen Deutschlehrenden hatten bereits drei bis sechs Monate lang an Fortbildungsseminaren in der Bundesrepublik teilgenommen. Insgesamt sind jedoch die kommunikativen Kontakte zwischen chinesischen Deutschlehrenden und Deutschen in der VR China recht begrenzt. Für die Mehrzahl der chinesischen Deutschlehrenden bietet sich nur selten Gelegenheit, Alltagsgespräche mit Deutschen zu fuhren. Aus diesen Gründen muß betont werden, daß die Erfahrung mit deutschen Kommunikationskonventionen und Interaktionsstrategien minimal ist. Gespräche der Kategorie II: Hierbei handelt es sich um Gespräche zwischen chinesischen Ingenieur- bzw. Naturwissenschaftlern und Vertreterinnen deutscher Institutionen. Die Gespräche fanden ebenfalls in der VR China, in den Büros der Deutschen, statt. Die chinesischen Gesprächsteilnehmer beendeten zum Zeitpunkt des Gesprächs einen 9-monatigen IntensivDeutschkurs (28-32 Wochenstunden) und standen kurz vor ihrer Ausreise in die Bundesrespublik. Während ihres Deutschkurscs wurden sie teilweise auch von deutschen Lektorinnen unterrichtet und speziell auf den Studienalltag in der Bundesrepublik vorbereitet. Doch hatten sie außerhalb des Klassenzimmers und den wenigen 'geselligen Zusammentreffen' mit ihren Deutschlehrenden keinerlei Gelegenheiten, Deutsch zu sprechen, geschweige denn Erfahrungen mit den deutschen Interaktionskonventionen zu sammeln. Das Dcutschniveau dieser Chinesen entspricht der Mittelstufe. Gespräche der Kategorie III: Diese Gespräche wurden während privater Treffen zwischen chinesischen Studierenden bzw. Gastwissenschaftlern und deutschen Studierenden in der Bundesrepublik aufgenommen. Die Chinesen, die bereits 3-18 Monate an deutschen Hochschulen studieren und beabsichtigen, einen Diplom-, Magister- oder Doktorabschluß an einer deutschen Hochschule zu erwerben, verfugen über fortgeschrittene Deutschkenntnisse. Der Ort der Begegnungen waren entweder die Wohnungen der Deutschen oder die Wohnheimzimmer der Chinesen. Gespräche der Kategorie IV: 84 Bei diesen Gesprächen, die insofern einen 'organisierten' Charakter haben, als die Teilnehmenden gebeten wurden, sich mit chinesischen bzw. deutschen Studierenden bzw. Gastwissenschaftlern zu treffen, um über Alltagsleben in China und der Bundesrepublik zu reden, kannten sich die Gesprächspartner nicht oder nur flüchtig. Die Aufnahmen fanden in Räumen einer deutschen Hochschule (Büros bzw. Cafeteria) statt. Die Mehrzahl der Teilnehmer der Gespräche (Kategorie III und IV) sind Ingenieur- oder Naturwissenschaftler: Li, Ma, Zheng, Bao, Tan, Liu, Ban, Guo, Luo, Bu, Xu, Lu, Wu und Yu. 84 Die Gespräche XU, W U und XUE wurden von Marcina Daxer aufgenommen und transkribiert.

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Bevor sic in die Bundesrepublik kamen, absolvierten sie in der Regel (außer Xu, Li, Tan und Yu) einen 9-monatigen Intensivdeutschkurs an einem sogenannten YUBEIBU Jfi-ß· (einem 'Vorbereitungskolleg', das einer Universität oder einem Fremdspracheninstitut angeschlossen ist) mit anschließender Staatsprüfung zum Nachweis ausreichender D e u t s c h k e n n t n i s s e . 5 Die Teilnehmenden Zhu, Shu, Hu, Yang, Ji und Xue sind Germanisten und haben bereits einige Jahre als Deutschlehrende an chinesischen Hochschulen gearbeitet, bevor sie zur Fortbildung in die BRD kamen. 8

Mein Materialkorpus umfaßt folgende chinesische Kontrolldaten:

Gespräch

Beteiligte

Gespräche unter Chinesinnen 86 Liang-Zhang 1. LIANG Han-Fan 2. HAN 3. PAN Pan-Kong Luo-Hua 4.LUO

Anlaß

Ort der Aufnahme

Dauer

sozialer Anlaß sozialer Anlaß sozialer Anlaß sozialer Anlaß

VR China BRD BRD BRD

20 20 65 30

Min. Min. Min. Min.

Gespräche zwischen einer Chinesin und einer deutschen Chinesischlernerin87 5. HE He-D sozialer Anlaß BRD 25 Min. 6. HE He-D sozialer Anlaß BRD 40 Min.

Die chinesischen Gespräche wurden in Putonghua ('allgemeine Sprache'; d.h. Standardchinesisch) geführt. 88 Was die Aufbereitung des Datenmaterials betrifft, so wurden die Gespräche mittels des in der Konversationsanalyse gebräuchlichen Transkriptsionssystems verschriftlicht.89 Es handelt sich hierbei um ein Verfahren zur Herstellung orthographisch kontrollierter Transkripte, wobei einzelne Sprecheigenheiten (Abweichungen von der Standardaussprache aufgrund von Lernerproblemen, dialektale Färbung, Versprecher, Verschleifung von Silben, Vokaldehnungen etc.), bestimmte Interaktionsereignisse (Überlappungen, Unterbrechungen, Pausen etc.) und prosodische Phänomene (Lautstärke, Sprechgeschwindigkeit, Tonhöhenverlauf etc.) notiert werden. Diese Art der Verschriftlichung gewährleistet fur meine Fragestellungen hinreichend genaue Texte, ohne

85 Zur Lehr- und Lernsituation an einem Yubeibu siehe Giinthner 1984. 86 Diese Gespräche wurden mir freundlicherweise von chinesischen Freundinnen und Bekannten zur Verfügung gestellt. 87 Die Deutsche D und die Chinesin He treffen sich regelmäßig 'zum Tee' und reden dabei auf Chinesisch. 88 Zur Verbreitung des Putonghua in China siehe Cheng/PasieAsky 1988. 89 Eine Erläuterung des in der Konversationsanalyse üblichen Transkriptionssystems fíndet sich in Bergmann (1988:20ff.).

59

gleichzeitig, wie dies bei phonetischen Umschriften der Fall ist, die Lesbarkeit und das spontane Nachvollziehen des Gesprächsablaufs allzu sehr zu beeinträchtigen.

Folgende Transkiiptíonskonventionen wurden gewählt: /ja das / finde ich auch /du ab/

die innerhalb der Schrägstriche stehenden Textstellen überlappen sich; d.h. zwei Gesprächspartner reden gleichzeitig

(0.5)

Pause von einer halben Sekunde kurze Pause (kürzer als 0.2 Sek.) unverständlicher Text

(gestern)

unsichere Transkription direkter Anschluß zwischen zwei Äußerungen stark steigender Ton leicht steigender Ton fallender Ton schwebender Ton Silbenlängung

•aber*

die Passage wird leiser gesprochen

"aber**

sehr leise

+und dann-*·

die Passage wird schneller gesprochen

++und dann++

sehr schnell

NEIN

laut

nein

betont

NEIN

sehr laut und betont

mo((hi))mentan

die Äußerung wird kichernd gesprochen

HAHAHA

lautes Lachen

hahahaha

Lachen

60

hihihihihi

Kichern

'hh

hörbares Einatmen

hh

hörbares Ausatmen

((hustet))

Kommentare (nonverbale Handlungen, o.ä.)

((flüstern)) cjetzt nicht>

Kommentare non- bzw. paraverbaler Handlungen, die sich über den in eingefugten Außerungsausschnitt erstrecken

Die chinesischen Gespräche werden sowohl in Hanyu-Pinyin"

(lateinische Um-

schrift) als auch — aufgrund der starken Homographie - mit chinesischen Zeichen 9 1 wiedergeben. 92 Auch wenn sich meine Analysen primär auf Tonbandaufnahmen von face-to-face-Kommunikationen stützen, so bleibt dennoch das Problem der zwangsläufigen Reduziertheit des Datenmaterials bestehen, 93 das sich der Differenziertheit und Komplexität interkultureller Kommunikationen nur annähern kann. Für die Leser werden die Gespräche ein weiteres Mal durch die Verschriftlichung und damit durch das gewählte Transkriptsystem gefiltert. Transkripte stellen lediglich Hilfsmittel dar und keine objektiven Wiedergaben der tatsächlichen Interaktion: Ai such, not only linguistic structure as it is usually understood (or presupposed), but even text/transcript —certainly in the traditional organization around referential -and-predicational morphosyntactic form —is at best an in vitro (as o p p o s e d to in vivo) hint o f the object o f investigation. It is an in vitro artifact itself invested with all o f the interpretative baggage o f a cultural (and, especially as positive scientists, o f our own subcultural) formation (...). (Silverstein 1988:4)

Dieser Sachverhalt fuhrt dazu, daß ich während der Analyse ständig wieder die Bänder anhörte; eine Möglichkeit, die den Lesern leider verwehrt bleibt. Die Namen aller chinesischen Interaktionsteilnehmenden wurden geändert und stets andere, weitverbreitete chinesische Familiennamen verwendet. Auch alle in den Gesprächen auftretenden Ortsangaben wurden aus Datenschutzgründen 'maskiert'. Da nahezu alle Gespräche in den Jahren 1984-88 aufgenommen wurden, d.h. zu einer Phase politischer Liberalisierung, wurden in den Gesprächen immer wieder politische und teilweise auch gesellschaftskritische Themen angesprochen. Mittlerweile (nach dem Tiananmen-Vorfall) haben einige der Gespräche eine neue politische Relevanz erhalten und erfordern eine strengere Anonymisierung als ursprünglich angenommen. Aus diesen Gründen werde ich politisch gefärbte Gesprächsausschnitte nicht (bzw. nur 90 Zum Pinyin und der Sprachreform in China siehe Pasierbsky 1977. 91 Hierbei werden die in der VR China üblichen vereinfachten Zeichen verwendet. Zur Reform des chinesischen Zeichensystems siehe Cheng/Pasierbsky (1988:1280-1281). 92 Für ihre Hilfe bei der Transkription der chinesischen Gespräche danke ich Renate Krieg, Zhang Jing, Wang Yüfei und Ji Chun. 93 Eine gewisse Reduzierung ergibt sich bereits aus der Tatsache, daß Tonbandaufnahmen und keine Videoaufzeichnungen vorliegen und damit kinetische Momente bei der Analyse nicht berücksichtigt werden können. Aufgruna der hohen Redundanz in menschlichen Gesprächen sind Tonbandaufnahmen jedoch häufig ausreichend zur Erstellung kohärenter Interpretationen.

61

in Fällen, die von den chinesischen Teilnehmer als 'unproblematisch' eingeschätzt werden) diskutieren. Während der Datenerhebungs- und Analysephase führte ich zahlreiche Interviews, Gespräche und Diskussionen mit chinesischen und deutschen Informanten. 9 ^ Die Gruppe der Informanten umfaßt: a. Chinesische Sprachwissenschaftlerinnen und Germanistinnen, die an bundesdeutschen Hochschulen Linguistik bzw. Germanistik studieren: Frau Ma, Frau Pan, Frau Wang, Frau Wei und Frau Xu. b. Chinesische Naturwissenschaftlerinnen, die seit Monaten bzw. Jahren an deutschen Hochschulen studieren, um einen deutschen Diplomabschluß zu machen: Frau Kong, Herr Li, Herr Wu und Herr Zhi. c. Zwei chinesische Germanistinnen, die häufig in interkulturellen Verhandlungsgesprächen mit chinesischen und deutschen Interagierenden dolmetschen: Frau Wen und Frau You. d. Zwei deutsche Geschäftsmänner (Herr Müller und Herr Schmidt) und eine chinesische Managerin (Frau Hong), die jahrelange Erfahrung mit interkulturellen Verhandlungsgesprächen zwischen Deutschen und Chinesen haben. Ich führte mit allen dreien Gespräche über Schwierigkeiten in deutsch-chinesischen Verhandlungssituationen. e. Eine Schweizerin (Frau Egli), die seit drei Jahren an einer chinesischen Hochschule chinesische Medizin studiert. Ich führte ein Gespräch mit ihr über chinesisches Lehr- und Lernverhalten. f. Zwei deutsche Sinologinnen (Frau Klein und Frau Weiß), die jahrelange Dolmetscher-Erfahrung in deutsch-chinesischen Gesprächskontexten haben.

94 Die Namen der Informantinnen wurden ebenfalls geändert.

3.

Aspekte des chinesischen Interaktionsethos Der Meister sprach: 'Von Natur aus sind alle Menschen ziemlich gleich; (erst) durch Gewohnheit entfernen sie sich weit voneinander' (Konfuzius; Lunyu: Buch 17,2)

Suchcn wir Informationen über das chinesische Interaktionsverhalten aus westlicher Perspektive, so stehen uns neben den vorwiegend aus dem 19. Jhd. stammenden Missionarsberichten noch zahlreiche in den letzten zehn Jahren verfaßte 'business guides'1 zur Verfugung. Die darin erwähnten Interaktionsdifferenzen und -problème zwischen westlichen und chinesischen Interagierenden beruhen meist auf persönlichen Eindrücken, Anekdoten und Interviews. Mittlerweile geben gar spezielle 'Knigge'-Broschüren fur den 'Umgang mit Chinesen' Ratschläge, wie man mit chinesischen Geschäftspartnern verhandeln soll, und was in diesen 'exotischen' Interaktionssituationen zu beachten ist. 2 Die anfängliche Begeisterung westlicher Geschäftsleute über eine mögliche Erschließung des neuen Markts China nimmt nicht selten rapide ab, sobald die ersten Verhandlungsgespräche mit chinesischen Geschäftspartnern angelaufen sind 3 : Soziokulturelle Diskrepanzen, wie unterschiedliche Formen und Auffassungen von Höflichkeit, divergierende Interaktionsformen sowie fremde Gesprächsstile beeinträchtigen und beenden gar allzu schnell die wirtschaftlichen Hoffnungen und Träume. Eine in den USA durchgeführte Umfrage über USchinesische Verhandlungsgespräche und mögliche Ursachen fur das häufige Scheitern solcher interkulturellen Verhandlungen kam zu dem Ergebnis, daß in einer Vielzahl der Fälle unterschiedliche kommunikative Verhaltensweisen sowie divergierende Verhandlungsstile zwischen amerikanischen und chinesischen Partnern zu Gesprächszusammenbrüchen führten, die wiederum die betreffenden Handelsbeziehungen zum Scheitern brachten. 4 Nicht selten ziehen Gespräche zwischen chinesischen und europäischen bzw. amerikanischen Gesprächspartnern auf beiden Seiten große Unzufriedenheit, Arger sowie stereotype Zuschreibungen nach sich. Die eine Seite verstrickt sich in Klischees von der 'Undurchschaubarkeit' und 'Rätselhaftigkeit' der Chinesinnen, während die andere Seite die westliche 'Direktheit', 'Ungeduld' und 'Kulturlosigkeit' bemängelt. Trotz der immer wieder konstatierten Kommunikationskonflikte zwischen chinesischen und europäischen Gesprächspartnern liegen bislang - mit Ausnahme der Arbeit von Young (1982; 1986) - keine empirischen Untersuchungen über interkulturelle Gesprächssituationen zwischen Europäerinnen bzw. US-Amerikanerinnen und Chinesinnen vor. Mir sind auch keine konversationsanalytischen Arbeiten bekannt, die Diskursstrategien und Interaktionskonventionen chinesischer Sprechender untersuchen. Verstreute Informationen über chinesische Interaktionsprinzipien sind allgemeinen Abhandlungen zur chinesischen Philosophie und Kulturgeschichte zu ent-

1 2

Vgl. u.a. Silin 1976; Pye 1982; Tung 1982; Terry 1984; Helms 1986. Helms 1986; Terry 1984.

3 4

Terry (1984:1). Hierzu Young (1986:5).

63

nehmen.5 In diesem Zusammenhang sind die Arbeiten von Oliver ( 1 9 7 1 ) über Kommunikation und Kultur im Alten Indien und China sowie die Dissertation von Garrett ( 1 9 8 3 ) über die klassische chinesische Argumentationstheorie und -praxis aufschlußreich. Chinesischlehrbücher geben in der Regel keinerlei Informationen über Interaktionskonventionen oder soziokulturelle Regeln des chinesischen Gesprächsverhaltens. Doch wie Pillsbury/Ho ( 1 9 7 2 : 9 0 ) betonen, ist Sprache a complex living tool evolved for the purpose of communication within a particular society and embodying the rules of social behavior necessary for survival in that society. To divorce language from such social rules is virtually impossible. The Westerner who hopes to slip behind the fabled mask of Chinese inscrutability must therefore do more than memorize vocabulary lists. He must learn Chinese in its social context. And he must appreciate the differences between Chinese and Western sociolinguistic behavior. In diesem Kapitel sollen nun - auf der Grundlage von Literatur zur chinesischen Rhetorik und zu westlich-chinesischen Interaktionssituationen sowie eigener ethnographischer Beobachtungen und Interviews — diejenigen Konventionen, Strategien und Werte, die das chinesische Kommunikationsverhalten regulieren und somit Prinzipien des chinesischen Interaktionsethos verkörpern, thematisiert werden. 6 Der Begriff des 'Interaktionsethos' wird hier in Anlehnung an den EthosBegriff von Bateson ( 1 9 8 5 ) und Brown/Levinson ( 1 9 7 8 ) verwendet und verweist auf die "affective quality of interactive characteristics of members of a society".7 Bei der Beschreibung chinesischer Interaktionsprinzipien werde ich folgenden Fragestellungen nachgehen: a. Welche 'typisch chinesischen Interaktionsnormen' lassen sich - anhand des zur Verfügung stehenden Materials - herausfiltern und welche Interaktionskonventionen chinesischer Sprecher/Sprecherinnen werden von europäischen 8 Gesprächspartnern als 'typisch chinesisch* eingestuft? b. Existieren spezifisch chinesische Rhetorikkonventionen? c. Welche Aspekte werden unter emischem Blickwinkel als 'rules of speaking' betrachtet? d. Inwiefern beeinflussen kulturspezifische Unterschiede in der sozialen Etikette das Interaktionsverhalten?

5 Vgl. Bodde 1957; Bon 1965; Ahern 1981; Garrett 1983; Granet 1985. 6 Nun könnte der Einwand gemacht werden, daß in China unterschiedlichste Menschengruppen mit verschiedenen Traditionen, Kulturen und Sprachen leben und somit nicht alle Chinesinnen "über einen Kamm geschert" werden können. Sicherlich kann jedoch - was die Han-Chineslnnen angeht - von pan-chinesischen Charakteristiken gesprochen werden: Die gemeinsame chinesische Tradition, die Kulturgeschichte und das sich daraus ergebende Zusammengehörigkeitsgefühl rechtfertigt diese pan-chinesische Perspektive. Han-Chineslnnen verfügen über dieselbe literarische Tradition, dieselbe Schrift und eine (emisch betrachtet) gemeinsame Identität. Was nun die verschiedenen Dialekte bzw. Sprachen betrifft, so haben wir es trotz der Verschiedenheit mit einer chinesischen Sprachfamilie zu tun, die sich aurch folgende Charakteristika auszeichnet: Eine gemeinsame Schrift, den isolierenden Status der Sprachen bzw. Dialekte, d.h. keine Flexion, keine morphologische Markierung (weder Tempus, Genus, Zahl werden grammatisch markiert), sowie das Tonsprachen-Phänomen. Ferner teilen sämtliche Han-Chineslnnen trotz unterschiedlichster Dialekte bzw. Sprachen ein gemeinsames Repertoire an Kommunikations- und Sprechregeln. 7 Brown/Levinson (1978:248). 8 Der Begriff 'Europäerinnen' umfaßt in diesem Zusammenhang auch Nordamerikanerinnen europäischer Abstammung.

64

3.1.

Prinzipien chinesischer Rhetorik

In seiner Analyse westlicher und orientalischer Rhetorik demonstriert Oliver (1971) die kulturelle Verankerung rhetorischer Prinzipien.9 Was China betrifft, so existiert dort keine strikt ausformulierte Rhetorik, 1 0 vielmehr wurde die Rhetorik stets als untrennbares Element von Fragen der Ethik, Psychologie, Politik und sozialen Beziehungen angesehen und auch seit jeher im Zusammenhang mit diesen Fragen behandelt. Allgemeines Ziel der Rhetorik im Alten China war, Harmonie zwischen allen Beteiligten zu erzielen.11 Nicht etwa individuelle Fähigkeiten des Sprechers standen im Zentrum der Rhetorikausbildung, sondern vielmehr die Fertigkeit, Harmonie zu erhalten und zu stiften. Rhetorische Fähigkeiten beinhalteten stets die Kunst des Kompromisses, der Anpassung an und des Respekts vor den klassischen Schriften sowie die Einhaltung der Etikette. N o people have learned better than did the ancient Chinese how to deliver unpalatable truth in palatable form. T h e preservation of face was among their highest social goals. However widely opinions might differ, propriety and decorum were to be preserved. For in the long run the maintenance of general harmony was of greater value than the achievement of any particular result in an individual dispute. This was the athmosphere in which the various rhetorical practices and views of the ancient Chinese were nourished. It gave to their thinking about rhetoric a special Chinese cast.

(Oliver 1971:99)

Dies steht im Gegensatz zur westlichen Rhetorik, die großen Wert auf Individualität und argumentative Überzeugungstaktiken legt. Eine Äußerung soll jedoch - gemäß der chinesischen Rhetorik — so stark wie möglich 'depersonalisiert' werden, und der Redner bzw. Schreiber soll bemüht sein, dem Rezipienten zu vermitteln, daß nichts an seiner Botschaft originell ist, sondern vielmehr auf der Autorität der kanonischen Schriften basiert. Statt origineller Eloquenz wird das situationsadäquate Zitieren der Klassiker, der richtige Gebrauch von Spruchweisheiten und Maximen der alten Weisen geschätzt. Um jeden Anschein von Individualismus oder Aggression zu vermeiden, wird die Botschaft stark ritualisiert. Das chinesische Interaktionsethos, die Rhetorik und die zwischenmenschlichen Verhaltensregeln sind auch heute noch stark in der konfuzianistischen Tradition verwurzelt. So galten die kanonischen Schriften des Konfuzius in China bis ins 19.Jhd. hinein als 'Leitsätze' und enthielten nach der damaligen Auffassung alles, was der menschliche Geist an Normen zur Bildung der Persönlichkeit überhaupt ersinnen könne. Ihr Einfluß auf das heutige China, auf die chinesische Gesellschaft, das Denken und die Kultur ist nicht zu unterschätzen. Trotz der AntiKonfuzius-Kampagne während der Mao Zedong-Ära konnte sich konfuzianistisches Gedankengut bis ins heutige China hinüberretten: Seit ein paar tausend Jahren sind die konfuzianistischen Gedanken und Verhaltensweisen zum Blut und Knochen der Chinesen geworden. In der Mao-Zeit sollte man den Konfuzianismus kritisieren. Man merkte aber nicht, daß die Mao-Ära selbst von der konfuzianistischen Tradition tief geprägt war. (So Frau Xu, eine chinesische Informantin)

9 Oliver (1971:3). 10 Oliver (1971:10). 11 Oliver (1971:261).

65 Aufgrund ihres Einflusses auf die heutige chinesische Lebenswelt werde ich einige der zentralen konfuzianistischen Prinzipien zur zwischenmenschlichen Interaktion vorstellen.

3.2.

Konfuzianistische Prinzipien der Interaktion Die Sitte ist für den Menschen, was die Hefe für den Wein; er wird ein edler Charakter, wenn er sie reichlich hat, und ein gemeiner Mensch, wenn er sich dürftig darin zeigt. (Buch der Riten 1958:67)

Die konfuzianistische 12 Ethik 13 mit ihren kodifizierten Bräuchen, Riten und moralischen Gesetzen, die sämtliche menschliche Beziehungen sowie alle wichtigen Aspekte menschlichen Verhaltens regulierte, betonte stets die Orientierung der Gegenwart an der Vergangenheit, die sozialen Beziehungen, das Streben nach Harmonie sowie den Respekt flir andere. Der Mensch wird erst zum Menschen durch sein moralisches Verhalten. Dieses moralische Verhalten, das ihn vom Tier unterscheidet und Verpflichtungen und Aufgaben des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft beinhaltet, erwirbt der Mensch durch die Sozialisation und Erziehung. Dabei stellt die Harmonie zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft eines der Hauptziele der Interaktion dar. Im 'YILI', dem Buch der Riten, werden die Prinzipien des LI ÌL (die Sittlichkeit) 14 und damit das den 'guten Sitten' angemessene Verhalten detailliert aufgeführt. Diese Verhaltensanweisungen, die im Alten China auswendig gelernt wurden, repräsentieren konkrete Regeln hinsichtlich gesellschaftlicher Verhaltensnormen und kommen somit einer Art sozialer Grammatik gleich, die auch im heutigen China noch von großer Relevanz ist.15 Nur eine Person, die sich an die Regeln des LI hält, hat LIMAO (ethisches Verhalten) bzw. JIAOYAN {ethische Erziehung ) und steht im Einklang mit der sozialen Etikette. Eine schlimme Beschimpfung in China ist auch heute noch der Vorwurf, jemand habe kein LIMAO (meiyou limao). Jedes Gesellschaftsmitglied trägt durch die Einhaltung der Prinzipien zwischenmenschlicher Beziehungen zur Herstellung der sozialen Harmonie bei. Das chinesische Denken - so Granet (1985:258) — geht davon aus, daß die Ordnung des Makro- und Mikrokosmos u.a. von der Einhaltung bestimmter Regeln (wie der Einhaltung der Etikette) abhängig ist: Jeder Mensch hat einen bestimmten Platz innerhalb der Gesellschaft inne und ist verpflichtet, bei der Erhaltung der sozialen Ordnung mitzuwirken, indem er sich an die Etikette hält. Gleichzeitig schützt die Verhaltensetikette den Einzelnen — sofern er sich selbst daran hält — vor Gesichtsbedrohungen und unvorhersehbaren Begegnungen.16 Jedes Wesen, das auch nur gegen die geringsten Vorschriften einer solchen Etiquette verstieße, würde als widerspenstig und aufrührerisch empfunden werden. Die Etiquette ist das einzige Gesetz. Durch sie wird die Ordnung im Kosmos verwirklicht. Sie muß sich in jeder Handlung, in jedem Verhalten der Wesen, ob groß oder klein, bekunden. (Granet 1985:292. Hervorhebungen, S.G.) 12 Zum Verwendungszusammenhang des Begriffs 'konfuzianistisch' siehe Gernet (1983:83). 13 14 15 16

Hierzu auch Hu Shih (1922:56;64). Zum 'Li'-Konzept, dem 'Ehrenkodex', dem sich höher Gestellte zu unterwerfen hatten, siehe Hu Shih (1922:47). Zum 'Li'-Prinzip und Höflichkeitsphänomenen im modernen China siehe auch Gu 1990. Oliver (1971:97-98).

66 Durch das Einhalten der Etikette und die erforderlichen moralischen Eigenschaften, durch R E N , YI, LI und Z H I ( - p ^ L ^ , d.h. Mitmenschlichkeit, Pflichtgefühl, Sittlichkeit und Wissen) 1 7 kann jeder Mensch zum Edlen 1 8 JqT^Cjunzi) bzw. kultivierten Menschen werden. 19 Ein Edler hat gelernt, individuelle Wünsche und Emotionen zugunsten der Gesellschaft und sozialen Harmonie zu unterdrücken und sich seiner sozialen Rolle adäquat zu verhalten: Cultivation implies the learning o f stylized responses. T h e cultivated individual, for the sake o f harmony, extinguishes a portion o f his individuality. (Silin 1976:37).

Die Betonung des 'Ich' galt im Alten China als unmoralisch, als Anmaßung und Auflehnung und teilweise sogar als Rebellion gegen die kosmische Ordnung. 2 0

Folglich bildeten die "Be-

herrschung des eigenen Ich" ( ' R E N ' "fl-Kultivierung), das Charaktertraining ( X I U YANG f f ^ p ) und die Kontrolle individueller Emotionen einen wesentlichen Teil der 'Kultivierung* und 'Menschwerdung'. 21 Die wahren Gefühle sind zu verstecken und Konflikte oder emotionale Ausbrüche zu vermeiden. 22 Das Einhalten der Riten, das Instandhalten der Etikette und die 'Ren'-Kultivierung sollten dazu beitragen, daß jedes Verhalten des Individuums, auch das privateste, gemäß der Riten standardisiert ist. 2 3 Die Auswirkungen dieser starken Formalisierung und Standardisierung des Verhaltens sind auch heute noch zu spüren. Wie Bond/Hwang (1986:213ff.) verdeutlichen, wurzeln wesentliche sozialpsychologische Aspekte der heutigen chinesischen Gesellschaft, einschließlich ihrer Ideale zwischenmenschlicher Interaktion, im konfìizianistischen Erbe. Der Mensch existiert und wird definiert durch die Beziehungen zu seinen Mitmenschen; diese Beziehungen sind hierarchisch strukturiert; die soziale Ordnung und Harmonie der Gesellschaft wird dadurch erhalten, daß sich der Einzelne an die vorgeschriebene soziale Rolle hält.2"4 Und zwischenmenschliche Interaktionen unter Chinesen sind auch heute noch geprägt durch: submission to social expectations, social conformity, worry about external opinions, and non-offensive strategy in an attempt to achieve one or more o f the purposes o f reward attainment, harmony maintenance, impression management, face protection, social acceptance, and avoidance o f punishm e n t , embarrassment, conflict, rejection, ridicule, and retaliation in a social situation. (Yang 1981:161)

17 Dies ist ein Wissen um Verhaltensweisen bzw. um die Forderungen der Gesellschaft an das Verhalten des Einzelnen. Siehe Moritz (1990:57). 18 Der 'Edle' stellt das Ideal des konfuzianistischen Menschenbildes dar. Dabei bezieht sich die Bezeichnung 'Edler' nicht auf Geburtsadel, sondern auf Geistesadel. Ein Edler kann jede Person sein, die sich an die Sitten hält. Vgl. hierau das "LIJI. Das Buch der Sitte". 19 Hierzu auch Hsu (1985:32ff.), Oliver (1971:97-98) und Gernet (1983:90). 20 Moritz (1990:55). 21 Granet (1985:316). Vgl. hierzu auch Hsiin-Tzu (Xünzi) (1967:11-19) über die 'Persönlichkeitspflege'. 22 Siehe Hsiin-Tzu (Xünzi) (1967:8-9): "Warnung vor Menschen ohne Sinn für das, was sich schickt". 23 Hierzu auch Moritz (1990:54); Gernet (1985:310). 24 Hierzu auch Hu Shih (1922:22-27).

67

3.3.

D e r 'Gesichts'-Begriff in der chinesischen Gesellschaft

3.3.1.

'Gesicht' in der zwischenmenschlichen Interaktion

Theorien des Symbolischen Interaktionismus sowie der Interpretativen Soziolinguistik gehen davon aus, daß der Mensch in einer symbolisch vermittelten Welt lebt, wobei das verbale Repertoire eines der wesentlichen Symbolsysteme darstellt, die der Mensch verwendet, um mit seinem Gegenüber zu kommunizieren. Der sozialen Interaktion kommt zugleich eine zentrale Bedeutung hinsichtlich der Gesellschaftsotganisation zu. Die menschliche Gesellschaft wird als Gemeinschaft von Personen betrachtet, die mittels fortlaufender Aktivitäten am Leben teilnehmen, soziale Bedeutungen herstellen und Handlungslinien entwickeln. In der Interaktionssituation müssen nun die Handlungen gemeinsam koordiniert, die Interpretationen kooperativ ausgehandelt und die Identitäten hergestellt werden.25 In zwischenmenschlichen Begegnungen und insbesondere in face-to-face-Interaktionen ist jedes Individuum bemüht, seine Identität herzustellen bzw. zu stärken. Diese Identitätshersteilung gelingt primär über die Bildung und Wahrung des 'Gesichts' 26 . Das Gesicht stellt fiir ein Individuum einen Wert dar, der stets neu investiert wird, bestätigt werden muß und auch verloren gehen kann. Aufgrund möglicher Gefährdungen des eigenen (und fremden) Gesichts sind die Interagierenden bemüht, mittels 'face-work'-Techniken sowohl das eigene Gesicht als auch das des Gegenübers zu erhalten.27 Wären er u n d andere nicht auf diese Weise sozialisiert, dann wäre Interaktion in den meisten Gesellschaften und in den meisten Situationen eine viel gewagtere Sache für Gefühle und Images. M a n hielte es nicht mehr fiir durchführbar, an symbolisch Ubermittelte, soziale Werturteile gebunden zu sein oder G e f ü h l e zu haben - d.h. man könnte kein rituell feinfühliges Objekt mehr sein. Wäre der Mensch nicht ein rituell feinfühliges Objekt, so könnten vermutlich Gesprächsangelegenheiten nicht in der üblichen Weise organisiert werden. Es ist kein Wunder, daß ein Mensch, von d e m man nicht sicher sagen kann, daß er das Spiel der Image-Wahrung beherrscht, Unruhe verursacht. ( G o f f m a n 1971:37-38)

Brown/Levinson (1978) entwickeln den Goffman'schen 'face'-Begriff weiter und differenzieren zwischen einem positiven als auch ein negativen 'face'. Das negative face' betrifft das Bedürfnis eines Individuums, sich in seinen Handlungen von andern so wenig wie möglich einschränken zu lassen. Zur Herstellung, Wahrung und Stärkung des 'negative face' verwenden wir Strategien der 'negative politeness', wie beispielsweise bestimmte Distanzierungen, Respektverhalten sowie die Vermeidung des Eindringens in den Handlungsspielraum des Gegenübers. Durch Abschwächungselcmente, Formen der Indirektheit oder durch Verwendung formeller Register kann 'negative politeness' verdeutlicht werden. Das 'positive face' entspricht dagegen dem Wunsch jedes Individuums, gemocht, anerkannt und verstanden zu werden, sowie dem Bedürfnis, daß seine Wünsche von mindestens einigen andern Mitmenschen unterstützt werden. 28 Unter Strategien der 'positive politeness' sind nun diejenigen Techniken zu verstehen, mit denen die 25 Blumer (1981:80flF.). 26 Der englische Begriff 'face' wird zwar häufig im Deutschen mit 'Image' Ubersetzt, da jedoch 'Image' in der deutschen Umgangssprache im Sinne von 'Persönlichkeitsbild' verwendet wird, werde ich der Eindeutigkeit wegen den englischen Begriff des 'face' bzw. den deutschen Begriff 'Gesicht' verwenden. 27 Goffman (1971:16). 28 Brown/Levinson (1978:67).

68

Sprecherin ihr Bemühen um Wahrung und Bestärkung des 'positiven face' des Gegenübers verdeutlicht, wie beispielsweise Strategien der Sympathiebekundung, der Annäherung und der 'in-group-Markierung'. 2 9 In jeder Interaktionssituation kommen potentiell gesichtsbedrohende Handlungen auf. Diese können wiederum aufgeteilt werden in solche, die das 'negative face' und jene, die das 'positive face' der Sprecherin selbst wie des Gegenübers bedrohen. Auf der einen Seite haben wir beispielsweise Bitten, Aufforderungen oder Ratschläge, die den Handlungsspielraum des Anderen einschränken und somit dessen 'negative face* bedrohen. Das eigene 'negative face' kann durch Sprechereignisse wie Danksagungen, Entschuldigungen oder Verpflichtungen gegenüber dem andern bedroht werden. Auf der andern Seite bedrohen verbale Handlungen wie kritische Äußerungen, Nichtübereinstimmungen und Herausforderungen das 'positive face' des Gesprächspartners. Das eigene 'positive face' wird durch Selbsterniedrigungsstrategien bedroht. 3 0 Brown/Levinson (1978) gehen in ihrer Darstellung von Höflichkeit soweit, ein universales 'face'-Konzept zu postulieren. In allen Kulturen gebe es die Unterscheidung zwischen 'negative' und 'positive face'. Die Realisierung der jeweiligen Gesichtsarbeit differiere jedoch je nach Kultur, ja selbst innerhalb einer Kultur (in verschiedenen Subkulturen). Trotz einer noch so ausgeprägten Feinfiihligkeit können interkulturelle Begegnungen aufgrund unterschiedlicher 'face-work'-Techniken zu enormen Ko m m unikations Störungen, Gesichtsbedrohungen und Frustrationen fuhren. So stellt beispielsweise in China das sofortige Akzeptieren eines Angebots eine gesichtsbedrohende Situation für den Akzeptierenden dar. Bietet die Gastgeberin dem Gast eine Tasse Tee an, so hat der Gast diese zunächst einige Male abzulehnen, um "nicht zu gierig zu erscheinen, der Gastgeberin keine Umstände zu machen und sich anspruchslos zu zeigen": 31 Traditionellerweise ist es so: Die Gastgeberin bietet zum Beispiel T e e an. Beim ersten Mal lehnt man ab. Auch nach d e m zweiten Mal Anbieten lehnt man ab. Wenn dann die Gastgeberin bereits beim Servieren vom T e e ist und nochmal fragt, dann sagt man 'ja' und nimmt an. (Frau M a , eine chinesische Informantin)

Als Deutsche, die mit den chinesischen Gepflogenheiten wenig vertraut ist, wirke ich gierig und zu direkt, wenn ich ein Angebot sofort annehme. Lehne ich jedoch ab, da mir momentan nicht nach einer Tasse Tee zumute ist, und folgen dann (zwingend für die chinesische Gastgeberin) erneute Angebote, so empfinde ich diese wiederholten Anfragen als Belästigung: Mein Handlungsspielraum wird eingeengt, mein Gesicht wird bedroht. 3 2 Chinesen, denen ich nur ein einziges Mal Kaffee anbiete und deren 'Nein, danke' ich als Ablehnung interpretiere, empfinden das Ausbleiben weiterer Angebote wiederum als eine starke Gesichtsbedrohung und als Zeichen westlicher 'Unhöflichkeit': Deutsche bieten oft nur einmal etwas zu trinken an. D o c h d a wir Chinesen zunächst ablehnen, wird die Situation oft sehr unangenehm fur uns. Denn, wenn wir tatsächlich gerne Kaffee trinken würden, 29 Brown/Levinson (1978:108). 30 Eine ausfuhrliche Darstellung gesichtsbedrohender Handlungen und Möglichkeiten der Abschwächung findet sich in Brown/Levinson 1978. 31 So die chinesische Informantin Frau Ma. 32 Dies käme einer Bedrohung des 'negative face' im Sinne von Brown/Levinson (1978) gleich.

69 so wagen wir es nicht mehr, dies ohne weiteres Angebot vom Gastgeber zu sagen. So entsteht eine peinliche Situation für uns. (Frau Ma)

3.3.2.

LIAN ßfe und MIANZI g } ^ Chinesische 'Gesichts'-Konzepte Zhu Ba lie zhao ¡ingzi, liwai bu shi ren

3 t A S Ë , Μ - ϊ - β ^ * λ (Zhu Bäjteschaute den Spiegel: aarin war kein Mensch zu sehenjnì

in

Hu (1944) vertritt in seinem Artikel "The Chinese Concepts of Face" die These, daß das Bedürfnis nach Anerkennung zwar in allen Gesellschaften existiert, doch variieren die Werte, die damit verbunden sind und die Art und Weise, wie diese Anerkennung erworben wird, in beträchtlichem Ausmaß. Bei der Vorstellung der beiden chinesischen Gesichts-Konzepte LIAN34 fê und MIANZI ¡ g ^ betont Hu, daß unter LIAN das uns als 'Gesicht' geläufige Konzept zu verstehen ist, während MIANZI eher gesellschaftliches Prestige und Status darstellt. Unter Gesichtsverlust 'DIU LIAN' versteht man die soziale Ächtung eines Individuums aufgrund seines unmoralischen oder inakzeptablen Verhaltens. 3 ^ Das Auftreten von Gesichtsverlust variiert je nach sozialem Status der Person. Je höher der Status, desto gefährdeter ist das Gesicht der betreffenden Person, d.h. desto mehr hat sie zu verlieren. Eine gebildete Person, die den Fehler begeht, sich in ein Streitgespräch mit einer niedrig stehenden Person einzulassen, handelt unter ihrer Würde und verliert dadurch das Gesicht. Von Statushöheren wird ein hohes Maß an Selbstkontrolle im sozialen Verhalten gefordert. Als eine Person 'ohne Selbsterziehung' gilt jemand, der keine Rücksicht auf das Gesicht der andern nimmt. 36 Der Gesichtsverlust einer Person bleibt jedoch nicht auf diese beschränkt, vielmehr wird der Ruf der ganzen Familie durch den Gesichtsverlust eines Familienmitglieds gefährdet. Der chinesische Ausdruck GEI MOU MOU REN DIU LIAN A . é l f e (das Gesicht fiir jemanden verlieren ) bezeichnet genau diesen Sachverhalt. Daneben existieren noch die Phänomene MEI YOU LIAN féWIfc (kein Gesicht haben) und BU YAO LIAN ^ [kein Gesicht wollen), die als weitaus problematischer betrachtet werden als das reine Gesichtverlieren (DIU LIAN). 33 Chinesische Redewendung fiir jemand, der sein Gesicht verloren hat. Der chinesische Begriff'REN' (Mensch) ist sehr eng mit dem chinesischen 'face'-Konzept verbunden. Jemand der kein 'face' hat, bzw. sich nicht an die soziale Etikette hält, läuft Gefahr kein 'ren' zu sein: "ta bu shi REN". In seiner Arbeit zur chinesischen Kultur und dem chinesischen 'seif-Konzept, bemerkt Hsu (1985:32-33): I suggest the termor» (Pinyin: 'ren', S.G.) advisedly because the Chinese conception of man (also shared by the Japanese who pronounce the same Chinese word jiti ) is based on the individuáis s transactions with his fellow human beings. When the Chinese say of so-and so "ta pu shih jen" (Pinyin: "ta bu shi ren", S.G.) (he is not a jen), they do not mean that this person is not a human animal; instead they mean that his behavior in relation to other human beings is not acceptable. Consequently terms like 'hao jen' (good jen), 'huai jen' (bad jen), etc. follow the same line of meaning. 34 Die Pinyin-Schreibweise soll aus Gründen der Vereinheitlichung auch dann verwendet werden, wenn die amerikanischen Originaltexte die Yale-Umschrift benutzen. 35 Yang (1947) beschreibt in seiner ethnographischen Arbeit Ά Chinese Village' ebenfalls das chinesische 'face'Konzept und kommt zu ähnlichen Folgerungen: "When we say in Chinese that one loses face, we mean that he loses prestige, he has been insulted or has been made to feel embarrassment before a group. When we say that a man wants a face, we mean that he wants to be given honor, prestige, praise, flattery, or concession, whether or not these are merited. Face is really a personal psychological satisfaction, a social esteem accorded by others." (Yang 1947:167). 36 Hu (1944:49).

70 Eine Person kann aufgrund von Unwissen oder Uncrfahrenhcit ihr Gesicht verlieren, doch jemand, der gar kein Gesicht hat oder will, gilt als soziales Monster. Ferner existiert im Chinesischen das Konzept des LIAN PI HOU SfejÊI? (die Gesichtshaut ist dick}. Hierbei wird angenommen, daß das Gesicht zwar noch vorhanden, doch die Haut so dick ist, daß sie keine Feinfuhligkeit besitzt. Als Beispiel einer 'dicken Gesichtshaut' berichtet Hu von einem Gast, der die Zeit der Gastgeberin zu lange in Anspruch genommen hat, obwohl sie einige Versuche startete, ihm zu verdeutlichen, daß er nun gehen solle. Die Parallele zu unserem Konzept der 'Dickfelligkeit' ist offenkundig. Eine Person mit einer 'dünnen Gesichtshaut' (LIAN PI BO) dagegen als übersensibel in Hinblick auf die öffentliche Meinung anderer und ist stark bemüht, ihren guten Ruf zu bewahren. Der Begriff des MIANZI bezieht sich im Gegensatz zu LIAN auf den gesellschaftlichen Status eines Individuums. 'Kein MIANZI haben' bedeutet, keinen wirtschaftlichen und beruflichen Erfolg im Leben zu haben. Jedoch wird dadurch nicht — wie beim 'kein LIAN haben' - die moralische Integrität einer Person in Frage gestellt. Yang (1947) unterscheidet in seinen Ausführungen zum chinesischen Gesichts-Begriff folgende Faktoren, die das Gesicht einer Person beeinflussen: 1. Der soziale Status der involvierten Personen: Die Gesichtsbedrohung ist fur einen Statushöheren sehr viel stärker als fur den Statusniedrigeren. Ebenso ist der Gesichtsverlust bei einem Streit für den sozial Höherstehenden sehr viel gravierender: Eine Respektsperson hat nicht zu streiten. 2. Die Anwesenheit von Zeugen: Sobald eine dritte Person bei einer gesichtsbedrohenden Handlung anwesend ist, wird der Gesichtsveriust offenbar und 'öffentlich'. 3· Die soziale Beziehung der involvierten Personen: Je distanzierter die Personen sind, desto größer der Gesichtsverlust. Innerhalb einer Familie wird selten der Begriff Gesichtsverlust verwendet. Sobald jedoch eine bestimmte Distanz erreicht ist (beispielsweise bei einer Begegnung mit Fremden in einer fremden Stadt), verliert das Gesichts-Konzept wieder an Bedeutung. 4. Das soziale Weitesystem: Die Tragweite des Gesichtsverlustes hängt mit dem traditionellen Wertesystem, beispielsweise den Pflichten innerhalb der Familie, der ehelichen Treue, dem Ahnenkult oder der Beziehung zwischen den Geschlechtern zusammen. So ist nach Yang (1947:169) der Gesichtsverlust fur einen Bauernjungen, der in der Schule erfolglos ist, weitaus geringer als fur einen Schwiegervater, der mit seiner Schwiegertochter 'herumalbert'. 5. Das Alter der involvierten Personen: Da junge Leute noch wenig soziales Prestige angesammelt haben, gibt es fur sie auch weniger an Gesicht zu verlieren. Sehr alte Leute werden wiederum häufig aufgrund ihres hohen Alters entschuldigt. Besonders relevant ist das Gesichts-Konzept also fur höherstehende Personen mitderen Alters.

71

Sowohl Yangs als auch Hus Abhandlung zum chinesischen Gesichts-Konzept stammen zwar aus der Zeit vor der Gründung der Volksrepublik China, doch auch heute im 'modernen China' spielen Phänomene wie 'Gesicht bewahren' oder 'Angst vor Gesichtsverlust' eine enorme Rolle in Alltagsinteraktionen. 37 Das Gesichts-Konzept stellt auch weiterhin ein wichtiges interpersonelles und diskursives Prinzip dar, das sämtliche soziale Aktivitäten reguliert. 38 Die konkreten Auswirkungen des chinesischen Gesichts-Konzepts auf verbale Interaktionen sollen im Laufe dieses Kapitels noch genauer betrachtet werden. Bereits im LIJI, dem Buch der Sitte (1958:136) wird 'Vorsicht beim Reden' verlangt, da das unbedachte Reden den Anderen in Verlegenheit bringen könnte.

Bezeichnenderweise kritisierte Mao Zedong das chinesische

Gesichts-Konzept mit seinen starken Harmonisierungstendenzen als wesentliches Hindernis zur Durchführung ökonomischer, sozialer und politischer Reformen. Das Gesichts-Konzept führe dazu, daß Auseinandersetzungen mit Personen, die anderer Meinung sind, vermieden werden. Meinungsdifferenzen (selbst unter Freunden) würden zugunsten der Gesichtswahrung übergangen und klare Entscheidungen blieben aus, da man die Harmonie erhalten wolle. 3 9

3.4.

Kollektivismus und 'high-context'-Kulturen

Die sozialpsychologische Unterscheidung zwischen 'individualistischen' und 'kollektivistischen' Kulturen 4 0 bietet sich bei der Gegenüberstellung der deutschen und chinesischen Kultur an und wird auch von zahlreichen sozialpsychologischen Studien als Grundlage zur Erklärung von Unterschieden im sozialen Verhalten zwischen Amerikanern und Chinesen herangezogen. Während individualistische Kulturen das 'Ich' als primären Fokus des sozialen Verhaltens betrachten und individuellen Zielen, Rechten und Bedürfnissen eine hohe Priorität einräumen, steht bei kollektivistischen Kulturen die 'Wir'-Identität mit einer Orientierung auf Gruppenziele und kollektive Bedürfnisse im Mittelpunkt. 4 1 Die chinesische Kultur wird somit als stark kollektivistisch betrachtet: Collectivism does not mean a negation of the individual's well-being or interest; it is implicitly assumed that maintaining the group's well-being is the best guarantee for the indivual. (...) In the collectivistic Chinese society (and in other Asiatic societies, such as Japan, as well), the individual is not 'inner-directed' at all but controlled by a need for not losing face. 'Face' - literal translation of the Chinese lien (lian, S.G.) and mien-tsu (mianzi, S.G.) - 'is lost when the individual, either through his action or that of people closely related to him, fails to meet essential requirements placed upon him by virtue of the social position he occupies'. (Hofstede 1980:216) Der Anthropologe Hsu (1981) nahm diese Differenzierung als Ausgangspunkt seiner Vergleichsstudie zwischen Amerikanern und Chinesen. Während bei Amerikanern eine individuelle

37 Vgl. u.a. Bonavia (1987:72fF.); Hsu (1983:169ff.); Young (1986:105ff.). Auch Bond/Hwang (1986:243fr.) verdeutlichen in ihrer Studie zum Sozialverhalten chinesischer Gesellschaftsmitglieder, welche enorm wichtige Rolle der chinesische 'face'-Begriff für die zwischenmenschlichen Beziehungen auch heute noch spielt. 38 Chen 1988. 39 Vgl. dazu die Ausführungen in Stover (1962:356-367). 40 Hofstede (1980). 41 Ting-Toomey (1988:224).

72

Lebensweise bevorzugt und Konformität eher abgewertet wird, steht bei Chinesen die KollektivOrientiertheit im Zentrum ihres Lebensstils: Konformität stellt nicht nur die Grundlage aller zwischenmenschlichen Beziehungen dar, 42 sondern wird auch sozial und kulturell hochgeschätzt. Zahlreiche Studien im Bereich der interkulturellen Sozialpsychologie 43 und der Anthropologie unterstützen diese Beobachtung und betonen, daß bei einer kollektivistischen Gesellschaft — wie der chinesischen - die Tendenz vorherrsche, individuelle Ziele den Gruppenzielen unterzuordnen, die 'in-group' als Extension des eigenen Selbst zu betrachten und somit eine starke 'ingroup'-Identität zu entwickeln. 44 Die Differenzierung zwischen individualistischen und kollektivistischen Kulturen, die als graduell zu betrachten ist, entspricht der Unterscheidung Halls (1976) zwischen 'low-context' und 'high-context'-Kulturen. Während 'low-context'-Kulturen (als Beispiele werden u.a. Skandinavien, USA, Bundesrepublik und Schweiz gegeben) "individuelle Orientierung, lineares Denken und Direktheit" in der Interaktion schätzen, präferieren 'high-context'-Kulturen (wie Japan oder China) "group value orientation, spiral logic, indirect verbal interaction and contextual nonverbal style"4^: People raised in high-context systems expect more of others than do the participants in low-context systems. When talking about something that they have on their minds, a high-context individual will expect his interlocutor to know what's bothering him, so that he doesn't have to be specific. The result is that he will talk around and around the point, in effect putting all the pieces in place except the crucial one. Placing it properly - this keystone - is the role of his interlocutor. (Hall 1976:98)

Die folgende Tabelle, die Ting-Toomey (1988:230) entnommen wurde, faßt die wesentlichen Charakteristika des Interaktionsverhaltens von Angehörigen der 'low-context' und 'high-context'Kulturen zusammen:

42 Hsu (1981:36). 43 In ihrer sozialpsycholgisch angelegten Studie über chinesische Einwanderer in Hawaii beschreiben Char/Tsene/Lum/Hsu (1980:53f£) die Unterschiede zwischen der familien-orientierten, kollektiven Sozialisation der Chinesinnen und der stark individualistisch ausgerichteten 'amerikanischen' Gesellschaft. 44 Hui/Trandis (1986:226-227); sowie Gudykunst/Ting-Toomey (1988:42). 45 Ting-Toomey (1988:225).

73

Key constructs of'Face*

Individualistic, LowContext Cultures

Collectivistic, High-Context Cultures

Identity

emphasis on Τ identity

emphasis on 'we' identity

Concern

self-face-concern

other-face-concern

Need

autonomy, dissociation, negative-face need

inclusion, association, positive-face need

Suprastrategy

self positive-face and self negative-face

other positive-face and other negative-face

Mode

direct mode

indirect mode

Style

controlling style or confrontation style, and solution-oriented style

obliging style or avoidance style, and affective-oriented style

Strategy

distributive or competitive strategies

integrative or collaborative strategies

Speech act

direct speech a a s

indirect speech acts

Nonverbal act

individualistic nonverbal acts, direct emotional expressions

contextualistic (role-oriented) nonverbal acts, indirect emotional expressions.

Inwiefern diese Merkmale im Interaktionsverhalten von Angehörigen sogenannter 'kollektivistischer' und 'individualistischer' Gesellschaften tatsächlich im mikrosozialen Bereich des Gesprächs ausgehandelt werden, bleibt noch zu überprüfen.

3.5.

Harmonie, Indirektheit und Vermeidung offener Konfrontation: Prinzipien des KEQI HUA

3.5.1.

Harmonie als Interaktionsideal

Eines der Hauptziele der klassischen chinesischen Rhetorik ist die Erhaltung der Harmonie. Dies soll durch die Vermeidung von Konfrontation und durch die Betonung von Gemeinsamkeiten, durch Zustimmung und allgemeiner gesichtsschonender Strategien erreicht werden. 4 6 Wichtiger als die Eloquenz eines Sprechers ist, daß er das Wohl und den Respekt vor dem Gegenüber und

46 OUver (1971:102fr.).

74

der Gemeinschaft im Auge hat. 47 Das Buch der Riten erklärt die Erhaltung zwischenmenschlicher Harmonie zum wesentlichen Rhetorikprinzip: Statt zu vermitteln, welche Techniken den Gegner überzeugen sollen, wird dem Leser verdeutlicht, welche Mittel ihm zur Verfugung stehen, Disharmonie zu vermeiden. 48 Nur diejenige Person, die sich an das Harmonie-Prinzip hält, gilt als K E Q I Ç " ^ . 4 9 KEQI läßt sich annäherungsweise mit 'höflich', 'bescheiden* oder 'gutes Verhalten zeigend* übersetzen. 50 Nach Pillsbury/Ho (1972:99ff.) gehören zum K E Q I HUA Ç ^ T ^ {.höfliches Sprechen) folgende Aspekte: 1. Sich in der chinesischen Etikette (LIJIE Ì L T ^ ) auskennen; 2. bescheidenes Auftreten; 3. Vermeidung offener Konflikte und des A n sprechens unangenehmer Sachverhalte; 4. Indirektheit als zentrale Gesprächsstrategie. Aus den Prinzipien des KEQI HUA sei auch zu erklären, weshalb gewisse Unwahrheiten im chinesischen Kontext toleriert bzw. geradezu gefördert würden: Hat der Sprecher zu wählen zwischen einer harmoniebedrohenden Äußerung und einer harmonieerhaltenden Unwahrheit, so sei die Notlüge vorzuziehen.^1 Welche Relevanz harmonischem Interaktionsverhalten auch heute noch beigemessen wird, zeigt sich u.a. an der 1981 ins Leben gerufenen Kampagne der "Fünf Standards und Vier Schönheiten". 5 2 Zu den 'Fünf Standards' zählten "zivilisiertes Auftreten, Höflichkeit, Gesundheitspflege/Hygiene, ordnungsgemäßes und moralisches Verhalten". Die 'vier Schönheiten' umfaßten u.a. die 'Schönheit der Sprache', die folgendermaßen definiert wurde: 'Beauty in language' requires the use of polite language that is harmonious, graceful, and modest, rather than rude and profane. One should not twist words and argue without reason. (Chu 1985:270)

3.5.2.

Die Vermeidung offener Nichtübereinstimmung und direkter Konfrontation - ' » « Λ * (pangqiao ceji)53

Um das Gesicht (LIAN) des Gegenübers nicht zu bedrohen, soll anstelle offener Kritik Nichtübereinstimmung vermieden, Aussagen vage bzw. Hinweise indirekt gehalten, Anspielungen gemacht und im Konfliktfall der Meinung des Gegenübers zugestimmt werden: Ja weißt du, bei uns im chinesischen Gesprächsverhalten ist man immer bemüht, Harmonie unter den Beteiligten zu erhalten. Konflikte und verschiedene Meinungen werden nicht direkt ausgesprochen, vielmehr ist jeder versucht, die 'Wogen zu glätten'. Es ist sehr schwierig im Chinesischen, Konflikte 47 Bereits Konfuzius betonte die Erhaltung der Harmonie als zentrales Moment der Rhetorik sowie der zwischenmenschlichen Beziehungen im allgemeinen. Vgl. hierzu die Analekte 1,12, in denen Konfuzius das HarmoniePrinzip als das Schlüsselprinzip der Kultiviertheit bezeichnet. 48 Oliver (1971:157). 49 Zum KEQI-Begriff vgl. auch Pillsbury/Ho (1972:99ff.) und Yao (1983). 50 In chinesischen Wörterbüchern wird KEQI als 'LIMAO besitzen' übersetzt. Eine Person, die also im Interaktionsverhalten KEQI auftritt, macht deutlich, daß sie LIMAO (ethische Erziehung, sitdiches Verhalten) besitzt und die gesellschaftlichen Interaktionsregeln beherrscht: Sie ist höflich und fördert aie allgemeine Harmonie. 51 Pillsbury/Ho (1972:102-103). 52 Soziale Ideale und Verhaltensnormen sowie gewünschte gesellschaftliche Veränderungen werden in der VR China häufig in sogenannten Propagandawellen und -beweçungen 'verordnet', wie dies beispielsweise in der Propagierung des 'Höflichkeitsmonats', des 'Hygienemonats oder der "Mehr-Respekt vor den Lehrern-Kampagne der Fall war. 53 "Pangqiao ceji' ist eine chinesische Redewendung und bedeutet, daß etwas nicht direkt und offen ausgedrückt wird.

75 und Nichtübereinstimmung auszusprechen, ohne dabei gleichzeitig unverschämt zu wirken. Bei euch im Deutschen geht das, man kann ausdrücken, daß man nicht einverstanden ist oder man kann jemanden kritisieren, ohne daß man sofort das Gesicht verliert. Bei uns ist das nahezu unmöglich. (Frau Wei, eine chinesische Informantin)

Sozialpsychologische Untersuchungen von Bond/Hwang (1986:256ff) über Anpassungsbereitschaft chinesischer und amerikanischer Studierender verdeutlichen, daß erstere sehr viel schneller ihre Meinung der Mehrheits meinung anpassen und bedacht sind, Meinungsverschiedenheiten aus dem Weg zu gehen. Die starke Vermeidung offener Nichtübereinstimmung und direkter Kritik wird von zahlreichen Studien - sowohl Arbeiten über die Ethik und gesellschaftliche Ideale im Alten China als auch von Arbeiten über das Sozialverhalten von Chinesen im modernen China — immer wieder betont. 55 Um offene Konfrontation so gering wie möglich zu halten, verwenden Chinesen bestimmte Strategien, die in interkulturellen Kommunikationssituationen nicht selten zu Mißverständnissen fuhren: Eine indirekte Sprache, Anspielungen, Einschaltung dritter Personen, Schweigen in heiklen Situationen sowie das Peinlichkeits-signalisierende

Lachen. Floskeln wie 'yanjiu yixia*

—'T* {wir müssen diesen Fall erst einmal genauer studieren); 'xiangyixiang' ¡tf. müssen zunächst darüber nachdenken); ' kao 1 ü kaolü' %

' S - {wir

( wir werden die Angelegenheit noch

eingehendprüfen); 'keneng' R f f ë ( vielleicht); oder Formeln wie "vielleicht ist es jetzt nicht so geeignet", "vielleicht ist diese Möglichkeit unbequem für Sie" sind allen Ausländern, die sich längere Zeit in China aufhalten, wohlvertraut. Die gehäufte Verwendung von Abschwächungsformen und Modalwörtern zur Signalisierung von Zweifel und Unsicherheit (wie bei 'vielleicht') selbst in Situationen, in denen der Sprecher sich seiner Sache sicher ist, fuhrt in interkulturellen Kommunikationssituationen häufig zu Mißverständnissen. Als ich z.B. an der Bushaltestelle am Campus meiner chinesischen Hochschule ankam und einen Chinesen fragte, ob der Bus schon weg sei, so erhielt ich die Antwort "vielleicht ist er gerade losgefahren". Obwohl der Chinese den Bus vor wenigen Minuten hat abfahren sehen, verwendete er die Modalitätsmarkierung 'vielleicht' (keneng), um dadurch eine sichere Feststellung zu vermeiden, die auf ein gesteigertes Selbstbewußtsein und eine zu große Selbstsicherheit schließen lassen könnte. 56 Versuchen deutsche Interagierende in Gesprächen mit Chinesinnen einen direkten oder gar konfrontativen Gesprächsstil einzuschlagen, indem sie Nichtübereinstimmung und Kritik offen verbalisieren oder versuchen, den andern mittels provokativer Bemerkungen aus seiner Reserve zu locken, so fühlen sich chinesische Gesprächs teil nehmenden vom 'aggressiven' Gesprächsstil der deutschen Interagierenden häufig in die Enge gedrängt: Würden sie den konfrontativen Stil der Deutschen übernehmen, so käme dies einem Herabsinken auf die Ebene 'persönlicher Unreife' gleich und würde ihr Gesicht bedrohen. "Kritikfreudigkeit und aggressiver Gesprächsstil zeugen

54 The individual's actual position on an issue is subordinated to his or her desire to protect the group's integrity by side-stepping open disagreement." (Bond/Hwang 1986:256). 55 So betonen auch Studien im Rahmen der interkulturellen Psychologie, daß in kollektivistischen Kulturen die Gruppenharmonie stark im Vordergrund der Interaktionsprinzipien steht, während in individualistischen Systemen die verbale Selbstbehauptung einen hohen Stellenwert einnimmt (Ting-Toomey 1988:70). Vgl. hierzu auch Oliver (1971); Chen 1976; Bond/Hwang (1986:262). 56 Diese Interpretation verdanke ich den Informantinnen Li und Pan.

76 von einer schlechten Erziehung", so lautet eine chinesische Verhaltensmaxime.'7 Je höher der Bildungsstand einer Person, desto größer die Erwartung, daß diese Person strikte Selbstkontrolle ausübt: "Seinen Gefühlen freien Lauf lassen, bedeutet sich wie ein Barbar zu verhalten".5® Gerade fur Personen, die 'Tinte getrunken haben' (Intellektuelle, Gebildete), ist die Zurückhaltung ein wichtiges Gebot. Reagiert nun ein chinesischer Gesprächsteilnehmer in einer Kommunikationssituation mit einer deutschen Partnerin, die einen konfrontativen Stil anvisiert, gemäß seiner chinesischen Gesprächskonventionen, so könnte dieses Verfahren - von deutschem Blickwinkel aus - leicht als Vermeidungsstrategie, als Verschlossenheit und mangelnde Kooperationsbereitschaft interpretiert, die Person als 'konfliktscheu', 'schwach', 'undurchschaubar' eingestuft werden. Doch im chinesischen Kontext würde sein Verhalten - Zurückhaltung der eigenen Meinung zugunsten der Gruppenharmonie - keineswegs als Zeichen individueller Schwäche oder Feigheit, sondern vielmehr als Indiz fur geistige Reife, Selbstbeherrschung und LIMAO betrachtet. Ein chinesischer Autor beschreibt die Schwierigkeiten von Auslandschinesen in den USA: T h e Chinese tend to be withdrawn and non-aggressive. They consider it to be in bad taste to be 'forward' or assertive. Except among friends, they tend to be reticient and constrained (...). T h e y hesitate to speak up or even to ask questions. This is not altogether due to language difficulty. M u c h o f it comes from the habit o f refraining from aggressive speech or action. Chinese courtesy puts a premium on reservedness and deference, or avoiding to be the first to speak or act. Such a characteristic becomes a handicap in an open and competitive society in which an individual tends to gain by taking the initiative in personal relations and bold action to assert his rights. (Chen 1976:46)

Die Tendenz, Nichtübereinstimmung zu vermeiden und Vorschläge des anderen nicht abzulehnen, geht sogar soweit, daß Einladungen zunächst häufig akzeptiert werden, auch wenn der/die Eingeladene bereits weiß, daß er/sie an dem betreffenden Termin nicht kommen kann. Frau Wang, eine chinesische Informantin berichtet: Eine sofortige Ablehnung ist eine Beleidigung und Gesichtsbedrohung für den Gastgeber. Deshalb sagen wir zunächst einmal voller Freude 'Ja'. Erst später oder über eine dritte Person sagen wir d e m Gastgeber dann, daß wir verhindert sind.

Auf diese Weise wird das Gesicht des Gegenüber geschützt: Seine Einladung wurde akzeptiert. Ahnliches gilt für das Eingehen auf eine Bitte. Es ist höflicher, eine Bitte zu gewähren und sie nicht auszufuhren, d.h. sie zu 'vergessen', als die Bitte des anderen direkt abzulehnen.'9 So berichtet auch der Missionar A. Smith (1894:273), sein chinesischer Lehrer habe ihn bezüglich chinesischer Höflichkeitsetikette folgendermaßen unterwiesen: one should never refuse a request in an abrupt manner, but should, on the contrary, grant it in form, although with no intentions to do so in substance.

Nun könnte die Frage aufkommen, wie denn dann in China ein Konflikt ausgetragen wird.60 Wie wird Kritik geübt? Der Einschaltung dritter Personen, sogenannter 'tiaojie ren' 57 Hierau auch Hsiin-Tzu (Xünzi) (1967:8), wo vor "Menschen ohne Sinn für das, was sich schickt" gewarnt wird: "... laß Dich auf keine Diskussionen ein mit Menschen, die streidustig sind". 58 Konfuzius, zitiert nach Granee (1985:311). 59 Stover (1962:214). 60 Vgl. hierzu auch Kapitel 8.

77

bzw. 'zhongjian ren' '"ΡΐβΙΑ ( Vermittler), kommt hierbei cinc besondere Bedeutung als Mittlerfiguren zu. Ich möchte hierzu ein Beispiel anfuhren, das mir der Informant Li berichtete: Eine Projektgruppe einer chinesischen Universität — bestehend aus zwei statusgleichen Professoren, zwei Dozenten und zwei Assistenten — traf sich zu einer der regelmäßig stattfindenden Projektsitzungen. Bei dieser Sitzung ging es um die Wahl eines 'Fertigungsverfahrens', mit dem das Projekt in Zukunft arbeiten sollte. Einer der beiden Professoren (Prof. Han), der zugleich Projektleiter war und als Experte auf diesem Gebiet gilt, schlug in der Sitzung ein bestimmtes, von ihm persönlich präferiertes Verfehlen vor. Alle andern Projektmitarbeiter waren jedoch einstimmig gegen Han's Vorschlag, da sie das von Han vorgeschlagene Verfahren als unwirtschaftlich und wenig praktikabel betrachteten. Ferner sprachen ihrer Meinung nach alle statistischen Daten gegen Han's Vorschlag. Doch anstatt Gegenargumente auf Han's Vorschlag einzubringen, wurden lediglich Äußerungen wie "Ah ja, man kann es so machen, wie Sie vorschlagen, Professor Han" vorgebracht, um Han auf diese indirekte Weise ihre Nichtübereinstimmung zu signalisieren. Keiner von ihnen wäre jedoch auf die Idee gekommen, Han's Vorschlag direkt anzugreifen und eine offene Diskussion einzuleiten. Nachdem Han nun weiterhin auf seinem Vorschlag bestand, ohne auf die Andeutungen der andern einzugehen, wurden weitere indirekte Vorstöße gemacht, die das gesamte Mißbehagen der restlichen Projektmitglieder zum Ausdruck bringen sollten. Man zögerte die Entscheidung hinaus mit Äußerungen wie "Besser wir entscheiden uns heute noch nicht", "wir benötigen noch mehr Informationen auf diesem Gebiet und diskutieren vielleicht in der nächsten Sitzung nochmals darüber". Die Projektsitzung wurde schließlich ohne definitive Entscheidung beendet. Um zu verhindern, daß beim nächsten Treffen 'dasselbe Spiel abläuft' und um einer offenen Kritik weiterhin aus dem Weg zu gehen, nahm die Angelegenheit ihren 'chinesischen' Lauf: Die restliche Projektgruppe bestimmte einen 'Vertreter' ihrer Interessen, der sich anschließend mit dem Dekan der Fakultät in Verbindung setzte und diesem das Problem schilderte. Der Dekan nahm die Bedenken der Gruppe gegenüber Han's Vorschlag entgegen und setzte sich als 'vermittelnde dritte Person' mit Han in Verbindung. Diese Art der Kritikübcrtnittlung via 'dritte Personen' ist in chinesischen Augen weitaus gesichtsschonender, da nun Han die Möglichkeit gegeben wurde, bei der darauffolgenden Projektsitzung von sich aus Kritik am eigenen Vorschlag zu üben. Dies tat Han tatsächlich, indem er gleich zu Beginn der nächsten Sitzung feststellte, daß die verschiedenen Verfahrensmethoden nochmals genau studiert werden sollten, da er mittlerweile zu dem Ergebnis gekommen sei, daß sein bisheriger Vorschlag doch nicht ideal sei. Mit keinem Wort wurde die Kritik via Dekan erwähnt. Das Gesicht Han's sowie aller Beteiligten blieb somit bewahrt.

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3.5.3.

Eine Rhetorik der Anspielung: "Auf einen Hirsch zeigen und ihn 'Pferd' nennen" ÎalÊ^f-^r (zhi lu wei ma)

Seit Jahrhunderten besteht in China eine große Skepsis gegenüber direkter, offener Sprechweise, verbunden mit einer Vorliebe für eine verschleierte, indirekte Sprache, in der die Botschaft zwischen den Zeilen liegt. 61 Indirekte Hinweise und Anspielungen bezüglich bestimmter - insbesondere negativer — Ereignisse, Einschätzungen und Meinungen gelten als weitaus kultivierter, gesichtsschonender und höflicher und verkörpern Elemente des K E Q I H U A . 6 2 Statt eine direkte, d.h. verneinende Antwort zu geben, verwendet man im chinesischen Gesprächsverhalten häufig Umschreibungen, Modalitätsmarkierungen, feststehende lexikalische Formeln und blumige Redewendungen, die dem Gegenüber den Sinn lediglich andeuten sollen. 63 In der Interviewsammlung 'Chinesen über China' berichtet Lu Shengli: Jeder Chinese ist wie eine Thermosflasche - außen kalt und innen heiß. Wir verstecken unsere Gefühle. Niemand von außen - mit Ausnahme der Familie und der allerengsten Freunde - hat das Recht, unsere tiefsten Gedanken und Gefühle zu kennen. Das gehört uns, zumindest versuchen wir es zu verbergen. An dem, was einer tut, wie er sich bewegt, mit welchen Augen er uns anschaut, lernen wir ihn über einen längeren Zeitraum des Zusammenseins kennen. Das dauert lange. Bei Euch Europäern ist das anders. Ihr schätzt es sehr, wenn man die momentane augenblickliche Stimmung eines anderen an seinen Bewegungen und an seinem Gesichtsausdruck ablesen kann. Ihr wollt offen und spontan sein. Freilich betrifft das nur den Augenblick. Sehr schnell könnt Ihr von Freundschaft zu Wut, von Liebe zu Haß und von Hilfsbereitschaft zu Egoismus umschwenken. Es macht Euch auch nichts aus, plötzlich mal loszuschimpfen in einer Art, die auf uns Chinesen sehr befremdend wirkt. Die Kontrolle der eigenen Gefühle halten wir nämlich fur etwas sehr Wesentliches. Wir wollen nicht unseren momentanen Gefühlen freien Lauf lassen. Womit Du offensichtlich auch noch nicht zurechtkommst, ist unsere indirekte höfliche Art des Nein-Sagens. Wir finden es unhöflich, jemandem direkt eine Absage zu geben. Lieber finden wir Ausreden und Gründe, warum wir etwas nicht tun können. (Hieber 1984:29-30. Hervorhebungen: S.G.) Die Mißverständnisse, die dieser Indirektheitsstil in interkulturellen Kommunikationssituationen hervorrufen kann, liegen auf der Hand. Der folgenden Beobachtung von Murray (1983:20) kann ich voll zustimmen: This indirection that permeates Chinese speech, even in English translation, can be particularly disconcerting to Americans. 'Perhaps' and 'maybe' are cultural stock-in-trade. 'Maybe I will come with you' usually means 'I'm coming' 'Perhaps it is too far for you to walk' means 'There's no way I'll let you walk.' When something is 'inconvenient,' it most likely is impossible. But more than verbal indirection is at work here. The absence of a categorical statement implies that 'perhaps' some room for discussion remains; and, in any case, a subsequent reversal will not represent a clear backing-down.

61 (A)voiding making a firm conclusion" sei eine weitverbreitete Diskursregel bei chinesischen Sprecherinnen betont auch Young (1986:85). Granet (1985:18) hebt ebenfalls hervor, daß das chinesische Denken von Andeutungen und Suggerieren geprägt sei. 62 Ahern (1981:33). Auch Hong (1985:212) nennt als eine der wichtigsten Höflichkeitsprinzipien im Chinesischen Interaktionsverhalten die Indirektheitsmaxime: "avoid mentioning your desires; avoid embarassment. Be indirect: since the addressee is supposed to anticipate your needs, if you mention them to him, it will embarrass him. He may reproach himself for not fulfilling his responsibility as a friend or whatever he is supposed to play in relation to the speaker by the term of address assigned to him." In ihrer Abhandlung Uber chinesische Interaktionsprinzipien betonen auch Pillsbury/Ho (1972:127) die chinesische Vorliebe für Indirektheit und Ambiguitäten. Chinesinnen seien mit einer hohen Indirektheitstoleranz und -erwartung sozialisiert. 63 Light (1983:83).

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Als ich an einem extrem heißen Juli-Tag (38 Grad) mit einem weitausgeschnittenen, ärmellosen T-Shirt durch den Campus meiner chinesischen Gasthochschule ging, wurde ich innerhalb kurzer Zeit drei Mal von verschiedenen Chinesinnen gefragt, ob ich denn nicht friere. Zunächst war ich erstaunt über die Frage und antwortete, daß ich angesichts dieser unglaublichen Hitze natürlich nicht friere. Doch allmählich wurde mir klar, daß diese Frage eine indirekte Kritik an meiner allzu freizügigen Kleidungsweise enthielt. Statt mir direkt mitzuteilen, daß es sich fiir eine Frau, die respektiert werden will, nicht schickt, sich im ärmellosen T-Shirt sehen zu lassen, wurde die gesichtsschonende Strategie des "auf einen Hirsch zeigen und ihn 'Pferd' nennen" Ja eine chinesische Redewendung fiir den Stil der Andeutung) gewählt. 64 In diesem Zusammenhang ist folgender Ratschlag des Chinesen Lu Shengli an seinen deutschen Gesprächspartner recht aufschlußreich: Versteh mich bitte nicht falsch: Ich wollte Dir keine Belehrungen geben. Es ist nur ein kleiner Hinweis auf Unterschiede in unseren Verhaltensweisen. Du darfst Worte nicht als bare Münze nehmen. Sie sind nur als Fingerzeig gedacht. Für das, was wirklich gemeint ist, mußt Du mit der Zeit ein Gespür entwickeln. Wir tragen eben unsere Gedanken und Gefühle nicht direkt auf den Lippen. Wenn Du das verstehen lernst, werden sich viele Mißverständnisse vermeiden lassen. (Lu Shangli, zitiert in: Hieber 1984:30. Hervorhebungen: S.G.)

3.6.

Langsames 'Zur Sache Kommen' mojiao)65

^(zhuanwan

Eng verknüpft mit dem Gesichts-Konzept und dem KEQI HUA ist die Strategie des 'Langsamzur-Sache-Kommens'. Bevor man eine Bitte, einen Wunsch oder ein Anliegen äußert (sofern man dies überhaupt offen thematisiert), ist es wichtig, langsam das Gespräch daraufhinzusteuern. Im Gegensatz zur Bundesrepublik und Nordamerika, wo man - aufgrund ständigen Zeitdrucks und somit einer anderen Einstellung zur Zeit ('Zeit ist Geld') 66 - dem Gegenüber keine 'Zeit stehlen' will, wird in China oft langer, höflicher small-talk der Nennung des eigendichen Gesprächsanlasses votgelagert. In inteikulturellen Kommunikationssituationen kann diese 'Sprache der Umwege', die als Teil der höflichen Sprache gilt, 67 zu stereotypen Zuschreibungen wie "man weiß nie, was die Chinesen eigendich wollen" oder "Verhandlungen mit Chinesen sind sehr mühsam und undurchschaubar" fuhren. Aus chinesischer Perspektive wiederum erscheinen westliche Gesprächspartner 'sehr ungeduldig', 'zu direkt' oder gar 'aggressiv'. Frau Hong, eine chinesische Managerin, berichtet über die verschiedenen Gesprächsstile bei Geschäftsverhandlungen zwischen chinesischen und deutschen Beteiligten:

64 Zum chinesischen Indirektheitsstil vgl. auch Smith 1894, der dem 'talenc for indirection' ein ganzes Kapitel in seiner Abhandlung der 'Chinese Characteristics' widmet. 65 Zhuanwan mojiao (wörtlich: Voller Ecken, Winkel und Biegungen) ist eine chinesische Redewendung fiir ein langsames Zur-Sache-Kommen. 66 Zur Zeitmetaphorik im wesdichen Kontext siehe auch Lakoff (1987:210). 67 Diese Information verdanke ich Frau Pan.

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Ein häufiges Problem in diesen Verhandlungen stellt der unterschiedliche Gesprächsstil dar. Während die chinesischen Partner eher zurückhaltend sind mit ihrer Meinung und diese nicht direkt äußern, sind die Deutschen sehr direkt. Die Chinesen neigen dazu, lange Geschichten mit vielen Umwegen zu erzählen, was dazu führt, daß die Deutschen nicht recht verstehen, worum es geht. Doch nur Gesprächspartner, die mit dem chinesischen Stil vertraut sind, können 'zwischen den Zeilen lesen'. Die Deutschen werden bei diesen Umwegen oft ungeduldig, schimpfen und verhalten sich aggressiv. Doch sobald sie solch ein 'grobes' Verhalten an den T a g legen, wirken sie in chinesischen Augen schlecht erzogen und arrogant. Die Folge ist: Das Geschäft geht sozusagen 'in die Hose', bzw. die Japaner bekommen den Auftrag.

Nicht selten kamen chinesische Studierende und Lehrende in meine Sprechstunde und erkundigten sich lange und ausführlich, wie es mir in China gehe, ob ich meine Eltern vermisse, ob mir das Essen schmecke etc., bis ich diesen Vorspann ungeduldig abbrach, um auf ihr eigentliches Anliegen zuzusteuern. Je größer der Wunsch, desto länger und gezielter die höfliche Vorbereitung. Als Beispiel möchte ich hier eine 'interaktive Episode' zwischen mir und einem meiner Studenten (einem 45-jährigen chinesischen KfZ-Ingenieur) anfuhren 68 . Alle andern Studenten hatten bereits das Klassenzimmer verlassen und waren zur Mensa gegangen. Nur Herr Liu wartete auf mich. (Herr Liu hatte mir ca. zwei Wochen vorher eine chinesische Kalligraphie geschenkt, da er gehört hatte, daß ich Kalligraphieunterricht nahm). Liu: S: Liu: S:

Liu: S: Liu: S: Liu: S: Liu: ((Liu Liu: S: Liu: S: Liu:

((Liu

Haben Sie Zeit? Eigentlich nicht. Ich bin zum Mittagessen verabredet. Worum handelt es sich denn? Ich möchte mit Ihnen diskutieren. Jetzt? Aber Herr Liu, ich habe jetzt leider bereits eine Verabredung. Worüber wollen Sie denn diskutieren? Sie können ja morgen zu mir in die Sprechstunde kommen. Dann können wir diskutieren. Ah, ehm wissen Sie, dieses Jahr feiert man das Auto. Wie meinen Sie dai? Dieses Jahr feiert man 100 Jahre Autos. Ah, dieses Jahr feiert man das 100 jährige Bestehen des Autos. Ja, darüber möchte ich diskutieren. Gut, das können wir gerne. Dann schlagen Sie doch das Thema morgen im Unterricht vor als Diskussionsthema. Hier habe ich Fotos von meiner Familie. überreicht mir 6 Familienfotos. Ich schaue sie an und stelle die üblichen Fragen nach dem Alter der Kinder, dem Beruf der Frau ... und gebe danach die Fotos zurück)) Die Fotos sind für Sie. Ein Geschenk. Herr Liu, das sind doch Ihre privaten Familienfotos. Das kann und möchte ich nicht annehmen. Die gehören doch Ihnen. Nein, nein. Für Sie. Ein Geschenk für Sie. Nein, Herr Liu, das sind doch private Erinnerungsfotos. Das kann ich nicht annehmen. Ich möchte Ihnen ein Geschenk machen. Man sagt, sie mögen chinesische Kalligraphie. Hier ist eine Kalligraphie mit einem Gedicht. Ich gebe Ihnen dieses Geschenk. will mir eine Kalligraphie überreichen))

68 Das Gespräch wurde unmittelbar im Anschluß notiert.

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S:

Liu: S: Liu:

S: Liu:

Aber Herr Liu, Sie haben mir doch schon eine Kalligraphie geschenkt. Das war sehr nett. Doch kann ich kein weiteres Geschenk annehmen. Aber Herr Liu, was wollen Sie eigentlich? Doch doch das ist fur Sie. Ich möchte gern eine Kalligraphie machen fur das AutoJahr. Und ich weiß nicht, wohin ich sie schicken soll. Bitte? Das verstehe ich jetzt nicht. Vielleicht können Sie mir helfen. Ich will eine Kalligraphie an Daimler und Benz schenken. Das ist doch EINE Firma? Oder sind das zwei Firmen? Daimler und Benz? Können Sie diesen Kontakt herstellen? Ich möchte, daß Daimler und Benz meine Kalligraphie ausstellt. Aber ich hab doch keinerlei Kontakte zu Daimler/Benz. Auch möchte ich eine Kalligraphie furs Automuseum in München machen. Können Sie dort den Kontakt herstellen. Ich möchte, daß meine Kalligraphien dort ausgestellt werden. Sie können doch sicher den Kontakt über die Botschaft herstellen.

Herr Liu äußerte sein Anliegen erst, nachdem er verschiedene Geschenke (Familienfotos und Kalligraphie) angeboten hatte. Ich wurde immer ungeduldiger, da mir vollkommen unklar war, was er nun eigentlich wollte. Die Anspielung auf das 'Jahr des Autos' war mir ebenso unverständlich, wie die Geste, mir Familienfotos zu schenken. Nachdem er mich jedoch so vehement beschenken wollte, wurde mir klar, daß er ein Anliegen hatte, das ich erfüllen sollte. Das Anliegen selbst (Kontakt herstellen zu Daimler/Benz, damit dort bei der Jubiläumsfeier seine Kalligraphie ausgestellt wird) wurde jedoch erst vorgebracht, nachdem ich ungeduldig danach fragte: "Aber Herr Liu, was wollen Sie eigentlich?" Die chinesische Informantin Pan, der ich diesen Text vorlegte, kommentierte ihn wie folgt: Das ist ein typisch chinesisches Verhalten: Man will etwas, doch würde man nie direkt danach fragen. Man versucht zuerst, den andern durch Geschenke oder schöne Worte 'weich' zu kriegen. Erst dann kommt die eigentliche Angelegenheit. Wir nennen diese Art von Sprechen 'WANYAN' , das heißt eine Sprache mit Umwegen.

Ma, eine zweite chinesische Informantin meinte zu dem Vorgehen Lius: Sein Votgehen ist eine typisch chinesische Vorgehensweise, Wünsche auszudrücken. Wenn man etwas vom andern bekommen hat, muß man auch die Wünsche des anderen erfüllen. D a S bereits eine Kalligraphie bekommen hat und nun noch weitere Geschenke bekommen soll, ist sie verpflichtet, auch Liu's Wünsche zu erfüllen.

3.7.

Die Signalisierung von Bescheidenheit ûfcÊ (qianxu)

Der Missionar Arthur Smith, der lange Jahre in China gelebt hat, erzählt folgende - zunächst bizarr anmutende — Anekdote hinsichtlich der chinesischen Höflichkeits- und Bescheidenheitsetikette: Ein Besucher in bester Kleidung erwartete im Empfangszimmer die Ankunft seines Gastgebers. Eine Ratte, die sich auf den Balken über ihm vergnügt und ihre Nase in einen dort zur sicheren Aufbewahrung abgestellten T o p f mit ö l gesteckt hatte, rannte, durch die Ankunft des Besuchers erschreckt, davon. Dabei stieß sie den ö l p o t um, dessen Inhalt auf das elegante Gewand des Besuchers

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fiel und die Wirkung der guten Kleidung völlig zerstörte. Der Gast wurde rot vor Zorn. Als der Gastgeber schließlich eintrat und das zeremonielle Begrüßungsritual beendet war, begann der Gast das Unglück zu erklären: "Als ich Euer ehrenwertes Gemach betrat und mich unter Eurem ehrenwerten Balken niederließ, erschreckte ich versehentlich Eure ehrenwerte Ratte, die darauf floh und Euren ehrenwerten öltopf umwarf, der sich Uber meine billigen und unbedeutenden Kleider ergoß. Dies ist der Grund fur mein verächtliches Aussehen in Eurer ehrenwerten Gegenwart." Smiths Anekdote mag auf einer maßlosen Übertreibung beruhen, doch stellt die Demonstration von Bescheidenheit auch heute noch ein wesentliches Interaktionsprinzip im chinesischen Diskurs dar. Statt Selbstbehauptung und Betonung der eigenen Fertigkeiten werden in chinesischen Interaktionen (vor allem in Interaktionen mit sozial Höherstehenden) rituelle Bescheidenheitsgesten — die nicht selten mit Unterwürfigkeitsgesten verbunden sind - gepflegt. 6 9 So begegnen einem nicht selten Chinesen, die ausgezeichnet Englisch sprechen, doch ständig wiederholen, wie schlecht ihr Englisch sei. Ist man bei einer chinesischen Familie zum Essen eingeladen, so erfordert die chinesische Bescheidenheitsetikette, daß die Gastgeberin das eigene Essen abwertet: "Es ist ganz schlecht und schmeckt sicher nicht", oder "Ich kann nicht kochen und habe nur das Allereinfachste gekocht". Diese Bescheidenheitsgesten fuhren nicht selten zu Mißverständnissen, da sich die europäischen Gäste wundern, weshalb die Gastgeberin, wenn sie schon nicht gut kochen kann, auch noch betont, es sei das allereinfachste Gericht. Sieht der Gast jedoch, daß der Tisch mit unzähligen fantastisch aussehenden Gerichten gedeckt ist, und schmecken diese darüberhinaus auch noch sehr gut, so kommt diese, auch während des Essens immer wieder verbalisierte Bescheidenheitsformel "es schmeckt sehr schlecht", in unseren Augen einer 'fishing for compliment'-Strategie gleich. 7 0 Studenten leiteten Referate häufig mit Bescheidenheitsfloskeln ein wie "Ich hatte sehr wenig Zeit zur Vorbereitung. Das Referat ist sehr schlecht, denn ich weiß fast nichts über das Gebiet" oder beendeten sie damit. Ähnliche Einleitungs- oder Abschlußformeln kamen auch in schriftlichen Arbeiten von "Ich weiß, meine Kenntnisse sind noch gering. Doch wenn ich unermüdlich arbeite, kann ich bestimmt noch bessere Ergebnisse erzielen" 7 1 . Verzichtet eine Gastgeberin, eine Referentin oder ein Verfasser einer Hausarbeit auf diese ritualisierten Formen der Bescheidenheitsdemonstration, so läuft sie/er Gefahr, als 'überheblich' zu gelten. Die chinesischen Informanten Li und Zhi äußern sich dazu folgendermaßen: Wie Du weißt, wild in China die Bescheidenheit sehr gepflegt. Bereits die alte chinesische Kultur und somit unsere ganze Kulturtradition fordert, daß jeder sich als bescheiden darstellt. Und Bescheidenheit heißt, du sollst nicht zeigen, wieviel du weißt und was du kannst. Man soll nicht seine Kenntnisse und Fähigkeiten stolz präsentieren, sondern sie zurückhalten. Dann gilt man als bescheiden und K E Q I . Bei uns in China ist es wichtig, daß man nicht auffällt. Man will sich nicht als etwas besonderes zeigen. Deshalb muß man stets diese Abwertungen sagen, wie zum Beispiel bei einer Essenseinladung. Da muß der Gastgeber sagen 'wir haben uns nicht gut auf das Essen vorbereitet, das Essen schmeckt sehr 69 Die oben erwähnten Abschwächungsmarkierungen und Signalisierungen von Unsicherheit und Zweifel (z.B. mittels des Modalwortes 'keneng') Können ebenfalls in Zusammenhang mit der Bescheidenheitsetikette interpretiert werden. 70 Gemeinsam ist vielen Europäerinnen das Gefühl der 'Enttäuschung' bzw. 'Desillusionierung', wenn sie entdecken, daß die chinesische Höflichkeit und Bescheidenheit häufig reine 'Fassaden' sind, die die chinesische Etikette jedoch vorschreibt. Diese Desillusionierung reflektiert nicht zuletzt unsere eigenen Projektionen bzw.'posiriv-Klischees' von der 'Echtheit' und 'Innerlichkeit' der entsprechenden Gefühle. 71 Günthner (1988a:154-156).

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schlecht', obwohl er natürlich das Essen sehr lange vorbereitet hat und das Essen auch sehr gut schmeckt. Dann wird vom Gast erwartet, daß er heftig widerspricht und das Essen sehr lobt. Das gilt als Bescheidenheit bei uns. Man darf nichts Positives oder Lobendes über sich selbst sagen, auch wenn man weiß, daß man etwas sehr gut gemacht hat.

Ebenso erfordert die chinesische Bescheidenheitsetikette ein energisches Zurückweisen von Komplimenten: A: B:

" D u siehst heute aber gut aus. Das rote Kleid steht Dir ausgezeichnet" "Nein, nein, gar nicht. Das ist ein ganz billiges Stück."

Zwar kennen auch wir die deskalierende zweite Bewertung als Reaktionsmöglichkeit auf ein Kompliment 7 2 , jedoch ist bei uns auch das Akzeptieren eines Kompliments durch 'Danke', 'Vielen Dank' oder "Ja, ich finde das Kleid auch schick" möglich. Im chinesischen Kontext kommen diese Reaktionen einem Verstoß gegen die Bescheidenhcitsmaximc gleich, und das Verhalten der Sprecherin wird als 'übersteigertes Selbstbewußtsein' oder 'arrogantes Verhalten' interpretiert. 73

3.8.

Einige Einschränkungen

3.8.1.

Gespräche unter Bekannten - Gespräche unter Fremden

Bei sämtlichen hier dargelegten Interaktionsprinzipien handelt es sich um Strategien, die dann verwendet werden, wenn die interagierenden Personen miteinander bekannt - jedoch nicht sehr eng verwandt bzw. befreundet — sind. Wie Yang (1947) im Zusammenhang mit dem 'Gesichts'Konzept verdeutlicht, ist bei den chinesischen Interaktionsprinzipien die soziale Beziehung der Interagierenden, die Statusverteilung und der Bekanntheitsgrad insofern bedeutungsvoll, als unter eng verwandten Personen und auch unter 'Fremden', von denen man nichts zu erwarten oder befurchten hat, viele der hier vorgestellten Interaktionsprinzipien so nicht gelten. Als Ausländerin war ich oft schockiert über die grobe Unhöflichkeit, den barschen Stil und die Rücksichtslosigkeit zwischen Chinesen auf der Straße, also in Situationen, in denen die betreffenden Interagierenden 'Fremde' sind. Wenn man das Verhalten der Leute auf der Straße in China mit dem in Deutschland vergleicht, so muß man sagen, die Deutschen sind sehr viel höflicher. Hier entschuldigt man sich sofort, wenn man jemanden ankrempelt, in China schreit man ihn gleich an: 'Hast du denn keine Augen im Kopf?'. Gegenüber Leuten, die man nicht kennt, gelten die chinesischen Höflichkeitsvorschriften nicht. Man gibt sich dann keine Mühe, freundlich zu sein. Ich würde sagen, in China gibt es zwei Extreme: Wenn man jemanden kennt, wenn man zu Gast ist, oder unter Kollegen, dann ist man extrem höflich, indirekt und bescheiden. Doch wenn man in der Öffentlichkeit ist, wo man die Leute nicht kennt, ist man oft rücksichtslos unhöflich. (Herr Li, ein chinesischer Naturwissenschaftler, der bereits seit drei Jahren in der Bundesrepublik lebt)

72 Pomerantz 1978. 73 Giinthner 1988c.

84 Gegenüber europäischen Ausländerinnen und Ausländern, die ohnehin einen recht hohen Status haben, sind Verkäuferinnen, Kellner, Büroangestellte, Busfahrer etc. in der Regel recht freundlich, doch ihren eigenen Landsleuten gegenüber auffällig unhöflich und barsch. Einen gewissen Unterschied in der Höflichkeit chinesischer Angestellten bemerkte ich immer wieder, wenn ich ein Büro oder Hotel betrat und auf Chinesisch ein Zugticket bestellen wollte oder um eine Auskunft bat. Man behandelte mich fast ebenso schroff wie die chinesische Kundschaft. Redete ich dagegen auf Englisch, wurde ich stets sehr viel freundlicher und entgegenkommender bedient: Ja, wenn Ausländer Englisch reden, dann denkt man, sie sind wichtige Leute und haben viel Geld und Einfluß. Sie kennen China noch nicht, und man will ihnen China von der besten Seite zeigen. Wenn sie aber Chinesisch sprechen, weiß man, sie sind Studenten, haben wenig Geld und kennen China sehr gut. Dann behandelt man sie ähnlich grob wie die Chinesen. (So kommentierte die Informantin Wang meine Beobachtungen.)

3.8.2.

Ein soziokulturelles Niemandsland

Verblüfft sind viele Ausländerinnen in China einerseits über die chinesischen Bescheidenheitsgesten, die u.a. in den oben erwähnten Situationen anzutreffen sind. Doch andererseits konstatieren westliche China-Besucher immer wieder mit großer Verwirrung die der 'chinesischen Bescheidenheit' widersprechenden und "oft unverschämt wirkenden Forderungen und maßlosen Ansprüche" 74 mancher chinesischer Gesprächspartner. Hierzu ist zu sagen, daß in China die angebliche "Direktheit und Offenheit der Europäer" als wesentliche Charakteristika europäischer Interaktion betont werden, und es demzufolge passieren kann, daß Chinesen in interkulturellen Kommunikationssituationen gelegentlich aufgrund dieser wesdichen 'Direktheit* und 'Offenheit' ihre chinesische Etikette ablegen und ohne die Grenzen unserer Direktheit und Offenheit zu kennen, oft maßlose Forderungen stellen. Sie verlassen sozusagen den Boden ihrer eigenen soziokulturellen Normen und ohne mit unseren kulturellen Konventionen vertraut zu sein, befinden sie sich quasi in einem soziokulturellen 'Niemandsland'. Das aufgrund bisheriger Erfahrungen mit wesdichen Ausländern gespeicherte Wissen (persönliche Erlebnisse, Berichte oder angelesene Informationen) sowie kulturell tradierte Stereotypen erwecken bestimmte Erwartungen und beeinflussen das eigene Interaktionsverhalten im interkulturellen Kontext. D.h. in interkulturellen Situationen werden aufgrund der Annahmen und Erwartungen bzgl. des fremdkulturellen Verhaltens eigene soziokulturelle Konventionen aufgegeben, um den vermuteten fremdkulturellen Konventionen zu genügen. Häufig hatte ich während meiner Tätigkeit als Deutschlektorin Briefe chinesischer Wissenschaftler an deutsche Professoren zu korrigieren. Nicht selten bestanden die Briefe aus einer einleitenden Entschuldigungsformel fur 'die Störung' plus folgender Aneinanderreihung von Forderungen und Wünsche an den deutschen Wissenschaftler. Um ein Beispiel zu geben:

74 Dieses Zitat entstammt einem Gespräch mit einem deutschen Geschäftsmann (Herrn Schmidt) über Interaktionskonflikte in deutsch-chinesischen Verhandlungsgesprächen.

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Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Müller! Verzeihen Sie die Störung. Ich heiße Wang und bin Dozent für Elektrotechnik an der Technischen Hochschule Wuhan. Meine Regierung gibt mir ein 1-jähriges Stipendium zur Fortbildung an einer deutschen Hochschule. Kann ich in dem Jahr bei Ihnen arbeiten? Können Sie mir einen Laborplatz zur Verfügung stellen? Leider dauert mein Stipendium nur ein Jahr. Können Sie mir anschließend ein weiteres Stipendium besorgen, denn ich möchte die Doktorarbeit bei Ihnen schreiben. Das wäre sehr gut für mich. Ich habe gelesen, Sie sind Spezialist für Signaltechnik, können Sie mir die wichtigsten Bücher und Aufsätze darüber schicken? Bis zum 1.7. bin ich noch hier in Kanton zu erreichen. Schicken Sie bitte die Sachen nach Kanton. Ich habe gehört, die Wohnungssituation ist sehr schwierig in der B R D . Können Sie mir bitte helfen bei der Zimmersuche? Ich werde am 1.9. ungefähr in der B R D ankommen. Entschuldigung fiir meine Belästigung. Bitte schreiben Sie sofort.

Die Frage, ob die betreffenden Verfasser ihre Briefe auf Chinesisch ähnlich abfassen würden, wurde von chinesischen Wissenschaftlern stets verneint. Man habe gehört, im Westen könne man sehr direkt sein, deshalb habe man so offen geschrieben. In China müßte man dies alles sehr 'vorsichtig' und 'voller Andeutungen' formulieren. Auch wenn generell - wie in den vorangegangenen Kapiteln verdeutlicht wurde - im chinesischen Kontext stärkere Indirckthcitsstrategicn präferiert werden, so gibt es dennoch Situationen, in denen chinesische Sprecher eine Direktheit an den Tag legen, die in unseren Augen wieder unangemessen ist. Gerade was den Bereich des Familienstandes oder der Einkommenslage angeht, zeigen sich deutliche Unterschiede in bezug auf gesellschaftliche Tabuthemcn und damit verbundene Direktheitsstrategien. Deutsche Gastwissenschaftler reagierten nicht selten verblüfft, wenn chinesische Studierende sie direkt fragten: "Warum sind Sie nicht verheiratet?" oder "Warum haben Sie keine Kinder?".

Ausblick Die hier dargelegten ethnographischen Beobachtungen zum chinesischen Interaktionsverhalten sowie die Diskussion chinesischer Rhetorikprinzipien sollten einen gewissen Einblick in den soziokulturellen Hintergrund chinesischer Interaktionen geben, bevor nun die Detailanalyse des Datenmaterials folgt. O b und wie in Gesprächen die vorgestellten Interaktionsprinzipien (Indirckthcitsstrategicn, Harmoniebestreben, Vermeidung offener Konfrontation, langsames zur Sache kommen, Signalisierung von Bescheidenheit, spezifische 'face-work'-Techniken) zum Ausdruck kommen und eventuell zu Mißverständnissen fuhren, muß anhand von Detailanalysen genauer untersucht werden. Hierbei sollen folgende Fragestellungen verfolgt werden: Welche Phänomene fuhren in authentischen Gesptächssituationen zwischen chinesischen und deutschen Teilnehmenden zu Mißverständnissen und Verständigungsproblemen? Wie gehen die Interagie-

75 Namen und Fachrichtung wurden geändert.

86 renden mit Verständigungsproblemen um? Wie werden kulturell unterschiedliche Diskurskonventionen von den Gesprächsteilnehmenden interpretiert? Inwiefern tragen chinesische Diskursstrategien zu stereotypen Zuschreibungen hinsichtlich der 'Undurchschaubarkeit der Chinesen', 'des Nichtwissens, woran man ist', der 'Rätselhaftigkeit chinesischen Verhaltens' bei?

4.

Verstehensprobleme und ihre lokale Reparatur

Die vorangegangenen Kapitel lieferten auf der Basis sozialpsychologischer und anthropologischer Forschungen, eigener ethnographischer Beobachtungen und der Aufarbeitung von Literatur zu westlichen und chinesischen Interaktionsunterschiedenen einen ersten Einblick in die Probleme interkultureller Begegnungen. Dabei wurden das Infragestellen angenommener Selbstverständlichkeiten, das gehäufte Auftreten von Mißverständnissen und Verunsicherungen sowie die Tendenz, 'fremde' Interaktionsweisen auf der Basis vorhandener Kommunikationskonventionen (einschließlich bestehender Stereotypen) zu interpretieren, als wesentliche Aspekte interkultureller Begegnungen thematisiert. Verschiedene Ansätze der Erforschung interkultureller Kommunikation betonen, daß in diesen Situationen Probleme bei der Aushandlung von Bedeutung auftreten, die von den Interagierenden nicht als kulturbedingte Unterschiede in den Gesprächskonventionen wahrgenommen und somit auch nicht als Mißverständnisse oder Verständnigungsprobleme explizit gemacht werden. Stattdessen treten Negativzuschreibungen, Dissonanzen und 'uncomfortable moments' ein. 1 Mein Datenmaterial ist jedoch geradezu gekennzeichnet von Sequenzen, in denen Verständigungsprobleme explizit gemacht und Reparaturen eingeleitet werden. Die Frage drängt sich auf: Welche Art von Verstehensproblemen werden von den Interagierenden als solche erkannt und somit direkt angesprochen? Läßt sich eine Typologie derjenigen Phänomene, die lokal artikuliert und auch repariert werden und jener, die zwar zu Fehlinterpretationen und Unsicherheiten fuhren, doch nicht als Verstehensproblem explizit werden, aufstellen? Das vorliegende Kapitel verfolgt das Ziel, zunächst diejenigen Probleme der Bedeutungsaushandlung, an denen sich die Teilnehmenden direkt orientieren, zu analysieren. Dabei werde ich folgenden Fragestellungen nachgehen: a. Welche Art von Verstehensproblemen werden von den Interagierenden thematisiert und damit explizit? b. Wie gehen die Interagierenden mit den Verstehensproblemen um? c. Gibt es Unterschiede im Umgang mit Verständigungsproblemen zwischen den deutschen Muttersprachlerlnnen und den chinesischen Lernenden? d. Worauf sind diese Unstimmigkeiten zurückzuführen? Zahlreiche Studien zur interkulturellen Kommunikation widmen sich Gesprächen zwischen Angehörigen verschiedener ethnischer Gruppen mit derselben Muttersprache (Gumperz 1982; Erickson/Shultz 1982). In vielen interkulturellen Gesprächen interagieren jedoch Angehörige verschiedener Muttersprachen, wobei das gemeinsame Kommunikationsmedium zumindest fiir einen Teil der Beteiligten eine Fremdsprache ist 2 : Sprechende mit asymmetrisch verteilten Sprachkompetenzen treffen aufeinander.

1 Siehe u.a. Gumperz et al. 1979; Erickson/Shultz 1982; Thomas 1983. 2 Selbstverständlich kann auch eine Sprache als Kommunikationsmedium gewählt werden, die - im Sinne einer 'lingua franca' - für alle Beteiligten eine Fremdsprache darstellt, wie beispielsweise häufig das Englische in deutsch-chinesischen Geschäftsverhandlungen.

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Die Gespräche meines Korpus zeigen, daß diejenigen Verstehensprobleme, die lokal (d.h. unmittelbar nach dem Auftreten des Verstchensproblems) behandelt werden, einerseits lernersprachliche Ursachen haben (4.1.) und andererseits im unterschiedlichen soziokulturellen Hintergrund und den damit verbundenen Wissens- und Erwartungsschemata begründet sind (4.3·). Ferner ist zu beobachten, daß einige der Techniken zur Thematisierung und Bewältigung von Verstehensproblemen in Interaktionen zwischen Lernenden und Muttersprachlerlnnen jenen Strategien ähneln, die auch in intrakulturellen Begegnungen unter erschwerten Bedingungen anzutreffen sind. 3 Aufgrund der asymmetrisch verteilten Sprachkompetenzen und der damit verbundenen Rollenverteilung (Muttersprachlerin - Lernerln) ergeben sich in Situationen interkultureller Kommunikation jedoch andere Gewichtungen und Präferenzen im Umgang mit Verstehensproblemen. Schegloff/Jefferson/Sacks (1977) sehen die Bewältigung von Verstehensproblemen als Teil diskursiver Reparaturarbeit. Der hierbei verwendete Reparaturbegriff ist sehr weit gefaßt und schließt Phänomene wie Behebungen von Verstehensschwierigkeiten, Begriffssuche und Wortersetzungen ebenso ein wie die allgemeine Korrektur von Fehlern. Schegloff et al. (1977) treffen jedoch keine systematische Unterscheidung der Phänomene, die zu lokalen Reparaturen fuhren, sondern beschreiben diejenigen Techniken, die Interagierende zur Behebung kommunikativer Störungen anwenden. Hierbei wird zwischen Selbstreparaturen (self-repair) und Fremdreparaturen (other-repair) unterschieden, wobei beide Reparaturtypen sowohl selbstinitiiert als auch fremdinitiiert sein können. Hinsichtlich der vier möglichen Reparaturtypen (selbstinitiierte und selbstdurchgefuhrte, fremdinitiierte und selbstdurchgefuhrte, selbstinitiierte und fremddurchgefiihrte, fremdinitiierte und fremddurchgefiihrte Reparaturen) postulieren Schegloff et al. (1977) folgendes Präferenzsystem4: In spontanen Alltagsinteraktionen werden selbstinitiierte Selbstreparaturen bevorzugt und Fremdreparaturen eher vermieden. Die Selbstinitiierungen gehen - was die sequentielle Einbettung betrifft - meist den Fremdinitiierungen voraus, d.h. sie werden im Anschluß an die Problemäußerung noch in derselben 'turn-construction-unit' produziert. Fremdinitiierungen erfolgen meist nach Abschluß der Problemäußerung und häufig erst im Anschluß an eine Pause. Auf diese Art soll den Produzenten der Problemäußerung die Möglichkeit zur Selbstreparatur gegeben werden. Fremdinitiierte Reparatursequenzen, die die Aushandlung von Verstehensproblemen betreffen, können - so Schegloff et al. (1977:367/8) - anhand folgender Mittel eingeleitet werden:^ Durch 1. Sprachliche Elemente wie 'huh?' oder 'what?' 2. Fragewörter wie 'who?', 'where?', 'when?' 3. Teilweise Wiederholung der 'Problemäußerung' mit zusätzlichem Fragewort (beispielsweise 'Met whom?', 'The who?' 'All the what?' ). 4. Teilweise Wiederholung der

3 4

5

Vgl. hierzu die Arbeiten von Corsaro (1977), Käsermann (1980) und Selting (1987a). Präferenzsysteme stellen ein technisches Konzept zur Beschreibung interner Ordnunesstrukturen unter den Korrekturtypen dar. Präferenzstrukturen manifestieren sich anhand bestimmter Merkmale hinsichtlich der sequentiellen Organisation des betreffenden Phänomens. Zu Präferenzstrukturen siehe auch Kapitel 8. Diese Initiierungsformen entsprechen den von Garvey (1979:364) beschriebenen 'contingent queries' bzw. den 'clarification requests' von Corsaro 1977.

89

'Problemäußerung* (z.B. O n e ten?' ) 5. Ύ-mean plus a possible understanding of prior turn'Konstruktion (z.B. 'You mean homosexual?'). Nicht erwähnt werden in diesem Zusammenhang metasprachliche Thematisierungen von Verstehensproblemen, wie beispielsweise "Das hab ich jetzt nicht ganz kapiert. Was meinst du?". Interessant wäre ferner die Frage, unter welchen Umständen welcher Initiierungstyp geäußert wird und ob Präferenzen bezüglich des Initiierungstyps bestehen.6 Ferner wäre es wünschenswert, den Zusammenhang zwischen Reparaturinitiierung und Reparatuidurchfuhrung genauer zu betrachten. Lediglich in einer Fußnote weisen ScheglofF et al. (1977:369) daraufhin, daß eventuell eine Präferenz bei der Fremdinitiierung hinsichtlich 'stärkerer Lokalisierung' herrscht. Schegloff et al. beziehen sich in ihren Analysen auf intrakulturelle Interaktionen (zwischen US-Amerikanern) 7 mit quasi symmetrischer Verteilung der Sprachkompetenz 8 . Sie weisen allerdings daraufhin, daß Abweichungen von diesem Präferenzsystem möglich sind, u.a. dann, wenn eine asymmetrische Kompetenzverteilung vorliegt, wie beispielsweise bei der Eltern-Kind-Interaktion, wo Fremdreparaturen der Eltern häutig zu beobachten sind, und eventuell auch in Situationen, in denen eine Person "not-yet-competent in some domain" (ScheglofF et al. 1977:381) ist.

4.1.

"Ich habs jetzt grad gar nicht ganz begriffen" Verständigungsprobleme aufgrund lernersprachlicher Defizite

Verständigungsprobleme und ihre Beseitigung bilden feste Bestandteile jener interkulturellen Begegnungen, in denen Muttersprachlerlnnen und Lernende interagieren: Aufgrund defizitärer sprachlicher Kenntnisse der Lernenden ist der reibungslose Fortgang der Interaktion ständig gefährdet und wird durch Reparaturmaßnahmen bzw. Klärungssequenzen, die zwangsläufig einen Fokuswechsel (vom inhaltlichen Aspekt zur sprachlichen Korrektur) mit sich bringen, häufig unterbrochen: 9 However, what all interactive repair situations have in common is that they constitute backward loops in the development of talk. T h a t is, they involve 'going back 1 to clarify, clear up, correct, reconfirm, etc. before proceeding further with business at hand. T h u s , like side sequences, they often delay or postpone the occurence of a sequentially implicated next turn, until the 'obstacle' to continuing has 6

Ansatzweise versucht Grimshaw (1980) dies mit seiner Einteilung der Verstehensprobleme in: "nonheard, understood as intended, non-understood, misheard, and misunderstood'' zu leisten. Doch stellen diese fUnf Kategorien lediglich theoretische Konstrukte dar, die am empirischen Material oft schwer nachzuweisen sind: Wie können wir als Analytikerinnen bei Verstehensproblemen genau einschätzen, ob beispielsweise der Rezipient nun akustisch (nonheard) oder absichtlich (misunderstood) nicht verstanden hat? Bei der Erfassung von Verstehensproblemen sind wir auf interaktive Kundgaben von Verstehensschwierigkeiten (seien es implizite bzw. explizite Klarifikationsaufforderungen oder aber Reaezüge, die verdeutlichen, daß die Bezugsäußerung nicht verstanden wurde) angewiesen.

7

Reparaturtechniken sowie das von Schegloff/Jefferson/Sacks (1977) postulierte Präferenzsystem mögen durchaus kulturspezifische Variationen aufweisen. Siehe u.a. die Untersuchung von Ochs (1984), die demonstriert, daß Samoanerlnnen normalerweise keine Fremdkorrekturen durchführen. Der Grund für das Nichtauftreten von Fremdkorrekturen liegt - so Ochs - darin begründet, daß Samonanerlnnen eine andere Einstellung zu persönlichen Absichten haben. Dies trifft auch auf die Arbeiten von Kindt/Weingarten (1984), Selting (1987a) und Grimshaw (1980) zu, die die interaktive Behandlung von Verstehensproblemen analysieren. Vgl. hierzu auch Hatch 1978, Long 1981/1983a/1983b, Lauerbach 1982, Daxer 1988 und Rost 1989.

8 9

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been removed. Only then can and do conversationalists return to business as usual. Participants tend to view this hold-up in time as a hindrance to the task which they have set themselves. (CouperKuhlen 1988:1-2)

Um diese Störungen zu beheben oder gar prophylaktisch auszuschalten, verwenden die Interagierenden bestimmte Mechanismen und Reparaturstrategien, die der Verstehenssicherung und einer möglichst geringfügigen Abkehr vom Hauptgesprächsfluß dienen. In Auseinandersetzung mit den bereits vorhandenen Ergebnissen zu Verständigungsproblemen in intrakulturellen Gesprächssituationen, möchte ich zunächst die spezifischen Momente der expliziten Verstehensherstellung in der interkulturellen Kommunikation zwischen Deutschen und Chinesen erarbeiten. Dabei treten folgende Fragestellungen in den Vordeigrund: a. Wie werden Verständigungsprobleme von den deutschen Muttersprachlerlnnen und wie von den chinesischen Lernenden signalisiert? b. Existieren unterschiedliche Präferenzsysteme in der Signalisierung und Behandlung von Verständigungsschwierigkeiten? c. Welche Strategien werden angewandt, um einen relativ reibungslosen Gesprächsfortgang zu sichern? Die Durchführung einer Klarifikationssequenz bei Verstehensproblemen besteht in der Regel aus folgenden Teilen: I. II.

Sprecherin A: Sprecher B:

Problemäußerung

III. (IV. V.

Sprecherin A: Sprecher B:

Initiierung der Klarifikationssequenz/Aufforderung zur Klarifikation Durchführung der Reparatur/Klarifikation Ratifizierung der Klarifikation)

A oder B:

Fortsetzung der Hauptaktivität

Die Initiierung einer Klarifikationssequenz (II) kann als erster Paarteil einer Paarsequenz (adjacency pair) betrachtet werden, dessen Vollzug bestimmte Bedingungen fur die Folgeäußerung (Klarifikation) herstellt: Von der nachfolgende Äußerung (III) wird eine Reparatur erwartet. Gelingt die Verstehensherstellung, so wird diese ratifiziert (IV). Meine Daten verdeutlichen jedoch, daß eine explizite Ratifikation ("ah ja, jetzt versteh ich es.") seitens der Rezipienten nicht unbedingt notwendig ist. Häufig setzen diese die abgebrochene Hauptaktivität unmittelbar nach Beseitigung des Verständigungsproblems fort (V). Die Fortsetzung entspricht dann einer impliziten Ratifikation. Dieses allgemeine Schema kann allerdings lokal ausgeweitet werden, beispielsweise können weitere Bearbeitungsaktivitäten zur Bewältigung des Problems notwendig sein.

91

4.1.1.

Implizite Techniken zur Signalisierung von Verstehensproblemen

Kündigen sich Verstehensprobleme an, wählen die Gesprächsteilnehmer/innen zunächst häufig indirekte Methoden zur Signalisierung von Verstehensschwierigkeiten. Konditionen relevante Folgeäußerungen bleiben aus. 1 0 Beispielsweise wird ein Redezug an einer 'übergangsrelevanten Stelle* (Transition-Relevance-Point: TRP) 1 1 nicht übernommen, oder ein erwartbares Hörersignal bleibt an einem 'Listening-Response-Relevant-Moment' (LRRM) 1 2 aus. Auf diese Weise wird dem Produzenten der Problemäußerung die 'Störung' signalisiert und zugleich die Möglichkeit gegeben, die Problemquelle möglichst unauffällig und ohne größere Unterbrechung des Interaktionsverlaufs zu reparieren. Wird ein konditioneil erwartbarer Redezug an einer übergangsrelevanten Stelle nicht übernommen, so bemerkt der Produzent der vorherigen Äußerung, daß etwas nicht 'in Ordnung ist': Häufig entstehen dann Zögerungsmomente, Rhythmusstörungen und Schweigephasen. Auf den Sprecher kommt nun die Aufgabe zu, diese Gesprächsdiskontinuität zu interpretieren. 13 L U 12 9Lu: 10R: 11 Lu: 12 13 14 15 16R: 17 18Lu: 19 20 21 22 23 24 25 26R:

/ja'h wenn/ ich GLAUBE W E N N eh eh ich glaube /hihihihi/ wer eh wer wer ist ehm (0.8) wer ist ehm ( 1.0) ehm TÄTIG ? ehm tätiger? wer ist tätiger können mehr arbeiten, weil wenn die /eh wenn/ /was/ meinen Sie mit TÄTIGER? (0.2) *(das) versteh ich /nicht*/ /ja ich/ glaube wenn wenn Ma eh wenn die Frau eh G U T arbeiten kann dann ka eh dann kann die Frauen arbeiten und die Männer zu Haus arbei((hi))ten hahahaha> wenn wenn wenn die Mann ist e T Ä T I G E R als die Frau', ja' können die hihi Frau((hi))en hhhhahahaha> eh zu Hause arbeiten oder die die Männer me mehr konzentrieren /auf/ ihr eh seine Arbeit, ja. /mhm/

10 Der Begriff der 'konditioneilen Relevanz' (conditional relevance) entstammt der ethnomethodologischen Konversationsanalyse: "By conditional relevance on one item on another we mean: given the first, the second is expectable; upon its occurence it can be seen Co be a second item to the first; upon its non-occurence it can be seen to be officially absent - all this provided by the occurence of the first." (Schegloff 1968). 11 Z u T R P siehe Sacks/Schegloff/JefFerson (1978:39ff.), Levinson (1983:297ff.), Erickson/Shultz (1982:121ff.). 12 Z u L R R M siehe Erickson/Shultz (1982:122-125). Durch "placement of stressed nuclei and kinesic accents" sowie anhand syntaktischer Mittel und kurzer Pausen (d.h. mittels spezifischer Kontextualisierungsverfahren) liefert der Sprecher eine Umgebung, die eine Hörerreaktion erwartbar macht. Bleibt das Hörersignal aus, so macht der Sprecher dieses Phämomen 'bemerkbar', indem er nicht den gewohnten Interaktionsverlauf fortsetzt, sondern den Redezug expandiert durch Spezifizierung des Gesagten, Wiederholung der ursprünglichen Äußerung oder metasprachliche Thematisierung des Ausbleibens der Hörerreaktion. 13 Beigmann (1982:161). Das Ausbleiben konditionell erwartbarer Folgeäußerungen kann selbstverständlich auch andere Ursachen haben. Wie Kapitel 2.3.2. zeigte, gibt es keine l:l-Relation zwischen einem bestimmten Kontextualisierungshinweis (z.B. Ausbleiben einer erwartbaren Handlung) und einer bestimmten Bedeutungszusenreibung.

92

27R: 28 29

ja'h. ja. nein, eh ich bin schon der Meinung, daß - ehm (0.5) HAUSHALT HAUSHALT und KinDER eh::: ein:: - GEMEINSAM eh von Mann und Frau

Hier werden verschiedene Signale zur Verdeutlichung von Nichtverstehen angewandt: Zunächst wird der gefundene Begriffskandidat (TÄTIG? ehm tätiger?) von der Muttersprachlerin nicht ratifiziert, was bereits auf Verstehensschwierigkeiten R's schließen läßt. Nachdem die impliziten Signale des Verstehensproblems nicht aufgegriffen werden, werden explizitere Formen der Klarifikationsaufforderung angeführt (Zeile 16). Diese Abfolge von Korrekturinitiierungsstrategien tritt in meinem Datenmaterial häufig auf, und man könnte folglich von einer Hierarchie der Strategien sprechen: Zunächst versucht die Rezipientin, die Sprecherin so unauffällig wie möglich zur Korrektur zu bewegen (Ausbleiben von Redezugübernahmen, Pausen). Erst wenn diese Strategien nicht fruchten, werden direktere Korrekturinitiierungen gestartet. Im folgenden Transkriptausschnitt wird der Redezug an übergangsrelevanten Stellen (13;16;20;22) vom chinesischen Teilnehmer Xu nicht übernommen, woraufhin der Deutsche G mittels Selbstkorrekturen das Verstehensproblem zu beheben versucht: XU 6 1 IG: 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24Xu: 25 26

/ja und/ wie' wie W O H N T man heute in Kina eine solche Familie eine Wohnung wie, wie, wie sieht die aus' (0.2) also ich mein eh? sind des so Wohnungen wie bei uns hier, so Hochhäuser, mit Appartments, oder' (1.2) sind des kleinere Einzelhäuser oder wo wo wohnt der normale, der normale Mann, die normale Frau in Kina? (0.2) wo wohnen die heute? (1.0) was fur W O H N U N G E N haben die? (1.2) eh, manche Leute wohnt im, in dem Hochhaus, manche in dem, eh so wie eine ehm, KLEINE Haus

Die Art der Intervention von G verdeutlicht zugleich seine Interpretation der Störungsquelle. Die Korrekturen umfassen hier sowohl syntaktische Vereinfachungen, eine Reduzierung der Sprechgeschwindigkeit als auch die Auflistung möglicher Antwortbeispiele: Die Abstraktionsebene wird reduziert. 14 Mit Hilfe impliziter Strategien zur Signalisierung von Verstehensproblemen wird dem Produzenten der Problemäußerung die Möglichkeit zur Korrektur ohne größere Unterbrechung des Gesprächsflusses gegeben. 15 Dieser Technik kommt folglich auch eine stark gesichtsschützende 14 Vgl. Erickson (1979:109ff.), der in diesem Zusammenhang vom 'Talking-down-Phänomen' spricht. 15 Es entstehen zwar Gesprächsdiskontinuitäten, und die gerade ablaufende Sequenz wird unterbrochen, doch wird diese Art der Störungsbehebung meist innerhalb eines Redezugs behandelt.

93 Funktion fur die Lernenden zu: Zuschreibungen sprachlicher Inkompetenz treten nicht auf. Die Präferenz fur indirekte Techniken der Signalisierung von Verstehens problemen ist mit dem von Brown/Levinson (1978) entwickelten Modell der Höflichkeit zu erklären: Die Initiierung von KlarifikationsaufForderungen stellt — wie auch andere 'request'-Arten 16 - eine gesichtsbedrohende Handlung dar. 1 7 In Interaktionen zwischen Muttersprachlerinnen und Lernenden besteht eine Asymmetrie hinsichtlich der Gesichtsbedrohung bei KlarifikationsaufForderungen: 18 Ein Nichtverstehen seitens der Muttersprachlerinnen ist fur die Lernenden insofern gesichtsbedrohend, als ihnen ihre defizitären Fremdsprachenfertigkeiten vor Augen geführt werden. Umgekehrt stellt eine Klarifikationsaufforderung von Seiten der Lernenden eine Bedrohung für das eigene Gesicht dar, da mit dieser Aufforderung die mangelnde Fremdsprachenkompetenz offenbart wird.

4.1.2.

Explizite KlarifikationsaufForderungen

Explizite Klarfikationsaufforderungen aufgrund von Verstehensproblemen werden in der Literatur häufig als 'Nachfragen' klassifiziert. 19 Sie können insofern als erster Paarteil einer Paarsequenz betrachtet werden, als sie eine Reparatur konditioneil relevant machen. Reparatursequenzen, die auf explizite Klarifikationsaufforderungen zurückgehen und Nebensequenzen einleiten, bestehen aus folgenden Schritten: I.

Sprecherin S:

Äußerung von A

(II.

Rezipient R:

implizite Andeutung von Verstehensschwierigkeiten durch Ausbleiben konditionell relevanter Folgeäußerungen (bzw. Ausbleiben von Hörersignalen an erwartbaren Stellen))

III.

Rezipient R:

Aufforderung zur Klarifikation von A, bzw. von Teilen von A (Manifestation des Verstehensproblems)

IV. V.

Sprecherin S: Klarifikation (Reparatur von A) Ratifikation durch R bzw. Rückkehr zur Hauptsequenz

16 Bereits innerhalb der Sprechakttheorie wurde auf die 'impliziten Realisierungsformen' von Aufforderungen hingewiesen. Wunderlich (1976:311) betont in Zusammenhang mit gesichtsbedrohenden Aspekten bei Aufforderungen: "Es ist nicht zufällig so, daß besonders bei Aufforderungen ein großes Spektrum impliziter Realisierungsformen besteht (ähnlich auch bei Vorwürfen u.a., für die es aber eine direkte Realisierung nicht gibt); mit der Aufforderung wird eine andere Person zur Realisierung einer Aktion angesprochen, damit wird partiell in deren Entscheidungsfreiheit eingegriffen bzw. ihr wird eine Obligation auferlegt. Die implizite Aufforderung bleibt interaktionell noch unbestimmt, d.h. sie läßt es zu, daß sie in der einen oder anderen Richtung in der Interaktionssituation selbst weiter ausgearbeitet wird." 17 Gofiman 1971. 18 Lauerbach (1982:19-20) stellt einen ähnlichen Zusammenhang zwischen Korrekturen in fremdsprachlichen Interaktionen und 'face-work' her und betont, daß Muttersprachlerinnen meist implizite, unauffällige und damit gesichtsschonende Korrekturverfahren wählen. 19 Corsaro (1977:183ff.).

94 Wie Jefferson (1972) ausführt, initiieren Reparatursequenzen sogenannte 'subsidary' bzw. 'side sequences' 20 , die die eigentliche Aktivität zum Stoppen bringen. Nach Beendigung einer Nebensequenz wird die Hauptsequenz wieder aufgegriffen:

Hauptsequenz -> Reparatur-Nebensequenz -> Rückkehr zur Hauptsequenz

Die Interagierenden - insbesondere die Initiatoren der Nebensequenz — sind in der Regel an einer baldigen Rückkehr zur Hauptsequenz interessiert und versuchen, diese Abkehr vom Hauptfluß der Interaktion so schnell wie möglich zu beenden. Damit die Produzentin der Problemäußerung die Korrektur zielgerichtet durchführen kann, ist der Initiator der Klarifikationssequenz zum einen bemüht, durch Orientierungshilfe das Problemobjekt möglichst genau zu lokalisieren. Diese Beobachtung bestätigt die von Schegloff et al. (1977) aufgestellte Hypothese hinsichtlich eines Präferenzsystems fur 'stärkere Lokalisierungen' bei fremdinitiierten Reparaturen. Zum andern unterbricht der Initiator der Nebensequenz die Reparatur, sobald Verstehen hergestellt ist, um so rasch wie möglich wieder den Hauptstrang der Interaktion aufzugreifen. CUI 7-8 1 S: 2 3 4 5 6Cui: 7S: 8Cui: 9S: lOCui: 1 lCui: 12 13S: 14Cui:

sie haben jetzt schon nen Vortrag gehalten bei Frau Müller über das Thema' (0.2) oder' (0.2) war das mehr über kontrastive Linguistik im allgemeinen oder schon stark auf Pragmatik bezogen? auf wem? auf Pragmatik - bezogen' bei wem? Sie haben - am Montag bei Frau Müll/er/ /ja./ das ist mehr aus ja - - kontrastive Linguistik ja mhm bezogen

Sobald das Referenzproblem (6 und 8) gelöst ist, unterbricht der non-native Sprecher Cui die Klarifikationsaufforderung von S und geht mit seiner Reaktion (nach einer kurzen Ratifizierung 'ja.') auf den ersten Paarteil (Frage) der Hauptsequenz ("war das mehr über kontrastive Linguistik im allgemeinen oder schon stark auf Pragmatik bezogen?") ein. Die konditioneile Relevanz der Frageäußerung (3-5) bleibt also über die Reparatursequenz hinweg bestehen. Anhand meines Datenmaterials lassen sich verschiedene Verfahren der expliziten Signalisierung von Verstehensproblemen unterscheiden: 20 Jefferson (1972:309).

95

4.1.2.1. Metasprachliches Thematisieren von Verstehensproblemen Diese Strategie wird bis auf zwei Ausnahmen nur von den deutschen Sprecherinnen eingesetzt. Dabei werden folgende Formulierungen verwendet:

Gespräch

Sprecherin

SU 20:

A:

SU 19: LIU 7: LU 12

P: B: R:

CUI 15-16

S:

BAO 1:

F:

also, moment also du meinscht, ((Switch in Standarddeutsch:)) ich habs jetzt grad gar nicht ganz begriffen++

YANG 25: XU 8:

D:

++also ich habs jetzt nich verstanden++

G: U: U: U: U:

++ s' versteh ich jetzt nich++ hihi bei dem eh' *s' hab ich jetzt nich verstanden* ++die FRAGE ist mir nicht ganz klar.++ es s *die FRAGE ist mir nicht ganz klar.* ++eh ich versteh des hihi NICH so richtig++

W U 49: W U 51: W U 56: XUE 90:

ZHENG 16: F:

Formulierung ++das hab ich jetzt nicht verstanden++. "das hab ich jetzt nicht verstanden**. **hab ich jetzt nich ganz so recht verstanden** was meinen Sie mit TÄTIGER? (0.2) *(das) versteh ich nicht*. *hab ich nicht verstanden*.

++hab ich nicht verstanden. ++ nochmal.

Ein wesentliches Merkmal dieser expliziten Thematisierungen von Verstehensproblemen ist, daß ihnen bereits mehrere implizite Signale zur Verdeutlichung von Verstehensschwierigkeiten vorausgingen: Schweigephasen statt Redezugübernahme bzw. das Ausbleiben von Ratifizierungen nach 'requests for verifications'. In drei der hier angeführten Fälle (BAO 1, XUE 90 sowie W U 49) gehen dem expliziten Eingestehen von Nichtveistehen Versuche zur Fremd-Paraphrasierung voraus, die jedoch abgebrochen werden. Formulierungen wie "das hab ich jetzt nicht verstanden" werden meist dann verwendet, wenn das Problemobjekt nicht genau lokalisiert werden kann. Ochs (1984:330) spricht in diesem Zusammenhang von der 'minimal grasp strategy'. Ein weiteres Charakteristikum der metasprachlichen Formulierungen ist, daß diese prosodisch vom bisherigen Interaktionsveriauf abgehoben werden, indem sie entweder mit erhöhtem Sprechtempo und/oder mit stark reduzierter Lautstärke geäußert werden. Wie Uhmann (1988:17-18) betont, wird eine Erhöhung der Sprechgeschwindigkeit bzw. eine Reduzierung der Lautstärke u.a. zur Kontextualisierung von Parenthesen und Hintergrundinformationen verwendet.21 In den vorliegenden Gesprächssegmenten kontex-

21 Zur Prosodie in Reparatursequenzen siehe auch Couper-Kuhlen 1988.

96 tualisiert der/die Sprcchcr/in durch das erhöhte Sprechtempo bzw. die reduzierte Lautstärke eine vom bisherigen Gesprächsfluß abgegrenzte Relevanzcbene: Das explizite Thematisieren von Verstehensproblemen wird abgeschwächt. Häufig wird diese explizite Nichtverstehens-Kundgabe so leise, ja flüsternd artikuliert, als nehme die Sprecherin die Rolle einer Souffleuse ein und wolle das Verstehensproblem möglichst unauffällig aushandeln. Darüberhinaus weist die Mehrzahl dieser expliziten Nichtverstehens-Kundgaben weitere abschwächende Modalitätsmarkierungen 22 auf, wie 'jetzt' bzw. 'jetzt grad* ("das hab ich jetzt nicht verstanden"), "jetzt grad gar nicht ganz 2 3 " ("ich habs jetzt grad gar nicht ganz begriffen"), 'nich so richtig' oder 'nicht ganz klar ("Die FRAGE ist mir nicht ganz klar"). Auch das Kichern in X U 8 und X U E 90 deutet auf eine mögliche Gesichtsbedrohung beim Eingestehen von Nichtverstehen. Das postulierte Präferenzsystem hinsichtlich der Thematisierung von Verstehensproblemen kann somit ergänzt werden: a. Der metasprachlichen Thematisierung von Verstehensproblemen gehen meist implizite Signale von Verstehensschwierigkeiten voraus; b. häufig gehen dieser Strategie auch andere explizite Versuche zur Thematisierung von Verstehensproblemen voraus, die jedoch abgebrochen werden müssen (BAO 1; X U E 90; W U 49) oder aber nicht zur gewünschten Klärung fuhren (LU 12; W U 51); c. ferner werden metasprachliche Thematisierungen meist prosodisch oder/und mittels bestimmter Partikel abgeschwächt. BAO 1 1 Bao: 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17F: 18 19 20 21 Bao: 22

/ D O C H , /doch das finde ich schon schon r1 richtig, aber ja (0.4) ich wurde auch einmal befragt das war auch glaub ich - vor drei Tage oder vier Tage ja (0.5) ja. hast du vielleicht hier' auch schon (0.3) ein liebe Freundin, eh ja: aber man muß auch hier, das heißt nicht ++nur Mann, sondern auch die Frauen++ müssen auch hier ++oder oder++ i i in jeder Zeit schon - auch das Leben genießen, aber nicht nur so ehm immer an ne an ne an an an ein AN E I N E N M A N N oder so was denken und so. eh das finde ich nicht gut. (0.5) also, moment also du meinscht, ++ich habs jetzt grad gar nicht ganz begriflfen++ WAS findest du jetzt nicht gut? das heißt ja ehm (0.6)

22 Es handelt sich bei den hier auftretenden Abschwächungen um 'downgraders' (Kasper 1981:108-109), d.h. Modalitätsmarkierungen, die die potentielle perlokutive Wirkung einer Äußerung auf den Rezipienten abschwächen. 23 Nicht ganz' kann zu den 'understater", d.h. Adverbien, die den in der Proposition genannten Sachverhalt herunterspielen", gezählt werden. Vgl. Kasper (1981:108).

97 23 24F: 25Bao: 26 27 28 29F: 30 31 Bao: 32F: 33Bao: 34F: 35 36Bao: 37 38F: 39Bao:

cinc - FRAU - hat - mich - gefragt = = ++ja dai hab ich verstanden++ = =ja und (0.5) er sie sie sagt *du sollst hier auch einen neuen Freund /haben* /also nicht so /ah so /sie meinte du sollst nicht so T R E U sein = =ne= =du sollst doch auch deine F R E U D E / haben/ /hihihi jaja / mit deutschen Männern oder so ++was weiß ich++ ni η a ABER nicht U N B E D I N G T mit D E U T S C H E Männer aber /ja aber aber / schon, aber aber /mhm ja/ DAS finde ich nicht gut

Was an dieser expliziten Thematisierung von Nichtverstehen auffällt, ist F's Versuch, zunächst einmal eine Interpretation der Problemäußerung zu formulieren (17): "also, moment also du meinscht", doch dann bricht sie den Reformulierungsversuch ab. 'Moment also' fungiert hier als Indikator, den Gesprächsfluß zunächst einmal zum Stoppen zu bringen, sowie zur Kontextualisierung einer aufkommenden Nebensequenz. Nach dem Scheitern ihres Paraphrasierungsversuchs wechselt F mit erhöhter Sprechgeschwindigkeit ins Standarddeutsche (18-19) und thematisiert ihr Nichtverstehen explizit. Interessant ist nun, wie die beiden Teilnehmerinnen kooperativ das Verstehensproblem, das ja nun bereits einige Redezüge zurückliegt und von F nicht genau lokalisiert werden kann, aushandeln. Mit der Äußerung "WAS findest du jetzt nicht gut?" gibt F eine vage Orientierungsrichtung vor. Die kooperative Verständnisherstellung setzt nun ein, indem Bao zum Ausgangspunkt der thematischen Einheit zurückgeht und diese nochmals langsam abrollt, um zu sehen, wie weit F folgen kann, und wo die Störungsquelle liegt. Was die chinesischen Interagierenden betrifft, so finden sich in meinem Korpus lediglich zwei Fälle expliziter Thematisierung von Verstehensproblemen. Das äußerst seltene Auftreten metasprachlicher Manifestationen von Nichtverstehen auf Seiten der Lernenden widerspricht den Beobachtungen von Hatch (1978) und Rost (1989), die diese Technik als das weitverbreitetste Mittel der Lernenden bezeichnen. Da sich Hatchs und Rosts Ausführungen auf westliche Lernende beziehen, liegt die Vermutung nahe, daß Lernende aus verschiedenen Kulturgemeinschaften unterschiedliche Strategien zur Thematisierung von Verstehensproblemen verwenden und unterschiedliche Verhaltensweisen beim Eingestehen von Kompetenzdefiziten haben. Das Eingestehen sprachlicher Defizite scheint bei chinesischen Lernenden mit starken Gesichtsbedrohungen verbunden zu sein. 24 Meine Erfahrung aus Unterrichtssituationen mit chinesischen Lernenden bestätigt diese Hypothese: Nur äußerst selten wurde Nichtverstehen innerhalb des Sprachunterrichts thematisiert. Stattdessen trat Schweigen ein. Sicherlich ist dieses Phänomen 24 Eine ähnliche Beobachtung macht auch Fan (1989:45), die betont, daß chinesische Studentinnen aus Gründen der Gesichtswahrung bei Verstehensproblemen diese nicht metasprachlich thematisieren.

98

auch in unserem Kulturkreis bekannt, dennoch möchte ich betonen, daß auch in Unterrichtssituationen mit heterogener Lernerzusammensetzung (aus verschiedenen Nationen) das offene Thematisieren von Nichtverstehen nie von den ostasiatischen Lernenden kam. 2 ' Chinesische Informantinnen erklären dieses Phänomen mit der enormen Gesichtsbedrohung, die das Eingestehen von Nichtverstehen und Kompetenzmängel fur sie enthält: Eine wichtige Regel für uns Chinesen ist, daß man nicht auffallen darf. Das trifft auch auf den Unterricht und natürlich Gespräche im allgemeinen zu. Weder darf man auffallen, indem man mehr weiß als die andern, noch indem man zeigt, daß man etwas nicht kann oder nicht versteht. Das Zugeben, wenn wir etwas nicht verstehen, ist für uns furchtbar peinlich. Deshalb tun wir lieber so, als hätten wir verstanden in der Hoffnung, daß es niemand merkt. (Herr Li)

Frau Ma, die ich ebenfalls zu diesem Phänomen befragte, antwortete: Für Chinesen ist das direkte Zugeben von Nichtverstehen ein Problem. Vor allem, wenn die betreffenden Chinesen Germanisten oder gar Deutschlehrer sind. Das Zugeben von Nichtverstehen wäre für sie eine ziemliche Schande, da sie wissen, daß die Äußerungen der Deutschen nicht allzu schwierig sind, und wenn sie als Germanisten trotzdem nicht verstehen, ist dies sehr schlimm für sie. Sie verlieren ihr Gesicht. Außerdem sagt man bei uns nicht offen, wenn man etwas nicht versteht. Man versucht eher zu tun, als würde man verstehen.

(Tatsächlich sind die beiden Lernenden, die metasprachlich ihre Verstehensprobleme eingestehen, keine Germanisten.) In einem Fall (XU 15-16) gibt der Lerner zunächst Verstehen vor, doch wird diese Vorgabe im Verlauf der Interaktion 'entlarvt'. 26 Im anderen Fall (YU 28) gehen der metasprachlichen Thematisierung eines Verstehensproblems bereits andere Signale und Reparaturversuche (15, 16, 20, 25, 27, 29) voraus: YU 28 12A: 13 14 15 16Yu: 17A: 18 19 20 21A: 22Yu: 23A: 24 25 26 27 28 29 30Yu: 31A:

/aber wahrscheinlich is/ wahrscheinlich isch die KINDERsterblichkeit (0.2) jetzt auch nicht mehr so groß? (0.2) was? die KINDERSTERBLICHKEIT' (0.2) de daß die Kinder, früh sterben wenn sie klein sind und Krankheiten bekommen? (0.3) /o/der? /ja/ auch meinetwegen, wenn die Kinder auf die Welt kommen, da sind ja früher auch schon sehr viele gestorben wegen, medizinischen Gründen, (0.2) un weil eben die Medizin no nit so weit fortgeschritten war, (0.2) des isch doch bestimmt jetzt auch weniger? (0.3) moment, ich versteh nicht. a:h also noch mal =

25 Ahnliche Beobachtungen sind auch bei Bauersachs et al. 1984 zu finden. 26 Dieses Beispiel (XU 15-16) wird in Kapitel 4.2. ausführlich diskutiert.

99 32Yu: 33A: 34Yu: 35 36A: 37 38 39Yu: 40A: 4lYu: 42A: 43Yu: 44Yu: 45A: 46A: 47Yu:

= mhm = =ehm (1.8) HEUTE ja. (1.2) ncc. noch andersch. FRÜHER, Hat man doch bestimmt auch VIEL mehr Kinder bekommen weil mehr Kinder geSTORBEN sind= =j' JA richtig /ja/ /bei/der GEBURT/o/der /ja/ später wenn /man keine MEDIKAMENTE/ / das is eh: von / Medizin /Gründe/ ja. /RICHTIG./ genau. jetzt besser.

Kurze Pausen und das Ausbleiben erwartbarer Hörersignale weisen auf Verstchensprobleme hin. Doch erst in Zeile 30 thematisiert Yu ihr Verstehensproblem: "moment, ich versteh nicht.". A beginnt nun eine erneute Erklärungssequenz (31). Anhand dieses Transkriptausschnitts möchte ich exemplarisch einige Aspekte pädagogischer Verstehensaushandlung in der interkulturellen Kommunikation beleuchten: Nicht nur innerhalb des institutionellen Rahmens des Fremdsprachenunterrichts orientieren sich die Interagierenden am sprachlichen Wissen und den Defiziten der Lernenden. Vielmehr kann jede Gesprächssituation zwischen Muttersprachlerln und Lernerln Momente der Vermittlung sprachlicher Kenntnisse aufweisen. Die asymmetrische Verteilung sprachlicher Kompetenz zwischen A und Yu wird in diesem Transkriptsegment insofern interaktiv relevant, als Yu ihr sprachliches Defizit explizit macht und sich an die Muttersprachlerin um Hilfe wendet. Die Muttersprachlerin erhält dadurch eine gewisse, situative Autoritätsposition: Sie wird zur 'Expertin*. Eine außer-institutionelle, pädagogische Vermittlungssequenz setzt ein und damit eine vorübergehende Rollenverteilung in Expertin und Lernerin. Die Muttersprachlerin ist bemüht, ihre Außerungsform dem angenommenen sprachlichen Wissen der Rezipientin anzupassen: Zunächst beginnt sie mit 'HEUTE' (33), doch nach einer Reflexionspause (35) strukturiert sie ihre Informationsverpackung um 'nee. noch andersch' (36) und beginnt einen neuen Start: 'FRÜHER'. Die Erläuterung wird - mit einer prosodischen Markierung bestimmter Schlüsselbegriffe: 'HEUTE'; 'FRÜHER', 'VIEL', 'geSTORBEN', 'GEBURT', 'MEDIKAMENTE' - in reduzierter Geschwindigkeit geäußert. Die vorliegende pädagogische Vermittlungssequenz ist keineswegs monologisch konstruiert, sondern basiert auf der aktiven Teilnahme und Demonstration von Verstehen durch die Lernerin. Auch bringt die Klarifikations-Nebensequenz einen Footing-Wechsel 27 mit sich: Von einer quasi 'egalitären' Gesprächssituation gehen die Interagierenden zu einer Sequenz mit bestimmter Rollen- und Aufgabenverteilung über. Eine Expertin vermittelt sprachliches Wissen an eine Lernerin. Der Ablauf des Redewechsels verändert sich 27 Zum 'footing'-Konzept siehe Goffman 1979.

100

dabei ebenfalls: Die Expertin liefert Schritt-fìir-Schritt kleine, pädagogisch-zugeschnittene Äußerungsteile, und die Lernerin demonstriert jeweils nach den pädagogisch markierten Schlüsselbegriffen durch ein Hörersignal ihr Verstehen und damit die geglückte Übermittlung der Information ( 3 6 ; 3 9 ; 4 l ) . Ist das Verstehen hergestellt, so tritt diese Rollenverteilung (ExpertinLernerin) wieder in den Hintergrund, und die Hauptsequenz mit ihren entsprechenden Redewechselkonventionen wird wieder aufgegriffen. 28 4.1.2.2.

Verwendung von Fragewörtern und Partikeln

Weitere Formen der expliziten Signalisierung von Bedeutungsveistchensproblemen ohne genaue Lokalisierung des Reparandums bilden Fragewörter und Partikeln wie 'ah?' 2 9 'was?' 30 'wie?'. Es handelt sich auch hier um 'minimal grasp strategies' (Ochs 1984:330): Die Lernenden können die Problemquelle nicht genauer lokalisieren. Die Muttersprachlerinnen fuhren daraufhin, je nachdem wo sie die Problemquelle vermuten, eine Korrektur durch. Folgende Partikel und Fragewörter werden von den chinesischen Teilnehmenden verwendet:

28 Zur interaktiven Wissensvermittlung siehe auch Keppler/Luckmann 1990. 29 Hierbei handelt es sich um 'ah' mit Frageintonation 'Ah' kann unterschiedliche interaktive Funktionen innehaben, die intonatorisch markiert sind: MA 8 3 IT: das glaubt J EDER von Ihnen 32 (0.5) 33MA: ah? 34T: das GLAUBT JEDER. 35MA: ah. 36T: von Ihnen. (0.4) In Zeile 33 produziert M a 'ah?' mit steigender Intonation, was von Τ als Klarifikationsaufforderung interpretiert wird: Τ korrigiert die Lautstärke und Betonung ihrer Äußerung. Daraufhin produziert M a ein 'ah. mit fallender Satzendintonation (35), das dagegen Verstehen signalisiert. 30 Hierbei handelt es sich nicht um dasselbe 'WAS', das zur Signalisierung von Erwartungsproblemen verwendet wird. Zum prosodischen Unterschied vgl. Selting (1987a:161).

101

Sprachlicher Ausdruck: 'ah?'

Häufigkeit des Vorkommens:

'was?'

21 mal 11 mal

'hm?' 'wie?'

6 mal 6 mal

'hä?' 'wie bitte?' 'wie wie meinen?' 'JA?'

3 2 2 2

'eh wie eh?' 'neh?' 'ah wie ah?'

1 mal 1 mal 1 mal

SU 14 1K: 2 3A: 4A: 5 6Su: 7A: 8 10A: 11 12 13 l4Su: 15Yao:

mal mal mal mal

muß man da eine bessere Note haben' um Englisch studieren zu kön/nen zum Beispiel?/ /das weiß ich/ gar nicht, ob das bei Englisch auch eine bessere Note is. ah wie ah? ((langsam und deutlich; erhöhte Lautstärke)) < WENN MAN ENGLISCH STUDIEREN MOCHTE und man wird dann ABGEWIESEN mit der bitte anstatt Englisch DEUTSCH zu studieren, heißt das dann, daß man eine schlechte AufhahmePRÜFUNG gemacht hat? - in Englisch? oh nein. (0.2) /ganz eh zum/ Beispiel / kann sein/

Nachdem A die Frage ihrer Freundin Κ nicht beantworten kann, wendet sie sich an Su. Auf Su's KlarifikationsaufForderung hin (6) korrigiert A mit stark erhöhter Lautstärke und verlangsamter Sprechgeschwindigkeit ihre Äußerung (7-13). Sie beginnt mit einer Dekomposition der ursprünglichen Problemäußerung (7-8), wobei sie zunächst das Topik "Wenn man Englisch studieren M Ö C H T E " produziert, um dessen Verstehen sicherzustellen.31 Die Senkung der Sprechgeschwindigkeit, die Erhöhung der Lautstärke und die Hervorhebung bestimmter Schlüsselbegriffc stellen weitere Verfahren der Komplexitätsreduktion dar, die A anwendet. In Zeile 9 liefert Su den 'continuer' 'mhm' und signalisiert damit der Sprecherin A, daß sie mit ihrer

31 Hatch (1978:4Iff.) stellt in diesem Zusammenhang die These auf, daß mangelnde Topik-Identifikation die wichtigste Ursache fur Verstehensprobleme bei Fremdsprachenlernerlnnen darstelle. In der Reparatursequenz sind die Muttersprachlerinnen häufig bemüht, zunächst das Verständnis des Topiks herstellen, bevor sie zum Kommentarteil übergehen. Vgl. hierzu auch Long (1983b:128).

102

Äußerung fortfahren kann. Mit einer vorläufigen Beendigung der Klarifikation durch eine syntaktisch und intonatorisch markierte Frage an den Lerner wird dieser aufgefordert, die konditioneil relevante Folgeäußerung (Antwort) zu liefern (13). Doch nachdem der zweite Paarteil ausbleibt, erweitert A ihre Äußerung mittels Spezifikation 'in Englisch?'. In Zeile 14 reagiert Su nun auf die korrigierte Frage: 'oh nein'. Diese Art von 'Satzerwciterungstechniken' (13) treten recht häufig in Sequenzen der Verständigungsherstellung auf. Beim Ausbleiben einer Verstehensratifìzierung seitens des Rezipienten erweitert die Sprecherin ihren Satz im Sinne einer 'right-dislocation'.32 Da die Partikeln 'ah? was? hm?' etc. keine Hinweise über die Lokalität des Problemobjekts geben, wiederholt die Muttersprachlerin meist die gesamte Proposition der Problemäußerung, bis schließlich das Problemobjekt lokalisiert und korrigiert wird. Die Identifikation des Reparandums erfordert ein kooperatives Vorgehen der Beteiligten: Je schneller das Problemobjekt erkannt wird, desto effektiver und rascher kann die Klarifikation durchgeführt werden. Häufig liefern die Lernenden im Verlauf der Klarifikationssequenz eine Präzisierung des Problemobjekts: YU 41 1A: 2Yu: 3A: 4Yu: 5A: 6

((sehr hohe Stimme)) < AH! - sie ist HEBAMME> HÄ? ist sie HEBAMME? was bedeutet Heb? hm, des isch DIE, de sch eine GANZ speziell ausgebildete Krankenschwester

Diese Beobachtung unterstützt die These bezüglich der Präferenz einer möglichst genauen Lokalisierung des Problemobjekts.33 Worauf ist nun die häufige Verwendung der oben genannten Partikeln und Fragewörter von Seiten der chinesischen Lernenden zurückzuführen, zumal die deutschen Muttersprachlerinnen diese Formen nicht verwenden? In ihrer Untersuchung zu Verständigungsproblemen zwischen deutschen Muttersprachlerinnen listet Selting (1987a:74) die Klarifikationsaufforderungen 'Was?' oder 'Bitte?' lediglich im Zusammenhang mit akustischen Verstehensschwierigkeiten auf. Ein wichtiger Aspekt bezüglich der Verwendung der Manifestationsformen 'was?', 'wie?' 'hm?' 'hä?' etc. stellt sicherlich der Interaktionskontext und die hierbei erforderliche Registerwahl dar Je formeller das Gespräch, desto sanktionierter sind diese KlarifikationsaufForderungen. Die relativ häufige Verwendung von 'ah?', 'was?' und 'wie?' seitens der chinesischen Sprecher könnte eine Interferenzerscheinung aus dem Chinesischen darstellen, wo 'ah?' Ißi] und 'shenma?' ('was?'bzw. 'wie?') sehr geläufige Partikeln zur Demonstration von Verstehensproblemen

32 Wie Goodwin (1981) betont, stellt der Satzkonstruktionsprozeß eine wichtige interaktive Prozedur zur Koordination der Interaktionshandlungen dar: Bleibt eine erwartbare Rezipientenreaktion aus, so'verlängert' der/die momentane Sprecherin häufig den Redebeitrag durch Hinzufügen weiterer Satzsegmente, bis die erwünschte Hörerreaktion eintritt. 33 Diese Hypothese stimmt mit der von ScheglofF et al. (1977:369) postulierten Vermutung über eine Präferenz hinsichtlich 'stärkerer Lokalisierung' Uberein.

103

darstellen. Chinesische Sprecher, die in Gesprächen mit deutschen Bekannten (im Gegensatz zu Freunden) ihr Nichtverstehen durch Fragewörter und Partikeln wie 'was?'; 'hm?' 'ah?' oder 'wie?' kundtun, wirken schnell unhöflich. Als ich der Informantin Ma diese Daten vorlegte, berichtete sie von einem Telefongespräch im Studentenheim: Ma kam gerade aus dem Keller zurück, als auf ihrer Wohnheimetage das Telefon klingelte. Eine Deutsche redete recht schnell, doch in einem auffällig freundlichen Ton am Telefon und erwähnte dabei etwas von einem Zimmerschlüssel, den sie gefunden habe. Ma, die bis dato den Verlust ihres Schlüssels nicht bemerkt hatte, verstand wenig und konnte auch den Zusammenhang zwischen dem Schlüsselverlust und dem Anruf nicht erraten. Mittels eines lauten und forschen 'WAS?' manifestierte sie ihr Verstehensproblem, woraufhin die Deutsche einen recht aggressiven und sichtlich 'unfreundlichen' Ton anschnitt und ihre Äußerung korrigierte. Ma wurde plötzlich bewußt, daß ihr 'WAS?' die deutsche Gesprächspartnerin verärgert haben könnte, und sie unterbrach die Reparatursequenz der Deutschen mit der Entschuldigung, sie sei Ausländerin und habe vorhin nicht richtig verstanden. Auf diese Entschuldigung hin stellte sich der freundliche und kooperative Ton der deutschen Gesprächspartnerin wieder ein. Im Chinesischen hätte Ma in solch einer Situation einfach 'shenma?' ( was? ) verwendet. Chinesische Sprecher verwenden also sprachliche Elemente zur Manifestation von Verstehensproblemen, die in deutschen Kontexten u.U. unangemessen oder barsch wirken. Die von deutschen Sprechern häufig verwendete Form 'bitte?' wird von den Chinesen nur in zwei der 56 Fällen als Kombinationsform 'wie bitte?' benutzt. Im Chinesischen wird bei Verstehensproblemen nicht mit 'qing' ì j j (bitte) reagiert; gewisse Höflichkeitsformen wie 'dui bu qi' ^(Entschuldigung) und 'qing' ¡j^ {bitte) waren in der Volksrepublik während der Kulturrevolution als 'bourgois' verpönt.34 In den letzten Jahren wurden allerdings wieder Kampagnen gestartet mit der Aufforderung 'Seid höflicher zueinander': Verwendet mehr 'Entschuldigung' und 'Bine'. 35 (1982 bis 1986 wurde in der VR China der Monat März zum offiziellen 'Höflichkeitsmonat' ernannt.36) Das Interrogativpronomen wer?' wird speziell bei Verstehensproblemen im Bereich der Referenzzuordnung eingesetzt. Eine immer wieder auftretende Ursache fur Referenzprobleme stellt die Verwechslung der Personalpronomina der 3. Person Singular 'sie' und 'er' dar. Im folgenden Ausschnitt wird im Anschluß an das Verstehensproblem die Ursache selbst zum Gesprächsthema (Zeile 32):

34 Der Informant Wu berichtet: "Damals während der Kulturrevolution war es bei uns sehr wichtig, wie ein dalaoeu zu reden. Das heißt, man sollte sich verhalten wie ein Arbeiter und Bauer, aber nicht wie ein Kapitalist. Diese Höflichkeitsformeln wie 'Entschuldigung', 'bitte', 'danke' galten als die Redensart der dekadenten, alten Kapitalisten. Damals wurden alle diese bourgoisen Redeweisen abgeschafft.''

35 Gilnthner (1988c:5). 36 Hierzu auch Hong (1985: 204ff.).

104 YANG 36 22Yang: 23A: 24Yang: 25A: 26Yang: 27Tan: 28Yang: 29Tan: 30A: 31 Yang: 32D: 33A: 34Yang: 35 36Tan: 37Yang: 38D:

/ meine meine Freundin / arbeitet in der /*manche Männer auch nicht*/ in der'- im Hotel. mhm er ist also nur die'. WER? meine meine Freundin. SIE! mhm also meine /Freundin/ / weil / du gesagt hast /ER ist/ /hihi/ hihi SIE also sie arbeitet im Hotel und sie haben - also nur die: /Mittelschule./ / sie HAT./ sie HAT nur Mittelschule abgeschlossen. mhm

46Yang: 47Tan: 48Yang: 49

und dann gilt eh er in der eh: SIE eh giht SIE in der eh giht SIE eh in die oh die FACHschule.

Die häufig auftretende Verwechslung der Personalpronomina liegt sicherlich u.a. darin begründet, daß im (gesprochenen) Chinesisch nicht zwischen femininen und maskulinen Formen der Personalpronomina differenziert wird: 'ta' ("fife bzw. ¿ife ) kann im Chinesischen sowohl auf auf einen Mann als auch eine Frau referieren. Dies fuhrt dazu, daß selbst fortgeschrittene Deutschlernende die beiden Pronomen 'sie' und 'er' häufig verwechseln. Eine ganz ähnliche Beobachtung machen Platt et al. (1984:61) in Bezug auf das Singapore-Englisch chinesischer Sprecher: Auch sie verwechseln häufig 'she' und 'he'. 4.1.2.3.

Fremdwiederholungen mit Frageintonation bzw. mit W-Fragewörtern

Diese Technik wird von den chinesischen Teilnehmenden meist dann verwendet, wenn sie mit einem ihnen unbekannten Begriff konfrontiert werden. Es lassen sich folgende Strategien unterscheiden: a. Wiederholung des Problemobjekts mit Frageintonation zur Signalisierung der Problemquelle: XU 97 3G: 4Xu:

=ja, ehm das ist jetzt eh'ein KREDIT Kredit?

105 b. Ist der Problembegriff weder im passiven noch im aktiven Vokabelrepertoire gespeichert, haben die Lernenden häufig Schwierigkeiten, ihn korrekt wiederzugeben. Deshalb produzieren sie in ihrer Klarifìkationsaufforderung lediglich eine Annäherung an das Problemelement: YU 33: YU41: SU 16:

was Mittel?' 'was bedeutet Heb?' 'Os?'

(bezogen auf'VERHÜTUNGSmittel') (bezogen auf'Hebamme') (bezogen auf Orchideenfach')

Diese lexikalischen Annäherungen reichen in meinem Datenmaterial stets zur Identifikation des Problemobjekts aus, so daß die Muttersprachlerin anschließend eine Klarifikation einleiten kann. Deutsche Sprecher verwenden diese Strategie der Fremdwiederholung ebenfalls, sofern sie einen Begriff der vorausgehenden Lerneräußerung nicht verstanden haben. Die Ursache kann dann in der laudichen Realisierung des Problembegriffs liegen: XU 8:

Xu: HEILEITEN

(statt: heiraten)

G: heil' heileiten? XU 5:

Xu: Bewiklung

(statt: Bevölkerung)

G: Bewirkung?

Fremdwiederholungen mit Frageintonation werden von den Muttersprachlerinnen auch verwendet, wenn die Lernenden einen unpassenden Begriff produziert haben, der zu Verstehensproblemen fuhrt. Im folgenden Transkriptausschnitt verwendet Wu den Begriff 'Brief und meint damit - wie sich später herausstellt - 'Anspruch* bzw. 'Forderung': W U 53 lWu: 2 3G:

also die die die SELBSTÄNDIGKEIT ist ein Briefalso des Kindes / ist ein / ein ein BRIEF /ein BRIEF?/

Eine weitere Strategie der Lokalisierung eines Problembegriffs stellt die Wiederholung des als unproblematisch geltenden Äußerungsteils dar mit einer Substitution des Problemobjekts durch das Fragewort 'was?'. LIU 7 lLiu: 2 3B: 4Liu: 5B:

und andererseits hat (0.5) de: der Student auch Angst und auch ist so bescheuert um Fragen zu stellen er ist zu was? eh? er ist zu was? zu schüchtern?

106 4.1.2.4.

Fremdparaphrasen

Eine weitere Technik zur Signalisierung von Verständigungsproblemen stellen jene Verfahren dar, die Schegloff et al. (1977) als "Y'mean plus a possible understanding of the prior turn" bezeichnen. Diese Verständigungsüberprüfungen, die der Problemäußerung unmittelbar folgen, haben die Funktion inne, die Interpretationen der Problemäußerung bestätigen zu lassen. 37 Hier unternimmt der Rezipient, der den sprachlichen Input nur vage verstanden hat, den Versuch, die Bedeutung des Reparandums zu erraten und zur Diskussion zu stellen. Die Fremdparaphrase entspricht einer 'Einladung zur Richtigstellung' (correction-invitation-device), die eine Bestätigung (bzw. Korrektur) konditioneil relevant macht. 38 Diese Art der Fremdparaphrasen zur Verständigungssicherung wurde in meinen Daten fast ausschließlich von den deutschen Teilnehmern produziert. Die Fremdparaphrasen haben die syntaktische Form des Aussagesatzes mit Frageintonation, wobei bestimmte als unproblematisch geltende Elemente der Bezugsäußerung mitaufgegriffen und in einen neuen, korrigierten Zusammenhang gestellt werden. Dieser korrigierte Zusammenhang macht die vermutete Proposition explizit. LIU 10 lLiu: 2 3 4B: 5Liu:

6

7B: 8 Liu: 9B: lOLiu: IIB: 12Liu: 13 14B:

Dritten - - eh - die meisten Studenten, die nach A U S L A N D kommen, - dürfen, sind bei uns Elite - ja mhm und die sollen nicht erwarten, daß die hier auch - Elite mhm werden. - oder so. daß sie als Elite behandelt werden? ja. das mhm und man muß abfinden, daß man hier eine normale Studenten ist mhm

Β liefert in ihrer Interpretation (9) eine eingebettete Korrektur, die zugleich eine Bedeutungsverschiebung enthält. Diese Interpretation wird von Liu ratifiziert (10), und er fahrt unvermittelt mit dem Hauptfluß der Interaktion fort.

37 Hierau auch Long (1983b:137). Ochs (1984:331) spricht in diesem Zusammenhang von einer 'expressed guess strategy'. 38 Häufig treten diese Fremdparaphrasen auch innerhalb einer Klarifikationssequenz auf, wenn Muttersprachlerinnen die von Lernerinnen angebotene Klarifikation vage verstanden haben und nun ihre Interpretation den Lernerinnen zur Ratifikation anbieten. Fremdparaphrasen zur Lösung von Verständigungsproblemen indizieren somit, daß die gemeinsame Bedeutungskonstitution noch nicht zufriedenstellend hergestellt ist, sondern sich noch inmitten des Aushandlungsprozesses befindet. Der/die Rezipientln der Problemäußerung A stellt sein/ihr bisheriges Verständnis zur Diskussion. (Hierzu auch Wunderlich 1980:72/73).

107

Diese von Seiten der Muttersprachlerlnnen sehr häufig verwendete Strategie der Verstehensüberprüfung beinhaltet zugleich eine unauffällige Korrektur der Problemäußerung, im Sinne einer image-schonenden 'embedded correction' 39 . Auch Hatch (1978:427) beschreibt die enge Verknüpfung der Fremdparaphrasen mit Fremdkorrekturen, jedoch bestreitet sie letztendlich den inhärenten Reparaturcharakter dieser Techniken: Restatements for learner speech by the N S (native speakers, S . G . ) could be viewed as a repair-byanother-speaker. However, its function seems to be one reassuring the learner that he is understood. (...) .The restatements d o not appear to function as repairs.

Sicherlich ist die Funktion dieser Fremdparaphrasen in erster Linie die der Verstehenssicherung, jedoch kann und soll der eingebettete Korrekturaspekt meiner Ansicht nach nicht negiert werden, zumal er ein wesentliches Element der sogenannten 'natürlichen Pädagogik' darstellt: Lernende, die eine fehlerhafte Äußerung produziert haben, werden mit korrigiertem Input konfrontiert. Das Lernmoment findet hierbei außerhalb des institutionellen Rahmens (des Fremdsprachenunterrichts) statt, und die Korrektur wird nicht etwa von institutionell eingesetzten Lehrerinnen durchgeführt, sondern von den Gesprächspartnerinnen. Darüberhinaus hat die Technik der Fremdparaphrase den Vorteil, daß der Gesprächsfluß kaum beeinträchtigt wird. Die Produzenten der Problemäußerung können - im Falle korrekter Interpretation durch die Rezipienten — mittels kurzer Bestätigung der Interpretation und ohne Lieferung weiterer Klarifikationsangebote den Interaktionsverlauf fortsetzen. Die Mehrzahl der Fremdparaphrasen wird mit expliziten Indikatoren eingeleitet: S U 10:

und was heißt das'- ist die

G U 0 3:

du meinst...

D U 21:

sie meinen ...

LIU 5:

du meinst also ...

X U E 89:

du meinst...

X U 102:

mhm also ...

In einem Falle fugt der Deutsche G, nachdem von Lernerseite keine Reaktion kommt, seine Kennzeichnung der Fremdparaphrase hintenan (4):

39 Ochs (1984) macht in ihrer Arbeit über Klarifikationsstrategien in Eltern-Kind-Interaktionen die Beobachtung, daß wesdiche 'caregivers' im Gegensatz zu samoanischen diese 'expressed guess strategy' gehäuft verwenden. Ochs führt diesen kulturell unterschiedlichen Gebrauch auf soziokulturelle Differenzen bezüglich individueller Intentionen und Persönlichkeitsstrukturen zurück. Die Tatsache, daß nun in meinen Daten nahezu alle "expressed guess strategies" von den deutschen Teilnehmerinnen produziert werden, könnte u.U. an soziokulturefien Differenzen hinsichtlich persönlichen Intentionen und Persönlichkeitsstrukturen liegen. Jedoch wären dazu genauere Untersuchungen, die speziell diese Strategie in chinesisch-chinesischen und deutschdeutschen Interaktionen analysieren, von nöten. Mir scheint jedoch die asymmetrische Rollenbesetzung (native versus non-native Teilnehmerinnen) ein wichtiger Aspekt zur Erklärung solcher Unterschiede. Versuchen Muttersprachlerinnen die Proposition der Lernerinnen zu erraten, so stellt dies eine wesentliche Hilfestellung für den Lernenden dar. Lernerinnen, die jedoch Schwierigkeiten beim Verstehen der muttersprachlichen Äußerung haben, werden aufgrund der asymmetrischen Rollenverteilung und mangels sprachlicher Fertigkeiten weniger schnell geneigt sein, diese Äußerung zu paraphrasieren.

108

XU 18 1 G: 2 3 4 5Xu:

wenn man aber jemand K E N N T der einem das Leben hier bezahlt ist es einfacher (1.2) SO war des gemeint? ja.

Von 22 Fremdparaphrasen in meinen Daten werden acht durch reine Zustimmungssignale 'ja' ratifiziert. In den anderen Fällen produzieren die Rezipienten der Fremdparaphrase eine Selbstkorrektur mit oder ohne Zustimmungselement:

I.

Sl:

Äußerung A

II.

S2:

Fremdparaphrase von A

III. S l :

(Zustimmungselement JA) + (Selbstkorrektur von A)

In zwei Fällen ist der Produzent der Problemäußerung nicht mit der Fremdinterpretation einverstanden und produziert eine Nichtübereinstimmung. Die Produktion der Nichtübereinstimmung fuhrt dann - wie bei Nichtübereinstimmungen üblich 40 - zu einer Sequenzerweiterung. Bei den Fremdparaphrasen lassen sich demnach folgende Präferenzstrukturen feststellen: Zustimmung mit der Fremdparaphrase wird bevorzugt, wobei der Produzent der ursprünglichen Problemäußerung häufig die Fremdparaphrase im Anschluß an ein 'recognitional' unterbricht und eine Selbstkorrektur vornimmt. Die Organisation der Fremdparaphrase zur Verstehenssicherung scheint somit eng mit dem Präferenzsystem fur Selbstkorrekturen verbunden. 4 1

4.2.

"Ein Durchforsten im Nebel trüber Unbestimmtheit": Unbestimmtheitstoleranzen und Verstehensvorgaben

Den Interagierenden stehen also verschiedene Strategien zur Verfugung, um Verstehensprobleme zu signalisieren und Reparaturen zu initiieren. Jedoch muß betont werden, daß nicht jedes Verstehensproblem geäußert und interaktiv relevant wird. Die Rezipienten können auch zunächst einmal Verstehen 'vorgeben' in der Hoffnung, daß es sich im weiteren Verlauf der Sequenz retrospektiv einstellt. Diese Strategie des Vorgebens von Verstehen trotz mangelnder oder unbestimmter Sinnzuschreibung tritt selbstverständlich auch in intrakulturellen Kommunikationssitua-

40 Zur ethnomethodologischen Analyse von Nichtübereinstimmungen vgl. Pomerantz 1975. 41 Diese Strategie der Fremdparaphrasen, die bei Corsaro (1977) zu den 'clarification requests' gerechnet wird, wird häufig von den Erwachsenen zur Verstehensüberpriifung in Interaktionen mit Kindern verwendet. Als Grund für den gehäuften Gebrauch solcher 'clarification requests in Eltern-Kind-Interaktionen gibt Corsaro (1977:195) die unterschiedlichen 'sozialen Welten' von Erwachsenen und Kindern und das Nichtvorhandensein gemeinsamer 'taken for granted' Perspektiven. Sicherlich führt die Abwesenheit gemeinsamer kultureller Lebenswelten - sei dies nun zwischen Kindern und Erwachsenen oder Angehörigen verschiedener Kulturen - zu einer hohen Frequenz an Verständigungssicherungstechniken.

109

tioncn auf. W i r lassen in Gcsprächen häufig bestimmte Ambiguitäten und Unbestimmtheiten passieren, bevor wir Klarheit hinsichtlich der Interpretation einer Äußerung erzielen. 42 Der Sinn von Alltagsäußerungen ist "strukturell ungewiß, weil er von der sich immer erst allmählich entwickelnden Verlaufsfigur der jeweiligen Anwendungsgelegenheiten abhängig ist": Gleich dem S i n n jedes gegenwärtigen Zustandes der Dinge schließt der Sinn dessen, was eine Feststellung hier u n d jetzt behauptet, die vorweggenommene, obwohl nur umrißhaft bekannte Z u k u n f t m i t ein, die erst dann deutlicher hervortritt, wenn ihr weitere Bezugnahmen auf sie erwachsen sein weiden. Der gegenwärtige Sinn der Alltagsfeststellung wird durch die Bereitschaft des Benutzers inspiriert und auf dem laufenden gehalten, in der stufenweisen Verwirklichung ihres Sinnes durch weitere Ausarbeitung und Abhandlung fortzufahren. (Garfinkel 1 9 8 0 : 2 0 9 )

Da häufig im Moment der Äußerungsproduktion die Bedeutungszuschreibung für den Rezipienten noch unklar ist, wartet dieser auf weitere Äußerungen, mit der Hoffnung auf eine spätere Klärung dieser momentanen Vagheit. Diese Ausführung Garfinkeis basiert auf der Schütz'schen Annahme von 'prospektiver' und 'restrospektive' Sinnherstellung: 4 3 Gewisse Äußerungssegmente, die momentan noch unklar sind, werden im Fortgang der Interaktion geklärt, d.h. die Sinnherstellung erscheint 'zeitlich verschoben*. Doch gerade in interkulturellen Kommunikationssituationen, wo die "Unterstellung von Typikalität und Gleichheit von Erfahrungsmustern aufgrund ähnlicher Relevanzsysteme der Mitmenschen und Zeitgenossen" (Schütz/Luckmann 1979:277) u.U. problematisch wird 4 4 und wo lernersprachliche Defizite und unterschiedliche soziokulturelle Wissensbestände die prospektive und retrospektive Sinnerschließung erschweren, ist eine höhere Toleranz an Unbestimmtheit erforderlich. Liberman (1984:55) beschreibt in seiner Arbeit zur Hermeneutik der interkulturellen Kommunikation die Rolle dieser "indeterminacy in strange discourse" wie folgt: Strange discourse makes observable the primordial origins of understanding. It reveals the character of meaning as an athmosphere which dissipates when scrutinized closely, or as Husserl (...) has reported, we are led to observe how 'an empty mist o f dim indeterminacy gets studded over with intuitive possibilities or presumptions.' Here understanding is not always precise, yet it is semantically pregnant and bears the temporal character o f being oriented to what possibilities may mature ahead in the talk. (Liberman 1 9 8 4 : 5 5 )

Das "Durchforsten im Nebel trüber Unbestimmtheit" mit intuitiven und prophylaktischen Sinnzuschreibungen ist aufgrund der vermehrten Unbestimmtheitsstellen für interkulturelle Begegnungen geradezu charakteristisch.^ Häufig erhält man in solchen Situationen mit 'getrübter Sinnherstellung' zwar eine vage Vorstellung vom Bedeutungskontext der betreffenden Äußerung, doch eine klare Bedeutungszuschreibung ist nicht möglich. Indem ich meinem Gesprächspartner nun Verstehen signalisiere und ihn mittels Hörersignale zur Fortsetzung seiner Sprechhandlung bewege, hoffe ich, daß sich das Verstehensproblem, bzw. der 'Nebel der Unbestimmtheit' lösen wird. Diese Technik, die von Hinnenkamp (1989:76) zu den 'kontrakonfliktiven Methoden' gerechnet wird, verweist darauf, daß "nicht immer wieder an jedem zweifelhaften Punkt nachgehakt werden kann", um Verstehen zu sichern, sondern daß neben der Verstehens42 Cicourel (1970:148). 43 Vgl. hierzu Luckmann (1986b:55). 44 Vgl. hierzu Kapitel 1.4. 45 Liberman 1984.

110

Sicherung andere Phänomene wie 'positive Selbstdarstellung', 'Gesichtswahrung' oder "phatische Aufrechterhaltung des Gcsprächsablaufs" wichtige Interaktionsprinzipien darstellen. Damit dieses 'Vorgeben von Verstehen' mit Hoffnung auf baldigen Eintritt von Klärung funktioniert, ist die Beherrschung bestimmter sequentieller Aspekte des Diskurses zentral. Anhand von Interaktionssequenzen zwischen Immigranten und Muttersprachlern in den USA zeigt Scharchella (1980; zitiert in Liberman 1985:171), daß diese Lerner, trotz geringer Englischkenntnisse, in der Lage sind, kohärente Interaktionssequenzen zu produzieren, ohne dabei die Äußerungen der nativen Sprecher im Einzelfall genau zu erfassen. Im folgenden Beispiel unterhält sich der Amerikaner Robin mit dem Lerner Miguel: Robin: Miguel: Robin: Miguel:

Are you studying Greek right now? It's very interesting. Did you study Greek? Yes.

Miguel verfugt über die Fähigkeit, seine Beiträge sequentiell angemessen zu produzieren, den Sprecherwechsel ohne Auffälligkeiten zu meistern und mittels sehr allgemeiner, ja geradezu 'passe-partout'-Außerungen sowie bestimmter Mimik und Gestik Verstehen vorzugeben. Die Technik der Vorgabe von Verstehen bei nur vager (bzw. fehlender) Sinnzuordnung wird in meinen Daten sowohl von den chinesischen als auch von den deutschen Teilnehmenden verwendet. Im folgenden Transkriptausschnitt gibt der Chinese Xu zunächst Verstehen vor (9): XU IG: 15-16 2 3 4 5 6 7 8 9Xu: 10G: 11 12 13Xu: 14G: 15 16 17 18 Xu:

und (1.8) kriegt man das dann ANGEBOTEN', oder muß man sich dann da bewerben, wenn man also gut genug isch und man weiß man würde jetzt gerne in Europa oder in Amerika studieren, dann kann man ja, (kammer)' muß man dann einen ANTRAG stellen' oder kriegt man dann gesagt - äh du bist gut GENUG - du KANNSCHT wenn du willscht? mhm. muß man sich da SELBER drum kümmern' oder wird einem das angeboten? (4.5) nicht verstehen hihihi Entschuldingung/hhehh/ /hihi eh/ naja - drum drum REDEN wir ja hihi eigendich, damit man - nein ich wa'- ich versuch zu erklären es gibt bei uns sehr viele Möglichkeiten ja

Wie ScheglofF et al. (1977:373) in ihrer Analyse von Reparatursequenzen verdeutlichen, werden Fremdinitiierungen von Reparaturen sofort im nächsten Redezug nach der Problemäußerung

Ill

geliefert. Folgt nach einer Äußerung keine Reparaturinitiierung, so kann der Sprecher in der Regel davon ausgehen, daß keine Verstehensprobleme vorliegen. Dieser Eindruck wird durch die Produktion erwarteter Hörersignale wie 'mhm' oder 'ja* verstärkt. Zwar gibt es keine direkte semantische Zuordnung von 'mhm' zu 'ich habe verstanden', 46 doch wird in der Kombination dieser Hörersignale mit dem Nichtinitiieren von Reparatursequenzen die Abwesenheit von Verstehensproblemen kontextualisiert. In konkreten Interaktionssituationen sind Momente des reinen Vorgebens von Verstehen nur dann herauszufíltern, wenn sich dieses Nichtverstehen sequentiell bemerkbar macht, d.h. wenn die Strategie mißlingt und die Verstehensvortäuschung retrospektiv entlarvt wird. Da Xu mit einer Zustimmung auf eine Oder-Frage reagiert (9), wird sein Nichtverstehen 'entlarvt'. G produziert nun eine Reparatur seiner Frage, in der Hoffnung, das mangelnde Verstehen herzustellen (10-11). Bezeichnend für die Reparatur ist die Oder-Wahlform, die dem Rezipienten die Antwort erleichtern soll. Indem G beide Alternativen verbalisiert, kann sich Xu ohne mit eigenen Produktionsproblemen zu kämpfen - die gewünschte Alternative auswählen.47 Die lange Schweigephase (12) auf G's Frage verdeudicht jedoch weitere Verständnisprobleme des Lerners. Schließlich wird die Schweigesequenz unterbrochen (13), und Xu gesteht sein Nichtverstehen ein. Die metasprachliche Thematisierung des Nichtverstehens ist begleitet von einem Kichern und einer Entschuldigung, wodurch Xu verdeudicht, daß er die Verantwortung für den Gesprächszusammenbruch übernimmt. G's Kichern sowie sein 'naja' (14) stellen eine beschwichtigende und zugleich gesichtsschützende Geste dar. Hat ein Rezipient erst einmal eine Problemäußerung ohne Klarifíkationsauíforderung passieren lassen oder gar Verstehen vorgegeben, ist ein späteres Eingeständnis des Verstehensproblems gesichts bedrohend: Once one hai let some confusing talk pass without repair, or has not admitted one's failure to comprehend part of the discussion, it becomes necessary to preserve the appearance of being a competent partner by acting as if everything was comprehensible. (Liberman 1984:77)

Auf selten der deutschen Muttersprachlerinnen fand sich in meinem Korpus lediglich ein Beispiel fur die Vorgabe von Verstehen:48 XU 17 IXu: 2 3G: 4G: 5Xu: 6 7Li:

aber jetzt in Schina gebt es eine - eh nicht so VIELE Studenten AUCH nach ins Ausländer stud/ieren/ /hm./ Auslandsstudium. ja, Studium, SELBST (1.0) WENN dieser Studieren' kann in Ausländer leben? dann selbst auch nach andres Ausland

46 Schegloff (1982:88). 47 Oder-Wahlfragen erlauben den Lernerinnen aus einer Liste potentieller Topiks zu wählen und erleichtern dadurch die Antwort. Siehe auch Long (1983a:180-181). 48 Die Tatsache, daß hier lediglich ein Beispiel zu Gnden ist, heißt jedoch nicht, daß es keine weiteren Fälle der Vorgabe von Verstehen auf Seiten der deutschen Gesprächsteilnehmerinnen gäbe. Sicherlich sind interkulturelle Situationen voll von Halb- und Grobverstehen. Doch 'entlarvt' und damit explizit wird lediglich ein einziger Fall eines deutschen Gesprächsteilnehmers.

112

8Xu: 9 lOXu: 11G: 12Xu: 13G: 14Li: 15G: 16 17 18 19Xu:

oder an andere Ausland studieren. (2.0) /ja'/ /mhm/ ja verstehst? ja: η bißehen schwierig /HHHIHI/ - er muß selbst /HAH AHA/ auch WOLLEN - eh - der Student oder die Studentin die im Ausland studieren will muß sich dann schon auch ein wenig drum kümmern und muß sagen ich WILL das machen? ja.

G benützt in diesem Gesprächsausschnitt zunächst Strategien der impliziten Signalisierung eines Verstehensproblems. An konditionell relevanten Stellen erfolgt weder ein Rezipientensignal noch eine Redezugübernahme (Zeile 9). Die Schweigephase (Zeile 9) wird von Xu und G gleichzeitig beendet. Xu produziert ein Element ('ja") zur Elizitierung von Rezipientensignalen; G gibt mit seinem 'continuer* (11) die Sprecherrolle an Xu zurück. Gleichzeitig akzeptiert G dadurch die vorhandene Vagheit im Verstehensprozeß. Die spärliche Reaktion G's sowie die vorausgehende Pause (2.0) läßt bei Xu die Vermutung aufkommen, daß dieser Verstehensprobleme haben könnte. Zeile 12 verdeutlicht Xu's Interpretation der Gesprächsdiskontinuität: 'ja verstehst?'. Erst jetzt verbalisiert G sein Verstehensproblem. Da das offene Thematisieren von Verständigungsschwierigkeiten, die auf die defizitäre Sprachproduktion des Lerners zurückzufuhren sind, fur diesen einen gesichtsbedrohenden Moment beinhalten, schwächt G sein Zugeben von Verstehensproblemen mit dem 'understater' 49 'n' bißehen' ab, um auf diese Weise die Proposition des bezeichneten Sachverhalts 'herunterzuspielen'. Auch sein leichtes Lachen hat ein abschwächendes Moment. Im Anschluß an die Lachsequenz produziert G seine Interpretation der Problemäußerung und bietet diese zur Ratifikation an. Die Fremdparaphrase verdeutlicht, daß G die Problemäußerung vage verstanden hat und nicht völlig 'im Dunkeln tappte'. Welche Faktoren das Vorgeben von Verstehen beeinflussen und welche wiederum die Initiierung einer Klarifikationssequenz auslösen, wäre eine spannende Fragestellung für weitere Untersuchungen. Sequentielle Gründe scheinen dabei eine wesentliche Rolle zu spielen: Das Vorgeben von Verstehen mittels 'mhm' bzw. 'hm' oder 'ja' ist nur an Diskursstellen möglich, wo entweder ein Hörersignal, eine Ratifikation der Äußerung oder eine Ja/Nein-Antwort erwartbar ist. Ein entscheidender Faktor, der die Vorgabe von Verstehen beeinflußt, spielt sicherlich auch der gesichtsbedrohende Charakter des Eingestehens von Nichtverstehen auf Seiten der Lernenden. Ein anderer Faktor könnte das thematische Interesse sein: Je engagierter die Interagierenden sind, desto wichtiger die Verstehenssicherung bzw. die Herstellung gemeinsamer Bedeutungszuschreibung. Beim 'small talk', wo die genaue inhaldiche Erfassung der Themen weniger

49 Understater stellen Modalitätsmarkierungen dar, die den möglichen perlokutiven Effekt einer Äußerung abschwächen sollen. Vgl. hierzu Kasper (1981:108).

113

wichtig erscheint als die phatische Aufrechterhaltung des Gesprächs' 0 und wo 'Beziehungsaspekte' wichtiger als 'Inhaltsaspekte' sind, ist eventuell die Versuchung größer, Verstehen vorzugeben, um die Reibungslosigkeit des Gesprächs nicht zu stören. In interkulturellen Begegnungen mit asymmetrisch verteilter Sprachkompctenz und unterschiedlichem soziokulturellen Hintergrundswissen wird von den Interagierenden eine größere Unbestimmtheitstoleranz' 1 benötigt, als dies in intrakulturellen Gesprächen der Fall ist. Das "Durchforsten im Nebel trüber Unbestimmtheit" stellt höhere Anforderungen an die Teilnehmenden.' 2 Weit mehr Unbestimmtheitsstellen müssen gefüllt, korrigiert und offengelassen werden, und die Sinnherstellung erfordert aufgrund der Infragestellung bisheriger Selbstverständlichkeiten größere Anforderungen.

4.3.

Verstehensprobleme aufgrund divergierenden soziokulturellen Hintergrundwissens

" ( . . . ) U n d eine S p r a c h e vorstellen heißt, s i c h Lebensform vorstellen." (Wittgenstein 1 9 8 4 : 2 4 6 )

eine

Die Ursachen der bisher genannten Schwierigkeiten bei der Aushandlung von Bedeutung lagen im grammatisch-lexikalischen

Bereich und konnten auf lernersprachliche Defizite im Pro-

duktionsbereich (mangelnde lexikalische Kenntnisse, Ausspracheschwierigkeiten, Probleme im Satzbau, Ungenauigkeit in der Referenz) und im Rezeptionsbereich (mangelnde Hörverständnisfertigkeiten, lexikalische Defizite) zurückgeführt werden. Eine weitere Ursache fur Verstehensschwierigkeiten oder Fehlinterpretationen, die lokal gelöst werden, liegt im divergiereden kulturellen Hintergrundwissen begründet.' 3 Bestimmte Äußerungen sind nicht mit den soziokulturellen Erfahrungen und Erwartungen zu vereinbaren; die Gesprächspartner teilen nicht dieselben 'sozialen Präsuppositionen' (Goffman 1983:2). Wie in 4.2. gezeigt wurde, hinterläßt jede Äußerung gewisse Unbestimmtheitsstellen, die in der Regel aufgrund der Prinzipien der Austauschbarkeit der Standpunkte und der Kongruenz der Relevanzsysteme - d.h. bei geteilten Wissensbeständen und den damit verbundenen Erwartungen an die spezifische Situation - angemessen gefüllt werden können. In interkulturellen Kommunikationssituationen treffen jedoch gelegentlich divergierende Wissensmodelle - bzw. in der Termi-

50 Jordan/Fuller (1975:27). 51 Siehe auch Long 1983a zur erhöhten Toleranz von Ambiguitäten in Interaktionen zwischen Muttersprachlerinnen und Lernerinnen. 52 Damit soll jedoch nicht behauptet werden, daß hohe Vagheitstoleranzen lediglich in interkulturellen Kommunikationen gefordert werden. Auch in intrakulturellen Kommunikationssituationen unter erschwerten Bedingungen (sei es bei schlechten Telefonverbindungen, in Kommunikationssituationen mit Personen, die bestimmte Sprachstörungen haben, oder in Gesprächen mit Kindern) tritt ein hohes Maß an konversationeller Unbestimmtheit auf. 53 Hierzu auch Givon (1989:323ff.).

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nologic von Schütz (1972:54): unterschiedliche 'Zivilisationsmuster des Gruppenlebens' aufeinander. In der Anthropologie (Bateson 1985), Soziologie (Goffman 1974), Linguistik (Hymes 1974; Tannen 1979; Fillmore 1982), Psychologie (Neisser 1979) und KI-Forschung (Minsky 1980; Winston 1984) werden Repräsentationen typisierter Wissensbestände - in Anehnung an Bateson - als 'frame'5 4

bezeichnet. Verständigung gelingt aufgrund der Unterstellung weitgehend

geteilter Typikalitätsstrukturen zwischen den Interagierenden. Zur Verdeutlichung des 'frame'Begriffs fuhrt Bateson (1985) folgendes mittlerweile als klassisch geltendes Beispiel an: Ein Affe kann und muß wissen, mit welchem Aktivitätstyp das Verhalten eines anderen Affen assoziiert werden kann. So muß er erkennen, ob ein Biß eines anderen Affen als 'Kampfansage' oder als 'Spiel' zu interpretieren ist. 'Kampf und 'Spiel' stellen alternative 'frames' dar und schreiben der Aktivität 'Beißen' unterschiedliche Bedeutungen zu. In Kommunikationssituationen sind Menschen mit ähnlichen interpretativen Aufgaben konfrontiert: Wollen wir wissen, wie eine Äußerung oder ein Begriff zu verstehen ist, so müssen wir den Rahmen der Aktivität bzw. den semantischen Rahmen des Begriffs kennen. Wie Arbeiten zur Künsdichen Intelligenz geht auch die 'frame semantics' und andere mit dem 'frame'-Konzept arbeitenden Ansätze davon aus, daß bisherige Erfahrungen und Wissensrepertoirs im menschlichen Gehirn nach bestimmten Organisationskriterien gespeichert sind und die Informationsverarbeitung steuern. Folglich betreten wir Interaktionssituationen keineswegs als naive Teilnehmer, sondern als soziokulturelle Wesen, deren frühere Erfahrung als 'organisierte Masse' (Tannen 1979) gespeichert ist. A F R A M E is a data-structure for representing a stereotyped situation like being in a certain kind of living room or going to a child's birthday party. Attached to each frame are several kinds of information. Some of this information is about how to use the frame. Some is about what one can expect to happen next. Some is about what to do if these expectations are not confirmed. (Minsky

1980:1) Gehen wir beispielsweise in ein Restaurant, so erwarten wir, daß ein/e Kellnerin auftaucht und unsere Bestellung entgegennimmt. Ferner rechnen wir damit, daß jede Person im Anschluß an ihre Bestellung die von ihr gewünschten Gerichte erhält, daß sie Messer, Gabel und Löffel bekommt und ihr Essen bezahlen muß. Diese Erwartungen sind Teil unseres soziokulturell gespeicherten Wissens zum

Restaurant-Rahmen.55

Berichten nun deutsche Sprecherinnen und

Sprecher von einem Restaurantbesuch, so gehen sie davon aus, daß die Rezipienten nicht erst darüber informiert werden müssen, daß im Restaurant Tische und Stühle stehen und daß eine Kellnerin k o m m t , der man die Bestellung übergibt. Zum chinesischen Rahmen eines 'Restaurantbesuch' gehört dagegen, daß die Gerichte gemeinsam ausgewählt und in die Mitte des Tisches gestellt werden. Mit Eßstäbchen nimmt man sich Stücke von den gemeinsamen Gerichten ins eigene Schälchen, und will man jemandem gegenüber besonderen Respekt er-

54 Andere Beßrifflichkeiten, die im Zusammenhang mit der mentalen Organisation von Wissen auftauchen, sind 'Schemata, 'Skript' und 'Szenarien'. Wie Tannen (1979) verdeudicht, stehen sich mit den verschiedenen Begriffen jedoch keineswegs konkurrierende Konzepte gegenüber. Zu den BegrifFsunterschieden und Einordnungen siehe auch Brown/Yule (1983:241-250). 55 Tannen (1979:138ff.).

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weisen, so legt man ihm die besten Stücke in sein Schälchen. Der soziokulturelle Rahmen eines Restaurantbesuchs und die damit verbundenen Erwartungsstrukturen variieren bei Chinesen und Deutschen. Für die Analyse interkultureller Kommunikationssituationen scheint mir das Rahmen-Konzept insofern nützlich, als davon ausgegangen wird, daß Interpretationen und Inferenzen auf Erwartungsstrukturen basieren, die kulturspezifisch organisiert sind. 56 Um Begriffe wie 'fandian' tììJjj bzw. 'fanguan' {¡Ë'fë (Restaurant) adäquat zu verstehen, muß ich mit den sozialen und kulturellen Erwartungsstrukturen vertraut sein. Fillmore (1982:119) spricht in diesem Zusammenhang von 'motivated context', d.h. einer bestimmten Kategorie oder einem bestimmten Begriff liegt eine Verstehenspraxis zugrunde, die auf kulturellen Erfahrungen, sozialen Institutionen, Alltagskonventionen etc. basiert. In Interaktionen unterstellen wir im allgemeinen die Reziprozität der Perspektiven, d.h. wir gehen davon aus, daß die Interaktionspartner über dasselbe grundlegende Wissen und über gleiche Mittel der Kommunikation verfugen. 57 Gleichzeitig wissen wir, daß diese erste Annahme eingeschränkt werden muß, da soziales Wissen ungleich verteilt ist, und kulturelle, soziale und individuelle Unterschiede in der Wissensverteilung und den kommunikativen Ressourcen auftreten. 58 Hinsichtlich interkultureller Begegnungen wissen die Teilnehmer zwar (aufgrund früherer Erfahrungen oder durch passives Wissen), daß Angehörige anderer Kulturen einen teilweise anderen Wissensstand haben, manche Sachverhalte anders einschätzen und u.U. über defizitäre Sprachkenntnisse verfugen; dennoch wenden sie zunächst meist das Prinzip der Reziprozität an. Diese Unterstellungen der Reziprozität können in interkulturellen Gesprächen jedoch als Fehleinschätzungen relevant werden und zu interkulturellen Mißverständnissen fuhren. Ich werde im folgenden exemplarisch einige Gesprächsausschnitte betrachten, die Verständigungsprobleme und Rahmenkonflikte im Zusammenhang mit divergierenden soziokulturellen Erfahrungen und kulturspezifischen Interpretationsleistungen aufweisen. Mißverständnisse in interkulturellen Situationen erhalten nicht selten unfreiwillig einen BrechungsexperimentCharakter im Garfinkeischen Sinne: Der als selbstverständlich angenommene Hintergrund und die Erwartungsstrukturen werden als kulturspezifisch entlarvt. Es entsteht eine Art 'Selbst-Referenz' auf die eigenen Rahmen-Inhalte und deren kulturelle Bedingtheit. Im folgenden Gesprächsausschnitt berichtet der Chinese Yang von den jungen Leuten auf dem Land, von ihren Wünschen und Hoffnungen. Gesprächspartnerinnen sind die Chinesin Tan, sowie die Deutschen D und A: YANG 12 22Yang: sie möchten mehr von der also eh junge Leute 23 in Städten lernen, sie möchten auch d die: eh 24 Disko 25D: mhm 56 Fillmore 1982. 57 Schütz/Luckmann (1984:142ff.). 58 Keppler/Luckmann (1990:1).

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26Yang: 27 28D: 29Yang: 30 31A: 32Yang: 33 34 35 36 37 38D: 39Yang: 40A: 41 Yang:

möchtcn auch S I N G E N , möchtcn auch FREIES LIEBE. (0.2) mhm aber das ist also im eh auf dem Land aber das ist ziemlich - geschlossen mhm zwar sie haben schon eh: einige machen Sachen zum Beispiel T V (ja') Kühlschrank und - eh sehr GROßE W O H N U N G E N und auch viel verdient, aber die dort die: eh Einrichtungen und die Umwelt - kann die:::: eh die Wü die Wün W Ü N S C H E nich er/fiillen/ /die/ junge Leute nicht erfüllen. ja. klar. D E S H A L B gibt es die Konflikte.

47D: 48 49 50 51 52Yang: 53D: 54 55 56 57Yang: 58 59 60 61A: 62Yang: 63 64Tan: 65Yang: 66Yang: 67D: 68 69Tan: 70Yang: 71D: 72 Yang: 73 74 75D: 76Yang: 77 78Tan: 79Yang: 80D:

ja un un wenn du gerade sa eh findest du WIRKLICH daß der Unterschied so G R O ß ist, von wegen freie Liebe in der S T A D T und daß es aufm Land viel W E N I G E R möglich is eh::/m/ /oder/ is nich auch der eh die Tradition eh ich mein die Menschen sind mehr oder weniger die gleichen, auch wenn sie weniger Möglichkeiten haben hihi, in China is sch schwer zu sagen, des is in diese einige Jahren be be besonders in diese zehn Jahre is sehr sehr - sehr sehr stark GEÄNDERT mhm Tradition - und auch Gewohnheit und /auch/ /JE J E T Z T / find ich I i : i:/ /lieben/ sehr sehr stark geändert als früher, des/halb/ /inner/halb von Z E H N Jahren soVIEL. JA von /zehn/ Jahren von zehn Jahren /ja?/ auf dem LAND, die meisten (...) sie können doch also ein Lieben haben, aber S C H W I E R eine /FREIES/ LIEBEN zu haben. /mhm/ sie sie sie sind sehr sch sie waren sehr STARK von der - von / der / /ELTERN/ von seinen Eltern, von seiner Verwandten mhm

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81 Yang: 82D: 83Yang: 84 85D: 86 87Yang: 88 89A: 90D: 91Tan: 92Yang: 93A: 94A: 95Yang: 96Yang: 97 98 99 100A: 101 Yang: 102A: 103D: 104A7D: 105A: 106 107Yang: 108A/D: 109Yang: 11 OD: 112A:

also - eh:' - (0.5) (von der) Liebe was heißt FREIE LIEBE? FREIE LIEBE, sie können freie Mädchen fur zum Beisp/iel/ /sie/ können auch wechseln? heißt das /freie Liebe?/ I n nein / WECHSELN das is hihih/hi( )/ / (dann müßt jetzt) / oder was heißt jetzt FREIE LIEBE? /( ruhig..)/ / in China noch nicht so modern / hihi ja was heißt dann FREI? daß man / selber sagen kann, wen man heiraten will ?/ / FREIE LIEBE das heißt eh zum Beispiel/ eh: eh: eh ich möchte ich habe ein Mädchen getroffen, ich möchte also ich liebe eh ich möchte mit diesem Mädchen heiraten ABER meine Eltern möch/ten/ eine AND/ERS/ Imhml /aha/ MÄDCHEN = = des isch / freie Liebe / ++ /WAS? das HIHI/ ist FREIE LIEBE?++ hihihihihihihi bei uns hihi isch freie Liebe viel eh hihi GANZ GANZ anders hihi noch viel viel frei/er/ /ja/ (...) hihihihihihihihi das bei uns so. Imhml /ja/klar.

Hier liegt ein Verständigungsproblem aufgrund kulturspezifischer Besetzungen lexikalischer Phänomene von Die von Yang durchgeführte Lehnübersetzung des chinesischen Begriffs 'ziyou lianai'Ëf ÖJißf'S (freie Liebe) ruft bei chinesischen und deutschen Interagierenden unterschiedliche Rahmen auf. Da kulturell divergierende Verstehenskonzepte mit demselben Begriff verbunden sind, entsteht ein Rahmenkonflikt (clashing of frames)' 9 . An diesem Beispiel wird ersichtlich, wie Gesprächsteilnehmer ihr eigenes Weltwissen (sozio-kulturelles Wissen) beim Inferenzprozeß anwenden. In diesem Zusammenhang könnten nun sozio-historische und kulturelle Erklärungsmuster fur die unterschiedliche Denotation des Begriffs 'freie Liebe* angeführt und Möglichkeiten einer 'konfrontativen Semantik' 60 aufgezeigt werden. In der VR China, wo Ehepartnerinnen noch sehr häufig von den Eltern ausgewählt werden (vor allem auf dem Lande), verweist 'freie Liebe' auf die freie Wahl des Ehepartners. Bei den deutschen Gesprächsteil-

59 Fillmore 1990: Vortrag über 'frame semantics* (gehalten an der University of California, Berkeley, am 12.4.1990). 60 Müller (1981a:9).

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nehmerinnen hat jedoch der Begriff der 'freien Liebe' einen anderen Rahmen (häufig wechselnde Sexual Partnerinnen) evoziert. Betrachten wir einmal genauer, an welcher Stelle das Mißverständnis thematisiert wird: In Zeile 82 fragt D Yang nach seiner Definition von 'freier Liebe'. Der Nachfrage geht die Äußerung Yang's voraus, in der er die Schwierigkeit der 'freien Liebe' in Zusammenhang mit der Abhängigkeit von den Eltern sieht (73-79). Dieser Zusammenhang, der in Bezug auf das chinesische Konzept der 'freien Liebe' relevant ist, macht fur das deutsche Konzept wenig Sinn. Der mangelnde Relevanzbezug dürfte die Ursache sein, weshalb D nun zu einer Klärung ansetzt. Beim gemeinsamen Aushandeln der Begriffsunterschiede wird ersichtlich, daß zum semantischen Rahmen der 'freien Liebe' im Deutschen das Stichwort 'Wechseln' (85) gehört, während im Zusammenhang mit dem chinesischen Konzept die Begriffe 'Heirat' und 'Eltern' genannt werden. Das in 1.4. vorgestellte, auf die Arbeiten von Schütz aufbauende Konzept der Durchbrechung des 'Denkens-wie-gewohnt' 61 wird in diesem Textsegment ersichtlich: Für Teilnehmer interkultureller Gespräche bilden die eigen kulturellen 'Zivilisations- und Kulturmuster' weiterhin das unhinterfragte Bezugsschema zur Interpretation kommunikativer Handlungen. Kommunikative Aktivitäten, Kontextualisierungshinweise und bestimmte sprachliche Konzepte werden zunächst aufgrund des eigenkulturellen Bezugsschemas interpretiert. Erst beim Auftreten von Unstimmigkeiten beginnen die Partizipierenden dieses Bezugsschema zu hinterfragen. Im folgenden Gesprächsausschnitt kommen Verständigungsschwierigkeiten im Zusammenhang mit dem semantischen Rahmen 'Hochzeit' auf. Im chinesischen Kontext stellt eine Hochzeit (hunli) ^L ein enormes finanzielles Unterfangen dar. Häufig finden sich in chinesischen Zeitungen Artikel über die hohe Verschuldung vieler Familien durch die Hochzeit ihrer Kinder. Das Brautpaar und dessen Eltern geben oft einige Jahresgehälter fur die Hochzeitsfeier und die notwendigen Anschaffungen aus. (Ein Ehepaar heiratet in der Regel erst dann, wenn sämtliche zur Aussteuer notwendigen Utensilien erstanden sind. Je nach sozialem Status der Familien gehören zur Aussteuer neben den Möbeln auch Haushaltsgeräte wie (Farb-)Fernseher, Kühlschrank, Nähmaschine, Waschmaschine und Videoanlage62.) Im Transkriptausschnitt DU 12 unterhält sich Frau Du mit den Deutschen A und E über Bedingungen, die ein Mann erfüllen muß, damit sie ihn als seriösen Heiratskandidaten ansieht. Du erwähnt folgende drei Bedingungen: Erstens muß er Du lieben, zweitens müssen die Eltern einverstanden sein und drittens "muß er sich vorbereiten für die Heirat":

61 Schütz (1972:60). 62 Die Reihenfolge der aufgezählten Geräte entspricht der Sozialhierachie. Ehepaare schieben nicht selten die Hochzeit hinaus, bis sämdiche ihrem sozialen Stand entsprechenden Geräte gekauft sind. Als Ausländerin in China wurde ich einige Male gebeten, ein Farb-Fernsehgerät aus der Bundesrepublik mitzubringen, da der chinesische Bekannte heiraten wollte und seine Braut auf ein Farb-Fernsehgerät als Teil der Aussteuer bestand. Da man in China - aufgrund der großen Nachfrage - auf Farb-Fernsehgeräte häufig einige Monate oder Jahre warten muß und der Bekannte so bald wie möglich heiraten wollte, hoffte er auf Hilfe durch seine West-Kontakte.

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D U 12 39Du: 40 41 E: 42Du: 43 44 45 46 47 48E: 49Du: 50 51

und dann drittens ja. muß er sich natürlich auch eh::: ' etwas vorbereiten fiir die Hei((hi))rat eh was heißt das? eh:m das heißt (0.5) eh: eh er muß ja Möbel kaufen' und da dadurch zeigt eh KANN er auch seine eh: *zangyu zemma shuo* das heißt kann er auch zeigen, zeigen, daß er mich wirklich heiraten will. (1.0) ACH JA? uhhum. wenn man eh wenn man eine Person heiratet und hat nichts zu Hause' wie kann

Mit der dritten Bedingung, die ein Mann erfüllen muß, um als Gatte in Betracht zu kommen (39-40), aktiviert Du den für Chinesen sofort verständlichen Rahmen der 'Hochzeit' mit der dafür notwendigen Aussteuer. Für deutsche Interaktionsteilnehmenden, denen diese Hintergrundinformation fehlt und deren Rahmen 'Hochzeit' die zur Aussteuer gehörigen Möbelstücke sicherlich nicht als prototypische Merkmale enthält, 63 erzeugt diese Äußerung Verstehensschwierigkeiten. E's Reaktion "eh was heißt das?" (41) stellt eine explizite Klarfikationsaufforderung dar. Du produziert nun ihre Erläuterung (42-47): Durch den Kauf der Aussteuer (Möbel) signalisiert der Partner seine ernste Absicht. Die nach Du's Äußerung verspätet (nach einer Schweigephase von 1.0 Sek.) eingesetzte und prosodisch markierte (Erhöhung der Lautstärke und steigende Tonhöhe) Partikelkombination 'ACH JA?' (47) läßt E's Erstaunen und konträre Erwartungshaltung erkennen. In interkulturellen Kommunikationssituationen werden, wie diese Transkriptausschnitte verdeutlichen, unterschiedliche semantische Rahmen aktiviert, da bestimmte Begriffe ("freie Liebe ziyou lianai" θ ; 'Hochzeit - hunli' ) aufgrund kulturspezifischer Erfahrung mit unterschiedlichen Konzepten gefüllt sind. Lexikalische Einheiten sind Teil eines kultursemantischen Netzwerks und somit stets in Abhängigkeit von ihrer kulturellen Einbettung zu betrachten. 64 Zum sprachlichen Wissen treten also neben den rein grammatischen noch weitere Faktoren hinzu, die fur ein erfolgreiches Kommunizieren ausschlaggebend sind: 6 ' 1. Jedes Wort, jede Äußerung ist von sogenannten 'Sinnhorizonten' gerahmt, die den verbalen Ausdruck einerseits "mit den vergangenen und zukünftigen Elementen des entsprechenden sprachlichen Universums" verbinden, und die sie andererseits mit "einem Hof emotionaler Werte und irrationaler Implikationen, die selbst wiederum unaussprechlich bleiben" (Schütz 1972:64), umgeben. 2. Neben den standardisierten - im Lexikon vermerkten - Konnotationen eines Begriffs enthält 63 Zweifelsohne enthielt der Rahmen 'Hochzeit' auch in unserer Kultur in der Generation unserer Eltern und Großeltern u.a. solch prototypische Merkmale wie Aussteuer. Heutzutage stellt die vollständige 'Aussteuer' zumindest innerhalb der intellektuellen Subkultur - sicherlich keine Vorbedingung fürs Heiraten mehr dar. 64 Givon (1989:340). 65 Schütz (1972:64).

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jedes Element eine 'besondere sekundäre Bedeutung', die sich vom jeweiligen Kontext bzw. der sozialen Umgebung, in der das Wort benützt wird, ableitet und es zusätzlich färbt. 3. In einem gewissen Sinne spiegelt sich die sprachliche Geschichte einer Gruppe bzw. Kultur in der Weise wider, wie sie die Dinge ausdrückt; d.h. das 'kulturelle Gedächtnis' (Lotman 1986:856ff.) kommt darin zum Ausdruck. All diese Faktoren, die den Angehörigen einer Kulturgcmeinschaft als Teil ihres kommunikativen Haushalts zur Verfugung stehen und Momente ihres 'Denkens-wie-üblich' darstellen, können in der interkulturellen Kommunikation zu Mißverständnissen fuhren. Im folgenden Transkriptausschnitt diskutieren die Chinesinnen Yang und Tan mit den Deutschen A und D über biologische Unterschiede zwischen den Geschlechtern. A vertritt die These, daß es keine Unterschiede in der Begabung zwischen Frauen und Männern gibt und unterschiedliche Interessen (Technik versus Sprachen) eine Frage der Erziehung und Tradition seien: YANG 22 93A: das stimmt nicht, des is Erziehungssache. 94D: S E H R (sehr) viel Erziehungssache 95A: und Tradition auch 96D: m hm 97Tan: eh: i: ich glaube die M' Männer oder 98 die die Buben oder die die die B E W E G T 99 sich auch m' M E H R a: als - die - die /die/ 1D: /sport/lich 2 meinst du jetzt? beim S P O R T her? oder von was 3 fur einer Bewegung? 4Tan: das be B E W E G U N G , nicht nur Sport, 5 sondern auch - eh:: meistens sind ehm die KNABEN 6 und so so mehr PRA:XIS 7Y/A ((reden zusammen)) (??Bewegung ist??) 8Tan: oder oder auch ja. /Bauern/ 9Yang: /mehr Gelegen/heit mit der 10 Kontakt, eh mit der Welt Kontakt, (zu haben) HD: aha. 12A: also zum Beispiel= 13Tan: = geht auch oft AUS aber (...) In Zeile 97ff. äußert Tan ihre Meinung hinsichtlich eines Unterschieds zwischen Frauen und Männern: "Männer bewegen sich mehr". D hat dabei Verständnisprobleme und demonstriert in Zeile 1-3 ihre Schwierigkeit, die inhaltliche Relevanz der Äußerung zu ermitteln. Als mögliche Interpretation bietet D den 'Sport-Kontext' an: "sportlich meinst du jetzt? beim Sport her? oder von was für einer Bewegung?". Doch fur Tan ist Sport lediglich ein Faktor in der Kategorie 'Bewegung' (Zeile 4). Ein weiteres Element, das zu diesem Rahmen gehört ist 'PRAXIS' (6). A und Yang beginnen eine kurze Nebensequenz (7) über die Bedeutung von 'Bewegung'. Danach liefert Tan ein weiteres Merkmal des semantischen Rahmens: 'Bauern' (8). Nun greift Yang - als Ange-

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höriger derselben Kultur und als jemand, der über denselben soziokulturellen Wissensrahmen verfugt - mit seinem Definitionsangebot ein (9-10): "Gelegenheit mit der Kontakt, eh mit der Welt Kontakt, (zu haben)". Wir treffen hier zum einen auf ein Folkmodell66 hinsichtlich weiblicher und männlicher Verhaltensunterschiede, das von Yang und Tan als Mitglieder derselben Gemeinschaft geteilt und dadurch auch problemlos verstanden wird. Ferner ist der semantische Rahmen des Bewegungskonzeptes (huo (long) unterschiedlich gefüllt, und die deutschen Gesprächsteilnehmerinnen benötigen weitere Erläuterungen, um diesen Rahmen, der Konzepte wie "Bewegen, Praxis, Kontakt mit der Welt, oft ausgehen ..." beinhaket, in Zusammenhang mit dem Interaktionskontext zu verstehen. Im folgenden Transkriptausschnitt kommen unterschiedliche soziokulturelle Modelle hinsichtlich der 'Heimatverbundenheit' zum Ausdruck: SU 5-6 1A: 2 3Su: 4A: 5 6 7Su: 8A: 9 lOSu: IIA: 12Su: 13A: 14 15Su: 16A: 17Su: 18 19 A:

wie gefällt es eigentlich Ihrer Freundin hier in Hangzhou? ch ch /die/ /die/ ist doch aus Hangzhou?Ihre Freundin? (0.2) jajajaja und - jetzt kommt sie aber zurück aus Xian wieder nach Hangzhou? /ne?/ /eh/ sie hat doch in Xian gelebt? ja und ist das fur sie eine Umstellung? (0.5) fìir eh / mich eh ?/ /von Xian/ ich meine für Ihre Freundin? ((hohe Stimme)) < NEIN. KEINE UMSTELLUNG.» weil eh sie ist schon hier sei von klein auf und hat nur in Xian studiert?

Während es fur die Deutsche A legitim ist, bei jemandem, der fur einige Jahre die Heimatstadt (Hangzhou) verlassen hat, um in Nordwestchina (Xian) zu studieren, nachzufragen, ob die Rückkehr nach Hangzhou eine Umstellung bedeutet, hat Su bei dieser Frage Verstehensprobleme, die auf divergierende Erwartungshaltungen zurückgehen: Man kommt doch aus dieser Gegend. Das ist die Heimat. Selbst wenn man nach vielen Jahren zurückkehrt, ist das noch immer die Heimat. Der Umzug in eine fremde Stadt ist eine Umstellung, doch nicht in die Heimat. W i r Chinesen sind sehr heimatliebend. Wenn jemand sagt, seine Rückkehr 66 Folkmodelle' verstehe ich in Anlehnung an Quinn/Holland (1987:4) als verfestigte Formen soziokulturellen Wissens bzgl. bestimmter Alltagsphänomene. Sie repräsentieren "taken for granted models that are widely shared (...) by members of a society and that play an enormous role in their understanding of that world and their behavior in it" (Quinn/Holland 1987:4).

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in die Heimat sei eine Umstellung, dann würde man sich sehr wundern. Deshalb habe ich nicht genau verstanden, weshalb A so eine Frage stellt. (Su, als ich ihm diesen Gesprächsausschnitt vorlegte.)

Kulturspezifische Erwartungsstrukturen haben u.U. zu Su's Fehlinterpretation des Pronomens 'sie* (Zeile 11) gefuhrt: Statt eines Pronomens der 3. Person feminin, interpretiert er es als Höflichkeitsform der 2. Person: "fur eh mich eh?" (15). Seine folgende Reaktion auf A's Korrektur "ich meine fur Ihre Freundin?" demonstriert sein Erstaunen angesichts der Frage: Durch erhöhte Tonlage und deutlicher Akzentuierung ist diese Äußerung prosodisch stark markiert. 67 Im folgenden Gesprächsausschnitt basiert das Verstehensproblem von Τ u.a. ebenfalls auf unterschiedlichen soziokulturellen Erwartungsstrukturen. MA 1 IMa: 2 3 4 5T: 6Ma: 7 8T: 9Ma: 10T: 1 IMa: 12 13 14 15T: l6Ma: 17 18T: 19Ma: 20

wenn wir Doktorgrade in Deutschland bekommen und zuruck nach Schina fahren habn wir ehm:::::::: haben wir genug. hehhihhehehe ja. eh::m genug was? in ehm Fach Fach gebiet. Im FACHGEBIET habn wir M Macht. MACHT??? ja. hm? zum Beispiel eh wir haben ehm DAMIT ehm ehm der MACHT ehm die Macht e was was Schuch eh Forschungsthema ehm ent entscheiden eh ZU ENT ENTSCHEIDEN mhm unde ehm können wir ehm sehr ver Geld bekommen'zu ehm arbeiten ahha. eh:: unde aber jetzt gibt es ehm (0.5) viele Schwierigkeit

Ma's elliptische Äußerung (das direkte Objekt wird ausgelassen und stattdessen Zögerungs- sowie Kicherpartikeln eingefügt) fuhrt zu einer Klarifikationsaufforderung T's 'genug was?' (5). Nun liefert Ma die ausgebliebene Information 'Macht' (7). Τ hat jedoch weitere Verständnisprobleme und markiert das Problemobjekt 'MACHT?' mit erhöhter Lautstärke, deutlichem Akzent (8) und fragender Intonation, wodurch sie ihr Erstaunen bekundet. Diese Markiertheit des Problemobjekts verdeutlicht, daß Τ andere Erwartungen hatte bzw. den Zusammenhang zwischen dem Thema und der nun gelieferten Korrektur nicht versteht. Doch statt nun eine Begründung des Zusammenhangs von Macht und dem angesprochenen Thema zu liefern, ratifiziert Ma lediglich T's Nachfrage durch ein kurzes 'ja'. Diese Minimalreplik erwidert Τ mit einem kurzen, Skepsis 67 Selting (1987a: 130-131) unterscheidet die Manifestationsformen bei lokalen Verstehensproblemen in prosodisch markierte und unmarkierte Typen: 'Prosodisch unmarkiert' heißt in diesem Zusammenhang, daß die Betreffende Manifestación in einer von den umliegenden Sequenzen gebildet wird. Prosodisch markierte Formen sind diejenigen, die wir intuitiv mit Attributen wie 'erstaunt', 'entrüstet', 'ungläubig' etc. versehen.

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signalisierendes 'hm?' (10), worauf nun Ma eine Erläuterung des Zusammenhangs zwischen 'Macht' und 'Doktorgrad* liefert. (11-17). Wei, eine chinesische Informantin, der ich das Gespräch vorspielte, lieferte folgende Interpretation: M a lacht hier, weil es ihm peinlich ist. Bei uns in China ist es schon seit der Antike eine Konvention, daß die Intellektuellen auf ihren Ruf achten müssen. Dazu gehört, daß sie sich nicht fur materielle und wirtschaftliche Güter interessieren sollen, sonst gelten sie als 'spießig'. N u r die sogenannten 'kleinen Leute' interessieren sich für Macht und Geld. Das führt nun dazu, daß Intellektuelle zwar gerne Macht und Geld besitzen, doch es tabu ist, darüber zu reden.

Die vorgeführten Transkriptausschnitte verdeudichen, daß kulturelle Unterschiede hinsichtlich der konzeptuellen Besetzung eines bestimmten Begriffs und divergierenden Verstehensmodellen zu Verständigungsschwierigkeiten fuhren können. Ursachen fur diese Art der semantischen Rahmenkonflikte liegen sicherlich zum Teil in der angenommenen 'Kongruenz der Relevanzsysteme' und der 'Reziprozität der Perspektiven' begründet, die in Kommunikationssituationen zwischen Angehörigen verschiedener Kulturen nicht immer gegeben sind. Das 'Denken-wie-üblich' (Schütz 1972:58) und die damit verbundene Selbstverständlichkeit der bislang erworbenen 'Kulturmuster' mit ihren sprachlichen Ausdrucksschemata, Sinnhorizonten und Konnotationen wird durchbrochen und in seiner Selbstverständlichkeit hinterfragt. Fremdsprachenlernende sind in der Regel kaum sensibilisiert fur Kulturkontrastc im Bereich semantischer Rahmen. Der traditionelle Fremdsprachenunterricht liefert wenig Hilfestellungen, eigenkulturelle Rahmenkonzepte zu hinterfragen. 68 Stattdessen werden meist fremdkulturelle Begrifflichkeiten in Bezug zur eigenen Kultur gelernt: Die fremdkulturelle Bedeutungseinheit wird gleichgesetzt mit dem muttersprachlichen Korrelat. 69

Zusammenfassung Die Analyse verdeutlichte, daß ein wesentliches Charakteristikum der vorliegenden Gespräche die Orientierung der Interagierenden an der Verstehensaushandlung ist. Die eingangs aufgeworfenen Fragen können folgendermaßen beantwortet werden: Die größte Anzahl von Verstehensproblemen, die die Teilnehmer thematisieren und reparieren, haben lernersprachliche Ursachen. Die Interagierenden sind einerseits bemüht, gegenseitiges Verständnis herzustellen und andererseits bestrebt, den Hauptfluß der Interaktion möglichst wenig zu beeinträchtigen 70 und gesichtsbedrohende Situationen zu vermeiden. Aus diesen Gründen unterliegen die Techniken zur Signalisierung von Verstehensproblemen einem Präferenzsystem: Implizite Techniken werden präferiert; explizite Techniken werden meist erst dann eingeführt, wenn die impliziten 68 Eine gewisse Ausnahme bildet das Lehrwerk "Sichtwechsel - Elf Kapitel zur Sprachsensibilisierung", das u.a. auf kulturspezifische Unteischiede bzgl. bestimmter Begriffe wie z.B. 'Arbeit', 'Freiheit', 'Lebensqualität' eingeht. 69 Müller (1981b:l 16). 70 Auf diesen Aspekt wird in den folgenden Kapitel noch zurückgekommen. Hierzu auch Liberman (1984:60), der betont, daß im interkulturellen Diskurs häufig auf genaues Verstehen verzichtet wird, da man den Gesprächsablauf nicht ständig unterbrechen will.

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erfolglos geblieben sind. Um die Nebensequenz so schnell wie möglich zu beenden und den Hauptfluß des Gesprächs fortzuführen, wird - sofern möglich - eine genaue Lokalisierung der Problemquelle vorgenommen. Ferner wird die Reparatur-Nebensequenz häufig, unmittelbar nachdem Verstehen hergestellt wurde, unterbrochen und die Hauptsequenz fortgesetzt. Ferner zeigen sich bzgl. der Techniken zur Signalisierung von Verstehensproblemen Unterschiede zwischen den deutschen und chinesischen Teilnehmer Die deutschen Teilnehmer verkündigen ihr Nichtverstehen häufig anhand metasprachlicher Formulierungen. Dabei verwenden sie bestimmte prosodische und lexikalische Mittel der Abschwächung (Erhöhung der Sprechgeschwindigkeit, Reduktion der Lautstärke und abschwächende Partikeln).

Ferner bieten sie häufig

Fremdparaphrasen zur Überprüfung ihrer Interpretation der Problemäußerung an. Die chinesischen Lernenden signalisieren ihre Verstehensprobleme dagegen meist mittels bestimmter Partikeln, wie 'ah?', 'was?' oder 'wie?'. Diese Unterschiede werden auf Interferenzerscheinungen aus dem Chinesischen, auf Aspekte lernerspezifischen Sprechhandelns und auf 'face-work'Techniken zurückgeflihrt. Neben den lernersprachlich ausgerichteten Ursachen fur Verstehensprobleme zeigen sich Schwierigkeiten in der Bedeutungsaushandlung, die auf unterschiedlichem soziokulturellen Hintergrundwissen basieren u n d im Bereich des semantischen Rahmens angesiedelt sind. Darüberhinaus verdeutlicht dieses Kapitel, daß in der interkulturellen Kommunikation — aufgrund lernersprachlicher Schwierigkeiten und unterschiedlichen soziokulturellen Wissens beständen — die Bedeutungsaushandlung erschwert wird und von Seiten der Interagierenden eine höhere Toleranz an Unbestimmtheit erforderlich ist. In den folgenden Kapiteln werden nun kulturspezifische Unterschiede in den Diskursstrategien und den Kontextualisierungskonventionen analysiert, die die gemeinsame Aushandlung von Bedeutung zwar erschweren, doch in der Regel nicht direkt als Verstehensproblem thematisiert werden.

5.

Unterschiede in der Diskursorganisation: hua long di an jing ( θ

St )

kai men jian shan ( Jf Π JÄL lil )' D i e u n t e r s c h i e d l i c h s t e n D a r s t e l l u n g e n z u m c h i n e s i s c h e n Gesprächsverhalten -

von

den

Missionarsberichten aus d e m 19. Jhd. über Reisetagebücher bis zu den im Laufe der letzten Jahre a u f g e k o m m e n e n 'business guides', journalistischen Texten u n d wissenschaftlichen Abhandlungen - s t i m m e n darin überein, daß sich der chinesische Diskurs durch "Zirkularität, Indirektheit und Undurchschaubarkeit" auszeichne, u n d man nie wisse 'woran man ist'. 2 Frau Egli, e i n e Schweizerin, die an einer chinesischen H o c h s c h u l e chinesische M e d i z i n studiert, berichtet: Die chinesischen Dozenten scheinen sich bei ihren Ausführungen oft im Kreis zu drehen, ohne daß wir wissen, worauf sie eigentlich hinauswollen. Fragt dann ein ungeduldiger Europäer ' W a r u m erzählen Sie uns all dies? Was hat das fur eine Relevanz fur unser Thema?', so antwortet der Dozent verwirrt: 'Warten Sie und hören Sie zu. Ich erkläre gerade die Hintergründe, die Sie wissen müssen, bevor wir zum heutigen T h e m a kommen.' Vermeer ( 1 9 8 9 : 4 3 ) schreibt über die Schwierigkeiten des D o l m e t s c h e n bei chinesisch-deutschen Verhandlungsgesprächen: Chinesen haben gerade bei geschäftlichen Verhandlungen eine völlig andere Vorgehensweise als wir. Sie gehen niemals direkt auf ein Problem zu, sondern sie kreisen es ein. A n diese B e o b a c h t u n g e n a n k n ü p f e n d m ö c h t e ich der Frage nachgehen, o b chinesische Sprecherinnen u n d Sprecher andere K o n v e n t i o n e n der Diskursorganisation bzw. der 'Informationsverpackung' 3

aufweisen

und

ob

in

interkulturellen K o m m u n i k a t i o n s s i t u a t i o n e n

zwischen

D e u t s c h e n u n d C h i n e s e n divergierende Strategien der Informationsdarlegung, der Strukturierung v o n Redebeiträgen, der Signalisierung v o n H a u p t - u n d N e b e n i n f o r m a t i o n e n , der Herstellung v o n Textkohärenz u n d -kohäsion 4 sowie der Organisation v o n 'gegebenen' u n d 'neuen' Informationen^ aufeinandertreffen. 1

Bei "hua long dian jing" und "kai men jian shan" handelt es sich um chinesische Chengyu (Redewendungen), die im folgenden noch näher erläutert werden. 2 Zu den Schwierigkeiten, dem chinesischen Diskursstil zu folgen, siehe auch Young (1986:8). 3 Informationsverpackung' wird hier im Sinne Chafes (1976) und Lambrechts (1986) verstanden als sprachspezifische Art der Darlegung von Informationen: Aufgrund bestimmter Hypothesen über den Bewußtseinszustand der Rezipienten verpacken' Sprecherinnen ihre Äußerung auf eine Destimmte (strukturelle und pragmatische) Weise, die wiederum Rückschlüsse auf 'gegebene' und 'neue' Elemente, Topik- und Fokusbeziehungen, Definitheit und Indefinitheit etc. zuläßt. 4 Kohärenz bezieht sich auf den pragmatischen und semantischen Textzusammenhang: "A text is a passage of discourse which is coherent in these two regards: it is coherent with respect to the context of situation...; and it is coherent with respect to itself, and therefore cohesive" (Halliday/Hasan 1976:23). Unter Kohäsion sind die sprachlichen Elemente zu verstehen, die Textteile mit andern verbinden, wie die grammatischen Beziehungen der Referenz, Substitution, Ellipse, Konjunktion sowie lexikalische Beziehungen wie Wiederholungen, Synonyme etc. Hallida^/Hasan (1976:299) bezeichnen Kohäsion als "the continuity that exists between one part of the text and another . 5 Unter 'gegeben' bzw. 'aktiv' verstehe ich - in Anlehnung an Chafe (1987) - diejenigen Informationen, von denen die Sprecherinnen annehmen, daß sie zur Zeit der Äußerung im Bewußtsein der Rezipienten sind. Dagegen stellen 'neue* bzw. 'inaktive' Informationen solche dar, von denen die Sprecherinnen annehmen, daß sie sie durch ihre Äußerung in das Bewußtsein der Rezipienten einführen.

126

Einleitend sollen die wenigen sprachwissenschaftlichen Arbeiten, die sich bislang mit Fragen unterschiedlicher Gesprächskonventionen zwischen Chinesen und wesdichen Sprechern befassen, kurz vorgestellt werden, um anschließend die dort vertretenen Thesen anhand meiner Daten zu überprüfen. Kaplan (1966, 1983, 1988) wirft in seinen Arbeiten Fragen nach einer kontrastiven Rhetorik auf,6 wobei es ihm um die Analyse kulturspezifischer Konventionen hinsichdich der Darlegung von Informationen, der Signalisierung von Haupt- und Nebeninformation sowie kulturspezifischer Kohärenzmittel geht. Unterschiedliche Rhetoriktraditionen fuhren - so Kaplan (1966:3) - dazu, daß englischlernende Collegestudenten in den USA, je nach Muttersprache, erhebliche Schwierigkeiten beim Verfassen schriftlicher Arbeiten haben. Die Arbeiten asiatischer Studierender wirken in den Augen amerikanischer Hochschuldozenten häufig 'out of focus*. Den Grund dafür sieht Kaplan (1966:3f.) in der muttersprachlichen Rhetoriktradition begründet, die die Lernenden auf ihre Arbeiten in Englisch übertragen. Anhand einer Analyse von 600 Aufsätzen, die von Collegestudenten verschiedener Kulturgemeinschaften verfaßt wurden, versucht Kaplan (1966) Stildifferenzen bei Angehörigen unterschiedlicher Sprechgcmeinschaften herauszufiltern. Seine Analyse kommt zu dem Ergebnis, daß der 'orientalische Stil' indirekter als der englische sei und von westlichen Interagierenden als 'inkohärent' und 'zirkulär' wahrgenommen werde: Some Oriental writing (...) is marked by what may be called an approach by indirection. In this kind of writing, the development of the paragraph may be said to be 'turning and turning in a widening gyre.' T h e circles turn around the subject and show it from a variety of tangential views, but the subject is never looked at directly. Things are developed in terms of what they are not, rather than in terms of what they are. (Kaplan 1966:10)

Nach Kaplan (1966:15) sieht die Bewegung der Informationsdarbietung im orientalischen Stil wie folgt aus:

6

Rhetoric, then is not universal either, but varies from culture to culture and even from time to time within a given culture. It is affected by canons of taste within a given culture at a given time." (Kaplan 1966:2).

127

Der englische Diskursstil weist dagegen folgendes Schema auf:

\t

Während im englischen Stil zunächst das 'topic statement' eingeführt wird und danach weitere Subthemen, Beispiele und Illustrationen dargelegt werden, die alle zur zentralen These fuhren, zeichnet sich der orientalische Stil dadurch aus, daß er sich ständig um das Thema dreht, ohne es direkt anzugchen. Schließlich endet der Aufsatz mit einer Äußerung, die — in den Augen der englischen Muttersprachler - als Anfängsbehauptung erwartet wurde.7 Zur Absicherung seiner These über den 'orientalischen Stil' fuhrt Kaplan lediglich ein einziges Textbeispiel an. Er läßt uns ferner im Unklaren darüber, was er genau unter 'circles' oder 'gyres' versteht, die anscheinend den orientalischen Stil kennzeichnen. Seine Beschreibungen über den 'zirkulären Stil' bleiben durchweg impressionistisch. Dennoch haben Kaplans Untersuchungsergebnisse sowie sein Plädoyer fur eine kulturkontrastive Rhetorik starke Auswirkungen auf Arbeiten der interkulturellen Kommunikation gezeigt.8 Ferner wird seine These indirekt durch zahlreiche Abhandlungen über das 'chinesische Denken' gestützt, wobei dieses Denken als zirkulär, einkreisend, synthetisch und ganzheidich bezeichnet wird.9 Anknüpfend an Kaplans Arbeiten fuhrt Cheng (1985) eine Untersuchung über den Aufsatzstil chinesischer Englischlernender in Singapur durch. Ihre Analyse von 60 Aufsätzen kommt zu dem Ergebnis, daß die Mehrzahl der Aufsätze chinesischen Rhetorikschemata folgt, und zwar speziell dem folgenden vier-gliedrigen Schema: 1. QI (Chi) 10 (Beginn, Anfang) 2. CHENG (Cheng) (Fortsetzung) 3. ZHUAN (Juan) (Wendepunkt, Darstellung aus einer anderen Perspektive) 4. HE (He) (Zusammentreffen der verschiedenen Perspektiven bzw. Konklusion)

7 8

Kaplan (1966:10-11). Clynes Arbeiten über kulturspezifische Diskursstrukturen, sowie die Dissertation von Cheng (1985) über kontrastive Rhetorik Chinesisch-Englisch lehnen sich stark an Kaplans Thesen an. Vgl. auch Young 1986 und Condon/Yousef ( 1975:243). 9 Siehe u.a. Granet 198510 Bei der Schreibweise in Klammern handelt es sich um die von Cheng benutzte amerikanische Umschrift. Im folgenden wird jedoch die Pinyin-Umschrift verwendet.

128

Im Gegensatz zu englischen Aufsätzen, die drei-gliedrig aufgebaut sind (Einleitung, Hauptteil, Schlußfolgerung) und direkter auf den eigentlichen Punkt zusteuern, enthalten die chinesischen Aufsätze eine Vielzahl von Digressionen und Wiederholungen und zeichnen sich durch einen hohen Grad an Indirektheit aus. Cheng (1985:64) zeichnet ein Diagramm vom chinesischen Stil, das dem Kaplan'schen entspricht. Jedoch muß auch hier hinzugefugt werden, daß die Angaben zur Indirektheit, zur häufigen Wiederholung und Vielzahl an Digressionen recht impressionistisch bleiben. Man vermißt detaillierte Untersuchungen, beispielsweise darüber, welche Außerungsteile wann und mit welcher Funktion, wiederholt werden. Ferner basieren die Aussagen über Vergleiche mit englischen Aufsätzen auf reinen Literaturverweisen. Cheng selber hat bei ihrer Analyse keine Aufsätze englischer Muttersprachler herangezogen; die Vergleichsbasis ist also äußerst fragwürdig. Young (1986) untersucht in ihrer Dissertation 'Unravelling Chinese Inscrutability' ebenfalls StildifFerenzen zwischen chinesischen und westlichen (amerikanischen) Sprechenden. Jedoch fuhrt sie - im Gegensatz zu Kaplan und Cheng - Analysen der gesprochenen Sprache durch 11 und kommt zu dem Ergebnis, daß chinesische Sprecher und Sprecherinnen typisch chinesische Diskursstrategien ins Englische übertragen: Sie zeigen eine Vorliebe fur das langsame Aufrollen von Informationen, bevor die eigentliche Hauptinformation präsentiert wird. Ausgehend von Gumperz' Konzept der Kontextualisierung betont nun Young, daß chinesische Sprecher über andere Kontextualisierungskonventionen in der Diskursorganisation verfugen: Bevor die eigentliche These produziert wird, bemühen sich Sprecher, durch Darlegung der Hintergrundinformationen einen 'shared context' aufzubauen: T h e Chinese tend to arrive at the main message after first describing circumstantial factors that, to an American, may not appear to be directly relevant. (Young 1986:68)

Im Gegensatz dazu präsentieren amerikanische Sprecher zuerst ihr Argument bzw. ihre Behauptung und fuhren dann die Gründe und Zusatzinformationen an. Diese unterschiedlichen Diskurskonventionen im Bereich der Informationsorganisation bewirken, daß der chinesische Diskursstil von amerikanischen Interagierenden als 'inkohärent', 'undurchschaubar' und 'unlogisch' bzw. als "beating around the bush" angesehen wird. 12 Englische Muttersprachler vermissen in den chinesischen Beiträgen eine klare Äußerung zu Beginn der Diskussion und kritisieren den Mangel an Präzision sowie die Unfähigkeit der Chinesen, zum Punkt zu kommen: I f o u n d it hard to listen to this because I didn't have an overall view. I didn't k n o w exactly what he was saying until the e n d . 1 '

Chinesen dagegen betrachten denselben Diskursstil als 'smooth' und zeigen keinerlei Verstehensprobleme. Um ein Beispiel Youngs (1982:76) zu zitieren:

11 Ihr Datenmaterial basiert auf Bandaufnahmen von Geschäftsverhandlungen englischsprechender Chines/innen und auf Rollenspielen. 12 Young (1986:4). 13 Dieser Ausspruch stammt von einem Amerikaner, den Young (1986:55) zum chinesischen Diskursstil befragte. Young zitiert weitere Kommentare amerikanischer Kommunikationsteilnehmer, die den chinesischen Stil ähnlich beurteilen.

129

American: Chinese:

How docs the Nutritional Institute decide what topics to study? How do you decide what topic to do research on? BECAUSE, N O W , PERIOD GET CHANGE. IT'S DIFFERENT FROM PAST TIME. IN PAST TIME, WE EMPHASIZE H O W T O SOLVE PRACTICAL PROBLEMS. NUTRITION MUST K N O W H O W T O SOLVE SOME DEFICIENCY DISEASES, SUCH AS Χ, Y, Z. BUT, N O W IT IS IMPORTANT THAT WE MUST D O SOME BASIC RESEARCH. So, we must take into account fundamental problems. We must concentrate our research to study some fundamental research.

Hier werden — signalisiert durch BECAUSE - zunächst die Hintergrundinformationen geliefert (Großbuchstaben) und erst anschließend die Hauptthese — signalisiert durch 'so'- eingeführt (kursiv). Folgende drei Aspekte zeichnen — so Young (1986:101) - den chinesischen Diskursstil aus: 1. Eine einführende Aussage, die den folgenden Diskursablauf darlegt, wird nicht als notwendig betrachtet. 2. Um einen möglichst weiten Blickwinkel einzunehmen, werden mehrere Seiten eines Themas ausgiebig dargelegt, sowie Vergleiche und Gegensätze aufgelistet. 3. Die eigentliche Intention des Sprechers bzw. die Hauptaussage wird häufig erst am Ende des Diskurses erwähnt. O f t wird sie ohnehin nur angedeutet. Der westliche Stil, d.h. die sofortige Präsentation der zentralen Behauptung, wirkt auf chinesische Gesprächspartner dagegen 'rude and aggressive', bzw. erscheint "backward, always giving the conclusions first" (Young 1986:125). Young stellt die chinesische Vorliebe fur das langsame Abrollen von Hintergrundinformationen sowohl in Zusammenhang mit soziokulturellen Aspekten als auch mit dem chinesischen Satzbau. Einerseits sei das langsame Abrollen von Hintergrundinformationen eine wichtige Strategie zur Konfrontationsvermeidung und reflektiere die chinesische Präferenz fiir harmonische soziale Beziehungen und Indirektheit. Die/der Sprechende steuere langsam auf den eigentlichen Punkt zu und sichere dabei ab, daß das Gegenüber sich auf der gleichen Fährte befindet. 14 Andererseits zieht Young (1982:77) eine Parallele zwischen der Organisation von Informationen auf der Diskurs- und der Satzebene und sieht die Vorliebe fur das langsame 'zum Punkt kommen' als Teil der 'TopicComment'-Struktur im chinesischen Satzbau: Wie in der chinesischen Syntax werde auch im Diskursstil zunächst eine Präsentation sämtlicher 'gegebener' Informationen geboten, bevor schließlich die 'neue' Information folgt. " Zusammenfassend charakterisiert Young den chinesischen Gesprächsstil wie folgt: That is, there is a genuine concern that the ability to retain the listener's attention not be jeopardized. Such a task is accomplished in Chinese discourse, then, by a deliberate maneuvering in the direction of a less aggressive and more concensual appearance, with the intent to create and maintain a receptive environment for one's remarks. Simultaneously, respect for the listener is insinuated by the 'laying out' of information - revealing the manner of one's thinking, so to say - to elicit the listener's judgment. T h e speaker and the listener become bonded in a cooperative endeavor. In view of this, the high 14 Young (1982:80). 15 Ahnliche Diskursstrategien weisen Tyler/Davies (1990) für den koreanischen Gesprächsstil nach. Die Organisation des koreanischen Diskurses zeichnet sich - ähnlich wie der chinesische - durch einen gesichtsschonenden 'inductive/collaborative approach' aus, der in interkulturellen Kommunikationssituationen mit amerikanischen Gesprächspartnerin zu Mißverständnissen führt.

130

Chinese p r e m i n u m placed on the avoidance of an immediate stance becomes transparent. (Young 1982:83)'6

Dieser Diskursstil stehe - so Young (1986:77) - in Einklang mit einer alten chinesischen Rhetoriktradition, dem bereits erwähnten 'Viererschema': 1. QI, 2. CHENG, 3. ZHUAN, 4. HE; d.h. die heutige Diskursorganisation im gesprochenen Chinesisch weise noch immer Parallelen zu diesem Schema auf. 17 Youngs Parallelen zwischen dem Aufsatzstil, also einem schriftlichen Stil, und der mündlichen Diskursorganisation scheinen jedoch etwas spekulativ und sind auch anhand ihrer Transkriptausschnitte nicht nachvollziehbar: Beispielsweise wird der Unterschied zwischen QI und CHENG, d.h. zwischen Beginn und Fortsetzung an den vorgelegten Daten nicht ersichtlich, und Z H U A N (der Wendepunkt) scheint in nahezu allen Beispielen wegzufallen. Doch unabhängig von der Beziehung zwischen chinesischen Diskurskonventionen in der gesprochenen Sprache und dem zitierten 'Viererschema' der chinesischen Rhetorik ist Youngs These zur Diskursorganisation recht stichhaltig. Teilweise finden sich in meinem Datenmaterial ähnliche Strukturen der Diskursorganisation chinesischer Sprechender. Jedoch muß aufgrund der Analyse meines Datenmaterials die These Youngs insofern ergänzt werden, als sich neben den von Young vorgestellten Diskurskonventionen noch eine Vielzahl weiterer Unterschiede in der Diskursorganisation und zwar speziell in der Informationsverpackung chinesischer Sprecher finden, die ebenfalls dazu beitragen, Eindrücke von 'Inkohärenz', 'Unklarheit' bzw. "nicht recht wissen, was nun die zentrale Information ist" hinterlassen. Chinesische Sprecherinnen transferieren - so wird die vorliegende Analyse zeigen - bestimmte, im Chinesischen präferierte Äußerungsstrukturen ins Deutsche und verwenden andere Kontextualisierungshinweise zur Signalisierung von Haupt- und Nebeninformationen, von gegebenen und neuen Referenten, unterschiedliche Techniken der Textkohäsion und der Signalisierung von Definitheit und Indefinitheit.

5.1.

Chinesisch-deutsche Unterschiede im Diskursstil

Beim folgenden Gesprächsausschnitt handelt es sich um eine Beratungs- bzw. Sprechstundensituation zwischen Ma, einem chinesischen Wissenschaftler, der seit acht Monaten an einer chinesischen Hochschule Deutsch lernt, um anschließend eine ein-jährige Fortbildung in der Bundesrepublik anzutreten, und T, der Vertreterin einer deutschen Organisation. Ma versucht Τ davon zu überzeugen, daß die deutsche Organisation das Promotionsvorhaben chinesischer Wissenschaftler durch Vergabe von Promotionsstipendien unterstützen soll. Nach einer ca. 8minütigen Diskussion bzgl. der Notwendigkeit und Durchsetzbarkeit von Promotionsstipendien 16 Diese Merkmale des chinesischen Stils haben starke Ähnlichkeiten mit dem Diskursstil, den der Anthropologe Hall (1976:98) fur 'high-context cultures' beschreibt. Hierzu Kapitel 3.4. 17 Die Behauptung, daß dieses Diskursschema auch für den heutigen Aufsatzstil noch relevant ist, wird - zumindest für den schriftlichen Stil - durch Cheng (1985:130-131) gestützt: Dieses Aufsatzschema wird noch heute im schulischen Chinesisch-Unterricht (zumindest in Singapur) gelehrt. Tsao (1982:110) geht im Zusammenhang mit einer Abhandlung zum chinesischen Stil ebenfalls auf dieses Diskursschema ein und erwähnt Untersuchungen, die zeigen, daß chinesische Englischlemende dieses Viererschema ins Englische transferieren.

131

fur chinesische Wissenschaftler betont Τ entschieden, sie sehe keinerlei Möglichkeiten, dies durchzusetzen, da einerseits die finanziellen Ressourcen fehlten und andererseits Peking kein Interesse daran habe, daß chinesische Wissenschaftler allzu lange im Ausland bleiben. Ma entgegnet, er sehe dann eine Möglichkeit, wenn deutsche Stellen Stipendien fur chinesische Wissenschaftler zur Verfugung stellen könnten. Nach T's Einschätzung wird Peking dies nicht akzeptieren, da sei sie sich 'ganz sicher': MA3 IT: 2Ma: 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20T: 21 Ma: 22 23 24 25 26 27T: 28 29Ma: 30T: 31 Ma: 32T: 33 34Ma: 35Ma: 36 37 38 39 40 41T:

da bin ich ganz sicher. eh:m. zur Zeite gibt es ehm: (0.3) ((Räuspern)) gibt es verschiedene ehm: (0.4) ausländ eh ausländische Studenten oder Gast eh Wissenschaftler ehm ((Räuspern)) zu Beispiel ehm wie wie uns ehm - w wir wir brauchen ehm Geld wir brauchen Geld von ehm'unsere Legierung - unde a:ndere Leute ehm' (0.3) hab ha hat haben ehm eigenen GELD eigen'eigen Geld. eh - ehm der erst eh die erst die ersten Grupp M Menschen heißt ehm gongfèi gongpai. und eh zweitens eh Grupp eh - ehm' Menschen heißt zifei, zifei gongpai. unde ehm die Unterschiede ((Räuspern)) zwischen diese ehm h Gruppen ehm ist:e HAUPTSÄCHLICH e h m ' G e l d . (0.2) GELD. ja. ja. ehm ((Räuspern)) weil ehm von (Schuld) zweite Gruppe Menschen ehm::: ka können sie - ehm' lang länger als Jahre' als EIN Jahr oder ehm einige eh ein paar Jahre ehm bleiben. ja, aber SIE gehören zur ERSTEN Gruppe= =ja= =der Regierungsstipendiaten ja. ja. und re erzählen Sie mir hier nichts /von der zweiten Gruppe/ sondern von sich / wenn eh wenn i: u: / ja. wenn ehm: ich KEINE eh KEIN Geld eh - bekommen eh bekomme, dann muß ich:e sofort zurückkommen, aber wenn ich - ehm - GELD von deutschen ProfesSOR bekomme, dann kann ich eh dort- bleiben. (0.3) ja. sicher. eh::' Herr Ma ich glaube es N I C H T

132 42Ma: 43T: 44 45Ma:

hihi ach Herr Ma, I C H muß Ihnen leider sagen, I C H glaube das nicht, ne' ah ja.

Bevor Ma zu seiner Hauptthese kommt, unterbricht ihn Τ (27-32). Ma's Diskursstil entspricht hier den von Young beschriebenen typischen chinesischen Diskurskonventionen: Zunächst werden die Hintergrundinformationen aufgerollt, bevor das eigentliche Anliegen präsentiert wird. Zum Hintergrund gehört in diesem Gesprächsausschnitt die Erläuterung über die zwei verschiedenen Gruppen chinesischer Akademiker, die zur Fonbildung ins Ausland reisen können. Ma (2-26) versucht zunächst, diese beiden Gruppen vorzustellen, doch bevor er zu seiner eigentlichen Hauptaussage kommt, unterbricht ihn Τ (27). Sie artikuliert ihren Unmut über Ma's lange Einleitung explizit und verdeutlicht, daß ihr die Relevanz dieser langen Ausführungen und damit der Orientierungsarbeit nicht ersichtlich ist: "ja, aber SIE gehören zur E R S T E N Gruppe der Regierungsstipendiaten und re erzählen Sie mir hier nichts von der zweiten Gruppe sondern von sich" (27-33). Ma wird also explizit angehalten, zum Punkt zu kommen und nicht scheinbar irrelevante Hintergrundinformationen über die Unterschiede der beiden Gruppen zu liefern. Wie Goffman (1983) ausfuhrt, stellt die 'thematische Anbindung' (tying) eine wichtige Diskursstrategie dar, wobei der Sprecher in seinem Redebeitrag eine Beziehung zum gegebenen Kontext herstellt und sich in der Informationsdarlegung am Bewußtseinszustand des Rezipienten orientiert. Auffällig an der hier dargelegten Diskursotganisation ist, daß die Präsentation von Hintergrundinformationen ohne Kennzeichnung der Relation zum bisher Diskutierten erfolgt. Ma setzt in Zeile 2 zu einer scheinbar inkohärenten Äußerung an. Orientierungshilfen (z.B. bestimmte 'gambits') bleiben aus. Der Äußerungsanschluß wirkt inkohärent, und die Verbindung zur vorausgegangenen Äußerung bleibt unklar. Die chinesische Sprachwissenschaftlerin Wei, der ich diesen Gesprächsausschnitt vorspielte, kommentierte ihn folgendermaßen: M a versucht höflich zu sein. Er will den ganzen Zusammenhang erklären, doch Τ gibt ihm keine Gelegenheit, zu seiner eigentlichen Aussage zu kommen. Sie unterbricht ihn, bevor er eigentlich seinen Hauptgedanken sagen kann.

In der chinesischen Rhetorik stehen — wie bereits in Kapitel 3 gezeigt wurde — die sozialen Beziehungen der Interagierenden, das Prinzip der Harmonie und Erhaltung des eigenen und fremden Gesichts im Mittelpunkt. Dies fuhrt dazu, daß die Sprecher bemüht sind, zunächst einen gemeinsamen Rahmen an Hintergrundinformationen zu etablieren, bevor sie zum eigentlichen Punkt kommen: Thus, the emphasis is on providing background information and the seeming failure to come to the point in the above examples can be seen simply as a conventionalized way of conforming to these norms. The strategy is frequently used by native Chinese working in the United States whose English is otherwise excellent. When presented with alternative ways of saying the same thing, informants report that they know what the relevant American English strategy is, but they claim they prefer their own practice, which comes more naturally to them. (Gumperz 1988a)

133

Auch wenn uns diese Vorgehensweisc nicht völlig fremd ist, so herrscht doch in der westlichen Rhetorik die Tendenz vor, zunächst die Behauptung zu formulieren und anschließend die Begründung fur die Behauptung mit entsprechenden Rechtfertigungen und Belegen zu liefern. 18 Eine Parallele zur jeweiligen Diskursstrategie (d.h. Ursache vor Wirkung im Chinesischen und Wirkung vor Ursache im Englischen/Deutschen) findet sich auf der Satzebene bzgl. der Kausalkonstruktionen. Halliday/Hasan (1976:257) erwähnen im Zusammenhang mit kausaler Kohäsion, daß im Englischen die Sequenz: Ί», because a'weitaus verbreiteter ist als die Struktur: 1>ecaiue a, b\ D.h. die Darlegung der "Wirkung vor der Ursache" ist im Englischen (und Deutschen) präferiert: Ich gehe heute nicht einkaufen, weil es so entsetzlich regnet. Ich gehe heute nicht einkaufen, denn es regnet so entsetzlich. Ich gehe heute nicht einkaufen, d a es so entsetzlich regnet. Bei der Betrachtung chinesischer Kausalsätze stellt man jedoch fest, daß beim konnektiven Paar:

yinwei (weil) zuerst der yimvci-Teilsatz kommt und anschließend die mit sooyi eingeleitete Konklusion: 19

((Weil) regnen so groß, (deshalb ) ich nichtgehen kaufen Dinge.)) Ist die Grund-Wirkung-Beziehung kontextuell erschließbar, so können die Konjunktionen 'yinwei' und 'suoyi' weggelassen werden. Dagegen ist die Konstruktion:

18 Siehe hierzu Quintillians Abhandlung über die 'dispositio', die Anordnung des Stoffs. Um den Erwartungen der Zuhörer möglichst schnell entgegenzukommen, wird zunächst die stärkste Aussage an den Anfang gestellt. Hierzu Ueding (1976:206-207). Perelman (1980:148ff.) weist bzgl. der Anordnung der Argumente im Diskurs auf beide Möglichkeiten der Anordnung hin: (a.) zuerst die These und dann Begründungen; (b.) zuerst die Begründungen und dann die These. Jedoch betont er, - in Anlehnung an Cicero -, daß die erste Reihenfolge (a.) dann gewählt wird, wenn man überzeugen will, während (b.) gewählt wird, wenn man das Publikum 'bewegen' möchte. 19 Zu Kausalsätzen im Chinesischen siehe Tsao (1979:165-167). Tsao geht bei seiner Analyse der chinesischen yinwei-suoyi-Konstruktionen sogar so weit zu behaup ten, daß es sich dabei nicht wie in englischen Kausalsätzen um Subordinationen handelt, sondern um "conjoined clauses with the causal relation specified". (Tsao 1979:166-167)

134

mm W o bu qu mai dongxi,

(Ich nicht gehen kaufen Dinge,

era ητη^Α* yinwei

yu xiade zhcmc da.

weil regnen so groß)

nach Aussagen chinesischer Muttersprachler sehr ungewöhnlich. 20 Einige meinten gar, es handle sich um 'Ausländer-Chinesisch'. 21 Dieser Struktur der Präsentation der Gründe vor der Konklusion begegnet man auch - wie wir beobachten konnten - auf Diskursebene: 22 Zunächst werden die Gründe und Hintergrundinformationen genannt, bis schließlich mittels 'deshalb* die Ursache erwähnt wird. 2 3 Im folgenden Gesprächsausschnitt unterhalten sich M, eine Deutsche, und Qin, ein chinesischer Germanist, über die Situation der Studenten in China. Qin berichtet, daß vor allem die Eltern und die Gesellschaft einen Druck auf Jugendliche ausüben, damit diese sich zum Studium entschließen. Daraufhin fragt M : QIN 12 71M: 72 73 74 75Qin: 76 77M: 78Qin: 79 80 81 82 83 84 85M: 86Qin: 87M: 88Qin: 89M: 90Qin: 91 92 93

und warum wollen DIE das daß die jungen Leute studieren? wenn die wissen, daß sie nachher *im Grunde* zu der - MINDERBEZAHLTEN Gesellschaftsschicht gehörn? ich habe einmal in einer Zeitung gelesen, daß in Peking eine Umfrage gemacht worden ist mhm dann werden viele - Mittelschule umgefragt ob sie dann danach so (0.3) eine Chance haben wollen weiterzustudieren (0.2) dann zwan (0.3) dreißig bis vierzig Prozent von der Mittelschule haben geantwortet *NEIN wir wollen die Chance nicht mehr* mhm diese Mittelschule sind sehr sehr GUT mhm ja sogar dursch - über den Durschschnitt mhm ja normalerweise können sie' sehr natürlich eine Chance haben weiterzustudieren aber die sagen NEIN, wir haben - wir WOLLEN keine Chance haben. - un viele Eltern und Lehrer

20 Diese Einschätzung stammt von meinen Informantinnen Ma, Wei, Pan, Xii und Jiao. 21 Chao (1968:115) führt in seiner Abhandlung zu chinesischen Kausalsätzen aus, daß der Satzteil mit dem Grund (yinwei...) nicht nach der Ursache stehen kann. Ausnahmen bilden lediglich 'afterthoughts' und Nominalprädikate, die mit 'de yuangu' enden. 22 Zum Stellenwert des induktiven Vorgehens in der chinesischen Philosophie siehe auch Hu Shih (1922:4). 23 In seiner Abhandlung "Über Ehre und Schmach", in der Hsiin-Tzu Verhaltensweisen darlegt, die der 'Edle' einzunehmen bzw. zu vermeiden hat, schreibt der Konfuzianist zum angemessenen Diskussionsverhalten: "Wer ohne Angabe von Gründen in der Diskussion Behauptungen aufstellt, der (liebt) Streitigkeiten" (Hsiin-Tzu 1967:30).

135 94 95 96M: 97Qin: 98 99 100 101M: 102Qin: 103 104 105 106 107 108M: 109Qin: 110M. 111 Qin: 112 113M: 1 l4Qin: 115 116 117 118 119 120 121 122 123 124M: 125Qin: 126M: 127 128Qin: 130M: 131 Qin: 132M: 133Qin: 134 135 136 137 138M: 140Qin: 141 142 143 144 145 146

werfen sie vor, DIESE (0.3) DIESE Jugendliche DIESE Kinder sind sehr kurzsi sehr KURZSICHTIG mhm ja aber die anderen die andere Jugendliche diese bra oder sagen wir die BRAVEN JUGENDLICHEN, WOLLEN DOCH weiterstudieren, OBWOHL sie selber nicht so (gut) sind mhm ja dann wollen sie doch studieren, einmal haben sie so eine Str STRESS (0.3) von den ELTERN oder von der GESELLSCHAFT, ja weil also - aus der Sicht von den meisten Leuten in der Gesellschaft ja - haben - ja SIND die Studenten doch HOCH ANGESEHEN mhm haben ein - hohes An/sehen / /also ja'hh/. mhm ob SIE OBWOHL die Studenten wenig verdienen mhm aber wir sagen, mein Freund hat mir gesagt ja, DU kannst wenig verdienen, ICH kann viel verdienen aber wenn du zusammen mit mir sitzt, ja wenn du zusammen mit mir sitzt ja' dann wenn ein anderer Leut (0.3) wenn wir bitten ein anderer (0.3) wenn wir einen anderen Mann bitten zwischen uns einen zu wählen, dann wür ja dann wiird natürlich DISCH wä wählen /aha/ /aus/wählen misch also ist die intellektuelle Schicht doch DIE::: BEVORZUGTE' ja, d doch die BEVORZUGTE mhm. also jetzt haben wir so eine Widerspruch ja EINMAL aus der (0.3) FINANZIELL also wirtschaftlich gesehen können die Studenten oder die Magisterdoktoranden eh Doktor WENIG VERDIENEN aber GEISTIG gesehen haben die DOCH ein großes Ansehen mhm DESHALB ja sind die viele Studenten jetzt - in eine WIDERSPRUCH geraten (0.5) ja OBWOHL diese Widerspruch nicht lösen können (0.2) oder in der Zeit wo sie diese Widerspruch nicht können, da wollen sie noch weiterstudieren.

136 147M: l48Qin:

m Km ja die haben noch ein Hoffnung

Auf M's Frage (71-74) reagiert Q i n zunächst einmal, indem er von einer Umfrage berichtet. Die lange Ausführung von Q i n wird ohne expliziten Bezug zur vorherigen Frage, d.h. ohne Markierung, daß nun ein längerer Exkurs folgt, geliefert. Durch das Fehlen von Einleitungsformeln, wie beispielsweise "lassen Sie mich zunächst mal etwas ausholen ..." oder "speziell zu diesem Problem habe ich kürzlich eine Umfrage gelesen ...", entstehen Kohärenzprobleme: Die Antwort steht in loser Beziehung zur vorausgegangenen Frage. Diese Vorgehensweise bestätigt die Beobachtung Gumperz' zum chinesischen Diskurs: (...) it is not easy to see at first how the answers and questions are related. Respondants seem to rely on listing facts which, while loosely related to the question's topic, do not overtly respond to what the questioner wants to know. (Gumperz 1988a)

D a in diesem Textsegment - ähnlich wie in MA 3 - zunächst die Hintergrundinformationen geliefert werden, scheinen die Antworten des chinesischen Gesprächsteilnehmers deplaziert. Dies fuhrt dazu, daß die deutsche Gesprächspartnerin ungeduldig wird bzw. versucht, die Äußerung des chinesischen Sprechers zu unterbrechen, um endlich zum Punkt zu kommen. 2 4 Q i n holt lange aus, um die Hintergrundaspekte zur Beantwortung der Frage aufzurollen: Ein hoher Prozentsatz an überdurchschnittlich guten Mittelschülern2^ will gar nicht mehr studieren. (75-95). Wer studieren will, sind häufig die 'BRAVEN J U G E N D L I C H E N ' (98), die dem Druck der Eltern nachgeben. Anschließend formuliert Qin eine Behauptung, die eigendich zu Beginn seiner Äußerung erwartbar gewesen wäre: "in der Gesellschaft ja - haben -ja S I N D die Studenten doch hoch angesehen, haben ein hohes Ansehen" (106-109). Diese Äußerung könnte eine Antwort auf M's Ausgangsfrage sein. Interessanterweise wird diese Aussage von Q i n wiederholt (mit kleinen Veränderungen), nachdem M zunächst lediglich mit dem Hörersignal 'mhm' (108) reagiert. M's Unterbrechungsversuch (110), der mit einem resümierenden 'also ja'hh' einsetzt, weist auf ihren Versuch hin, den bisherigen Diskursablauf zu strukturieren. Das folgende 'mhm' ist prosodisch als 'continuer' markiert, d.h. als Aufforderung an Q i n , fortzufahren. Q i n produziert nun die Gegenposition O B W O H L die Studenten wenig verdienen" (111-112). Daraufhin liefert Q i n ein Beispiel zur Stütze seiner Behauptung (114-125). M reagiert im Anschluß mit einem durch 'also' eingeleiteten Resume', um schließlich "auf den Punkt zu kommen": "also ist die intellektuelle Schicht doch DIE::: B E V O R Z U G T E ' " . Erst im Anschluß daran äußert er das Fazit seiner Hintergrundinformationen "also jetzt haben wir so eine Widerspruch ..." (131-137) und - mit 'DESHALB* eingeleitet - die Hauptthese: Aufgrund dieses Widerspruchs, den sie momentan nicht lösen können, haben die Studenten ihre Hoffnung noch nicht verloren und studieren weiterhin (140-148). In diesem Gesprächsausschnitt ist folgendes Diskursmuster hinsichtlich der Beantwortung von M's Frage zu erkennen: 24 Ahnliche Beobachtungen macht auch Young (1986) in Hinblick auf chinesisch-amerikanische Gespräche. 25 In China versteht man unter Mittelschülern die Schüler der Sekundarstufe II. Im Anschluß an die Mittelschule findet die Hochschulaufnahmeprüfung statt.

137

1. Hintergrundinformation: Umfrage 2. Behauptung: hohes Ansehen - geringer Verdienst 3· Stütze der Behauptung durch Beispiel 4. Resume' der Hintergrundausfuhrung: Widerspruch 5. D E S H A L B + Hauptthese.

Der folgende Gesprächsausschnitt weist ebenfalls diese Art der Informationsdarlegung auf: FAN 1 1U: 2 3 4Fan: 5U: 6Fan: 7U: 8Fan: 9 10 11 12 13U: l4Fan: 15 16 17 18U: 19 20 21 22

zum einen interessiert mich was du denkst was hier im Leben als Frau schwieriger ist als bei Männern = = ja N A T Ü R L I C H . mhm? ja. W I R K L I C H und inwiefern? WEI:::L in Schina war früher feudalistisch und so viele schlechte Situation fur die Frauen damals, und man kann jetzt - ich glaube man kann jetzt nicht so sagen also jetzt schon mhm fast ganz ganz (0.5) also' - eh' anderes geworden als früher, kann man auch nicht S O sagen, es gibt so viele Nachfolge von Feudalismus mhm D E S H A L B also die Sch die Frauen besonders die also die eh:m ein bißehen emanzipiert oder so kann man sagen es gibt verschiedene Bedingungen.

Der Transkriptausschnitt beginnt mit einem Mißverständnis: Fan versteht U's Äußerung als Entscheidungsfrage und reagiert mit einem 'ja N A T Ü R L I C H * (Zeile 4). U's indirektes Nachhaken 'mhm?' fuhrt zu einer weiteren Bestärkung von Seiten Fan's. Schließlich reformuliert U ihre Frage 'und inwiefern?'. Statt jedoch direkt auf A's Frage einzugehen, liefert Fan in ihrer 'weil'-Konstruktion (8-17) zunächst einmal die Hintergrundinformationen. Erst in Zeile 19 wird schließlich — eingeführt durch die Konjunktion ' D E S H A L B ' — die Konklusion eingeleitet. Die chinesischen Muttersprachlerinnen Pan und Wei, denen ich die Daten vorlegte, kommentierten diese folgendermaßen: J a so ist der chinesische Stil. Man sagt zuerst die Gründe und dann den Hauptpunkt. Das ist viel höflicher. Der umgekehrte Weg, daß man zuerst die Behauptung und dann die Gründe bringt, gibt es natürlich auch. Doch dieser Stil wirkt sehr direkt. Wir würden sagen, das ist " K A I M E N J I A N

138

SHAN", das heißt, die Tür öffnen und schon sieht man den Berg. 2i" Das geht natürlich auch. Doch wirkt es nicht so höflich. Das ist eine Frage des Stils. Bei uns im Chinesischen ist es üblich, daß man zuerst die Gründe angibt und dann den Schluß zieht. Oft gibt man auch die Gründe und läßt den andern die Schlußfolgerung selbst ziehen. Natürlich kann man auch zuerst die Meinung sagen und dann die Gründe nennen, doch wirkt das 'ting aoqi', also arrogant. Man soll ja bei uns bescheiden wirken, deshalb sagt man zuerst die Gründe und dann schließlich die Schlußfolgerung. Das ist der angemessene Stil. Young (1986:94) zitiert im Zusammenhang mit der chinesischen Vorliebe für das Aufrollen sämtlicher Hintergrundsinformationen, bevor man schließlich zur zentralen These kommt, ein chinesisches Chengyu 2 7 :

m %

M m

hua

long

dian

jing28

malen

Drachen

reintupfen

Augen

Die Bedeutung dieses Chengyu lautet in etwa: "Wenn du einen Drachen malst, dann tupfe die Augen zuletzt rein". Diese Redewendung geht auf eine alte chinesische Legende über einen Maler zurück, der Drachen ohne Augen malte. Die Leute um ihn herum fanden diese augenlosen Drachen sehr seltsam und fragten den Maler nach dem Grund, worauf der Maler antwortete: "Wenn ich die Drachen mit Augen zeichne, dann werden sie sofort davonfliegen." Die Zuschauer wollten dies nicht glauben. Also zeichnete der Maler einen Drachen mit Augen. Und siehe da, der Drachen wurde lebendig und flog davon. 2 9 Dieses Chengyu verdeutlicht das chinesische Ideal der Informationsstruktur 3 0 : Zunächst sollen die Umrisse gezeichnet werden, bevor schließlich der zentrale Punkt präsentiert wird. Die chinesischen Informantinnen M a , Wei, Pan, Xu und Li, die ich über diese Redewendung und ihre Anwendung befragte, meinten zwar, daß die Redewendung sich nicht nur auf Diskursstrategien beziehe, doch auf das Vorgehen in der Informationsdarlegung durchaus anwendbar sei, insofern als sie verdeutliche, daß der lebendigste Teil, und somit der wichtigste, am Ende geliefert werde. Diese Art des Vorgehens - von der Peripherie langsam auf das Zentrum hin orientiert - wird auch in der chinesischen Philosophie sowie in Abhandlungen zur chinesischen Medizin 3 1 immer wieder als Teil des chinesischen Denkens betont: 3 2 Statt auf einzelne Aspekte (bzw. Symptome im Falle von Krankheiten) direkt zuzugehen, muß zunächst die Peripherie, das 'komplexe Gewebe' der Verursachung erforscht werden und damit ein Gespür für die 'Gesamtordnung* entwickelt werden. 3 3 Ähnliche Differenzen zwischen dem westlichen und chinesischen Vorgehen, 26 27 28 29 30 31 32 33

EinefreieÜbersetzung wäre "mit der Tür ins Haus fallen". Zur Gattung der Chengyu (Redewendungen) siehe Kapitel 7. In Youngs Umschrift wird dieses Chengyu "Hua lung dian jing" geschrieben. Die Legende hinter dem Chengyu wird bei Young nicht erwähnt. Ich habe sie dem Lehrbuch "Geschichten von chinesischen Sprichwörtern" (1982:29-31) entnommen und auf Deutsch verkürzt wiedergegeben. Young (1986:94). Siehe u.a. Porkert 1986 und Kaptchuk 1990. Diese Anordnung findet man auch in zahlreichen chinesischen Alltagsphänomenen, wie beispielsweise bei den Adressenangaben auf Briefen, wo die konventionelle Anordnung zunächst die Angabe des Landes bzw. der Provinz vorsieht, dann die Stadt, danach die Straße und erst am Ende steht der Name des/der Empfängerin. Kaptchuk (1990:27).

139

wie hinsichtlich der Diskursstrategien aufgezeigt werden konnte, beschreibt auch Kaptchuk (1990) in seiner Arbeit zur chinesischen Medizin und deren Verwurzelung in der chinesischen Philosophie: Während der westliche Arzt 'analytisch' vorgeht, indem er bei den Symptomen beginnt und dann nach den zugrunde liegenden Mechanismen - der Ursache - sucht, richtet der chinesische Arzt seine Aufmerksamkeit auf das gesamte Umfeld. Zunächst werden alle relevanten Informationen und 'Charakteristika des Patienten' gesammelt, bis das, "was die Chinesen ein 'Muster der Disharmonie1 nennen, erkennbar wird" (Kaptchuk 1990:15). Die chinesische Voigehensweise wird als 'synthetisch' bezeichnet, wobei zunächst die Gesamtkonfiguration, bzw. der 'Rahmen' erforscht werden soll, bevor schließlich die Krankheit angegangen wird. Das einzelne Phänomen ist in der chinesischen Medizin - analog zur daoistischen Denkweise und der Theorie von Yin und Yang - stets in seinem Umfeld zu betrachten, d.h. das Einbeziehen des umgebenden Rahmens bildet die Voraussetzung fur ein weiteres Vordringen zum eigentlichen Phänomen. Statt Ursache und Wirkung als geradlinig fortschreitende Konsequenz zu betrachten, achtet die chinesische Medizin auf die zugrunde liegenden Beziehungen und Muster. In der chinesischen Denkweise werden - so Kaptchuk (1990:131) - "die linearen Kausalitätsvorstellungen (...) zu Kreisläufen". Im Gespräch zwischen den Deutschen A und U und der Chinesin Shu berichtet Shu über die Vergangenheit ihres Mannes, der vor ihr eine andere Freundin hatte, die er jedoch verließ: SHU 13 48 U: 49 50 51 Shu: 52 53 U: 54Shu: 55 56U: 57 58U: 59Shu: 60Shu: 61 62 63 64 65 66U: 67Shu: 68 69 U: 70 71Shu: 72

und warum hat er die dann verlassen? (0.5) ((seufzt)) hhh das wirklich eine eine eh lange Geschichte mhm gab es. wenn man erzählt, davon erzählt, dann - war es eh WAR eine lange Geschichte mhm (0.5) /und/ mhm? /es/ denn eh in China legt man sehr viel eh:::' legt man sehr viel darauf, daß der Mann Karriere beim Beruf macht - entweder Karriere oder' daß man eine höhere Familie? ver eh eine Familie in höhere soz Sozialschicht hat mhm das ist auch wichtig- oder wenn man wenn der Mann ja viele Beziehung hat mhm (0.5) und eigentlich ist mein Mann früh' eh war früher' (0.3) nicht eh typ typ

140 73 74 75 76Shu: 77U: 78U: 79 80

sagt man b e i uns++eh:::' nicht TYPISCH. M A N N . G E N U G . (0.3) /hihi/ er hört doch immer auf die Freundin /mhm/ mhm und wie hat er dir gesagt, daß er dich gern hat? (0.2) ++WÌC

Auf U's Frage nach dem Grund der Trennung signalisiert Shu, daß es sich um 'eine lange Geschichte' handle. U inferiert nun aus Shu's wiederholter Äußerung, "das wirklich eine eine eh lange Geschichte" (51-52) und "war es eh WAR eine lange Geschichte" (55) sowie der folgenden Schweigepause (57), daß S diese Geschichte nicht erzählen wird. Diese Interpretation wird zum einen an U's zustimmenden Hörersignalen 'mhm' (53) und (56) ersichtlich, als auch an U's Versuch, eine thematische Progression einzuleiten. In Zeile 58 beginnen U und Shu mit einem gleichzeitigen Start. Nach U's 'und* gibt sie das Rederecht an Shu ab mittels eines elizitierenden 'mhm'. Dieses Hörersignal dient der Aufforderung zur Äußerungsfortsetzung. Shu leitet nun jedoch die folgende Erzählung der 'langen Geschichte' mincis 'denn' (60) ein und liefert zunächst allgemeine Hintergrundinformationen zur Situation in China: "denn in China legt man sehr viel ...". Diese Einleitung der 'langen Geschichte' ist weder fur U noch fìir mich als Analytikerin hier als solche erkennbar. Erst das anschließende Gespräch mit Shu verdeutlichte diese Intention. Im Deutschen würde man dies mit 'also ..." bzw. einer ersten 'Orientierung'^ in bezug auf Person, Ort, Zeit und Handlungssituation (beispielsweise "mein Freund hatte vor fünf Jahren ...") einleiten. Doch das Abrollen des Hintergrunds, kontextualisiert durch die Konjunktion 'denn', macht fur Deutsche nicht ersichtlich, daß nun eine längere Erzählung folgt. U bricht, da sie die Kontextualisierungshinweise von Shu nicht erkennen konnte, den Beginn der Erzählung und die Hintergrundinformationen (Erwartungen an den zukünftigen Ehemann, Erläuterung der Persönlichkeit des betreffenden Mannes) mit einem groben Themenwechsel ab: "und wie hat er dir gesagt, daß er dich gern hat?" (78-79). Die Art der Unterbrechung mit thematischem Wechsel, die auf mangelnder Übereinstimmung der Kontextualisierungshinweise beruht, beobachtet auch Young: Amerikaner unterbrechen häufig ihre chinesischen Gesprächspartner nach dem 'because'-Teil, da ihnen die thematische Relevanz nicht ersichtlich ist. Durch diese Unterbrechungen werden die chinesischen Gesprächspartner jedoch gehindert, ihre Hauptinformation ('so ...' bzw. 'therefore ...') anzuführen. Shu, der ich diesen Gesprächsausschnitt vorlegte, kommentierte ihn im Nachhinein folgendermaßen: Ich war mir zunächst unsicher, ob ich diese lange Geschichte erzählen sollte. U forderte mich nicht dazu auf. Deshalb fing ich zögernd an und bereitete zunächst die Geschichte etwas vor: 'in China legt man sehr viel ...'etc. Das 'denn' kündigt eigentlich an, daß nun die Vorbereitung kommt, also die Informationen, die U braucht, um die Geschichte zu verstehen. Doch dann unterbrach U meine Erzählung und wechselte das Thema. Ich dachte, ah, sie interessiert sich also doch nicht fur die Geschichte.

M Labov/Waletzky (1973:111-112).

141

Auf meine Frage, welche Reaktion der Zuhörerin denn adäquat bzw, erwartbar gewesen wäre, sagte Shu: Unter Chinesen, ja, wenn man ein 'yinwei' (denn, S.G.) sagt, erwartet der andere, daß nun die Gründe kommen und danach erst der Schluß. Man wartet also, bis die Gründe gekommen sind. Das ist der chinesische Stil. Wenn man als Sprecher schon einige Hintergründe gesagt hat, muß man sich überlegen, ob diese ausreichen, daß man nun den Schluß und die Hauptthese bringen kann. Wenn die Gründe noch nicht ganz einleuchtend und klar sind, liefert man weitere, möglichst, bis der Gesprächspartner selbst zum gleichen Schluß kommt.

Man könnte nun einwenden, daß sich die bisherigen Beobachtungen lediglich auf Diskursstrategien deutschlernender Chinesinnen und Chinesen beziehen. Doch treffen diese Beobachtungen auch auf chinesische Gespräche zu. Die chinesischen Daten sind - sofern Sprecher längere Ausführungen und Begründungen darlegen - geradezu dominiert von diesem Diskursmuster. Im Gespräch zwischen dem Chinesen Liang und der Chinesin Zhang läuft nahezu jeder Redebeitrag der beiden Interagierenden nach der 'Weil... deshalb'-Struktur ab. Zhang und Liang unterhalten sich über die optimale Dauer eines Deutschsprachkurses. Beide Teilnehmerinnen lernen zur Zeit des Gesprächs an einer chinesischen Hochschule Deutsch, um nach Absolvierung des neun-monatigen Deutschintensivkurses mit ihrer fachlichen Fortbildung an einer deutschen Hochschule zu beginnen. Während Liang die Auffassung vertritt, daß neun Monate nicht ausreichen und der Deutschkurs um weitere sechs Monate verlängert werden sollte, ist Zhang anderer Meinung: LIANG 1 5Liang:

» » # lift ft ft ίΓΤ « Ä + & TS wo juede ma, xiang women zai zhe ge difang ich meine (Part.), wie wir an diesem Ort

6

M g « , xuele yi nian de deyu, gelernt ein Jahr Deutsch,

7

S£2T suiran shi yi nian guoquie obwohl ist ein Jahr vorbeigegangen

8

1 1 : 0 ft # danshi women juede aber wir meinen

9

tfcirj m s women xianzai de deyu shuiping unser jetzt Deutschniveau

10

2E&*. 3Ê3Ê » hai meiyou, yuanyuan meiyou, noch nicht haben, weit weit nicht haben,

11

üiüifcin S m flr dadao women dangshi suo ankommen unser damals

h:

12

fe « ft neng xiangxiang

de neige shuiping

können vorstellen jenes Niveau 13 erqie yi

women xianzai de deyu shuiping

außerdem, mit unser jetzt Deutschniveau 14

m

M

dao deguo qu xuexi,

nach Deutschland gehen studieren, 15

Tfft BJt keneng kunnan

« * hen da

vielleicht Schwierigkeiten sehr groß. 16

flftt* # ni renwei zenme yang?

Λ meinst wie? I

17; di yige,

i

i

wo juede zhege yuyan ma

erstens, ich meine diese Sprache (Part.) 18

JbÄ tt zhijing de

shi meizou

nicht haben Grenzen 19

*

tt*fl?£3M. jiushi ni zai zher

20

duo xue bannian

auch wenn du hier mehr lernst halbes Jahr ft&ftli % ni ye bu neng shuo

du auch nicht kannst sagen 21

m

m

*

it*

ni de deyu shi feichang

Ufr haole.

dein Deutsch ist sehr gut. 22 keyi wanquan

— ä mn zai deguo yidian kunnan

kannst überhaupt in Deutschland ein wenig Schwierigkeiten 23

m a w ye meiyou.

auch nicht haben. 24

i i È À ^ i f o â m « jinru xuexi he shenghuo, en,

hineingehen studieren und leben, hm, 25

*

di erge ne,

wo juede,

en, ze, ruguo ni dao shi

zweitens (Part.), ich meine, eh, äh, wenn du nach

143

26 en, dao deguo qu xucxi, en, deyu ne, hm, nach Deutschland gehen lernen eh,Deutsch (Part.), 27

Jfcffitt-ÄBlir ff zhuyao shi yingfu yixie richang huihua a wesentlich ist beherrschen etwas Alltagsdialog (Part.)

28

fr* w shenme de. und so weiter. ft* ± » Ä . zuowei zhuanye shang de hua, was Faehgebiet angeht

29

30 suiran ni de deyu bu gou, obwohl dein Deutsch nicht genug, 31

M T T K f t i t M i r * w haishi keyi yikao ni yiqian xue de trotzdem können verlassen auf deinefrühergelernte

32

fin-irt yingyu zhishi, Englischkenntnisse,

33

0 * £ £ yinwei zai wen weil im schriftL.

34

.Ältt cankao wenxian huozhi na xic konsultieren Dokumente oder jene

35

A d .D)qS. tt&iftifc en, (1.0) en, yiqi shuoming hm, (1.0) hm, Geräteinstruktionen

36

M Ä f t # i f ® huozhe qita ge fangmian de hua, oder was andere Bereiche angeht,

37 yingyu de ziliao hai shi hen duo de. Englischmaterialien auch sind sehr viele. 38

mia SUOYI wo juede en, keyi yikao yingyu, DESHALB ich meine hm, können stützen aufEnglisch,

39

& ψ Ψ ¥ duo xue ban nian de hua, was mehr lernen halbes Jahr angeht,

40

Rftfe *fc* kenneng xiaoguo bu shi hen hao. vielleicht Ergebnis nicht ist sehr gut.

144

Liang.· Ich meine, so wie wir hier ein Jahr Deutsch gelernt haben, so hat, auch wenn ein Jahr vergangen ist, nach unserem Gefiihl unser Deutschniveau noch nicht, bei weitem nicht den Stand erreicht, den wir erwartet haben. Außerdem, wenn wir mit unserem jetzigen Deutschniveau zum Studium nach Deutschland gehen, werden wir wahrscheinlich große Schwierigkeiten haben. Was meinst du? TM^ng:Erstens, ich finde [diese] Sprache [ist] grenzenlos. Das heißt, auch wenn du hier noch ein halbes Jahr Deutsch lernst, so wird dein Deutsch dennoch nicht so gut sein, daß du in Deutschland sowohl beim Studium als auch im Alltag keinerlei Schwierigkeiten hättest. Zweitens meine ich, beim Studium in Deutschland wird Deutsch vor allem für die Alltagskommunikation und so weiter wichtig sein. Was dein Fachgebiet angeht, so kannst du, wenn dein Deutsch nicht ausreicht, deine früher erworbenen Englischkenntnisse anwenden, denn im schriftl..., in der Literatur (2.0), bei (1.0) Geräteinstruktionen oder in verschiedenen anderen Bereichen gibt es sehr viel Materialien auf Englisch. DESWEGEN finde ich, du kannst dich auf dein Englisch stützen. [Hier] ein halbes Jahr länger lernen, bringt vielleicht kein besseres Ergebnis. Bei ihrer Ausführung präsentiert Zhang zunächst zwei Hintergrundinformationen, die sie mittels ' erstens'(17) und 'zweitens' (25) formal ankündigt, anschließend folgt das eigendiche Argument: DESWEGEN... (38-40). D.h. Zhang präsentiert zunächst die Voraussetzungen, die zu ihrem Argument fuhren: 1. Sprache ist ohne Grenze. Auch wenn wir hier in China noch weitere sechs Monate Deutsch lernen, so werden wir in Deutschland trotzdem noch Sprachprobleme haben. 2. Unser Deutsch ist vor allem fur Alltagskonversationen. Doch was unsere Fachgespräche angeht, werden wir ohnehin auf unser früher gelerntes Englisch zurückgreifen. Darauf aufbauend liefert sie nun (eingeleitet durch 'SUOYI') ihr Hauptargument: Da wir ohnehin auf Englisch angewiesen sind, bringen uns weitere sechs Monate Deutschkurs wenig. Ein ganz ähnlicher Diskursaufbau findet sich im folgenden Transkriptausschnitt. Liang betont nun nochmals, daß ein weiteres halbes Jahr Deutschkurs in China nützlich wäre. Die deutschen Lehrerinnen, die in den letzten Monaten hier unterrichtet haben, hätten die Deutschkenntnisse der Studierenden sehr vorangetrieben. Hierauf antwortet Zhang folgendermaßen: LIANG 13 1 Zhang: & M I T féÜ \iÁJS wo xiang, ni dao le deguo yihou ich denke, du ankommen Deutschland danach 2

Wife 3 Î # * 7 keneng zhe zhong jihui jiu geng duo le. vielleicht diese Gelegenheiten dann noch mehr.

3

£ # # ( * « * shi keyi shide ni de deyu ma sein können dazu fuhren dein Deutsch (Part.)

4 jiu shi jinbu de geng kuai. dann Fortschritt noch schneller.

145

5

Z K I t f t t W S l l . lingwai wo juedc de hua ne, des weiteren ich meine daß (Part.), wenn

6

fltsa-Mfc* #jto a - t - P M « * « ni zai zhege difang canjia zhege PNdS kaoshi, du an diesem Ort teilnehmen diese PNdS Prüfung,

7

iff*H*ÄTfc!fc —Τ ruguo zhi shi weile jianyan yixia wenn nur zum testen einmal ÉTiÍE, ni de deyu shuiping de hua ne, dein Deutschniveau (Part.),

8

9 na hai bu ru dao ni cong deguo dann nicht besser als bis du von Deutschland 10

11

12

13

14

15

•ife 9 kuai yao huilai de nage shihou, bald willst zurückkommen jene Zeit, iff*ffif* Ä Ä W i i l E ruguo ni you xingqu de hua ne, falls du hast Interesse, ff ^^PNdS^ií, zai qu canjia nage PNdS kaoshi, dann teilnehmen jene PNdS Prüfung, name, keyi ba ni zhege deyu de zui gao shuiping dann, können (Part.) dein dieses Deutsch höchtes Niveau SJE ïfiiaj*. zhenzheng ce chulai. wirklich herausholen. yinwei ni xianzai de deyu de hua weil dein jetzt Deutsch

16

Wife - Φ ΐ PN« keneng yige qu canjia PNdS kaoshi hai yuanyuan da bugou vielleicht zum einen gehen teilnehmen PNdS Prüfung weit weit nicht genug

17

MÜHL* lingwai de hua ye bing bu shi ni de zum anderen auch durchaus nicht sein dein

18

% iE zhenzheng zhangwo deyu de shuiping wirklich im Griff haben Deutschniveau

19

a * « f a r e « u m yinwei ni daole deguo yihou weil du angekommen in Deutschland danach

m

14(

20 ni de deyu hui jinbu de hen kuai dein Deutsch wird Fortschritte sehr schnell 21

22

23

24

* W *f hui jiangde bi xianzai haodeduo wirst sprechen als jetzt besser viel m i f t ï k a + f t « ± suoyi wo cong zhegc jiaodu shang deshalb ich von diesem Gesichtspunkt aus —r-fif-rr Ä ± ai e « * - f yige nimen zhi shi dao dcguo qu jinxiu yi nian einmal ihr nur nach Deutschland gehen fortbilden ein Jahr ¡ffiSaft ttiftffl er zai zhe hua yi nian ban de shijian lai xuc deyu de hua, und hier aufwenden eineinhalb Jahre Zeit um lernen Deutsch,

25

i t f t W· shi bu zenme heshi de. ist nicht so angemessen.

26

iü*föf£& di erge de hua, ruguo ni zai zhe duo hua zweitens, wenn du hier mehr aufwenden

27

mmm ban nian de shijian halbes Jahr Zeit

28

Λ Τ a Λ· * * a Ί PN« IE weile zhege zhunbei zhege PNdS kaoshi de hua ne, um diese vorbereiten diese PNdS Prüfung (Part.), - e a # 1neme ta yinwei ta zhe zhong kaoshi shi yige dann sie weitste diese Prüfung ist erstens

29

30

stKULttSc s nandú ye bijiao gao. Schwierigkeitsgrad ziemlich groß.

31

Β ^ —r-am, sjs«. m « s w, lingwai yige de hua, jiqiaoxing ye hen qiang de, außerdem andererseits, das Technische auch sehr stark, m suoyi ni dei hua hen duo shijian deshalb du mußt aufwenden sehr viel Zeit

32

33

34

«£

ψ π m i a-t· s u t zhuanmen duifu zhege kaoshi. speziellfertig werden diese Prüfung. rtTUîE ÉtiëWÉfeft duiyu zhenzheng de yuyan nengli fur echte Sprachfertigkeit

147

35

36

37 DESHALB von diesen zwei Punkten aus sagen (Part.), 38

39

m

ü

í

40

Zhang: Ich denke, wenn du in Deutschland bist, wird es dazu sicher mehr Gelegenheit geben. Dein Deutsch wird dann schnellere Fortschritte machen. Außerdem bin ich der Meinung, wenn du hier an der PNdS teilimmst, nur um dein Deutschniveau zu testen, dann wäre es besser, du machst dies kurz bevor du aus Deutschland zurückkommst. Wenn du dann daran noch Interesse hast, kannst du an der PNdS teilnehmen, dann hast du dein höchstes Deutschniveau erreicht. Denn einerseits ist dein Deutsch heute vielleicht nicht für die Teilnahme an dieser Prüfung ausreichend, andererseits hast du jetzt dein Deutsch nicht wirklich im Griff. Denn wenn du in Deutschland bist wird dein Deutsch große Fortschritte machen, wirst du viel besser Deutsch sprechen können als jetzt. Deswegen sage ich: zum einen geht ihr nur fur ein Jahr zur Fortbildung nach Deutschland, so sind eineinhalb Jahre Deutschkurs nicht gerade angemessen. Zum anderen, wenn du dich hier noch ein halbes Jahr auf die PNdS vorbereitest, wirst du sehr viel Zeit fur die Prüfung verwenden, die einerseits sehr schwer ist und andererseits auch viel Technik erfordert. Doch die echte Sprachfertigkeit erhöht sich dadurch nicht unbedingt. DESWEGEN, aufgrund dieser beiden Punkte ist zu sagen, daß es für euch Fortzubildende vielleicht nicht so angemessen ist, hier noch ein halbes Jahr Deutsch zu lernen, um diese Prüfung vorzubereiten. Auf Liang's These reagiert Zhang zunächst mit dem Aufzählen sämtlicher Hintergrundsfakten: - in Deutschland gibt es mehr Gelegenheit, Deutsch zu lernen; - die Chance, die PNdS-Prüfung zu bestehen ist größer, wenn man bereits einige Zeit in Deutschland war; - das jetzige Deutschniveau reicht noch nicht fur die Prüfung; - in Deutschland kann man größere Fortschritte erzielen (bzgl. Deutschkenntnisse); deshalb: a. die Relation zwischen einem Jahr Fortbildung in Deutschland und 11/2 Jahre Deutschkurs ist unpassend; b. die Prüfungsvorbereitung benötigt viel Zeit. Ein weiteres halbes Jahr Deutschkurs würde zwar auf die Prüfungstechniken vorbereiten, doch nicht unbedingt die Spiechfahigkeiten erhöhen.

148 Deshalb (die Hauptthese): "ich finde, daß es vielleicht nicht so gut ist, hier noch ein halbes Jahr Deutsch zu lernen." Statt also direkt zu widersprechen, werden zunächst sämtliche Hintergrundinformationen und Begründungen präsentiert. Man könnte nun die Frage aufwerfen, inwieweit deutsche Sprecher sich ebenfalls gelegentlich dieses indirekten Stils bedienen. Was mein Datenmaterial angeht, so weisen diese jedoch eine starke Tendenz zur Direktheit in ihren Behauptungen, Nichtübereinstimmungen und Argumentationen auf. Liefern deutsche Sprecher längere Argumentationen, so steht zumindest in meinen Daten die Hauptaussage am Anfang und die Begründung wird

nachgeliefert.^

Im folgenden Gesprächsausschnitt diskutieren die Chinesinnen Tan und Yang mit den Deutschen D und A: YANG 14 64Tan: 65 66 67 68Yang: 69Yang: 70D: 71 Yang: 72A: 73 74A: 75D: 76A: 77 78 79 80 81 82 83 84

ich glaube, die Frau:en' is au:ch SPRACHLICH mehr begabt als die Männer aber ma eh aber vielleicht auf manche Gebiet sind auch MÄNNER mehr BEGABT a: a: als d/ie: Frauen das/ /was meinen Sie/ über da: eh ü: über? eh Ihre Meinung? grad des mit der BEGABUNG? ja. ne glaub i net daß das richtig is (0.3) /also weil/ man kann es man kann es ja /also ich/ BIOLOGISCH oder PSYCHOLOGISCH untersuchen, es gibt ja Untersuchungen un (0.4) soweit ich weiß hat sich rausgestellt, daß Männer und Frauen die gleiche BeGABUNGEN haben, und es kommt nur darauf /an/, wie man ERZOGEN /mhm/ wird. auch, man wird als Kind schon erzogen, als Mädchen - Mathe/matik und Techniken/

Zunächst liefert Tan (64) ihre Einschätzung - eingeleitet mit 'ich glaube ...', woraufhin Yang nach der Meinung der deutschen Gesprächsteilnehmerinnen fragt.37 Nach der kurzen Nebensequenz (70-71) präsentiert A sofort ihre - mit Tan's Aussage nichtübereinstimmende - Meinung. Der Dissens wird nicht abgeschwächt, sondern ohne Verzögerung mit der dissenssignalisierenden Partikel 'ne' eingeführt. Nach einer kurzen Pause liefert A ihre Begründung und zitiert wissen35 Vgl. Kapitel 8. 36 Ich möchte jedoch keineswegs behaupten, daß deutsche Sprecher/innen den indirekten Stil nie verwenden würden. 37 Dieser Ausschnitt stellt eines der wenigen Beispiele in meinem Datenmaterial dar, wo ein Chinese direkt nach der Meinung der deutschen Gesprächspartnerinnen fragt.

149

schaftliche Quellen als Beleg. Ein indirekter Stil würde dagegen zunächst die wissenschaftlichen Quellen und Ergebnisse als Hintergrundinformationen liefern und dann im Anschluß die zentrale Behauptung einbringen. Ich habe nun einige Transkriptsegmente vorgestellt, die Differenzen in der Diskursorganisation der chinesischen und deutschen Interagierenden aufweisen. Die Reaktionen der deutschen Gesprächspartnerinnen und -partner (Ungeduld, Unterbrechungsversuchc, Unterbrechungen) verdeutlichen zum Teil die 'Markiertheit* des chinesischen Stils. Jedoch muß hinzugefugt werden, daß dieser Stil "des Drachenzeichnens, wobei die Augen zuletzt eingefügt werden" lediglich als eine mögliche - ja präferierte - Stilvariante zu betrachten ist. Es gibt jedoch auch Beispiele in meinen Daten, wo die chinesischen Sprecher sofort die Hauptthese liefern, ja "das Fenster öffnen und der Berg zeigt sich". Im folgenden Textausschnitt diskutiert der Chinese Zheng mit der Deutschen F über den Grammatikanteil in der Deutschprüfung. Zheng lernt an einer chinesischen Hochschule Deutsch, um anschließend in der Bundesrepublik in seinem Fachgebiet eine Fortbildung zu machen: Z H E N G 13 1 Zheng: und e /wie/viel Prozent werden 2F: /und/ 3Zheng: Grammatik e besetzt in der Prüfung?= 4F: = ein Viertel! ++ein Viertel?++ 5Zheng: 6F: joh! (0.8) 7 8 ein Viertel Herr Z H E N G 9Zheng: hahhhh/hihhh/ 10F: /ne?/ 11F: si / cher / 12Zheng: /zu groß/ + wieso zu groß?!+ 13F: 14 (0.5) 15Zheng: eh: I C H finde die Grammatik sind nicht 16 so wichtig, besonders wann wir, WIR eh studieren nicht Deutsch, aber WIR ehm lernen Deutsch eh 17 nicht nur eh:::: 18 Hier äußert Zheng (Zeile 12) zuerst seine Einschätzung. Die Begründung (15-18) folgt, nachdem F ihn dazu auffordert 'wieso zu groß?' (13). Ein indirekter Stil hätte zunächst langsam die Gründe vorgeführt: "weil wir aber in Deutschland nicht Deutsch studieren, sondern nur Deutsch verstehen und reden müssen, um in unserem Fachgebiet kommunizieren zu können deshalb ist der Grammatikanteil an der Prüfung zu hoch."

150

5.2.

Topik-Konstruktionen

Eine weitere Auffälligkeit in der Diskursorganisation der chinesischen Sprecher stellt die herausragende Markierung des Topiks dar. Über lange Zeit hindurch wurde in der Sprachwissenschaft der Satzbau lediglich unter den grammatischen Begriffen des Subjekts und Prädikats analysiert. Das Subjekt wurde dabei als grundlegende grammatische Struktur im Satzbau einer Sprache betrachtet. Durch die Entwicklung der funktionalen Satzperspektive und damit einer durchaus neuen Betrachtungsweise der Satzstruktur auf der Grundlage von 'Thema und Rhema' bzw. 'topic und comment' oder 'Topik und Fokus' begann man, zwischen der grammatischen Beziehung Subjekt - Prädikat und der funktionalen, diskursiven Relation Thema-Rhema zu unterscheiden. Bei der Analyse gewisser nicht-indoeuropäischer Sprachen stellte man fest, daß zur Beschreibung von Satzstrukturen dieser Sprachen die Unterscheidung zwischen Topik und Kommentar 3 8 sehr viel angemessener und tiefgehender war als die zwischen Subjekt 3 9 und Prädikat. Ja, die grundlegende Satzstruktur im Chinesischen kann in den Begriffen Topik-Kommentar weitaus umfassender beschrieben werden als mit den reinen Subjekt-Prädikat-Kategorien: However, the evidence we gathered from certain languages suggests that in these languages the basic constructions manifest a topic-comment relation rather than a subject-predicat relation. This evidence shows not only that the notion of topic may be as basic as that of subject in grammatical descriptions, but also that languages may differ in their strategies in construction sentences according to the prominence of the notion of topic and subject. (Li/Thompson 1976:4 59) Aufgrund seiner Satzstellungsmöglichkeiten und der herausragenden Position des Topiks zählen Li/Thompson (1976:460) das Chinesische zu den 'topic-prominent languages'. 4 0 'Subject-prominent languages', wie beispielsweise das Englische, werden dagegen von der Subjekt-PrädikatBeziehung d o m i n i e r t . 4 1 Zu den Charakteristika der 'topic-prominent'-Sprachen gehören folgende Aspekte: 1. Das Topik weist eine Oberflächenkodierung aufi Es steht beispielsweise stets am Satzanfang. 2. Passiv-Konstruktionen sind selten. 3. 'Dummy'-Subjekte existieren nicht. 4. Sogenannte 'double-subject'-Konstruktionen sind möglich, d.h. Satzkonstruktionen, wo zuerst ein Topik präsentiert wird, und danach ein Subjekt folgt. Das Topik hat in solch einem Fall 38 Die Begrifflichkeit Thema-Rhema geht auf den Prager Linguistenkreis zurück. Dort wurde von Mathesius (1929) - beeinflußt von Bühlers Sprachtheorie und dessen funktionaler Betrachtungsweise - das Konzept einer funktionalen Satzperspektive nach dem Mitteilungs- und Informationswert, also einer Teilung in 'bekannt/alt/Thema' una 'neu/Rhema'entwickelt. Die amerikanischen Begriffe 'topic' und 'comment wurden durch ihre Verwendung bei Chomsky (1965) internationales Allgemeingut und können prinzipiell mit den Begriffen 'Thema' und Rhema' gleichgesetzt werden. Das Problem liegt weniger in der Begrifflicnkeit als darin, dais mit der generativen Transformationsgrammatik und der funktionalen Satzperspektive zwei schwer kompatible sprachtheoretische Ansätze aufeinandertreffen. Mittlerweile wird jedoch die 'topic-comment'Begrifflichkeit auch von Linguisten verwendet, die im Bereich der funktionalen Grammatik, der Sprachtypologie und Diskursanalyse arbeiten. Da sich meine Darstellung der chinesischen Diskurspragmatik stark an die Arbeiten und Terminologie von Li/Thompson anlehnt, werde ich hier deren Begrifflicnkeit 'Topik' (topic) und 'Kommentar' (comment) verwenden. 39 Zur Problematisierung des Subjekt-Begriffs im Chinesischen siehe Li/Thompson (1981: 85-102). 40 Eine detaillierte Abhandlung über die 'Topic-Comment'-Struktur im Chinesischen liefert auch Tsao 197941 Hier muß jedoch angeführt werden, daß nicht alle indoeuropäischen Sprachen zu den 'subject-prominent languages' gezählt werden können. Wie die Analyse des gesprochenen Französisch von Lambrecht (1986) verdeutlicht, ist die präferierte Satzstruktur im gesprochenen Französisch keineswegs die SVO-Struktur, sondern eine, die durch Topik und Anti-Topik-Auslagerungen gekennzeichnet ist.

151

meist keine selektionale Beziehung mit dem Verb. 5. Das Topikelement (nicht das Subjekt) kontrolliert die koreferentielle Konstituenten-Tilgung. 6. Es handelt sich dabei meist um Verb-finale Sprachen. 7. Es existiert keine Einschränkung, was als Topik auftauchen kann. 8. Topik-Kommentar-Sätzc gehören zum Grundrepertoire der betreffenden Syntax. Die Topik-Konstruktionen stellen nach Li/Thompson (1976:459) nicht etwa Ableitungen dar, sondern sind als Grundstrukturen der betreffenden Sprache zu betrachten. 42 Geradezu charakteristisch fiir Topik-Sprachen sind die sogenannten 'double-subject'-Konstruktionen. Diese jedoch irreführende Bezeichnung entstammt älteren Arbeiten zur chinesischen Grammatik, die damals noch nicht mit dem Topik-Begriff gearbeitet haben. Konsequenterweise müßte stattdessen von 'Doppel-NP-Konstruktionen' oder 'Topik-Subjekt-Konstruktionen' gesprochen werden. Im Chinesischen ist also neben der Satzstruktur: a. Ν V N : "wo bu yao zhe tiao gou" ^ ^ § v L & f à (ich nicht wollen diesen Hund ) auch die folgende Struktur üblich: b. Ν Ν V: "zhe tiao gou, wo bu yao" (diesen Hund , ich nicht wollen ) Im Falle b. kann von einem 'topicalized sentence* bzw. einer Topikkonstruktion gesprochen werden, 43 wobei die erste NP in Satz b. dem Topik und die zweite NP dem Subjekt entspricht. Topik und Subjekt sind in solchen 'double-subject'-Konstruktionen in der Regel gut unterscheidbar, da das Topik die erste NP-Konstituente darstellt und meist in keiner selektionalen Beziehung zum Verb steht.

zhe tiao

(diesen

NP Topik

gou

Hund

(ich will diesen Hund nicht)

Ä wo

* bu

NP

V

ich

Kommentar

nicht

m

yao

wollen)

In diesem Satz stellt 'zhe tiao gou' das definite Topik dar und liefen den Rahmen fiir den folgenden Kommentarteil. Was die diskursive Funktion des Topiks betrifft, so kann nach Chafe (1976:54) der jeweilige Status des Nomens innerhalb einer Satzstruktur als 'Verpackungsphänomen' betrachtet werden: Die Sprecher passen ihre Äußerung an den momentanen Zustand der Rezipienten an, d.h. sie verpacken ihre Äußerung rezipientenorientiert. Das Topik bildet den räumlichen, zeitlichen oder individuellen Rahmen, innerhalb dessen die Hauptprädikation steht: In English topic status has to do with the sentence-initial position of certain contrastive items. In Chinese it may have to do with the establishment of a spatial, temporal, or personal frame or domain for an assertion which follows. (...) It may, however, be of some use in sorting out the several factors 42 Nach Chao (1968:83) weisen 50% aller chinesischen Äußerungen Topik-Konstruktionen auf. 43 Li/Thompson (1975:168).

152

which a speaker must manipulate as he speaks, so as to be able to get his message across with due consideration to the current state of his listener's mind. (Chafe 1976:55)

Mit dem Topik wird also der Kontext der folgenden Prädikation angekündigt und damit die Anwendbarkeit und Interpretierbarkeit der Hauptprädikation auf einen bestimmten Bereich eingeschränkt. D.h. das Topik fungiert als Rahmen, in dem Zeit, Ort, Personen oder allgemeine Umstände der in der Prädikation auftretenden Handlungen ausgedrückt werden 44 und stellt eine 'aboutness'-Beziehung zur folgenden Prädikation her. 4 ' Dieser 'aboutness'-Charakter wird in vielen neueren Arbeiten zur Definition des Topiks verwendet 46 und kommt auch in Chafes (1976) metaphorischer Beschreibung zum Ausdruck, wonach das Topik den "hitching post for the new knowledge" repräsentiert. Li/Thompson (1976) listen folgende Eigenschaften des Topik aufi 1. Das Topik ist immer définit. ('Definitheit' wird im Sinne Chafes (1976) verstanden). 2. Es braucht keine selektionale Beziehung mit dem Verb zu haben. Es braucht kein Argument des Verbs zu sein. 3. Es wird nicht vom Verb bestimmt. 4. Es hat insofern eine funktionale Rolle, als es als 'center of attention' das Diskursthema ankündigt. 5. Es kongruiert nicht mit dem Verb. 6. Es steht immer am Satzanfang. 7. Es ist nicht an grammatischen Prozessen beteiligt (wie beispielsweise Reflexivierung, Passiv, Verbserialisierung, Equi-NP-Tilgung). Diesen sieben Topik-Eigenschaften fugt Tsao (1979:88) in seiner Abhandlung zum Topikbegriff im Chinesischen noch folgende zwei hinzu, die gerade fur die Analyse längerer Diskursausschnitte zentral sind, und auf die ich noch zurückgreifen werde: 8. Topik ist als Diskursbegriff zu betrachten. Das Topik kann seinen semantischen Raum über mehrere Sätze ausdehnen. 9. Das Topik kontrolliert die Pronominalisierung und Tilgung aller ko referentieller NP's in einer Topikkette. In meinem Datenmaterial treten gehäuft Topik-Konstruktionen auf, die dem präferierten Satztypus im Chinesischen entsprechen, im Deutschen jedoch 'markiert' sind. Hierzu folgenden Transkriptausschnitt: GU0 4 1 Zhu: 2 3 4 5A: 6Zhu: 7A: 8Zhu: 9 10

fur die: ' Schüler die später (0.2) Technik studieren wollten, die haben damals auch gar keine Zeit fur ne Geographie oder fur ne Geschichte, solche Fach mhm ZEIT ZU GEBEN mhm deshalb also (...) die mit mir zusammen studieren, es gibt viele, die haben ja auch ganz wenig

44 Henne et al. (1977:80ff.). 45 U/Thompson (1981:85). 46 Lambrecht (1986:84).

153

11 13A: l4Zhu:

über Geschichte oder über Geographie mhm + also gelernt haben + in der Schule.

In Zeile 8-14 wird zunächst das Topik eingeführt "die mit mir zusammen studieren", dann folgt das Subjekt: also die mit mir zusammen studieren es gibt viele

TOPIK SUBJEKT

Li/Thompson (1981:92-93) betonen, daß in 'double-subject'-Konstruktionen zwischen dem Topik und dem Subjekt häufig eine Beziehung zwischen 'Teil' und 'Ganzem' herrscht. Das Topik repräsentiert das 'Ganze' (hier: die Menge aller Studenten: "die mit mir zusammen studieren"), während das Subjekt die 'Teilmenge' darstellt (hier: viele von dieser Menge: 'es gibt viele'). Bezeichnend fur die Topikkonstruktion in GUO 4 ist, daß sie in keiner selektionalen Beziehung zum Verb steht, und daß die Äußerung folglich nicht ungrammatisch wäre, wenn sie weggelassen würde. Was ihre pragmatische Funktion angeht, so reaktiviert sie den Referenten (viele der Studenten), indem sie ihn aus einem nicht-aktiven Zustand (bislang waren die Studenten, die mit Ζ studierten, als Referenten nicht aktiv, sondern lediglich aufgrund des 'frames' verfügbar 47 ) herausbringt. Aus diskurspragmatischer Perspektive wird hier Information verfugbar gemacht, die von nun an als 'gegeben' bzw. 'aktiviert' betrachtet werden kann. In den folgenden Ausschnitten entspricht die Beziehung zwischen Topik und Subjekt jedoch nicht der zwischen 'Ganzem' und 'Teilmenge'. Die Deutsche A drückt ihr Erstaunen bzgl. der angeblichen geschichtlichen Unkenntnis chinesischer Studierender aus. Sie wundere sich, daß Chinesen, die in Deutschland studieren, so wenig über ihre eigene Kultur wissen: Dies sei fur sie 'unvorstellbar'. Es kommt dann zu einer thematischen Verschiebung, und A fragt nach, ob Deutsche die anwesenden Chinesen oft über China, Uber die chinesische Kultur, Geschichte und Politik ausfragen: GUO 3 78A: 79 80 81

und dann wissen sie nichts - aber auch GAR nichts eh' oder fast gar NIX über ihre eigene Kultur. (0.2) das ist fur mich einfach unvorstellbar.

1A: 2 3 4Guo: 5A:

und da dacht ich einfach, daß Studenten und Deutsche EUCH auch mehr fragen würden. jetzt bin ich sehr er/staunt/ /mhm/ daß ihr /sagt gibt es gar nicht so viel/

47 Zu den kognitiven Zuständen von Referenten siehe Lambrecht 1986.

154 6Guo:

12Guo: 13 14A: 15Guo:

/gegt es auch eh gibt es auch/ welche

aber die diese diese UNvorstellbarKEIT, ich find verwunderlich. welche Unvorstellbarkeit? daß als zum Beispiel CHINESE

In Zeile 12-13 zeigt sich eine Topikkonstruktion, wobei das direkte Objekt ('diese Unvorstellbarkeit') als Topik - in Form einer 'left-dislocated NP"*8 - fungiert, das dem Kommentar-Teil ('ich find verwunderlich') vorausgeht: die diese diese UNvorstellbarKEIT ich

TOPIK SUBJEKT

Auch hier wird mittels Topik-Konstruktion ein nicht aktivierter, doch in der Sprecher-Annahme 'zugänglicher' Referent reaktiviert, um anschließend den Kommentar daran anzubinden ('aboutness'-Teil). Doch wie die Nachfrage von A 'welche Unvorstellbarkeit?' (14) verdeutlicht, ist die kognitive Reaktivierung des Referenten nicht gelungen: Für A ist der Topik-Referent nicht inferierbar. Der Bezugsbegriff "das ist fur mich einfach unvorstellbar" liegt zu weit zurück und ist fur A nicht mehr zugänglich. Im Deutschen (und Englischen) ist eine Topikstellung zwar nicht unmöglich, doch wird sie häufig durch a-propos'-Formeln, wie "was X anbelangt, übrigens der X, zu X, a propos Χ" markiert. Im Chinesischen, einer 'topic-prominent'-Sprache, ist eine solche Topikmarkierung zwar nicht erforderlich, jedoch können Topikkonstituenten von den Kommentarkonstituenten durch die Partikel 'a', 'ya\ 'ne', 'ma' und 'ba' sowie kurze Pausen abgetrennt werden 49 :

(Diesen Hund ' a\

ich nicht mögen).

Tsao (1979:89ff.) betont in seiner Arbeit zum Topik im Chinesischen, daß es sich bei der chinesischen Sprache um eine 'diskursorientierte Sprache' handle, im Gegensatz zum Englischen, das eher 'satzorientiert' sei. Für diese zunächst recht spekulativ klingende These liefert Tsao folgende Begründung: 1) Bei Topik und Subjekt handle es sich um verschiedene analytische Ebenen. Topik sei ein Diskurs begriff, während Subjekt ein Satzbegriff sei. 2) Chinesische Sätze könnten je nach Kontext und Kohäsionsbeziehungen sowohl ein Subjekt als auch ein Topik haben. Sie können auch beides bzw. weder Subjekt noch Topik haben. 3) Der chinesische Satz sei weitaus weniger klar definiert und weniger mit satzintern markierten Relationen ausgestattet als der eng48 Lambrecht (1987:231). 49 Tsao (1979:88).

155

lische Satz. 4) Im Englischen würden topikalisierte Elemente im allgemeinen klar markiert, beispielsweise durch Phrasen wie 'speaking o f , oder 'as for'. Das topikalisierte Element habe (im Englischen) keine wichtige Rolle in der grammatischen Organisation des Satzes inne. In einer diskursorientierten Sprache interagierten dagegen Diskurselemente wie das Topik mit der syntaktischen Organisation des betreffenden Satzes. Losgelöst vom Kontext seien deshalb Topik, Subjekt und Objekt häufig nicht zu unterscheiden. Man kann hierzu jedoch kritisch vermerken, daß im Englischen Satzgrenzen auch nicht ohne weiteres bestimmbar sind. Dennoch weist die von Tsao dargelegte These zum Chinesischen eine gewisse Ähnlichkeit zu der Differenzierung Givons (1979:97) zwischen dem 'pragmatischen' und 'syntaktischen' Sprachtyp auf. Funktional werden diese beiden Typen verschiedenen Parametern zugeordnet:

Pragmatic Mode:

Syntactic Mode:

a) topic-comment structure

subject-predicate structure

b) loose conjunction

tight subordination

c) slow rate of delivery (under several intonation contours)

fast rate of delivery (under a single intonational contour)

d) word-order is governed

word-order is used to signal mostly by one SEMANTIC case-functions (though it may also be used to indicate pragmatic-topicality relations)

PRAGMATIC principle: old information goes first, new follows e) roughly one-to-one ratio of verbs-to-nouns in discourse, with the verbs being semantically simple

a larger ratio of nouns-over-verbs in discourse, with the verbs being semantically complex

f) no use of grammatical morphology

elaborate use of grammatical morphology

g) prominent intonation-stress

very much the same, but perhaps not exhibiting as high a functional load, and at least in some languages totally absent.

marks the focus of new information; topic intonation is less prominent.

Man könnte nun die These aufstellen, daß das Chinesische als 'topic-prominent'-Sprache mit losen Satzverbindungen (Konjunktionen werden häufig getilgt, wie wir noch beobachten werden)

156 und ohne grammatikalische Morphologie eher dem pragmatischen Typ entspricht, während eine Subjekt-Prädikat-Sprache wie das Deutsche eher dem syntaktischen Typ nahekommt. Die meisten der bisherigen Analysen der chinesischen Satzstruktur gehen trotz ihrer postulierten Diskurs-Orientiertheit noch immer von isolierten Sätzen aus (wie auch Li/Thompson), statt die betreffenden Satzstrukturen innerhalb ihrer diskursiven Einbettung zu analysieren. Speziell bei Untersuchungen zu pragmatischen Konzepten wie Topik und Kommentar wäre eigentlich zu erwarten, daß Diskursanalysen gesprochener Sprache durchgeführt werden. 50 Der folgende längere Diskursausschnitt zeigt Topikkonstruktionen im Diskurszusammenhang: Die Deutschen D und A unterhalten sich mit dem Chinesen Yang über biologische und soziale Unterschiede von Frauen und Männern. YANG 32 lYang: 2 3 4 5 6D: 7Yang: 8 9 10 11 12 13 14A: 15Yang: 16A: 17Yang: 18 19 20 21D: 22Yang: 23D: 24Yang: 25D: 26Yang: 27 28Yang:

natürlich es gibt natürlich Ungleich Ungleichheit. (0.2) es gibt zum Beispiel sportlich (0.3) die die die eh die die Frauen - rekorde Weltrekorde und die die Männerrekorde ist unterschiedlich /das ist ( körperlich körperlich....)/ /ES GIBT ( )/ ich GLAUBE wir wissen schon, daß die die die Unterschiede zwischen also die MÄNNLICHE Körper und eh' die frauliche weibliche Körper. das wissen wir schon. ich glaube vielleicht es gibt noch ANDERE Unterschied ja geistige? /daß sie/ /geistige/ oder so was aber - /(ich mein)/ /und/ eh eh η (ich will) vielleicht hihi Sie werden so so Sie werden vielleicht sagen, ich bin sehr k konservat((HI))iv /((HI))und/ /ich/ werde sagen ein MANN /und sehen das aus/ /das ist Ihre Meinung/ Ihrer MÄNNLICHEN SICHT. ja. sag ich jetzt. hihihihihi (0.3) und - eh' (0.3) ich meine also die::

50 Viele der bislang noch offenen Fragen zu 'Topic-Comment'-Strukturen im Chinesischen müssen anhand konkreter chinesischer Diskursausschnitte erst noch genauer analysiert werden, wie beispielsweise die interaktive Funktion der Topik-Kommentar-Struktur im Vergleich zur Subjekt-Prädikat-Struktur. Weitere noch offene Fragen sind: In welchem Interaktionszusammenhang werden 'double-subject'-Konstruktionen verwendet (N1 N2 V) und wann Subjekt-Prädikat-Strukturen (N2 V Nl)? Haben Topik-Strukturen Auswirkungen auf das 'turn-taking'? Welche Beziehung besteht zwischen Topik und Subjekt? Welche Beziehung existiert zwischen Topik und Kommentar? Unter welchen Bedingungen werden Topik-Markierer (Partikel, Pausen) verwendet?

157 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38D: 39Yang: 40 41 42 43D: 44Yang: 45 46 47A:

zum Beispiel eh die die Weibliche IN DER WELT bei uns sagt eh die FRAU ist die Halbs HALBE HIMMEL eh HALBES HIMMEL. die MÄNNER HALBES HIMMEL. - das eh dieses is Bild die diese Welt ist kordiniert. mu muß kordiniert dann können wir eine GUTE Leben also gut also die::: gute Zukunft mhm haben, das ist also ich glaube das ist Grund auch von NATÜRLICH aus. das ist eine von NATÜRLICH aus eine Prinzip mhm deshalb muß ich sagen wenn die Männer und die Frauen sind GANZ gleich. (0.3) das ist (0.5) un/denkbar./ /nein aber/ es geht ja darum daß eh

In Zeile 2-5 liefert Yang eine typische Topikkonstruktion, indem er zunächst den Rahmen der Äußerung herstellt und dann die 'aboutness'-Relation darlegt: es gibt zum Beispiel sportlich (0.3)

Topik

die Frauen-rekorde Weltrekorde und die Männerrekorde ist unterschiedlich

Kommentar

Topik-Konstruktionen haben die kognitiv-pragmatische Funktion inne, bestimmte Referenten, die momentan nicht im Bewußtsein der Rezipienten sind, verfugbar zu machen, um anschließend über diesen Referenten eine 'aboutness'-Beziehung zu etablieren.' 1 Der folgende Kommentarteil ist auch in diesem Beispiel in Zusammenhang mit dem bereits als Topik eingeführten Rahmen interpretierbar: "die die die eh die die Frauen - rekorde Weltrekorde und die die Männerrekorde ist unterschiedlich". Bezeichnend sind ebenfalls die kurzen Pausen nach der Topikkonstruktion, die diese vom folgenden Kommentarteil abtrennen. Dieselbe Technik der Informationsdarlegung tritt auch in Zeile 28-31 aufi "und - eh' (0.3) ich meine also die:: zum Beispiel eh die die Weibliche IN DER WELT bei uns sagt eh die Frau ist die Halbs Halbe Himmel eh Halbes Himmel, die Männer halbes Himmel.". Auch hier wird zunächst das Topik und damit der Rahmen eingeführt, danach folgt der Kommentar-Teil:

51 Lambrecht (1987:234).

158

die Weibliche IN DER WELT

Topik

bei uns sagt eh die FRAU ist Halbs HALBE HIMMEL eh HALBES HIMMEL.

Kommentar

Die Konstituente "die Weibliche in der Welt" ist aufgrund des vorherigen Diskurszusammenhangs zugänglich und wird nun durch die Topikkonstruktion reaktiviert und als "matter of current concern" (Lambrecht 1986:100-101) der Hauptprädikation vorangestellt. Sicherlich könnte man hierbei auch im Deutschen eine Topikalisierung durchführen: "Was das Weibliche in der Welt angeht, so sagt man bei uns, daß die Frauen ". Doch bezeichnend ist, daß in der Äußerung von Yang keinerlei lexikalische Topikmarkierungen auftreten. Eine ganz ähnliche Technik der Informationsdarlegung zeigt sich in den Zeilen 44-46, wo Yang schließlich seine Hauptthese präsentiert: wenn die Männer und die Frauen sind GANZ gleich. (0.3)

Topik

das ist undenkbar.

Kommentar

Zunächst wird auch hier der Rahmen etabliert, der bereits eingeführte Referenten reaktiviert und sie damit in den momentanen Bewußtseinszustand der Rezipientinnen bringt. Erst im Anschluß wird die 'aboutness'-Beziehung dargelegt. Bezeichnend ist auch hier die kurze Pause (0.3), die den Topikteil vom Kommentarteil abtrennt. Deutschen Muttersprachlerinnen, denen ich diesen Gesprächsausschnitt vorspielte, kommentierten die Zeilen 44-46 entweder als "unklar, was Yang sagen will", oder aber sie verstanden Yang's Äußerung dahingehend, daß er behaupte, "Männer und Frauen seien ganz gleich". Aufgrund der Äußerungsstruktur und der folgenden Pause wurde der Kommentarteil 'das ist undenkbar' als neuer Äußerungsbeginn interpretiert, der nur lose mit dem bisher Gesagten verbunden ist. Doch niemand von den deutschen Muttersprachlerinnen verstand die Äußerung im Sinne Yang's, nämlich, "daß es aufgrund der dargelegten Ausführungen undenkbar ist, daß Frauen und Männer gleich sind". Chinesische Informantinnen, denen ich das Gespräch vorspielte, verstanden dagegen die Äußerung auf Anhieb und wiesen daraufhin, daß eine wörtliche Übersetzung ins Chinesische einen völlig akzeptablen Satz ergebe: "suoyi wo juede, nanren he nüren shi pingdeng de, zhe shi bu keneng de." 0T Α,ίΟ^ΓΑ Die Reaktion von Yang's deutschen Gesprächspartnerinnen zeigt ebenfalls, daß auch sie die Diskursorganisation nicht verstanden haben: Die Unterbrechung in Zeile 47, die vor Beendigung der Hauptthese d.h. kurz nach dem Topikteil kommt, zeugt davon, daß die Äußerung ähnlich interpretiert wurde, wie von Seiten der deutschen Informantinnen. Wie werden nun Topikstrukturen in chinesischen Kontexten eingebettet? Hier ein Ausschnitt aus dem chinesischen Korpus:

159

LIANG 5: 1 Zhang:

£ ft ft M ÏÎ lingwai wo jucde de hua

außerdem ich meine (wenn) 2

ÎE kencng ni zai guonei duo hua

vielleicht du im Inland mehr aufwenden 3

l i « W W W ® ban nian de shijian de hua

halbes Jahr Zeit 4

RTSÊ Κ * * « « ft keneng hai burn zai guowai

vielleicht noch nicht besser als im Ausland 5

TTte ttpff-f kencng jiu yi, liangge

ñ » T r a t t a yue jiu keyi shoudao xiaoguo.

vielleicht in ein, zwei Monaten dann kann bekommen Ergebnis. 6

ffiBBrt** — t - i S W JF fft yinwei zai guonei bijing zheyang yige yuyan huanjing

weil im Inland schließlich solch eine Spachumgebung shenme de yuanyuan

yao bi guowai chade hen duo.

usw weit wird wie Ausland schlechter sehr viel. 8

Rfífe M T « f t i a e s a kencng ni daole guowai yihou, dangran ni shuo hui you

vielleicht du angekommen Ausland danach, natürlich du sagen werden haben

9

A-T- SSTTMXR.Ä+ Ü W WM

zhege shiying de

shiqi, zhe ge

shiying de shiqi -

diese Gewöhnungszeit, diese Gewöhnungszeit 10

ft

» # ^ ¡ 6 wo jucde kencng ye bu guang

£ £ S W i f t S shi zai yuyan fangmian

ich meine vielleicht auch nicht nur ist im Sprachbereich 11

E t Ä f t hai you qita

fé* ge fangmian de, dou hen you guanxi.

auch haben andere Bereiche, alle sehr haben Beziehung. 12

s f t W M X jiu youde ren,

fr Μτί yuyan hao de hua

doch manche Leute, Sprache gut (wenn) 13

fi Ite fiffi ye bu neng hen kuai shiying

auch nicht können sehr schnell sich anpassen 14 nage shchui de, SUOYI wo xiang de hua,

jene Gesellschaft, DESHALB ich denke, 15

s a * £ * * « w w w ® zai zhc duo hua ban nian de shijian de hua

hier noch mehr aufwenden halbes Jahr Zeit

160

16 burn dao dcguo qu

nicht besser als nach Deutschland gehen

i7

irfc tt keneng jinbu hui geng kuai

yixie.

vielleicht Fortschritt wird schneller etwas.

Zhang: Außerdem meine ich, daß die Ergebnisse in ein bis zwei Monaten im Ausland besser sind, als noch ein weiteres halbes Jahr im Inland zu lernen, denn im Inland ist die Sprachumgebung bei weitem schlechter als im Ausland. Vielleicht wirst du, nachdem du im Ausland bist, sicher, so wie du sagst, eine Eingewöhnungsphase brauchen, diese Eingewöhnungsphase ist aber nicht nur auf den sprachlichen Bereich beschränkt, es sind auch andere Bereiche davon betroffen. Manche Leute können sich trotz guter Sprachkenntnisse nicht schnell in jene Gesellschaft eingewöhnen. DESHALB denke ich, es ist besser, nach Deutschland zu gehen, als noch ein halbes Jahr hier zu bleiben, dann werden die sprachlichen Fortschritte wahrscheinlich schneller sein. In Zeile 9 beginnt eine typische Topik-Struktur, wobei zunächst das Topik 'diese Gewöhnungszeit', das in der vorhergegangenen Äußerung dem Kommentar-Teil entsprach, und erst anschließend das Subjekt 'ich' produziert wird: "vielleicht du nach Ausland danach sicher wie du gesagt geben diese Gewöhnungszeit, diese diese Gewöhnungszeit. - ich denke vielleicht auch nicht beziehen nur auf Sprachbereich. Sprache, noch gibt andere Bereiche". Im Topikteil 'diese Gewöhnungszeit.'

wird die bereits bekannte Information dargelegt, die wieder-

um den Rahmen für die neue Information liefert. Wie Tsao (1979:210) verdeutlicht, stellt das Aufgreifen des Kommentar-Teils der vorherigen Äußerung und Präsentation dieser Information als Topik der momentanen Äußerung ein wichtiges Kohäsionsmittel im chinesischen Diskurs dar. Es zeigt sich also folgende äußerungsübergreifende Diskursstruktur: I. Topik A (bekannte Information) + Kommentar Β (neue Information) II. Topik Β (bekannte Information) + Kommentar C (neue Information) Das behandelte Diskursbeispiel (LIANG 5) weist diese Struktur auft I.

II.

du nach Ausland danach sicher wie du gesagt

Topik

geben diese Gewöhnungszeit. diese Gewöhn ungszeit. -

Kommentar Topik Kommentar

ich denke vielleicht auch nicht. ...

161

Mein Datenmaterial verdeutlicht, daß chinesische Interagierende bestimmte im Chinesischen verbreitete Äußerungskonventionen (sogenannte 'double-subject'-Konstruktionen, Topikalisierungen ...) und Kontextualisierungsverfahren zur Einfuhrung gegebener und neuer Referenten auch in ihren deutschen Gesprächen verwenden. Charakteristisch hierbei ist, daß die Topik-Konstituenten nicht durch 'a propos'-Formeln markiert sind, sondern meist nur durch kurze Pausen vom folgenden Kommentarteil abgetrennt werden. Diese Art der Diskursorganisation und den damit verknüpften Kontextualisierungshinweisen bzgl. gegebener und neuer Referenten fuhrt in Gesprächen zwischen Deutschen und Chinesen gelegentlich zu Mißverständnissen und Verstehensproblemen.

5.3.

'Tilgung' von Nominalphrasen

Der Missionar A. Smith (1894:83) wies in seiner Abhandlung über 'Chinese Characteristics' auf die Schwierigkeiten der Europäer hin, dem chinesischen Diskurs zu folgen. Die Ursache fur das 'hopeless labyrinth', in dem sich der Europäer dann befinde, sah Smith u.a. in der Auslassung des Subjekts begründet: It is often the most important word in the whole sentence which is suppressed, the clue to which may be entirely unknown. There is very frequently nothing in the form of the sentence, the manner of the speaker, his tone of voice, nor in any concomitant circumstance, to indicate that the subject has changed, and yet one suddenly discovers that the speaker is not now speaking of himself as he was a moment ago, but o f his grandfather, who lived in the days of T a o Kuang. How the speaker got there, and also how he got back again, often remains an insoluble mystery, but we see the feat accomplished every day.

Diesem 'Geheimnis' der chinesischen Diskursorganisation soll in diesem Kapitel nachgegangen werden, zumal 'Tilgungen'' 2 von Nominalphrasen auch in meinem Korpus gehäuft auftreten und zu Kohäsionsstörungen fuhren. Li/Thompson (1979:322) sprechen im Zusammenhang mit der 'Tilgung' von Nominalphrasen im Chinesischen von 'Zero-Pro'-Form oder 'Zero-Anaphora' und gehen so weit zu behaupten, daß Null-Anaphern im chinesischen Diskurs derart weit verbreitet sind, daß sie als unmarkierter Normalfall angesehen werden können. Betrachtet man isolierte chinesische Sätze, so erhält man aufgrund der häutigen 'Tilgung' von Subjekt oder Topik den Eindruck, sie seien ambig. Doch der Diskurskontext disambiguiert meist die Äußerung. Im Gegensatz zu vielen anderen Sprachen (z.B. Italienisch, Spanisch, Russisch), wo das getilgte Subjekt — also die Ellipse — am Verb markiert wird (z.B. Personenmarkierung) gibt es im Chinesischen keine expliziten, d.h. grammatischen Hinweise darauf, was getilgt wurde. Anhand pragmatischer R e g e l n " und aufgrund soziokulturellen Wissens muß der betreffende Referent kontextuell inferiert werden.

52 Der Begriff der 'Tilgung' impliziert, daß etwas Vorhandenes beseitigt wurde und suggeriert somit eine auf indoeuropäischen Sprachen begründete Perspektive. Da in der sprachwissenschaftlichen Forschung der Tilgungsbegriff in Zusammenhang mit chinesischen Nullanaphern verwendet wird, werde ich ihn auch hier anfuhren. 53 Levinson 1987.

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Treffen im Deutschen zwei koreferentielle Nominalphrascn in zwei aufeinanderfolgenden Satzteilen oder Sätzen aufeinander, so wird die koreferentielle Nominalphrase im zweiten Satz meist durch ein Pronomen wiedergegeben: I. Maria ist in England. II. Sie arbeitet dort als au-pair. In diesem Beispiel ist das Antezedenz der Pro-Form ebenfalls in Subjektposition. Im folgenden Beispiel ist das Antezedenz ein direktes Objekt: I. Wir haben kürzlich Mana gesehen. II. Sie sah sehr glücklich aus. Im Chinesischen wird jedoch die koreferentielle Nominalphrase im zweiten Satz - sofern kontextuell erschließbar - meist 'leer* gelassen. Ein Beispiel fur solch eine Subjekttilgung findet sich im QIN 12-Transkript (Zeile 140-144): I. DESHALB ja sind die viele Studenten jetzt - in eine WIDERSPRUCH geraten II. OBWOHL @ diese Widerspruch nicht lösen können. Das Antezedenz des getilgten Subjekts ist das vorausgegangene Subjekt 'die viele Studenten'. Im Chinesischen würde eine solche Subjekt'tilgung' einen kohärenten, korrekten Text darstellen.

I. hen duo xuesheng

xianru maodun zhi zhong.

II. suiran zhe xie maodun @

am

bu neng jie jue.

Im selben Transkriptauschnitt zeigt sich in den Zeilen (121-123) ein weiteres Beispiel der NullAnapher. Hier ist das Antezedenz des getilgten Subjekts jedoch nicht das Subjekt, sondern das direkte Objekt der vorausgegangenen Äußerung: I. Wenn wir einen anderen Mann bitten, zwischen uns einen zu wählen II. dann wür ja dann würd @ natürlich DISCH wä wählen. Im Chinesischen wäre diese Äußerung völlig korrekt:

163

ία*»η »

£tfem ± raa

I. Ruguo women qing yige ren zai women zhijian

#

%

£

m

ft.

xuan yige

II. name @ kending shi xuan ni. Im Chinesischen ist neben der Wiederholung der NP, sowie der Einfuhrung einer Pro-Form also auch die Null-Form als anaphorisches Realisationselement möglich. Interessant wäre nun die Frage, unter welchen Umständen welche Option im Diskurs verwendet w i r d . D a eine diskursanalytische Klärung dieser Fragestellung den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, sollen hier nur kurz die Thesen bisheriger Forschung zu diesem Bereich erwähnt werden: Li/Thompson (1979) werfen bei ihrer Analyse der chinesischen Pro-Formen die Frage auf, wann überhaupt Pronomina im chinesischen Diskurs auftreten, und kommen dabei zu folgendem Ergebnis: T h e degree o f preference for the occurence o f a pronoun in a clause inversely corresponds to the degree o f its conjoinability with the preceding clause. (Li/Thompson 1 9 7 9 : 3 3 0 ) ' '

Das Ausmaß an 'Conjoinability' hängt jedoch von der individuellen Wahrnehmung der Sprecher ab.56 In einer späteren Arbeit zu den chinesischen Pronomina ermitteln Li/Thompson (1981:662) darüberhinaus bestimmte diskursive Faktoren, die den Gebrauch der Pro-Formen bestimmen: Wird der Referent fokussiert (highlighting of the referent), so wird eher mittels Pronomen auf ihn referiert, ansonsten stehen Null-Pro-Formen. 57 Ein weiteres — im Zusammenhang mit Null-Anaphern — wichtiges Kohäsionsmittel in der chinesischen Diskursorganisation stellt die sogenannte 'topic-chain' dar:

54 Was die historische Entwicklung der 'Null'-Formen betrifft, so demonstriert Wang, daß aufgrund des wesdichen Einflusses auf die chinesische Sprache zahlreiche moderne Schriftsteller heutzutage häufig Nomen an Stellen verwenden, an denen eigendien Nomentilgungen adäquater und 'natürlicher' wirken: It is true that some sentences lacking subjects may be ambiguous, but to insist on supplying a subject for a sentence when it is clear what the subject is will make the sentence sound redundant. Therefore, whether a sentence should have a subject or not should be determined by rhetorical considerations. If we insist that the subject is an indispensable element in a sentence and regard any subjectless sentence as ungrammatical. we have clearly gone astray". (Wang 1945, zitiert in Tsao 1979:96-97.) 55 Man muß jedoch hinzufugen, daß die Arbeiten und somit auch die Ergebnisse von Li/Thompson sich stets auf schrifdich fixierte Texte beziehen. Was den mündlichen Diskurs angeht, so liegen leider bislang noch kaum Ergebnisse vor. Die Arbeit Tsaos (1979), die sich auf mündlichen Diskurs bezieht und einzelne Beispiele zitiert, stimmt im Bereich der Null-Formen mit Li/Thompson überein. 56 Li/Thompson (1979:334). 57 In seiner Arbeit zu den chinesischen Zero-Anaphora der 3. Person zeigt Chen (1984), daß zwei Prinzipien fur das Auftreten von Zero-Anaphora verantwortlich sind: das der 'Prodictability' und das der 'Negligibility Condition'. Die 'Prodictability' schließt folgende Kategorien ein: a. das Nicht/Vorhandensein weiterer konkurrierender Referenten, b. die 'conjoinability' im Sinne Li/Thompson, sowie c. eine Hierarchie der Zugänglichkeit, wobei die TopiWSubjekt-Position vor dem direkten Objekt und das wiederum vor dem indirekten Objekt als potentielle Referenten steht. Unter der 'Negligibility Condition' faßt Chen (1984:20fF.) die Möglichkeiten einer spezifischen Referenz (d.h. nicht genetisch), die Position in Haupt- und Nebensatz sowie die Kategorie 'belebt' vor 'unbelebt'. Wir können selbstverständlich in dieser Arbeit weder die von Chen aufgestellten Thesen ausführlich diskutieren, noch ihre Valiabilität anhand von Diskursanalysen überprüfen. Was jedoch unsere Textbeispiele (Zeile 121-12; Zeile 140-144) betrifft, so ist in beiden Äußerungen weder der Ko-Referent fìir die Information zentral, noch besteht ein Grund zum 'highlighting'. Vielmehr ist in beiden Fällen das Subjekt kontextuell leicht erschließbar. Aus diesen Gründen wäre - gemäß der vorgestellten Thesen von Chen - die Chance von Zero-Anaphern auch im Chinesischen groß.

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lOYang: 11 12 13 14D: 15Yang:

über also - vielleicht können auch an diese ( ) über seine eigene über seine eh::: über eigene über eigene Probleme - zu beklagen sich be/klagen/ - KÖNNEN Hilfe und /aber ich/ Unterstützung von der Verband bekommen.

Ist einmal das Topik ('die Frauen'; Zeile 2) etabliert, kann es in Form einer 'topic-chain' (Tsao 1979) über mehrere Äußerungssequenzen fortbestehen, und die Sprecher können sich mittels Null-Anapher darauf beziehen (Zeile 10 und 13). Trotz Sprecherwechsel und Redezugübernahme von Yang wird die Subjekt-NP mittels Null-Anapher wiedergegeben: "vielleicht können @ auch an diese ( ) über seine eigene über seine eh::: über eigene über eigene Probleme - zu beklagen sich be/klagen/ - @ KÖNNEN Hilfe und Unterstützung von der Verband bekommen." Das Antezedenz ist das vorausgegangene Topik: 'die Frauen'. Der Fortbcstand eines Topiks über mehrere Äußerungen hinweg und die Möglichkeit, sich auf das Topik mittels einer Null-Anapher zu beziehen, stellt nach Tsao (1979) ein wesentliches Charakteristikum und Kohäsionsmittel des chinesischen Diskurses dar. Wie Li/Thompson (1979:319) ausführen und auch meine Daten verdeutlichen, kann eine Null-Anapher selbst dann auftreten, wenn der Referent selbst bisher nicht explizit genannt war, jedoch diskursiv erschließbar ist. GUO 3 lZhu: 2 3 4Guo: 5Zhu: 6 7 8A: 9Zhu: 10 11

((zögernd)) ehm::::: aber ich ( ) die Ausbildung /in China is schon in letzter Zeit für uns/ /(· )/ sehr unterschiedlich, während der Kulturrevolution weil es also viele Fach - gar nicht (gegeben) in der Schule, mhm in Geschichte nur erzählen, was die Revolutionsgeschichte oder so wat. oder was weiß ich eh - also völlig anders.

In Zeile 9-10 ist die Subjektposition leer: "in Geschichte nur erzählen, was die Rcvolutionsgeschichte oder so wat". Der bisher nicht explizit genannte Referent der Null-Form ist hier aufgrund semantischen und pragmatischen Wissens (vgl. den bereits eingeführten Rahmen: 'Schule,

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Unterricht') diskursiv erschließbar. Im Deutschen würde man hier dagegen ein unbestimmtes 'man' oder die N P 'die Lehrer' erwarten: "man hat uns nur Revolutionsgeschichte beigebracht" bzw. "Bei uns wurden während der Kulturrevolution viele Fächer gar nicht unterrichtet. Und im Fach Geschichte hat man uns nur die Revolutionsgeschichte beigebracht." Die Übertragung chinesischer Diskurskonventionen ins Deutsche fuhrt — so zeigen die diskutierten Transkriptausschnitte - zu gewissen Kohäsionsstörungen.' 8

5.4.

'Auslassung' von Satzkonnektoren

Bereits W.V.Humboldt ( 1 9 0 6 : 3 2 0 ) ging in seinem Aufsatz "Über den grammatischen Bau der chinesischen Sprache" darauf ein, daß im Chinesischen "einander abhängende Sätze meistentheils ohne Conjunctionen gebraucht" werden, so daß "die Art ihrer Abhängigkeit nur aus ihrem Sinn und ihrem darin liegenden gegenseitigen Verhältniss hervorgeht." Ist im Chinesischen die Beziehung zwischen Satzteilen kontextuell inferierbar, so benötigt der Sprecher keine expliziten Konnektoren zur Signalisierung der Verbindung.^ 9 Im Deutschen ist das Fehlen von Satzkonnektoren jedoch 'bemerkbar' und kann zu Verstehensproblemen und Störungen in der Diskurskohäsion fuhren. YANG 3 2 34Yang: 35 36 37 38D: 29Yang:

die diese Welt ist kordiniert. mu muß kordiniert dann können wir eine G U T E Leben also gut also die::: gute Zukunft mhm haben.

Die Konjunktion des Konditionalsatzes 'wenn' wurde getilgt. W i e Li/Thompson ( 1 9 8 1 : 6 4 l f f . ) demonstrieren, benötigt das Chinesische keine expliziten Konjunktionen 'wenn' oder 'falls', sofern die Beziehung zwischen den Satzteilen aus dem Kontext inferiert werden kann. Das Rückverknüpfungselement 'dann' soll die Beziehung zwischen den beiden Satzteilen signalisieren.^0 Ganz ähnliche Konjunktions'tilgungen' 61 weisen die chinesischen Daten auf. Beispielsweise fällt im Gesprächsausschnitt LIANG 1 auf, daß in Zeile 13-14 neben der Subjekt'tilgung' auch das von deutscher Seite aus erwartbare konnektive Paar 'wenn ... dann' fehlt:

58 Auch der chinesische Sprachwissenschaftler Wang (zitiert in Tsao 1982:101) betont die Vorliebe der chinesischen Muttersprachlerinnen für die Tilgung von Subjekten, Objekten und auch Verbalphrasen, was - so Wang - in interkulturellen Kontexten dazu führt, daß englische Muttersprachlerinnen die chinesischen Äußerungen häufig als 'unlogisch' und 'unzusammenhängend' wahrnehmen. 59 Li/Thompson (1981:64Iff.)· 60 In seiner chinesischen Grammatik fuhrt Chao (1968:116) zum chinesischen Konditionalsatz aus: "A conditional clause can occur without an 'if-word by merely having the adverbs jiow ('jiu', S.G.) 'then' in the consequent clause (...)". 61 Der Begriff Tilgung bzw. Auslassung impliziert einen in den indoeuropäischen Sprachen verankerten Blickwinkel, der die Anwesenheit von Satzkonnektoren als 'unmarkierten' Fall setzt.

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¡ f i J . VX a m IM crqic yi women xianzai de deyu shuiping außerdem mit unser jetzt Deutsch Niveau

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dao deguo qu xuexi, nach Deutschland gehen studieren, Wife M « * keneng kunnan hen da. vielleicht Schwierigkeiten sehr groß. Aufgrund der kontextuellen Erschließbarkeit ist eine explizite Markierung der Teilsatzverknüpfung im Chinesischen nicht notwendig, die 'Auslassung' der Konjunktionen ist ein wesentlicher Bestandteil der Kohäsionsbildung im chinesischen Diskurs.62 Ahnliche Kohäsionsphänomene finden sich auch in meinem chinesisch-deutschen Datenmaterial. Die Äußerungen der chinesischen Gesprächspartner erscheinen im Deutschen wie eine Nebeneinanderrcihung von Sätzen und Teilsätzen, ohne Markierung der Art der Verknüpfung. Bauersachs et al. (1984:19; 91) machen ähnliche Beobachtungen bezüglich "sprachlicher Auffälligkeiten chinesischer Deutschlernender". Statt längerer Satzgefüge würden die Deutschlernenden - aufgrund von Interferenzen aus dem Chinesischen - zu kurzen Hauptsätzen neigen, die unverbunden nebeneinander stehen. Sicherlich spielen hierbei auch lernersprachliche Ursachen eine Rolle. Wie jedoch Cummins (1984:467) Arbeit im Bereich der chinesischen Satzverknüpfung verdeutlicht, sind im chinesischen Diskurs "juxtapositions of independent clauses without overt marking" sehr verbreitet. Die Kohäsion zwischen den Sätzen ergibt sich aufgrund von 'shared arguments'. In diesem Zusammenhang ist der Beginn des Gesprächsausschnitts YANG 32 aufschlußreich: Yang:

natürlich es gibt natürlich Ungleich Ungleichheit. (0.3) es gibt zum Beispiel sportlich (0.3) die die die eh die die Frauen - rekorde Weltrekorde und die die Männerrekorde ist unterschiedlich das ist ( körperlich körperlich....) ich GLAUBE wir wissen schon, daß die die die Unterschiede zwischen also die MÄNNLICHE Körper und eh' die frauliche weibliche Körper, das wissen wir schon. ich glaube vielleicht es gibt noch ANDERE Unterschied

Auch wenn Verknüpfungselemente zwischen den Teilsätzen und Sätzen vermißt werden, so ist dennoch ein Argumentationszusammenhang zwischen den einzelnen Teilsätzen zu erkennen. Statt die Satzverknüpfung mincis Konjunktion zu markieren, reiht Yang - analog zur chinesischen Satzverknüpfung — Teilsätze und Sätze als 'shared argument group' 63 aneinander. 62 Cummins 1984. 63 Cummins (1984:467).

167

5.5.

Weitere diskursive 'Auffälligkeiten' in den Äußerungen chinesischer Deutschlernender

Die folgenden Aspekte, die sich auf grammatische Phänomene im engeren Sinne beziehen, werden teilweise in verschiedenen Arbeiten zu "Interferenzerscheinungen bei chinesischen Deutschlernenden" (Sui 1985), "Hauptschwierigkeiten fur Chinesen beim Erlernen der deutschen Sprache" (Gao 1983), "sprachlichen Auffälligkeiten chinesischer Deutschlernender" (Bauersachs et al. 1984) sowie in einer 'Fehleranalyse' chinesischer Deutschlernenden (Xu 1984) bereits erwähnt und sollen hier nur kurz skizziert werden. Diese Phänomene können zwar zu Verstehensproblemen fuhren, doch werden sie aufgrund ihrer raschen Identifizierbarkeit als Grammatikprobleme schnell lokalisiert und wenn nötig repariert.64

Ausdruck von Definitheit/Indefinitheit Das Weglassen des Artikels stellt eine systematische Erscheinung in den Äußerungen chinesischer Deutschlernender (Nullartikel YANG 31 Yang:

dar.6^

Die folgenden Transkriptausschnitte weisen typische Artikelfehler

aufi

natürlich es gibt natürlich @ Ungleich Ungleichheit. (0.3)

YANG 35 73Yang: aber - ja. ich wollte doch ja einmal versuchen, ja. 74 und am An: fang'- eh habn wir - @ Deutschsprache 75 gelernt, das heißt ein Jahr eh ein ganzes Jahr ZHENG 2 35Zheng: 36 37 38 39 40 41F:

aber mindestens mehr an - eh wenn wir mehr ein Semest eh Deutsch lernt werden eh haben wir weniger Problem mit Deutsch (0.8) ehm besonders in @ Umgangssprache in D E R Umgangssprache

MA 3 21 Ma: 22 23

ja. ehm ((Rä us pern)) weil ehm von (Schuld) @ zweite Gruppe Menschen ehm::: ka können sie - ehm' lang

38

aber wenn ich - ehm - G E L D von @ deutsche

64 Siehe Kapitel 4.1. 65 Bauersachs et al. (1984) zählen Artikelfehler zu den stärkeren 'Auffälligkeiten' im Sprachgebrauch chinesischer Deutschlernender. Tsao (1982:105) berichtet von Untersuchungen über Fehler Dei chinesischen Englischlernenden und betont ebenfalls, daß Artikelfehler zu den am weitesten verbreiteten Fehlerquellen gehören. Vgl. auch Sui (1985:356).

168

39 40

ProfesSOR bekomme, dann kann ich eh don- bleiben. (0.3) ja. sicher.

Im Chinesischen gibt es keinen Artikel; Definitheit bzw. Indefinitheit wird vor allem syntaktisch, durch die Satzstellung markiert. 66 Während eine NP vor dem Verb stets définit ist, ist eine postverbale NP meist indefinit, es sei denn, sie wird mittels Demonstrativpronomina 'zhe' S (diese/r) bzw. 'na' ® (jene/r) oder Zahlwort'yige' ~ " f * (ein/e) eingeführt: 67 'Si le ten*

Τ À (sterben Person ((Aspekt)) d.h. "eine Person ist gestorben "). Dagegen:

'Ren si le' À 5 E Τ (Person sterben ((Aspekt)), d.h. "die Person ist gestorben").6* Diesselbe Regel gilt auch für Objekte: Ein definites Objekt steht meist vor dem Verb, ein indefinites hinter dem Verb: a. keien he-le pijiu. $ A. ' S 7 ff Ì 0 (Die Gäste tranken Bier) Gäste trinken (Asp.) Bier b. keren ba pijiu he-le. Ç À. ÍE 0 Í I S "S 7 (Die Gäste tranken das Bier) Gäste (Part.) Bier trinken (Asp.) c. pijiu keren he-le. m m ^ k m r (Das Bier, die Gäste tranken es) Bier Gäste trinken (Part.) Dragunov (1960:234) geht in seiner Grammatik des modernen Chinesischen ebenfalls auf das 'determinierte' Bedeutungspotential der chinesischen Satzstellung ein: Während die Äußerung 'lai le ke ' 7 Ç A. (es sind Gäste gekommen) korrekt ist, ist 'lai le ta' j¡í (er ist gekommen) aufgrund der Bestimmtheit des Personalpronomens nicht möglich. Die korrekte Satzstellung wäre in diesem Falle: 'ta lai le' "(ifeïtfe T . Probleme im Bereich der Flexion Die Häufigkeit von Fehlern chinesischer Deutschlernenden im Bereich der Morphologie wird immer wieder konstatiert (Gao 1983:44; Xu 1984:391; Bauersachs et al. 1984:24; Sui 1985:355). Das Chinesische kennt keine Flexion; so wird beispielsweise Tempus — wenn nicht kontextuell erschließbar - anhand von Zeitadverbien und Partikeln markiert. Chinesische Deutschlernenden verwenden häufig Präsensformen, um vergangene Ereignisse darzustellen. 69

66 67 68 69

Li/Thompson (1981:20). Li/Thompson (1975:184). Li/Thompson (1975:167). Die gehäufte Präsensverwendung in Zusammenhängen, die Präteritum verlangen würden, beschreiben auch Bauersachs et al. (1984:19) als eine der stärksten sprachlichen Auffälligkeiten chinesischer Deutschsprechender. Meine Daten zeigen - ähnlich wie auch die Untersuchungen von Bauersachs et al. (1984:24), - daß die hier genannten Grammatikfehler, wie falscher Artikelgebrauch und Tempusmarkierung selbst bei sehr fortgeschrittenen Deutschlernenden (Gespräche der Kategorie I in meinem Korpus) auftreten.

169

Im folgenden Beispiel verwendet Qin eine Präsensform, um von einer vergangenen Handlung zu berichten: Q I N 12 75Q: 76 77M: 78Q: 79 80

ich habe einmal in einer Zeitung gelesen, daß in Peking eine Umfrage gemacht worden ist mhm dann werden viele - Mittelschule umgefragt ob sie dann danach so (0.3) eine Chance haben wollen weiterzustudieren

Weitere Abweichungen im diskursgrammatischen Bereich stellen Verwechslungen der Personaipronomina 'sie' und 'er* 70 sowie das Auslassen der Kopula (sein) dan Shu 13 48 U: 49 50 51Shu: 52

und warum hat er die dann verlassen? (0.5) ((seufzt)) hhh das @ wirklich eine eine eh lange Geschichte

Diese hier in 5.5. behandelten grammatischen Fehler können u.U. zu lokalen Verstehensproblemen fuhren, die in Nebensequenzen repariert werden und damit den reibungslosen Ablauf des Interaktionsflusses stören. 71 Gleichzeitig reproduzieren diese 'Fehler' den Lernerstatus der Chinesen. Doch werden sie aufgrund ihrer raschen Einordnung als lcrnersprachliche Defizite den sprachlichen Schwächen der Sprecher zugeschrieben und nicht etwa ihrer sozialen Inkompetenz (z.B. "er/sie kann nicht zum Punkt kommen"; "man weiß nicht, was sie/er eigentlich sagen will"; "er/sie ist etwas konfus"), wie dies bei den hier ausfuhrlicher behandelten diskurspragmatischen Auffälligkeiten der Fall ist. Grammatical errors may be irritating and impede communication, but at least, as a rule, they are apparent in the surface structure, so that H (the hearer, S . G . ) is aware that an error has occured. (...) Pragmatic failure, on the other hand, is rarely recognized as such by non-linguists. If a non-native speaker appears to speak fluently (i.e. grammatically competent), a native speaker is likely to attribute his/her apparent impoliteness or unfriendliness, not to any linguistic deficiency, but to boorishness or ill-will. While grammatical error may reveal a speaker to be a less than proficient language-user, pragmatic failure reflects badly on him/her as a person. Misunderstandings o f this nature are almost certainly at the root o f unhelpful and offensive national stereotyping: 'the abrasive Russian/German', 'the obsequious Indian/Japanese', 'the insincere American', and 'the standoffish Briton.' (Thomas 1983:96-97)

Betont werden sollte ferner, daß selbstverständlich nicht alle Phänomene in der Diskursorganisation chinesischer Sprecher auf Interferenzen72 (sei dies auf der Ebene der Diskurspragmatik 70 Hierzu Kapitel 4.1. 71 Hierzu Kapitel 4.1. 72 Zum Transfer und zu Interferenzerscheinungen siehe Kohn 1986.

170

oder eher im morpho-grammatischen Bereich) zurückzuführen sind. Gewisse Phänomene repräsentieren eine Konsequenz fremdsprachlichen Handelns und sind Teil der 'Interlanguage' bzw. 'Interimsprache'. 73 In interkulturellen Situationen (zwischen Muttersprachlerinnen und Lernenden) treffen Interferenz-Phänomene mit Interlanguage-Phänomenen zusammen, und es ist nicht immer klar zu unterscheiden, worauf eine bestimmte 'auffällige' sprachliche Struktur nun letztendlich mit aller Sicherheit beruht.

Zusammenfassung Das Datenmaterial verdeutlicht, daß chinesische Interagierende andere Konventionen der Diskursorganisation und damit unterschiedliche Kontextualisierungshinweise in Hinblick auf die "Verpackung von Informationen" aufweisen. Die Übertragung chinesischer Syntaxstrategien ins Deutsche fuhrt teilweise zu Mißverständnissen, Fehlinterpretationen und Gesprächsstörungen. Ein wesendiches Stilelement chinesischer Sprecher stellt - so konnte die Datenanalyse in Übereinstimmung mit Youngs These (1982; 1986) zeigen - das langsame Aufrollen von Hinteigrundinformationen dar, bevor die Hauptthese präsentiert wird. Jedoch verdeudichen meine Daten, daß diese Art der Diskursorganisation nicht die einzig mögliche darstellt. Die Tatsache, daß deutsche Sprecher eher den direkten Stil und chinesische Sprecher häufig den indirekten Stil aufweisen, heißt nicht, daß es keine Überschneidungen geben kann. Auch chinesische Sprecher verfugen über Komponenten des direkten Stils. Von daher würde ich Youngs These weniger strikt formulieren und die beiden Möglichkeiten der Diskursorganisation als zwei verschiedene Stile verstanden wissen, wobei chinesische Sprecher in bestimmten Situationen eher zum indirek1 ten Stil " h u a l o n g d i a n j i n g " ¡ Ü ^ É , ^ S j f neigen, während deutsche Sprecher den direkten Stil " k a i m e n j i a n s h a n " ^ * f ~ l J Ä L | J L | präferieren. Interessanterweise wird der indirekte Diskursstil in meinem Datenmaterial fest ausschließlich von chinesischen Deutschlernenden verwendet, die entweder noch nie im deutsch-sprachigen Kulturraum waren oder aber erst kurze Zeit in der Bundesrepublik studieren (1-9 Monate). Diejenigen Chinesinnen und Chinesen, die sich bereits längere Zeit in der Bundesrepublik aufhalten, verwenden diese Strategien weitaus seltener. Wie die Analyse verdeutlicht, kommen jedoch weitere Faktoren der Diskursorganisation hinzu, die interkulturelles Verstehen erschweren und Eindrücke der 'Inkohärenz', 'Indirektheit', 'Zirkularität', bzw. "nicht zum Punkt kommen" und 'Unklarheit' hinterlassen können. So werden im Deutschen und Chinesischen teilweise unterschiedliche syntaktische Mittel zur Herstellung diskursiver Konnexion bzw. unterschiedliche Strategien der Informationsverpackung benutzt (unterschiedliche Verfahren zur Signalisierung von Haupt- und Nebeninformationen, von gegebenen und neuen Informationen, unterschiedliche Techniken der Textkohäsion sowie unterschiedliche Kontextualisierungshinweise fur Definitheit und Indefinitheit). Sowohl der Diskurs chinesischer Deutschsprechender als auch der chinesische Diskurs zeichnet sich durch TopikKonstruktionen und sogenannte 'double-subject'-Strukturen aus, sowie durch häufige 'Tilgun-

73 Zur 'Interlanguage' und 'Interimsprache' siehe Kasper (1981:12ff.).

171

gen' bestimmter grammatischer Kategorien (Null-Anaphern, 'Tilgung' von Konjunktionen), die im Deutschen Störungen der Diskurskohäsion bewirken. Ich möchte nun die These vertreten, daß nicht ein einzelnes dieser Elemente den Eindruck der Zirkularität, Indirektheit und Inkohärenz hinterläßt, vielmehr ist Konversation - im Sinne Gumperz (1982:30) - als eine 'multi-channeled activity' zu betrachten, wobei syntaktische, lexikalische, diskurspragmatische und prosodische Strukturen zusammentreffen. Diese verschiedenen Ebenen 'interagieren' und bilden zusammen den jeweiligen Diskursstil. Gerade die Kombination verschiedener hier vorgeführter Diskursphänomene fuhrt dazu, daß Europäerinnen den chinesischen Diskurs als 'undurchschaubar', 'zirkulär', 'indirekt' und 'exotisch' wahrnehmen.

6.

Unterschiede im Rezipientenverhalten: Mhm's, ja's und Echos

Im Zuge neuerer Arbeiten zum Interaktionsverhalten - insbesondere unter dem Einfluß der ethnomethodologischen Konversationsanalyse - bekommt die bislang in der Sprachwissenschaft vernachlässigte Rolle des Hörers ein stärkeres Gewicht.1 Zuhören wird nicht länger auf die Rezeption und Entschlüsselung von Informationen reduziert, sondern als soziale Aktivität betrachtet, die bestimmte Informationspotentiale in sich birgt. Ebenso wie die Sprecherinnen das Reden 'produzieren' ('doing speaking' im ethnomethodologischen Sinne), 'produzieren* die Rezipienten das Zuhören ('doing listening') und signalisieren damit ihre Aufmerksamkeit, ihr Verstehen, ihre Zustimmung bzw. Ablehnung. 2 Die interaktive Kooperation zwischen Sprecherin und Rezipient stellt - wie bereits Volosinov in den 20er Jahren betonte - eine notwendige Voraussetzung jeder Kommunikation dar. Die wahre Realität der Sprache als Rede ist nicht das abstrakte System sprachlicher Formen, nicht die isolierte monologische Äußerung und nicht der psycho-physiologische Akt der Verwirklichung, sondern das soziale Ereignis der sprachlichen Interaktion, welche durch Äußerung und Gegenäußerung realisiert wird. (Volosinov 1975:157)

Bachtin (1986:82fF.) kritisierte in diesem Zusammenhang die traditionelle Linguistik, die aufgrund ihrer Satz-Orientiertheit das wesentliche Kriterium der sprachlichen Kommunikation aus den Augen verliere: Sie ignoriere die Interaktion zwischen Sprecher und Hörer und damit die Abhängigkeit jeder Äußerung von der vorausgehenden und nachfolgenden Aktion bzw. Reaktion. Die von Volosinov bzw. Bachtin geforderte Analyse des Sprechens als dialogische Handlung und die damit verbundene Einbeziehung der Hörerrolle in die Sprachanalyse wurde in den letzten Jahren im Bereich der Konversationsanalyse ansatzweise verwirklicht:3 Goodwin (1981) fuhrt anhand einer Detailanalyse die starke Abhängigkeit der Redezugkonstruktion von den (verbalen und nonverbalen) Reaktionen der Rezipienten vor: Eine Äußerung stellt kein statisches Konstrukt dar, sondern steht in engem Zusammenhang mit und in sequentieller Abhängigkeit von der vorhandenen bzw. bemerkbar ausbleibenden Rezipienten-Reaktion. Wir alle kennen die Situation, daß wir gerade mitten im Erzählen einer Geschichte sind und plötzlich beobachten, wie ein Zuhörer die Stirn runzelt. Dieses Runzeln kann bestimmte Konsequenzen fur die Fortsetzung unserer Erzählung haben: Wir werden sie abkürzen, berichtigen, begründen, eine andere Wortwahl treffen oder sie anderweitig modifizieren. Nonverbale Formen des Rezipientenverhaltens wurden bereits 1967 von Kendon diskutiert. Yngve (1970) prägte den Begriff der 'backchannel communication fur die Reaktionen des Rezipienten, die im 'backchannel' ablaufen und somit keinen eigenen Redezug beanspruchen. Duncan (1973; 1974) übernahm diesen Begriff und diskutierte neben 'uh huh' und 'yeah' weitere Re1 2 3

Vgl. die Sprechakttheorie, die sich primär mit den Intentionen des Sprechers befaßte. Bedingungen für das Glücken eines Sprechakts wurden rein sprecherzentriert formuliert. Der Hörer existierte lediglich als Adressat und nicht etwa als aktiver Ko-Produzent. Erickson (1979:100). Sacks 1972a; Kallmeyer 1978; Goodwin 1981.

173

zipientenphänomene wie 'brief restatement' (Fremdparaphrasen), Klarifikationsaufforderungen sowie "head nodes and shakes".4 Weshalb produzieren Rezipienten in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen diese Signale? Welche Funktionen haben 'backchannel'-Elemente? In der Literatur wurden ihnen mehrere interaktive Funktionen zugeschrieben^ a. Sie signalisieren Aufmerksamkeit und aktive Zuhörerschaft; b. sie geben Verstehen vor; c. sie demonstrieren Zustimmung; d. sie repräsentieren das Bemühen, das Gespräch reibungslos und koordiniert zu gestalten. Wenn nun Hörersignale (wie 'mhm', 'ja* etc.) verschiedene Funktionen innehaben können, so stellt sich die Frage, wie die jeweilige Funktion ermittelt werden kann. Gelegentlich kann sie aufgrund der Reaktion des Sprechers erschlossen werden. Doch hilft dieses methodische Vorgehen nicht in jedem Falle. S U 16 58K: 59 60A: 61K: 62 63 A: 64 65K: 66A:

die werden auch, wenn sie also nach Ghina geschickt werd/en/ müssen sie auch /mhm/ - glaub ich Englisch mindestens' vorher /lern/en. /mhm/ (0.8) nicht /also eh mitderes Management/, diese Leute mein ich. /mhm ehm mhm mhm /

Sind A's 'mhm's' als Zeichen der Aufmerksamkeit bzw. der aktiven Zuhörerschaft, des Verstehens oder etwa der Zustimmung zu interpretieren? Die Reaktionen K's klären diese Frage keineswegs eindeutig. 6 In seiner Analyse zum Rezipientenverhalten argumentiert Schegloff (1982:78), daß Hörersignale wie 'uh hum', 'yeah' etc., weder Verstehen zeigen noch belegen können, sondern im besten Falle Verstehen vorgeben. Sie signalisieren, daß der Rezipient den bisherigen Außerungsteil vorbeiziehen läßt, ohne eine Reparatur zu initiieren ("to pass an opportunity to initiate repair" 7 ). Auf diese Weise wird der Sprecher ermutigt, mit der Äußerung fortzufahren. Von daher ist es so Schegloff — angemessen, von 'continuers' (Fortsetzungssignale) zu sprechen: If it is the case (...) that any talk can be a trouble-source, then 'after any talk' can be a place for repair to be initiated on it. Speakers can look to the moments after some unit of talk to find whether repair on that talk is being initiated; indeed, speakers who will be continuing can leave a moment of nontalk for such repair to be initiated if the talk just produced is to be treated by others as a trouble-source.

4

In dyadic, face-to-face conversations, as the speaker continues his turn, the auditor does not typically remain mute and motionless. Rather, he may frequently nod or shake his head and utter a variety of vocalizations, such as 'mhm' and 'yeah'. (These and similar behavior will be termed 'back-channel-behavior') . Duncan (1974:164). 5 Schegloff ( 1982:78). 6 Auch Wittgenstein (1973:6) wies auf die Schwierigkeit hin, das Verstehen des anderen eindeutig zu bestimmen: "Man sagt: Das Verständnis ist doch etwas Anderes als der Ausdruck des Verstehens. Das Verständnis kann man nicht zeigen; es ist etwas Inneres. Seelisches. - Oder auch: Was immer ich zum Zeichen des Verständnisses tue, ob ich die Erklärung eines Wortes wiederhole, oder einen Befehl ausführe zum Zeichen, daß ich ihn verstanden habe, so müssen diese Handlungen doch nicht als Beweis des Verständnisses gedeutet werden." 7 Schegloff (1982:88).

174

T h e n ' u h - h u m ' , n o d s , a n d t h e like, in passing the o p p o r t u n i t y to d o a full t u r n at talk can be seen t o be passing an o p p o r t u n i t y to initiate repair on the immediately preceding talk. (Schegloff 1 9 8 2 : 8 7 - 8 8 )

Die 'continucr'-Funktion schcint jedoch insofern etwas zu kurz gegriffen, als Elemente wie ' m h m \ 'ahja', 'ja', etc. nicht nur an jenen sequentiellen Stellen produziert werden, die Gelegenheit zur Redezugübernahme und zur Reparaturinitiierung geben und damit eine Korrekturinitiierung vorübergehen lassen, sondern häufig in Überlappung mit der momentanen Äußerung auftreten, d.h. an Stellen, die keinerlei Redezugübernahmen erwartbar machen, wo der momentane Sprecher keine Pause fur eine potentielle Reparatur läßt, und wo syntaktisch und prosodisch ersichtlich ist, daß die Äußerung fortgesetzt wird. Hierzu folgendes Beispiel: SU 24-25 13P: 14 15 16A: 15P: 16A: 17P: 18 19A:

sondern man würd dann irgendwie sagen, könnten wir nicht M E H R Übungen machen oder könnten /wir/ nicht (0.8) /mhm/ irgendwie die Thematik inten/siver/ oder so /was/ /mhm/ /mhm/ so würd man die Kritik eher üben, also /so kenn/ ichs von der Uni her. / m h m mhm/

'Back-channel'-Elemente können nicht in jedem Fall auf reine 'continuer'-Funktionen reduziert werden. In gewissen Situationen können sie darüberhinaus aktive, emphatische Zuhörerschaft signalisieren und in anderen Fällen die Äußerung des Sprechers bestätigen. 8 Wesentlich fur ihre Funktion ist jedoch stets die sequentielle Plazierung, die Wahl des betreffenden Elements sowie seine prosodische Realisierung. Allein ein 'mhm' kann völlig verschiedene Funktionen innehaben, je nachdem wie es realisiert wird: mit fragender, emphatischer, Skepsis-ausdrückender Intonation. Dem folgenden Transkriptausschnitt geht eine Frage A's - hinsichtlich der Bedingungen, die ein Mann erfüllen muß, um als Heiratskandidat fur Du in Frage zu kommen - voraus: D U 12 9 Du: 10 11 12A: 13 14Du: 15A: 16 17Du: 8

eh:::::? dann eh zuerst möchte eh muß ich feststellen, daß er wirklich eh:::::: mich LIEBT. können Sie das? (1.0) (....) in Wirklichkeit glaube ich sehr schwer. mhm (0.5) und dann - eh

Vgl. auch Maynards (1986:1095) funktionale Einteilung der Hörersignale in folgende f ü n f Kategorien: 1. 'continuer'; 2. Zeichen inhaltlichen Verstehens; 3. Unterstützung und Empathie gegenüber dem Sprecher; 4. Zustimmung; 5. starke emotionale Reaktion.

175 18 19 20 21A: 22Du: 23 24A: 25Du: 26A:

(1.5) ja eh scine Eltern eh müssen auch mit eh mit mir mal darüber sprechen mhm? weil weil man später auch mit seine Eltern mhm zusammen leben soll mhm

Das 'mhm' in Zeile 15 wird mit einer sehr emphatischen Stimme gesprochen, so daß es den Charakter einer emotionalen Zustimmung erhält, während das 'mhm?' mit Frageintonation in Zeile 21 Zweifel bzw. Skepsis kontextualisiert. Die Reaktion Du's unterstützt diese Interpretation: Sie liefert eine Begründung (22-23) fur ihre Aussage. Die folgenden 'mhms' in Zeile 24 und 26 scheinen aufgrund ihrer unmarkierten Realisierung und ihrer sequentiellen Plazierung eher 'continuer'-Funktionen zu haben. Kann nun eine generelle, über diese einzelnen, lokal ermittelbaren Funktionen hinausgehende Charakterisierung der Hörersignale vorgenommen werden? Maynard (1986:1096) schlägt als allgemeine Funktion die des 'recipient design' vor. Mit dieser sehr vagen Einordnung (jedes dialogische Sprechen orientiert sich in der Regel an den Rezipienten; bei mangelndem Rezipien tendesign treten meist Kommunikationsstörungen auf) verlagert Maynard die Funktionsbestimmung der Hörersignale wiederum auf die jeweilige Gesprächssituation und die sequentielle Plazierung.

6.1.

Kulturspezifische Rezipientenreaktionen

Um eine Alltagsinteraktion reibungslos verlaufen zu lassen und eine fokussierte Interaktion aufrecht zu erhalten, ist ein bestimmtes Maß an Kooperation, ja an gemeinsamem Involviertsein zwischen Sprecherin und Hörer Voraussetzung. Um Kooperation zu signalisieren, stehen dem Rezipienten bestimmte, kulturell festgelegte, verbale (und nonverbale) Mittel zur Verfügung, wie beispielsweise 'mhm', 'ahja', etc.. Diese liefern das notwendige " ö l für das Konversationsgetriebe". Fehlen diese Hörersignale, so wird die Reibungslosigkeit der Interaktion untergraben. In interkulturellen Begegnungen können unterschiedliche Konventionen im Rezipientenverhalten zu erheblichen Kommunikationsstörungen führen. Dieser Aspekt wird u.a. in Havilands (1988) Studie zu Sprecher- und Hörerrollen in Tzotzil (einer Indianersprache in Mexiko) verdeutlicht: Der Anthropologe Haviland wurde als Gesprächspartner erst ernst genommen, nachdem er gelernt hatte "how to talk back", d.h. welche Hörersignale und welche Rezipientenrolle in der betreffenden Sprechsituation adäquat waren. Um mit Angehörigen einer fremder Sprechgemeinschaft zu kommunizieren, ist nicht nur ein Wissen hinsichtlich der betreffenden Sprechstile und Diskurskonventionen notwendig, sondern — so die These dieses Kapitels - auch ein Wissen über die jeweiligen, kulturspezifischen Rezipientenaktivitäten. Kulturelle Variationen betreffen sowohl die Häufigkeit als auch die Form

176 der Rezipientensignale.9 Beispielsweise werden in japanischen Konversationen dreimal so viele Hörersignale gesendet wie in amerikanischen. 10 In Gesprächen zwischen Japanern und Amerikanern kann die niedrige Frequenz an Hörersignalen der amerikanischen Rezipienten als Verletzung der "taijin teki na choowa" (harmony with others)11 empfunden werden, während amerikanische Interagierende die gehäuften Hörersignale der japanischen Gesprächspartner als störend betrachten. Auch die Arbeit von Erickson/Shultz (1982) zum Interaktionsverhalten schwarzer und weißer Studenten und 'counselors' verdeutlicht kulturell variierende Strategien im Rezeptionsverhalten: Während im 'weißen Stil' sogenannte LRRM (listening-response relevant-moments; d.h. Momente, an denen Hörersignale erwartbar sind) durch bestimmte syntaktische und prosodische Mittel (komplette (Teil)-Satzkonstruktionen, Satzendintonation und kurze Pausen) signalisiert werden, trifft dies auf den 'schwarzen Stil' nicht zu. Dieser Unterschied fuhrt in interkulturellen Situationen dazu, daß schwarze Rezipienten die LRRM der Weißen nicht bemerken und keine Hörersignale geben, was die weißen Sprecher dazu veranlaßt, Reformulierungen, Erklärungen und Beispiele zu liefern. Auch demonstrieren weiße Rezipienten ihre Zuhörerschaft sehr viel expliziter (meist anhand verbaler und non-verbaler Elemente) als schwarze Hörer. Folglich bemerken die weißen Sprecher die subtilen Hörersignale der schwarzen Rezipienten nicht und fuhren Explikationen, Wiederholungen etc. durch. 12

6.2.

Hörersignale in deutsch-chinesischen Interaktionen

Was mein Datenmaterial betrifft, so fällt zunächst die unterschiedliche Häufigkeit in der Produktion von Hörersignalen auf. Die deutschen Rezipienten äußern weit mehr 'mhm', 'ja', 'ahja' etc. als ihre chinesischen Gesprächspartner/innen. Diese Beobachtung fiihrt zu folgenden Fragestellungen: a. Inwiefern ist das Ausbleiben verbaler Hörersignale von Seiten der chinesischen Rezipienten 'bemerkbar'? D.h. welche Reaktionen zeigen die deutschen Interagierenden? b. Inwieweit fuhrt das Ausbleiben 'erwartbarer' Hörersignale zu kommunikativen Mißverständnissen? c. Werden statt der im deutschen Kontext üblichen Signale 'mhm', 'ja' etc. eventuell andere Arten verbaler Hörersignale produziert? d. Inwiefern gelten diese aus deutsch-chinesischen Kontexten stammenden Beobachtungen auch fur chinesische Gespräche? In einer Pilotstudie, die Kommunikationsstrategien im japanischen, amerikanischen und chinesischen Diskurs vergleicht, beobachten Thompson et al. (1990), daß im japanischen Diskurs 9

Siehe Philips 1972; Scollon/Scollon 1979; Gumperz et al. 1982; Erickson/Shultz 1982; White 1989; Tao/Thompson 1990. 10 Maynard 1986; White 1989. 11 Maynard (1986:1104). 12 Erickson/Shultz (1982:132).

177 weitaus mehr 'backchannel'-Signale produziert werden als im amerikanischen. 13 In den chinesischen Gesprächen erscheinen dagegen weit weniger Hörersignale als im amerikanischen und japanischen Diskurs:1^ In our pilot investigation, 2 8 % of the speaker changes for Japanese were backchannel responses, compared with 16% for English, and a striking 2% for Mandarin. (Thompson et al. 1990:8)

Während amerikanische Rezipienten in regelmäßigen Abständen - häufig in Überlappung mit dem Redezug des momentanen Sprechers - Hörersignale produzieren, liefern chinesische Rezipienten nur wenige 'backchannel tokens'. Diese haben dann meist eindeutige Verstehens- oder Zustimmungsfunktionen: Counting speaker changes as any change in speakership, whether in overlap or not, we found that 63 out of 271 (25%) of the speaker changes in the English data were backchannel responses, while in the Mandarin data only 10 out of 119 (8%) of the Mandarin speaker changes were backchannel responses. These findings strongly suggest that English makes much more use of backchannels as a conversation strategy than does Mandarin. (Tao/Thompson 1990:3)

Tao/Thompsons Analyse verdeutlicht ferner, daß Chinesen, die monolingual sind, auffallig weniger Hörersignale geben als diejenigen, die bilingual und von amerikanischen Diskurskonventionen stark beeinflußt sind: Während der bilinguale Chinese Michael in einer 30minütigen Unterhaltung 306 Rezipientensignale produziert, äußert Meihua, der monolinguale Sprecher, nur fünf. Bei der Auszählung wurden allerdings die Gesprächsaktivitäten (wer von den beiden ist sprachlich aktiver und redet mehr, und wer hat eher eine passive Rezipientenrolle inne) nicht mitberücksichtigt. Um die Anzahl und Art der 'backchannel'-Elemente in meinem Koprus zu ermitteln, habe ich sechs beliebige Gespräche herausgegriffen. Bei den folgenden Auflistungen zähle ich lediglich diejenigen Hörersignale, die produziert werden, ohne daß der/die Rezipientln beabsichtigt, den Redezug zu übernehmen. 1 5

13 Diese Beobachtung bestätigt die Ergebnisse von Maynard (1986) und White (1989). 14 Ähnliche Beobachtungen bzgl. der Frequenz an Hörersignalen bei chinesischen und deutschen Rezipientlnnen machen auch Günthner/Rothenhäusler (1986:206) und Fan (1989:32). 15 Definitionsschwierigkeiten hinsichtlich der 'backchannel'-Elemente werden bei Maynard (1986) thematisiere. Die Hörersignale, die hier gezählt werden, entsprechen den 'turn-internal listener backchannel' bei Maynard (1986:1085).

178

LIN Länge des Gesprächs: mhm 1 6

34 Minuten. Lin

Β

13

147

ja ahja

3

1

-

2

Echos 1 7

2

1

insgesamt

18

(Redezeit: 18

10,6%

151 89,4%

18 Min: 05 Sek.

14 Min: 10 Sek.)

14 Minuten. Wu

U

WU Länge des Gesprächs: mhm

-

25

3

20

j ahja

-

Echos

3

insgesamt

6

48

11,1% (Redezeit:

7 Min: lOSek.

88,9% 6 Min: 40 Sek.)

a

3 -

16 Backchannel'-Häufungen wie 'mhm mhm', 'jaja\ 'ja mhm' etc. werden nur einfach d.h. jeweils unter dem ersten Element gezählt. 17 Zur Beschreibung der Rezipientenechos siehe unten. 18 Eine Ermittlung der Redezeit ist insofern relevant, als diese verdeutlicht, wer von den Gesprächsteilnehmern eher eine Sprecher- bzw. Hörerrolle innehat.

179

YU Länge des Gesprächs:

30 Minuten. Yu

mhm ja ahja aha ah

20 3 -

A 36 51 1 4 2

Echos

3

insgesamt

26 21,7% 16 Min: 30 Sek.

78,3% 12 Min: 45 Sek.)

45 Minuten. Qin 1 22

M 206 30

(Redezeit:

-

94

QIN Länge des Gesprächs: mhm ja ahja aha Echos

-

1 11

7 1 -

insgesamt

35

244

(Redezeit:

12,5% 31 Min: 40 Sek.

87,5% 12 Min: 45 Sek.)

180

SU Länge des Gesprächs: 62 Minuten. Su

Yao

A

Ρ

(KU)

mhm

11

1

56

32

(19)

ja ahja

-

16

-

3 -

aha

4

1

Echos

1

3

insgesamt

19

5

(Redezeit:

20:15

11,9%

3,1% 7:20

-

(2)

6

2

(2)

-

-

(-)

78

34

(23)

49,1%

21,4%

(14,5%)

21:00

10:05

(2:35))

YANG Länge des Gesprächs: 65 Minuten. Yang

Tan

D

A

mhm

4

25

97

40

ja Echos

11

25

20

20

3

2

-

-

insgesamt

18

52

60

7,3%

21,0%

117 47,4%

18Min: lOSek.

15Min: 05Sek.

19Min: 40Sek.

11 Min: 05Sek)

(Redezeit:

24,3%

Es zeigen sich signifikante Unterschiede in der Frequenz und Art der Hörersignale: Die deutschen Rezipienten produzieren weitaus mehr Hörersignale, dabei ist das mit Abstand am häutigsten verwendete Signal: 'mhm'. Von chinesischen Rezipienten werden 'mhm' und 'ja' in gleicher Häufigkeit produziert. Die 'mhm'-Signale der Chinesen sind recht kurz und treten häufig als Folge mehrerer 'mhm. mhm. mhm.' auf. 20 Darüber hinaus wird von chinesischer Seite kein 'ahja' geäußert. Relativ häufig sind dagegen die Echos (Fremdwiederholungen). Die rein quantitative Auflistung gibt zwar einen Einblick in Aspekte der Häufigkeit und Art der vorkommenden Hörersignale, doch sagt sie nichts über die Gesprächsdynamik, die mögliche Ursache fur die Differenzen und die Auswirkung der Unterschiede auf den Gesprächsfluß aus. Inwiefern hat

19 Κ ist die ersten 20 Minuten des Gesprächs nicht anwesend. 20 Die in Pinyin übliche Schreibweise fur diese kurzen Signale ist 'en'. Der Lesbarkeit wegen wird in den deutschen Transkripten durchgängig 'mhm' verwendet.

181

die niedrige Frequenz an Hörersignalen der chinesischen Rezipienten überhaupt Auswirkungen auf den Interaktionsverlauf? Im folgenden werde ich einige Transkriptausschnitte vorführen, die verdeutlichen, in welch regelmäßigen Abständen die deutschen Interagierenden ihre Hörersignale produzieren und welche interaktiven Auswirkungen das Ausbleiben erwartbarer Hörerreaktionen von seilen der chinesischen Rezipienten hat.

WU 1 5Wu: 6 7 8U: 9Wu: 10 11U: 12Wu: 13U: 14WU:

15U: l6Wu: 17 18U: 19Wu: 20 21U: 22Wu: 23U: 24Wu: 25 26 27 28U: 29Wu: 30 31 32U: 33U: 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43

also ich: habe (1.5) (ein) (1.0) nur ganz wenige Male bei einer deutschen Familie gewesen. ja also ich kenne nur oberflächlich ( Ή Ή Ή ' Η ) die deutsche Familie aber mhm sehr eh (....) ich sehr gut miteinander eh' zwischen mhm mhm Familienmitglieder. mhm aber ich weiß nicht eh wie sieht also eigentlich wie sieht HINTERher die Familie der ALLTAG eh die die die die Beziehung zwischen /der Familienmitglieder/ oder erzählen Sie mir /mhm mhm mhm / kurz Uber die, die eh die ehm /Sache/ /mhm/ über die (Η' H') eh Familie, deutsche Familie zum Beispiel die (1.5) Beziehung zwischen der Kinder der eh eh' zwischen dem Kinder und der Eltern (H') mhm insbesondere wenn der Kinder erwachsen ist. wie sieht die Beziehung zwischen die Kinder /der/ eh und der Eltern aus' /mhm/ also, ich kenns jetzt SO aus: MEINER Erfahrung daß: die (1.5) e:h (2.0) Kinder'(1.5) sehr (2.0) eh nach SCHEMEN ERZOGEN werden, nach gewissen eh zum gewissen VERHALTEN hin (0.2) also wie sie sich später verhalten SOLLEN oder MÜSSEN nach der Meinung der ELTERN (0.2) und daß die Eltern dann (1.0) ihnen versuchen also den Kindern des mitzugeben auf den Weg, (0.2) wie sie sich später verhalten sollen wie sie sich verhalten KÖNNEN in der Gesellschaft später (0.3) un:d (4.0) es 's eigentlich fur MICH jetzt schwierig

182 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59Wu: 60 61U:

darüber jetzt was zu sagen weil ich (0.3) K A N N mir's auf der einen Seite nicht anders vorstellen wie's zum Beispiel, anders gemacht werden könnte. (0.5) also zum Beispiel des Verhältnis Kinder Eltern (1.8) also s'ist eh zumindest also bis zu D E M Zeitpunkt wo die Kinder aus'm Haus gehn, isses n' ERZIEHUNGSprozeß, da ermöglichen di Ki' eh die Eltern den Kindern zum Beispiel also die Schulbildung (0.3) eh (0.3) gewisse Verhaltens e:h Schemen un1 und Mustern (0.2) wie sie sich anzuziehen haben wie sie sich zu benehmen haben anderen Menschen gegenüber (0.3) undso weiter halt. zum Beispiel eh wenn Sie, nehmen wir an eine Freundin ja

63Wu: 64U: 65Wu: 66U:

haben. ja. und die eh Ihre Eltern nicht besonders magen. ja.

62

(1.2)

U äußert seine Hörersignale 'mhm', 'mhm mhm', 'ja' in regelmäßigen Abständen im Anschluß an Informationseinheiten 21 (8; 28; 64; 66) bzw. nach einer Korrektur (13). Nachdem er die Rezipientenrolle verläßt und die Sprecherrolle (ab Zeile 33) übernimmt, verändert sich der Interaktionsrhythmus: 22 Pausen treten gehäuft auf, Hörersignale bleiben aus, der Gesprächsfluß stockt, da U immer wieder seine Äußerungsteile 'recycled'. Beispielsweise wird die Begrifflichkeit in Zeile 35 von ' S C H E M E N E R Z O G E N werden' zu "zum gewissen V E R H A L T E N hin" verändert. D a auch nach der Pause (0.2) kein Hörersignal eintritt, reformuliert U diesen Gedankengang auf niedrigerer Abstraktionsebene ('also' fungiert dabei als Indikator fur die Reformulierung): "also wie sie sich später verhalten S O L L E N oder M Ü S S E N nach der Meinung der E L T E R N (0.2)" (Zeile 37-38). Der deutsche Sprecher bietet Erklärungen (40-42) an, gibt Beispiele (46-48; 55-57) und vollzieht Korrekturen. Die Reaktion U's auf die ausbleibenden Hörersignale stimmt mit Beobachtungen von Erickson/Shultz (1982:125) zum Kommunikationsverhalten amerikanischer Sprecher überein: Treten an L R R M (listening-response relevant-mom e n t s ) , d . h . Stellen, an denen Hörersignale erwartbar sind, keine Hörerreaktionen ein, 2 4 so 21 Den Begriff der Informationseinheit 'informational phrase' habe ich Gumperz/Berenz (1990:5) entnommen. Informationseinheiten sind sowohl syntaktisch als auch prosodisch und semantisch als abgeschlossene Einheit markiert. 22 Unter Interaktionsrhythmus verstehe ich - in Anlehnung an Selting (1988:24) - die Entwicklung des Gesprächsablaufs zwischen den Polen 'fließend' und 'stockend'. Ein fließender Rhythmus ist gekennzeichnet durch eine kontinuierliche Gesprächsentwicklung mit meist linearer Fokusabfolge, ein stockender Rhythmus weist dagegen häufige Pausen und Fokussprünge auf. 23 L R R M werden in der Regel anhand a) bestimmter syntaktischer Strukturen, b) fallender bzw. steigender Satzendintonation und c) kurzer Pausen signalisiert. (Hierzu Erickson/Shultz 1982).

183

verweilt der Sprecher in der Regel beim 'Punkt' und fuhrt Korrekturen, Reformulierungen und Erläuterungen durch. Im folgenden Beispiel berichtet die Deutsche A den Chinesinnen Su und Yao über ihre Freundin Frau Peiper: SU 1 26A: 27Su: 28A: 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39

die - die Frau Peiper ist - von Beruf Optikerin. ah Optik' Optikerin. und hat einen Laden. also ein Geschäft. (0.3) und nebenher hat sie mit funfundfunfzig Jahren angefangen zu studieren. (0.8) also sie studiert. und hat einen Optikerladen. und jetzt macht sie zum ersten Mal in ihrem Leben drei Wochen Urlaub. (0.3) in China.

Auch dieser Transkriptausschnitt verdeutlicht, wie stark die ausbleibende Rezipientenreaktion die Gestaltung und Organisation der Sprccheräußerung beeinflußt. Das Ausbleiben erwarteter Hörersignale an syntaktisch und prosodisch markierten L R R M (19; 32; 34; 35; 37) veranlaßt die Sprecherin zu Paraphrasen, Wiederholungen und Zusatzinformationen. In Zeile 28-29 substituiert sie den Begriff'Laden' durch 'Geschäft'. Nachdem ihre Äußerung "und nebenher hat sie mit funfundfunfzig Jahren angefangen zu studieren." (Zeile 31-32) noch immer keine Hörerreaktion hervorruft, reduziert sie die Schwicrigkeitsebene der Äußerung und wiederholt den propositionalen Gehalt der Ursprungsäußerung auf einer niedrigeren Sprachebene: "also sie studiert und hat einen Optikerladen". Das Ausbleiben der Hörersignale wird somit als Kontextualisierungshinweis fiir Verstehensprobleme interpretiert. Das Gespräch zwischen Su, Yao, A und Ρ geht einige Minuten später folgendermaßen weiter: SU 2 75P: 76Su: 77A: 78 79Yao:

sie hat Semesterferien und muß dann wieder zurück. Semester bis? ah bis April ( / )/ /ja und./ sie hat ihren LADEN halt auch noch. und sie fuhrt eh den Laden ganz allein?

24 Inwiefern chinesische Rezipientlnnen nonverbale Mittel verwenden (z.B. Kopfnicken), um Hörersignale zu geben, kann anhand des Datenmaterials nicht geklärt werden. Bemerkenswert ist jedoch, daß die ausbleibenden verbalen Reaktionen von den deutschen Sprechenden 'bemerkbar' gemacht werden. Fan ( 1 9 8 9 : 3 2 ) behauptet, daß chinesische Rezipienten ihre Hörerbereitschaft stärker nonverbal, durch Zulächeln und Kopfnicken, ausdrücken. Jedoch basieren diese Aussagen lediglich auf persönlichen Beobachtungen und nicht auf empirischen Untersuchungen.

184 80A:

sie ist die Mei MEISTERIN.

Auch hier ist zu beobachten, daß an Stellen, die Hörersignale erwarten lassen (80-86; 90-95), diese bemerkbar ausbleiben. Die kurze Pause, die Expansionen und die zusätzlichen Erläuterungen von A "und ihr Mann ist gestorben, sie ist allein."(85-86) bzw. "die Konkurrenz ist sehr stark, man muß sich sehr anstrengen" (94-95) verdeutlichen A's Ausrichtung an der ausgebliebenen Rezipientenreaktion. In beiden Fällen werden bereits gegebene Informationen nach dem unterlassenen Hörersignal auf einer allgemeineren, sprachlich einfacheren Weise reformuliert.25 Sowohl der allgemeine Stand ihrer Deutschkenntnisse als auch anschließende Gespräche mit Yao und Su weisen daraufhin, daß sie die Äußerungen ihrer deutschen Gesprächspartnerinnen durchaus verstehen konnten: Ja, ich hab schon verstanden, was A gesagt hat. Doch bei uns im Chinesischen braucht man nicht ständig ' m h m m h m ' wie im Deutschen zu sagen. Man wartet ab, was die andere Person sagt. Hier an dieser Stelle habe ich einfach gewartet, daß sie weiter erzählt. Im Chinesischen benutzen wir diese ' m h m ' meist, wenn wir etwas zu dem, was der andere sagt, sagen wollen. Ansonsten m u ß man nicht unbedingt diese Zeichen geben. (So die Reaktion Yao's, als ich ihr die Ausschnitte vorlegte.)

Die dargelegten Beispiele sind keine Einzelbeispiele. Auch im folgenden Transkriptsegment treten aufgrund des Ausbleibens erwartbarer Rezipientensignale Kommunikationsstörungen auf: QIN 2 48Qin: 49M: 50Qin: 51 52M: 53

so auch die ja die Witwe von Mao / Zedong / ja? /mhm mhm/ ah DIE ne. DIE wanden sich ja (0.8) so sehr stark dagegen. ja, die wollten eigentlich ÜBERHAUPT keine Studenten. (0.3)

25 Zu Äußerungsmodifikationen von Muttersprachlern in Gesprächen mit Lernenden siehe auch Gass/Varonis 1985; sowie Kapitel 4.1.

185 54 55Qin:

wahrschein HI lieh haha nein ÜBERHAUPT keine Studenten.

Nachdem auf M's Behauptung (52), die sowohl syntaktisch als auch prosodisch eine abgeschlossene Informationseinheit darstellt, weder ein Rezipientensignal geäußert noch der folgende Redezug übernommen wird, entsteht zunächst eine kurze Pause. Schließlich ergreift M wiederum die Initiative, fuhrt ihre vorherige Äußerung fort und relativiert die soeben vertretene Behauptung durch ein Satzadverb und Lachpartikeln ("wahrschein HI lieh haha"). Sequentiell reagiert sie also auf die ausgebliebene Rezipientenreaktion, als würde der Rezipient eine kommende gegenläufige Bewertung kontextualisieren: M modifiziert ihre ursprüngliche Behauptung. An Qin's Reaktion (55) ist jedoch erkennbar, daß er sehr wohl M's Behauptung zustimmt und nicht - wie von M aufgrund der ausgebliebenen Rezipientenreaktion vermutet — anderer Meinung ist. Dieses Mißverständnis beruht auch hier auf ausgebliebenen Hörersignalen an Stellen, die fur uns sequentiell eine Hörerreaktion erwartbar machen. Der folgende Ausschnitt zeigt, in welch regelmäßigen Abständen - jeweils im Anschluß an eine Informationseinheit - M dagegen ihre Hörersignale produziert: QIN 26 l6Qin: 17M. 18Qin: 19M: 20Qin: 21M: 22Qin: 23M: 24Qin: 25M. 26Qin: 27M: 28Qin: 29M: 30Qin: 31 32M: 33Qin: 34 35 36M: 37Qin: 38M:

zum Beispiel also wir haben eine Briefkasten zu Hause ja so da unten. ja.ja. dann VORHER wenn wir das GELD geschickt bekommen mhm dann wird der' also der Briefträger nach oben kommen mhm da uns die eh das Papier geben mhm da wir sollen eine Stempel da - hingeben mhm ja' mhm mhm da jetzt kommt der Briefträger nich mehr /hierher/, sondern ja, er WIRFT so ein Papier /mhm/ in den Briefkasten, das PAPIER ist ein' abgeschriebene Papier - nicht das Papier also - nich das Pa/pier/ /nich/ das Original ja, nich das Origi-nal mhm. mhm.

Diese Beispiele verstärken die Hypothese kulturell divergierender Kontextualisierungshinweise im Bereich der Rezipientenaktivitäten. Treffen in der interkulturellcn Kommunikation unterschiedliche Konventionen in der Art und Häufigkeit von Hörersignalen aufeinander, so können diese

186

Differenzen Auswirkungen auf die konversationelle Organisation haben: Fehlinterpretationen kommen auf, und die Kontextualisierung des Zustands 'fokussierter Interaktion' wird u.U. gestört. 26 Bezeichnend ist hierbei, daß die Kommunikationsverfahren der Gesprächspartner auf der Grundlage der eigenen Kontextualisierungskonventionen interpretiert werden. Ein für deutsche Interagierende ausbleibendes Hörersignal wird als Zeichen von Verstehensproblemen, bzw. als kommende Nichtübereinstimmung betrachtet. Sicherlich könnte man die Vermutung anstellen, daß die geringe Anzahl der Hörersignale u.U. auf die Lernerrolle zurückzufuhren ist. Bisherige Arbeiten zum Rezipientenverhalten von Lernenden zeigen jedoch, daß westliche (deutsche, englische und amerikanische) Fremdsprachenlernende zur vermehrten Produktion von Hörersignalen ('mhm', Ί agree', 'yes', 'oh I see' etc.) tendieren und dadurch der Muttersprachlerin signalisieren, daß sie verstanden haben und die Sprecherin die von ihr 'eingeschlagene Redeweise' beibehalten kann (Kasper 1981:247). Die chinesischen Kontrolldaten weisen ebenfalls eine sehr geringe Anzahl von Hörersignalen auf. Im gesamten Gespräch LIANG werden keinerlei verbale Rezipientensignale geäußert. Im Gespräch LUO werden zwei 'dui' (richtig) und drei Rezipientenechos produziert. Im Gespräch HAN kommen folgende Rezipientensignale vor: Han:

Fan:

9 mal

'en.' Ift 27

3 mal

'dui dui'

1 mal

'dui'

6 mal

'en.' 10,

(richtig richtig)

(richtig)

2 mal 1 mal

'dui dui dui'

1 mal

'jui shi ah' S t ^ ' W (so ist es)

{richtig richtig

richtig)

4 Echos Im Gespräch PAN produziert Pan zwei Rezipientenechos und elf kurze 'en', Kong dagegen nur ein 'en'. Ein Hörersignal, das von Seiten der chinesischen Teilnehmenden - sowohl in den deutschen als auch in den chinesischen Gesprächen - neben den wenigen 'en' ('mhm') und 'ja' auftritt, ist das 'Echo'.

26 Hierzu Kapitel 2.3.3. 27 Es handelt sich hier um kurze 'mhm' (in Pinyin werden diese kurze 'mhm' als 'en' notiert) mit fallender Intonation. Die bei uns üblichen Hörersignale 'mhm' und 'ja' gibt es in dieser Form im Chinesischen nicht. Typisch chinesische Hörersignale sind 'ah', 'dui', 'shi', 'ai' und das kurze 'en.'. Häufig werden sehr schnell hintereinander geäußerte kurze "en. en. en. en" bzw. "dui dui dui dui" produziert. Siehe hierzu auch Tao/Thompson (1990:2).

187

6.3.

Rezipientenechos Der Meister sprach: Macht es denn nicht Freude, mit Ausdauer und unermüdlichem Fleiß zu lernen 2 8 (Konfuzius; Lunyu: Buch 1,1)

Unter Rezipientenechos verstehe ich Wiederholungen, 29 die folgende Merkmale aufweisen: a) Es handelt sich um Fremdwiederholungen; b) die Rezipientenechos folgen unmittelbar nach der Originaläußerung bzw. bei einem 'listening-response relevant moment' (LRRM); c) die Echos können als Wiederholung der gesamten Originaläußerung oder lediglich als Teilwiederholung produziert werden; d) die Wiederholung betrifft die lexikalischen und prosodischen Elemente der Originaläußerung; e) die Rezipientenechos sind responsive Strategien, d.h. sie fungieren nicht als erster Paarteil einer Paarsequenz.30 Folgendes Schema läßt sich fur die Rezipientenechos erstellen:

I: II: III:

Sprecher 1: Sprecher 2: Sprecher 1:

Äußerung A (teilweise) Wiederholung von A thematische Progression

Zum ersten Mal begegnete mir das Phänomen des Echos, als ich an meinem ersten Unterrichtstag in der VR China ein chinesisches Klassenzimmer betrat. Nahezu jeder von mir geäußerte Satz wurde umgehend im Chor von der gesamten Klasse wiederholt. Führte ich im Deutschunterricht einen neuen Begriff ein, so kam unmittelbar ein Klassenecho des Begriffs zurück. So lerne man in China, das sei Sitte hier, war die Antwort, als ich verwundert nachfragte. Doch dieses Phänomen blieb nicht auf das chinesische Klassenzimmer beschränkt: Fuhr ich im Zug und mein chinesischer Nachbar fragte mich, woher ich komme, so folgte unmittelbar nach meiner Antwort ihr Echo durchs Abteil: 'Xi-De* Ï S f ë ( Westdeutschland ). Alle weiteren Antworten machten ebenso die Echo-Runde. Becker (1984:109) beobachtet ein ähnliches Phänomen in Java: Wenn Ost-Javaner etwas hören, das ihnen gefällt, so wiederholen sie die Äußerung ständig. Ein amerikanischer Gastdozent habe, während seines Vortrags sehr irritiert auf die vielen Stimmen im Hintergrund reagiert, da er den Lärm als Zeichen von Unaufmerksamkeit interpretierte. Eine wesentliche Funktion dieser Fremdwiederholungen im Ost-Javanischen sieht Becker (1984:117) in der

28 Das chinesische Langzeichen für 'Lernen' (xuexi) beinhaltet das beständige Einüben durch Wiederholungen. Xi wird dargestellt durch das wiederholte Flattern von Flügeln. 29 Wiederholungen sollen im Sinne Jefferson* (1972:302) als "an object that has as its product-item a prior occurence of the same thing, which performs some operation upon that product-item" betrachtet werden. 30 Rezipientenechos sind damit abzugrenzen von jenen Fremdwiederholungen, die bei Verstehensproblemen und Nichtübereinstimmungen als Klarifikations- und Reparaturaufforderungen fungieren und somit den ersten Paarteil einer Paarsequenz bilden. Zu Fremdwiederholungen mit Frageintonation bei Veistehensproblemen siehe Kapitel 4.1.2.3.

188

Signalisierung von Zustimmung. Der Rezipient betone mittels Wiederholung von Teilen oder von der gesamten Vorgänger-Äußerung sein "emotional agreement with the utterance". G u m p e n et al. (1982:53) weisen in ihrer Untersuchung zum indischen Englisch auf ein ähnliches Phänomen hin: Die Wiederholung von Äußerungen der Gesprächspartner gelte als Zeichen von Höflichkeit. Ähnliche Fremdwiederholungen werden auch in anderen ethnographischen Studien aufgeführt. 3 1 Die (teilweise) Fremdwiederholung der vorherigen Äußerung stellt also eine - kulturell mehr oder weniger stark ausgeprägte — Konvention zur Kontextualisierung von Zuhörerschaft dar. Brown/Levinson (1978:118), die Fremdwiederholungen in Tzeltal 3 2 beschreiben, interpretieren diese Echo-Technik als Form der Höflichkeit. Häufig pendeln solche Wiederholungen zwischen Sprecher und Hörer hin und her: A:

... tey a toktael stukel a bi?

Β:

tey ay stukel a.

A:

tey ay.

B:

tey.

A:

tey.

... there he is, at work ahne, is hei There he is alone. There he is. There. There.

(Brown/Levinson 1978:118). Dieses Beispiel ist insofern sehr schön, ja geradezu malerisch, da das pendelnde Echo langsam immer mehr abnimmt. Brown/Levinson (1978:117-118) sehen diese Echoformen zum einen als Demonstration von korrektem Verstehen und zum andern als Betonung emotionaler Zustimmung: Agreement may also be stressed by repeating part or all of what the preceding speaker has said, in a conversation. In addition to demonstrating one has heard correctly what was said (...), repeating is used to stress emotional agreement with the utterance. (Brown/Levinson 1978:117-118)

Ein ebenfalls zwischen Sprecher und Rezipientin hin und her pendelndes Echo aus meinem chinesischen Datenkorpus sei hier kurz angeführt: HAN 6 zhe shi guoma ma!

das ist nationales Schimpfen!

31 Vgl. Havilands (1988) Analyse zur Sprecher- und Hörerrolle in Tzotzil, wo er die wichtige Rolle des "recycling of material from a previous turn" zur Demonstration adäquaten Rezipientenverhaltens aufzeigt. Tannen (1987:584) bezeichnet in ihrer Arbeit über 'repetitions' diese Art der Rezipienten-Echos als 'allo-repetirions' und sieht ihre Hauptfunktion in der Demonstration von aktiver Zuhörerschaft: 'showing listeneiship'. Die Beiträge der Gesprächspartneri werden anhand solcher 'allo-repetitions' ratifiziert. 32 Eine Maya-Sprache in Mexiko.

189

2

2Fan:

3 Han:

Den Echo-Techniken wird in einigen Kulturgemcinschaften eine stark phatische Funktion zugeschrieben. Malinowski (1974), der den Begriff der 'phatic communication' einführte, bezeichnete damit eine Art der Rede, bei der durch den bloßen Austausch von Wörtern "Bande der Gemeinsamkeit" geschaffen werden und nennt in diesem Zusammenhang Tratsch, small talk, Geplauder und Routineformeln als mögliche Beispiele phatischer Gesprächsgattungen. Phatische Kommunikation hat somit eine primär soziale Funktion: Nicht die Informationsübermittlung steht dabei im Zentrum, sondern der soziale Aspekt. Jakobson (1972), der das Konzept Malinowskis übernimmt, zählt die phatische Funktion zu den sechs Hauptfunktionen der Sprache. Als Beispiel fuhrt er bezeichnenderweise ein uns bekanntes Phänomen an: die Wiederholung. Jakobson (1972:124) zitiert dabei Dorothy Parker: 'Well!' the young man said. 'Well, here we are', he said. 'Here we are', she said, 'Aren't we?' Ί should say, we were', he said, 'Eeyop! Here we are.' 'Well!' she said, 'well.'.

Die Nähe der Echos zum 'automatischen Sprechen' und damit zum 'inhaltslosen Nachplappern' wird von westlicher Seite immer wieder betont. 34 Der Mangel an Kreativität, Originalität und Individualität wird in Gesellschaften, die einen starken Hang zum Individualismus aufweisen, eher negativ bewertet. 3 ' Ochs (1979; 1983) stellt eine häufige Echo-Produktion im Diskursverhalten von Kindern fest und geht in ihrer Studie der Frage nach, "Why do young children repeat the utterances of others with such frequency?" (1983:26). Bislang wurden Wiederholungen bei Kindern stets in Zusammenhang mit Imitationsverhalten gesehen, wobei das Kind als "learner of the code" die Äußerung des Elternteils als "master of the code" imitiere. Ochs (1983:37) stellt nun die Frage nach der kommunikativen Aufgabe, die ein Kind anhand solcher Wiederholungen lösen will. Da Eltern und Kinder häufig über unterschiedliche Wissensvorräte verfügen, und gemeinsames Hintergrundswissen nur selten vorausgesetzt werden kann, haben solche Fremdwiederholungen häufig die Funktion zu signalisieren, daß die Äußerung von nun an zum gemeinsamen Wissen gehört. Durch die Wiederholung wird eine bislang neue Information ratifiziert und beginnt dann, alte Information zu werden (Ochs 1983:38). 33 Vgl. Brown/Levinson (1978:118) und Tannen (1987:587). 34 Tannen (1987:585). 35 Siehe Kapitel 3.4. zu individualistischen und kollektivistischen Kulturen.

190

Im folgenden werde ich mich den von chinesischen Rezipienten gehäuft produzierten Echos zuwenden und diese in ihrer sequentiellen Umgebung auf ihre kommunikative Funktion hin analysieren. Dabei werden folgende Fragestellungen verfolgt: 36 a) Welche kommunikative Funktion haben diese Echos? Handelt es sich dabei tatsächlich um Zustimmungssignale? Oder sind sie lediglich als Zeichen aktiver Zuhörerschaft bzw. als 'continuers' zu interpretieren? b) In welcher sequentiellen Umgebung werden sie produziert? Sind sie durch andere Hörersignale ('ja genau', 'mhm', 'ah ja') austauschbar? c) Welche Transformationen hinsichtlich der Struktur der Bezugsäußerung werden vorgenommen? d) Sind Rezipientenechos als interimsprachliche Strategien zu bewerten, die von non-nativen Gesprächsteilnehmern aufgrund bestimmter lernersprachlicher Prozesse verwendet werden? e) Sind ähnliche Echos auch in den chinesischen Kontrolldaten zu beobachten? f) Wie werden diese Echos von Angehörigen der Kulturgemeinschaften bewertet?

6.3.1.

Rezipientenechos mit Bestätigungsfunktion

Rezipientensignale können sowohl in Überlappung mit der Bezugsäußerung als auch im Anschluß an die Originaläußerung auftreten: QIN 4 IM: 2Qin: 3 4M: 5Qin: 6Qin: 7M: 8 LIN 12 32B: 33 34Lin: 35B: 36Lin: 37B:

mhm. ja? man m u ß auch wissen - also selber die Kompetenz zu entwickeln man m u ß S C H W E R P U N K T E setzen a/ber/ /ja/ S C H W E R P U N K T E /setzen/ /aber/ - man darf das andere nicht aus den Augen verlieren

ich denke, wenn Sie sagen Jiao Tong Universität /ist/ ja in der Hauptsache /mhm/ eine techni/sche/ NATUR/wissenschaftliche/ /tech/nische /NATURwissen/schaftlich ja Wiss eh UniversiTÄT

36 Jene Formen der Fremdwiederholung, die lexikalische Elemente der Vorgängeräußerung aufgreifen und mit Frageintonation versehen sind, um eine Klarfikation oder Reparatur zu eüzitieren, werden hierbei nicht berücksichtigt. Ebensowenig wird auf die gehäufte Anzahl Fremawiederholungen (Wiederholungen der lexikalischen Elemente der Vorgängeräußerung), die als Antworten auf Fragen fungieren, eingeeangen, da auch hier prosodische Veränderungen vorgenommen werden: Die Frageintonation der Bezugsäußerung wird in eine Aussageintonation transferiert. Darüberhinaus stellen diese Fremdwiederholungen eigenständige Redezüge dar: CUI 10 S: Cui: S:

hat er ein NEUES Thema? ein neues Thema = = ist ja spannend.

191

Die hier vorkommenden Echos (QIN: Zeile 5-6, LIN: Zeile 36), die nicht nur die lexikalischen sondern auch die prosodischen Muster (Intonationsverlauf, betonte Silben) der Vorgängeräußerung kopieren, werden jeweils von der Zustimmungspartikel 'ja' begleitet. In den folgenden Transkriptsegmenten erfolgen die Rezipientenechos im Anschluß an die Bezugsäußerung: QIN 12 M:

Qin:

aber DAS ist doch IMMERHIN schon ein Schritt ++ diese vier bezahlten Stunden++, das ist ja schon ein kleiner Schritt vorwärts (0.3) vorwärts ja.

M:

VIELLEICHT werden die andern vier Stunden

CUI 9 S: Cui: S:

Cui: S:

es ist glaub ich ganz wichtig, daß das weiter gemacht wird mhm damit man einfach Ahnung hat von den zwei verschiedenen Sprachsystemen, aber fur den UNTERRICHT ist das jetzt noch nicht so ganz relevant = = nicht so relevant= = es ist einfacher zu leisten, weil man das einfach vom Schreibtisch aus machen kann.

Im nächsten Transkriptausschnitt ist Herr Berger, ein deutscher Kollege der deutschen Gesprächsteilnehmerin A und des Chinesen Su, das momentane Gesprächsthema. A spricht Herrn Berger die Eigenschaft zu, daß er 'sehr genau' sei, woraufhin Su diese Bewertung mittels Echo 37 wiederholt: SU 20 1A: 2Su: 3A:

Herr Berger ist nämlich GANZ genau. GANZ genau. und eines Tages dann eh

Bei den hier exemplarisch vorgestellten Transkriptsegmenten duplizieren die Rezipientenechos zum einen den fokussierten und als 'neue' Information eingefügten Äußerungsteil der Bezugsäußerung und verdoppeln dadurch den sequentiellen Raum dieser Aussage. Indem die neue Information des Kommentarteils vom Rezipienten wiederholt wird, gilt sie von nun an als interaktiv etabliert. Zum andern scheinen sie eine Bestätigungsfunktion innezuhaben. Getragen wird

37 Wiederholungen von Bewertungen als zweite Bewertung werden auch von Tai (1989:9-10) für den japanischen Diskurs beobachtet.

192

diese Interpretation vor allem durch die Interpretationen der deutschen Gesprächsteilnehmer selbst bzw. den Fortgang des Gesprächs. Es zeigen sich weder Zweifel bzgl. der Interpretation noch sequenzexpandierende Schritte (Begründungen der Aussagen etc.), die auf eine mögliche Interpretation von Nichtübereinstimmung bzw. Nachfragen oder Verstehensprobleme schließen lassen. Gumperz/Roberts (1990) verweisen auf ein ganz ähnliches Phänomen in ihrer Analyse indischer Diskursstrategien. Indische Sprecherinnen und Sprecher äußern Bestätigungen ebenfalls häufig mittels lexikalischer Fremdwiederholung:38 Acknowledgements, moreover, frequently take the form of verbatim repetitions of what the previous speaker said, repetitions which copy the original's prosodie pattern. (Gumperz/Robertj 1990:20-21)

Mein Datenmaterial verdeutlicht ferner, daß nicht nur Behauptungen und Bewertungen der deutschen Muttersprachlerinnen wiederholt werden, sondern auch Äußerungsteile chinesischer Gesprächspartner mittels Echo dupliziert werden. Im folgenden Gesprächsausschnitt wird die Aussage der Chinesin Yue (11) durch Echos ihrer Kolleginnen überlappt. WANG 3 lWang: 2 3 4R: 5Wang: 6Yue: 7R: 8 9Jiang: lOYue.Wang: 11 Yue: 12Wang: 13Jiang:

und diese dicken Bananen - die die ARZTE die traditionelle chinesische Ärzte sagen, sehr gut fur Verdauung = =ah ja? die Kleinen '

/(

)/

/die dickere/ ach so? - weil bei uns sagt man immer bei Bananen kriegt man VERSTOPFUNG HIHI/HIHIHI /HIHIHIHIHIHIHI im Gegenteil /bei uns/ /im Gegen/teil ja bei uns ist ganz im Gegenteil.

Man könnte bei den hier auftretenden Echos - in Anlehnung an den Begriff des "Bewertungsbündels" 39 - von einem 'Echo-Bündel' sprechen. Charakteristisch für Echobündel ist ihre sequentielle Plazierung: Sie setzen vor dem möglichen Redezug-Ende ein, ohne daß jedoch die vorausgegangene Äußerung abgebrochen wird. Gerade in 'multi-party-conversations', wo häufig eine Person ihre Bewertung zuerst artikuliert und die anderen Teilnehmer sich dieser Bewertung anschließen wollen, stellen Bewertungs- bzw. Echobündel ein Mittel der Beteiligung von Zweitund Drittsprecher dar. Interessanterweise antwortet im Transkriptausschnitt WANG 3 zuerst die

38 Vgl. folgendes Beispiel aus dem Datenkorpus von Gumperz/Roberts (1990): 23 A: [acl for the purpose of a {[hil visit?I( 24 A: just for a vistit// 25 B: just for a visit/) 39 Auer/Uhmann (1982:6).

193 statushöchste Chinesin (11): Yuc ist sowohl die älteste der anwesenden Personen als auch die Chefin. Im Anschluß an Yue's Antwort produziert Wang in Überlappung ihr Echo (sie ist die Zweitälteste Anwesende und hat den Status einer Dozentin). Die letzte Wiederholung, die jedoch aufgrund der Gradpartikel 'ganz' und durch die syntaktische Umstellung die Bezugsäußerung etwas modifiziert ist, wird von der jüngsten und statusniedrigsten Chinesin (sie hat lediglich die Position einer Lehrerin) produziert.40 Echos als Rezipientenreaktionen treten jedoch nicht nur in den deutschsprachigen Interaktionen auf, auch die chinesischen Kontrolldaten weisen eine Vielzahl an Echos auf, die ebenfalls sowohl die lexikalischen als auch prosodischen Muster der Vorgängeräußerung imitieren. Einige Beispiele aus dem chinesischen Korpus seien hier angeführt. Der Chinese Han redet mit der Chinesin Fan über menschliche Gestik und Mimik: HAN 2 lHan:

2

ft ffl Λ £ ΐ ge zhong de guoren zhege

ft Μ Bt fé tanhua de shihou

wenn verschiedene Menschen sich unterhalten

m

dade shoushi

machen Gesten

3Fan:

dade shoushi

machen Gesten

4Han: dade shoushi bu yiyang

machen Gesten nicht gleich 5Fan:

^ —k bu yiyang.

nicht gleich.

Auch hier wird die neue Information - der Kommentarteil - dupliziert.

Im nächsten Gesprächsausschnitt unterhalten sich Han und Fan über den Grenzverkehr zwischen Ost- und Westberlin: HAN 4 lHan:

& » » ® shi na jiu geng

t t W l t t ï kuile al na jiu gen

kuile a!

ja dann mehr Verlust ((Part.))! dann mehr Verlust ((Part.))! 40 Die Struktur der Echo-Bündel ähnelt dem Phänomen, das Ehlich/Rehbein (1977:403) innerhalb der Batterien sprachlicher Handlungen" beschreiben. In ihrer Analyse handelt es sich hierbei um Lösungs-Echos verschiedener Antwortender beim Rätselraten.

194

2

mm m

na dangran kuilc. dann natürlich Verlust. 3Fan:

4Han:

5Fan:

6Han:

7Fan:

Ifi cn. mhm. *t ffi ftfc IE * ^ T «F dongdc jiu haishi kuilc ya! DDR auch hat Verlust ((Part.))! i E * haishi kuilc. auch hat Verlust, & na dangran shi kuilc. dann natürlich hat Verlust. I S ê Ï? 7 dangran shi kuile. natürlich hat Verlust.

Im nächsten Transkriptsegment unterhalten sich der Chinese Pan und die Chinesin Kong über einen Film, den beide (getrennt) gesehen haben: PAN lPan:

2

3 Kong:

4Pan:

AH fttt 0 £ * JE cong tade pengyou na ba nage von ihrem Freundjene (Part.) jene fiF^t& EI £ fangzi shouhui qu. Haus zurücknehmen. 0 ψ ife [ 3 £ fangzi shouhui qu. Haus zurücknehmen. ttfc A * f f & ff Ä ' ΐ Ί Κ Λ jiushi yinhang meiyou zhege quanli ( die Bank hat keine solche Macht (. )

5

R&i JTtt zhi neng fa ta. kann nur ihn bestrafen.

6Kong:

R & Í ? ? ft zhi neng fa ta. kann nur ihn bestrafen.

)

195

Man könnte nun einwenden, daß doch auch deutsche Rezipienten Echo-Formen verwenden. In meinem gesamten Datenmaterial habe ich lediglich ein Beispiel eines Rezipientenechos gefunden, das von einer deutschen Sprecherin produziert wurdet 1 LIN 10 622Lin: 623 624 625 626B: 627Lin:

ja gibt also - ich weiß nicht also (0.9) es fehlt mir eh eh im Vergleich zu den anderen Sch HOCHschulen ist also der Trend in - Tongji nicht so /groß/ /nicht/ so groß. nicht so groß.

Hier dupliziert Β in Überlappung die Einschätzung des chinesischen Gesprächspartners Lin (626). Dieses Echo wird dann von Lin erneut dupliziert. Dieses Beispiel verdeutlicht, daß Rezipientenechos den deutschen Gesprächsteilnehmern nicht völlig 'unbekannt' sind — auch wenn sie keine präferierten Verfahren im Bereich der Hörersignale darstellen.

6.3.2.

Rezipientenechos als Signale erfolgreicher Informationsübermittlung

In den folgenden Transkriptausschnitten werden Rezipientenechos im Anschluß eines Wissensbzw. Informationstransfers geäußert. Sie signalisieren dem Gegenüber, daß die zentrale Information 'angekommen' ist. Wissensasymmetrien bilden universelle Aspekte des sozialen Lebens. 42 Gerade in der interkulturellen Kommunikation verfugen die Teilnehmer häufig über einen sehr unterschiedlichen Wissensstand, und der Austausch von kulturspezifischem Wissen und Informationen über die verschiedenen "Welten' bildet einen wesentlichen Bestandteil dieser Gespräche. Die unterschiedliche Wissens verteilung kann interaktiv relevant gemacht werden, indem ein Gesprächsteil nehmer entweder seine Partnerin auffordert, bestimmtes Wissen zu übermitteln ("wie ist XYZ in China geregelt?") oder aber, indem er Wissen von sich aus weitergibt ("in Deutschland ist es so... ). F, die Vertreterin einer deutschen Institution, informiert Zheng in ihrer Sprechstunde über die PNdS (Prüfung zum Nachweis deutscher Sprachkenntnisse): ZHENG 7 IF: H 1 die PNdS ist eine Prüfung, auf die 2 muß man sich geZIELT vorbereiten 3Zheng: geZIELT vorbereiten = 4F: = ja. ja. - und das dauert Zeit - ne'

41 Andere Formen der Fremdwiederholungen dagegen, die bestimmte lexikalische Elemente der vorherigen Äußerung aufgreifen und mit Frageintonation zur Signalisierung von Verstehensproblemen oder Nichtübereinstimmung wiedergeben, verwenden deutsche Sprecher häufiger. Siehe Kapitel 4.1.2.3. 42 Siehe Keppler/Luckmann (1990:2).

196

37F: 38 39 40Zheng: 41F: 42Zheng:

ehm (0.7) ehm (0.5) und müssen dann W I E D E R G E B E N , was in dem T E X T ist ja. - nur /hauptsäch/lich /und zwar/ möglichst ALLES möglich AL/LES/

Während des Wissensaustauschs entsteht eine spezifische Partizipientenausrichtung: Diejenigen Sprecher, die Wissen übermitteln, werden temporär zu 'Experten', die Rezipienten zu 'Lernern'. 43 Dennoch ist die Wissensübermittlungssequenz keineswegs monologisch strukturiert: Ein erfolgreicher Wissenstransfer erfordert die aktive Teilnahme der Rezipienten. F übermittelt hier Wissen bzgl. der deutschen Sprachprüfung. Zheng ist in der Rolle des Rezipienten, der die Übermittlung der Information durch Echos (Zeile 3 und 42) quittiert. Die Echos duplizieren die soeben erhaltenen, prosodisch fokussierten, Informationen. Der Deutsche G und die Chinesinnen Lu und Xu tauschen Informationen über das chinesische und deutsche Schulsystem aus: X U 12 lLi: 2G: 3G: 4 5Li: 6Xu: 7Li: 8G: 9Xu: 1 OLi: llXu: 12G: 13Xu: 14G: 15Li: 16Xu: 17G: 18Xu:

ja sechs Jah/re Grundsch/ule Mittelschule drei Jahre / und wie'/ sind neun zusammen. (1.5) ja. ja und O B E R S C H U L E Oberschule kann man auch /noch machen?/ /auch noch ma/chen. noch drei /Jahre gehen/ /drei Jahre/ das sind dann zwölf zwö/lf Jahle/ /wie bei uns/ bei uns sinds dreizehn dreizehn^ =dreizehn OBERschule dreizehn Ober

Die neue Information wird meist in kleinen Portionen dargeboten, die vom Rezipienten als 'angekommen' quittiert werden, bevor die nächste Portion übermittelt wird. Die Art der Quittierung des Transfers kann verschiedene Formen annehmen: vom bloßen 'mhm' über Paraphrasen zu Wiederholungen. G demonstriert im Transkriptsegment X U 12 seine aktive Zuhörer43 Hierau Keppler/Luckmann 1990.

197

schaft und ratifiziert den Wissenstransfer, indem er die von Xu gelieferten Informationen transformiert. Die Äußerung Li's: "sechs Jahre Grundschule und drei Jahre Mittelschule" wird als 'neun zusammen' (Zeile 3) paraphrasiert und 'drei Jahre Obcrschule' reformuliert G als: "das sind dann zwölf (Zeile 12). Die chinesischen Teilnehmenden demonstrieren ihre Zuhörerschaft dagegen durch regelmäßige Wiederholungen von Elementen (häufig Zahlenangaben) der Vorgängeräußerung. Auch im folgenden Transkriptausschnitt ist die dialogische Struktur der Übermittlung und Ratifizierung von Informationen (durch Echos) zu erkennen: XU 13 IG: 2 3 4Li: 5Li: 6G: 7Li: 8G: 9Xu: lOLi: 11 Li:

und dann teilt sich das Hauptschule das sind dann nochmals vie, sechs? /nein/ FÜNF= /sechs/ =funf fünf das sind dann NEUN /Hau/ptschule NEUN /neun/ Mittel/schule zehn/ und Gymnasium /DREIZEHN/ /ja ja ja ja/ /ja Gymna/sium DREIZEHN.

Die prosodisch fokussierten Informationsteile (meist Zahlenangaben): 'sechs', 'FÜNF', 'NEUN', 'Gymnasium DREIZEHN' werden wiederholt. Dadurch signalisiert der Rezipient, daß er die 'neue' Information von nun an als 'übermittelt' betrachtet. Bezeichnend für die Organisation der Echos ist, daß sie sowohl bei der Wissensvermittlung als auch bei der Darlegung von Bewertungen und Einschätzungen den fokussierten, neuen Informationsteil aufgreifen. In den nächsten beiden Transkriptsegmenten ergeben sich jedoch gewisse 'Auffälligkeiten bzgl. der Verwendung von Echos. W U 52 12Wu: 13 14U: 15Wu: 16U: 17

Sie möchten gerne un', eh eh eh' selbständig sein, aber (0.2) ich KANNS nicht. kann' KANNS nicht. = = ich bin abhängig von meinen Eltern und meine Eltern sagen mir eh'

Hier wurde die notwendige Transformation von der ersten ('ich KANNS') zur dritten Person ('Sie könnens') nicht geleistet. Darüberhinaus ist das Duplizieren einer persönlichen Information

198

'auffällig': 44 Im Deutschen wäre eher ein 'mhm' in der Funktion eines 'continue«', ein 'ahja?' als Zeichen des Erstaunens, ein 'ja.' als Zeichen des aufmerksamen Zuhörens oder ein 'warum nicht?' als Nachfrage erwartbar. Was genau Wu mit dem Echo ausdrücken will, läßt sich nicht erschließen. U's Reaktion deutet jedoch darauf hin, daß er Wu's Echo als Aufforderung zu einer Begründung interpretiert, die er in Zeile 16ff. anbietet. Nachdem Xu seinen deutschen Gesprächspartner G über die berufliche Situation verheirateter Frauen in der Bundesrepublik gefragt hat: "Wenn Männer und Frauen verheiratet sind, arbeiten Frauen auch?", übermittelt G Informationen über die deutsche Situation: XU 9 3G: 4 5

6

7 8Xu: 9G: Einleitend äußert G die Behauptung, daß es große Unterschiede unter den Frauen gebe "ja bei uns isch des (1.0) unterschiedlich.". Interessanterweise folgt auch hier der Behauptung bzw. Bewertung des Muttersprachlers ein Rezipientenecho (8) durch den chinesischen Gesprächspartner, wobei neben den lexikalischen Elementen auch die prosodischen (Betonung und Tonhöhenverlauf) imitiert werden. Xu, der sich erst kurze Zeit in der Bundesrepublik aufhält und G um Informationen gebeten hat, produziert hier eine 'Bestätigung' von G's Bewertung, obwohl er soeben sein Wissensdefizit zum Ausdruck gebracht hat und damit keine 'Autorität* besitzt, über die Sachlage zu urteilen. Das Echo wirkt sequentiell deplaziert, während ein reines 'continuer'-Signal (mhm) akzeptabel wäre. Dies könnte darauf hindeuten, daß Echos im deutschen Kontext stärkere Bestätigungsfunktionen innehaben als Hörersignale wie 'mhm'. Folgende Beispiele aus dem chinesischen Kontrollkorpus verdeudichen, daß auch hier Rezipientenechos eingesetzt werden, um den erfolgreichen Transfer von Wissen zu signalisieren. Hua berichtet über einen chinesischen Arbeitskollegen und dessen Frau, die Luo jedoch nicht kennt. LUO 2

44 Tai (1989:9-10) beschreibt ähnliche Fremdwiederholungen im Japanischen, die auch dann eingesetzt werden können, wenn die Sprecherin nicht über das betreffende Wissen verfugt und lediglich ihre Aufmerksamkeit und Höflichkeit zeigt.

199

2

3Luo:

4Hua:

»tilWWSC^ zai Gu xianshcng na du de yan jiusheng hat bei Herrn Gu studiert. S S f i ^ ^ »ÌÉWWSCfe zai Gu xianshcng na du de yan jiusheng. hat bei Herrn Gu studiert ί λ ÌR M en. zheyang renshi de. mhm. so kennengelernt.

Auch im folgenden Ausschnitt (Hua erzählt, wieviele Mitarbeiter sein Institut hat) dupliziert Luo eine fur sie neue Information: LUO 6 ι Luo:

E ë f E f X E S ŒH-S^E-f·? yijing you si ge ren. hai yao duoshao? si ge haishi wu ge? schon vier Leute, wieviel noch? vier oderßinß

2Hua:

£ £ ^ zuishao wu ge. mindestens fünf.

3 Luo:

ft^ïf zuishao wu ge. mindestensfiinf.

Die hier vorgeführten Rezipientenchos fungieren nicht etwa als Bestätigungen von Behauptungen oder als zweite Bewertungen, sondern sie signalisieren dem Sprecher, daß die zentrale Information empfangen wurde und er nun seine Äußerung fortsetzen kann.

6.3.3. Rezipientenechos im Anschluß an ein Äußerungsduett Eine weitere sequentielle Umgebung der Rezipientenechos stellen sogenannte Duett-Äußerungen dar. Bei einem Duett setzt der zweite Sprecher die Äußerung des ersten fort und knüpft dabei syntaktisch, prosodisch und oft auch lexikalisch an die vorherige Äußerung an. Dadurch entsteht eine von zwei Gesprächspannern kollaborativ produzierte Äußerungskette. Falk (1979:35fF.) bezeichnet das Duettieren als 'camaraderie'-Strategie, da der zweite Sprecher eine Allianz-Beziehung aufgrund gemeinsamer inhaltlicher und formaler Ausrichtung eingeht. Rezipientenechos treten häufig im Anschluß an ein Duett auf, d.h. chinesische Sprecher, deren Äußerungen von deutschen Gesprächspartnern weiterentwickelt werden, greifen die Fortsetzung der Muttersprachler auf und duplizieren diese. Im folgenden Gesprächsauschnitt zwischen der Deutschen M und dem chinesischen Germanisten Qin zeigen sich gleich drei Echophänomene:

200

QIN 11 1 Qin: 2 3 4 5M: 6Qin: 7M: 8Qin: 9 10M: 1 lQin: 12M: 13 l4Qin: 15M: l6Qin: 17M: 18Qin: 19M:

also wenn die Arbeiter dagegen protestieren, wenn sie die Fabrik einstellen, die Produktion einstellen, dann ist es sehr gefahrlich fiir die Gesellschaft, wenn die INTELLEKTUELLEN sich dagegen protestieren ja dann ist es'= = nicht so gefahr((kichert))hehe nicht so gefahrlich. richtig! wenn die Lehrer den Unterricht einstellen, dann ist es s::::(0.6) nicht so gefah/rlich/ /passiert/ NICHTS im Grunde = = ja passiert NICHTS im Grun/de/ /dann/ passiert für China NICHTS ja. wenn die Arbeiter an EINEM Tag die Produktion einstellen ja dann ist /es/ /dann/ verliert China an einem Tag ein Haufen Geld. JA. ein Haufen Geld. mhm. das ist richtig.

M's Einschätzungen (5; 10; 17) werden von Qin mittels Echos bestätigt. In Zeile 4-5 produzieren Qin und M eine kollaborative Äußerungsstruktur, ein Duett. M setzt die begonnene Äußerung von Qin fort, indem sie sowohl die syntaktische Struktur beibehält als auch eine lexikalische Annäherung an die Bezugsäußerung vornimmt. Nach dem Duett wiederholt Qin den zweiten Teil der Duett-Äußerung und komplettiert dadurch im Nachhinein seine ursprüngliche Äußerung. Qin fugt in seinem Echo-Teil (6) keinerlei Neuinformation hinzu und initiiert somit auch keine thematische Entwicklung. Stattdessen vollendet er zum einen seinen Satz und demonstriert ferner seine Zustimmung zu M's Behauptung. In Zeile 9-12 produziert M ihren Duettanschluß zwar zeitlich verspätet (nachdem Qin bereits selber - nach gewissem Zögern und einer kurzen Pause - dabei ist, seine Äußerung fortzusetzen), doch schließt auch hier M's Äußerungsteil an Qin's Äußerung an. Bei dem von Qin im Anschluß produzierten Echo mit Zustimmungspartikel 'ja' (11) wird nicht nur M's Behauptung (10) lexikalisch, sondern auch intonatorisch imitiert. Auch das Echo in Zeile 18 folgt einer kollaborativen Äußerungsproduktion. Das 'Recycling' betrifft die Neuinformation des Kommentaneiis. Diese 'neue' Information wird von Qin dupliziert und damit im Sinne einer geteilten Bewertung als - von nun an — 'alt' abgehakt. Qin wiederholt hier also nicht nur M's Inhalt (er könnte ja auch M's Behauptung paraphrasieren), sondern indem er M's Bewertung wörtlich wiedergibt, bestätigt er M's Behauptung und produziert damit einen 'supportive interchange' 4 5 sowohl auf der lexikalischen als auch auf der inhaltlichen (und teilweise intonatorischen) Ebene.

45 Ein 'supportive interchange' bestätigt und unterstützt nach Goffman (1982) die soziale Beziehung zwischen Produzentin und Rezipientln. Die Parallele zur phatischen Kommunikation ist hier nicht zufällig.

201

Das hier beobachtete Phänomen, daß der chinesische Gesprächspartner, dessen Äußerung durch die deutsche Gesprächspartnerin vervollständigt wurde, nach der Fremdkomplettierung seinen bislang 'ausgesparten Part' noch übernimmt und somit seine ursprüngliche Äußerung syntaktisch zu Ende bringt, taucht in meinen Daten des öfteren auf. Doch findet sich kein Beispiel, wo die chinesischen Sprecherinnen die begonnene Äußerung deutscher Gesprächspartner komplettieren. Dies mag vor allem auf lernersprachliche Ursachen zurückzufuhren sein: Als Fremdsprachenlernerin 'wagt* man weniger leicht, die Äußerung der Muttersprachlerin zu vervollständigen, da man sie fehlerhaft 'verzerren' könnte und zumindest bzgl. der sprachlichen Komponenten keinen gleichen Status innehat.

6.3.4.

Rezipientenechos als Zeichen von Höflichkeit?

Ein wesendiches Charakteristikum der vorgestellten Echo-Phänomene ist, daß sie zum einen die aktive Beteiligung des/der Rezipientln an der Interaktion signalisieren, zum andern jedoch eine passive Rolle bzgl. der Gesprächsfuhrung nahelegen. Weder ist der/die Produzentin des Echos verantwortlich fur die sprachliche Form, da er/sie einfach Elemente der vorgehenden Äußerung imitiert, noch übernimmt er/sie eine aktive Gesprächsinitiierungsrolle. Er/sie ist sowohl sequentiell als auch inhaldich responsiv. Was die Bewertung und Einschätzung der Echos angeht, so kommentierten die deutschen Gesprächsteilnehmerinnen, denen ich Datenausschnitte vorspielte, das Phänomen folgendermaßen: "Ja, ich erinnere mich. Bei den Gesprächen mit Cui hatte ich immer den Eindruck, er ist irgendwie überaus angepaßt." Eine andere Sprecherin meinte: "Mir schien es, daß Lin einfach verdeutlichen wollte, er ist quasi ganz bei der Sache, er konzentriert sich genau auf meine Worte und ist überaus höflich. Irgendwie typisch chinesisch schien es mir." Von chinesischen Informanten wurden die Echos folgendermaßen kommentiert: Wei bemerkte, daß solche Echos "eine gute Atmosphäre schaffen". Damit zeige man dem Gesprächspartner, daß man ihn respektiere: "Damit gebe ich dem andern ein gutes Gefühl und zeige, daß das, was er sagt, wichtig ist". Die Informantin Wang deutete Echos als Zeichen von 'limao' (guter Erziehung). Ein Sprecher, der die Worte des andern imitiere, verdeutliche ihm seine Wichtigkeit. Das sei ein Zeichen von Höflichkeit und Respekt. Frau Kong, eine weitere Informantin meinte zunächst, diese Art der Wiederholungen existierten nicht, es müsse sich bei meinen Daten um Ausnahmen und Einzelfalle handeln. Als ich ihr daraufhin die Bänder vorspielte, war ihr plötzlich klar, worum es sich handelt: "Ja, das stimmt. Solche Wiederholungen machen wir häufig. Ich hatte das ganz vergessen." Sie erwähnte ferner, daß diese Art von Echos typisch fìir "di san xia si"'

fö-T

Ε-Verhalten seien. Dies stelle eine chinesische Redewendung

fur 'unterwürfig handeln' oder "einen Kotau vor dem Gegenüber machen" dar. Es sei eine Strategie, die häufig von Niedrigstehenden gegenüber hohen Kadern oder gegenüber Ausländern verwendet werde. Man wolle "Demut, Höflichkeit und Respekt" zeigen. Herr Wu kommentierte die Echos folgendermaßen: "Ja, das gilt erstens als höflich, und zweitens sagt man in China ungern die eigene Meinung. Indem ich nur wiederhole, was der andere sagt, überlasse ich ihm die

202

Verantwortung und halte mich raus." Die chinesische Germanistin You, die sich bereits mehrere Jahre in der Bundesrepublik aufhält und hier häufig Dolmctschertätigkeiten ausführt, meinte: Das ist so eine chinesische Strategie. Man wiederholt die Äußerung des anderen aus Höflichkeit. J a aus Höflichkeit. Wir nennen diese Strategie 'zhonggao', das heißt, ich hinterlasse einen guten Eindruck auf die anderen, ich bin konzentriert und aufmerksam und dadurch höflich. Wenn man im Chinesischen nur mit 'ja' zustimmt, ist das nicht höflich, sondern eher kalt.

Diese Aussagen unterstützen die Beobachtung von Ahern (1981:33), daß in chinesischen Gesprächssituationen mit Statushöheren ein demütiges Verhalten verlangt wird. Dazu gehöre u.a., daß statusniedrigere Gesprächspartnerinnen die Aussagen der Höherstehenden unterstützen und die eigene Meinung zurückhalten. Auch Stover (1962:208) betont in seiner Arbeit zum Sozialverhalten der Chinesen, daß in chinesischen Interaktionen generell ein höheres Maß an Konformität und zeremonieller Anpassung an die Normen und Meinungen der Statushöheren erwartet wird, als dies im westlichen Kontext der Fall ist. 46 Untersuchungen der Sozialpsychologen Bond/Hwang (1986) zufolge sind chinesische Interagierende darum bemüht, Übereinstimmung auch dann herzustellen, wenn sie nicht einer Meinung sind. Ein wesentlicher Faktor zur Erhaltung interaktiver Harmonie stellt die Imitation dar: Imitation of the other's responses is the obvious solution, especially when the topic discussed is of no moment. (Bond/Hwang 1986:256)

Echo-Strategien müssen somit im Umfeld des chinesischen 'face-work' interpretiert werden. 4 7 O b und in welchem Grade diese Rezipientenechos mit Statusdifferenzen verknüpft sind, kann bislang noch nicht sicher beantwortet werden. Jedoch scheinen sie ein höfliches, devotes und respektvolles Verhalten zu kontextualisieren. 48 Im vorliegenden Datenkorpus werden die Echos vor allem von "learners of the code" gegenüber den "masters of the code" bzw. von 'zhongguo ren

gegenüber 'waiguo

ren'

von deutschlernenden Chinesinnen gegen-

über deutschen Muttersprachlerinnen, von jüngeren gegenüber älteren Teilnehmerinnen von Frauen gegenüber Männern (in den chinesischen Daten) produziert.

Zusammenfassung Mein Datenmaterial verdeutlicht Unterschiede im Rezipientenverhalten zwischen chinesischen und deutschen Gesprächsteilnehmenden und verstärkt damit die These, daß kulturspezifische Interaktionskonventionen nicht nur die Sprecherrolle betreffen, sondern auch das Rezipientenver46 Auch Maynard (1986:1104) setzt das Rezipientenverhalten japanischer Gesprächsteilnehmer in Bezug zum "conflict-avoiding and harmonious style of social interaction" der Japanerl. Ausschlaggebend fiiir die Harmonieerhaltung ist nach Maynard jedoch die hohe Frequenz der japanischen Hörersignale. Chinesische Gesprächsteilnehmer, die ganz ähnlichen Harmonieprinzipien folgen, scheinen jedoch andere Rezipientensignale hierfür zu verwenden. Nicht die hohe Frequenz an Hörersignalen sondern Fremdwiederholungen nehmen hier die Respektbekundungsfunktion ein. 47 Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch Tai (1989) in ihrer Analyse von Fremdwiederholungen im japanischen Diskurs: Mittels Wiederholungen der Äußerungen des Gegenübers stelle man Höflichkeit und Respekt auf der interaktionellen Ebene dar. 48 Gumperz (persönliches Gespräch, Berkeley, März 1990)

203

halten einschließen. Die deutschen Rezipienten benützen weit mehr verbale Hörcrsignale ('mhm', 'ja', etc.). Das geringere Auftreten verbaler 'backchannels' auf seiten chinesischer Rezipienten fuhrt teilweise zu Störungen im Gesprächsfluß und zu kommunikativen Mißverständnissen. Die deutschen Sprecher/innen interpretieren das Ausbleiben erwartbarer Hörersignale als Kontextualisierungshinweise (tir Verstehensprobleme oder folgende Nichtübereinstimmungen: Pausen, stockender Rhythmus, Recycling der Äußerung, Erklärungen, Beispiele, Korrekturen etc. folgen. Eine Art der Rezipientensignale, die von chinesischer Seite gehäuft verwendet werden, sind Echos. Diese stellen Strategien dar, die Rezipienten anwenden, um die zentrale (meist prosodisch fokussierte), neue Information (sei dies nun eine Bewertung bzw. Einschätzung oder die Übermittlung von Wissenselementen) sowohl prosodisch als auch lexikalisch zu imitieren und dadurch den 'Empfang' dieser Information zu quittieren bzw. die vorausgehende Bewertung zu bestätigen. Darüberhinaus stellen Fremdwiederholungen speziell fur Lernende eine große Entlastung bei der Wortfindung und der syntaktischen Zusammensetzung einer Äußerung in der Fremdsprache dar. Indem ich als Lernerin lediglich die Konstruktion der Muttersprachlerin wiederhole, befinde ich mich lexikalisch und grammatisch 'auf sicherem Boden'. Dennoch lassen sich die Echos nicht auf lernersprachliche Faktoren reduzieren, da auch die chinesischen Gespräche eine Vielzahl an Echo-Techniken aufweisen 49 und diese ferner eng mit 'face-work'Strategien verbunden sind: Sic kontextualisieren Höflichkeit und Respekt.

49 Sicherlich treten solche oder ähnliche Echo-Strukturen vereinzelt auch in deutschen Interaktionen auf. Dennoch muß betont werden, daß in meinen Daten kaum Echos von deutschen Muttersprachlerinnen produziert werden.

7.

CHU KOU CHENG ZHANG ¿h C l ^ S (viele gute Texte kommen aus dem Mund): Sprichwörtliche Redensarten, ihre Funktion und stilistische Einordnung

Im Zentrum der vorangegangenen empirischen Kapitel stand die Analyse von sprachlichen Strukturen, die im Bereich der Diskursorganisation (syntaktisch-pragmatische Elemente der Informationsverpackung) und im Rezipientenverhalten (backchannel-Signale) angesiedelt sind. Eine weitere Ebene, auf der sich kulturspezifische Unterschiede manifestieren, ist der Bereich der kommunikativen Gattungen. Divergierende kommunikative Haushalte 1 mit verschiedenen Gattungstraditionen treffen in Situationen interkultureller Kommunikation ebenso aufeinander wie unterschiedliche 'Weisheitskulturen'.

7.1.

Sprichwörter als kleine kommunikative Gattung

Wer im Mai/Juni 1989 die Spruchbänder der chinesischen Demonstrant/innen auf dem Tiananmen-Platz genauer betrachten bzw. ihren Reden zuhören konnte, entdeckte eine Vielzahl an Spruchweisheiten, wie "Taube Menschen haben keine Angst vor dem Donner", "Tote Schweine furchten sich nicht vor heißem Wasser" oder "Das Volk ist aufgewühlt, der Himmel weint". Mit· dem Spruch "Im Himmel gibt es keinen Jadekaiser und auf Erden keinen Menschenkaiser" wurde die Forderung nach dem Sturz Deng Xiaopings begründet. Die Vorliebe fur Spruchweisheiten findet sich in den verschiedensten chinesischen Textsorten über Jahrhunderte hinweg: Von den philosophischen Schriften der Klassiker über die klassischen Romane zu den "Worten des Vorsitzenden Mao Tsetung" 2 sowie den modernen Erzählungen und Dramen. Chinesische Sprichwörter und feste Redewendungen haben aber auch Eingang in wissenschaftliche Texte, Zeitungsartikel und Aufsätze gefunden. 3 Die Vorliebe für sprichwörtliche Redensarten beschränkt sich jedoch keineswegs auf schriftliche Texte, auch in meinem Datenmaterial fallt der gehäufte Gebrauch von chinesischen Spruchweisheiten und "man sagt bei uns in China ..."-Konstruktionen, in denen kulturell kodifiziertes Wissen dargeboten wird, auf. 4 Luckmann/Keppler (1988:15) bezeichnen Spruchweisheiten und Sprichwörter als "das Ergebnis einer das Wissen von Generationen übergreifenden Erfahrungskette". Mit Hilfe dieser 'Erfah-

1 2 3 4

Der Begriff des 'kommunikativen Haushalts' wird hier als Gesamtmenge derjenigen kommunikativen Vorgänge einer Sprechgemeinschaft verstanden, die "auf Bestand und Wandel einer Gesellschaft einwirken" (Luckmann 1988:284). Vgl. die "Worte des Vorsitzenden Mao Tsetung" (1972), die zahlreiche Sprichwörter zur Stütze seiner Behauptungen enthalten. (Siehe z.B. S. 247, 251, 259, 263). Siehein diesem Zusammenhang die Arbeit Schäfers (1983) über die Funktion von Chengyu (sprichwörtlichen Redensarten) in den Schriften Mao Zedongs. Günthner 1988a. Spruchweisheiten und Sprichwörter sind auch uns nicht unbekannt und werden in vielen Gesprächskon texten zitiert, dennoch ist bezeichnend, daß die in meinen Daten vorkommenden sprichwörtlichen Redensarten stets von den chinesischen Gesprächsteilnehmerinnen produziert werden.

205 rungssätze'5 werden Themen abgeschlossen, Einzelfalle ins Allgemeine erhoben, Mahnung oder Trost ausgesprochen, Belehrungen formuliert6 und die Richtigkeit von Erfahrungen bestätigt. Die der Spruchweisheit zugrundeliegende allgemeingültige Wahrheit gilt als bereits gefunden und ist sprachlich kodiert.7 Darüberhinaus lassen spezielle sprachliche, insbesondere metaphorische und rhythmische Merkmale das Sprichwort als historisch überliefertes Wissen erkennen.8 Das Zitieren von Weisheitssprüchen und Verhaltensmaximen möchte ich in Anlehnung an Volosinov (1975:178ff) als 'fremde Rede' bezeichnen, als "Rede in der Rede", als "Äußerung in der Äußerung" und zugleich als "Äußerung über die Äußerung". Bachtin (1979:229-230) verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff des 'autoritären Wortes', des 'Wortes der Väter', das als 'anerkannt' gilt: "Es ist ein vorfindliches Wort. Man hat es nicht unter seinesgleichen auszuwählen." Die Stimme, die beim Zitieren eines Weisheitsspruches zu Wort kommt, ist die der kulturell ratifizierten Autorität bzw. die Stimme aus der Vergangenheit, die eine allgemeingültige Wahrheit spricht. Der momentane Sprecher kommt dabei einem Sprachrohr gleich, durch das der Erfahrungsschatz der Kultur spricht. Die 'fremde Rede' geht dabei eine Beziehung zur momentanen Äußerung auf zwei Ebenen ein: der thematischen und der formal-sprachlichen. Der thematische Bezug zwischen dem fremden Text (der Redewendung) und dem Diskurskontext ist entweder von den Hörern selbst herzustellen und erfordert dadurch eine gewisse Interpretationsleistung, oder aber der Sprecher liefert Erläuterungen, die den Interpretationsprozeß für die Hörer erleichtern und ihnen helfen, den Bezug zwischen Gesprächskontext und 'fremder Rede' herzustellen. Was die formal-sprachliche Ebene betrifft, so werden wir beobachten, daß gewisse Sprüche in ihrer bereits festgelegten (grammatischen, code-spezifischen, stilistischen, rhythmischen) Form wiedergegeben werden. Sie weisen dadurch ein hohes Maß an Geschlossenheit auf und heben sich vom umgebenden Gesprächskontext als 'Fremdkörper ab: Der 'fremde Text' wird in Form einer Montage in den momentanen Diskurs hineingetragen, wodurch heterogene Textschichtungen entstehen.9 Volosinov würde in diesem Falle von "schwacher Individualisierung der fremden Rede" sprechen.10 Der Sprecher taucht quasi in die kollektive Meinung ein. Andere Sprüche und Redeweisen werden dagegen dem momentanen Gesprächskontext stilistisch, grammatisch und lexikalisch angepaßt, wodurch die Konturen der 'fremden Rede' etwas verwischen: Die 'fremde Rede' wird stärker 'individualisiert'.11 Zwar liegen zahlreiche Sammlungen von Sprichwörtern und Weisheiten aus verschiedenen Kulturkreisen vor, doch bilden Untersuchungen über Kommunikationsfunktionen sprichwört-

5 6 7 8

Bausinger (1968:95). Keppler/Luckmann (1989). Luckmann/Keppler (1988:15-16). Siehe auch die Sprichwort-Definitionen von Coulmas (1981:69), Gülich (1978:4) und Quasthoff (1978:15), die Sprichwörter zu den festen Redewendungen zählen, die in sprachlich festgelegter Form eine kollektiv autorisierte Verhaltensbewertung oder -anweisung hinsichdich eines spezifischen Situationstyps sowie eine generelle Lebensweisheit liefern. Zur Problematik der Sprichwon-Definition siehe Seiler 1981.

9 Lachmann (1984:137). 10 Volosinov (1975:185). 11 Volosinov (1975:185).

206

lichcr Redensarten eher die Ausnahme.12 In welchen Kommunikationskontexten werden Sprichwörter zu welchem Zwecke, wie verwendet? Was chinesische Spruchweisheiten angeht, so gibt es zwar eine Vielzahl von Sprichwortsammlungen13, die stets auf eine lebendige chinesische Spruchweisheitenkultur verweisen, doch Analysen des Gebrauchs von Spruchweisheiten in der konkreten face-to-face-Interaktion existieren nicht. Im folgenden werde ich Sprichwörter als "kleine kommunikative Gattung" betrachten und zu den 'primary genres'14 zählen. Bachtin (1986) weist daraufhin, daß wir uns als Sprecherinnen bestimmter kulturell vorgegebener Sprechgenres bedienen und uns dabei an die bestimmte 'generische' Form des betreffenden Genres halten. Auf ähnliche Weise wie wir die grammatische Struktur oder das Lexikon einer Sprache erworben haben - nämlich durch face-to-face-Interaktion - haben wir im Laufe unserer Sozialisation als Mitglied einer Sprechgemeinschaft auch ein gewisses Repertoire an kommunikativen Gattungen angesammelt.15 Mit Luckmann (1986a:202) soll hier der Begriff der Gattungen auf kommunikative Muster angewendet werden, die sich zu Bestandteilen des gesellschaftlichen Wissensvorrats entwickelt haben und in konkreten Kommunikationssituationen typisch erkennbar sind. Sie stellen mehr oder minder wirksame und verbindliche 'Lösungen' von spezifischen interaktiven 'Problemen' dar 16 und verdanken ihre Existenz der Tatsache, daß sie von Kommunikationsteilnehmern als Orientierungsmuster benutzt und auf diese Weise im sprachlichen Handeln laufend füreinander erkennbar produziert werden. 17 Kommunikative Gattungen sind also Muster, die bestimmte kommunikative Vorgänge vorzcichnen, indem sie die Elemente dieser Vorgänge mehr oder weniger ausgeprägt festlegen. Wie Studien innerhalb der Ethnographie der Kommunikation verdeudichen, variieren das Repertoire, die Formen und Funktionen kommunikativer Gattungen je nach Kulturgemeinschaft. Als Mitglieder einer Sprechgemeinschaft verfugen wir über ein bestimmtes Repertoire an kommunikativen Gattungen - seien dies nun größere rekonstruktive Gattungen (wie persönliche Erlebnisberichte, Interviews, Klatsch), institutionsgebundene Gattungen (beispielsweise wissenschaftliche Vorträge), erbauliche Gattungen wie Predigten oder aber kleine Gattungen wie die hier behandelten Spruchweisheiten - und kennen zugleich deren Verwendungszusammenhang. Wie auch hinsichtlich anderer Sprechmuster und grammatischer Strukturen sind wir in der Lage, diese Gattungstypen situationsadäquat anzuwenden und zu interpretieren, ohne über eine ausformulierte Gattungstheorie zu verfugen: Auch wenn wir nicht ohne weiteres die Regeln angeben können, nach denen wir Witze erzählen, so 'wissen* wir dennoch, wie, wann, wem wir welche Art von Witzen erzählen können. 18 Zu unserer 'kommunikativen Kompetenz'19 gehört ferner,

12 Firth 1926; Arewa/Dundes 1964; Tannen/Öztek 1981; Seitel 1981; Günthner 1988a. 13 Speziell für deutsche Chinesischlernende sind mehrere Sprichwortsammlungen erhältlich: Pao/Cheng 1981 und 1985; sowie der 1982 in Beijing herausgegebene Band "Geschichten von chinesischen Sprichwörtern . 14 Bachtin (1986). Siehe auch Jolies (1982:150), der Sprüche und Sprichwörter als 'Kurzform' zu den 'einfachen Formen' zählt. 15 16 17 18 19

Bachtin (1986:78-79). Luckmann (1986a:202). Bergmann (1987:37). Luckmann (1986a:203). Siehe Kapitel 2.1.3.

207 daß wir einerseits über ein Wissen um die 'Binnenstruktur' 20 einer bestimmten Gattung verfugen, also darüber, welche Lexik, Syntax, formelhaften Ausdrücke, rhetorischen Figuren, welchc Registerwahl, welche prosodischen Elemente etc. Kennzeichen der spezifischen Gattungsform sind, und andererseits über ein Wissen der 'Außenstruktur' 21 einer Gattung (Sprechsituationen, 'settings', Teilnehmerrollen etc.). Kommunikative Gattungen sind jedoch keine statischen Gebilde, die stets sämtliche Details der Sprcchaktivitäten akribisch vorschreiben. Vielmehr liefern sie Orientierungsmuster, an die sich Sprecher mehr oder weniger stark halten können. Gattungen können sich verändern, auflösen, Gattungsgrenzen abbröckeln, verschiedene Gattungstypen miteinander verschmelzen und neue entstehen. 22 In interkulturellen Kommunikationssituationen können nun unterschiedliche Konventionen hinsichtlich der Verwendung bestimmter Gattungstypen auftreten. Eine in unserer Muttersprache angemessene Genrewahl kann sich in der Fremdsprachenkultur unter Umständen als inadäquat erweisen. Ein deutscher Sinologe, der häufig in Veihandlungsgesprächen zwischen Deutschen und Chinesen dolmetscht, berichtet von der Vorliebe vieler Deutscher fürs WitzeErzählen inmitten einer Geschäftsverhandlung. Als Dolmetscher weise er dann die chinesische Seite darauf hin, daß der Deutsche soeben einen Witz gemacht habe, um die Atmosphäre aufzulockern, und sie möchten doch bitte lachen. 23 Aufgrund der in meinem Korpus von chinesischen Sprecher/innen gehäuft verwendeten sprichwörtlichen Redensarten werde ich folgenden Fragestellungen nachgehen: a. Welche interaktiven Funktionen haben diese sprichwörtlichen Redensarten? b. Durch welche sprachlichen und prosodischen Mittel wird die 'fremde Rede' als "Rede in der Rede" kontextualisiert? Wie sieht die Gestaltung der Sprichwörter im Diskurszusammenhang aus? c. Welche Formen von Spruchweisheiten lassen sich herauskristallisieren? d. Welchen Stellenwert haben Sprichwörter und das Zitieren von Sprüchen in der chinesischen Rhetorik?

20 Luckmann (1986a:204). 21 Luckmann (1986a:204). 22 Beispielsweise kam in den 50er Jahren in China die Gattung der 'Selbstkritik' (zi wo piping ) auf, die vor allem während der Kulturrevolution große Verbreitung fand: Diese schriftliche Form der Darlegung 'selbstkritischer' Bewertungen folgt bestimmten vorgegebenen Gattungsmustern und umfaßt ein bestimmtes Repertoire an formelhaften Ausdrücken. 23 Vermeer (1989:47).

208

7.2.

Zur kommunikativen Funktion der Sprichwörter

7.2.1.

Chinesische Sprichwörter als Beleg bei der Vermittlung kulturspezifischer Normen und Weisheiten

In interkulturellen Kommunikationssituationen tauchen Gesprächsmomente auf, in denen bisherige Allgemeingültigkeiten plötzlich hinterfragt und angezweifelt werden, als selbstverständlich angenommene Verhaltensweisen nicht mehr 'selbstverständlich' akzeptiert werden, 2 4 ja 'Allerweltsweisheiten' sich plötzlich als kulturspezifisch erweisen und in Frage gestellt werden. Treffen Deutsche bei sozialen Anlässen chinesische Gesprächspartnerinnen und -partner, 2 5 so stellen sie häufig Fragen nach Verhaltens- und Lebensformen im chinesischen Alltag und fordern die Gesprächspartnerinnen zur Meinungskundgabe über soziale, politische und moralische Fragestellungen auf. (Chinesische Interagierende fragen dagegen nur äußerst selten nach den Meinungen ihrer deutschen Gesprächspartnerinnen.) Speziell in Gesprächsausschnitten, in denen kulturell divergierende Verhaltensweisen und unterschiedliche Formen der Lebensführung thematisiert, kulturelle Identitätszugehörigkeiten aktiviert und soziale Normen explizit gemacht werden, finden sich auf chinesischer Seite eine Vielzahl an sprichwörtlichen Redensarten. 26 Dem folgenden Gesprächsausschnitt zwischen Hu und S geht eine kurze Sequenz voraus, in der über die unterschiedlichen Konventionen in China und in der Bundesrepublik im Umgang mit Komplimenten gesprochen wird. Hu stellt die Behauptung auf, daß für Chinesen das 'Nichtauffallen' eine wichtige Verhaltensstrategie sei. Diese geltende Verhaltens norm wird der deutschen Gesprächspartnerin zunächst anhand einer persönlichen Erlebniserzählung vermittelt: HU 3 1 Hu: 2 3S: 4Hu: 5S: 6S: 7Hu: 8: 9S: lOHu: 1 IS: 12Hu: 13 14S: 15Hu: 16S: 17Hu:

man Z E I G T nicht, s so so genau wie das K Ö N N E N ja. /man/ Z E I G T de den R /mhm/ REICH((hi))TUM ((hi)) auch /nich/ so gern /aha/ aha. ja man (0.5) ehm weißt du WAS' ja, zu meiner Studienzeit mhm ja - ich war die B E S T E /und/ der Beste ja /mhm/ in der Klasse, dann hat der d1 die der der damalige Parteisekretär'-/ja'/ /mhm/ mich ja zur Re/de/ gestellt ja. hat misch /mhm/ ja gefragt, ja - isch hab isch isch habe

24 Hierzu auch Kapitel 1A. 25 Dies trifft auf die Gespräche der Kategorie I und III in meinem Korpus zu. 26 Die verschiedenen im Datenmaterial vorkommenden sprichwördichen Redensarten (Chengyu, Yanyu, Suyu und Ji) werden hier allesamt mit den deutschen Begriffen 'Sprichwörter' bzw. 'sprichwörtliche Redensarten' wiedergegeben.

209 18 19 20S: 21 Hu: 22 23S: 24Hu: 25 26 27 28 29S: 30Hu: 3 IS: 32Hu: 33 34S: 35Hu: 36S: 37S: 38Hu: 39 40S: 41 Hu: 42S: 43 44S: 45Hu: 46 47S: 48Hu: 49 50S: 51 Hu: 52 53S: 54Hu: 55S: 56Hu: 57 58 59 60S: 61 62S: 63Hu: 64S: 65S 66Hu: 67S. 68Hu:

damals auch nichts besonders ange ge/tragen/ oder angehabt ja /mhm/ nur ja - - isch isch sehe sau SAUBER oder ORDENTlisch /ja/ oder ein bißehen hübsch/er / als die /mhm/ /mhm/ anderen ja damals, ja hat misch ja zur Rede gestellt, WARUM ja - H A N D E L N s sie ja nicht wie die anderen wie ihre' Kommiltonen W A R U M ja, - mußt du - eh' m müssen sie sich immer H E R A U S P U T Z E N ((erstaunt)) /oh ja:::/ /ich habs/ GAR N I C H T eh ich hab/s / gesagt /ohm/ ich habe eigendich außer dies b dies b blaue Jacke ja ange/zogen/ /jaja/ ja.(immer bl/ aue Jacke ) / /(s' is) ja unglaub/lich s'is ja unglaublich unglaublich ja. des ist s so eine Mentalität, und, um DAS zu zu än/dern/ ja /mhm/ braucht b - g /glaube ich/ ja mehrere /( )/ Generation.- /ja/ /mhm/ das, - es gibt so ein Sprichwort. D u kennst das /ja/ /he/ eh. so - L U XIANG SUI SU. - wenn man in diesem - in diesem Dorf ja lebt, mhm muß man schon an d die SITTEN ja des Dorfes denken mhm oder was' = =ja man muß sich anpassen' oder' ja man man muß sich anpassen ja diesen Sitten und Gebräuchen ja. und W E N N isch ja, Ehr m mein E H R E N W O R T wenn isch Z U R Ü C K K O M M E /ja,/ /mhm/ dann MUß ich mich ja wieder so = = das glaub ich /(ich KANN nicht so rücksichtslos handeln ja')/ / das ist dann auch einfacher fìir di / das ist dann auch ein/fach fur/ dich, /( )/ sonst machst du dir das Leben /schwer/ /ja. ja./

210

Mit der Einleitungsformel 'Weißt du W A S " (8) sichert Hu die Aufmerksamkeit der Rezipientin und etabliert sich als 'primäre' Sprecherin, die das Rederecht bzw. 'ticket' 27 zur Durchführung eines längeren Beitrags einholt. Die folgende Erzählung (persönliche Erlebnisdarstellung) kann im Sinne Giilichs (1980:336) als 'funktional* betrachtet werden, da sie der Illustration innerhalb des größeren Handlungsschemas 'Verdeutlichung chinesischer Verhaltensnormen' dient und als Beleg fur Hu's eingangs gemachte These "man will in China nicht gern auffallen". 28 Ausschnitte der eigenen Lebensgeschichte (als Klassenbeste (10), hübscher als andere (22-24), die Kritik des Parteisekretärs (13ff.)) werden als Beispiele herangezogen, um eine bestimmte Verhaltensnorm zu demonstrieren. Um ihr Argument der Festgefahrenheit bzw. 'Mentalität' zu belegen, zitiert sie ein chinesisches Sprichwort. Die im Sprichwort gegebene Handlungsanweisung "LU XIANG SUI SU. - Wenn man in diesem - in diesem Dorf ja lebt, muß man schon an d die SITTEN ja des Dorfes denken" (48-52) liefert zugleich die Basis für das weitere Handeln von Hu. Sie gibt sogar ihr 'Ehrenwort' (58) dafür. Mit dem maximenartigen Heranziehen kodierter Verhaltensnormen in Form eines Sprichwortes reaktiviert Hu die tradierte Norm: Die im Sprichwort dargelegte Verhaltensmaxime wird neu aktualisiert und dient als Grundlage für prospektives Handeln. Das Sprichwort nimmt somit nicht nur die von Jolies (1982:159) beschriebene Funktion ein: "in jedem Sprichwort deckt man den Brunnen zu - aber erst, wenn das Kind ertrunken ist" (d.h. durch das Zitieren eines Sprichwortes wird bereits Geschehenes kommentiert), sondern es hat darüberhinaus eine Anleitungsfunktion für zukünftiges Handeln. Ihm kommt die Autorität der Vermittlung kulturspezifischer, unhinterfragbarer Verhaltensmaximcn zu, die somit sowohl retrospektive als auch prospektive Gültigkeit besitzen. Gleichzeitig abstrahiert die Sprecherin vom konkreten Einzelfall und ordnet diesen einem größeren gesellschaftlichen Zusammenhang zu, d.h. das Sprichwort übersteigt die semantische (und pragmatische) Ebene des gegebenen Diskurses, "indem es die gegenwärtige Situation unerwartet gegen den Hinteigrund allgemeiner Erfahrungen hält." (Burger 1973:53). W i e sieht nun die Gestaltung des Spruches im Diskurszusammenhang aus? Zunächst wird die fremde Rede explizit durch den Gattungsbegriff'Sprichwort' (45) angekündigt. Da die deutsche Gesprächsteilnehmerin Chinesisch spricht, nimmt Hu an, daß das Sprichwort zum gemeinsamen Wissensvorrat gehört. S gibt jedoch bereits nach dem Schlüsselbegriff'Sprichwort' zu verstehen, daß sie über keine Sprichwortkenntnisse in diesem Zusammenhang verfügt. Auch nach dem Zitieren des Sprichwortes gibt sie keinerlei Hörersignale, die Erkennen bzw. Verstehen signalisieren. Die transkribierte Wiedergabe des Sprichworts entspricht dem Shanghai-Akzent der Sprecherin (im Shanghai-Dialekt wird nicht zwischen den Liquiden Τ und Y unterschieden): "Lu Xiang Sui Su" (Hochchinesisch: "Ru Xiang Sui Su"). Prosodisch wird die 'fremde Äußerung' vom umgebenden Gesprächskontext mittels erhöhter Lautstärke, besonderen Rythmus und kurzer Pausen vor und nach dem Sprichwort abgehoben. Die besondere Hervorhebung des 'autoritären Wortes' (Bachtin 1979) ist bezeichnend. Wie Bachtin (1979:230) ausführt, kann es

27 Sacks (1972b:330ff.). 28 Zur Belegfünkúon konversationeller Erzählungen siehe auch Quasthoff(1980:161).

211

"um sich herum Massen anderer Worte organisieren (die es interpretieren ...), aber es verschmilzt nicht mit ihnen"; vielmehr bleibt es deutlich abgehoben und kompakt. Hu liefert im Anschluß an den Spruch keine wörtliche Übersetzung, sondern eine mögliche Auslegung ("wenn man in einem Dorf lebt, muß man sich auch an dessen Sitten halten"). Die wörtliche Übersetzung von "Ru Xiang Sui Su" λ % RÊfë würde "Eintreten Dorf Folgen Sitten" lauten und wäre aufgrund ihrer Struktur (Aneinanderreihung von vier Lexemen) fur Außenstehende kaum verständlich. Das Sprichwort gehört zur Kategorie der Chengyu

, die auch heute noch die klassisch-

chinesische einsilbige, amorphe Wortstruktur aufweisen. In der Umgangssprache haben sich die einsilbigen Wörter mittlerweile zu zwei- und mehrsilbigen Wörtern entwickelt: altchinesisch: RU Λ.

entwickelte sich zu neuchinesisch: JINRU ΐ ϊ A, (betreten)

altchinesisch: XIANG %

entwickelte sich zu neuchinesisch: XIANGCUN ^

altchinesisch: SUI BÊ

ft

(Dorf)

entwickelte sich zu neuchinesisch: G E N S U I R È (folgen)

altchinesisch: suis

entwickelte sich zu neuchinesisch: FENGSU M f ß (Sitten).

Die Struktur der Redewendung RU XIANG SUI SU ist insofern als typisches Beispiel fur die 'Tetragramm-Sprüche' zu sehen, als das erste und dritte Zeichen (Verb), sowie das zweite und vierte Zeichen (Nomen) jeweils zur selben Wortklasse gehören.29 Exkurs: CHENGYU

(sprichwörtliche Redensarten)

Chengyu (wörtliche Übersetzung: festgeformte Sprache) stellen einen wesentlichen Bestandteil der chinesischen Umgangssprache dar30 und bringen Verhaltens- und Lebensregeln, ethische und politische Maximen, allgemeingültige Erfahrungswerte, militärische Merksprüche sowie philosophische Sinnsprüche zum Ausdruck.31 Sie bestehen in der Regel aus Tetragrammen, d.h. "feststehende phraseologische Wendungen aus vier Schriftzeichen", die stets als 'ein Sinnblock' verwendet werden.32 Die rhythmische Markierung und das spezifische Klangmuster der gesprochenen Chengyu ergibt sich aus der Tetragrammstruktur. Die Präferenz der Vier-Zeichen-Form ist u.a. auf die Vorliebe des klassischen Chinesisch fiir Symmetrie und Parallelismus im Satzbau zurückzuführen: Vier-Zeichen-Sätze verkörperten das chinesische Stilideal der klassischen Schriftsprache.33 In der Regel bestehen Chengyu aus einsilbigen Wörtern des klassischen Chinesisch und folgen der klassischen Grammatik, d.h. die Wortart der vier Morpheme ist nicht grammatisch markiert. Jedes Morphem kann verschiedene syntaktische Funktionen (Subjekt, Objekt, Attribut, Adverb, Verb) innehaben. Die Quellen der Chengyu bilden neben den alten Chroniken und den Dynastieannalen auch die konfuzianistischen Klassiker, wie das 'Lunyu' (die Gespräche), das 'Shujing' (das Buch der Urkunden), 'Shijing' (das Buch der Lieder) und 'Liji' (das Buch der Sitten). Weitere Quellen geben Anekdoten aus der chinesischen Volkskultur sowie

29 30 31 32 33

Zur Struktur chinesischer Redewendungen siehe Cheng (1976:38ff.). Cheng 1976. Schäfer (1983:39). Cheng (1976:26). Schäfer (1983:26).

212

Sprüche wichtiger Persönlichkeiten der chinesischen Kulturgeschichte, Volksmythen und Parabeln ab. 34 Aufgrund ihres stark metonymischen Charakters (sie verweisen auf eine bestimmte Anekdote der chinesischen Kulturgeschichte), ihrer klassisch-chinesischen Struktur und der Kurzform (viele Chengyu stellen Verkürzungen einst längerer Äußerungen dar) sind Chengyu fur Ausländer (und gelegentlich auch fur Chinesen) schwer verständlich.3^ Die gleiche schmückende Diktion geht auch sehr stark in die Umgangssprache der Gebildeten ein. Selbst wenn er die Sprache des Volkes beherrscht, wird der aufmerksame Ausländer bald bemerken, daß ihm die Unterhaltung der Oberschicht unverständlich bleibt.(...) Die Leidenschaft der Chinesen, in der Unterhaltung literarisches Wissen und große Belesenheit zu zeigen, macht es einem Ausländer, der nicht von Jugend auf ein entsprechend umfangreiches Wissen erworben hat, fast unmöglich, in anspruchsvoller Konversation zu großer Gewandtheit zu kommen. (Karlgren 1975:96)

Anhand von SAIWENG SHI MA 36 S & s f c - S f soll exemplarisch die Struktur eines Chengyu erläutert werden. £ $ £ 4 SAIWENG SHI MA Grenze alter Mann abhanden kommen Pferd {d.h. der alte Mann an der Grenze, der sein Pferd verlor) Dieses Chengyu hat die Bedeutung von "Unglück kann sich in Glück verwandeln" bzw. "Schlechtes kann sich zum Guten wenden" und geht auf eine Geschichte des Philosophen Huai Nanzi zurück: Das Pferd eines alten Mannes, der in der Nähe der Großen Mauer wohnte, hatte sich verlaufen. Seine Nachbarn bemitleideten den Alten, doch er wehrte ab: Sie sollten zuerst einmal abwarten, ob dies nicht auch zu etwas Gutem fuhren würde. Und tatsächlich kehrte das Pferd eines Tages in Begleitung eines schönen Mongolenpferdes zurück, worauf die Nachbarn den alten Mann beglückwünschten. 'Nicht so voreilig', meinte der Alte, "das kann auch Unglück bringen". Kurz darauf warf das neue Pferd den Sohn des Alten ab, und er wurde zum Krüppel, woraufhin die Nachbarn den Alten bedauerten. Doch der alte Mann antwortete, "Wer weiß, vielleicht ist es besser so." Bald darauf fielen die Hunnen ein, und alle gesunden Männer wurden eingezogen und nahezu alle getötet. Der verkrüppelte Sohn war zu Hause geblichen und konnte seinen alten Vater bis zu dessen Tod versorgen. Eine grobe Kenntnis dieser Geschichte ist also notwendig, um das Chengyu verstehen und vor allem adäquat verwenden zu können.

34 Schäfer (1983:46-48). 35 Auch Lai (1972:viii) betont im Vorwort seiner Sammlung von Chengyu, wie wichtig es gerade für ausländische Studierende der chinesischen Sprache ist, sich ein Repertoire an Chengyu anzueignen, denn zur Beherrschung der chinesischen Alltagssprache sind Kenntnisse wichtiger Chengyu unabdingbar. 36 Dieses Chengyu wird auch von Karlgren (1975:93-94) in seiner Abhandlung zum chinesischen Stil und der Verwendung fester Spruchweisheiten angeführt. Karlgren verwendet jedoch eine weniger geläufige Variante: "SHI MA SE WANG", die weder meinen chinesischen Informantlnnen bekannt ist, noch in gängigen Wörterbüchern Erwähnung findet.

213 Zwar existieren mittlerweile zahlreiche Sammlungen von chinesischen Chengyu, die sowohl etymologische Angaben über die Chengyu liefern als auch fremdsprachige Übersetzungsmöglichkeiten, doch liegt noch keine Analyse der interaktiven Funktion von Chengyu in konkreten Gesprächssituationen vor.

Im folgenden Gesprächsausschnitt thematisieren die Deutschen E und A moralisch sensitive Fragen der Lebensführung chinesischer Frauen: DU 11 IE: 2 3 4 5Du: 6E: 7Du: 8E: 9Du: 10 11 12 13 14 15E: 16 17A: 18E: 19 20Du: 21 22A:

und zum Beispiel wenn Frauen verheiratet sind - und unglücklich sind, oder Schwierigkeiten haben sprechen sie dann mit ihren Freundinnen darüber? ja. das schon' das schon. und auch mit ihr/em (Mann)/ / aber auch / nicht sehr viel weil bei uns sagt man eh::::' JIACHOU BU KE WAIYANG. - das heißt eh'- die schlimme Sachen in der Familie kann man nicht eh ja RAUS sa/gen / /mhm/ so ein Sprichwort gabs bei uns früher auch (....). ah ja? jajaja. bei uns. bei meinen Großeltern (früher ja), mhm. (1.0) weil man - man Angst hat, daß die andere' eh Leute eh über sie lach/en/ /mhm/

Auf E's Frage (1-4) reagiert Du (5) zunächst mit einer Minimalreplik 'ja*. Minimalrepliken kündigen häufig eine mögliche Nichtübereinstimmung bzw. mangelnde Bereitschaft zur Themenausweitung an. E's Reaktion 'das schon" (6) verdeutlicht, daß ihr die Minimalreplik noch nicht ausreicht. Du's Antwort (7) imitiert die lexikalischen Elemente der vorherigen Äußerung, prosodisch weist ihre Fremdwiederholung jedoch einen fallenden Intonationsverlauf (Aussageintonation) auf. E interpretiert diese Antwort als Zustimmungssignal und leitet somit eine thematische Progression ein ('und auch mi/t...'). Dann wird jedoch von Du die Zustimmung relativiert "auch nicht sehr viel" (9). Die Begründung der Relativierung und somit die Begründung für das Verhalten chinesischer Frauen erfolgt durch das Zitieren eines chinesischen Sprichwortes "JIACHOU BU KE WAIYANG" S i ^ R T ^ t t {unangenehme Familienangelegenheiten sollen nicht nach außen getragen werden) (11). Die 'weil'-Verknüpfung kündigt zunächst eine kausale Begründung an, die dann jedoch in eine sprichwördiche Redensart mündet. Diese Art der Be-

214

gründung einer Aussage durch ein Sprichwort wurzelt im Glauben, daß Tradition bzw. kulturelle Weisheit überzeugen kann. Auch Lister (1981:248) beschreibt den Stellenwert von Sprichwörtern im chinesischen Diskurs als: "something put beyond dispute, accepted and settled as true, a first principle, like the axioms of science, or the multiplication table." Sprichwörter sind auch im deutschen Kontext nicht unbekannt, doch fungieren sie meist als themenbeendende Sentenz 37 bzw. als Kommentar über eine bereits geschehene Handlung, 38 in der Regel jedoch nicht als kausale Begründung einer Äußerung. Bezeichnend fur den Einsatz einer Spruchweisheit ist auch im Transkript D U 11, daß die Darstellung spezifischer Verhaltensweisen gestützt werden soll. Ferner reaktiviert Du durch die Ankündigungsformel der fremden Rede: "bei uns sagt man ..." ihre Identität als Mitglied der chinesischen Sprechgemeinschaft. Wie Kapitel 1.2.3. verdeutlicht, können in einer Interaktionssituation bestimmte Identitätsfaktoren aktiviert sein, andere dagegen 'ruhen'. Die kulturelle Identität ist keine permanent aktive; sie kann vielmehr in der betreffenden Situation reklamiert werden, 39 d.h. wir handeln im lokalen Kontext der Kommunikation das Gewicht der betreffenden Identitätskategorie aus (sei dies nun Geschlechtsoder Kulturzugehörigkeit, sozialer Status, Zugehörigkeit zu bestimmten Interessengruppen, regionale Zugehörigkeit etc.). 40 Eine Möglichkeit, die Zugehörigkeit zu einer Kulturgemeinschaft zu aktivieren, liegt in der expliziten (oder impliziten) Differenzierung zwischen den Interagierenden: 'Wir Chinesen ...'; 'Ihr Deutschen ...' oder vice versa. Eine Dichotomisierung kultureller Zugehörigkeit in 'wir' und 'ihr' bzw. 'Mitglieder' und 'Fremde' impliziert zugleich eine Anerkennung ungleicher Wissenskonventionen und Wertesysteme zwischen den Mitgliedern. 41 Der hier zitierte 'fremde Text' zeichnet sich ferner durch einen eigenen Rhythmus sowie den Original-Code (Chinesisch) aus. Durch die Reproduktion einer kollektiv geteilten Verhaltensmaxime kontextualisiert Du, daß die im Sprichwort kodierte Norm auch heute noch Gültigkeit besitzt. Die Erfahrung der kulturellen Vergangenheit wird zum Modell gegenwärtigen Handelns erhoben. Von selten der deutschen Gesprächspartnerinnen sind keinerlei Rezipientensignale zu erkennen. Erst im Anschluß an die Übersetzung setzt E mit ihrem Kommentar ein. Diese Art 'verzögerter Rezipienz' begleitet in meinen Daten stets die Sprichwortproduktion. E's Bemerkung 'so ein Sprichwort' (15) löst den Anspruch auf kulturelle Typikalität des Spruches aufi Die im Sprichwort kodierte Verhaltensmaxime wird als kulturübergreifend betrachtet - jedoch mit zeitlicher Verschiebung 'früher'. An dieser Stelle könnte nun eine typische Themenbeendigung folgen, wie sie im deutschen Kontext häufig durch Weisheitssprüche und idiomatische Ausdrücke 37 Gerade in argumentativen Sequenzen werden - so Quasthoff (1979:52-53) - Stereotypen und formelhafte Wendungen aufgrund ihrer 'anerkannten Aussage' als "subtile Aufforderung zum Themenwechsel" eingesetzt: "Aus der Annahme, daß die Aussage allgemein bekannt/anerkannt ist, folgt automatisch, daß es nichts Strittiges - (...) - zu diesem Punkt mehr gibt . Auch Drew/Holt (1990:130) sprechen vom 'summary character' sprichwördicher Redensarten und idiomatischer Ausdrücke und heben die Themenbeendigungsfünktion hervor. Siehe Sacks (1971a). 38 Siehe Schegloff/Sacks (1973:306), die sprichwörtliche Redensarten als 'topic-boundary techniques' bezeichnen. 39 Vgl. di Luzio/Auer (1986:328). 40 Vgl. Barths (1969) Theorie der ethnischen Grenzen, insbesondere die 'Introduction' (1969:15). 41 Barth (1969:15).

215

eingeleitet wird. Doch wird die entstandene Schweigepause (1.0) von Du - ohne auf E's Anmerkung einzugehen - durch eine weitere Erläuterung des Sprichworts und eine thematischen Expansion unterbrochen (20). Das hier verwendete Sprichwort, das den 'Yanyu'



zuge-

rechnet werden kann, hat somit keine themenbeendende Funktion, sondern dient vielmehr der Begründung bestimmter Verhaltensweisen ("Frauen sprechen nicht mit Freundinnen über Schwierigkeiten in der Ehe").

Exkurs: YANYU $



(Sprichwörter)

Wie Herrmann (1984:169-170) ausfuhrt, erlangte ein großer Teil der in den konfuzianischen Klassikern - vom 'Liji', dem 'Shujing', dem 'Shijing' bis zu den 'Lunyu' - aufgeführten Verhaltensregeln in Form von Sprichwörtern (yanyu) große Verbreitung. Auch ethische Fragen aus dem Buch des Mengzi (Menzius) gingen in populäre Sprichwörter ein. Neben der konfuzianischen Sozialethik bilden auch viele Maxime anderer bedeutender geistiger Strömungen des Alten China (wie Daoismus und Buddhismus) die Quellen der heute noch verwendeten Yanyu. Herrmann (1984:173) betont, daß die chinesischen Sprichwörter mit ihrem ethischen Gehalt wesentlich zur Wissensvermittlung unter den Bauern, die ja fast alle Analphabeten waren, dienten (und zum Teil auch heute noch dienen). Sprichwörter stellten somit eine wichtige mündliche Kleinstgattung zur Verbreitung klassischer Zitate, historischer Ereignisse, wichtiger gesellschaftlicher Normen und Gebote dar.42 Darüberhinaus hatten sie auch wichtige Belegflinktionen in der klassisch chinesischen Rhetorik inne. Ihre Verwendung zur Stütze eines Arguments kann bis in die Literatur der Frühlingsund Herbstperiode (ca. 770-480 v. Chr.) zurückverfolgt werden.43 Bereits zu jener Zeit wurden Sprichwörter als 'YU' i g ( Wort) bezeichnet. Wie Herrmann (1984:180) anfuhrt, zitierte Sima Qian, der erste Geschichtsschreiber Chinas (145-86 v. Chr.) in seiner monumentalen Chronik 'Shiji' [Historische Aufzeichnungen) eine große Anzahl an Sprichwörtern. In einem Schriftzeichenlexikon (shuowen jiezi) aus dem Jahre 121 n. Chr. wird das Sprichwort als 'eine weitergegebene Redensart* definiert.44 Während der Ming-Dynastie (1368-1644) stellten die Gelehrten am Kaiserhof bereits spezielle Sprichwortbücher zusammen, wobei sie besonderen Wert auf Sprichwörter legten, die Aspekte der konfuzianistischen Sozialethik widerspiegeln. Man unterschied bereits damals — so Herrmann (1984:179) - zwischen den alten Reimen und Sprichwörtern (gu yao yan) c!f i-if

, den Sprichwörtern (yanyu)

Klassiker beruhen, den 'xiehouyu ' §¡¡



, die auf dem Kanon der konfuzianischen einer Art Redensart, die unseren Wellerismen

recht nahe kommt, und den Bauernsprichwörtern (nongyan)

. Yanyu sind - ähnlich wie

auch Chengyu — nicht regional begrenzt, sondern in der gesamten chinesischen Sprechgemeinschaft und in sämtlichen Schichten vertreten. Jedoch folgen sie nicht wie die Chengyu der 42 Smith (1902:1-11). 43 Herrmann ( 1 9 8 4 : 1 7 9 ) . 44 Herrmann ( 1 9 8 4 : 1 8 0 ) . 45 Dies sind zweigliedrige Sprichwörter, deren erster Teil meist bildhaft umschreibt, was im zweiten Teil als Aussage formuliert wird, z.B. "ein Buddha aus Lehm durchwatet den Fluß - man kann nicht einmal sich selbst helfen, geschweige denn anderen." (Zitiert in: Das neue chinesisch-deutsche Wörterbuch, 1987).

216

klassischen chinesischen Grammatik, sondern entsprechen strukturell dem modernen Chinesisch. Aus diesem Grund sind sie auch leichter zu verstehen und scheinen weniger prestigereich als die Chengyu zu sein. 46 Hinsichtlich der Taxonomie der einzelnen Spruchformen muß darauf hingewiesen werden, daß in der mir zugänglichen deutsch- und englischsprachigen Literatur zu chinesischen Sprichwörtern und Redewendungen sowie aufgrund der zahlreichen Gespräche mit chinesischen Informantinnen keine klare Trennung zwischen 'Yanyu' und 'Suyu'• i s a zu ziehen ist. 47 Ferner scheint auch die Grenze zwischen Chengyu und Yanyu (bzw. Suyu) fließend: Viele Chengyu gehen auf Yanyu zurück und umgekehrt.

Im folgenden Gesprächsausschnitt unterhalten sich S und Bu über die Zustände in China nach dem Massaker vom Juni 1989: BU 2 IS: 2 3Bu: 4 5S: 6Bu 7 8S: 9 lOBu: 11 12 13 14S: 15 16 17Bu: 18 19S: 20Bu: 21 22 23 24 25 26S: 27 28Bu: 29

was vermuten Sie denn, welche eh Überlebenschance hat die jetzige' eh Regierung? ja ehm das hängt eh ganz ja - von der wirtschaftliche Situation ab. mhm die jetzige Diktatu: kann ja eh un Umstände sogar ZEHN JAHRE bleiben. hängt das nicht auch von Deng Xiaoping ab eh von dessen Tod? ja von dessen Tod. das ist wesentlich eh Fak' Faktor ja. ein wesentlicher Faktor, wie lange Deng Xiaoping noch lebt, man rechnet schon mit Unruhe und eh Macht eh' Machtkämpfen nach Dengs To/d./ /mhm/ und jetzt im Moment gibt es ja keine weiteren Proteste in Kina? (0.2) oder? im Moment hat die Bevölkerung in Schina ja sehr große Angst /ja/ /mhm/ wird sehr ein- ge eh schüchtert ja. in China gibts ja so ein Sprichwort, das heißt eh' (0.3) SHA YIJING BAI - eh' ja, das bedeutet so, wenn man einen ja umbringt, dann ja gleichzeitig eh' - schüchtert man eh hundert weitere Leut ein /ja/ /ahja/ (1.0) deshalb gibts ja momentan keine große PROTESTaktionen oder so was.

46 Diesen Hinweis verdanke ich der Informantin Ma. 47 Zu den Suyu und dem Problem ihrer Einordnung siehe Smith 1902.

217 30S: 31 32S: 33 34Bu: 35 36S: 37 38Bu:

mhm das ist ja (verständlich). (0.5) glauben Sie denn, die Verfolgungen und Hinrichtungen gehen so weiter? /oder/ /ja/ das • das BEFÜRCHTEN wir sehr. mhm mhm. (0.5) wissen Sie, Deng Xiaoping hat gesagt

Bu zitiert das Sprichwort "SHA YI JING BAI" (wörtliche Übersetzung: Töten Einen Einschüchtern Hundert), dai auf ein 'Strategem' (Ji) i(" zurückgeht. Bei den Strategemen handelt es sich um eine Art von 'List' bzw. 'Kalkül', die sich sowohl auf Kriegsstrategien als auch auf Kalküle und Überlistungsstrategien im politischen und privaten Leben beziehen.48 Die bekanntesten Strategeme haben bereits vor Jahrtausenden Eingang in chinesische Redewendungen und speziell in Chengyu gefunden. Die in den Strategemen dargelegten Tricks repräsentieren eine "in hohem Maße ausgeklügelte, verbreitete und dauerhafte Tradition"49 und liefern ein äußerst nützliches Rüstzeug für das Verständnis der Realität der chinesischen Gesellschaft, aber auch, so möchte ich beifügen, für das Verständnis des chinesischen militärischen und politischen Denkens und Handelns. (Qiao Jian, zitiert in: von Senger 1988:35.)

Genau dieser Aspekt des "Verständnisses der Realität der chinesischen Gesellschaft und des politischen Denkens und Handelns" - wie es der chinesische Anthropologe Qian Jian darlegt - bildet die interaktive Funktion des vorgestellten Tetragramms "SHA YI JING BAI" tötW (Zeile 22). Bus Behauptung "im Moment hat die Bevölkerung in Schina ja sehr große Angst" (17-20) wird mincis Verweis auf ein in Sprichwortform kondensiertes Verhaltensmuster gestützt. Auf der Basis dieser Weisheit äußert Bu anschließend seine Einschätzung "deshalb gibts ja momentan keine große PROTESTaktionen oder so was" (28-29). 50 Der zitierte Spruch "SHA YI JING BAI" geht auf das Strategem Nr. 13.2 zurück: "Einen hinrichten, um Hundert zu warnen".51 Bu vermittelt durch das Heranziehen eines Sprichwortes Wissen über Strategien der chinesischen Politik: Eine jahrtausendalte Verhaltensregel wird im gegenwärtigen Diskurs reaktiviert und bleibt aufgrund ihrer code-spezifischen Form sowie prosodischer Mittel (erhöhte Lautstärke und besonderer Rhythmus) als 'fremder Text' erkenntlich, was wiederum zur Auflösung der Textisotopie fuhrt. Ein als 'zitierbar' erachteter Text wird hier aus dem Kulturgedächtnis52 aktualisiert, wobei durch die Kontextualisierung der fremden Rede, durch den festgelegten, spezifischen Code, durch die Formelhaftigkeit der Worte und den besonderen Rhythmus eine gewisse 48 Senger, von (1988:21). 49 Senger, von (1988:35). 50 Diese Strategie des Darlegens der Gründe (traditionelle chinesische Verhaltensmaxime), bevor der Sprecher zum eigentlichen Punkt kommt ("es gibt momentan keine Protestaktionen"), ist typisch fur die chinesische Diskursorganisation. Siehe Kapitel 6. 51 Während der Han-Dynastie wurde dieses Vorgehen zur Verbrecherbekämpfung vom Gouverneur von Donghai (Yin Wenggui) angewandt. Weitere Informationen über die überlieferte Geschichte zum Strategem "Einen hinrichten, um hundert zu warnen" sind bei von Senger (1988:218-219) zu finden. 52 Hierzu Lotman (1985:1).

218

'Invarianz' des Textes sichergestellt wird. Wie Lotman (1985) ausfuhrt, definiert jede Kultur ihr eigenes Paradigma des Erinnerungs- (d.h. Speicherungs)-Würdigen und Vergessenswerten. Was die Struktur des Tetragramms SHA Y1 JING BAI betrifft, so handelt es sich auch hier, ähnlich wie im bereits diskutierten Tetragramm-Beispiel HU 3, um klassische chinesische Grammatikstrukturen: Einsilbige Wortfolgen, von denen das 1. (SHA) Ufr und 3. (JING) Element (Verben) sowie das 2. (YI) —" und 4. (BAI) ΐ ί Element (Zahlwörter) jeweils zur selben Wortart gehören, stehen nebeneinander. Die Zahlenangaben sind metaphorisch zu verstehen: 'Hundert' hat hier die Bedeutung von 'unzählige'. 53 Aufgrund des Tetragrammstils und der damit verbundenen altchinesischen Satzstruktur wäre eine wörtliche Übersetzung kaum verständlich. Bu liefert auch hier eine Erklärung: "eh ja, das bedeutet so ..." (22-25), die weit über eine wörtliche Übersetzung hinausgeht. Im folgenden Gesprächsausschnitt kommen die Deutsche U und Shu, eine chinesische Germanistin, die in der Bundesrepublik studiert, auf das Thema zu sprechen, ob man als Frau einen jüngeren Mann heiraten soll. SHU 1 ÍU: 2 3 4 5Shu: 6 7U: 8Shu: 9 10 11 12 13 14U: 15 16U: 17Shu: 18 19U: 20Shu: 21 22U: 23

und du k kennst auch niemand (h h) (0.2) also keine Person, die::: einen jüngeren Mann geheiratet hätte = doch eh früher als in der das heißt also vor der Befreiung? ja. war es eh auch mal in MODE daß (0.2) eine jüngere Mann (heiraten) und man sagt eh - wenn die eh die Frau DREI - JAHRE - ÄLTER als der Mann ist, dann kann man diese GOLDENE' eh' goldene ZIEGEL eh STEINZIEGEL haben aha' (0.5) aha' das heißt eh das heißt eh die Familie wird eh VIEL GELD haben j/a?/ /we/nn die Frau drei Jahre ÄLTER als der Mann ist mhm. kannst du dir vorstellen, daß du einen Jüngeren heiratest?

Der Verweis auf die - vor der Befreiung - aufgekommenen 'MODE' (8) wird durch eine sprichwörtliche Redensart untermauert "wenn die eh die Frau DREI - JAHRE - ÄLTER als der Mann ist, dann kann man diese GOLDENE' eh' goldene ZIEGEL eh STEINZIEGEL haben" (ΙΟΙ 3). Das Sprichwort - ein Yanyu, das im Original folgendermaßen lautet: "nü da san bao jin 53 Cheng (1976:45).

219

zhuan" ^ f ^ C H Í S A W (Frau drei älter, empfangen Goldbarren , d.h. ist die Frau drei Jahre älter, so wird viel Reichtum in die Familie kommen) wird auch hier metasprachlich angekündigt: "und man sagt eh U's zweimaliges 'aha" mit leichter Frageintonation sowie die Pause von 0.5 Sek. signalisieren Verständnisprobleme. Daraufhin produziert Shu eine explizit angekündigte Erläuterung des Sprichwortes: "das heißt eh das heißt eh die Familie wird eh VIEL GELD haben". Dem Sprichwort, das hier ähnlich wie in den bereits diskutierten Gesprächsausschnitten als 'fremde Rede' angekündigt und markiert wird, kommt die Funktion einer historischen Quelle zu, es nimmt die Belegfunktion ein. Da sich sprichwörtliche Redensarten durch eine indirekte, metaphorische Sprache auszeichnen, muß die Rezipientin Inferenzen ziehen, die das Sprichwort mit dem umgebenden Gesprächskontext in Beziehung setzten, d.h. sie muß Propositionslücken füllen, indem sie eine Relevanzbeziehung zwischen dem bisher Gesagten und der metaphorischen Sprechweise herstellt. Um eine Redewendung wie "wenn die eh die Frau DREI - JAHRE ALTER als der Mann ist, dann kann man diese GOLDENE' eh' goldene ZIEGEL eh STEINZIEGEL haben" zu verstehen, muß die Rezipientin zum einen die figurative Komponente 'goldener Steinzicgcl' als Symbol fur Reichtum entschlüsseln. Zum andern muß sie die Redewendung in Zusammenhang mit dem bisher Gesagten (Frauen, die jüngere Männer heiraten) stellen und im Rahmen des fremdkulturellen Folkmodells^4 von 'Ehe' interpretieren. Dies erfordert große Rezeptionsanstrengungen und ist von einer Rezipientin, die mit den fremdkulturellen Erfahrungen und Folktheorien nicht vertraut ist, nur schwer zu leisten. Aufgrund dieser Rezeptionsschwierigkeiten treten in Zusammenhang mit Sprichwörtern und figurativen Redewendungen große Verstehensprobleme fur die deutschen Rezipientinnen auf. Die Rezipientensignale von U deuten durchgängig auf VerstehensUnsicherheiten hin (vgl. das 'aha" mit Frageintonation in den Zeilen 14 und 16, die Schweigepause in Zeile 15, das fragende 'ja?' in Zeile 19, das kurze 'mhm' und der thematische Wechsel in Zeile 22-23).

7.2.2.

Chinesische Spruchweisheiten zur Stütze eigener Verhaltensweisen

In den vorliegenden Gesprächen werden von selten der deutschen Interagierenden häufig persönliche Aspekte der eigenen Lebensführung (im Bereich persönlicher Beziehungen, Sexualität, politischen Engagements etc.) angesprochen. Die in den folgenden Gesprächsausschnitten zitierten Spruchweisheiten und Redensarten beinhalten Lebensweisheiten, die die eigene Lebensführung im Einklang mit kultureller Weisheit und traditionellen Normen präsentieren. Dem folgenden Gesprächsausschnitt zwischen Fan und U geht eine Äußerung Fan's voraus, in der sie betont, daß sie lieber mit Männern befreundet ist als mit Frauen. Die einzige Ausnahme unter den Frauen bildet ihre Freundin, die ihr sehr ähnlich ist. FAN 2 IFan: 2 3U: 4Fan:

aber sie also natürlich sie ist fast so ein Typ fur vo von mir mhm mhm deshalb verstehen wir uns sehr gut. ab aber

54 Zu Folktheorien und -modellen siehe Quinn/HoUand 1987.

220

5 6 7 8 9U: lOFan: 11U: 12Fan: 13 14 15

die meisten Frauen eh: m eh in Schina sagt sagt man - eh also eh: m DIE FRAUEN sind eh sic: eh die Frauen haben LÄNGERE HAARE und KURZE HERZ. AH ja' ja hihija'hh und KURZE HERZ was meint man?= = ja. das heißt eh? (0.4) eh:m die denken also (0-6) wie kann man erklären ' also das heißt (1-0) eh: 'he die beobachtet eh die beobachten ZU VIELE Kleinigkeiten

Zur Absicherung ihres eigenen Verhaltens beruft sich Fan auf das Sprichwort "Toufa Chang Xinyan Duan" fjlf i E . (Wörtliche Übersetzung: Haare langHerz kurz). Statt einer individuell formulierten Begründung (beispielsweise "Ich verstehe mich kaum mit anderen Frauen. Die meisten Chinesinnen sind furchtbar kleinlich") wird eine kodierte 'Allerweltsweisheit' herangezogen. Das Sprichwort wird auch hier eingeführt durch einen expliziten Verweis auf die chinesische Kultur: "in Schina sagt sagt man ..." und, in gleicher Weise wie oben, als 'fremde Rede' (durch vorausgehende Pausen und Zögerungspartikel, sowie durch Erhöhung der Lautstärke) deutlich markiert. Im folgenden Gesprächsausschnitt gibt sich die Deutsche A jedoch nicht mit der kulturell abgesegneten Aussage zufrieden, sondern verlangt eine individuelle Stellungnahme von Du (Zeile 34): DU 12 1A: 2 3 4 5 6 7 8 9Du: 10 11 12A: 13 l4Du: 15A: 16 17Du: 18 19 20 21A:

wenn Sie dann - mit Ihrem Freund mit DEM oder einem Mann, mit dem Sie, den Sie heiraten werden so über Ihre Lebensvorstellungen sprechen, gibt es dann ein paar Bedingungen, eh die er UNBEDINGT erfüllen muß? oder wo er Ihrer Meinung sein muß? (2.0) eh:::::? dann eh zuerst möchte eh muß ich feststellen, daß er wirklich eh:::::: mich LIEBT. können Sie das? (1.0) (....) in Wirklichkeit glaube ich sehr schwer. mhm (0.5) und d a n n - e h (1.5) ja eh seine Eltern eh müssen auch mit eh mit mir mal darüber sprechen mhm?

221

22Du: 23 24A: 25Du: 26A: 27Du: 28 29 30 31 32A: 33Du: 34A: 35Du: 36 37A: 38Du: 39A: 40Du:

weil weil man später auch mit seine Eltern mhm zusammen leben soll mhm und wenn wenn seine Eltern damit nicht nicht einverstanden eh::::::: sind, dann meint man bei uns ohne eh ohne Glückwünsche von den ELTERN ist die Ehe auch nicht glücklich mhm (ja so) ist das auch Ihre Meinung? eh::::::::? ja. früher eh meine ja meinte ich so, aber jetzt nicht mehr mhm. jetzt nicht mehr, weil wir schon selbständig sind' mhm. wir hängen nicht von den Eltern ab.

Du stützt ihre Position mit einer R e d e w e n d u n g ^ (28-31), die den kulturellen Wissenskanon repräsentiert: "dann meint man bei uns ohne eh ohne Glückwünsche von den ELTERN ist die Ehe auch nicht glücklich". Damit verankert sie ihre eigenen Verhaltensweisen in den kulturell abgesegneten, als Spruchweisheit kodifizierten Normen und Weisheiten: Sie präsentiert sich zunächst einmal als kulturkonform und "fällt nicht aus der Reihe". Die chinesische Informantin Pan sieht den Gebrauch von Sprichwörtern und Redewendungen in der chinesischen Alltagssprache folgendermaßen: Sprichwörter u n d natürlich Chengyu werden in der Alltagssprache oft verwendet, damit man selbst keine eigene Meinung abgeben m u ß . M a n hält die eigene Meinung quasi 'hinterm Berg' und versteckt sich hinter dem Sprichwort oder einer Redensart.

Erst nachdem A (in Zeile 34) Du explizit nach ihrer eigenen Meinung fragt, kommt zum Ausdruck, daß sich die eigene Meinung von der gängigen abhebt. Das eigene Vorgehen wird also zunächst als kulturkonformes Verhalten dargestellt, indem die betreffende Norm als Schablone fur persönliche Verhaltensmuster hervorgehoben wird ('bei uns ...'). A benötigt einen zweiten Anlauf "ist das auch Ihre Meinung?" (34), um Du's persönliche, vom traditionellen Verhalten abweichende Einstellung zu erfahren. A, der ich im Anschluß des Gesprächs diesen Ausschnitt vorlegte, kommentierte ihn folgendermaßen: O b w o h l D u u n d ich uns bereits einige Monate kennen, weiß ich nie, woran ich bin. Dies hier ist so ein Beispiel, wo ich total unsicher werde, was die Chinesen n u n eigentlich tatsächlich denken, wieviel sie uns sagen und was eigentlich da vorgeht. Man m u ß ständig nachfragen, und dabei hat man Angst,

55 Hierbei handelt es sich im Gegensatz zu den anderen Beispielen nicht um ein Sprichwort oder eine feste Redewendung, sondern eher um eine allgemeine Weisheit, die in sprachlich flexibler Form wiedergegeben werden kann. Solche "man sagt bei uns..."-Einleitungen mit anschließenden Weisheiten oder Verhaltensmaximen werden von den chinesischen Sprechern recht häufig in ähnlicher sequentieller Umgebung wie die festen Sprüche geäußert.

222

man könnte irgendwas 'Gesichcsbedrohendes' tun. Letztendlich weiß man halt nie, woran man ist, und was die Person tatsächlich denkt, denn man kriegt halt meist nur die stereotypen Antworten.

Die fast zum Mythos gewordene 'Undurchschaubarkeit der Chinesen' wird auf der Mikroebene der Interaktion durch Beispiele wie dieses reproduziert. Du kommentierte diesen Ausschnitt wie folgt: Wir Chinesen sagen nicht gern unsere persönliche Meinung. Und vor allem dann nicht, wenn sie von den anderen abweicht. Man möchte nicht anders denken als die andern. Doch die Ausländer fragen immer direkt 'Was findest DU?'. Das ist oft schwierig für uns. Eigentlich sagen wir nur ganz vertrauten Menschen, wie den Eltern oder Ehepartnern, was wir wirklich denken.

Interessanterweise gibt sich hier die deutsche Gesprächspartnerin nicht mit der allgemeinen "man sagt bei uns ..." Meinungskundgabe zufrieden, sondern hakt ein. Dieses 'Nachhaken' bzw. 'Nichtzufriedengeben' mit allgemein kulturell gültigen Verhaltensregeln tritt auf deutscher Seite häufiger aufi Während die chinesischen Sprecher das Gespräch auf einer allgemeinen, unpersönlichen Ebene halten wollen, bestehen die deutschen Gesprächspartner auf einer individuellen Stellungnahme.

7.3.

Spruchweisheiten im chinesischen Diskurs

Das gehäufte Auftreten von sprichwörtlichen Redensarten chinesischer Sprecher beschränkt sich nicht auf interkulturelle Begegnungen. Zahlreiche Arbeiten über chinesische Sprichwörter betonen die Vorliebe der Chinesen für den Gebrauch dieses Genres im schriftlichen und mündlichen Diskurs. 5 6 Die Frage stellt sich nun, wie Spruchweisheiten in chinesischen Interaktionen verwendet werden und wie die 'fremde Rede' in der chinesischen Umgebung kontextualisiert wird. Zhang und Liang diskutieren, ob eine Verlängerung des Dcutschkurses für chinesische Wissenschaftler, die zur Fortbildung in die Bundesrepublik geschickt werden, sinnvoll wäre. Liang vertritt die Auffassung, daß ein einjähriger Intensivkurs zur Vorbereitung auf den Auslandsaufenthalt nicht ausreichend sei, während Zhang der Meinung ist, der Sprachkurs genüge als Vorbereitung, und die Wissenschaftler sollten anschließend in der Bundesrepublik ihr Deutsch weiter verbessern. Dem folgenden Gesprächsausschnitt geht die Aussage Liangs voraus, daß weitere sechs Monate Deutschkurs sehr wirksam sein könnten: LIANG 7 1 Liang:

2

56 Siehe u.a. Lai 1972; Karlgren 1975; Cheng 1976; Pao/Cheng 1985.

223

3

m u 5t ftl. ULHfc&ifc, M O DAO BU W U KAN CHAI GONG, ye jiu shi shuo, SCHÄRFEN MESSER NICHT VERZÖGERN FÄLLEN HOLZ, auch dann sein sagen,

4

WWÄ-Ife W ® ni ruguo shi zhunbei shijian yu chang de hua, du falls sein Vorbereitungszeit umso länger,

5

f « « f t t a - f f t ® bingbu yiding nenggou danwu ni zhege zui hou nicht unbedingt können verzögern deine letzte

6

mm W Ä E HL r t ö & £ « m w shiqing de fazhan, ye keneng hui ni shoudao de Sachen entwickeln, auch möglich können du bekommen

7

fifcft 4f M Λ # chengxiao hui geng da, ni renwei zen me yang? Erfolg wird größer, du meinst wie?

Liang: Ich denke, die Ergebnisse wären besser. In China gibt es ein Sprichwort, das lautet: EINE GUT GESCHÄRFTE AXT VERZÖGERT NICHT DIE ZEIT DES HOLZFÄLLENS. Das heißt, eine längere Vorbereitungszeit wird sicher nicht die letztendliche Entwicklung verzögern, es ist auch möglich, daßder Erfolg dann größer sein kann. Was meinst du? Auch hier wird das Argument Liangs durch das Heranziehen eines Sprichwortes und damit eines kulturell gültigen Wissensmuster untermauert. Anstelle einer quasi-logischen^7 Begründung in eigenen Worten, verweist Liang auf eine in Sprichwort-Form kondensierte Weisheit. Interessanterweise wird die Referenz auf den kulturell gesicherten Wissensstand auch hier im chinesischen Kontext metasprachlich angekündigt. Dadurch soll die kulturelle Einbettung der präsentierten Äußerung ins Bewußtsein der Hörerin gelangen und die gemeinsame kulturelle Identität und damit gemeinsame Weisheitskultur "Zhongguo you ju hua jiao nage" (In China gibt es ein Sprichwort, das lautethervorgehoben werden. Dies geschieht insofern, als ein bestimmter Wissensbestand in Zusammenhang mit der kulturellen Kategorie 'China* gebracht wird. Die 'fremde Rede' wird hier ebenfalls analog zu den deutschsprachigen Daten prosodisch durch erhöhte Lautstärke und einen besonderen Rhythmus vom umgebenden Gesprächskontext abgesetzt. Im Anschluß an den Spruch präsentiert Liang ebenfalls eine Erläuterung "das heißt, falls deine Vorbereitungszeit länger dauert, so verzögert dies nicht unbedingt den Prozeß" (3-6), die den Zusammenhang zwischen dem 'fremden Text' und dem Gesprächskontext herstellt.

57 Zum Begriff der 'quasi-logical'-Begründung siehe Perelman/Olbrecht-Tyteca (1958). 58 In China führen wir häufig Chengyu ein mit Sätzen wie 'In China gibt es ein Sprichwort...' oder 'Die Alten sagten früher...'. so kommentierte eine Informantin diese Einleitung.

224 7.4.

Spruchweisheiten in der chinesischen Rhetorik "Zu Ehren gelangt, wer sich an den Aussprüchen der Alten orientiert" (Xiinzi) Der Chinese gibt, insbesondere als Philosoph und Lehrer, seine Ansichten im einzelnen ausschließlich unter Benutzung von Wendungen weiter, deren Wirkkraft durch ihre Entstehung in ferner Vergangenheit gewährleistet ist. (Granet 1 9 8 5 : 6 0 )

Arbeiten zur chinesischen Rhetorik^9 betonen stets den Verweis auf anerkannte Autoritäten und das Zitieren alter Meister als wichtiges Stilmittel. In sämtlichen Schriften zur klassischen chinesischen Rhetorik wird darauf hingewiesen, daß die chinesische Überzeugungskraft von der Analogiebildung sowie vom Zitieren anerkannter Autoritäten, Anekdoten und Fabeln lebt.60 T h e principle sources o f proof on which judgment should be based were authority and analogy. Speakers took care to represent ideas as being not their own but an authoritative derivation from ancient precepts or practices ... Authority and analogy were used almost to the exclusion o f both formal logic and citation o f specific evidence o f supporting facts. (Oliver 1 9 7 1 : 2 6 3 )

Die gesamte chinesische Kultur ist geradezu gekennzeichnet von der Verbeugung vor anerkannten Autoritäten, vom Imitieren der Meister und dem Zitieren von Redewendungen bekannter Persönlichkeiten.61 Nicht etwa die Kausalität - so Granet (1985:39fF.) - stelle in der chinesischen Überzeugungskunst das wichtigste Prinzip dar, sondern vielmehr das Nennen von allgemeingültigen Vorbildern. 62 Wie auch Garret (1983:6fF.) verdeutlicht, legt die chinesische Argumentationspraxis großen Wert auf die Stütze des eigenen Arguments durch "narration of one or more historical examples". Bereits im Buch der Etikette wird als wichtige Regel des Sprechens angegeben, daß der Sprecher nicht etwa individuellen Besonderheiten frönen solle, sondern den tradierten Sitten und Weisheiten zu folgen habe.63 Schäfers (1983) Analyse zur Verwendung idiomatischer Ausdrücke in Mao Zedongs Schriften zeigt ebenfalls, daß Mao zur Stütze seiner Argumentationen auf tradierte Spruchweisheiten (u.a. Chengyu) zurückgreift, um seine Aussagen in eine jahrtausendalte chinesische Tradition einzureihen und ihnen eine Form 'mit Geschmack' zu verleihen. In seiner Ausführung zur Sprache stellte Mao Zedong mehrfach die Forderung auf, daß die Sprache nicht "trocken und ohne Geschmack" (kuzao wu tvei ) 59 60 61 62

JC Œfê s e 'n dürfe. Unter 'Sprache mit Geschmack' verstand

Hiensu auch Kapitel 3. Granet (1985:39ff.); Karlgren (1975:86); Ahern (1981:33); Gemet (1983:92); Cheng (1985:86). Siehe auch Xiinzi's (Hsün-Tzu) Schriften, insbesondere die Abhandlung "Über die Kunst des Debattierens". Diese Aussage Granets wird u.a. unterstützt von Garrets (1983:167ff.) Analyse antiker chinesischer Argumentationstechniken. Garret stellt dabei die These auf, daß 'deductive reasoning' und syllogistische Schlußfolgerungen lediglich von den Mohisten verwendet wurden, doch die klassische chinesische Argumentationstradition ansonsten hauptsächlich auf Vergleichen, Anekdoten und historischen Beispielen beruht.

63 Oliver (1971:151). Siehe hierzu auch die Schriften Xünzi's (Hsiin-Tzus), der immer wieder explizit - insbesondere in seiner Abhandlung "über die Kulturtradition''- auf den Stellenwert der Tradition als Maßstab für die Gegenwart verweist. Ferner verwendet Xiinzi (Hsün-Tzu 1967:38) selbst zur Stütze von Behauptungen überlieferte Sprüche: "Nur Edle, die in aller Behutsamkeit an ihrem Charakter arbeiten, sind zu dieser Einsicht fähig. Ein bekanntes Wort sagt ja auch:' Mit einem kurzen Seil gelangst Du nicht bis zur Quelle eines tiefen Brunnens, mit oberflächlichem wissen nicht an (den Sinn der) Aussprudle der weisen Männer heran.' In der Tat, die verschiedenen Aufgaben der sozialen Stände, wie sie in den Klassikern der Lieder, Urkunden, der Tradition und Musik stehen, können gewöhnliche Sterbliche nicht begreifen."

225

er vor allem den "frischen, lebhaften chinesischen Stil" ( z h o n g g u o zuofeng) eine Sprache nach chinesischer Manier ( z h o n g g u o qipai)

^ § ffi

, d.h.

, eine Sprache, die von der

Bevölkerung "gerne gehört und mit Vergnügen gesehen" ( x i w e n le jian)

g f f i & j Z werde,

wozu auch die Sprichwörter einen wesentlichen Teil beizutragen haben. 64 Statt auf Individualität und Originalität zu bauen, war und ist es ein wichtiges Ziel des Sprechers, seine Verbundenheit mit der eigenen Tradition zu verdeutlichen. "Neuerungen im Ausdruck, ungewöhnliche Wortverbindungen und originelle Metaphern" sind - so Granet (1985:41) - für die chinesische Rhetorik nur von minderem Interesse. Die richtige Verwendung von Sprichwörtern gilt dagegen gar als 'Kunst'. 6 ' Auch heute noch besteht ein wichtiges Verhaltensmuster in China darin, daß der/die Einzelne nicht auffallen möchte, d.h. man will weder aufgrund besonderer Fähigkeiten noch aufgrund einer von anderen abweichenden Meinung "aus der Gruppe herausragen". Jemand, der seine Meinung als individuell und abweichend darlegt, gilt als 'unbescheiden'. 66 Bei Granet (1985:48) wird die chinesische Vorliebe fiir feststehende Redensarten und Sprichwörter als ein Aspekt der "allgemeinen Unterwerfung unter eine konformistische Ethik" gedeutet. Damit formuliert er überspitzt, was ich als Strategie der kulturkonformen Meinungsdarlegung bezeichnen würde: Indem ein Sprecher seine individuelle Meinung zurückhält und stattdessen auf den kulturell abgesegneten Wissensstand in Form von Spruchweisheiten und Anekdoten verweist, entzieht er sich der Verantwortung für das eigene Verhalten. 67 Diese vielleicht etwas spekulativ anmutende These wird von zahlreichen psychologischen Untersuchungen zum kontrastiven Sozialveihalten chinesischer und amerikanischer Individuen gestützt. 68 Der von der chinesischen Gesellschaft favorisierte Persönlichkcitstypus ist nicht etwa der des Individuums, das aufgrund seiner Originalität die Aufmerksamkeit anderer auf sich zieht, sondern der einer Person, die nicht auffällt und sich in Einklang mit den sozialen Normen der Gesellschaft verhält. 6 9 Diese Verhaltensmaxime beschreibt auch Qin Tang (1991:73) in ihrem Artikel zu Unterschieden im deutschen und chinesischen Studentenalltag: 70

64 Schäfer (1983:21). 65 Die Vorliebe fürs Untermauern der eigenen Position durch Anekdoten und Chengyu kommt auch in den klassischen chinesischen Romanen zum Ausdruck. Nicht nur die Protagonisten verwenden Chengyu und sonstige Spruchweisheiten, um ihrer Meinung mehr Überzeugungskraft zu verleihen (vgl. beispielsweise Kin Ping Meh 1977:166-167), sondern auch der auktoriale Erzähler macht regen Gebrauch von Spruchweisheiten, um seine Kommentare in Einklang mit den kulturellen Normen darzubieten: "Aber werte Leser, nicht umsonst wird der Ehemann davor gewarnt, seine Frau heimlich mit Bonzen und Nonnen, mit Tao Priestern und Wahrsagern, mit Ammen und Kupplerinnen verkehren zu lassen. Ein alter, guter Spruch lautet: Haltet fern von Gästen deine Frau, Schließ auch die Hinterpforte schlau. Auf Hof und Garten sie beschränke. Dann meiden Unglück dich und Ränke." 66 Diesen Hinweis verdanke ich Prof. Wang S.-Y. (persönliches Gespräch in Berkeley, Februar 1990). 67 Die Sprecherin wählt eine 'Form verringerter Verantwortung' (Goffman). 68 Bond/Hwang 1986; Ho 1986. 69 Oliver (1971: 89). Hierzu auch Kapitel 3. 70 Das hier von Qin Tang verwendete Sprichwort "REN PA CHUMING, ZHU PA ZHUANG"

A· t0 tti "δ

tt

Mcmch fürchtet das Berühmtwerden, wie das Schwein das Fettwerden fiirchtet)

wurde auch von Seiten meiner Informantinnen in diesem Zusammenhang immer wieder zitiert. Ebenso: "QIANG DA CHU TOU NIAO" ^ ^ Q, (wer sich bemerkbar macht, den wird der erste Schuß

treffen).

226

D i e Chinesen sind von klein auf so erzogen, daß man bescheiden und höflich sein soll. H o c h m u t und Selbstzufriedenheit gelten in C h i n a als schlechte Tugenden. M a n soll nicht die anderen Uberragen, sondern genauso sein wie alle anderen. Daher läßt sich auch erklären, warum die Chinesen keine Individualität haben. Aus den Sprichwörtern, die jedes Land hat und die dessen Kultur u n d Sitten deutlich z u m Ausdruck bringen, kann man sehr viel lernen. In China gibt es viele Sprichwörter wie: ' D e r Flintenschuß trifft den Vogel, der den K o p f zu heben wagt', 'Wer sich bemerkbar macht, auf den wird der erste Schuß abgegeben', 'Der Mensch fürchtet sich davor, berühmt zu werden, ein Schwein davor, fett zu werden'. Wenn man sagt, daß jemand gern im Mittelpunkt steht und sich gern zeigen will, bedeutet das etwas Negatives. Es ist ein abwertender T o n dabei. D a m i t kann man vielleicht die Erscheinung zum Teil erklären, warum in einem Seminar fast kein chinesischer Student aktiv mitwirkt und sich zu Wort meldet.? 1

Mit dem Zitieren einer sprichwörtlichen Redensart tritt die Einzelperson sowohl inhaltlich (in bezug auf die vertretene Meinung) als auch formal (in bezug auf die sprachliche Form) hinter das kulturell vorgegebene Muster zurück. Sie depersonalisiert ihre Äußerung in zweierlei Hinsicht: inhaltlich, indem die Meinungskundgabe als Teil der kollektiv anerkannten Weisheit präsentiert wird, und - stilistisch, indem die Darlegung der Weisheit in kulturell vorgeformten sprachlichen Mustern erfolgt. Kollektive Erfahrungssätze der Vergangenheit werden dabei zum Modell gegenwärtigen Handelns erklärt. Die Traditionsorientiertheit, die die klassische chinesische Sprechgemeinschaft auszeichnete, ist also teilweise im heutigen Diskursverhalten noch präsent: for in speech, as in all else, the ancient Chinese were distinctly traditionalistic. What was established they did not mean to upset. What was practiced, they meant to follow. A n d the speech patterns which they f o u n d most firmly fixed were those D u Halde perceptively noted: a liberal use o f metaphor, analogy, and sententious phrasing, including a frequent quotation o f proverbs and maxims from their sages. (Oliver 1971:97)

Der gehäufte Gebrauch von Spruchweisheiten in meinen Daten beruht somit keineswegs auf 'individuellen Zufälligkeiten', sondern repräsentiert wesentliche Stilelemente und Sprechkonventionen der chinesischen Sprechgemeinschaft. 72 In ihrer Verwendung dieser kleinen kommunikativen Gattung nähern sich die Sprecher den Idealen der chinesischen Rhetorik. Der Sprecher borgt sich die Stimme des Kollektivs und macht sich diese zu eigen. Die Weisheit der Vergangenheit wird reaktiviert und die chinesische Traditionsverbundenheit auf der Mikroebene des Gesprächs neu hergestellt. Das Zitieren von Sprichwörtern und Redensarten als generationsüberdauernder Weisheitsschatz stellt eine zentrale Möglichkeit der Berufung auf Tradition in einer stark kultur-konservierenden Gesellschaft dar. 73

71 Dieser Textausschnitt von Qin Tang kann wiederum als Beispiel fur den Einsatz von Sprichwörtern zur Stütze von Aussagen über chinesische Verhaltensnormen gesehen werden. 72 Das gehäufte Auftreten von Sprichwörtern beschränkt sich selbstverständlich nicht auf die chinesische Sprechgemeinschaft. Wie Coulmas (1981), Ong (1982) u.a. zeigen, stellen Sprichwörter in anderen traditionsorientierten und in vielen oralen Gesellschaften ebenfalls eine wichtige kommunikative Gattung der Alltagsinteraktion dar. Die diskursiven Funktionen sowie die stilistischen Merkmale der Sprichwörter müssen jedoch von Sprechgemeinschaft zu Sprechgemeinschaft analysiert werden. 73 Ahnliche Beobachtungen macht Tin^-Toomey (1988:230) bezüglich des Interaktionsstils von Angehörigen aus 'kollektivistischen' und 'high-context -Kulturen. Siehe Kapitel 3.

227

7.5.

'Shouguo jiaoyu'

- ein Zeichen von Bildung

W h e n we first attacked the kind o f writing that stuck us as cliche-ridden or trite or far-fetched, our students ('chinesische Studenten', S.G.), puzzled, asked us i f we had no respect for tradition. T h e Chinese appreciate the ability to use well-known phrases that echo famous works o f literature; this notion is in direct conflict with our attitude, which values self-expression that is 'new' or 'fresh' or original'. (Hynes 1 9 8 1 : 1 2 0 - 1 2 1 )

Welchen Stellenwert hat die kleine Gattung der Sprichwörter (und Redensarten) innerhalb der chinesischen Kultuigemeinschaft? In zahlreichen Arbeiten zur chinesischen Umgangssprache, in chinesischen Lehrbüchern fur Ausländer sowie in sämtlichen chinesischen Sprichwortsammlungen wird stets die lebendige Sprichwortkultur im Chinesischen und die Beliebtheit des Sprichwortgebrauchs in der chinesischen Schrift und Umgangssprache betont. Chinesische Informantinnen, die ich über den Gebrauch von Spruchweisheiten im Chinesischen befragte, antworteten: Bei uns verwendet man sehr gerne und häufig Sprichwörter. Sie gelten als 'schöner Stil'. W i e eine Art Schmuck. Es ist jedoch wichtig, daß man diese Sprichwörter oder besonders die 'Vier-Wort-Gruppen' richtig anwendet, d.h. im richtigen Kontext. Dann sagt man ' c h u k o u c h e n g zhang', d.h. 'viele gute Texte kommen aus dem Mund'. (Die Informantin Wang) Wichtig beim Gebrauch von diesen Sprichwörtern ist, daß man sie richtig anwendet. W e n n jemand ein Sprichwort im falschen Kontext anwendet, dann lacht man über ihn. Dann wirkt er so, als wolle er gebildet sein, doch ist er es nicht. (Der Informant W u )

Die chinesische Vorliebe für vorgefertigte Spruchweisheiten steht dem westlichen Originalitätsund Individualitätsfetisch kraß gegenüber. Während in unserer individuumsbetonten Gesellschaft der Drang besteht, die eigene Äußerung mit einem originellen, individuellen und persönlichen Zug zu versehen, und Stilwörterbücher geradezu vor dem Gebrauch von Routineformeln und Sprichwörtern als Zeichen 'schlechten Geschmacks' warnen 74 , wird im chinesischen Sprachgebrauch die Fähigkeit, in der richtigen Situation die adäquate Formel zu finden, honoriert7^, und das gehäufte Verwenden von Zitaten und Sprüchen gilt in China nicht etwa als schlechter Stil, sondern bedeutet "den Gipfel der Bildung und ist Zeichen einer guten Erziehung" 76 . Wie wichtig die 'persönliche Meinung' fur den 'ICH-Kult' der westlichen Gesellschaft ist, demonstriert Bourdieu (1987). Der Hang zur "Exklusivität, Einmaligkeit, Originalität" ist eng verbunden mit der Darlegung 'persönlicher Anschauungen* sowie der Demonstration eines 'persönlichen Stils' 7 7

74 Schäfer (1983:73). 75 Siehe hierzu auch Morris (1981:V), der in seinem Vorwort zu chinesischen Redewendungen vermerkt:"You don't have to be long learning Chinese before you realise just how very much the Chinese life using traditional sayings in their ordinary, everyday conversation. And not much longer before you discover their newspaper and books are the same: sprinkled with sayings. O f course, people all over the world use the traditional sayings of their own language, but the Chinese seem to have a greater penchant for it than others." 76 Karlgren (1975: 88). 77 Auch LakofF (1991) beschreibt das Mißbehagen in der 'wesdichen' Kultur gegenüber formelhaften Ausdrücken: In der amerikanischen Gesellschaft werde der Ausdruck quasi genuiner Emotionen so hochgeschätzt, daß eine routinehafte Ausdrucksweise bzw. feste Redewendungen immer mehr abgelehnt werden.

228

Die Analysen von Luckmann/Keppler (1988) verdeutlichen, daß in unseren Sprechgemeinschaften zwar auch häufig auf moralische Werte und soziale Normen Bezug genommen wird, doch werden diese meist interaktiv ausgehandelt - anstatt sie in festgefugten Sätzen zu präsentieren. Die Kundgabe 'fragloser Weisheit' in Form von Sprichwörtern scheint in unserer Kulturgemeinschaft weitaus seltener oder gar dispräferiert zu sein: Als 'gesunkenes Kulturgut' bzw. "Weisheit auf der Gasse" 78 weisen Sprichwörter bei uns eine dezidierte Nähe zur Volksmoral bzw. "Philosophie der kleinen Leute" auf. Dagegen erfreuen sich tradierte Weisheitssprüche in einer kulturbetonten Gemeinschaft wie der chinesischen großer Beliebtheit. Die kulturell unterschiedliche Einstellung hinsichtlich der kleinen kommunikativen Gattung 'Sprichwörter' zeigt sich nicht zuletzt darin, daß auch heute noch in Chinas Schulen Sprichwörter gelernt und abgefragt werden. 79 Die chinesische Informantin Pan berichtet: In der Mittelschule bekamen wir Büchlein mit Sprichwörtern und den Geschichten zu dem jeweiligen Sprichwort. Diese m u ß t e n wir auswendig lernen. Jeden T a g sollten fünf Sprüche gelernt werden. D a n n gab es Tests, w o diese Sprüche abgefragt wurden. Man machte Lückentests, wo wir das richtige Sprichwort einsetzen mußten.

Doch beschränkt sich dieses Auswendiglernen von Spruchweisheiten nicht etwa auf chinesische Sprichworte. Während meiner Tätigkeit als Deutschlektorin erlebte ich, daß chinesische Kolleginnen den Germanistikstudentinnen während ihres Studiums ebenfalls Listen deutscher Sprichwörter und Redewendungen (z.B. "Übung macht den Meister" oder "Morgenstund hat Gold im Mund") austeilten, die in den Germanistikprüfungen und -ldausuren abgefragt wurden. Selbst fur die Magisterprüfung mußten chinesische Studierende in Lückentests das passende Sprichwort ausfüllen. Die chinesischen Germanistikdozentinnen übertrugen ihre kulturellen Einstellungen bezüglich der prestige-beladenen Gattung 'Spruchweisheiten' auf deutsche Sprichwörter. 80 Als Ergebnis hatten wir nicht selten Magisterarbeiten und sonstige 'wissenschaftliche' Texte, die gespickt waren mit festen Redewendungen und Sprichwörtern wie "Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmer mehr" oder "Der Mensch denkt - Gott lenkt". 81 Die chinesische Informantin Xu berichtet: W i r m u ß t e n während unseres Germanistikstudiums viele deutsche Sprichwörter lernen, da m a n bei uns glaubt, Sprichwörter im Deutschen sind genauso wichtig wie diese Sprüche oder Chengyu bei uns in China. D o c h d a n n kam eine deutsche Lektorin an unsere Hochschule. W i r m u ß t e n bei ihr Interpretationen deutscher Literatur schreiben. Und da waren wir völlig verwirrt, als sie nach Rückgabe der ersten Interpretationen uns mitteilte, es sei in Deutschland nicht üblich, wissenschaftliche Arbeiten mit Sprichwörtern zu schmücken. Die meisten Studenten hatten nämlich ihre Texte voller Sprichwörter, wie das bei uns üblich ist. M a n läßt eine Interpretation oder eine Magisterarbeit gerne mit Sprüchen wie 'Aller Anfang ist schwer' oder so beginnen. W i r haben eigentlich nicht verstanden, w a r u m dies in Deutschland nicht auch als schöner Stil gilt. Erst seit ich hier in Deutschland bin,

78 So nannte Sailer seine Sprichwortsammlung. Zitiert in Bausinger (1968:95). 79 In gewisser Weise könnte man die chinesischen Sprichwörter hinsichtlich ihrer kommunikativen Funktion und ihres Ansehens mit den bei uns bis in die 60er Jahren gepflegten lateinischen Zitaten vergleichen. 80 Auch Bauersachs et al. (1984:54-55) verweisen auf die 'idiomatische Überhäufung' im Sprachgebrauch chinesischer Deutschlernenden. Dies sei auf 'sprachliche Interferenzen' zurückzuführen: "Die große Bedeutung idiomatischer Ausdrücke im Chinesischen wird automatisch auch fur das Deutsche angenommen und dementsprechend wird dem Auswendiglernen derartiger Ausdrücke übertriebener Wert beigemessen. " 81 Giinthner (1988a).

229 merke ich, daß die Deutschen kaum Sprichwörter benützen. Und deshalb verwende ich nun auch keine solchen Sprüche mehr.

Zusammenfassung Die chinesischen Gesprächsteilnehmer verwenden sprichwörtliche Redensarten einerseits zur Stütze eigener Behauptungen und Verhaltensweisen: Mit der Referenz auf den als kulturell gesichert geltenden Wissensstand signalisieren sie, daß ihre Meinungsäußerung in den traditionellen Werten der 'Heimatkultur' wurzelt. Andererseits stellen Spruchweisheiten ein beliebtes Genre zur interkulturellen Wissensvermittlung und Darlegung ethischer Normen dar. Das Zitieren 'fremder Texte' ist stets mit gewissen Interpretationsanforderungen an die Rezipienten verbunden: Sie haben die Aufgabe, den inhaltlichen Bezug zwischen Gesprächskontext und fremder Äußerung herzustellen. D.h. die sprichwörtliche Redensart muß im Kontext des bisher Gesagten interpretiert werden, und der Sinnzusammenhang zwischen bisher Geäußertem und der 'fremden Rede', die häufig in metaphorischer Sprache vorliegt und nur 'indirekten' Bezug zum Gesprächskontext aufweist, muß von den Rezipienten geleistet werden. Um den Rezipienten den Inferenzprozeß zu erleichtern, liefern die chinesischen Gesprächspartner — eingeleitet durch Formeln wie 'das heißt ...' - erläuternde Übersetzungen, die über reine Wort-fur-Wort-Übersetzungen des Sprichworts hinausgehen und meist den Bezug der metaphorischen 'fremden Rede' zur konkreten Gesprächssituation herstellen. Was die formale Organisation und Gestaltung der 'fremden Rede' betrifft, so fällt auf, daß die Sprecher/innen bestimmte syntaktisch festgelegte Strukturen, prosodische Mittel (besonderer Rhythmus, erhöhte Lautstärke) und häufig den Originalcode (Chinesisch) verwenden, die die 'fremde Äußerung' von ihrer sequentiellen Umgebung als 'Fremdkörper' abheben. Darüberhinaus konnte die Analyse verdeutlichen, daß Kenntnisse kommunikativer Gattungen - und damit verbunden ein Wissen um die Struktur und diskursive Funktion dieser Gattungen — Teilaspekte der kommunikativen Kompetenz darstellen. Analysen des Gattungsvorrats einer Sprechgemeinschaft sowie der interaktiven Funktionen und Verwendungsregeln spezifischer Gattungstypen stellen somit wesentliche Bestandteile der Erforschung interkultureller Kommunikation dar. Eine kontrastive Rhetorik und Ganungsanalyse müßte sich folgenden Fragestellungen zuwenden: 1. Über welches Gattungsrepertoire verfugt eine Kulturgemeinschaft? 2. Haben ähnliche Gattungstypen (beispielsweise sprichwörtliche Redensarten, Witze oder Anekdoten) in verschiedenen Sprechgemeinschaften vergleichbare interaktive Funktionen inne? Werden sie somit zur Lösung ähnlicher kommunikativer Aufgaben herangezogen? 3. Existieren kulturell divergierende Bewertungen und Stilzuordnungen ähnlicher Gattungstypen?

8.

Analyse eines argumentativen Gesprächs

In diesem Kapitel werde ich ein Einzelgespräch einer exemplarischen Analyse unterziehen, um somit einen sozialen Vorgang in seiner Entwicklung und seinen Konsequenzen detailliert zu beschrieben. Dabei richte ich das Hauptaugenmerk auf die argumentativen Strategien der chinesischen und deutschen Interagierender. Argumentationssequenzen treten in Gesprächen zwischen Deutschen und Chinesinnen immer wieder auf, da von deutscher Seite häufig Aspekte der persönlichen Lebensführung sowie soziale und politische Fragen thematisiert und diskutiert werden. Für meine Fragen nach möglichen Differenzen im Interaktionsverhalten, nach unterschiedlichen Diskurskonventionen der Signalisierung interaktiver Bedeutung und nach Mißverständnissen in interkulturellen Begegnungen sind argumentative Sequenzen insofern von großem Interesse, als sie eine enge Verbindung von Strategien der konversationellen Kooperation und Konfrontation 1 und damit eine Kombination aus Diskurskohärenz, Signalisierung von Nichtübereinstimmung, Begründung und Verteidigung eigener Positionen und Durchführung von 'face-work' verlangen.

8.1.

Anmerkungen zum Gespräch YANG

Beteiligt am Gespräch YANG sind die deutschen Studentinnen Doris und Andrea, die Chinesin Tan und der Chinese Yang. Tan und Yang studieren zum Zeitpunkt des Gesprächs seit neun bzw. sieben Monaten an einer deutschen Hochschule. Tan hat in China einen Magister-Abschluß in einem technischen Fach erworben und einige Jahre als Dozentin an einer chinesischen Hochschule gearbeitet. Während ihres Studiums hat sie an einem 18-monatigen Deutschintensivkurs teilgenommen und kurz vor ihrer Ausreise weitere drei Monate lang einen Deutschintensivkurs besucht. Yang Schloß in China ein Deutschstudium mit dem B.A. ab und arbeitete anschließend in einem chinesischen Ministerium. Mit der Absicht, sich an deutschen Hochschulen fachlich weiterzubilden, kamen beide Chinesinnen in die Bundesrepublik. Yang und Tan sind gut befreundet; ebenso Doris und Andrea. Das Gespräch kam folgendermaßen zustande: Ich hatte Doris häufig über China erzählt. Sie interessierte sich sehr für soziale Probleme und insbesondere für die Situation von Frauen in China und äußerte den Wunsch, sich mal mit Chinesinnen über das Leben und die Situation von Frauen in China zu unterhalten. Da ich T a n kannte und wußte, daß sie Interesse hatte, Deutsche kennenzulernen und außerdem recht 'offen' und 'kontaktfreudig' ist, gab ich Doris Tan's Telefonnummer. Daraufhin beschlossen die beiden, sich 'zum Tee' zu treffen. Sowohl Tan als auch Doris luden eine weitere Person zum Treffen ein: Andrea, eine Freundin von Doris, die bereits als Touristin in China war, und Yang, ein Kollege von Tan. Das Gespräch fand im Studentenwohnheim im Zimmer von Tan statt. Ich bat Doris, das Gespräch auf Band aufzunehmen. Alle Anwesenden wußten, daß ich über Interaktionen zwischen Deutschen und Chinesen arbeite und gaben ihr Einverständnis zur Aufnahme. Zunächst unterhielten sich Tan, Doris und Andrea ca. 25 Minuten zu dritt, bis 1 Schiffrin 1984; Kotthoff 1989.

231

schließlich Yang kam. Die folgende Analyse umfaßt primär das Gespräch in der Vierergruppe. Die Kassette war nach ca. 65 Minuten zu Ende. Danach ging das Gespräch noch ca. 20 Minuten weiter. Als ich Tan nach dem Gespräch interviewte, bewertete sie das Gespräch als 'nicht schlecht', allerdings seien die deutschen Frauen, insbesondere Doris, recht 'direkt', 'aggressiv' und auch "grob, ja ein bißehen unverschämt" gewesen. Statt 'sich vorzustellen' und "sich gemeinsam vertraut zu machen", seien die beiden Deutschen sehr schnell auf das Frauenthema eingegangen, hätten ihre Meinungen 'sehr direkt' geäußert und die chinesischen Teilnehmer/innen sehr "offen angegriffen, ohne zuerst mal ihre Standpunkte vorzustellen und zu begründen". In China wäre ein solches Gespräch völlig anders gelaufen: Man hätte sich zunächst vorgestellt, von sich selbst erzählt und wäre dann " nicht so direkt und langsamer auf das Thema gekommen". Man hätte erst Erklärungen abgegeben und nicht sofort den anderen mit seiner Meinung konfrontiert. Doch betonte Tan, daß sie selbst und auch Yang fiir chinesische Verhältnisse 'sehr sehr offen' seien. Viele Chinesen würden deshalb auch sagen, sie seien 'keine richtigen Chinesen'. Aus diesem Grunde habe ihnen der Gesprächsstil der Deutschen 'nicht so viel ausgemacht', und die Atmosphäre sei trotz des direkten Stils der Deutschen 'okay' gewesen. Tan habe anschließend sogar 'Fotos mit den beiden Deutschen gemacht*. Weitere Treffen fanden jedoch nicht statt, der Kontakt wurde abgebrochen. Doris, die ich ebenfalls nach dem Gespräch interviewte, gab an, sie hätte eigentlich kein Interesse mehr, die beiden Chinesinnen zu treffen. Als Grund nannte sie, das Gespräch sei einfach 'nicht interessant genug' gewesen, die beiden seien eher 'langweilige' Gesprächspartner, und sie hätten "eigentlich keine richtige eigene Meinung". Wie es zu diesen Bewertungen und Interpretationen kommen konnte und welche Erwartungen beide Seiten an das Gespräch hatten, wird im Laufe der Analyse verdeutlicht. Dabei wird die These vertreten, daß die beiden Gruppen unterschiedliche Kommunikationsstile 2 hinsichtlich Konfrontationsbereitschaft, Gesichtsbedrohungen und Präsentation eigener Meinungen verfolgen. Darüberhinaus existierten divergierende Erwartungen an das kommunikative Ereignis (insbesondere in Bezug auf die Art des "Kennenlernens der anderen Person") und an die Etablierung von Vertrautheit. Während fiir die deutschen Sprecherinnen (Studentinnen im Alter von 25-30 Jahren) 'Kennenlernen' beinhaltet, daß man die Meinungen anderer erfährt, ihre persönlichen Standpunkte zu gewissen Fragestellungen kennenlernt und sich damit auseinandersetzt, beinhaltet 'Kennenlernen' fiir die chinesischen Interagierenden ein langsames Herantasten an persönliche Daten, das Verbringen eines gemeinsamen Abends in harmonischer Atmosphäre.3 Da das Gespräch sehr stark vom Aktivitätstyp4 der 'Argumentation' dominiert ist, hat die folgende Analyse das Ziel, herauszuarbeiten, inwiefern sich Differenzen im argumentativen Stil 2 3

4

Kommunikationsstil wird hier im Sinne Gumpen (1982) verstanden. In China machten wir Europäerinnen immer wieder die Erfahrung, daß es meist Monate oder gar Jahre und damit zahlreiche gemeinsame Abendessen mit viel 'small-talk* und Austausch persönlicher Daten, wie Anzahl der Geschwister, Beruf der Eltern, Zeigen von Familienphotos etc. brauchte, bis wir die persönlichen Meinungen und individuellen Standpunkte unserer chinesischen Bekannten und Kolleginnen kennenlernten und tatsächliche Diskussionen mit konträren Meinungen führen konnten. Aktivitätstypen werden im Sinne Levinsons 1979 (activity types) als verbale (bzw. nonverbale) Handlungen verstanden, deren Vollzug aufgrund kultureller Konventionen einer bestimmten Geordnetheit und Regelhaftig-

232 zwischen den deutschen und chinesischen Teilnehmer/innen beobachten las sen.5 Typisch fur argumentative Gespräche im privaten Bereich ist, daß sie andere Gattungen und kommunikative Kleinformen wie Geschichten, Ratschläge, Beleidigungen, Definitionen, Zitate, Erklärungen, Belehrungen, Berichte über Zeitungsartikel etc. inkorporieren. 6 Im vorliegenden Gespräch kristallisiert sich das Leitthema "Frauenprobleme in China und der Bundesrepublik" heraus. Trotz Einschübe anderer kommunikativer Vorgänge - wie beispielsweise persönliche Erzählungen aus der Kindheit, Belehrungen, Informationsaustausch über die gesetzliche Regelung von Mutterschaftsurlaub, über Reisen in China, Probleme der chinesischen Landbevölkerung und Anfragen, ob die Gesprächsteilnehmerinnen bereits 'gegessen haben' etc. - kehren die Interagierenden immer wieder zu dem Leitthema mit seinen verschiedensten thematischen Unterausrichtungen zurück.

8.2.

Kulturelle Unterschiede in der Argumentations- und Konfrontationsbereitschaft

Arbeiten zum Argumentationsverhalten im Kulturvergleich deuten darauf hin, daß Argumentations- und Konfrontationsbereitschaft in verschiedenen Kulturgemeinschaften unterschiedlich stark ausgeprägt sind. Schiffrins (1982, 1984) Analysen argumentativer Gespräche zwischen Juden in Philadelphia verdeutlichen, daß Argumentationen in gewissen gesellschaftlichen Gruppen geradezu präferiert werden. Sie können wichtige soziale Funktionen (wie Demonstration von Solidarität, Intimität, Vertrautheit und Geselligkeit) innerhalb der Gruppe innehaben. 7 Kotthoff (1989) zeigt in ihrer Arbeit zum Argumentationsstil deutscher und amerikanischer Gesprächsteilnehmer/innen, daß die amerikanischen Sprecherinnen weniger konfrontativ und direkt argumentieren, und interkulturclle Unterschiede bzgl. der Imagearbeit in argumentativen Sequenzen und der Art, "wie ungehemmt man eigene Standpunkte verficht", existieren. 8 Naotsuka/Sakamoto et al. (1983) betonen, daß in der japanischen Gesprächskultur offene Konfrontation zugunsten des Harmonieprinzips vermieden wird. Entscheidungsfindungsprozesse werden nicht direkt angegangen, Kritik nicht offen geäußert und Konfrontation vermieden. Stattdessen versucht der Sprecher, die Meinung des Gegenüber stufenweise zu elizitieren, mit dem Ziel, Harmonie zu erhalten und das Gesicht des Gegenüber nicht zu verletzen. 9 Ahnliche

5 6 7 8 9

keit untersteht. Mitglieder einer Kultur sind mit dieser Regelhaftigkeit vertraut, d.h. sie wenden bestimmte Regeln (oder Methoden) an, welche sowohl die Organisation als auch das Setting (Ort, Zeit der Durchführung, Gegenstand des betreffenden Aktivitätstyps, Rollenverteilung der Partizipierenden) betreffen, um in kooperativer Produktion die betreffende konversationeile Aktivität zu realisieren (Gumperz 1982:166). Bei Fragestellungen bzgl. interkultureller Differenzen werden chinesische Gespräche als Kontrolldaten herangezogen, insbesondere das Gespräch LLANG, das ebenfalls sehr stark von argumentativen Sequenzen dominiert wird. Hierzu auch Knoblauch ( 1989). Schiffrin (1984:311). Kotthoff (1989:131). Naotsuka/Sakamoto et al. (1983:173-174).

233

Beobachtungen machen auch Richards/Sukwiwat (1983:122) über die Vermeidung von Konfrontation und offener Kritik in der thailändischen Kultur. Verschiedene Kulturen mögen zwar über ähnliche kommunikative Gattungen oder Aktivitätstypen (beispielsweise argumentative Gespräche) verfugen, doch können diese funktional und strukturell verschieden besetzt sein und kulturspezifischen Regeln hinsichtlich ihrer stilistischen Gestaltung und interaktiven Durchführung unterliegen. 10 Während in der einen Kultur jemand ein hohes Ansehen erlangt, wenn er seine Position hart verteidigt und den Opponenten gekonnt angreift, gilt es in der anderen Kultur, seine Standpunkte möglichst indirekt vorzutragen, um die interaktive Harmonie nicht zu gefährden. Bevor ich der Frage nachgehen werde, inwiefern sich unterschiedliche Argumentationsstile, Techniken der Signalisierung von Nichtübereinstimmung, Strategien der Verteidigung der eigenen Meinung und Arten des Umgangs mit Gesichtsbedrohungen zwischen den deutschen und chinesischen Interagierenden zeigen, soll zunächst die Argumentationsforschung in der Sprachwissenschaft skizziert werden.

8.3.

Zur Analyse argumentativer Gespräche in der Sprachwissenschaft

Die Grundlagen moderner Argumentationstheorien reichen bis zur Antike und der klassischen Logik-, Dialektik- und Rhetoriktradition zurück. D i e Auseinandersetzung mit der antiken Rhetorik hinterläßt bis in die Argumentationstheorie der modernen Philosophie hinein ihre Spuren. So zeichnet sich die Theorie und Analyse der Argumentation, wie sie von Seiten der Philosophie (und Rhetorik) noch bis Ende der 60er Jahre betrieben wurde, primär dadurch aus, daß Aufstellungen verschiedener Argumentationsansätze von der Antike bis zur jüngsten Zeit angefertigt 11 und in Hinblick auf ihre logischen Schlußfolgerungen analysiert bzw. in Richtung einer 'Sprecherziehung' aufbereitet wurden. 1 2 Die deutsche Sprachwissenschaft begann sich erst in den 70er Jahren mit dem Gebiet der Argumentation zu beschäftigen. Hierbei kann Kopperschmidts 'Allgemeine Rhetorik' (1973) insofern als wichtiger Ansatzpunkt gesehen werden, als diese Arbeit versucht, eine Verbindung zwischen der Rhetorik, der Sprachwissenschaft und der Philosophie herzustellen. Darüberhinaus haben vor allem die Schriften Perelmans und Toulmins die sprachwissenschaftliche Argumentationsanalyse stark beeinflußt. Ausgangspunkt der Arbeiten von Toulmin (1975) und Perelman/Olbrechts-Tyteca (1958) ist die Überzeugung, daß die formale Logik nicht als allgemeines Modell fur die Analyse von Argumentationen dienen kann. Stattdessen habe sich die Argumentationstheorie an den Strukturen der Argumentationen 'in der Praxis' zu orientieren. Die von Perelman und Olbrechts-Tyteca (1958) entwickelte 'nouvelle rhétorique' beabsichtigt, wesentliche Strukturen der Argumentationspraxis und Persuasion aufzuzeigen und dabei jene Techniken

10 Siehe hierau Kapitel 7. 11 Zur Geschichte der Argumentationstheorie siehe van Eemeren et al. 1987. 12 Völzing (1980:206).

234 zu bestimmen, mit denen Zustimmungen erzeugt werden. Auch Toulmin will mit seinem Werk "Der Gebrauch von Argumenten" (1975) Argumentationen praxis-orientierter, d.h. 'effektiv und wirklichkeitstreu' beschreiben und wendet sich entschieden von der bisherigen Argumentationstradition ab. Anhand seines Argumentationsschemas versucht er, diejenigen Schritte aufzeigen, die der Argumentation zugrundeliegen. Diese beinhalten: 1. Angabe der Behauptung: 'claim' (zugleich Konklusion einer Reihe von Schritten) 2. Tatsachenangaben: 'data'. Diese werden als Begründung fïir die Behauptung herangezogen. 3. Angaben, die den Übelgang von (2) nach (1) rechtfertigen: 'warrant'. Diese Aussagen, die meist allgemeiner, hypothetischer Art sind, können als Brücken zwischen (1) und (2) dienen. 4. Angaben zur Absicherung der benutzten Schlußregel: 'backing'. 5. Qualifizierung der Konklusion durch Modalangaben in Abhängigkeit von (2) und (4): 'qualifier'. 6. Angabe von Ausnahmebedingungen, die (3) außer Kraft setzen können: 'conditions of rebuttal'. Anhand eines Beispiels soll nun der Versuch unternommen werden, die Mikrostruktur der Argumentation anhand dieses Schemas zu rekonstruieren. Tan, Yang, D und A unterhalten sich über die deutsche und chinesische Küche. Tan und Yang vertreten die Ansicht, daß "das chinesische Essen nicht so schwer im Magen liege" wie das deutsche Essen: YANG 3 98Tan: aber isch finde eh unser Essen eh 99 findet man nich so schwer im Magen 8A: 9 lOTan: 11D: 12A: 13Tan: 14A: 15 16Tan: 17A: 18

19 20D: 21A: 22Tan: 2 3 Yang:

/aber/ ich hab (...) in Kina VIEL gegessen mit Ö L /und/ sowas alles. /aha/ /also/ viel ö l ? und die Japaner haben immer ge/sagt/ /hm/ das kinesische Essen hat zuviel ÖL. (0.2) hm. manchmal, aber das kommt vielleicht in staadichen Garküchen /des is natürlich nich so gesund/ /aber ö l is natürlich echt auch/ S C H W E R ne' ja. aber eh= = nich sehr viel / ö l /

Auf Tan's Behauptung (claim): "unser Essen findet man nicht so schwer im Magen" folgt die Atgumentation A's:

235

data:

claim:

((auch das chines. Essen liep schwer im Magen))

ich habe in Kina VIEL gegessen mit ÖL

warrant:

((öl ist auch schwer verdaulich))

backing: und die Japaner haben immer gesagt das kinesische Essen hat zuviel ÖL.

rebuttal: aber das kommt vielleicht nur in den staadichen Garküchen vor Die Angaben in ((...)) bleiben implizit. In dieser Argumentationssequenz bleiben zentrale Elemente des Toulmin'schen Argumentationsschema - wie die Konklusion (claim) und die Rechtfertigung (warrant), die den Übergang von der Behauptung (data) zur Konklusion erlaubt - unausgesprochen. Im Laufe der Interaktion wird die Konklusion jedoch durch eine andere Sprecherin explizit gemacht: "aber ö l is natürlich echt auch SCHWER ne'" (20). Diese interaktive Dimension des Argumentationsprozesses findet im rein sprecherorientierten Toulmin'schen Schema keinerlei Berücksichtigung. Auch bzgl. der Einschränkung (rebuttal) von A "manchmal, aber das kommt vielleicht in staatlichen Garküchen", die die Behauptung selbst relativiert und nicht etwa den Übergang zur Konklusion (wie bei Toulmin vorgesehen), ist die interaktive Aushandlung erkennbar: Diese Einschränkung wird sequentiell im Anschluß an eine kurze Pause (15) und einem kurzen, Nichtübereinstimmung signalisierenden 'hm.' (16) produziert. D.h. die Rezipientenreaktion löst die Korrektur und damit die Einschränkung A's aus. Ferner finden sich in dieser Argumentationssequenz auch Äußerungen, die sich nur schwerlich in das Schema integrieren lassen: So liefert A eine Stütze (backing) ihrer Behauptung: "und die Japaner haben immer gesagt ...", während bei Toulmin 'backings' eingesetzt werden, um die Rechtfertigung (warrant) zu stützen. Bei dem hier vorgeführten Beispiel handelt es sich um die einfachste und am besten strukturierteste Argumentationssequenz aus dem Gespräch YANG. Doch bereits hier treten zentrale Probleme hinsichtlich der Einordnung der argumentativen Schritte in das idealisierte T-Schema Toulmins auf: Die Äußerungen lassen sich nur mühsam den vorgesehenen Kategorien zuordnen, gewisse Äußerungen sind nicht integrierbar und wesentliche Aspekte der Argumentation, wie der dialogische Aufbau und die gemeinsame Aushandlung, sind mit dem Schema nicht zu fassen. Toulmins Unterscheidung zwischen 'data', 'warrant', 'backing' und 'rebuttal' ist bei der Analyse von Alltagsargumentationen nur selten klar zu treffen, da Argumentationen in authentischen Ge-

236

sprächssituationen weitaus komplizierter, mehrdeutiger und die Äußerungen polyfunktionaler sind, als dies die Eindeutigkeit eines theoretischen Argumentationsschemas vorsieht. 13 Die Argumentationsforschung in der Sprachwissenschaft der 70er und frühen 80er Jahre kann grob in zwei Hauptrichtungen aufgeteilt werden: 1. Die theoretisch-philosophisch ausgerichteten Ansätze, die versuchen, mit Hilfe formaler Logik optimale Argumentationsschritte aufzuzeigen und die Gültigkeit und Akzeptabilität bestimmter Argumentationsschritte zu überprüfen (also ein stark präskriptiv ausgerichtetes Vorgehen). 2. Vereinzelte, praktisch orientierte Argumentationsansätze, die beanspruchen, eine Beschreibung von Alltagsargumentationen zu liefern, indem sie sich mit real ablaufenden Argumentationen beschäftigen. 14 Erwähnenswert im Zusammenhang neuerer Ansätze zur Argumentationsforschung sind auch die Arbeiten von van Eemeren und Grootendorst et al. (1982; 1987), die Argumentationen anhand eines Sprechaktmodells beschreiben. Argumentation werden als 'illocutionary act-complex' (van Eemeren/Grootendorst 1982:3) betrachtet, wobei die illokutionäre Kraft nicht auf der Satzebene begründet ist, sondern auf einer höheren Textebene. Analog zu Searles Modell des Sprechaktes 'Versprechen' formulieren sie Bedingungen fur das Gelingen einer Argumentation. Doch sind mir bislang noch keine Analysen bekannt, die diese Modelle in Zusammenhang mit authentischen mündlichen Argumentationen anwenden und überprüfen. D.h. auch van Eemeren und Grootendorst stellen lediglich idealtypische Konstrukte von Argumentationen auf und vernachlässigen dabei die kommunikativen und interaktiven Aspekte von Alltagsargumentationen. Unter Einfluß der Konversations- und Diskursanalyse ist in den 80er Jahren eine empirische Wende innerhalb der Aigumentationsforschung zu beobachten. Speziell aus dem amerikanischen Bereich kommen Analysen von Alltagsargumentationen, die mit Hilfe gesprächsanalytischer und ethnographischer Ansätze versuchen, die Regelhaftigkeit argumentativer Interaktionen herauszufdtern: Ausgehend von der These, daß in Gesprächssituationen eine Präferenz fur Übereinstimmung zwischen den Interagierenden herrscht, sehen Jacobs/Jackson (1981) die Funktion der Argumentation als "regulierender Mechanismus beim Aufkommen von Nichtübereinstimmung". Argumentationen haben somit die Form von 'disagreement-relevant expansions' inne. Auch wenn das methodische Vorgehen von Jacobs/Jackson zu begrüßen ist, bleiben dennoch gewisse Fragen in Bezug auf die Organisation von Argumentationssequenzen offen: Welche Strategien werden angewandt, um Behauptungen zu stützen? Wie wird eine bestehende Nichtübereinstimmung interaktiv aufgelöst? Ferner werden in den Arbeiten von Jacobs/Jackson meist nur kurze Gesprächsausschnitte analysiert, ohne die Entwicklung längerer Argumentationssequenzen zu berücksichtigen. Auf Goodwins (1980; 1983; 1987; 1990) konversationsanalytische Arbeiten zum Argumentationsverhalten schwarzer Jugendlicher in Philadelphia, die einen sehr fundierten Einblick in die

13 Hierzu auch Quasthoff (1978); Jacobs/Jackson (1982) und Knoblauch (1989). 14 Siehe u.a. Quasthoffs Analyse (1978) verbaler Stereotypen in Alltagsinteraktionen, wobei sie versucht, Toulmins Modell auf Alltagsargumentationen anzuwenden.

237

Strategien von Mädchen und Jungen zur Signalisierung von Dissens und zur Organisation verbaler Konflikte liefern, werde ich im Laufe meiner Analysen noch eingehen. Die Analysen konkreter Argumentationen verdeutlichen durchgängig, daß die stark idealisierten Modelle der formalen Argumentationslogik fur eine Analyse natürlicher Alltagsargumentationen nur sehr begrenzt brauchbar sind:'5 Die Anwendung eines theoretischen Argumentationsmodells auf tatsächliche Argumentationen geht meist - wie auch Wunderlich (1980:110) betont - "auf Kosten einer starken Reduzierung": "Natürlich verhält sich niemand so im Alltag", wie das zugelassene Abfolgeschema vorschreibt. Ferner wird der dialogisch-interaktive Charakter des Argumentationsprozesses von den sprecherorientierten Argumentationsmodellen völlig vernachlässigt. Auch Strategien der Gesichtswahrung, Beziehungsarbeit und Höflichkeit, die fur den Argumentationsvorgang von Bedeutung sind, werden in der klassischen Argumentationstheorie ignoriert. Darüberhinaus zeigen sich in Alltagsargumentationen (wie unsere Analyse noch demonstrieren wird) über einen längeren Zeitraum hinweg immer wieder auftauchende Behauptungen, Nachfragen, Begründungen, Teilratifizierungen, Informationsfragen, Einschränkungen, Nichtübereinstimmungen, Begründungen, Gegenargumente, persönliche Erzählungen, Nebensequenzen, Koalitionsbildungen, Themenwechsel etc., die - selbst wenn es sinnvoll wäre - nur widerwillig in die Kategorien der theoretischen Argumentationslogik hineingepreßt werden können. In bezug auf das hier zu analysierende Gespräch YANG interessiert nun die Frage, wie die chinesischen und deutschen Gesprächspartner/innen Argumentationen als kommunikative Aktivität hervorbringen, wie sich die Strukturprinzipien bestimmen lassen, die aus dieser Aktivität einen geordneten, identifizierbaren sozialen Handlungstyp machen, und welche interkulturellen Differenzen sich beim Vollzug dieser Aktivität zeigen. Gesprächsteilnehmende weisen in der Regel nicht explizit auf ihre Argumentationsaktivität hin "ich beginne hiermit eine Argumentation", sondern signalisieren mittels bestimmter Techniken die Bereitschaft zur Argumentation. D a ß beide Parteien in ihrer Aktivitätsorientierung übereinstimmen müssen, um kooperativ diese Aktivität herzustellen, ist offenkundig. 16 Bei der folgenden Analyse werde ich zentrale Aspekte der Organisation argumentativer Gespräche herausgreifen: Den Einstieg in die Argumentation, die Signalisierung von Dissens, die Stützen der eigenen Position und die Möglichkeiten der Beendigung des argumentativen Rahmens durch Kompromiß, Konsens und Wechsel der Aktivität. Anhand dieser Phänomene sollen Unterschiede im Argumentationsstil der deutschen und chinesischen Interagierenden veranschaulicht werden. 17 Andere bereits behandelte Techniken der Diskursorganisation, des Rezipientenverhaltens sowie lernersprachliche Schwierigkeiten, die ebenfalls im Gespräch YANG gehäuft auftreten, werde ich nur am Rande behandeln.

15 Kotthoff 1989; Knoblauch 1989. 16 Treffen jedoch unterschiedliche Wünsche hinsichtlich des weiter zu verfolgenden Aktivitätstyps auf, wird das Aushandeln eines gemeinsamen Interaktionsrahmens erschwert. Hierau Kapitel 8.7. 17 In einigen Fällen wird derselbe Transkriptausschnitt zur Demonstration unterschiedlicher Phänomene aufgeführt. Das wiederholte Auflisten soll das Lesen und das Nachvollziehen der Analyse erleichtern.

238

8.4.

Einstieg in die Argumentation

Zu Beginn des Gesprächs sind nur Andrea, Doris und Tan anwesend. Die drei Frauen unterhalten sich die ersten 25 Minuten über Tan's Eindrücke in der Bundesrepublik und über Freundschaften zwischen Frauen und Männern. Schließlich kommt Yang hinzu. Er wird Doris und Andrea vorgestellt, und das Gespräch geht die nächsten sechs Minuten recht locker weiter mit vielen Fragen von Seiten der Deutschen über das chinesische Essen, wer kocht in China etc.. Eine kurze argumentative Sequenz tritt hier bereits in Zusammenhang mit dem Essen in China auf. 18 Doch der sehr indirekt und mit vielen Einschränkungen produzierte Konflikt wird rasch mittels thematischer Progression beendet, und das Gespräch geht weiter. Schließlich kommt das Thema der Doppelbelastung von Frauen durch Beruf und Haushalt auf, und die erste, längere Argumentationssequenz entwickelt sich. Anhand einer detaillierten Beschreibung der Initiierung, Durchführung und Beendigung dieser Argumentationssequenz sollen einige grundlegende Techniken argumentativer Gesprächssequenzen vorgeführt werden. Dem folgenden Transkriptausschnitt geht eine kurze Sequenz über die Beteiligung der Männer an der Hausarbeit voraus. Tan und Yang behaupten, daß in der Generation ihrer Eltern die Frauen noch die gesamte Hausarbeit erledigten, doch inzwischen "is sehr ganz anderes"(40): YANG 5ff. 34Tan: 35 36 37 38 39 40Yang: 41D: 42 43 44 45 46 47Tan: 48D: 49Tan: 50D: 51 52 53 54 55 56Tan: 57D: 58Tan: 59D:

stimmt, ja eh das heißt in der'eh' Generation von meine Eltern, die die die machen meistens (die Frau) das heißt ja Hausfrau' eh HAUSHALT macht meistens die FRAU. aber in unsere Generation is was anderes. ja. das is se/hr ganz /ander/es./ /ja aber/ /aber/ ich kann mir vorstellen bei Euch is es ja auch so. ++wahrscheinlich ähnlich wie bei uns.++ daß du, okay du' du bist dann nicht mehr NUR fiir'n Haushalt zuständig, du gehst dann ARBEITEN= =mhm= =und machst n' Haushalt noch ZUSÄTZLICH = = hm. also des is NICH der MANN der noch ZUSÄTZLICH den Haushalt macht, wenn er auch arbeiten geht. sondern des bisch schon DU, diejenige die verantWORTLICH is fiir'n Haushalt und fìir die Kinder = =HEI eh was heißt /denn VERANTWORTLICH. /auch heute noch/ denn (0.2) es soll auch'= =( / )/

18 Hierzu der Transkriptausschnitt YANG 3.

239 60Tan: 61 62A: 63 64 65 66 67 68D: 69Tan: 70 71 72A:

/ja von einem/ von einem gemacht werden. JA' entweder der MANN ODER die FRAU= = ja. und wenn der MANN keine Lust hat. und die FRAU hat keine Lust dann muß es die FRAU machen. (0.2) wahrscheinlich. o/der?/ /jetzt/ sag mal EHRLICH = =eh: ich glaube eh eh N I C H T MUß d ' die FRAU machen, aber dann macht, vielleicht auch schon die Frau = = ja. weil sie so ERZOGEN I i s . /

91D: 92 93 94 95T: 96D: 97 98 99 1 2 3 4A: 5 6Yang: 7D: 8Yang: 9Tan: 10 11D: 12Tan: 13Yang: 14D: 15Yang: 16D: 17 18 Yang: 19D: 20A: 21D: 22 23Tan: 24D: 25Tan: 26 27Yang: 28A:

/also/ ich muß. ich kann mich auch nicht zurückhalten. wenn Schmutz is, dann denk ich ach jetzt muß ich /MAL/ /JA.JA./ aber ER er kann ((hohe Stimme))« drei Tage nix machen des macht ihm GAR NIX AUS'> ne' und ich kann es nich sehn ((hi)) nach einem Tag ((hi)) ne'. (0.2) des isch schon so. (0.2) also des isch bestimmt nich ganz anders. wie bei Euren Eltern= = eh bei uns is nicht ein große Problem. ++ was des is kein? ++ im Haus/halt/ /ah die/ die die die Männer sind jetzt auch ganz FLEIßIG geworden. NA::IA!Ü scho/n/ /(das/ is keine große) Problem/ /NA::: JA!!!/ Haushalt bei uns /nicht sehr/ /ich meine/ wenn du dran denkst daß sie vorher /gar NIX gemacht haben/ / ( is nich Problem ) / und J E T Z T ein bißehen MEHR machEN= =mhm= is immer noch nicht GANZ FLEIßIG. oder?= = aber aber FLEIßIGER geworden. jo::/hh/ pf hh /aber/ nich so GANZ fleißig wie die Frauen. aber schon = = schon ganz /( )/ /es is/ kein PROBLEM.

240 29 30 31 32 33 34 35D: 36A: 37Tan: 38 39 40D: 4lTan: 42D: 43A: 44D: 45A: 46 47 48D: 49A: 50Tan: 5 ID: 52Tan: 53Yang: 54Tan: 55D: 56Tan: 57 58 59 60D: 6lTan: 6 2D:

weil die Frauen bei Euch noch so erzogen sind. ++ JA ich muß das machen. ich mach das wenn wenn mein Mann keine Lust hat++ und sie sagen nicht, ich will des NICHT machen. wenn wenn sie, eh sie tun es einfach dann kann es NIE ein Problem sein fur Euch. hi/hihi/ /aber/ wenn die Frauen auch /sagen/ /doch doch/ wenn ich wenn ich auch das ++ wenn ich auch ganz MÜDE bin++ dann (0.2) ja. sag ich /auch/ /mhm/ HM! heute will ich gar nix machen. aber es is AUSNAHME. aber /wenn/ du das IMMER sagen wür/dest/ /mhm / /ja/ heute machst DU das, morgen mach ICH das, wir wechseln uns jeden Tag ab, dann wäre es ein Problem fur die /Männer/ /mhm/ aber der hat= (eh ne.) nein? bei bei bei uns heißt das /eh mei mei mei Mann hat auch einmal/ /( )/ mit mir disKUTIERT. da/nn/ worüber denn? /mhm/ ja. eh. ((Räuspern)) er sagt. ja. (0.5) wir brauchen später auch nich soviel eh: Z'ZEIT fur Haushalt. und ich sag hh' nei:n (0.3) warum denn nich so viel'ich glaube scho:/n. de de/ /HAHAHAV der sagt, /ja./ +warum denn+ /HA/

Die Argumentationssequenz beginnt mit der Demonstration von Nichtübereinstimmung durch D: "ja aber aber ich kann mir vorstellen..." (4Iff). D startet ihren Dissens mit einem typischen Vorlaufelement 'ja aber' und einer abgeschwächten indirekten Nichtübereinstimmung. Die der folgenden Argumentation zugrundeliegende Questio lautet: "Tragen die chinesischen Frauen auch heute noch die Hauptlast des Haushalts?". Unterschiedliche Positionen stehen sich gegenüber: Tan und Yang ("heute ist es ganz anders als früher") versus D (und A) ("auch heute noch liegt die Verantwortung des Haushalts bei der Frau"). Tan reagiert auf D's Dissenssignalisierung, indem sie (Zeile 56) das Konzept der 'Verantwortlichkeit' aufgreift, um daran ihre Argumentation anzuknüpfen (Umfokussierung). 19 Ihre rhetorische Frage "HEI eh was heißt /denn VER19 Bei den hier eingeführten Begriffen "Umfokussierung, Reinterpretation, Oppositionsformat, Koalitionsbildung, Kompromißangebot, fremde Rede, Inszenierung, persönliche Erzählung" handelt es sich um Analysetermini zur Besenreibung zentraler Argumentationsverfahren. Sie werden in den folgenden Analyseschritten genauer definiert und beschrieben.

241

ANT/WORTLICH." (56) beantwortet sie selbst mit einem Gegenargument: Entweder der Mann oder die Frau macht den Haushalt (Zeile 60-61). A greift nun Tan's Äußerung auf, indem sie diese syntaktisch (mittels Konjunktion 'und wenn') fortsetzt (62-67), doch inhaltlich eine gegenläufige Position einnimmt (Reinterpretation). Nach der ausbleibenden Reaktion (65) und der darauffolgenden Redezugexpansion (mittels 'wahrscheinlich' schwächt A ihre eigene Position nach Ausbleiben einer Reaktion wieder ab) versucht A, durch die Nachlaufpartikel 'oder?' eine Reaktion zu elizitieren. Nach D's Aufforderung, 'ehrlich zu sein* (68), die zugleich den Vorwurf einer Täuschungsabsicht impliziert, produziert Tan nun zögernd ihre Nichtübereinstimmung mit der von A geäußerten Postion (69ff.)· Dieser Dissens wird in einem Oppositionsformat geäußert, wobei Teile der Vorgängeräußerung aufgegriffen und negiert werden: 64A: 70Tan:

"dann muß es die Frau machen." " N I C H T MUß d 'die FRAU machen".

Die prosodische Markierung (Kontrastakzent) verdeutlicht die Kontrastposition. Diese Nichtübereinstimmung nimmt A nun als Anlaß zu einer Begründung, welche jedoch in Einklang mit der eigenen Argumentationslinie steht (72ff.). Klein (1985:227) beschreibt eine Argumentation als einen Baum, dessen Knoten bestimmten Aussagen entsprechen. In Argumentationen wird versucht, eine Questio mithilfe kollektiv geltender Knoten in kollektiv Geltendes zu überfuhren. Der 'rote Faden' eines argumentativen Gesprächs gelangt von "einem Knoten kollektiver Geltung" zum nächsten. Im vorliegenden Gespräch fuhrt die Hauptquestio ("Tragen die chinesischen Frauen auch heute noch die Hauptlast des Haushalts?") zu den Subquestiones ("Wer trägt die Hauptverantwortung? Weshalb trägt die Frau sie?"). In Zeile 69-72 ist ein Punkt gemeinsamer Geltung (die Frau macht mehr im Haushalt als der Mann) etabliert (ein Klein'scher Baumknoten), und die Teilnehmer gehen nun zum nächsten Knoten des Argumentations-Baumgerüsts über, indem sie die Frage "WESHALB macht die Frau die Hausarbeit, während der Mann sie liegenläßt?" behandeln. D beginnt in Zeile 91 mit einer Inszenierung des Diskussionsthemas: Zwei Figuren ('Ich' und 'Er') treten auf. Die zitierte Rede ("ach jetzt muß ich MAL") fuhrt die Überlegungen der 'Ich'-Figur vor Augen, die mit der Position des 'ER', dessen Haltung prosodisch (hohe Stimme) sehr stark markiert wird, in Kontrast stehen. Da nach dieser Inszenierung keinerlei Gegenstimmen kommen, (von Tan wurde sogar zustimmend reagiert (Zeile 95)), gilt dieser Knoten im Argumentationsbaum als abgeschlossen, und A kehrt nun zurück zur Hauptquestio "also des isch bestimmt nich ganz anders" (4). Doch nun bringt Yang (6) eine thematische Verschiebung ein, indem er eine Bewertung der Questio liefert "eh bei uns is nicht ein große Problem." Im Anschluß präsentiert Tan (9-10) eine Begründung "ah die/ die die die Männer sind jetzt auch ganz FLEIßIG geworden.", wodurch sie indirekt eine Zustimmung zu Yang's Behauptung und damit ihre Koalition 20 mit Yang signali20 Unter Koalitionen verstehe ich jene Sequenzen, in denen sich eine Sprecherin inhaltlich (und Formal) an die vorherige Äußerung anschließt und damit signalisiert, daß sie mit dem ersten Sprecher ein Argumentationsteam bildet. Koalitionen sind mit den Goffman'sehen (1982) "with-Beziehungen vergleichbar: Sie können entweder im Laufe der Argumentation gebildet (und auch wieder gelöst) werden oder bereits vor der Interaktion existieren (als Ehepaar, Angehörige gleicher Ethnie etc.) und in der Interaktion reaktiviert werden.

242 siert. D's Reaktion mit dem intonatorisch stark markierten Vorlaufelement *NA:::TAi!' ist als Partikel zur Signalisierung von Nichtübereinstimmung sowohl am semantischen Gehalt als auch an der intonatorischen Struktur (Erhöhung der Lautstärke, Dehnung von ΉΑ:::' sowie exklamatorischer Prosodie) zu erkennen. Mittels dieses Vorlaufelements bringt D ihren Dissens unabgeschwächt zum Ausdruck und fordert die Gegenpartei zur Stellungnahme heraus. Es ist nun an Tan, ihre bisherige Position entweder zu verteidigen oder zu korrigieren. Nachdem Tan jedoch keine Korrektur ihrer Behauptung vornimmt, produziert D ein weiteres 'NA:::JAI!!' (14) mit anschließender gegenläufiger Bewertung zu Tan's Behauptung: "ich meine wenn du dran denkst daß sie vorher gar NIX gemacht haben und JETZT ein bißehen MEHR machEN is immer noch nicht GANZ FLEIßIG. oder?"(l6-17). Die Gegenläufigkeit dieser Äußerung zeigt sich u.a. an der Oppositionsstruktur. D greift auch hier Äußerungsteile der Bezugsäußerung auf und negiert diese: 9Tan: 21D:

die Männer sind jetzt auch ganz FLEIßIG geworden. is immer noch nicht GANZ FLEIßIG, oder?

Auf D's Gegenargument hin gibt Tan jedoch nicht sofort auf, sondern betont weiterhin die Entwicklung der Männer (23-26) "aber aber FLEIßIGER geworden, aber nich so GANZ fleißig wie die Frauen aber schon", auch wenn sie mittlerweile ihre ursprüngliche Bewertung stark korrigiert bzw. abgeschwächt hat. Hier ist zu erkennen, wie eine gegenläufige Meinung die Bewertungsausrichtung der Ursprungsäußerung transformieren kann. Tan bietet sozusagen eine Kompromißausrichtung an, indem sie sich der Gegenmeinung von D annähert. A greift in Zeile 28 in die Argumentationssequenz ein, indem sie eine Gegendarstellung zu Yang's und Tan's Position liefert: Nicht etwa das Fleißigersein der Männer fuhrt dazu, daß es keine Haushaltsprobleme in China gibt, sondern das mangelnde Bewußtsein der Frauen. Mit ihrer Einleitung "es ist kein PROBLEM" zitiert A (Eremele Rede) die von Yang geäußerte Behauptung (6), um sie anschließend strategisch zur Stütze ihrer eigenen Position (Eiziehungssache) auszuschlachten (Umfokussierung). In der darauf folgenden Begründung verwendet A das Mittel der fremden Rede (30-32). Durch diese Art der Inszenierung erfährt die Begründung ihrer Argumentation einen Moment der Lebendigkeit: 28A: 29 30 31 32

/es is/ kein PROBLEM. weil die Frauen bei Euch noch so erzogen sind. ++ JA ich muß das machen. ich mach das wenn wenn mein Mann keine Lust hat++ und sie sagen nicht, ich will des NICHT machen.

In der fremden Rede, die hier nicht mit einem verbum dicendi eingeführt, sondern lediglich aufgrund prosodischer Markierung (Erhöhung des Sprechtempos) vom umgebenden Text abgetrennt ist, kommen "die Frauen in China" zu Wort. Auf A's Argumentation, weshalb 'Haushalt kein Problem' in China ist, folgt nun Tan's Einwand: Mittels eines persönlichen Berichts liefert sie ein Gegenbeispiel "doch doch wenn ich ... auch ganz MÜDE bin, dann (0.2) ja. sag ich auch

243 HM! heute will ich gar nix machen." (37-41), doch D opponiert, indem sie Tan's Beispiel als nicht generalisierbar "aber es is AUSNAHME" (42) ablehnt. Die Argumentationssequenz mündet schließlich in eine persönliche Erzählung, die zur Illustration einer These herangezogen wird. Der kurze Vorspann kündigt die Hauptfiguren der Erzählung ('mein Mann' und 'ich') an und liefert den zeitlichen Rahmen ('auch einmal'). Die rhetorische Frage 'dann worüber denn?' (Zeile 54) signalisiert den Beginn der Ausführung.21 Wie Sacks (1971b) verdeutlicht, beginnen die meisten Erzählungen im Gespräch mit einem kurzen Vorspann (preface) zur Einführung der zentralen Charakteristika der folgenden Geschichte, wodurch den Rezipienten eine Orientierungshilfe angeboten und zugleich verdeutlicht wird, daß nun mit einer Sequenz zu rechnen ist, die sich über mehrere Redezüge erstreckt. Tan wählt hierbei bestimmte Mittel der dramatischen Inszenierung: Zwei Figuren ('ich* und 'er') treten auf, die in Form eines 'Zwiegesprächs' vorgeführt werden. Diese Art der dialogischen Präsentation (des 'Gesprächs im Gespräch') und damit die 'lebendige' Vorführung und Rekonstruktion einer angeblich 'stattgefundenen' Interaktion dient der Stütze eines Arguments (Zeile 50fF.). Der strittige Punkt wird in dieser argumentativen Sequenz nicht etwa mittels Überzeugung gelöst, vielmehr entsteht eine thematische Progression: Man einigt sich schließlich auf eine neue Aktivität und redet im folgenden über die Wohnsituation in China, über die Beziehung zwischen Mutter und Sohn, die Landbevölkerung und die Traditionsverbundenheit. Danach treten weitere argumentative Sequenzen auf, deren Hauptquestio (Haben Frauen und Männer in China die gleichen Rechte?) mit ihren vielen Subquestiones das restliche Gespräch durchziehen.

8.5.

Signalisierung von Dissens

In der menschlichen Kommunikation stellen die gegenseitigen Respektbekundung und die Wahrung des eigenen und fremden Gesichts wichtige organisatorische Prinzipien dar. 22 Dies wird teilweise dadurch erzielt, daß potentiell konfliktreiche Themen vermieden und Nichtübereinstimmungen abgeschwächt werden. Sowohl konversationsanalystische Arbeiten23 als auch Studien zur pragmatischen Organisation von Höflichkeit 24 verweisen auf konversationelle Verfahren zur Signalisierung von Nichtübereinstimmung unter gleichzeitiger Vermeidung bzw. Abschwächung gesichtsbedrohender Handlungen. Arbeiten zur konversationellen Organisation von Nichtübereinstimmung betonen, daß Übereinstimmungen präferiert und Nichtübereinstimmungen dispräferiert sind.2^ Während präferierte Handlungen eine 'preferred-action turn shape' aufweisen, welche die Handlung selbst hervorhebt, bzw. maximiert, zeichnen sich dispräferierte Handlungen dadurch aus, daß sie in

21 Diese Art der Vorwegnahme erwartbarer Rezipientennachfragen, die dem Sprecher die 'Erlaubnis' zur Erzählung übermitteln, tritt in meinem Datenmaterial auf Seiten der chinesischen Sprecherinnen häufiger auf. 22 Goffman 1971. Zum 'face'-Konzept siehe auch Kapitel 3.3. 23 Auer/Uhmann 1982; Pomenmtz 1984a. 24 Brown/Levinson 1978. 25 Auer/Uhmann 1982; Pomerantz 1984a.

244 'dispreferred-action turn shapes' verpackt werden, die die Handlung minimieren. 2 6 Der in der Konversationsanalyse verwendete Präferenzbegriff zielt nicht etwa auf persönliche Wünsche und Erwartungen der Sprecher oder Hörer ab, sondern beschreibt ein strukturelles Phänomen, das dem linguistischen Konzept der 'Markiertheit' ähnelt: Präferierte Redezüge weisen in der Regel unmarkierte und kürzere Formate auf, während sich dispräferierte Äußerungen durch markierte Formate auszeichnen 2 7 , wie a. Verzögerungen; b. bestimmte Vorlaufelemente (beispielsweise 'naja' oder 'ja ... aber'- und 'ja ... schon'-Konstruktionen bei Nichtübereinstimmungen. Bestimmte Anerkennungs- und Entschuldigungsformeln bei Ablehnungen: 'vielen Dank ... aber', 'gerne ... aber', "tut mir leid ... aber" etc.); c. Erklärungen (beispielsweise Gründe fur eine Ablehnung oder eine Nichtübereinstimmung); d. Abschwächungselemente oder Indirektheitsmarkierungen. Die Dispräferenz von Nichtübereinstimmungen zeigt sich u.a. daran, daß diese mittels verzögertem Einsatz, bestimmter Vorlaufelemente, Nachfragen, Abschwächungen, teilweiser Übereinstimmung/teilweiser Nichtübereinstimmung, Erläuterungen etc. produziert werden und damit dem Gesprächspartner die Möglichkeit zur Korrektur seiner ursprünglichen Bewertung bzw. Behauptung geben. 28 Der folgende Transkriptausschnitt, der dem Gesprächsbeginn entstammt, verdeutlicht, welche Strategien die Interagierenden zur Vermeidung direkter Nichtübereinstimmung anwenden. YANG 3 8A: 9 lOTan: 11D: 12A: 13Tan: 14A: 15 16Tan: 17A: 18 19 20D: 21A: 22Tan: 2 3 Yang:

/aber/ ich hab (...) in Kina VIEL gegessen mit ÖL /und/ sowas alles. /aha/ /also/ viel ö l ? und die Japaner haben immer ge/sagt/ /hm/ das kinesische Essen hat zuviel ÖL. (0.2) hm. manchmal, aber das kommt vielleicht in staatlichen Garküchen /des is natürlich nich so gesund/ /aber ö l is natürlich echt auch/ SCHWER ne' ja. aber eh= = nich sehr viel /öl/

Statt direkt zu widersprechen formuliert A ihre Nichtübereinstimmung indirekt und fuhrt das 'viele 0 Γ im chinesischen Essen an. Die Schweigepause in Zeile 15 sowie das kurze 'hm.' von Tan (Zeile 16) signalisieren eine aufkommende Nichtübereinstimmung, woraufhin A ihre Behauptung korrigiert und einschränkt ('manchmal.' (Zeile 17), 'in staatlichen Garküchen'). Nach dieser Korrektur liefern nun Tan und Yang die Nichtübereinstimmung: "aber eh = nich 26 Pomerantz (1984a:64-65). 27 Levinson (1983:332flF.). 28 Pomerantz (1984a:65).

245 sehr viel ö l " (22-23). Die Nichtübereinstimmung wird verzögert, um dem Gegenüber die Möglichkeit zur Selbstkorrektur zu geben, und letztendlich durch verschiedene Strategien (Pausen, verzögerte Reaktionen, Partikeln) abgemildert. Auer/Uhmann (1982:10) betonen, daß generell indirektere, weniger offene Formen verwendet (werden), um Nichtübereinstimmung zu produzieren. Dies ist eine empirische Rechtfertigung fur das in Konversationen herrschende Präferenzsystem fur Übereinstimmung.

Jedoch wird hierbei weder spezifiziert, welche Art von Datenmaterial dieser Beobachtung zugrunde liegt, noch wird der Versuch unternommen, die Beobachtung mit dem jeweiligen Interaktionsrahmen in Beziehung zu setzen: Handelt es sich um 'small talk'-Situationen, um Diskussionen beim Abendessen, um argumentative Sequenzen? Wie meine Daten demonstrieren, kann die Frage nach präferierten bzw. dispräferierten Formaten nicht losgelöst von der Interaktionsaktivität betrachtet werden. Im Transkriptausschnitt YANG 3, der ersten kurzen Argumentationssequenz im Gespräch YANG, wird Nichtübereinstimmung von selten der deutschen Gesprächsteilnehmerinnen noch sehr abgeschwächt und in einem dispräferierten Format dargeboten. Nachdem jedoch ca. fünf Minuten später der argumentative Rahmen mit der Questio (Haben Frauen und Männer in China die gleichen Rechte?) etabliert ist, wenden die deutschen Sprecherinnen durchaus direktere und offensivere Formen der Dissenssignalisierung an. Wir müssen also zwischen nichtübereinstimmcnden Sequenzen, die innerhalb eines bereits etablierten Argumentationsrahmens auftreten und solchen, die in einem Unterhaitungsrahmen geäußert werden, differenzieren. Tritt die Nichtübereinstimmung während einer allgemeinen Unterhaltung auf,

wie dies beim Transkriptausschnitt YANG 3 der Fall ist, wird sie eher in eine

'dispreferred-action turn shape' gebettet, als wenn bereits ein konfrontativer Rahmen etabliert ist. Im zweiten Fall organisieren die deutschen Sprecherinnen, wie die Analyse noch zeigen wird, ihre Nichtübereinstimmung teilweise so, daß diese unmittelbar im Anschluß an die (bzw. in Überlappung mit der) 'Problemäußerung' durchgeführt wird und dabei der Dissens (bzw. das korrigierte Element) geradezu fokussiert und maximiert wird. Der dissenssignalisierende Redezug wird dann ohne Verzögerung und Möglichkeit zur Korrektur unabgeschwächt produziert, wie der folgende Transkriptausschnitt 29 demonstriert: MA3 4T: 5

6

7Ma: 8 9

10T:

und wenn Ihre Regierung es nicht erlaubt, daß Sie länger als ein Jahr bleiben, dann können Sic A U C H N I C H T promovieren, Herr Ma. ehm: (1.0) das ist η nicht sicher ( ) das ist G A N Z sicher.

29 Dieser Ausschnitt, der dem Gespräch MA entstammt, soll hier exemplarisch angeführt werden, um zu verdeutlichen, daß diese Art der offenen Konfrontation nicht nur im Gespräch YANG auftritt, sondern von sämtlichen deutschen Sprecherinnen in meinem Korpus innerhalb des argumentativen Rahmens verwendet wird.

246 Aufgrund dieser interaktiven Organisation von Nichtübereinstimmung möchte ich die These vertreten, daß direkte, unabgeschwächte Ν ichtübereinstimmungs formate, die die Opposition geradezu maximieren, im deutschen Interaktionskontext konstitutive Elemente des argumentativen Rahmens darstellen und somit als Kontextualisierungshinweise fur den Aktivitätstyp Argumentation fungieren. Im folgenden sollen die im Gespräch YANG auftretenden Formen der Signalisierung von Dissens genauer betrachtet werden.

8.5.1.

Oppositionsformate

Unter Oppositionsformate 3 0 werden jene Sequenzen gefaßt, in denen der Zweitsprecher eine partielle Wiederholung der Aussage des Erstsprechers liefert, diese jedoch entweder negiert oder aber einen wesentlichen Äußerungsteil durch ein gegenläufiges Element substituiert und dadurch seine Abgrenzung von der Vorgängeräußerung markiert: YANG 6 8Yang: 9A: 10

das ist natürliche das ist nicht N A T Ü R L I C H . sondern das ist eher tradiTIONELL.

Durch die partielle lexikalische Wiederholung der Vorgängeräußerung mit gleichzeitiger Negation sowie prosodischer Markierung der Kontrastelemente ' N A T Ü R L I C H - tradiTIONELL' fokussiert A den Dissens. Bezeichnend fur Oppositionsformate ist, daß nicht einfach zwei sich widersprechende Äußerungen hintereinander folgen, sondern der Oppositionscharakter formal markiert und somit relevant gemacht wird. Dies hat interaktive Konsequenzen fur die Fortsetzung des Gesprächs: Begründungen, Stützen, Gegenargumente etc. sind konditionell erwartbar. Bei der Produktion eines argumentativen Schrittes knüpfen die Interagierenden mit ihren Dissensäußerungen nicht nur an die Aktivitätstypen der vorherigen Redezüge an, sondern wiederholen Teile der Bezugsäußerung. 31 Diese Art der Formatanbindung (Goodwin/Goodwin 1987:223) benutzt die Szene des vorausgegangenen Redezugs, um anhand einer gegenläufigen Behauptung die Ursprungsbehauptung "auf den Kopf zu stellen". 32 30 Kotthoff (1989:248). 31 Diese Dissenshervorhebungen sind keineswegs auf die Sprecherinnen D und A beschränkt; vielmehr produzieren die deutschen Sprecherinnen auch in den anderen Gesprächen, sofern Argumentationen auftreten, gehäuft Oppositionsformate. Vgl. beispielsweise folgenden Ausschnitt aus dem Gespräch LU: LU 12 Lu: sie haben' - LEER ihr'h - /eh/ ((kichern))« sein R: /ja/ Lu: hhhihih /ihre/ KOPF ist leer eh sieht leer hihi> R: /ja/ R: ((laut)) eh NEIN eh der KOPF ist NICHT leer 32 Ähnliche Oppositionsformate beschreiben auch Goodwin (1983:663) und Goodwin/Goodwin (1987:216) in Zusammenhang mit ihrer Analyse von Argumentationen schwarzer Jugendlicher in Philadelphia. Jedoch stellt Goodwin (1983:663) die Behauptung auf, daß diese Oppositionsformate im Kontrast zum Argumentationsver-

247 Prosodisch bedeutsam ist, daß bei Oppositionsformaten der wiederholte Teil nicht - wie dies bei fremdinitierten Reparaturaufforderungen der Fall ist - mit einem steigenden Intonationsverlauf geäußert wird. 33 Vielmehr werden Teile der Vorgängeräußerung transformiert und die Korrektur mittels Kontrastakzent hervorgehoben. Dem Produzenten der Bezugsäußerung wird also keine Möglichkeit zur Selbstkorrektur gegeben. Im folgenden Transkriptsegment bildet D ein Oppositionsformat, wobei sie Elemente der Vorgängeräußerung aufgreift (21) und mittels Substitution eine Korrektur vornimmt: YANG 32 18Yang: 19 20 21D: 22Yang: 23D:

Sie werden so so Sie werden vielleicht sagen, ich bin sehr k konservat((HI))iv /((HI))und/ /ich/ werde sagen ein MANN. / und sehen das aus/ /das ist Ihre Meinung/ Ihrer MÄNNLICHEN SICHT.

Hier bleibt das syntaktische Gerüst der Urspungsäußerung erhalten, doch die Bewertung wird korrigiert (von 'konservativ' zu 'ein MANN'): 18 Yang: 21D:

Sie werden vielleicht sagen, ich bin sehr k konservat((HI))iv /ich/ werde sagen ein MANN.

Die Dissenstechniken der deutschen Sprecherinnen weisen folgende Merkmale aufi a. Durch die Wiederholung lexikalischer Elemente der Vorgängeräußerung und die Substitution 34 der Problemquelle wird das korrigierte Element und damit die Differenz fokussiert. b. Das ersetzte, neue Element wird meist intonatorisch mit einem 'contrastive stress' 3 ' von seiner Umgebung hervorgehoben. c. Der Dissens ist sequentiell so organisiert, daß dem/der Sprecher/in der Problemäußerung keine Möglichkeit zur Selbstkorrektur gegeben wird. Goodwin/Goodwin (1987:209) argumentieren, daß mittels dieser Dissensformen nicht nur die Problemquelle im vorherigen Redezug repariert, sondern auch die Kompetenz und der Status des/der betreffenden Sprecher/in in Frage gestellt wird. Im folgenden Transkriptausschnitt ist zu erkennen, wie D eine Vielzahl an Oppositionspaaren äußert und damit ihren Dissens stark an Yang's vorangehende Äußerung anbindet:

halten Erwachsener stehen: Erwachsene Sprechalnnen würden ihre Nichtübereinstimmung nicht hervorheben und keine prosodische Fokussierung des Dissens durchführen. 33 Siehe hierzu auch Kapitel 4.1.2.3. 34 Halliday/Hasan (1976:146). 35 Ladd (1978:78).

248

YANG 31 8Yang: ja so. wenn wenn diese Problem 9 gelöst, dann natürlich (0.3) die andere 10 Problem ist leichter zu (0.3) /eh zu zu Diskutieren/ 11D: /ne. ne. eh ne. moment/ 12Yang: eh zu VERSTEHEN, zu VERSTEHEN. 13D: ne. MOMENT. eh:m eh eh s'is fur 14 MICH kein Problem, fiir mich is es KLAR 15Yang: ja. 16D: ehm FRAU UND MANN SIND NATÜRLICH 17 GLEICH, des is kein PROBLEM = 18Yang: =ja 19Tan: hihihi 20D: wenn DU allerdings sagst, eh::: die sind 21 UN::gleich, NATÜRLICH UNGLEICH, 22 dann is es DEIN Problem, aber eh 23 verstehst du, des is nichts wo du drüber 24 diskutieren kannst. Mittels einer Häufung an Widerspruch signalisierenden, emphatischen Vorlaufelementen "ne. ne. eh ne.", die hier in Überlappung mit Yang's Redezug geäußert werden, signalisiert D sehr direkt, unabgeschwächt und ohne zeitliche Verzögerung ihren kommenden Dissens. Yang's Korrektur (12) "eh zu VERSTEHEN, zu VERSTEHEN." (das korrigierte Element ist prosodisch markiert) bildet eine direkte Reaktion auf D's Vorlaufelemente. D's anschließende Dissensäußerung weist folgende Oppositionselemente auf: Yang ... DIESE Problem ... ... diese Problem ...

D ... fiir MICH kein Problem ... ... des is kein PROBLEM ... ... dann is es DEIN Problem .

... eh zu zu Diskutieren

... des is nichts wo du drüber diskutieren kannst...

natürlich UN:::gleich

NATÜRLICH GLEICH

Mittels partieller lexikalischer Wiederholungen, bestimmter Transformationen (Negation, Referenzwechsel) sowie prosodischer Hervorhebungen fokussiert D's Äußerung den produzierten Dissens und weist gleichzeitig ein hohes Maß interaktiver Konnexität auf. Das Aufgreifen von Elementen der Vorgängeräußerung sieht Tannen (1982:52) als Zeichen hoher interaktiver Ί η volviertheit'. 36 Die persönliche Ebene, die D einbringt "für mich - DEIN Problem" ist - wie

36 Tannens Ausführungen beziehen sich zwar lediglich auf Wiederholungen mit unterstützender und bestätigender Funktion, doch auch im vorliegenden Fall der Wiederholung von Elementen der Problemäußerung zur strategischen Hervorhebung des Dissens kann von einer hohen Involvement-Strategie gesprochen werden.

249

später noch ausfuhrlicher behandelt wird - kennzeichnend fur den direkten, konfrontativen Stil der deutschen Sprecherinnen. In meinem gesamten Datenmaterial werden Oppositionsformate vor allem von den deutschen Sprecherinnen und Sprechern produziert: Lediglich in fiinf von insgesamt 38 Fällen verwenden die chinesischen Gesprächsteilnehmenden diese Dissensformen. Im Gespräch Yang stammen nur zwei der 24 Oppositionsformate von chinesischen Sprecher/innen. In YANG 5ff. (69-71) ist ein Oppositionsformat der chinesischen Sprecherin Tan zu beobachten, das jedoch aufgrund der verzögerten Produktion (Tan wurde direkt zur Darlegung ihrer Meinung aufgefordert), der Pause (65) und den vielen Zögerungspartikeln (69) eine dispräferierte Struktur aufweist und dem Gegenüber die Möglichkeit zur Selbstkorrektur gibt 37 : YANG 5ff. 62A: 63 64 65 66 67 68D: 69Tan: 70 71

ja. und wenn der MANN keine Lust hat. und die FRAU hat keine Lust dann muß es die Frau machen. (0.2) wahrscheinlich. o/der?/ /jetzt/ sag mal EHRLICH = =eh: ich glaube eh eh N I C H T MUß d ' die FRAU machen, aber dann macht, vielleicht auch schon die Frau =

Auch hier greift Tan Elemente der Vorgängeräußerung auf und korrigiert diese, wobei die Differenz prosodisch markiert ist: 64A: 70Tan:

dann muß es die Frau machen. N I C H T MUß d ' die FRAU machen,

In Kotthoffs (1989) Analyse argumentativer Gespräche zwischen deutschen Muttersprachler/innen und amerikanischen Deutschlernenden bilden die Lernenden keinerlei Oppositionsformate, was Kotthoff (1989:266) zum einen auf'sprachliche Defizite' der Lernenden zurückfuhrt, zum andern aber auch auf interkulturelle Differenzen im Umgang mit offensivem Argumentieren: Deutsche Sprecher/innen argumentieren konfrontativer und direkter als amerikanische. Ferner stellt Kotthoff die Vermutung an, daß auch deutsche Muttersprachler/innen in Interaktionen mit Lernenden eher auf Oppositionsformate verzichten, da sie "sich der Kompetenz der Lernerinnen anpassen, indem sie ihre Gesprächsstrategien simplifizieren" (Kotthoff 1989:273). Mein Datenkorpus zeigt jedoch ein gehäuftes Auftreten dieser explizit konfrontativen Dissensmarkierung auf Seiten der deutschen Sprecherinnen und Sprecher. 38 Auch die chinesischen 37 Das zweite von chinesischer Seite produzierte Oppositionsformat stammt ebenfalls von Tan, richtet sich jedoch gegen Yang. 38 Dies trifft auf sämtliche Gespräche zu, die argumentative Sequenzen beinhalten. Siehe auch Günthner (in Druck).

250 Lernenden verwenden — wenngleich äußerst selten - Oppositionsformate. Eine lernersprachliche Erklärung für das seltene Auftreten dieser Dissensstrategien ist nur bedingt zulässig, denn auch in den chinesischen Kontrolldaten (mit Argumentationssequenzen) findet sich nur ein einziges Oppositionsformat: LIANG 11 22Liang:

I I buguo. wo xiang

aber. 23

$

£ duo dai

ich denke ban nian

£ zai zhege

ökTT difang

an diesem Ort

W i î de hua,

mehr bleiben halbes Jahr angenommen, 24

76 bloß K O C H E N das macht er gern, 77 aber W A S C H E N tut er überhaupt nicht gern 44 Siehe van Eemeren et al. (1987:13) zur Strategie des 'advancing contra-arguments'. 45 Ein auffallender Unterschied in der Verwendung von 'man sagt...'-Äußerungen bei den deutschen und chinesischen Sprecherinnen zeigt sich darin, daß von Seiten der Deutschen die 'man-sagt'-Positionen größtenteils zur Abgrenzung (Anti-Position) herangezogen werden, von den chinesischen Sprecherinnen jedoch zur Stütze der eigenen Behauptung. Hierzu auch Kapitel 7.

255

78 79

und die Frau AUCH nicht, also muß es die Frau /machen/

Eine wiederzugebende Rede kann vom übrigen Diskurskontext stark abgetrennt und markiert sein, oder aber nahezu vollständig integriert (Volosinov 1929:183). Wird sie - wie in diesem Beispiel — stark abgegrenzt (verbum dicendi, hohe Stimme, markierte Betonung) und dadurch als eigenständige Entität hervorgehoben, so kontextualisiert die Sprecherin zugleich ihre Position zum Gesagten. In YANG 30-31 (Zeile 74ff.) wird durch die hohe Stimme eine stark negative Schattierung auf die zitierte Position geworfen. D reproduziert nicht etwa eine authentische Äußerung, sondern fuhrt in karikierter Weise eine bestimmte Gegenposition, die anschließend widerlegt wird, vor Augen. Darüberhinaus wird mittels fremder Rede eine soziale Typisierung ('manche Männer, die...') vorgeführt. Auch im folgenden Ausschnitt setzt die deutsche Sprecherin A fremde Rede zur Abgrenzung von einem Anti-Modell ("die Stimme der Männer") ein. YANG 33 54A: daß man gemein daß nicht nur die MÄNNER sagen 55 du machst DAS und ich mach DAS 56 weil die Männer bestimmen in unserer Welt 57 wer welche Arbeit tut und es geht darum, 58 daß bei daß die Arbeit von Frau und Mann 59 auch den GLEICHEN WERT HAT, daß man 60 nicht sagt ++ ach die Frauen können das 61 nicht und die Frauen sind so schwach 62 und das ist alles schlechter was die machen, 63 oder nicht soviel WERT ++ 64 aber WIR: als MÄNNER. 65 wir sind STARK, und wir sind KLUG. 66 und intelli/gent/ 67D: /und/ wir machen auch POLITIK = 68A: =ja. Die Stimmen des unpersönlichen Pronomens 'man' und die der 'Männer' gehen hier stark ineinander über. Dabei treten die 'Männer' unisono, wie im Chor 46 auf. Sie sind Vertreter eines bestimmten sozialen Typus, dessen Denkstrukturen und Meinungen verworfen werden. Die fremde Rede wird vom umgebenen Text mittels erhöhter Geschwindigkeit (60-63), stark prononzierter Aussprache (64-66) und mit besonderem Rhythmus und Wiederholungen abgesetzt:

46 Zum 'choral dialogue' in der fremden Rede siehe auch Tannen (1989:113).

256 aber WIR: als MÄNNER. 4 7 wir sindSIAEKund wir sind KLUG, und intcHi/gent/ /und/ wir machen auch POLITIK. Dadurch, daß D (31) die Äußerung A's Ubernimmt, syntaktisch und inhaltlich fortsetzt, signalisiert sie ihre Koalition mit A. Auch hier hat die fremde Rede die Funktion der parodistischen Rekonstruktion einer bestimmten Position: Die Überzeichnung von Eigenarten der zitierten Personen ('die Männer ) soll ein Portrait liefern, von der sich die Sprecherin distanziert. Die prosodischen Markierungen der fremden Stimmen bilden ein wichtiges Inszenierungsmittel, um bestimmte gegnerische Positionen präventiv zu dementieren. Die manierierte Form der Redewiedergabe hat also mehrere Diskursfunktionen inne: Zum einen karikiert und entkräftet sie die zitierte Position, die im Einklang mit der Meinung des anwesenden Opponenten steht. Zum andern hebt sie — aufgrund der Inszenierung - die fremde Rede vom umliegenden Kontext ab und fuhrt die Gegenposition 'lebendig' vor: Ein Minidrama (Goffman 1986) wird geboten. Die hier vorgestellte Strategie findet sich lediglich bei den deutschen Gesprächsteilnehmerinnen.

8.5.4.

Umfokussierungen

Ein weiteres Verfahren, das von den deutschen Sprecherinnen im Zusammenhang mit Dissenssequenzen verwendet wird, stellen Umfokussierungen dar: Die Sprecherin bindet ihre Äußerung inhaltlich und formal an die Vorgängeräußerung an und fuhrt im Anschluß eine thematische Umorientierung durch, die ihre eigene Position und Argumentationslinie stärkt. 48 W i e Arbeiten der Konversationsanalyse verdeutlichen, werden thematische Progressionen und Themenwechsel in Alltagsinteraktionen meist nicht abrupt durchgeführt und auch nicht explizit signalisiert ("Jetzt möchte ich dieses Thema beenden und zum nächsten übergehen ..."). Thematizität und Textkohärenz werden u.a. dadurch erzielt, daß eine Äußerung 'lokal angepaßt' wird (local fitting). Die schrittweise Bewegung der thematischen Entwicklung mit ihren 'sanften Übergängen' ist, so Sacks (1972a: 15-16), Kennzeichen eines Gesprächs, das 'gut läuft'. Dagegen sind Gespräche, bei denen ein Thema beendet und dann ein neues eingeführt wird, wo also Ein- und Ausstiegsphasen deudich markiert werden, häufig Zeichen einer 'lousy conversation' (Sacks 1972a: 16). Ist einmal ein Thema etabliert, wird erwartet, daß die folgende Äußerung in relevanter Beziehung dazu steht. Mit ihrer Äußerung demonstrieren die Sprecher zugleich, daß 47 Auf den unterstrichenen Äußerungsteilen liegt der jeweilige Hauptakzent der Informationseinheit. 48 Siehe auch Kotthoff (1989:215), die Umfokussierungen als Umorientierungen definiert, bei denen es darum geht, "die Aufmerksamkeit des Partners möglichst unbemerkt auf Punkte zu lenken, die einem/r selbst vorteilhaft sein können."

257

sic auf den Bewußtseinszustand (neue-alte Information; Vordergrund-Hintergrund; aktivierternichtaktivierter Referent; etc.) der Rezipienten Rücksicht nehmen und kontextuell 'relevante' Beiträge produzieren. Als allgemeine Konversationsbedingung und damit Teil der 'felicity's condition' 4 9 gilt, daß eine Äußerung an das anknüpft, was im Bewußtsein der Rezipienten ist. Wie Goffman (1983:11) zeigt, läßt jede Äußerung den Rezipienten stets mehrere Möglichkeiten der thematischen Anknüpfung, die allesamt relevant sein und zur thematischen Kontinuität beitragen können.5° Thematische Diskontinuität muß besonders markiert werden.5 1 Gerade fur argumentative Schrine ist es wichtig, daß die Sprecherin auf die Äußerung des Opponenten eingeht und diese für die eigenen Ziele einsetzt (als nicht stimmig entlarvt, Konsequenzen aufzeigt, Einwände bringt etc.). Dies wird von Seiten der deutschen Sprecherinnen häufig dadurch erreicht, daß ein bestimmter Aspekt aus der Vorgängeräußerung aufgegriffen und in eine neue Aufmerksamkeitsausrichtung eingebettet wird, die die eigene Argumentationslinie unterstützt. Im folgenden Gesprächsausschnitt vertritt Yang die These, daß es in China keine Probleme bzgl. wciblicher Berufstätigkeit gebe: Y A N G 20 13Yang: 14 15 16D,A: 17Yang:

es G I B T Unterschied aber es gibt keine keine Problem mit der Stelleangebot /zum Beispiel/ /mhm mhm/ Frauen die /muß/ wissen wie /(die Männer zuerst arbeiten)/

53A: 54 55 56 57

ja aber vielleicht gibt es bei euch das P R O B L E M ' eh: also es gibt genügend Arbeitsplätze aber vielleicht'- die guten Arbeitsplätze, wo's viel Geld gibt das machen die Männer' und die schlechte ich hab gesehen / S T R A ß E N K E H R E N /

A greift bestimmte lexikalische Elemente der Vorgängeräußerung a u f g i b t es ... das P R O B L E M " (53) und fuhrt dann eine Umfokussierung durch, indem sie die These Yang's einschränkt: Zwar "gibt es genügend Arbeitsplätze", doch 'die guten Arbeitsplätze' sind den Frauen nicht zugänglich. Ihre Themenentwicklung (geschlechtsspezifìsche Verteilung der Arbeitsplätze) ist somit eng an die vorherige Äußerung angepaßt. Die dabei auftretenden Wiederholungen sind stark kohäsionsbildend: 49 Zu den 'felicity's conditions' im Bereich der Interaktion siehe Goffman 1983. 50 Siehe auch Sperber/Wilson 1985. 51 Kallmeyer (1978:194) verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff der Aufmerksamkeitsausrichtung, bzw. 'Fokus'. Ein Fokuswechsel stellt die (partielle) "Veränderung der Aufmerksamkeitsausrichtung" dar, d.h. "die Aufmerksamkeit ist vorher auf etwas gerichtet gewesen, diese Orientierung wird außer Kraft gesetzt und eine neue eingeführt." (Kallmeyer 1978:214). Der neue Fokus wird lokal angepaßt, d.h. in den betreffenden Zusammenhang gestellt. Hierfür können bestimmte 'pragmatische Konnektiva' verwendet werden, beispielsweise Partikel, die die Beziehung zwischen den propositionalen Einstellungen signalisieren.

258

Yang: A:

es gibt keine Problem ja aber vielleicht gibt es bei euch das PROBLEM' es gibt genügend Albeltsplätze aber vielleicht'- die guten Arbeitsplätze,

Im vorliegenden Beispiel wird durch die Parallelstruktur die Differenz zwischen 'genügend' und 'guten' hervorgehoben und somit der neue Fokus gesetzt. Ein weiteres Charakteristikum für Umfokussierungen ist die 'ja ... aber'-Struktur>3 mit ihrer Zweipoligkeit: Die Validität der Behauptung wird zwar teilweise anerkannt: 'ja-TeiF (hier: es gibt genügend Arbeitsplätze für Frauen in China), doch statt nun die Argumentation zu beenden, führt die Sprecherin eine thematische Umorientierung und eine Expansion des Oppositionsrahmens ('aber'-Teil) unter Hinzufugung eines weiteren Argumentationsaspektes durch. Einerseits nimmt sie Bezug auf die vorausgegangene Äußerung (ja-Teil), andererseits fuhrt sie einen neuen Fokus ein, der in Opposition zur Äußerung des Gesprächspartners steht (aberTeil).55 Auch im folgenden Ausschnitt werden gewisse lexikalische Elemente der Vorgängeräußerung aufgegriffen "bei euch stimmt das." und damit ein Teilzugeständnis geäußert, bevor die thematische Umorientierung einsetzt (88-90): YANG 27 8 2D: es gibt so viel subtile / (Definierung) / 83Tan: /GLEICH GELD/ bei. der. Arbeit. DAS STIMMT, bei. uns.> 84Tan: 85D: bei euch stimmt /das/ 86A: /JA/ zum Beispiel 87D: bei uns noch nich. 88 aber bei euch gibts vielleicht andere Dinge, die bei uns vielleicht weniger 89 90 /(problematisch sind)/ Die Fokusoperation vom vorausgehenden zum eigenen, in Opposition stehenden, neuen Fokus wird wiederum durch die 'ja ... aber'-Struktur kontextualisiert. Die Wiederholungsstrukturen zielen auch hier darauf ab, die Relevanz der Opposition sichtbar zu machen: Tan: D:

52 53 54 55

DAS STIMMT, bei uns. bei euch stimmt das bei uns noch nich. aber bei euch gibts vielleicht andere Dinge, die bei uns vielleicht weniger...

Hierzu auch Tannen 1989. Zur konversationeilen Funktion von 'ja aber' siehe auch Koerfer 1979. Goodwin/Goodwin 1987. Zur Verbindung von Kooperation (diskursorganisatorische Kooperation) und Konfrontation in argumentativen Gesprächen siehe auch SchifFrin 1985.

259 Die Umfokussierungstechnik kann auch einer strategischen Reinterpretation der gegnerischen Aussage gleichkommen, d.h. die Sprecherin interpretiert die vorherige Äußerung der Opponentin um und 'schlachtet' sie fur die eigenen Argumentationszwecke 'aus'. YANG 30-31 64Tan: /zu zu/ Beispiel eh bei meine (0.3) 65 eh::: (0.3) BRUDER ja das heißt mein ältere 66 Bruder, er macht ALLES (0.3) ja. eh 67 (glaub isch schon) aber eh nur nicht H' eh h' h' 68 Kleidung waschen oder so. /aber(...)/ 69A: /ja. er / 70 (sagt) er er sucht sich die Arbeit aus, 71 die er/machen MÖ/CHTE ein bißehen 72D: /hihihihihihi/ 73 lieber - eh: h' es gibt bei uns auch 74 manchmal Männer, die sagen, JA 75 ICH HELFE meiner Frau zu Hause, ich KOCH 76 nämlich manchmal, bloß KOCHEN das macht 77 er GERN, aber WASCHEN tut er überhaupt 78 nicht gern und die Frau AUCH nicht, also 79 muß es die Frau machen / die/ Das von Tan eingesetzte Beispiel zur Stütze ihrer Argumentation (chinesische Männer arbeiten im Haushalt mit) wird von A in Einklang mit ihrer eigenen Position (Männer arbeiten weniger im Haushalt als Frauen) reinterpretiert: "ja. er (sagt) er er sucht sich die Arbeit aus, die er /machen MÖ/CHTE ein bißehen lieber" (69ff.). Tan's eigenes Beispiel wird somit gegen sie verwendet und von A zur Stütze ihrer eigenen Aigumentationslinie eingesetzt. Mit Hilfe dieser Strategie führt A sowohl eine 'probatio' als auch eine 'refutado' durch: Sie baut die eigene Argumentationslinie auf und reißt die der Gegenpartei nieder. Im folgenden Textausschnitt setzt A das von Tan und Yang geäußerte Argument (jemand muß ja den Haushalt machen) im Sinne einer Rechtsexpansion der Äußerung fort und macht es ebenfalls fur die eigene Argumentationslinie geltend: YANG 5ff. 58Tan: 59D: 60Tan: 61 62A: 63 64

denn (0.2) es soll auch'= = (

;·/

;

)/

/ja von einem/ von einem gemacht werden. JA' entweder der MANN ODER die FRAU ja. und wenn der MANN keine Lust hat. und die FRAU hat keine Lust dann muß es die Frau machen.

Aus der Behauptung Tan's (60-61) leitet A anhand einer strategischen Umfokussierung eine mögliche, fur ihre Aigumentationslinie vorteilhafte Konsequenz ab (62fF.). Bezeichnend ist auch 56 Vgl. Ueding/Steinbrink (1986:246).

260 hier die Vorlaufpartikel 'ja', die zunächst einmal Zustimmung signalisiert. Anlehnend an Kleins Baummetaphorik wird hier ein bestimmter Knoten im Argumentationsbaum akzeptiert, doch die Konsequenz dieser Behauptung steht nun zur Disposition. Ahnliche Strategien, wobei das Argument des Opponenten als 'Kontra-Argument' gegen ihn und als 'Pro-Argument' 57 fur die eigene Argumentationsausrichtung uminterpretiert wird, sind auch im folgenden Segment zu finden: YANG 28 92Tan: / ja eh wie / wie kann doch. - eh seine Freundin kann doch M E H R Geld 93 94 verdienen als /ER/ /ja/ zwei/mal mehr als ich. 9 5 Yang: 96A: /(ja: )/ mhm. 97A: 98Tan: hihihihhhhhhhhhhh und wenn ihr dann mal Kinder bekommt, 99A: 1 dann muß die Freundin T R O T Z D E M zu Hause bleiben, wahrscheinlich. 2 3 (0.3) 4A: / normalerweise / 5D: /oder DOPPELT/ arbeiten

Die chinesischen Sprecher produzieren nur in einem Fall (Transkriptausschnitt YANG 5ff. Zeile 56) eine Umfokussierung. Diese äußerst geringe Anzahl der Umfokussierungen mag einerseits mit der stärkeren Tendenz zur Vermeidung direkter Konfrontation zusammenhängen und andererseits aber auch lernersprachliche Ursachen haben. Lernende haben in der Regel größere Schwierigkeiten, den unmittelbaren Diskurskontext strategisch in ihr Äußerungsformat einzubeziehen. Der folgende Transkriptausschnitt verdeudicht exemplarisch die mangelnde Kontertanbindung in den Äußerungen der Lernenden: YANG 28-29 5 ITan: a: aber isch glaube mi mi mit drei Jahre alt kann 52 - eh kann das Kind auch GANZ gut mit seine 53 mit seine Vater ja so aus ausgehen aber aber 54 am am AnFANG (0.3) eh hh' braucht das Kind 55 nämlisch ausch die Mutter, ja. 56D: ja. das is schon AUCH. 57Yang: und / i: ich / 58D: /aber dann/ ändert sich / ja meistens nichts/ 59Yang: /ich habe schon ein/ 60Yang: /vorher schon einige Male in Deutschland (gelebt)/ 61D: /(auch wenn das Kind) schon drei Jahre alt ist/ 62Yang: eh ich ich /habe/ schon sehr viel Kontakt mit 57 Zu 'Pro'- und 'Kontra'-Argumenten siehe van Eemeren et al. (1987:12).

261 63D: 64Yang: 65 66 67

/(....)/ deutsche Familie. - ich habe och eh so auch die: eh: diese eh diese also Eindruck daß die Frauenprobleme in Deutschland is ziemlisch stark, ziemlich stark.

Obwohl Yang's Äußerung zu Frauenproblemen in Deutschland zum größeren Gesprächskontext 'paßt', wirkt sie inkohärent bzgl. des lokalen Gesprächsverlaufs, da sie weder eine Anbindung an das lokale Diskursthema zeigt und auch keine Aspekte der Vorgängeräußerung aufgreift, um die eigene Position zur Geltung zu bringen (z.B. "in Deutschland mag sich tatsächlich dann nichts ändern. Ich habe auch den Eindruck, daß die Probleme der Frauen hier viel stärker sind als bei uns ...").5 8 Noch indiziert Yang einen Themenwechsel. Der Beitrag scheint nicht "alive to the current situation" (Goffman 1983:27) und verliert an argumentativer Kraft. Der Grund fur die mangelnde Anbindung kann auf lernersprachliche Ursachen und damit fremdsprachliches Handeln zurückgeführt werden. Die Vermutung, daß die geringe Anzahl an Umfokussierungen eventuell lernersprachlich bedingt sein könnte, verstärkt sich aufgrund der Analyse der chinesischen Kontrollgespräche: Dort finden sich mehrere Umfokussierungen, die allerdings keine konfrontativen Reinterpretationen darstellen. Im folgenden Transkriptausschnitt wird ebenfalls eine 'ja ... aber'-Struktur (Zeile 20: ye'HL ; Zeile 22 'danshi' (M J ^ ) zur Signalisierung der Umfokussierung verwendet:

LIANG 10 17Z:

* & ££ shuo shi zai zai

«ff

Tongji

« fr * ^ MÏÎ

zhunbei

zhuanye de hua. (0.2)

sagen tatsächlich in Tongji vorbereiten Fach (0.2)

18

5Ê fé 1 £fô? * yuanyuan burn zai ni ben

weit weit nicht besser als in deiner eigenen

19 danwei zhunbei zhuanye.

Einheit vorbereiten Fach.

20L:

ULrT0& Α ye keneng cong gege geren

ilk de zhuanye

¿τ m fangmian

auch vielleicht von jedem individuellen Fachgebiet

2i

± if m

A

Ä *

6 5 t

cong

juti

de zhuanye

fangmian

η &

m

keneng shi yao

von konkretem Fachgebiet vielleicht sein werden

58 Die Organisation des Beitrags von Yang weist ferner eine Technik auf, die in Kapitel 5 detailliert beschrieben wurde: Bevor die Hauptthese "die - Frauenprobleme in Deutschland is ziemlisch stark, ziemlich stark." (65-67) geäußert wird, liefert Yang die Hintergrundinformationen (Informationen darüber, wie er zu der folgenden These überhaupt kommt: ich habe schon ein vorher schon einige Male in Deutschland (gelebt) eh ich ich habe schon sehr viel Kontakt mit deutsche Familie." Zeile 59fF.).

262

22

23

24

25

26

Zhang: Ehrlich gesagt kann man an der Tongji das Fach bet weitem nicht besser vorbereiten als in seiner eigenen Einheit. Liang; Das ist möglich, was das persönliche Fach jedes einzelnen angeht, also das Fachspezifische, da ist es vielleicht etwas ungünstig. Aber es sind hier sehr viele Kollegen, viele, die aus verschiedenen Fachgebieten kommen und miteinander diskutieren können. Das ist doch sehr günstig fiir die Erweiterung deines Horizonts, oder? 8.5.5.

Persönliche Konfrontation versus 'face-work'-Techniken?

Die Argumentationssequenzen der Deutschen zeichnen sich durch eine Vielzahl persönlich ausgerichteter Attacken aus. Ein Vergleich der direkten Bezugnahmen (persönliches Zitieren, bzw. persönliche Anrede der gegnerischen Seite) zwischen den deutschen und chinesischen Gesprächsteilnehmer/innen zeigt, daß die deutschen Sprecherinnen persönlich Bezug nehmen, um die Meinung des Opponenten anzugreifen. Die chinesischen Sprecherinnen dagegen demonstrieren mittels persönlicher Anrede ihre Konsensbereitschaft und leisten 'face-work' im Sinne 'positiver Höflichkeit'^ 9 . Im folgenden werden einige der direkten, persönlichen Bezugnahmen exemplarisch vorgestellt. Direkte, persönlichen Bezugnahmen auf selten der deutschen Sprecherinnen: YANG 14 36Yang: 37A: 38 39 40Tan:

*ja das kann man so (sagen) und du findest das RICHTIG, daß die MÄNNER sowas machen können und die FRAUEN nicht? hihi

59 Siehe Kapitel 3.3.

263 41 Yang:

nein.

42A:

du sagst sie hat /genug Rechte/

YANG 23 67D: 68Tan: 69 70 71 72

also /ich/ V E R S T E H eigentlich nich unbedingt /hm/ W A R U M du sagst eh in in Kina gibts kein Frauenproblem, des Problem is eigendich das gleiche bloß daß - eh:m' daß es mehr verTUSCHT wird.

YANG 29 54D: warum sagst D U , - daß daß du meinst eh 55 die Frauen haben G E N Ü G E N D Rechte. es reicht. 56 warum SA/GST D U DAS?/ 57Yang: /( )hihi/ YANG 30 20D: wenn D U allerdings sagst, eh::: die sind 21 UN::gleich, N A T U R L I C H U N G L E I C H , 22 dann is es D E I N Problem, aber eh 23 verstehst du, des is nichts wo du drüber 24 diskutieren kannst. M Ä N N E R BEHAUPTEN YANG 32 18 19 20 21D: 22Yang: 23D:

Sic werden so so Sie werden vielleicht sagen, ich bin sehr k konservat((HI))iv /((HI))und/ /ich/ werde sagen ein M A N N / u n d sehen das aus/ /das ist Ihre Meinung/ Ihrer M Ä N N L I C H E N SICHT.

YANG 33 14D: 15 16 17 18 19

mhm. also ich find es probleMATISCH ehm: ich eh: weil ich eh es is ne' also du denkst vielleicht Emanzipation bedeutet - Frau und Mann angleichen und daß Frau und Mann gleich SEIN S O L L E N , aber Emanzipation bedeutet nicht - DAS fur mich. Emanzipation bedeutet

Der stark gesichtsbedrohende Charakter der persönlichen Attacken zeigt sich u.a. darin, daß von seiten der chinesischen Rezipientlnnen häufig mit Kichern reagiert wird.

264

Exkurs: Kichern als Reaktion auf direkte Konfrontation Konversationsanalytische Arbeiten zum Lachen und Kichern verdeutlichen, daß im allgemeinen die Initiierung von Lachen durch die Sprecher die Rezipienten zum Mitlachen einlädt. Diese haben dann die Möglichkeit, die Einladung zu akzeptieren (der präferierte Fall) oder abzulehnen. 60 Darüberhinaus existieren auch Kontexte, in denen ein Mitlachen von selten der Rezipienten nicht erwünscht ist: beim sogenannten 'trouble-talk'. In solchen Gesprächssequenzen, in denen der Sprecher persönliche Probleme thematisiert oder ein eigenes Versagen darstellt, werden sprachliche Handlungen vollzogen, die gesichtsbedrohend sind. Ein Kichern oder Lachen, das den eigenen 'trouble-talk' begleitet, signalisiert, - so Jefferson (1984:351) - daß der Sprecher trotz Probleme "über der Sache steht". Charakteristisch fur das Kichern in YANG ist, daß es von den chinesischen Interagierenden häufig dann eingesetzt wird, wenn gesichtsbedrohende Situationen anstehen. 61 Formal betrachtet ähnelt dieses Kichern dem Kichern im 'trouble-talk': Die Rezipientinnen lachen nicht mit. In nahezu jedem China-Reisebuch und 'survival kit' wird das chinesische Lachen und Kichern als Teil der 'Fremdheitserfahrung' erwähnt. 62 Mit Verwirrung stellen Europäer fest, daß Chinesen in Situationen kichern und lachen, die unserer Ansicht nach keinerlei Grund zum Lachen bieten. 63 Kulturvergleichende Arbeiten der Ethnologie und Psychologie zum Lachen und Kichern zeigen, daß es sich hierbei zwar um universale Verhaltensmuster handelt, doch können Lachen und Kichern in unterschiedlichen Kulturen unterschiedliche Bedeutungen innehaben. 64 Die chinesische Schriftstellerin Han Suyin (1956) beschreibt die Funktion des chinesischen Lachens folgendermaßen: Lachen stellt der geöffnete Fächer der guterzogenen Person dar, die den Anflug von Langeweile, die verzogene Lippe des Schmerzes, den zusammengepreßten Kiefer des Hasses verbergen soll.

Wer in welcher Situation mit wem wie lachen kann, unterliegt kulturellen Konventionen. Aufgrund unserer kommunikativen Kompetenz können wir (in der Regel) die situative Funktion eines Lachens, Kicherns und Lächelns als freundliches Zulächeln, als Lachen über etwas Witziges, als Auslachen einer anderen Person, als hämisches Lachen, als Verlegenheitslachen etc. 6 5 adäquat entschlüsseln.

60 Jefferson (1979:82). 61 Das Aufkommen von Kichern und Lachen bei gesichtsbedrohenden Situationen beschreibt auch Bonavia (1987:75): Stellt ein Ausländer eine unpassende Frage, so reagieren Chinesen häufig mit Lachen. Das Lachen impliziere:"please let's talk about something else." und habe eine wichtige Funktion im chinesischen face-Konzept inne. Siehe auch Brown/Levinson (1978:237) zum Lachen in gesichtsbedrohenden Situationen. 62 Bonavia (1987:74ff.); Kinder (1989:40; 66; 96). 63 Bonavia (1987:75) geht u.a. auf das Kichern und Lachen der Chinesinnen bei der Übermittlung schlechter Nachrichten, sowie bei gesichtsbedrohenden Situationen ein; eine Erfahrung, die alle Ausländerinnen kennen, die sich längere Zeit in China aufhalten. 64 Condon/Yousef 1975; La Barre 1981; Pfleiderer 1986. 65 Siehe auch Bergson (1972:14ff.) in seinem Essay über das Lachen: "Um das Lachen zu verstehen, müssen wir es wieder in sein angestammtes Element versetzen, und das ist die Gesellschaft; wir müssen seine nützliche Funktion bestimmen, das ist eine soziale Funktion. (...) Das Lachen muß gewissen Anforderungen des Gesellschaftslebens genügen."

265

Dem folgenden Transkriptausschnitt geht eine Argumentationssequenz über natürliche versus gesellschaftliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern voraus. Yang vertritt die Position, daß es natürliche Differenzen gibt und venveist auf die Kriminalpolizei als Beispiel eines Arbeitsbereichs, der fur Männer geeigneter ist. Daraufhin versucht D Yang's These zu widerlegen, indem sie mit der gesellschaftlichen Rollenverteilung argumentiert. Sic beendet ihre Begründung mit einer Konklusion, die auf die Ausgangssituation rückverweist, indem sie Begriffe der Position Yangs wieder aufgreift 'natürlicher Unterschied ... Problem': YANG 18 34D: 35 36 37Yang: 38D:

dann wär das kein Problem, des is ein GESELLSCHAFTLICHER Unterschied und kein - NATÜRLICHER. hihi ja'hh((hi)) ja. denk ich schon, also des is kein Unterschied.

D's Konklusion wird an die Position Yang's angebunden und soll diese widerlegen. Die prosodische Fokussierung der Differenz 'GESELLSCHAFTLICHER - NATÜRLICHER' hebt die Opposition hervor. Yang reagiert auf diese markierte Nichtübereinstimmung und Widerlegung seiner Position mit einem Kichern (37). Auch im folgenden Transkriptausschnitt, in dem D Yang direkt mit einer persönlichen Bezugnahme attackiert (54-56), reagiert Yang auf die stark gesichtsbedrohende Situation mit einem Kichern (57): YANG 30 45Yang: 46 47 48 49 50 51D: 52Yang: 53 54D: 55 56 57Yang:

ich ich bin fur Ihre Meinung. - daß die Frauen WIRKLICH also:: also: nach der eh Hochschulabschluß oder - also: ehm: schon als eine Er Erwachsene - und sie haben weniger Chancen oder weniger Möglichkeiten' als die Männer mhm und auch die Zukunft (0.3) ist also nich so herrlich wie die Männer. warum sagst DU, - daß daß du meinst eh die Frauen haben GENÜGEND Rechte. es reicht. warum SA/GST DU DAS?/ /( )hihi/

Tan, der ich die Gesprächsausschnitte vorlegte, interpretierte das Kichern folgendermaßen: Ja, das heißt ungefähr, die Lage spitzt sich zu. Die Deutschen, vor allem D, wird sehr unhöflich, vielleicht ein bißehen unverschämt in unseren Augen. Das Lachen zeigt diese Unsicherheit bei den Chinesen. D ist so direkt.

Die Informantin Ma, der ich ebenfalls diese Transkriptausschnitte vorlegte, interpretierte das Kichern als 'typische chinesische Strategie':

266 Sicher hat das mit Gcsichtsbedrohung zu tun. Yang hat wahrscheinlich keine Gegenthese auf den harten Angriff und will die Konfrontation beenden.

Direkte, persönliche Bezugnahmen auf Seiten der chinesischen Sprecherinnen: YANG 19 4Tan: 5A: 6 7 8Tan: 9Yang: 10A: 1 lYang:

/warst/ du schon mal in Tibet? ja. (0.2) un in Kina. eh hi/hi / /ahja/ - wie heißt du? Andrea. Andrea, ah.

YANG 30 45Yang: 46 47 48 49 50

ich ich bin fur Ihre Meinung. - daß die Frauen WIRKLICH also:: also: nach der eh Hochschulabschluß oder - also: ehm: schon als eine Er Erwachsene - und sie haben weniger Chancen oder weniger Möglichkeiten' als die Männer

YANG 33 89Yang: und auch wie Sie wie Sie 90 eben gesagt, in Schina sehr viel Frauen, sie 91 wissen gar nicht über sich selbst - sie sie, 92 sie hat eh sie leben nur nach den Tradition. 93A. mhm YANG 41 57Yang: 58D: 59Yang: 60D:

*ja* (0.5) deshalb also *Ihre Bemühung* is mhm? Ihre Bemühung is sehr wichtig, hihi ja.

Persönliche Anreden und Bezugnahmen werden hier vor allem zur positiven Gesichtsarbeit verwendet: Zur Herstellung eines persönlichen Gesprächs (YANG 19) und zur Bestätigung der Position des Gegenüber (YANG 30; 33; 41). 8.5.6.

D i e indirekte D i s s e n s m a r k i e r u n g der chinesischen T e i l n e h m e r i n n e n

Die Analyse der Dissensorganisation zeigt, daß die deutschen Sprecherinnen innerhalb eines argumentativen Rahmens Nichtübereinstimmungen häufig direkt und sogar maximiert durch Oppositionsformate und Dementieren der zitierten gegnerischen Position ausdrücken. Die chinesischen Interagierenden verwenden lediglich zwei Oppositionsformate im Gespräch YANG.

267 Andere von deutscher Seite verwendete Strategien der Dissenssignalisierung wie die Reinterpretation der Opponentenäußerung, das Zitieren der gegnerischen Worte zur Dementierung oder persönlich formulierte Attacken werden von den chinesischen Interagierenden nicht verwendet. Nun stellt sich die Frage, welche Techniken die chinesischen Gesprächspartner verwenden, um Dissens zu signalisieren. Inwiefern weisen chinesische Sprecher tatsächlich, wie zahlreiche Arbeiten zur chinesischen Rhetorik anfuhren, höhere Indirektheitsstufen bei Nichtübereinstimmungen auf? 66 Eine Strategie, die sich in meinen Daten immer wieder beobachten läßt, stellt die vorläufige Signalisierung von Übereinstimmung dar, wobei aber im selben Redezug bzw. in den folgenden zum Ausdruck kommt, daß der chinesische Sprecher eine gegenläufige Meinung vertritt. Im folgenden soll die Questio: "Gibt es natürliche Unterschiede zwischen Frauen und Männern?" über eine längere Argumentationssequenz hinweg verfolgt und daran aufzeigt werden, wie Yang seine Nichtübereinstimmungen signalisiert. Im Transkriptausschnitt YANG 15 bildet sich die Questio heraus: YANG 15 78Yang: 79Yang: 80 81 82D: 83 84 85Yang: 86 87D:

/das is also von der/ von der traditionell? oder politische? - oder', die (nur) eh die schon (0.2) von Natur aus /(·••)/ so natürliche' /ja/ du glaubst es gibt eine NATÜRLICHE EINSCHRÄNKUNG? (0.7) ich glau:be (0.2) NICHT, aber ich hi ich muß sagen, es gibt. (1.0) ein bißehen. wie meinst du /das?/

Auf D's Frage hin, die prosodisch bereits ihre ablehnende Position signalisiert (die Proposition 'NATÜRLICHE EINSCHRÄNKUNG?' wird durch erhöhte Lautstärke und Anstieg der Tonhöhe sehr markiert geäußert), produziert Yang zunächst eine zögernde (Vokaldehnung, Pausen von 0.7 und 0.2 Sek.) Zustimmung 67 : "ich glau:be (0.2) NICHT" (85). Dieser folgt jedoch eine mit 'aber' eingeleitete Nichtübereinstimmung: " aber ich hi ich muß sagen, es gibt. (1.0) ein bißehen." (86). Die Äußerung wird schließlich 'rechtsexpandiert', d.h. nachdem keinerlei Reaktion im Anschluß an 'es gibt' eintritt (die Pause verdeutlicht die ausgebliebene Übernahme des Redezugs), schwächt Yang seine Äußerung ab: 'ein bißehen'. Daraufhin bittet D Yang um eine genauere Erläuterung. Doch bevor Yang seine Behauptung näher ausführen kann, unterbricht ihn A, um prophylaktisch mehrere Gegenbeispiele zu liefern, an denen demonstriert wird, daß gewisse Aspekte im Leben von Frauen, die an der Oberfläche wie 'natürliche Unterschiede' aussehen (Kinderversorgung, statusniedrigere Berufe etc.) soziale Ursachen haben. D schließt sich A mit diesen Ausführungen an. Doch ca. fünf Minuten später

66 Hierzu auch Kapitel 3. 67 Zustimmung heißt hier: Gleichlaufend mit D's Ausrichtung.

268

knüpft D erneut an Yang's frühere Behauptung bzgl. 'natürlicher Unterschiede* an und fordert ihn auf, die Behauptung zu erläutern: YANG 17ff. 86D: des is kein natürlicher Unterschied 87 in meinen /Augen/ 88Yang: /mhm ja./ mhm 89D: wo siehst D U denn die NATÜRLICHEN 90 Unterschiede? - weil du hast was von 91 natürlichen Unterschieden gere/det/ 9 2 Yang: /viel/leicht 93 ich habe diese eh: (1.0) eh schwer zu sagen

8D: 9 1 OYang: 11D: 12Yang: 13D: l4Yang: 15D: 16 17 18 19 20 21 Yang: 22D: 23 24 25 26 27 28 29Yang: 30D: 31 32 33Yang: 34D: 35 36 3 7 Yang: 38D: 39 40 41 Yang: 42 43D:

/du/ meinst rein körperlich, jetzt? nein körperlich eh jetzt also von der Kraft her? *oder wie meinst du?* (nich klar) zum Beispiel die also Polizei POLIZEI? KRIMINALpolizei. das ist nicht körperlich. ne. das is N I C H körperlich, das hat allerdings etwas damit zu t u n ' , was fiir'n Status Frauen in der Gesellschaft habn. MÄNNER, werden in der Gesellschaft schon mal als Autoritätspersonen dargestellt die M E H R zu sagen haben als FRAUEN. ja. und we' D A N N wirds n' natürlich problematisch wenn so'n UNgleiches Gesellschaftsbild da ist, da dann dann is es auch schwierig auf einmal die FRAU in die gleiche Rolle zu setzen wie der Mann (meist) aber wenn normalerweise der Mann und die Frau eine gleiche Rolle hätten ja. daß eh' wenn ne Frau was sagt, das G E N A U S O - A U T O R I T Ä T angesehen wird, autoritär angesehen wie en Mann ja. dann war das kein Problem, des is ein GESELLSCHAFTLICHER Unterschied und kein - NATÜRLICHER. ja'hh((hi))'hh ja. denk ich schon, also des is kein Unterschied. was was vielleicht stimmen könnte /oder was/ /un und auch ein/ eh eh ich meine auch DENKWEISE von Frauen und von Männern versuch eh was fiirn Unterschied

269 44 45Yang: 46D: 47 48D: 49Yang: 50Tan: 51 52 53D: 54Yang: 55A: 56A: 57 58Yang: 59D: 60A: 61 Yang: 62Yang: 63 64 65 66A: 67D: 68 69 70 71 72 73 74 75 76Yang: 77 78 79D: 80Yang: 81A:

is /das?/ /Denk/weise. was is das fiirn Unterschied? (0.6) wie denken Frauen, /wie denken (...) Männer?/ /( )/ / ich glaube das / schon - auch - eh: wegen der Tra- dition wegen D I E Tradition ++oder so was++ also /ich/ /viel/leicht wegen /die Tradition/ / also die / Frauen können also die Frauen sind doch nich dümmer als die Männer. nein. / das is richtig / /oder denken anders/ du meinst die denken mehr mit Ge/FÜHL oder/ /ich glaube eh/ manchmal in in eine bestimmte Bereich ja besser als die Männer, und die M Ä N N E R arbeiten in eine bestimmte Bereichen besser als Id' / Frauen /mhm / aber des is doch auch etwas was U N H E I M L I C H von der Tradition bestimmt ist wenn Frauen nun mal IMMER in dem Bereich gearbeitet habn, dann tun sie ihre Fähigkeiten in diesem Bereich entWICKELN. wenn ich als FRAU immer in einem MÄNNERberuf gearbeitet hab, dann entwickle ich meine Fähigkeiten, die zu diesem M Ä N N E R B E R U F gehören = = un ich ich muß sagen, fur die M Ä N N E R es gibt keine Grenze fur die, fur die Arbeit. fur die Arbeiten, fur die Frauen es gibt Grenze. welche Grenze? zum Beispiel die (0.3) körperliche aber zum Beispiel

Bei diesem Transkriptausschnitt möchte ich mich darauf konzentrieren, wie Yang seine eigene Position vertritt. Zunächst einmal wird sein Beispiel der 'Kriminalpolizei' von D als ebenfalls gesellschaftlich konstruierter Unterschied zwischen Frauen und Männern verworfen und somit zur Stärkung ihrer eigenen Position verwendet. Während D's Ausführungen liefert Yang zahlreiche Rezipientensignale ('ja'), die von D zunächst als 'continuer' interpretiert werden: Sie setzt ihre Äußerung fort. Das 'ja' plus Kichern in Zeile 37 veranlaßt D jedoch zur Reparatur Zunächst verstärkt sie ihre Behauptung "ja denke ich schon, also des is kein Unterschied", doch dann beginnt sie eine mögliche Einschränkung zu formulieren. Statt einer direkten Signalisierung von

270 Dissens liefert Yang in Zeile 41-42 eine inhaltliche Nichtübereinstimmung. Dabei knüpft er formal an die vorherige Äußerung an, als würde eine gleichlaufende Äußerung folgen: 41 42

/un und auch ein/ eh eh ich meine auch D E N K W E I S E von Frauen und von Männern

Bezeichnend fur Strategien des indirekten Dissens ist, daß - trotz inhaltlicher Gegenlaufìgkeit — keine formale Opposition zum vorausgehenden Redezug hergestellt wird. Statt die Vorgängeräußerung aufzugreifen und zu attackieren, listet Yang lediglich weitere Aspekte fur seine Position auf. 6 8 Sowohl die additive Konjunktion 'und' als auch die Hinzufiigung bzw. Verstärkung signalisierende Partikel 'auch' suggerieren Konsens. Auch in Zeile 61-65 wird der Dissens formal nicht markiert: 61 Yang: 62 63 64 65

/ich glaube eh/ manchmal in in eine bestimmte Bereich ja besser als die Männer, und die M Ä N N E R arbeiten in eine bestimmte Bereichen besser als Id' / Frauen

Nach D's Gegenargument (Traditionsbedingtheit) äußert Yang — in Form eines 'latching on' 6 9 — eine Nichtübereinstimmung. Dabei kontexualisiert er jedoch eine Weiterentwicklung der Äußerung von D und nicht etwa eine kommende Nichtübereinstimmung: 76Yang: 77 78

= un ich ich muß sagen, fur die M Ä N N E R es gibt keine Grenze fur die, fur die Arbeit. fur die Arbeiten, für die Frauen es gibt Grenze.

Yang greift weder Teile der vorherigen Äußerung der Opponentinnen auf, um diese zu demontieren, noch zitiert er deren Positionen, um sich explizit davon abzugrenzen. Er liefert auch keine Anti-Modelle, die der inhaltlichen Ausrichtung der Opponenten-Meinung die Relevanz absprechen bzw. diese lächerlich machen sollen. Die Beobachtung hinsichtlich der sehr indirekten Signalisierung von Dissens auf chinesischer Seite 7 0 stimmt mit der Aussage der chinesischen Informantin, Frau You, überein, die als Dolmetscherin häufig bei Verhandlungsgesprächen zwischen Chinesen und Deutschen übersetzt:

68 Die genauen Ursachen für dieses gesichtsschonende Vorgehen können hier nicht geklärt werden. Sie könnten zum einen mit den chinesischen Interaktionskonventionen und der Präferenz für eine harmonische Atmosphäre (siehe Kapitel 3) verbunden sein, zum andern könnten auch lemersprachliche Faktoren beteiligt sein. 69 Sacks ( 1971a:19). 70 Die Frage, inwieweit lernersprachliche Faktoren an der indirekten Dissensproduktion beteiligt sind, wird später noch ausführlicher behandelt. Anzumerken ist jedoch, daß die hier auftretende Indirektheit der chinesischen Lernenden der von Kasper (1981:384) bei deutschen Englischlernenden beobachteten Tendenz zur 'Direktheit' widerspricht: Kaspers Analyse interimsprachlicher Fertigkeiten verdeutlicht, daß deutsche Lernerinnen aufgrund des von Kasper als "Strategie des geringsten Aufwandes" bezeichneten Verfahrens zu "Überrepräsentation von unabgetönter Direktheit" neigen. Was die chinesischen Lernenden betrifft, so kann diese Tendenz nicht bestätigt werden.

271

... meine Erfahrung aus zahlreichen Verhandlungsgesprächen ist, daß die deutschen Verhandlungspartner die Indirektheit der Chinesen nicht verstehen. Sie merken dann einfach nicht, daß der chinesische Partner auf höfliche, indirekte Art ABLEHNT, sondern sie denken, er redet am Thema vorbei. Dann muß ich immer mal wieder eingreifen und die 'indirekte Äußerung' interpretieren. Manchmal fordere ich auch die chinesische Seite auf, direkt 'nein' zu sagen. Doch dann bekomme ich die Antwort: 'aber das geht doch nicht. Diese Deutschen sind so weit nach China gekommen. Man darf nicht so unhöflich sein und jetzt sofort direkt 'nein' sagen'.

Verfolgen wir nun die Questio bzgl. "natürlicher Unterschiede zwischen Frauen und Männern" weiter: Ca. 20 Minuten später wenden sich die Interagierenden erneut der Questio zu. YANG 31 lOYang 11D: 12Yang: 13D: 14 15Yang: 16D: 17 18 Yang: 19Tan: 20D: 21 22 23 24 25 26Yang: 27D: 28 29 30 31 32 33 34 35 36Yang: 37 38 39 40 41D: 42 43Yang: 44D: 45Yang: 46 47

Problem ist leichter zu (0.3) /eh zu zu Diskutieren/ /ne. ne. eh ne. moment/ eh zu VERSTEHEN, zu VERSTEHEN. ne. MOMENT. eh:m eh eh s'is fur MICH kein Problem, fiir mich is es KLAR ja. ehm FRAU U N D MANN SIND NATÜRLICH GLEICH, des is kein PROBLEM = =ja hihihi wenn DU allerdings sagst, eh::: die sind UN:¡gleich, NATURLICH UNGLEICH, dann is es DEIN Problem, aber eh verstehst du, des is nichts wo du drüber diskutieren kannst. MÄNNER BEHAUPTEN /K' s/ie wären un' MOMENT, Männer /(i:s)/ behaupten, sie wären UNgleich nämlich die Na' Frauen haben au aus natürlichen Gründen eh von von Natur aus können die bestimmte Dinge NICH oder andere BESSER, und damit BEGRÜNden sie, daß sie einfach F Frauen im: einfach die Rech' eh ihre - einfach in bestimmten Gebieten ihre Rechte beschNEIDEN (1.0) also:: i: i: ich glaube, ich habe - DIESE Meinung - und eh ich ich glaube AUCH die andere Leute haben AUCH, vielleicht auch diese Meinung welche Meinung? daß daß Menschen, daß Frau und Mann /un na/türlich /ich glau/ ungleich sind? natürlich es gibt natürlich Ungleich Ungleichheit. (0.3) es gibt zum Beispiel sportlich (0.3) die die die eh die die

272 48 49 50 51D: 52 53Yang: 54 55 56 57 58 59A: 60Yang: 61A: 62Yang: 63 64 65 66D: 67Yang: 68D: 69Yang: 70D: 71 Yang: 72 73Yang: 74 75 76 77 78 79 80 81D: 82Yang: 83 84 85D: 86Yang: 87 88 89A:

Frauen - rekordc Weltrekorde und die die Männerrekorde ist unterschiedlich /das ist ( körperlich körperlich möglich körperlich) /also ES G I B T - ich meine ein weiblicher Körper und ein männlicher Körper sind meistens verschieden ich G L A U B E wir wissen schon, daß die die die Unterschiede zwischen also die M Ä N N L I C H E Körper und eh' die frauliche weibliche Körper, das wissen wir schon. ich glaube vielleicht es gibt noch A N D E R E Unterschied ja geistige? /daß sie/ /geistige/ oder so was aber - /(ich mein)/ / und / eh eh η zum Beispiel (ich will) vielleicht hihi Sie werden so so Sie werden vielleicht sagen, ich bin sehr k konservat((HI))iv /((HI))und/ /ich/ werde sagen ein M A N N / und sehen das aus / /das ist Ihre Meinung/ Ihrer M Ä N N L I C H E N SICHT. ja. *sag ich jetzt.* hihihihihi (0.3) und - eh' (0.3) ich meine also die:: zum Beispiel eh die die Weibliche IN D E R W E L T bei uns sagt, - eh die Frau ist die Halbs Halbe Himmel eh Halbes Himmel, die Männer halbes Himmel. das is eh das is Bild die diese Welt ist kordiniert, mu muß kordiniert, dann können wir eine G U T E Leben, also gut also die::: gute Zukunft mhm haben, das ist also ich glaube das ist Grund auch von N A T Ü R L I C H aus. das ist eine von N A T Ü R L I C H aus eine Prinzip mhm D E S H A L B muß ich sagen wenn die Männer und die Frauen sind G A N Z gleich. (0.3) das ist (0.5) un/denkbar./ /nein aber/ es geht ja darum daß eh

Zu Beginn des Transkriptausschnitts ist zu beobachten, wie zwei unterschiedliche Gesprächsstile aufeinandertreffen: Während D sehr konfrontativ und direkt vorgeht, Widersprüche explizit markiert (Zeile 11), ihre Position behauptet, Yang's Vorschlag als diskussionsunwürdig ablehnt (23-24) und Yang persönlich attackiert, verwendet Yang einen sehr kooperativen und konsensbereiten Stil mit vielen Zugeständnissen (Zeile 6; 8-10; 18). In Zeile 6 produziert er ein Rezipien-

273

tenecho 71 ('eh natürlich Gleichheit'), obwohl er später die These der 'natürlichen Ungleichheit' vertritt (86-88). Auf D's These bzgl. der männlichen Behauptung von weiblicher Ungleichheit (24-34) reagiert Yang erneut mit einem sehr indirekten Dissens: Zunächst stützt er seine Meinung dadurch ab, daß er sie in den 'Kreis anderer Leute' (37-40) stellt und dadurch demonstriert, daß er nicht alleine mit dieser Meinung dasteht.72 Dann listet er Unterschiede zwischen Frauen und Männern auf, die sowohl sportliche Leistungen, körperliche Differenzen und geistige Anlagen betreffen. Möglichen Angriffen durch D und A beugt Yang bereits mit Hilfe eines 'disclaimer'7^ vor: "und eh eh η zum Beispiel (ich will) vielleicht hihi Sie werden so so Sie werden vielleicht sagen, ich bin sehr k konservat((HI))iv" (62-64). Danach liefert er jedoch — statt einer durch die 'ich meine' - Einleitung erwartbaren persönlichen Stellungnahme - eine chinesische Redewendung (75-77) "Die Frauen tragen die Hälfte des Himmels". Erst im Anschluß an die kollektiv geltende Weisheitsvermittlung äußert er schließlich die eigene gegenläufige Meinung: (86-88) "deshalb muß ich sagen wenn die Männer und die Frauen sind GANZ gleich. (0.3) das ist undenkbar". Statt also explizit die These von D zu attackieren, verwendet Yang eine indirekte Strategie: Die eigene Position wird als Teil der kulturellen Weisheit dargelegt.74 Auch hier kommt die in Kapitel 5 diskutierte chinesische Diskursorganisation zum Vorschein: Bevor die eigentliche Hauptaussage präsentiert wird, werden sämtliche Hintergrundinformationen dargeboten. Dieser Informationsaufbau ist wesentlicher Bestandteil des indirekten Diskursstils chinesischer Interagierender. Die hier exemplarisch vorgeführte Art der indirekten und gesichtsschonenden Signalisierung von Nichtübereinstimmung chinesischer Gesprächspartner/innen durchzieht die gesamte Kommunikationssituation7^ und bestätigt auf der Mikroebene des Gesprächs die in Kapitel 3 vorgestellten chinesischen Interaktionsprinzipien: die Tendenz zur Indirektheit und die Vermeidung offener Konfrontation. Die Frage, die sich anschließt, lautet nun: Wie wird Dissens in chinesischen Gesprächen signalisiert? Werden dort explizite Formen der Dissensmarkierung verwendet? In dem Gespräch zwischen Liang und Zhang weisen sich die Dissenssignalisierungen dadurch aus, daß der Äußerung von Nichtübereinstimmung meist ein sehr langer Vorspann an Zustimmung vorausgeht: Der 'ja'-Teil der 'ja-aber'-Sequenz ist sehr ausgedehnt. LIANG 5 15Liang:

*t ft ifc M ÌJ KfW B S M® dui, wo, ni shuo de, dao yige xin de guojia limian, richtig, ich, du sagen, nach ein neues Land hinein

i6

« f i f f l w B t n a kending yao you yiduan shiying de shijian, sicher muß haben etwas Gewöhnungszeit,

71 Siehe Kapitel 6.3. 72 Siehe auch Kapitel 3 und 7. 73 Unter 'disclaimer' werden in der Konversationsanalyse Verfahren verstanden, die Sprecher anwenden, um aufkommender Kritik vorzubeugen. (Hewitt/Stokes 1975). 74 Dieses Beispiel unterstützt die Thesen in Kapitel 7. 75 Ähnliche Befunde zeigen sich auch in den anderen Gesprächen. Siehe auch Günthner (in Druck).

274

17

3 î f 2 I6Ï ft I t ίΠ * ni zhe kending shi de, xiang women zhongguo das sicher sein, was unser China

18

W S Λ £ he deguo de hua, zhegewenhua chabie und Deutschland betrifft, diese Kulturunterschiede

19

J ^ t f ik(ft TT shi feichang da de. Ta zhong xi liang fang sind sehr groß. Sie China Westen zwei Seiten

20

a t x f t wtb«d>". zhege wenhua yuanlai jiaowang de bijiao shao, diese Kultur ursprünglich Kontakte ziemlich wenig, r f i î J . 1 t i U Ψ PO RTÉfc erqie women zhongguo keneng shi dui wai lai jiang außerdem wir China vielleicht sind nach Außen hin gesagt

21

22

¿ Ü T tba-fe W - Ä wra. shi fengsuo le bijiao chang de yiduan shijian, ist abgeschlossen ziemlich lang eine gewisse Zeit,

23

U L t t « * dui waimian liaojie de ye bijiao shao, nach Außen verstehen auch ziemlich wenig,

24

S r i a a ? £ Ι β Ι ! Γ $ I^JÉ « suoyi qu, dao deguo qu yihou, hen keneng deshalb gehen, nach Deutschland gehen danach, sehr möglich

25

wfc& t £J X 1 t v t Iiis jiu shi shoudao wenhua zhongji de wenti. dann sein erleiden Kulturschock Problem.

26

ts £ 3t © 5 Ê danshi zhege dongxi ne, aber diese Sache (Part.),

27

χ 1t νψ m h » *. wenhua chongji shi yige shiqing, Kulturschock sein eine Sache,

28

i & W S Ì i ^ í f ffiiOÄ TÄ è yuyan zhege dongxi ruguo shuo shi Sprache diese Sache wenn sagen sein

30

ì&Wìi £ Μ ϊ ϊ sÊ ^ flfäi yuyan guoguan de hua huozhe shi yuyan shaowei (was) Sprache beherrschen (betrifft) oder (was) sein Sprache etwas

31

.fc neng hao yixie de hua, wo xiang jieshou können besser ein weing (betrifft), ich denke annehmen

275 32

33

Liang.* Richtig, ich, ... wie du gesap hast, man braucht sicher Zeit um sich einzugewöhnen, wenn man in ein neues Land geht. Was China und Deutschland angeht, so sind die Kulturunterschiede sehr groß. Es gibt eigentlich auch sehr wenige Kontakte zwischen den Kulturen Chinas und des Westens. Außerdem war China eine relativ lange Zeit von der Außenwelt abgeschlossen, und wir wissen auch relativ wenig vom Ausland. Deshalb bekommt man möglicherweise, wenn man in Deutschland ist, Kulturkonfliktprobleme. Aber dieser Kulturschock ist eine Sache. Wenn man jedoch die Sprache einigermaßen gut kann, ist die Fähigkeit, mit dem Kulturschock umzugehen vielleicht größer. Dem Gegenüber werden zunächst starke positive Höflichkeitsstrategien vorgeführt: Zustimmung, positive Bezugnahme, eskalierende Bewertung ... (Zeile 15-28), bevor der sehr indirekte Dissens (28ff.) einsetzt. Im folgenden Transkriptausschnitt aus dem Gespräch LIANG fuhrt Zhang ein Dissensverfahren vor, das von den deutschen Sprecherinnen häutig verwendet wurde: Das Zitieren der Position des Opponenten, um sie anschließend zu widerlegen. Doch auch hier geht dieser direkten Konfrontation - die konfrontativste Stelle im Gespräch LIANG - eine ausgedehnte gesichtsschonende Zustimmungssequenz voraus. Liang vertritt die Auffassung, ein weiteres halbes Jahr Deutschunterricht an der Tongji-Universität in Shanghai wäre sowohl fur die Deutschkenntnisse als auch fur die fachspezifische Vorbereitung (Ingenieurwissenschaft) vorteilhaft. Würde man jedoch vor der Ausreise in die Bundesrepublik eine fachspezifische Vorbereitung an der Heimatuniversität (in verschiedenen chinesischen Provinzstädten) durchführen, so würden während dieser Monate die erworbenen Dcutschkenntnisse wieder verloren gehen. Darauf reagiert Zhang folgendermaßen:

zhe shi shishi. das sein Tatsache.

276

4

a - t - f c * fttÀM » Λ Τ shuiping. zhege dou yao kao geren de nuli le. niveau, dies alles wird abhängen einzelnen Fleiß.

5

Ä J f t W W ® RT0& zhe laoshi de hua, keneng was die Lehrer betrifft, vielleicht

6 ye bu neng bang ni yi beizi, auch nicht können helfen dir ein Leben lang, 7

8

Mm

Λ # it gH shenme dongxi dou yao kao ziji. jede Sache alle müssen stützen auf sich selbst. Ä ^ Ä £ E lingwai wo juede de hua, ruguo ni duo hua außerdem ich finde, wenn du mehr verwendest

9

¥ f ÖÜ W l a J S S J L (0.2) ttiÄT ban nian de shijian zai zher (0.2) jiushi weile zhunbei halbes Jahr Zeit hier (0.2) dann um zu vorbereiten

10

Ä - t - # ilk ά ΰ ί ί zhege zhuanye de hua dieses Fach angenommen

11

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name jiu gen ni yuanlai jiang de zai duo hua also dann mit du ursprünglich gesagten noch mehr verwenden

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ψ ψ mm s &-Mat* « #

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ban nian shijian zai zhege difang zhunbei halbes Jahr Zeit an diesem Ort vorbereiten « » M i î t t f c * * ϋ deyu de hua, jiu shi maodun. Deutsch (Part.), dann sein Widerspruch.

m

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14

ir ft a * ¥ yuanlai ni jiang zai zhe duo hua ban nian ursprünglich du denkst hier mehr verwenden halbes Jahr

15

w r o f t T * * « » shijian weile zhunbei deyu, Zeit um zu vorbereiten Deutsch,

16

r f i f * * Ä T ftWff « # * 2lk er bu shi weile zai Tongji zhunbei zhuanye. und nicht sein um zu in Tongji vorbereiten Fach.

17

18

* f t «ff

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*

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shuo shi zai Tongji zhunbei zhuanye de hua. (0.2) sagen (was) sein in Tongji vorbereiten Fach (betrifß)(0.2) 3Ê ÏÏÈ ^ f c l f t f ö * yuanyuan buru zai ni ben weit weit nicht besser als in deiner eigenen

277

19

« # # 3ik. danwci zhunbci zhuanye. Einheit vorbereiten Fach.

Zhang; Wenn ihr in eure Einheiten zurückgeht, wird es sicher wenig Leute geben, die Deutsch sprechen. Das ist eine Tatsache. Ob ihr dann euer Deutschniveau halten könnt, hängt vom eigenen Fleiß ab. Die Lehrer können dir auch nicht ein Leben lang helfen. Alles hängt von dir selbst ab. Außerdem finde ich, falls du noch ein halbes Jahr hier fur die Vorbereitung des Faches verwendest, dann steht das im Widerspruch zu dem, was du eben gesagt hast, daßdu in dem halben Jahr hier noch Deutsch lernen willst. Du hast gesagt ein weiteres halbes Jahr Deutsch lernen und nicht an der Tongji dein Fach vorbereiten. Und was die fachliche Vorbereitung an der Tongji angeht, so ist diese bei weitem nicht besser als in deiner eigenen Einheit. Die Beobachtung hinsichtlich der indirekten Techniken zur Signalisierung von Dissens auf Seiten der chinesischen Kommunikationspartner wird von zahlreichen Berichten chinesischer, deutscher und amerikanischer Gesprächsteilnehmer bestätigt.76 Eine deutsche Sinologin und Dolmetscherin77 berichtet, daß der Interaktionsstil deutscher Gesprächspartner generell 'sehr hart' sei und sie als Dolmetscherin bei Verhandlungsgesprächen die Nichtübereinstimmungen und Kritik oft sehr viel 'weicher' wiedergeben müsse: "Der direkte Stil der Deutschen" könne nicht ohne Abschwächungen übermittelt werden, sonst wirke er zu 'grob und unverschämt' fur chinesische Verhältnisse. Auf der anderen Seite würde sie bei chinesischen Floskeln wie "wir müssen es uns nochmals überlegen" den deutschen Teilnehmern mitteilen, daß es sich hierbei um eine Ablehnung handle: "Er hat 'nein' durch die Blume gesagt." Auch der Sinologe Vermeer (1989:43) fuhrt in seiner Arbeit über Schwierigkeiten beim Dolmetschen in chinesisch-deutschen Verhandlungsgesprächen kulturelle Unterschiede in der Konfrontationsbereitschaft an: W o liegen nun mögliche konkrete Schwierigkeiten? Einige Beispiele: Chinesen sagen ungern definitiv 'Nein', und man sollte sie daher auch nicht dazu zwingen, denn es läßt sich schwer, und dann nur unter empfindlichem Gesichtsverlust, rückgängig machen. Diese Abneigung der Chinesen gegen eindeutig formulierte Aussagen muß der Gesprächspartner berücksichtigen. W e n n der Deutsche 'Nein' sagt, dolmetsche ich: wir werden darüber nachdenken, sagt er 'auf keinen Fall', formuliere ich: es könnte sein, daß diesbezüglich Probleme auftreten. W e n n ich einen Chinesen etwas frage und er antwortet "ich bin mir nicht ganz sicher", so weiß ich, daß er nicht die geringste Ahnung hat.

Inwiefern nun im Gespräch YANG lernersprachliche Ursachen einen gewissen Einfluß auf die geringere Konfrontationsbereitschaft der chinesischen Interagierenden haben, kann nicht völlig geklärt werden. Einige der Dissensverfahren (Oppositionsformat, Umfokussierung mit strategischer Reinterpretation), die die deutschen Sprecherinnen gehäuft verwenden, die chinesischen Sprecherinnen Yang und Tan dagegen nie oder nur selten, finden sich - wenn auch sehr abge76 Diese Angabe bezieht sich lediglich auf offizielle Gesprächssituationen bzw. auf Gespräche unter Bekannten, die noch kein enges Vertrauensverhältnis aufgebaut haben. Zu ähnlichen Ergebnissen kommen auch Naotsuka/Sakamoto (1983) und Richards/Sukwiwat (1983) hinsichtlich der Differenzen im asiatischen und westlichen Interaktionsstil. Siehe Kapitel 8.2. 77 Ich danke Gisela Reinhold für diesen Hinweis.

278

schwächt und mit viel 'face-work' verbunden - im chinesischen Gespräch LIANG. O b letztendlich auch ungenügende Deutschkenntnisse und/oder die Interaktionssituation (während sich Liang und Zhang sehr gut kennen, begegnen sich A, D und Yang, Tan zum ersten Mal) zum eher indirekten Stil von Yang und Tan beitragen, ist nicht eindeutig zu beantworten. Dennoch zeigt die Analyse, daß auch im chinesischen Gespräch unter guten Freunden Dissens weniger direkt und uneingeschränkt signalisiert wird und stärkere geschichtsschonende Strategien eingebaut werden als dies bei den deutschen Sprecherinnen der Fall ist. In diesem Zusammenhang möchte ich eine Diskussion anfuhren, die ich mit chinesischen Kolleginnen über deutsch-chinesische Unterschiede in der Demonstration von Kritik geführt habe. Das Gespräch entstand im Anschluß an zwei kurz hintereinander stattfindende 'Vorträge mit Diskussion' an unserer chinesischen Hochschule: Meine chinesischen Kolleginnen waren 'entsetzt und verwundert', wie direkt und 'grob' deutsche Kollegen im Anschluß an einen Vortrag eines deutschen Gastprofessors (der Vortrag wurde an einer chinesischen Hochschule vor einem chinesisch-deutschen Publikum gehalten) ihre Kritik und Nichtübereinstimmung geäußert hatten. Die chinesischen Dozentinnen sprachen mich daraufhin an, ob dies "üblich sei in Deutschland" und ob ich die Reaktionen der deutschen Zuhörer nicht als 'arrogant und grob' betrachten würde. Die Fragen und Kritikpunkte, die im Anschluß an den Vortrag geäußert worden waren, hatte ich damals als völlig normal und nicht auffällig kritisch oder unverschämt wahrgenommen und deshalb auch nicht speziell registriert. Wenige Wochen danach organisierte ich zusammen mit deutschen Kollegen ein Lehrer-Fortbildungsseminar. Nachdem ein deutscher Gastdozent seinen Vortrag (Unterrichtsdemonstration und Erläuterung) beendet hatte, reagierte der chinesische Dekan der Deutschabteilung folgendermaßen: "Die Unterrichtsdemonstration von Ihnen war sehr anregend, und wir haben auch alle sehr viel von Ihnen gelernt. Auch die Junglehrer haben viel gelernt. Es war eine anregende Stunde - speziell fur die jungen Lehrer. Diese jungen Leute haben wenig Unterrichtspraxis und können sehr viel von einem Experten, wie Sie einer sind, lernen. Und wir freuen uns sehr, daß Sie hierher gekommen sind, um uns Ihre Unterrichtsdemonstration zu zeigen. Vielen Dank. Ihre erste Frage, mit der Sie den Unterricht anfingen: Wer kennt Xian?, finden wir jedoch etwas eh nicht ((hi)) so ganz ((hi)) passend hihi." 78 Als ich diese Äußerung mit den chinesischen Kolleginnen diskutierte, betonten sie, daß diese Art der Kritik fur chinesische Verhältnisse schon sehr stark sei und zeige, daß man die Unterrichtsdemonstration des deutschen Kollegen als 'ziemlich schlecht' einschätze. Jedoch demonstriere das Vorgehen des Dekans insofern Höflichkeit und Rücksichtnahme, als er zunächst die 'guten Dinge' betont habe.

78 Diese Äußerung wurde von mir während des Gesprächs notiert.

279

8.6.

Stützen der eigenen Position

Kommen Zweifel an oder Nichtübereinstimmung mit der vertretenen Position auf, oder schätzt ein/e Sprecherin seine/ihre These als begründungsbedürftig ein, so kann er/sie Belege anfuhren, um die Position zu stützen. Das Anfuhren von Evidenzen und Autoritäten ist nicht nur eine Strategie institutioneller Argumentation (vor Gericht, in Interviews etc.), sondern stellt auch einen konstitutiven Teil der Alltagsargumentationen dan When conversants describe their sources or bases during disputes, they may be defending their point of view and presenting materials to convince others that they are right, or they may be backing off from positions and safely asserting just what they know for certain. (Pomerantz 1984b:6l 1)

8.6.1.

Persönliche Erfahrung als Beleg

Sehr häufig rekurrieren sowohl chinesische als auch deutsche Interagierende auf eigene Erfahrungen zur Stütze einer Meinung. Die eigene Lebenserfahrung wird zur exemplarischen Illustration herangezogen und fungiert als 'probado'. 7 9 Im folgenden Transkriptausschnitt verteidigt A anhand ihrer Tibeterfahrung die These, daß Frauen mit Männern vergleichbare körperliche Leistungen erbringen können: YANG 19 76Yang: = un ich ich muß sagen, fur die M Ä N N E R 77 es gibt keine Grenze fur die, fur die Arbeit. 78 fur die Arbeiten, fur die Frauen es gibt Grenze. 79D: welche Grenze? 80Yang: zum Beispiel die (0.3) körperliche 81A: aber zum Beispiel sagt man in D' 82 Deutschland oder'eh: in manchen 83 Ländern sagt man, eine Frau hat nicht 84 soviel Kraft, sie kann nicht eh: auf dem 85 Bau arbeiten, un in Kina hab ich /gesehen/ 86D: /mhm/ 87A: die Frauen müssen genauso körperlich arbeiten 88 und sie haben' (0.5) vielleicht' nicht 89 genausoviel Kraft, aber sie können 90 auf dem Bau genauso arbeiten 91 oder müssen hh' - eh ++ ich habs in Tibet 92 gesehn++, sie müssen Steine gießen, 93 Ziegelsteine oder'- G E N A U die gleiche 94 Arbeit wie die Männer. 95 (0.3) 96 wenn man die Arbeitkraft BRAUCHT, 97 dann sagt man die Frauen können das A U C H . 98 - und wenn man sie nich /WILL/ 79 Das 'Exempta' bzw. 'indicia' bildete bereits in der klassischen Rhetorik wichtige Mittel der 'probatio' (Beweismittel).

280 99Tan: 1A:

/mhm/ dann sagt man sic haben keine KRAFT.

Nachdem A die in Einklang mit Yangs Position stehende allgemeine Haltung ("in Deutschland sagt man ...") zitiert hat, liefert sie ihre eigene China-Erfahrung (Tibet-Erfahrung) als exemplarisches Gegenbeispiel zu dieser These und damit als Beleg fur ihre eigene Meinung. Das Heranziehen von Beispielen als Beleg einer Behauptung ist ein verbreitetes rhetorisches Verfahren der Argumentation: Das Beispiel steht exemplarisch für etwas 'Allgemeines', d.h. "eine noch nicht oder noch nicht genügend beglaubigte allgemeine oder zu verallgemeinernde Aussage" (Keppler 1988:42) soll belegt werden. Im folgenden Transkriptausschnitt greift D zunächst mittels fremder Rede eine früher geäußerte Position von Yang auf und fordert ihn explizit zur Stellungnahme auf: YANG 29-30 54D: warum sagst D U , - daß daß du meinst eh 55 die Frauen haben G E N Ü G E N D Rechte. es reicht. 56 warum SA/GST D U DAS?/ 57Yang: /( )hihi/ 58Yang: eh/m:/ 59Tan: /weil/ weil (sein) Familie eg/al ( )/ oder? 60Yang: /na./ 61 Yang: in d1 der Familie (glaub ich) ich sag nur immer - in 62 der Familie bei uns, also die Frauen besonders 63 /in diese/ 64Tan: /zu zu/ Beispiel eh bei meine (0.3) 65 eh::: (0.3) B R U D E R ja das heißt mein ältere 66 Bruder, er macht ALLES (0.3) ja. eh 67 (glaub isch schon) aber eh nur nicht H 1 eh h' h' 68 Kleidung waschen oder so. /aber(....)/ Bereits in Zeile 59 signalisiert Tan ihre Bereitschaft, fur Yang 'einzuspringen'. Nachdem Yang (61-63) seine Begründung geliefert hat, präsentiert Tan ein Beispiel aus der persönlichen Erfahrung als Beleg fiir seine These. Das Bruder-Beispiel vergegenwärtigt die Behauptung Yang's an einem konkreten Fall, d.h. auch hier wird das Allgemeine anhand des Besonderen (Beispielgeschichte) zur Sprache gebracht mit der Intention, eine allgemeine Aussage zu belegen. Der Wechsel vom Allgemeinen zum Besonderen wird auch hier metasprachlich angekündigt 'zu zu Beispiel' (Zeile 64). Wie Perelman (1979:123) darlegt, soll eine Argumentation mit einem Beispiel zur Ausbildung einer Verallgemeinerung oder wenigstens zu der Wahrscheinlichkeit fuhren, daß der dargestellte Fall wiederholbar ist. Die Sprecherin unterstellt also mit ihrer Beispielargumentation, daß die beschriebenen Tatsachen nicht einen einmaligen Ablauf von Geschehnissen darstellen, sondern wiederholbar sind.

281

8.6.2.

Zitieren von Autoritäten

Hierbei wird "das Prestige einer Person oder einer Gesamtheit von Personen" eingesetzt, um "Zustimmung zu einer These zu gewinnen" (Perelman 1980:100). Die in einem 'argumentum ad verecundiam' angerufenen Autoritäten können unterschiedlicher Natur sein: Von der 'einhelligen Übereinstimmung' über die 'allgemeine Meinung', zu einer bestimmten Kategorie von Menschen.80 Wesentlich ist dabei, daß die zitierte Quelle ihre Glaubwürdigkeit dem "gesellschaftlichen und kulturellen Ansehen des Zeugnisses bzw. seines Urhebers verdankt" (Ueding/Steinbrink 1987:249). Was als Beleg und Quellenangabe zitierbar ist und somit als glaubhafte Autorität angegeben werden kann, unterliegt kulturellen Konventionen. Im folgenden Transkriptausschnitt fuhrt A 'Untersuchungen' als Beleg ihrer These, daß es zwischen Frauen und Männern keine biologischen Unterschiede hinsichdich der 'Begabung' gibt, an: YANG 22 72A: ne glaub i net daß das richtig is 73 (0.3) 74A: /also weil/ man kann es man kann es ja 75D: /also ich/ 76A: BIOLOGISCH oder PSYCHOLOGISCH 77 untersuchen, es gibt ja Untersuchungen 78 un (0.4) soweit ich weiß hat sich 79 rausgestellt, daß Männer und Frauen 80 die gleiche BeGABUNGEN haben, und es 81 kommt nur darauf /an/, wie man ERZOGEN 82 /mhm/ 83 wird. auch, man wird als Kind schon 84 erzogen, als Mädchen - Mathe/matik und Techniken/ 85D: / (ganz anders) / 86 is nix fur die Mädchen, ich muß besser In Zeile (72) präsentiert A zunächst recht direkt, ohne Zögerungspartikel und Abschwächung ihre Nichtübereinstimmung. Im Anschluß an die kutze Pause (0.3) liefert sie ihre Begründung 'also weil ...'. Ihr Zögern, ihre Reformulierungen und vorsichtig formulierte Einschränkung 'soweit ich weiß' weisen auf Unsicherheiten im Zusammenhang mit den zitierten Quellen hin. Dennoch werden — wenngleich recht eingeschränkt und unspezifisch - 'Untersuchungen' als Beleg fur die strittige Position geliefert. Im nächsten Transkriptausschnitt wird auf eine kulturelle Gruppe und deren Behauptungen als Stütze der eigenen Meinung verwiesen:

80 Perelman (1980:100).

282 YANG 3 8A: 9 10TAN: 11D: 12A: 13TAN: 14A:

/aber/ ich hab (...) in Kina VIEL gegessen mit ÖL /und/ sowas alles. /aha/ /also/ viel ö l ? und die Japaner haben immer ge/sagt/ Ihm / das kinesische Essen hat zuviel ÖL.

Der gehäufte Einsatz von sprichwörtlichen Redensarten zur Stütze der eigenen Position wurde bereits in Kapitel 7 diskutiert. Hier soll lediglich ein Beispiel aus dem Gespräch YANG fiir den Einsatz chinesischer Spruchweisheit zur Stütze des eigenen Arguments angeführt werden: YANG 32 73Yang: 74 75 76 77 78 79 80 81D: 82Yang: 83 84 85D: 86Yang: 87 88

und - eh' (0.3) ich meine also die:: zum Beispiel eh die die Weibliche IN DER WELT bei uns sagt, - eh die Frau ist die Halbs Halbe Himmel eh Halbes Himmel, die Männer halbes Himmel. das is eh das is Bild die diese Welt ist kordiniert, mu muß kordiniert, dann können wir eine GUTE Leben, also gut also die::: gute Zukunft mhm haben, das ist also ich glaube das ist Grund auch von NATÜRLICH aus. das ist eine von NATÜRLICH aus eine Prinzip mhm DESHALB muß ich sagen wenn die Männer und die Frauen sind GANZ gleich. (0.3) das ist (0.5) un/denkbar./

Yang stützt seine Position, daß Frauen und Männer von Natur aus verschieden sind, mit einer durch Mao Zedong berühmt gewordenen Redewendung (73-76) "Die Frauen tragen die Hälfte des Himmels". Der Spruch wird eingeleitet mittels Verweis auf den kulturellen Ursprung "bei uns sagt eh", und im Anschluß liefert Yang retrospektiv die Gattungszugehörigkeit 'ein Bild'. In den Zeilen 78-84 produziert Yang als weitere Erläuterung die philosophischen Grundlagen dieser Spruchweisheit (natürliche Koordination des weiblichen und männlichen Prinzips Yin-Yang zur Harmonieerhaltung auf der Welt). Im Anschluß an die kollektiv geltende Weisheitsvermittlung äußert er schließlich die eigene Meinung: (86-88) "deshalb muß ich sagen wenn die Männer und die Frauen sind GANZ gleich. (0.3) das ist undenkbar".81

81 Auch im chinesischen Gespräch LIANG werden Sprichwörter zur Stütze der Argumentation eingesetzt. Siehe Kapitel 7.3.

283 Neben den sprichwörtlichen Redensarten werden von chinesischer Seite ebenfalls gehäuft "die allgemeine Meinung" bzw. 'man sagt ...'-Konstruktionen 82 als Autorität herangezogen8^: YANG 32 36Yang: 37 38 39 40 41D:

also:: i: i: ich glaube, ich habe - DIESE Meinung - und eh ich ich glaube AUCH die andere Leute haben AUCH, vielleicht auch diese Meinung welche Meinung?

Die eigene Meinung wird in die Meinung "vieler Männer und Frauen" eingereiht: YANG 40 4Yang: /aber/ ich muß sagen, die viele 5 MÄNNER haben gleiche Meinung oder 6 Frauen haben gleiche Meinung wie wie 7 wie wie meine. 8D: kann ich mir vor/stellen mhm/ Im folgenden Transkriptausschnitt vertreten Yang und Tan die These, daß es nicht gut ist, wenn Frauen 'nur* Hausfrauen sind. Die Hausfrau - so die allgemeine Meinung "bei uns sagt immer" (28ff.) - klatscht ständig und weiß doch nichts von der Welt: YANG 20 21 Yang: 22 23 24 25 26D: 27Yang: 28 29Tan: 30Yang: 31 Tan: 32Yang:

(wenn eine Frauen) zu Hause, wenn wenn Frauen zu Hause arbeiten - das is also de de:: ehm:: also in der schinesische in der schinesich Gesetz nich eh das ist nicht sehr gut eh: mhm wenn die Frauen zu Hause arbeiten dann we wenn bei uns sagt immer heißt das HAUS/frau WAS MACHT DIE HAUSFRAU?/ /Hausfrau man sagt immer Hausfrau/ /HAUSFRAU REDET IMMER WAS./ /Hausfrau Hausfrau das heißt immer eh/

82 Diese Art der 'man-sagt'-Konstruktionen, die die allgemeine Meinung darlegen, werden auch in anderen Gesprächen immer wieder als Stütze von Behauptungen herangezogen: SHU 3 51 B: Heirat isch doch gar net notwendig. 52 warum glaubst du, daß man heiraten muß? 53 Shu: ja'h bei uns sagt, man wenn man sich LIEBEN 54 DANN sSOLL man ja auch HEIRATEN. 83 Das Verstehensproblem der deutschen Rezipientin ist hierbei ebenfalls auf die Diskursorganisation zurückzuführen: Zunächst wird die Meinung gestützt, indem sie in die allgemeine Meinung eingebettet wird, erst im Anschlug wird sie dargeboten.

284 33Yang: 34D:

also schl/echtc/ ch und wissen nicht über die Welt eh= /ja/

Was mögliche Stützen der eigenen Position angeht, so zeigen sich deutliche Unterschiede bzgl. dessen, was als Autorität herangezogen werden kann: Während die deutschen Sprecherinnen neben persönlicher Erfahrung noch unspezifische 'Untersuchungen' und in einem Falle 'die Japaner sagen ...' als Autorität zitieren, fuhren die chinesischen Sprecherinnen neben persönlicher Erfahrungen auch Spruchweisheiten und 'man sagt ...'-Konstruktionen an, wobei die allgemeine Meinung, bzw. die seit Generationen übermittelte 'Weisheit der Vorfahren' als Autorität herangezogen wird. 84

8.7.

Möglichkeiten und Angebote zur Beendigung einer Argumentation

Traditionelle Argumentationstheorien sehen die Überzeugung des Gegners als Ziel der Argumentation. 8 ^ Doch enden Alltagsargumentationen nur sehr selten mit einer expliziten Überzeugung einer Partei und einer dadurch manifestierten Sieger- und Verliererrolle.86 Der Grund fiir die Dispräferenz expliziter Zustimmung zur gegenerischen Position liegt vor allem im gesichts bedrohenden Charakter dieser Strategie begündet: Man gesteht die eigene argumentative Schwäche bzw. mangelnde Kenntnisse des Sachverhalts etc. ein. 87 Im Gespräch YANG bleibt die übergeordnete Questio erhalten, auch wenn über Subthemen (kleinere Knoten im Baum der Argumentation) häufig Konsens hergestellt wird. Doch wie werden offene strittige Punkte interaktiv abgeschlossen? Wie wird eine argumentative Sequenz beendet? In Anlehnung an die Analysen von Schegloff und Sacks (1973) zu Gesprächsbeendigungen möchte ich behaupten, daß argumentative Sequenzen dann beendet werden, wenn der Beitrag einer Sprecherin bzw. eines Sprechers keinen weiteren Dissens der anderen Partei elizitiert und beide Parteien bereit sind, einen Aktivitätswechsel durchzufuhren. 88 Doch wie kann dies gehandhabt werden, ohne zugleich das eigene Gesicht zu verlieren, Unterordnung und Eingeständnis eigener Schwachpunkte zu signalisieren und ohne einen allzu abrupten Themenwechsel durchzuführen? Welche Problemlösungsstrategien wenden die Interagierenden an? Welche Voraussetzungen müssen gegeben sein, um einen Aktivitätswechsel durchzufuhren?

84 Hierzu im Kontrast die 'man-sagt...'-Konstruktionen der deutschen Sprecherinnen, die Anti-Modelle einleiten. 85 Kopperschmidt 1973. 86 SchifFrin (1985:35). 87 Vuchinich (1990:120). 88 Vuchinich (1990:121).

285

8.7.1.

Zugeständnisse

In Anlehnung an Vuchinich (1990:121) sollen Zugeständnisse in argumentativen Sequenzen als Zustimmungen zu einem oppositionellen Äußerungszug definiert werden. Diese Zustimmungen signalisieren die Akzeptanz der gegnerischen Position. In den Arbeiten von Pomerantz (1978; 1978) und Auer/Uhmann (1982) wird - wie in 8.5. skizziert - die These vertreten, daß Zustimmungen als Reaktion auf Bewertungen und Behauptungen präferiert und Nichtübereinstimmung dispräferiert sind. Eine Ausnahme dieser Regel bilden Reaktionen auf Komplimente: Macht eine Sprecherin der Rezipientin ein Kompliment ("du siehst aber gut aus"), ist eine deskalierende zweite Bewertung ('naja'), ein Referentenwechsel ('du aber auch', bzw. "das liegt vielleicht am neuen Harrschnitt") oder ein 'danke' erwartbar. Innerhalb eines argumentativen Rahmens treten Zustimmungen als Reaktionen auf Behauptungen oder Bewertungen des Opponenten nur selten auf, und wenn sie auftreten, werden sie nicht unbedingt in ein präferiertes Äußerungsformat (unmarkierte, kürzere Äußerung, rasche Zustimmung ohne Verzögerung, formale Hervorhebung der Handlung) 8 9 eingebettet, sondern sind häufig mit Merkmalen versehen, die auf eine dispräferierte Struktur verweisen: Verzögerungen, Pausen, bestimmte Vorlaufelemente, Abschwächungsmarkierungen etc.: 90 D:

dann haben die Frauen nämlich doch wesentlich mehr Aufgaben.

Yang:

eh. *ja kann sein.*

(0.2)

Diese formale Dispräferenzmarkierung bei Zugeständnissen im argumentativen Rahmen verweist auf den bereits erwähnten Aspekt, daß der argumentative Kontext u.a. dadurch aktiviert wird, daß das in Unterhaltungen, small talks etc. vorherrschende Präferenzsystem verändert wird. Zustimmungen zur gegnerischen Position haben einen gesichtsbedrohenden Charakter: Die zustimmende Partei gibt ihre Position völlig oder teilweise auf, was u.U. den Anschein erweckt, daß sie ihre Position nicht verteidigen kann. Vuchinich (1990:120) spricht in diesem Zusammenhang von der interaktiven Herstellung von Dominanz und Unterordnung. Die Partei, die ihre Position zugunsten der des Gegenübers aufgibt, kreiert eine hicrarische Beziehungsstruktur und ordnet sich unter. Das einzige Zugeständnis von deutscher Seite tritt im folgenden Gesprächsausschnitt auf: YANG 29 95Tan: 96 97 98 99 1D:

aber eh: ehm ich glaube in Deutschland (0.5) eh (1.0) kann die Frauen zu Hause auch nich so:: (0.5) so viele - ehm Meinung äußern als WIE - wie wie WIR bei U N S . ja. (0.3) stimmt das auch. oder? ja also / ehm: /

89 Levinson (1983:336). 90 Siehe Kapitel 8.5.

286 2A: 3D: 4

/*stimmt scho:*/ eh: die R O L L E is nich so fest eh also in Italien oder so

Die Zustimmung von A (Zeile 2) wird jedoch in einem dispräferierten Äußerungsformat geliefert: Sie reagiert nicht unmittelbar auf die Behauptung Tan's, sondern läßt eine kurze Pause (0.3) und einen Versuch Tan's zur Redeübergabe ('oder?') verstreichen, bevor sie mit leiser Stimme und mit der Modalpartikel 'schon', das eingeschränkte Zugeständnis äußert. 91 Sowohl das geringe Auftreten als auch die sequentielle Organisation von Zugeständnissen spricht fiir ihren eher dispräferierten Status innerhalb von Argumentationssequenzen. Ein Zugeständnis kann zur Beendigung einer Argumentation fuhren (Vuchinich 1990), sofern die Gegenpartei keine weitere Expansion des Konflikts anstrebt. Diese hat aber auch die Möglichkeit, das Zugeständnis des/der Opponentin als weiteren Anlaß zur Expansion des argumentativen Rahmens zu verwenden, indem sie den Widerspruch zu seiner/ihrer früheren Position thematisiert ("ja aber vorhin hast du das Gegenteil behauptet....") und ihn/sie damit erneut herausfordert. Im folgenden Transkriptausschnitt stimmt Yang zwei Mal A's Frage zu (36; 41), doch A weist ihn unmittelbar im Anschluß an das Zugeständnis auf den Widerspruch zu seiner früheren Position hin, indem sie diese zitiert (37; 42) und dadurch rekonstruktiv vor Augen fuhrt. Sie versucht, Yang in eine 'Unvereinbarkeitslage' zu bringen: 92 Die Unvereinbarkeitsherausforderung, die einen stark gesichtsbedrohenden Charakter hat, 9 3 zwingt den Gegner, eine bestimmte Posi-' tion aufzugeben, bzw. ihre Geltung einzuschränken. YANG 14 30A: ja is es nich so, daß F R Ü H E R vielleicht 31 die M Ä N N E R gesagt haben, d' das Mädchen 32 will ich nicht mehr, aber die FRAU 33 kann das nicht sagen, nur der Mann kann 34 es vielleicht einfach sagen. 35Tan: meistens so. 36Yang: *ja. das kann man so (sagen)* 37A: und du findest das R I C H T I G , daß die 38 M Ä N N E R sowas machen können und die 39 FRAUEN nicht? 40Tan: hihi 41 Yang: nein. 42A: du sagst sie hat /genug Rechte/ 43Yang: /das eh ich will/ nicht diese. 44D: s' kann sein. 45A: vielleicht 46 (0.3)

91 Zur einschränkenden Funkeion der Partikel 'schon' siehe auch Weydt et al. (1983:114). 92 Perelm an (1980:62). 93 Perelman (1980:62) redet vom "Lächerlichmachen des Gegners".

287

Auch im folgenden Textausschnitt äußert Yang eine Position, die mit der von D übereinstimmt: In Zeile 45 wird die Zustimmung explizit gekennzeichnet: "ich bin für Ihre Meinung ...". Doch D läßt es nicht dabei bewenden, sondern fordert ihn weiter heraus, indem sie das jetzige Eingeständnis in Widerspruch zur früheren Haltung stellt: YANG 30 45Yang: 46 47 48 49 50 51D: 52Yang: 53 54D: 55 56 57Yang: 58Yang: 59Tan:

ich ich bin fur Ihre Meinung. - daß die Frauen WIRKLICH also:: also: nach der eh Hochschulabschluß oder - also: ehm: schon als eine Er Erwachsene - und sie haben weniger Chancen oder weniger Möglichkeiten' als die Männer mhm und auch die Zukunft (0.3) ist also nich so herrlich wie die Männer. warum sagst du, daß daß du meinst eh die Frauen haben GENÜGEND Rechte. es reicht. warum SA/GST DU DASit /( )hihi/ eh/m:/ /weil/ weil weil Familie eg/al ( )/ oder?

Wir sehen an diesen Beispielen, daß Zugeständnisse in argumentativen Gesprächen nicht notwendigerweise die Argumentationssequenz beenden. Sie können auch als erneuten Anlaß zur Expansion genommen werden. Zwischen den Interagierenden existiert eine 'Diskursgeschichte'. Wenn eine Partei ihre Position abändert oder gar der Gegenseite zustimmt, so kann sie u.U. mit der früher geäußerten - nun in Widerspruch stehenden - Äußerung konfrontiert werden. Im Gespräch Yang kommen mit einer Ausnahme (YANG 29) sämtliche Zugeständnisse von den chinesischen Teilnehmenden. Diese werden dann jedoch häufig von den deutschen Sprecherinnen als Anlaß genommen, die chinesischen Gesprächspartnerinnen mit ihrer früheren Äußerung zu konfrontieren und sie dadurch in eine Unvereinbarkeitslage zu bringen. Diese Strategien stehen in Einklang mit den sehr viel direkteren Dissensäußerungen von D und A und bilden somit Teil des konfrontativeren Argumentationsstils der deutschen Sprecherinnen. 8.7.2.

Kompromißangebote

Eine weitere Möglichkeit zur Beendigung der Dissenssequenz stellt das Kompromißangebot dar. Vuchinich (1990:126) definiert Kompromißangebote als Konzessionen, wobei die Kompromißposition "between the opposing positions that define the dispute" liegt. Das Kompromißangebot ist keineswegs mit der Gegenposition identisch: Es ist vielmehr eine Zwischenposition, die sich der Gegenseite annähert, ohne jedoch mit ihr übereinzustimmen (wie dies bei Zugeständnissen der Fall ist). Aus diesem Grund sind Kompromisse auch weniger bedrohend fur das eigene Gesicht. Kompromißangebote kommen häufig 'pre-closings' gleich, da sie der Gegenpartei die

288

Bereitschaft zur Beendigung des Konfliktes signalisieren. 94 Die Gegenpartei kann diese Konzession akzeptieren, ablehnen oder ein eigenes Kompromißangebot machen. Ein Kompromiß ist jedoch erst dann erzielt, wenn die Konzession von der Gegenpartei akzeptiert wird. Im Gespräch YANG kommen sämtliche Kompromißangebote von den chinesischen Gesprächsteilnehmer/innen. Im Transkriptausschnitt YANG 5ff. ist folgendes Kompromißangebot zu beobachten: 9Tan: 10 11D: 12Tan: 13Yang: 14D: 15Yang: 16D: 17 18Yang: 19D: 20A: 21D: 22 23Tan: 24D: 25Tan: 26 27Yang: 28A:

/ah die/ die die die Männer sind jetzt auch ganz FLEIßIG geworden. NA:: TA!!! scho/n/ /(das/ is keine große) Problem/ /NA::: JA!!!/ Haushalt bei uns /nicht sehr/ /ich meine/ wenn du dran denkst daß sie vorher /gar NIX gemacht haben/ / (is nich Problem) / und JETZT ein bißehen MEHR machEN= =mhm= is immer noch nicht GANZ FLEIßIG. oder?= = aber aber FLEIßIGER geworden. jo::/ hh/ pf hh /aber/ nich so GANZ fleißig wie die Frauen. aber schon = = schon ganz /( )/ /es is/ kein PROBLEM.

Tan korrigiert ihre Position und nähert sich dabei schrittweise an die D's an, ohne wie beim Zugeständnis der Fall, die Gegenposition völlig zu übernehmen. Tan's Modifikationen (von "ganz FLEIßIG geworden" (10) über "aber aber FLEIßIGER geworden." (23) zu "aber nich so GANZ fleißig wie die Frauen aber schon" (25-26)) werden jeweils in Abhängigkeit von D's Reaktion ΓΝΑ:::1ΑΙ!!' (11); 'NA:::JA!Ü ' (14) und 'jo:hh pfhh' (24)) durchgeführt. Kompromisse müssen nicht immer eine explizite Annahme des Angebots aufweisen. Das Akzeptieren kann auch implizit dadurch signalisiert werden, daß keine weiteren Nichtübereinstimmungen folgen. 9 5 Im Transkriptausschnitt YANG 5fF folgt von D keine weitere Dissensäußerung. Stattdessen setzen Yang und A das Gespräch fort. Yang bietet im folgenden Ausschnitt einen Kompromiß zu seiner früheren Behauptung, in China sei das 'Frauenproblem' nicht sehr stark, an und vertritt nun die These, daß die Frauen und Männer bislang noch "sehr wenig darüber gedacht" haben:

94 Vuchinich (1990:127). 95 Vuchinich (1990:128).

289

YANG 33 4Yang sie haben auch sehr wenig darüber gedacht ++überlegt++ DESHALB 5 6 es gibt vielleicht in Schina ein bißehen (ruhig) in diese Problem, in die Frauen Problem, 7 das kann sein. (0.2) wir eh das meine /zweite/ 8 /mhm/ 9A: lOYang: zweite zweite Meinung, dass heißt wir können 11 noch viel viel tun. viel viel besser tun als /jetzt/ /mhm/ 12A: 13 (0.5) 14D: mhm. also ich find es probleMATISCH ehm: ich eh: weil ich eh es is ne' also du denkst vielleicht 15 Emanzipation bedeutet - Frau und Mann angleichen 16 und daß Frau und Mann gleich SEIN 17 SOLLEN, aber Emanzipation bedeutet nicht - DAS 18 fiir mich. Emanzipation bedeutet + wie sie 19 Yangs Konzcssion (6) bewegt sich auf die Position der Gegenpartei zu. Bezeichnend fiir die Konzession sind die Modalitätsmarkierungen: Yang schränkt seine Aussage zum einen durch das Modalwort 'vielleicht' ein, ferner relativiert er seine Äußerung über Frauenprobleme in China durch die Graduierung 'ein bißehen'. Auch durch das Modalverb 'das kann sein' (8) drückt er eine Vermutung aus und schränkt den Wahrheitsgehalt seiner Behauptung ein. Ein Kompromiß kann nur erzielt werden, wenn beide Seiten an der Aushandlung von Konzession und Akzeptanz mitarbeiten, d.h. der/die Opponentin muß gewillt sein, das Kompromißangebot anzunehmen. In diesem Transkriptausschnitt nimmt D das Kompromißangebot Yang's nicht an, sondern stellt eine weitere Opposition her und expandiert so die Argumentation.

8.7.3.

Wechsel der Aktivität

Argumentative Gespräche im informellen (nicht institutionellen) Kontext zeichnen sich dadurch aus, daß sie verschiedene andere kommunikative Aktivitäten inkorporieren können, keinen vorstrukturierten Ablauf haben und sich thematisch vom 'Hundertsten ins Tausendste' 96 entwickeln können. So entwickelt sich beispielsweise die Argumentation über die Verdaulichkeit des chinesischen und deutschen Essens (YANG 3ff.) in ein Gespräch darüber, ob in China auch Männer kochen. A entgegnet auf Tan's und Yang's Behauptung, daß das chinesische Essen "nicht so schwer im Magen liege", daß das chinesische Essen 'zuviel ö l ' habe. Daraufhin vertritt Tan die Position, daß Butter 'noch schlimmer' sei: YANG 3ff34Tan: Butter is noch schlim/mer /(0.2) A: /mhm/ 96 Knoblauch 1989-

290 35 36D: 37 38Tan: 39D: 40 4lTan: 42D: 43A: 44 45 46

oder? ((hohe Stimme)) < ich weiß es nich. ne. bin ich mir nich so sicher.» *mhm* kannst du auch kochen? (0.5) /(schon)/ /ja'/ ++ich glaub++ in Kina kochen die Männer auch so viel wie die Frauen, oder? is kein Unterschied. in einer Küche' - /beide/

D a auf D's abgeschwächte Nichtübereinstimmung (36-37) kein weiterer Dissens von seiten Tan's geäußert wird (ihr leises 'mhm' signalisiert, daß sie die Möglichkeit einerweiteren Nichtübereinstimmung verstreichen läßt), fuhrt D einen Aktivitätswechsel durch, der zwar inhaltlich an das bisherige Thema (Essen) anknüpft, doch einen neuen Rahmen initiiert. Die Argumentation um die Beteiligung der Frauen am Haushalt (YANG 5ff.) mündet in die Darlegung eines Beispiels aus Tan's eigener Erfahrung: 37Tan: 38 39 40D: 41 Tan:

/doch doch/ wenn ich wenn ich auch das ++ wenn ich auch ganz M Ü D E bin dann (0.2) ja. sag ich /auch/ /mhm / HM! heute will ich gar nichts machen

D und A greifen daraufhin die Verallgemeinerbarkeit der im Beispiel dargelegten Situation an: 42D: 43A:

aber es is A U S N A H M E . aber /wenn/ du das IMMER sa/gen/ wür/dest/

Doch Tan verteidigt den Status ihres Beispiels und berichtet von einer Diskussion mit ihrem Mann, wobei der Mann vorschlägt, Haushaltsgeräte (Spülmaschine und Kühlschrank) zu kaufen, damit Tan mehr Zeit fur sich habe: 52Tan: 5 3 Yang: 54Tan: 55D: 56Tan: 57 58 59 60D: 61TAN: 62D:

bei bei bei uns heißt das /eh mei mei mei Mann hat auch einmal/ /( ·)/ mit mir disKUTIERT. da/nn/ worüber denn? /mhm/ ja. eh. ((räuspert)) er sagt. ja. (0.5) wir brauchen später auch nich soviel eh: Z'ZEIT fur Haushalt, und ich sag hh1 nei:n (0.3) warum denn nich so viel' ich glaube scho:/ n. de de/

/HA/

291

63 64 65D: 66Tan: 67D: 68Tan: 69D: 70Tan: 71

a' aber s' eh die meisten können, schon, von den Maschinen gemacht werden, /ja/ /mhm/ wir KAU/FEN/ und: Spülmaschine, Kühlschrank /ah'/ und all/ES/. dann kann' kannst du auch h' mehr Zeit habn. /mhm/ fiir diese Arbeit, deine Studium und so was, auch auch fur fur Spielen, fur uns=

Oie Diskussion wird stark animiert und lokal inszeniert. Mit der Darlegung der persönlichen Erzählung ändert sich auch der Partizipientenrahmen (participant framework) und damit das 'footing' 97 : Tan wird sowohl zur Erzählerin, die einen rekonstruierten Dialog zwischen dem Ehemann ('er') und der Ich-Figur inszeniert als auch zur Protagonistin des dargebotenen 'Minidramas'. Die anderen Gesprächsteil nehmer sind nun Rezipienten der Darstellung. Im Laufe der Erzählung ändert sich auch die thematische Ausrichtung: Von der Haushaltsorganisation zur Beziehung zur Schwiegermutter, die fur Tan und den Ehemann kocht. Schließlich wirft D die Frage auf, weshalb die beiden denn nicht bei Tan's Eltern wohnen: 7D: 8

warum seid Ihr denn nicht zu DEINEN Eltern gezogen? is des normal daß die Frau immer zu den=

Auf diese Weise hat sich eine thematische Neuorientierung ergeben. Statt die ursprüngliche Questio (wie stark beteiligen sich Männer am Haushalt) weiterzuverfolgen, diskutiert man nun ein neues Thema: Wohnungsprobleme in China. Diese Art des Übergangs von argumentativen Sequenzen in andere kommunikative Aktivitäten und Gattungstypen (persönliche Erzählungen, Unterhaltung, Informationsaustausch, Belehrungen etc.) ist im Gespräch YANG sehr verbreitet. Die gerade noch diskutierte Questio wird fur einen Moment beiseite gelegt, um entweder später wieder darauf zurückzukommen oder um den strittigen Punkt ein fiir allemal zu vergessen. Voraussetzung fur den Wechsel der Aktivität ist jedoch, daß sämdiche (bzw. die Mehrheit der) Interagierenden diesen Wechsel gemeinsam anerkennen und die neue Aufmerksamkeitsausrichtung akzeptieren.98 Stan eines 'sanften' Übergangs in ein neues Thema bzw. eine neue Aktivität kann jedoch auch ein abrupter Rahmenwechsel initiiert werden. Im folgenden Beispiel fuhrt Tan (Zeile 4) einen Rahmenbruch durch, indem sie einen unerwarteten Aspekt aus A's Äußerung aufgreift und zum Fokus ihrer Frage macht: Persönliche Informationen werden eingeholt. YANG 19 91A: oder müssen hh' - eh ++ ich habs in Tibet 92 gesehn++, sie müssen Steine gießen, 97 Zum 'footing'-Konzepc siehe Goffman 1979. 98 Hierzu auch Kallmeyer (1978:193).

292 93 94 95 96 97 98 99 ITan: 2A: 3 4Tan: 5A: 6 7 8Tan: 9Yang: 10A: 1 lYang: 12 13A: 14 15 16 17

Ziegelsteine oder'- GENAU die gleiche Arbeit wie die Männer. (0.3) wenn man die Arbcitkraft BRAUCHT, dann sagt man die Frauen können das AUCH. - und wenn man sie nich /WILL/ dann sagt man sie haben /mhm/ keine KRAFT, es - eh du siehst an anderen /Ländern/ /WARST/ DU SCHON MAL IN TIBET? ja. (0.2) un in Kina. eh hi/hi/ /ahja/ - wie heißt du? Andrea. Andrea, ah. (0.2) mhm. ich HAB ES gesehn daß daß es immer darauf ankommt, wenn (0.2) wenn in ei'm Land eh viel harte Arbeit zu machen is vom Klima her oder so, dann müssen alle Menschen zusammen JEDE Arbeit machen.

Der Rahmenwechsel vom argumentativen Diskurs zum Austausch persönlicher Informationen (Zeile 4 und 9) tritt hier ohne Vorankündigung ein. Prosodisch wird der Wechsel jedoch durch eine Erhöhung der Lautstärke markiert. Damit ein intendierter Rahmenwechsel gelingt, ist die gemeinsame Orientierung am neuen Rahmen notwendig. Im vorliegenden Fall ist der Rahmenwechsel nur kurzfristig erfolgreich: Die deutsche Sprecherin A akzeptiert ihn nur vorübergehend, um in Zeile (13) wieder zum argumentativen Diskurs zurückzukehren." Interessanterweise wechselt mit diesem Rahmenwechsel vom konfrontativen zum privaten 'footing' auch Yang's Anredeform von 'Sie' zu 'du': 'wie heißt du?' (9). Mit der späteren Reaktivierung des argumentativen Rahmens wechselt Yang zurück zum 'Sie'. Der mehrmalige Versuch von Seiten der chinesischen Teilnehmer, den argumentativen Rahmen zu beenden, um einen Wechsel zu einem persönlicheren Gespräch durchzufuhren, scheitert in diesem Gespräch immer wieder an der mangelnden Kooperation der deutschen Gesprächspartnerinnen. Diese reaktivieren immer wieder den argumentativen Diskurs. Eine weitere Art des Rahmenbruchs und damit der Beendigung der Argumentationssequenz stellt der Verweis auf die lokale Situation dar. Bergmann (1988:303) bezeichnet die Möglichkeit, in Unterhaltungen auf Objekte und Ereignisse im unmittelbaren Wahrnehmungsfeld der Interagierenden einzugehen und diese in die Handlungssituation einzubeziehen als die "lokale Sensibilität von Unterhaltungen". Gesprächsteilnehmer können ihre Aufmerksamkeit beispielsweise auf die Qualität des Kaffees, den sie 99 Zu Rahmenstreitigkeiten siehe Goffman (1986:498-499).

293

gerade trinken, das gelungene Essen des Gastgebers oder die Drolligkeit des Hundes unterm Tisch lenken. Der folgende Transkriptausschnitt zeigt, daß der Verweis auf die lokale Gegebenheit auch zur Beendigung einer argumentativen Sequenz eingesetzt werden kann. Dem Ausschnitt geht eine Diskussion über die Wohnverhältnissc in China voraus. Tan behauptet, daß die Verhältnisse auf dem Land auch so sind, daß die Mutter des Ehemanns meist den Haushalt erledigt. Yang unterstützt (88) diese Behauptung. Dann fuhrt Tan (93) einen Rahmenbruch durch, indem sie ihre Rolle als Gastgeberin aktualisiert: YANG 9 88Yang: 89A: 90Yang: 9ITan: 92A: 93Tan: 94Yang: 95Tan: 96Yang: 97 98Tan: 99 lYang: 2Tan: 3D:

auf dem Land auch so. /(+ daß die /Eltern*) /die Haushalt/ sitz doch /BITTE!/ /warum?/ hast du gegessen oder? gut. wie bine? hast du noch nicht /gegessen?/ /( )/ (0.3) Brot hab ich noch, aber aber Reis Reis eh Reis hast du /auch?/ /ja/ hab ich schon, (gegessen). uh:hum. meinst du kriegst erst in einer Stunde Hunger?

5 6Tan: 7D: 8 9 lOTan: 11 Yang: 12Yang: 13D/A: l4Yang: 15D:

hast D U schon gegessen? ja. ich habe G E R A D E gegessen. grad wir gekommen sind. warst du in der Küche ne? (0.2) mhm. ich bin noch nicht ins Zimmer gegangen und eh /hh' / /also/ Sie sind auch von der Universität? ja. ja. studieren (auch hier?) mhm.

4

(0.2)

Mit dem Imperativ 'Sitz doch BITTE!' fuhrt Tan einen reflexiven Rahmenbruch durch und nimmt auf den lokalen Zustand Yang's Bezug. A's Frage (92) 'warum?' betrifft noch den vorherigen Diskussionsrahmen, doch das Nichteingehen auf ihre Frage kontextualisiert die Orientierung der Gesprächsteilnehmer am neu etablierten Rahmen. Tan verfestigt nun diesen Rahmen (Bezug auf den momentanen Kontext: Gast und Gastgeberin) und stellt eine fiir chinesische Gastgeber-Verhältnisse notwendige, konventionalisierte Frage: "hast D U gegessen oder?" (5). Auch hier sind gewisse Konflikte bei der Etablierung eines neuen Rahmens zu erkennen. Während A noch versucht, den alten Rahmen (Diskussion um die Haushaltsführung in China

294

und Unterschiede zwischen Stadt und Land) beizubehalten, orientieren sich Tan und Yang am neuen Rahmen. Um von einer Argumentation in eine neue Aktivität überzuwechseln, reicht also die Initiierung eines Rahmenwechsels nicht aus, vielmehr ist die gemeinsame bzw. mehrheitliche Orientierung an der neuen Aktivität erforderlich. Auffallig am Gespräch YANG ist die unterschiedliche Bereitschaft, den argumentativen Rahmen zu beenden: Während von chinesischer Seite weitaus mehr Kompromißangebote, Zugeständnisse und Rahmenwechsel initiiert werden, verharren die deutschen Sprecherinnen in der argumentativen Aktivität. Bei Zugeständnissen thematisieren sie Widersprüche zur früheren Position, Kompromißangebote weisen sie häutig zurück, und einen Aktivitätswechsel akzeptieren sie nur vorübergehend. Dies spiegelt auf Diskursebene die im Interview geäußerten unterschiedlichen Erwartungen an das soziale Zusammentreffen wider.

Zusammenfassung Die Analyse des Gesprächs YANG verdeutlicht zum einen, daß es durchaus Ähnlichkeiten zwischen den deutschen und chinesischen Interagierenden in der interaktiven Handhabung des Aktivitätstyps Argumentation gibt: Dissens fuhrt zur Stütze der Behauptung, Quellen werden herangezogen, und man geht Koalitionen ein. Dennoch weisen die chinesischen und deutschen Sprecherinnen unterschiedliche Gesprächsstile und Kontextualisierungshinweise auf. Diese betreffen vor allem die Organisation von Dissens. 1st einmal ein argumentativer Rahmen etabliert, so produzieren die deutschen Gespächsteilnehmerinnen Nichtübeieinstimmungsformate, die keineswegs dispräferierte Formen annehmen und dem Gegenüber die Möglichkeit zur Selbstkorrektur lassen. Vielmehr zeigen sie teilweise stark antagonistische Strategien, die daraufhinzielen, die eigene Position dadurch zu stärken, daß die des Gegners unterminiert wird. Sie weisen Strategien auf, die den Dissens geradezu hervorheben, attackieren die Positionen der Opponenten direkt bzw. machen diese via 'Anti-Modelle' lächerlich, entlarven die Konsensbereitschaft des Gegenübers als inkonsistent mit dessen früherer Position und transformieren Äußerungen der Opponenten, um sie zu dementieren. Dagegen zeigen die chinesischen Sprecher/innen eine hohe Indirektheit in der Signalisierung von Dissens: Ihre Dissensäußerungen werden nicht als persönliche Angriffe formuliert, sondern als Behauptungen, deren Gegenläufigkeit häutig weder formal markiert noch maximiert ist. Der chinesische Stil (sowohl in den deutschsprachigen als auch den chinesischen Daten) zeichnet sich durch gesichtsschonende und konsensbereite Strategien aus und bestätigt damit die in Kapitel 3 vorgestellten Interaktionsprinzipien zur Vermeidung direkter Konfrontation. 100 Die chinesischen Kontrolldaten weisen zwar auch

100Hier soll jedoch keineswegs behauptet werden, da ß deutsche Sprecherinnen in allen Kontexten konfrontativer sind und ihren Dissens unabgeschwächter zum Ausdruck bringen als chinesische. Im vorliegenden Gespräch ist dies zwar der Fall, und auch die anderen Gespräche in meinem Korpus, die argumentative Sequenzen beinhalten, bestätigen diese Beobachtung. Doch sind die Ergebnisse nicht ohne weiteres zu verallgemeinern. Dafür wären weitere Argumentationsanalysen in verschiedenen Kontexten mit Gesprächsteilnehmerinnen verschiedener Bekanntheitsgrade notwendig. Es kann durchaus der Fall sein, daß chinesische Gesprächspartnerinnen in anderen

295 Oppositionsstrategien (Oppositionsformate, Umfokussierungen und Zitieren fremder Rede) auf, doch wird Dissens von den chinesischen Sprechern (Gespräch LIANG) sehr viel abgeschwächter und damit weniger konfrontativ signalisiert. Die Nichtübereinstimmungen zeichnen sich auch hier durch einen sehr viel indirekteren und gesichtsschonenderen Stil aus: Lange Zugeständnisse werden dem Dissens vorgelagert und die Angriffe mit starken Abschwächungen produziert. Ferner zeigen sich Unterschiede in der direkten Bezugnahme auf die Gesprächspartner: Während die deutschen Sprecherinnen diese zur persönlichen Attacke einsetzen, zeigen die chinesischen Sprecherinnen durch direkte Anrede vor allem ihre Konsensbereitschaft und Unterstützung. Weitere Unterschiede betreffen mögliche Stützen der Argumentation: Die chinesischen Sprecherinnen verwenden häufig Sprichwörter und 'man sagt ...'-Konstruktionen, um die eigene Position in Einklang mit der allgemeinen Meinung zu präsentieren, während die deutschen Sprecherinnen die allgemeine Meinung 'man sagt...' vor allem als Anti-Position zitieren, um sich davon abzugrenzen. Auch zeigen die chinesischen Interagierenden eine größere Bereitschaft zur Beendigung des konfrontativen Rahmens, indem sie immer wieder Kompromisse anbieten, Zugeständnisse machen und Versuche starten, zu einem persönlichen Gespräch überzugehen. Bei der Analyse wurde auch die Frage nach lernersprachlichen Auswirkungen auf die Kommunikationsstrategien der chinesischen Sprecher aufgeworfen. Ein wesentlicher Unterschied zwischen den Muttersprachlerinnen und Lernenden zeigt sich im Bereich der Kohärenzbildung: Während die deutschen Sprecherinnen die Vorgängeräußerung häufig strategisch nutzen, um die eigene Argumentationslinie daran anzubinden, haben die chinesischen Lernende gewisse Schwierigkeiten mit der lokalen Anbindung ihrer Äußerung. Eine kohärente, lokale Anbindung an die vorherige Äußerung erfordert einerseits gute rezeptive Fähigkeiten (Hörverständnis) in der Fremdsprache, sowie Kenntnisse der Kontextualisierungskonventionen in der Zielsprachenkultur (zur situationsadäquaten Interpretation der Vorgängeräußerung) und andererseits die Fertigkeit, Elemente der Vorgängeräußerung 'kreativ' in die eigene Äußerungsplanung einzubeziehen. Da jedoch im traditionellen Fremdsprachenunterricht diese interaktiven Fertigkeiten nicht geübt (meist werden isolierte Sätze und nicht etwa dialogisches Kommunizieren gelernt) und die erforderlichen Redemittel (Gliederungssignale, Gesprächssteuerungsformeln, Routineformeln101 und sonstige Formen lokaler Anbindung) nicht vermittelt werden, tun sich Lernende in natürlichen Situationen mit der lokalen Anbindung ihrer Äußerungen schwer.102 Darüberhinaus finden sich auch im Gespräch YANG zahlreichen Diskursstrategien, die bereits detailliert in den vorangegangenen Kapiteln zur chinesischen Diskursorganisation (Darlegung der Hintergrundinformation, bevor die Hauptthese geäußert wird), zum Einsatz von Sprichwörtern sowie zum Rezipientenverhalten diskutiert wurden.

Situationen, z.B. unter engen Freundinnen bzw. Verwandten oder aber unter Fremden sehr wohl auch Dissens offener und weniger gesichtsschonend signalisieren. 101 Hierzu auch Coulmas 1986. 102 Siehe auch Kotthoff 1989.

296 Die Analyse dieses Gesprächs verdeutlicht, wie unterschiedliche Diskursstile und Kontextualisierungskonventionen selbst unter Personen, die vom Alter (zwischen 25 und 30 Jahre) und sozialen Status (Student/innen) einander nahestehen und durchaus Interesse am gegenseitigen Kennenlernen hatten, interkulturelle Begegnungen erschweren, zu Konflikten, Enttäuschungen und zum Abbruch des Kontaktes fuhren können. Die mit Tan und Doris im Anschluß geführten Gespräche bestätigen insofern die Ergebnisse der Detailanalyse, als sie zeigen, daß das Interaktionsverhalten des Gegenüber auf der Basis eigener kultureller Normen und Konventionen interpretiert und bewertet wird. Unterschiedliche Kommunikationsstile werden den einzelnen Teilnehmern angelastet: Die Gesprächspartner werden als 'langweilig', 'uninteressant', 'ohne eigene Meinung' bzw. 'grob', 'aggressiv' und 'unhöflich' abgewertet, und private Kontaktversuche scheitern. Die Konsequenz ist nicht selten die Isolation von Angehörigen kultureller Minderheiten.

9.

Zusammenfassung der Analyseergebnisse Mögliche Konsequenzen fur den Fremdsprachenunterricht

Die Analyse deutsch-chinesischer Kommunikationssituationen verdeutlicht, daß Kultur, kulturelle Zugehörigkeit und Differenzen keine vom Interaktionsprozeß losgelösten Entitäten darstellen, sondern in der Interaktion von den Teilnehmern konstruiert und bestätigt werden. Soziokulturelle Konventionen und die damit verbundenen Wissensvorräte sind eng mit der kommunikativen Aushandlung verbaler Aktivitäten verbunden: Das Zusammentreffen syntaktischer, prosodischer und lexikalischer Elemente zur Signalisierung bestimmter Informationen ist ebenso kulturgebunden wie der Inferenzprozeß, der unsere Interpretationen leitet und auf dem Zusammenspiel von kulturellem Wissen und sprachlich-diskursiven Phänomenen basiert. Als Mitglied einer Kultur verfugen wir über bestimmte Konventionen zur Signalisierung interaktiver Bedeutung und zur Interpretation kommunikativer Zeichen. Teilen wir diese Konventionen mit unseren Gesprächspartnern, so gelingt die gemeinsame Aushandlung verbaler Aktivitäten meist problemlos; verfugen wir jedoch über unterschiedliche Konventionen, so wird das Aushandeln interaktiver Bedeutung erschwert, Verständigungsprobleme und Dissonanzen kommen auf. Der Untersuchungsgegenstand - die Aushandlung interaktiver Bedeutung in interkulturellen Kommunikationssituationen - erforderte die Entwicklungeines methodischen Instrumentariums, das sowohl kulturspezifischen Interaktionskonventionen als auch der Kontextbezogenheit sprachlicher Aktivitäten gerecht werden konnte. Anhand einer ethnographisch ausgerichteten interpretativen Soziolinguistik - mit Anleihen aus der Ethnographie der Kommunikation und der Konversationsanalyse - und des Ansatzes der Kontextualisierung wurden Grundzüge einer interpretativen Analyse interkultureller Kommunikation erarbeitet. Diese ermöglichte die Beschreibung des Zusammentreffens von Aspekten kulturspezifischen Interaktionsverhaltens, Techniken der lokalen Gesprächsorganisation und sprachlichen Phänomenen, die im situativen Kontext bestimmte Informationen übermitteln und den Inferenzprozeß leiten. Mit der in dieser Arbeit verwendeten Methodologie der interpretativen Analyse interkultureller Kommunikation bekommen sozialwissenschaftliche und anthropologische Kategorien der interkulturellen Begegnung eine empirische Basis. Die Relevanz von Phänomenen der Begegnung mit dem 'Fremden', der Kommunikation 'unter erschwerten Bedingungen', der 'Undurchschaubarkeit' des Gegenüber, des Nichtverstehens, "worauf der andere eigentlich rauswill", konnte anhand authentischer Kommunikationssituationen nachgewiesen und an spezifischen Diskursphänomenen festgemacht werden. Dabei wurde aufgezeigt, wie sprachliche Strukturen als relevante Ressourcen zur Interaktionsorganisation eingesetzt werden und welche interaktiven Konsequenzen kulturell divergierende Konventionen zur Signalisierung interaktiver Bedeutung haben. Die einzelnen Schritte der empirischen Analyse lassen sich folgendermaßen resümieren: Kapitel 4 verdeutlichte, daß diejenigen Verständigungsprobleme, die von den Interagierenden thematisiert werden, einerseits auf lcrnersprachliche Ursachen (Syntax-, Aussprache- und Lexikonprobleme) und andererseits auf unterschiedliche soziokulturelle Verstehenspraktiken bestimmter Begrifflichkeiten zurückzufuhren sind. Die aufgrund asymmetrisch verteilter Sprachkompetenzen häufig einsetzenden Reparatursequenzen erschweren einen 'reibungslosen' Verlauf

298

der Interaktion. Die Techniken zur Verständnissicherung verweisen auf ein Präferenzsystem: Implizite und gesichtsschoncnde Strategien der Korrekturaufforderung werden von den chinesischen Gesprächsteilnehmern bevorzugt, explizite Techniken werden erst dann eingesetzt, wenn die impliziten erfolglos geblieben sind. Die Interagierenden sind bemüht, die Verstehensprobleme möglichst genau zu lokalisieren und die Reparaturnebensequenz so schnell wie möglich zu beenden, um den Hauptfluß des Gesprächs fortzufuhren. Doch nicht alle Verstehensprobletne werden thematisiert: Häufig 'geben' die Rezipienten Verstehen lediglich 'vor', in der Hoffnung, daß sich im weiteren Verlauf des Gesprächs Verstehen einstellt. Situationen interkultureller Kommunikation erfordern - aufgrund der asymmetrisch verteilten Sprachkompetenz und des unterschiedlichen soziokulturellen Hintergrundwissens - eine größere Unbestimmtheitstoleranz von den Beteiligten: Die Reziprozität der Perspektiven muß ständig neu überprüft und ihre Grenzen abgesteckt werden. Kapitel 5 führte unterschiedliche Kontextualisierungshinweise im Bereich der Diskursorganisation vor Augen: Verschiedene Arten der Informationsdarlegung, der Signalisierung gegebener und neuer Informationen, der Kennzeichnung bestimmter und unbestimmter Referenten sowie unterschiedliche Techniken der Kohäsions- und Kohärenzbildung. So zeichnen sich die Äußerungen der chinesischen Gesprächsteilnehmer durch sprachliche Verfahren aus - wie Topik-Konstruktionen und 'Tilgungen' grammatischer Kategorien - , die im Chinesischen geläufige Diskursstrategien repräsentieren, doch im Deutschen zu Kohäsionsstörungen fuhren. Ferner präferieren chinesische Sprecher/innen Diskursstrategien, wobei zunächst die Hinteigrundinformationen dargelegt werden, bevor die Hauptthese präsentiert wird. Deutsche Sprecher/innen dagegen, die meist zuerst die zentrale Aussage vorstellen, um sie anschließend - sofern nötig - zu begründen, werden angesichts des chinesischen Stils häufig ungeduldig, unterbrechen die chinesischen Interagierenden und beurteilen diesen Stil als 'undurchschaubar' und 'zirkulär'. Um mit Angehörigen einer fremder Sprechgemeinschaft zu kommunizieren, ist nicht nur ein Wissen hinsichtlich der betreffenden Sprechstile und Prinzipien der Diskursorganisation notwendig, sondern - so die Analyse in Kapitel 6 - auch ein Wissen über die jeweiligen Rezipientenkonventionen. Die chinesischen Rezipienten äußern weit weniger Hörersignale als ihre deutschen Partner. Diese unterschiedlichen Kontextualisierungskonventionen bzgl. der Signalisierung aktiver Zuhörerschaft, fuhren zu Fehlinterpretationen auf Seiten der deutschen Sprecher: Diese interpretieren das 'Ausbleiben erwartbarer Hörersignale* als Zeichen von Verstehensproblemen und fuhren folglich Korrekturen ihrer Äußerungen auf sprachlich einfacherem Niveau durch, oder sie interpretieren dies als Ankündigung einer Nichtübereinstimmung und leiten folglich Abschwächungen ihrer Behauptungen ein. Doch unterscheiden sich chinesische und deutsche Rezipienten nicht nur in Hinblick auf die Häufigkeit der Hörersignale, sie verwenden auch andere Formen: Während die deutschen Rezipienten meist 'mhm' oder 'ja' äußern, sind auf Seiten der chinesischen Hörer zahlreiche Echo-Techniken zu beobachten, die von chinesischen Interagierenden als Zeichen von Respektbekundung und Höflichkeit verstanden werden. In Kapitel 7 wurden Unterschiede im Bereich der Funktion, Struktur und stilistischen Einordnung kommunikativer Gattungen am Beispiel sprichwörtlicher Redensarten diskutiert. Während im chinesischen Diskurs sprichwörtliche Redensarten häufig zur Stütze von Behaup-

299 tungcn und Verhaltensweisen eingesetzt werden, um auf diese Weise die eigene Meinung bzw. das eigene Verhalten als Teil kodifizierter Weisheiten und Maximen zu präsentieren, sind im deutschen Diskurs (zumindest unter Akademikerinnen und Akademikern) Sprichwörter als Belege eher unüblich. Ein Einblick in die chinesische Rhetorik verdeutlicht, daß Sprichwörter und Zitate anerkannter Meister wichtige Bestandteile der Argumentation verkörpern und darüberhinaus als Zeichen 'lebendiger Sprache' und 'guter Erziehung' gelten. Die exemplarische Analyse eines Einzelgesprächs in Kapitel 8 verdeudichte, wie unterschiedliche Gesprächsstile interkulturelle Begegnungen erschweren und zum Abbruch des Kontaktes fuhren können. Neben den bereits genannten Phänomenen zeigten die Gesprächsteilnehmer auch Unterschiede in der Handhabung argumentativer Aktivitäten. Während die deutschen Sprecherinnen Nichtübereinstimmungen innerhalb eines argumentativen Rahmens geradezu hervorheben, die Position des Gegenüber sehr direkt attackieren und gelegentlich parodieren, zeichnet sich der Argumentationsstil der chinesischen Teilnehmer durch starke Indirektheitsstrategien und Konsensbereitschaft aus: Nichtübereinstimmungen werden abgeschwächt (bzw. werden inhaltlich nichtübereinstimmende Äußerungen nicht als Dissensaktivitäten kontextualisiert), der Oppositionscharakter wird häufig minimiert, Kompromisse werden angeboten und zahlreiche Versuche unternommen, den argumentativen Rahmen zu beenden. Neben der unterschiedlichen Konfrontationsbereitschaft zeigen sich auch Unterschiede in bezug auf mögliche Stützen der Argumentation: 'Man sagt...'-Konstruktionen stellen bei den chinesischen Sprechern die eigene Meinung als Teil einer allgemein-gültigen Position dar (ähnlich den Sprichwörtern), während die deutschen Sprecherinnen 'man sagt ...'-Positionen zitieren, um diese als Anti-Modelle abzulehnen. Die empirischen Detailanalysen bestätigen auf der Mikroebene des Gesprächs einige der zentralen Thesen Schütz' (1972) zur Begegnung mit dem 'Fremden': Die kulturspezifischen Orientierungsmuster, die auch in der Begegnung mit Angehörigen einer fremden Kultur angewandt werden, erweisen sich in dieser Situation nur noch als bedingt brauchbar. Sie fuhren häufig zu Auslegungen der Handlungen, die nicht mit den Interpretationen der Mitglieder der anderen Kultur übereinstimmen. Folglich treten Kommunikationsprobleme, stereotyp« Zuschreibungen und Abwertungen des Gegenübers auf. Die Ergebnisse stützen einerseits sozialpsychologische und anthropologische Thesen zu kollektivistischen und individualistischen Kulturen, bzw. zu chinesischen und westlichen Konzepten des Selbst und der Gemeinschaft und verdeutlichen andererseits, daß zahlreiche Prinzipien der chinesischen Rhetorik (Kapitel 3) auf der konkreten Ebene von face-to-faceInteraktionen aktualisiert und bestätigt werden. Gleichzeitig haben die beschriebenen Diskurskonventionen als kommunikative Ressourcen der Interagierenden eine zentrale Funktion fur die interaktive Konstruktion kultureller Identitäten und Unterschiede. Was die Diskursunterschiede und verschiedenen Kontextualisierungshinweise betrifft, so ist zu beobachten, daß die von chinesischer Seite verwendeten Verfahren keineswegs völlig 'andere' und 'fremdartige' Strategien repräsentieren. Die 'Andersartigkeit' liegt vielmehr im Bereich der Funktion und Präferenz: Bestimmte Strategien und Signale werden in einer Kultur zur Lösung bestimmter kommunikativer Aufgaben präferiert, in der anderen gelten sie hingegen als dispräfe-

300

rierte, markierte Formen: Ein Kichern in einer peinlichen Situation ist uns nicht völlig fremd, doch würden wir auf eine stark konfrontative Argumentation nicht ohne weiteres mit einem Kichern reagieren. Ein solches Kichern wäre markiert und würde u.U. die Aggressivität des Sprechers noch steigern ("Da gibt es nichts zu kichern!"). Oder was den Bereich der Indirektheit angeht, so werden bei uns in gewissen Situationen direkte Meinungskundgaben erwartet, während im chinesischen Kontext Indirektheit angemessen ist. Doch gibt es auch Kontexte, in denen Chinesen eine Direktheit zeigen, die in unseren Augen situationsinadäquat ist, beispielsweise bzgl. persönlicher Fragen nach dem Einkommen oder Familienstand. Insgesamt ist jedoch festzuhalten, daß trotz des Analyseschwcrpunkts auf den Unterschieden und Ursachen fur Mißverständnisse und Kommunikationsstörungen zahlreiche Ähnlichkeiten und Parallelen in der Handhabung kommunikativer Vorgänge (z.B. Reparatursequenzen, Koalitionsbildungen, Demonstration von Verstehensproblemen) bestehen. Ohne diese wäre interkulturelle Kommunikation von vorne herein zum Scheitern verurteilt. Die Analyseergebnisse erlauben eine erste Systematisierung der Bereiche, in denen soziokulturelle Unterschiede (bzw. Differenzen in den Kontextualisierungskonventionen) die Interaktion und damit die Aushandlung von Bedeutung zwischen Angehörigen verschiedener Kulturen erschweren:1 1. Erwartungen hinsichtlich der Gesprächssituation und den damit verbundenen Vorstellungen von situativ angemessenem Verhalten. Hierzu zählen Erwartungen in Hinblick auf den Kommunikationsablauf, mögliche Gesprächsthemen, Interaktionsstile, 'face-work'Techniken etc., die sowohl private als auch institutionelle Kommunikationssituationen betreffen. 2. Die Strukturierung kognitiver Rahmen und die Organisation von Wissenschemata. Dies betrifft kulturelle Unterschiede bzgl. der Organisation von semantischen Rahmen, Verstehensmodellen und Folktheorien. 3. Konventionen im diskurspragmatischen Bereich. Dieser Bereich umfaßt die Informationsstrukturierung, Aspekte der Organisation von Haupt- und Hintergrundinformationen, Konventionen der Kohärenz- und Kohäsionsbildung, die Kennzeichnung bereits eingeführter bzw. neuer Referenten, etc. 4. Formen und Funktionen kommunikativer Aktivitäten und Gattungen. Hierzu gehören die strukturelle Gestaltung, die situative Angemessenheit, die Teilnehmerrollen, die stilistische Einordnung sowie funktionale Aspekte von mehr oder weniger verfestigten kommunikativen Vorgängen. 5. Nonverbale und paraverbale Elemente zur Signalisierung interaktiver Bedeutung. Hierzu zählen neben Kontextualisierungskonventionen, die den Bereich der Prosodie betreffen, wie z.B. intonatorische Mittel zur Signalisierung einer Übergabe-relevanten Stelle oder 1

Diese verschiedenen Bereiche orientieren sich an den Phänomenen, die im vorliegenden Datenmaterial beobachtbar waren. Die Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern müßte anhand weiterer Untersuchungen gegebenenfalls ergänzt werden.

301 zur Kennzeichnung von Haupt- und Nebeninformationen, auch Aspekte wie die Funktion von Schweigephasen, Lautstärke, Sprechgeschwindigkeit, der Einsatz eines bestimmten Lachens zur Kontextualisierung von Peinlichkeit, sowie mimische und gestische Signale und deren interaktive Bedeutung. Erschwerend kommt in zahlreichen interkulturellen Situationen der Faktor asymmetrisch verteilter Sprachkompetenzen hinzu: Ein Teil der in Situationen interkultureller Kommunikation auftretenden Mißverständnisse und Verstehensprobleme ist nicht auf den Transfer kulturspezifischer Diskursstrategien oder Stile zurückzufuhren, sondern erwächst aus der Situation selbst, d.h. ist eine Konsequenz des Kommunizierens in einer fremden Sprache. Bezeichnend fur die interkulturelle Kommunikation ist nun, daß die hier auseinanderdividierten Bereiche in der konkreten Interaktionssituation zusammentreffen. Dabei werden Interaktionskonventionen, die einer Kultur und den damit verbundenen Wissensschemata entstammen, auf der Grundlage eines anderen Systems von Interaktionskonventionen interpretiert und bewertet, was zwangsläufig zu Mißverständnissen, Unsicherheiten und zur erschwerten Aushandlung interaktiver Bedeutung fuhrt.

302

Konsequenzen fur den Fremdsprachenunterricht Zwar fordert die moderne Fremdsprachenforschung, "Sprache im sozialen Kontext" aufzuzeigen, bzw. den Zusammenhang zwischen 'Sprache und Kultur' zu verdeutlichen (Vermeer 1978; Göhring 1980; Wierlacher 1980), doch gehen die Fremdsprachenforschung und -didaktik dabei meist von einem Kulturbegriff aus, der dem 19. Jhd. entstammt. 2 Kultur wird als eine vom Interaktionsprozeß losgelöste Entität betrachtet, die in Kategorien wie politische Kultur, Alltagskultur, schön-geistige Kultur etc. zerlegt wird. Die didaktische Konsequenz ist die Aufteilung in Sprachunterricht versus Landeskundeunterricht. Wie jedoch Kultur mit Sprache und Gesprächskonventionen interagiert, wie Kultur die Aushandlung von Bedeutung und die Interpretation und Bewertung eigener und fremder Handlungen beeinflußt und anhand welcher interaktiven Strategien kulturelle Zugehörigkeit und Differenzen konstruiert werden, ist bislang noch nicht Gegenstand der Fremdsprachenforschung - geschweige denn des Fremdsprachenunterrichts. Kultur und die damit verbundenen Wissensvorräte, Normen, Einstellungen etc. sind — so verdeutlicht die vorliegende Arbeit — eng mit der interaktiven Aushandlung von Bedeutung verknüpft. Dies hat zur Folge, daß die Vorgänge, nach denen wir eine Äußerung als Beleidigung oder Zeichen von Offenheit, eine Bemerkung als relevant oder irrelevant, eine Aussage als undurchschaubar oder als subtil und höflich interpretieren, selbst wiederum von kulturellen Präsuppositionen abhängig sind. Mißverständnisse, die in Situationen interkultureller Kommunikation aufgrund unterschiedlicher Interaktionskonventionen entstehen, werden meist nicht als solche erkannt, sondern häufig als Zeichen persönlicher Schwächen interpretiert (der/die Ge-· sprächspartnerln gilt als 'aggressiv', 'unzivilisiert', 'unhöflich' bzw. als 'oberflächlich', 'undurchschaubar', 'ohne individuelle Züge', etc.) oder aber in Zusammenhang mit existierenden Stereotypen über Angehörige der betreffenden Kultur gesehen (Chinesen sind 'rätselhaft und undurchschaubar'; Deutsche sind "grob und unhöflich"). D.h. fälsche Kontextualisierungshinweise haben mitunter gravierendere Auswirkungen auf den Erfolg eines Gesprächs als typische Grammatikfehler, die als 'Lernerprobleme' relativ leicht erkennbar sind. Diese erschweren zwar den Interaktionsverlauf und produzieren eine Asymmetrie zwischen Muttersprachler und Lerner, doch fuhren sie in der Regel nicht zur negativen Beurteilung des Gesprächspartners als Person. Eine Möglichkeit, Mißverständnissen, Kommunikationsstörungen und Frustrationen in der interkulturellen Kommunikation entgegenzuwirken, liegt meiner Ansicht nach in der Einbeziehung der Ergebnisse empirischer Forschung in den Fremdsprachenunterricht. Diese Einbeziehung ist jedoch keineswegs direkt oder gar in Form von Rezeptwissen möglich. Die Interpretationen von Kontextualisierungshinweisen, die Effekte von Intonationsmustern oder die Situationsangemessenheit bestimmter Rezipientenreaktionen sind sehr viel schwieriger zu ermitteln und didaktisch umzusetzen als dies bei sprachlichen Phänomenen der Fall ist, die stärker vom Kontext zu lösen sind. Dennoch sehe ich gewisse Möglichkeiten fur interkulturelle Trainingsprogramme, die - ähnlich wie das Cross-Talk-Projekt (Gumperz et al. 1979) oder das DevelopingAwareness-Skills-Projekt (Gumperz et al. 1980) - primär darauf angelegt sind, die Teilnehmer/innen fur kulturspezifische Gesprächskonventionen zu sensibilisieren. Zur Organisation solcher 2

Hierzu auch Gumperz 1988a.

303 Trainingsprogrammc fur den Fremdsprachcnunterricht wären m.E. folgende erste Umsetzungsschritte möglich: 3 a. Erstellung und Auswertung von Gesprächen in interkulturellen und intrakulturellen Kontexten. 4 Hierfür sind Video- und Bandaufnahmen natürlicher und vorgegebener Kommunikationssituationen in privaten (z.B. eine Essenseinladung bei einer deutschen Familie) und institutionellen Kontexten (Jobinterviews, Arztbesuch, Studienberatung, Interaktionen auf Amtern etc.) notwendig. Sinnvoll wären Videoaufzeichnungen von Interaktionen aus Lebenswelten, mit denen die Kursteilnehmer konfrontiert sind bzw. werden. Im Falle der chinesischen Studierenden wären dies Universitätssituationen, wie beispielsweise Sprechstundengespräche. b. Anhand dieser Materialien lassen sich bestimmte Kommunikationsstrategien und deren Interpretationen sowie typische Unterschiede in der Handhabung verbaler und nonverbaler Phänomene und Schwierigkeiten zwischen den Interagierenden herausarbeiten. Die Teilnehmer können in der Konfrontation mit konkreten Interaktionsvorgängen erkennen, daß Interpretationen und Bewertungen der Handlungen des Gegenüber das Resultat des Zusammentreffens kulturellen Wissens und sprachlich-diskursiver Faktoren sind. Die Art und Weise, wie im situativen Kontext syntaktische, prosodische und lexikalische Elemente zusammentreffen, um bestimmte Informationen zu übermitteln, wie Kontext aufgebaut wird, welche Inferenzen aufgrund welcher Kontextualisierungshinweise gezogen werden und welche Bewertungen aufkommen, kann nur anhand konkreter Gesprächssequenzen aufgezeigt werden. Beispielsweise könnten mittels Sprechstundeninteraktionen interkulturelle Schwierigkeiten angesprochen werden, wie: O b und wann man dem Dozenten/der Dozentin Geschenke überreichen kann; bei welchen Anliegen man die Sprechstunde aufsucht; wie die Anliegen vorgetragen werden (Direktheit, lange Einleitungsphasen, Kohärenzsignale, Eingehen auf die vorausgegangene Äußerung, Bezugnahme, Signalisierung neuer und gegebener Informationen etc.); wie Verständnisschwierigkeiten thematisiert werden; wie eine Verabschiedung signalisiert wird; wie prosodische Mittel von den Sprechern eingesetzt und interpretiert werden. c. Die einzelnen Situationen können im Unterricht bzw. Trainingsseminar wiederum in Form von Rollenspielen inszeniert werden. Als ich im Zusammenhang mit einem Deutschkurs in Shanghai Rollenspielc durchführte, bei denen die chinesischen Studierende in der Rolle der Zimmersuchenden ein Telefongespräch mit einer deutschen Vermieterin simulieren sollten, zeigten sich sehr rasch spezifische Schwierigkeiten: Diese betrafen die Anredeformen, die Präsentation des Anliegens (Direktheit, Hintergrundinformationen), Probleme, die Reaktionen der Vermieterin zu interpretieren (Zweifel? Ablehnung? normale Bedenken? Zustimmung?) und Schwierigkeiten, wie direkt nach dem Preis gefragt werden kann. Große Probleme zeigten sich auch bei der Beendigung des Gesprächs (wann

3

Die Sensibilisierung für kulturspezifische Interaktionsstrategien betrifft jedoch nicht nur Fremdsprachenlernerlnnen, die auf Interaktionen in der Zielsprachenkultur vorbereitet werden sollen, sondern auch Vertreterinnen von Institutionen, die mit Angehörigen anderer Kulturen in Kommunikation treten (sei dies nun mit chinesischen Gastdozenten im Hochschulbereich, mit Aussiedlerinnen im Betrieb oder mit japanischen Geschäftsleuten bei Wirtschaftsverhandlungen).

4

Im Falle chinesischer und deutscher Seminarteilnehmerinnen wären deutsch-chinesische Vergleichsdaten ideal.

304

beginnt die Beendigungssequenz, wie lange soll sie dauern, welche Routineformeln sind angemessen, wann kann man 'tschüß', 'auf wiederhören' sagen? etc.). D a Interaktionskonventionen und die Aushandlung von Bedeutung nur untersucht und eingeübt werden können, wenn längere Gesprächssequenzen vorliegen, in denen die Interagierenden auf die Äußerung des Gegenüber reagieren müssen, indem sie Hörersignale geben, Strategien zur Redezugübernahme und Kohäsionsbildung anwenden, ihre Interpretation der vorausgehenden Äußerungen demonstrieren und Signale zur Interpretation ihrer eigenen Äußerung geben, ist es notwendig, dialogisches Handeln ins Zentrum des Fremdsprachenunterrichts zu stellen. Immer wieder werde ich in Zusammenhang mit meiner Arbeit gefragt, inwiefern bei solch einer Untersuchung die Forderung nach 'kultureller Anpassung' mitschwinge; bzw. "sollen alle Chinesen nun kleine Deutsche werden?" - so die Formulierung eines Kollegen. Die Antwort lautet: Sicherlich nicht. Das Ziel ist vielmehr, mit Hilfe vergleichender Studien und deren Aufbereitung fur den Fremdsprachenunterricht den Lernenden einerseits kulturspezifische Interpretationen des sprachlichen Verhaltens vor Augen zu fuhren und ihnen andererseits Möglichkeiten zu eröffnen, das eigene Kommunikationsziel ohne größere Mißverständnisse zu erreichen. Aufgabe des Fremdsprachenunterrichts und interkultureller Sensibilisierungsprogramme sehe ich nicht zuletzt darin, Lernende bzw. Seminarteilnehmer fur Differenzen im Kommunikationsverhalten zu sensibilisieren, damit sie sich bewußt fur den Grad der ihnen gemäßen kulturellen Anpassung entscheiden können.

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