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German Pages 268 Year 2017
Heidrun Allert, Michael Asmussen, Christoph Richter (Hg.) Digitalität und Selbst
Pädagogik
Heidrun Allert, Michael Asmussen, Christoph Richter (Hg.)
Digitalität und Selbst Interdisziplinäre Perspektiven auf Subjektivierungs- und Bildungsprozesse
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Vorwort | 7 Digitalität und Selbst: Einleitung
Heidrun Allert, Michael Asmussen & Christoph Richter | 9
ÜBERBLICKE Bildung als produktive Verwicklung
Heidrun Allert & Michael Asmussen | 27 Wissen in digitalen Zeiten
Karl Heinz Hörning | 69 Vom Medieneinsatz zur medialitätszentrierten pädagogischen Praxis im Zwischen von Selbst und Anderem
Kurt Röttgers | 87 Die Kompetenz der Medien und die Performanz des Geistes
Jürgen Gunia | 125
EINBLICKE Die medialen Subjekte des 21. Jahrhunderts: Digitale Kompetenzen und/oder Critical Digital Citzienship
Felicitas MacGilchrist | 145 ›Selbst‹verständlich: Habitualisierung aus phänomenologischer und epigenetischer Sicht
Karolin Eva Kappler | 169 Sportlehrer*in werden Subjektivierung in Praktiken hochschulischen Lernens
Daniel Rode | 189
Learners as Chance-Seekers
Emanuele Bardone | 213 Poetische Spielzüge als Bildungsoption in einer Kultur der Digitalität
Christoph Richter & Heidrun Allert | 237 Autorinnen und Autoren | 263
Vorwort
Wir – das Team der Abteilung Medienpädagogik/Bildungsinformatik des Instituts für Pädagogik der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel – befassen uns seit mehreren Jahren mit dem Verhältnis von Digitalisierung, Selbst und Bildung sowie den diesem Verhältnis innewohnenden Dynamiken. Die hiermit verbundenen Fragen, der Relationalität, Performativität und Emergenz medialer und digitaler Phänomene, liegen quer zu etablierten Disziplinen. Uns ist es daher ein Anliegen, verschiedene Positionen aus unterschiedlichen Fachrichtungen zu diesen Themen zusammen zu bringen. So haben im Rahmen dieses Sammelbandes AutorInnen aus den Bereichen der Philosophie, Soziologie, Germanistik, Pädagogik und Psychologie Aufsätze aus ihrer jeweiligen Perspektive zum Thema ›Digitalität und Selbst‹ beigesteuert. Herausgekommen sind dabei die hier versammelten neun Beiträge, welche die pädagogische Diskussion zu Digitalität bereichern mögen. Wir möchten besonders Christine Bussian, Benjamin Kindler und Robin Matthias Scherbath, StudentInnen der Pädagogik an der Christian-AlbrechtsUniversität zu Kiel, für ihre exzellente Unterstützung, professionelle Mitarbeit und ihre konstruktiven Diskussionsbeiträge danken. Auch Herrn Dr. Lehmhaus gilt unser herzlichster Dank, da er durch seine wertvollen Kommentare und seine unermüdliche Lektoratsarbeit die Qualität des Sammelbandes in unterschiedlichen Phasen vorangetrieben hat. Zuletzt möchten wir uns noch bei allen hier versammelten AutorInnen für ihre Beiträge und beim transcript Verlag für die professionelle Zusammenarbeit bedanken.
Kiel, Juni 2017 Heidrun Allert, Michael Asmussen, Christoph Richter
Digitalität und Selbst: Einleitung H EIDRUN A LLERT , M ICHAEL A SMUSSEN & C HRISTOPH R ICHTER
V ERSTRICKUNGEN
IN DER
» DIGITALEN K ULTUR «
Ungeachtet der Feststellung, dass derzeitige gesellschaftliche Veränderungen wie etwa die Individualisierung von Lebensentwürfen, die Auflösung linearer Berufsbiographien oder die Pluralisierung von Werte- und Normsystemen durch Prozesse der Digitalisierung zumindest mitbedingt sind (vgl. Carstensen/ Schachtner/Schelhowe/Beer 2014), wird Digitalisierung in Bezug auf Bildung in weiten Teilen des öffentlichen Diskurses immer noch auf die Betrachtung digitaler Medien und Technologien als Mittel für oder Gegenstand von Lern- und Bildungsprozessen betrachtet (vgl. Dräger/Müller-Eiselt 2015). Eine, in diesem Sinne, instrumentelle Sichtweise, in der digitale Medien und Technologien vor allem als Mittel zur Verbreitung und Steuerung von Lernmaterialien und -inhalten oder aber als Werkzeuge betrachtet werden, die einen kompetenten Umgang erfordern, übergeht jedoch die tiefgreifenden Verstrickungen zwischen Mensch, digitaler Technik und Gesellschaft, die dieser Sammelband mit dem Begriff der »digitalen Kultur« adressiert. Die Verstrickung von Mensch, digitaler Technik und Gesellschaft, so unsere zentrale These, ist dabei konstitutiv. Weder individuelle noch gesellschaftliche Prozesse lassen sich ohne Bezug auf die jeweiligen Technologien in einer digitalen Kultur hinreichend verstehen. Umgekehrt ist auch die isolierte Betrachtung digitaler Artefakte ohne Berücksichtigung ihres Gebrauchs und ihrer sozialen Funktion wenig aussagekräftig (vgl. Hörning 2001: 166). Die Verstrickung in die digitale Kultur ist kein abstrakter Vorgang, sondern betrifft uns fortwährend, auch wenn wir ihr nicht permanent gewahr werden. Sie betrifft uns in der direkten Interaktion mit digitalen Medien und Werkzeugen, etwa wenn wir Texte schreiben, im Internet nach Informationen suchen, unsere Steuererklärung online ausfüllen oder mit anderen chatten. Sie betrifft uns auch dann, wenn Prozesse
10 | A LLERT , A SMUSSEN & R ICHTER digitalisiert werden, wenn die Verwaltung von Lehrveranstaltungen automatisiert wird, wenn Produktionsprozesse an Roboter übertragen oder wenn Versicherungsrisiken anhand automatisch prozessierter Verhaltensindikatoren (mit-) bestimmt werden. Unabhängig davon, ob die entsprechenden Technologien individuelle Profile ihrer Nutzer anlegen oder nicht, verändern sie unsere Erfahrungs- und Handlungshorizonte und damit auch uns selbst wie auch das kollektive Miteinander. So haben sich mit der Verbreitung digitaler Schreibwerkzeuge etwa die Ansprüche an die visuelle Gestaltung von Texten wie auch die Fehlerkultur verändert. Auch Denkweisen wie die Frage nach Autorenschaft von Schriften, wie sie mit dem Buchdruck aufkam, muss durch Projekte wie die Wikipedia, die Teil der digitalen Kultur ist, neu gestellt werden. Althergebrachte und lange nicht hinterfragte Selbstverständlichkeiten brechen auf. Eine kollaborativ arbeitende anonyme »Community« tritt an die Stelle eines einzelnen Menschen. Gemeinschaftlichkeit ist hier ein wesentliches Charakteristikum (Stalder 2016: 129ff.). Als Mittel der persönlichen Artikulation und interpersonalen Kommunikation haben sich damit Möglichkeiten und Formen, in denen wir uns darstellen und anderen begegnen können und hiermit Wissen über uns und die Welt generieren, gewandelt. Die Digitalisierung von Prozessen lagert also nicht nur Handlungsvollzüge an Maschinen aus, sondern führt zu neuen Figurationen des Individuums wie auch der Gesellschaft. Die Digitalisierung erfordert die Kategorisierung und Zuordenbarkeit von Ereignissen und Objekten und schreibt diese damit fest. Sie webt damit in gewisser Weise ihr eigenes Netz der Kategorien, Zeichen und Prozeduren. Diese existieren aber nicht losgelöst in einer »virtuellen« Sphäre, sondern sind immer schon auf die bestehenden Handlungsvollzüge bezogen. Die automatisch generierte Einstufung der Kreditwürdigkeit einer Person ist an ihr Verhalten und ihre Lebensumstände gebunden und in diesem Sinne Teil der Person und ihrer Handlungsvollzüge. Selbst das Fehlen von Informationen über eine Person kann hier als aussagekräftiges Faktum gewertet werden. Die Digitalisierung ordnet die Dinge jedoch noch vor ihrer Nutzung und der damit einhergehenden Transformation. Die konstitutive Verstrickung von Mensch, digitaler Technik und Gesellschaft läuft einer instrumentellen Sicht auf digitale Medien und Technologien zuwider, die ihren Einsatz einer rationalen und reversiblen Logik unterstellt. Der transformative Charakter der Digitalisierung und die damit verbundene Kontingenz- und Komplexitätssteigerung lässt sich am Beispiel der sogenannten Mas-
E INLEITUNG
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sive Open Online Courses (MOOCs) veranschaulichen1. Zunächst als Öffnung universitärer Lehrveranstaltungen für ein breiteres Publikum gedacht, vollzieht sich mit ihnen eine radikale Transformation der Lern- und Bildungsprozesse. Die Transformation bezieht sich dabei weniger auf die Inhalte oder das Zielpublikum, als vielmehr auf den Umstand, dass die Realisierung von MOOCs in einer digitalen Umgebung, eine Dokumentation der Aktivitäten aller TeilnehmerInnen mit sich bringt. Der Lernprozess erhält damit ein digitales Korrelat, dem eine eigene, wenn nicht die entscheidende Bedeutung zugemessen wird, wie sich sowohl im Interesse potenzieller Arbeitgeber an diesen Daten2 wie auch dem boomenden Feld der Learning Analytics zeigt. Hierdurch entstehen aber neue Abhängigkeiten − etwa für die Lernenden, die sich fragen müssen, wie etwa der vorzeitige Abbruch eines MOOCs von einem möglichen zukünftigen Arbeitsgeber bewertet werden könnte, aber auch die Hochschulen, die sich gegenüber der vermeintlichen Offenheit der MOOCs nun positionieren müssen3. Die mit der Digitalisierung einhergehenden Verstrickungen lassen sich weder mit einer technik- noch mit einer sozialdeterministischen Sichtweise hinreichend verstehen. Wo technikdeterministische Ansätze Technik »zu einer gesellschaftsbestimmenden Macht« (Belliger/Krieger 2006: 20) verabsolutieren, sehen sozialdeterministische Ansätze sie lediglich »als ein bloßes Werkzeug, das menschlichen Zwecken dient« (ebd.: 21). In diesem Band versammeln sich AutorInnen, die eine Perspektive jenseits dieser sich gegenüberstehenden Pole einnehmen und die Verstrickungen, Verwicklungen und ko-konstitutiven Verhältnisse dazwischen betrachten. Die komplexen Abhängigkeitsverhältnisse (oder besser Konstitutionsverhältnisse) − um die es in diesem Sammelband geht − lassen sich auch nicht auf die Beziehung zwischen Mensch und Technik reduzieren wie dies der Begriff der »Internetabhängigkeit« von Kindern, Jugendli-
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Für eine kritische Auseinandersetzung mit der MOOC-Bewegung siehe etwa Knox
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In die öffentliche Wahrnehmung bringt dies die diesjährige Auszeichnung mit dem
(2016). Big Brother Award in der Kategorie Bildung: https://bigbrotherawards.de/2017/ bildung-lmu-tu-muenchen. 3
Um den Daten, die generiert werden, überhaupt Bedeutung zumessen zu können, müssen zukünftige Arbeitgeber davon ausgehen, dass die Lerntätigkeiten in MOOCs überhaupt Voraussagekraft für spätere Tätigkeiten in Unternehmen haben, dass irgendetwas vergleichbar wäre, unabhängig von möglicherweise unterschiedlichen gemeinschaftlichen vs. organisationalen Werten, Normen und Praktiken.
12 | A LLERT , A SMUSSEN & R ICHTER chen und Erwachsenen suggeriert, sondern sind existenzieller Natur, da sie die Art und Weise unseres Zusammenlebens mitbestimmen4.
D IGITALE M EDIEN
UND
T ECHNOLOGIEN
Was aber ist nun das »Digitale« und wie unterscheidet es sich von anderen Medien und Technologien? In einer ersten Annäherung verweist das Digitale auf den Computer als jenes Gerät, auf dem entsprechende Medien und Technologien basieren. Ohne Computer, die Hardware, die verschiedenen Ein- und Ausgabegeräte, aber auch die Netzwerke, in denen sie miteinander verbunden sind, fehlt den digitalen Medien und Technologien ihre physische Grundlage. Im Unterschied zu physischen und auch anderen elektronischen Medien und Technologien basiert das Digitale auf der Darstellung und Verarbeitung von Informationen in einer numerischen und letztlich binären Form. Das Digitale schließt damit immer auch den Prozess der Digitalisierung im Sinne einer Übersetzung analoger Beziehungen und kontinuierlicher Prozesse in Zahlenwerte und diskrete Zustände mit ein. Das Digitale erfordert deshalb Systeme, die es ermöglichen, analogen Phänomenen eindeutige Zahlenwerte zuzuweisen und Prozesse in eine Kette gegeneinander abgrenzbarer Schritte zu zerlegen. Die zugrunde liegenden Schemata und Algorithmen sind somit auch Teil des Digitalen, ebenso wie die Software, der Programmiercode, der diese Schemata und Algorithmen in eine maschinell ausführbare Form überführt. Hinzu kommen auf technischer Ebene die Protokolle und Standards, die einerseits das Zusammenwirken von Soft- und Hardware, aber auch den Informationsaustausch in Netzwerken sicherstellen. Alle digitalen Technologien, die sich nicht auf die Abarbeitung eines formal vollständig spezifizierbaren Problems beschränken, und dies betrifft alle praktischen Anwendungsfälle, lassen sich nicht als in sich geschlossene Entitäten verstehen, sondern stehen in Beziehung zu Phänomenen oder Ereignissen der »realen Welt«, ohne die sich ihre Qualität nicht bestimmen lässt (vgl. Lehman 1980). So erweist sich etwa die Qualität eines digitalen Navigationsgerätes letztlich immer nur in seinem konkreten Gebrauch. Sein praktischer Wert basiert nicht allein auf der rechnerischen Kalkulation von Route und Dauer, sondern ebenso auf der Aktualität und Genauigkeit des Kartenmaterials, der Bestimmung des aktuellen Aufenthaltsortes sowie der Passung der zugrunde gelegten Annahmen über das zu erwartende Verkehrsaufkommen und die anzunehmende
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Die jüngste Cyberattacke im Mai 2017 mit dem Krypto-Wurm »WannaCry« veranschaulicht die hier angesprochene Form der Abhängigkeit.
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Fortbewegungsgeschwindigkeit. Aus der entsprechenden Technologien inhärenten Diskrepanz von physischer Realität und modellhafter Abstraktion ergibt sich eine dem Digitalen inhärente Entwicklungslogik, die auf eine zunehmende Passung abzielt, entweder durch eine Verfeinerung oder Ausdifferenzierung der Modelle oder aber eine Standardisierung der Anwendungssituation. Beispiele für die Standardisierung von Anwendungssituationen finden sich nicht nur dort, wo Arbeitsprozesse automatisiert werden, sondern auch dort, wo Prozesse zu ihrer besseren Organisation und Steuerung in entsprechenden Informations- und Kommunikationssystemen abgebildet werden. So setzt etwa die Kalkulation von Betreuungskosten in der Pflege eine Modellierung unter anderem des Pflegebedarfs, der relevanten Tätigkeiten, der für die Durchführung notwendigen Qualifikationen sowie der damit verbundenen Gehaltseinstufungen voraus. Die Modellierung bildet die bestehenden Prozesse dabei jedoch nicht einfach ab, sondern konstruiert sie neu, indem sie etwa eine bestimmte Zuordnung von Personen und Tätigkeiten nahelegt. Die Möglichkeit, etwas berechenbar und damit digitalen Technologien zugänglich zu machen, verändert infolgedessen in vielen Fällen bereits den Ausschnitt der Welt, den sie zu modellieren vorgibt (vgl. z.B. Floyd/Klischewski 1998). Das Digitale umfasst insofern nicht allein die Software und die Hardware sowie die Modelle, auf denen diese basieren, sondern auch die (sozial geteilten) Vorstellungen darüber, was es zu berechnen und zu formalisieren gilt. Die Digitalisierung ist damit nicht loszulösen von allgemeinen Fragen der Formalisierungs- und Steuerbarkeit sozialer, gesellschaftlicher und ökologischer Prozesse. Das Digitale ist damit letztlich auch an den Diskurs gebunden, den wir darüber führen und die Figurationen des Subjekts, die uns in diesem Zusammenhang als legitim oder illegitim erscheinen. Wie die Beispiele zeigen, bildet das Digitale keine virtuelle Parallelwelt, sondern konstituiert neue Formen der Verflechtung zwischen Individuum, Gesellschaft und Welt. Das technisch einwandfrei funktionierende Navigationsgerät ist eingebettet in verschiedene menschliche Tätigkeiten des Fahrens, des Interpretierens und situativen Aushandelns von Verkehrsregeln, der Kommunikation mit den Beifahrenden etc., die es mit konstituiert und durch die es mit konstituiert wird. Trivial erscheint, dass die Route eine andere sein könnte, wenn das Gerät nicht vorhanden wäre. Weniger trivial – aber dafür subtiler – spielt das Navigationsgerät in die Kommunikationssituationen von Fahrerin und Beifahrer, wenn z.B. die Strecke eine unbekannte ist, die Fahrerin auf die Anweisung des Gerätes angewiesen ist und damit leiser und mit mehreren Unterbrechungen mit dem Beifahrer sprechen kann. Ebenso kann das Navigationsgerät selbst Anlass für Gespräche bieten, etwa wenn sich seine Instruktionen nicht ohne Weiteres auf situative Gegebenheiten übertragen lassen oder sie den Kenntnissen oder
14 | A LLERT , A SMUSSEN & R ICHTER Einschätzungen zum optimalen Fahrtverlauf von Fahrerin oder Beifahrer widersprechen. Zumindest spielt das Gerät (genau wie alle anderen Involvierten) konstitutiv in die Situation mit hinein. Das Digitale ist damit keine isolierbare Entität, sondern in seinen Qualitäten nur in den jeweils aktualisierten Relationen zu verstehen.
D AS S ELBST ZWISCHEN A UTONOMIE F REMDBESTIMMUNG
UND
Die Annahme einer konstitutiven und dynamischen Verstrickung von Mensch, digitaler Technik und Gesellschaft wirft im Gegenzug die Frage auf, wie sich das Selbst, das Subjekt in einer digitalen Kultur verstehen lässt. Weder die klassische Vorstellung eines autonomen Subjekts noch technik- oder sozialdeterministische Konzeptionen des Subjekts werden der konstitutiven Verstrickung des Selbst in einer digitalen Kultur gerecht. Diese Positionen konzipieren, wenn auch unter je verschiedenen Vorzeichen, Subjekt und Objekt, Selbst und digitale Technik als distinkte Entitäten, die sich schon konstituiert haben bzw. konstituiert worden sind, bevor sie aufeinander treffen. Die Idee des autonomen Subjekts, als »eine irreduzible Instanz der Reflexion, des Handelns und des Ausdrucks, welches ihre Grundlage nicht in den kontingenten äußeren Bedingungen, sondern in sich selber findet« (Reckwitz 2008: 12), stilisiert das Individuum zu einem Heroen, der Kraft seiner Vernunft und Kreativität, die Bedingungen der digitalen Technologien erkennen, diese für sich nutzen oder sich von ihnen abgrenzen kann. Die Perspektive verkennt jedoch das Ausmaß, in dem die gesellschaftlichen und technologischen Bedingungen unser Denken und Handeln mitbestimmen. Sie verkennt den Umstand, dass gesellschaftliche Gefüge und digitale Technologien unsere mentalen Prozesse und Operationen reorganisieren, mit deren Hilfe wir uns mit der Welt auseinandersetzen (vgl. Pea 1987). Aber auch deterministische Perspektiven, die insbesondere in der Diskussion um Medien und Medienwirkung immer wieder eine prominente Rolle eingenommen haben, greifen zu kurz, wenn sie das Individuum auf eine ausführende Instanz reduzieren, die entsprechend der in den sozialen und/oder technischen Systemen festgeschriebenen Strukturen und Modelle handelt. Die hiermit einhergehende Haltung sieht den Menschen letztlich als ein isoliertes Individuum und passives Opfer der linear kausalen Wirkung von Technologien (vgl. Vollbrecht 2001). Je nachdem, ob eine technik- oder sozialdeterministische Sicht gewählt wird, ist nicht nur der Mensch, sondern aus technikdeterministischer Sicht auch die Gesellschaft durch die Technik und umge-
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kehrt aus sozialdeterministischer Sicht, nicht nur der Mensch, sondern auch die Technik durch die sozialen und kulturellen Bedingungen bestimmt. In beiden Fällen tritt das Selbst aber nur in seiner potenziellen Funktion für das jeweils als determinierend betrachtete System in Erscheinung und hat selbst keinen Einfluss auf dieses. Diese Perspektive negiert jedoch die Fähigkeit zu produktiver Umnutzung von Technologien wie auch die Fähigkeit und Bereitschaft zu Selbst-, Mitbestimmung und Solidarität (Klafki 1996). Als Ausweg aus dem Dilemma das Selbst entweder als autonomes Subjekt zu fassen, das aber immer schon in der Welt verhaftet ist, oder es als technisch oder sozial determiniertes Wesen zu verstehen, das aber nicht in den funktionalen Zuschreibungen vollständig aufzugehen mag, haben relationale Modelle des Selbst in den vergangenen Jahrzehnten an Zuspruch gewonnen.5 Auch Herzog schreibt in Bezug auf Jean Piaget, Helmuth Plessner und George Herbert Mead: »Das Selbst ist keine dinghafte Substanz, der Relationen lediglich akzidentiell zukämen, sondern in seiner ganzen Art relational« (Herzog 2001: 533). Entsprechend dieser Modelle sind nicht nur digitale Technologien und gesellschaftliche Strukturen, sondern auch Subjekte nur relational zu verstehen. Entgegen einer substantialistischen Sichtweise, die das Subjekt als ein fixe Entität konzipiert und auf anthropologische Grundkonstanten rekurriert, gehen relationale Ansätze davon aus, dass sich die Eigenschaften von Individuen, ihrer Handlungen und ihr Verständnis der Welt immer nur im relationalen Wechselspiel mit der sozialen und materiellen Umwelt verorten lassen. Hörning bringt dies auf die kurze Formel: »Die Welt, die wir geformt haben, formt auch uns« (2001: 166). Hiermit betont auch er das relationale Wechselspiel im Werden und Gewordensein von Selbst und Welt. Das Selbst ist aus dieser Perspektive nicht durch einen essenziellen Kern bestimmt, sondern formt sich und seine Umwelt in ständiger Interaktion. Die Person erscheint in diesem Zusammenhang weniger als eine Gewordene, sondern als eine in praktischen Vollzügen ständig Werdende. Der Begriff des Subjekts bzw. der Subjektivierung legt eine ›Außenperspektive‹6 nahe, die vor allem die soziale und historische Bedingtheit einzelner Menschen in den Mittelpunkt rückt. Das Subjekt wird in spezifischen Kontexten subjektiviert bzw. subjektiviert sich. Der Begriff des Selbst bzw. der Selbstbil5
Für einen sozialwissenschaftlich-praxistheoretischen Zugang zu einem relationalen Selbst vgl. Alkemeyer/Budde/Freist (2013). Zeitgenössische Subjektanalysen finden sich in einer Übersicht bei Reckwitz (2008) und ein historisch-rekonstruierender Zugang bei Reckwitz (2010).
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Hiermit ist nur die Perspektive und kein ontologisch-cartesianischer Schnitt zwischen einem Innen und einem Außen oder zwischen Geist und Körper gemeint.
16 | A LLERT , A SMUSSEN & R ICHTER dung legt auf der anderen Seite eine ›Innenperspektive‹ nahe, welche kontextübergreifende Faktoren berücksichtigen kann (z.B. wenn ein Mensch schlechte Laune aus Kontext A in Kontext B mitbringt).7 Als eine erste Heuristik möchten wir an dieser Stelle die Begriffe Selbst und Subjekt synonym verwenden und die unterschiedlichen Perspektivierungen damit aufweichen, da aus der relationalen Sichtweise zwar immer nur Ausschnitte scharf gestellt werden können, aber grundsätzlich alle Relationen – sowohl ›innen‹ als auch ›außen‹ – konstitutiv sind.
S UBJEKTIVIERUNG
UND DIE
M ÖGLICHKEIT
DER
B ILDUNG
So plausibel eine relationale Sichtweise auf Mensch, digitale Technik und Gesellschaft auch ist und so anschlussfähig sie für die Sozial-, Kultur- und Medienwissenschaften ist, so birgt sie eine aus pädagogischer Sicht zentrale Problematik: Definitionen des Bildungsbegriffs, wie etwa die von Klafki (1996), die Bildung im »Erschlossensein einer dinglichen und geistigen Wirklichkeit für einen Menschen« wie auch im »Erschlossensein dieses Menschen für diese seine Wirklichkeit« verorten, legen ein relationales Verständnis nahe. Wird aber die Annahme eines autonomen Subjekts aufgegeben und das Subjekt als immer schon in die Welt verwoben gefasst, werden auch klassische Konzepte der Reflexion und der Kritik unterlaufen und müssen neu verhandelt werden (siehe hierzu auch den Beitrag von Heidrun Allert und Michael Asmussen in diesem Band). Damit stellt sich aber die Frage, wie Bildung, die Auseinandersetzung mit dem Anderen und dem Fremden verstanden werden kann. Anders formuliert: Wenn Mensch, digitale Technik und Gesellschaft nur in Relation zueinander ihre jeweiligen Qualitäten besitzen, bleibt offen, wie Widerständigkeit, Eigensinn und Eigenwilligkeit sowohl der Menschen wie auch der Dinge (vgl. Kalthoff/Cress/Röhl 2016) möglich sind. Vertreter praxistheoretischer Positionen haben argumentiert, dass sich mit einer relationalen Sichtweise ein kokonstitutiver Raum eröffnet, der Platz für Subjektivierungsprozesse schafft, die sowohl soziale und gesellschaftliche Bedingungen einschließen, als auch Eigensinn, individuelle Möglichkeiten oder kreatives Andershandeln in konkreten Situationen und Kontexten ermöglicht (z.B. Alkemeyer 2013, Alkemey-
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Mit dieser Sichtweise folgen wir lose der Differenzierung einer Theaterperspektive und einer Teilnehmersicht von Alkemeyer (2013), Alkemeyer/Buschmann/Michaeler (2015) und Alkemeyer/Buschmann (2016) ohne jedoch die methodologischen Konsequenzen zu teilen oder an dieser Stelle diskutieren zu wollen.
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er/Buschmann/Michaeler 2015, Alkemeyer/Buschmann 2016). Wie jedoch Eigensinn, Widerständigkeit, Suchbewegungen und kreatives Andershandeln theoretisch gefasst und empirisch beobachtet werden können, ohne sich dabei wieder auf ein zumindest teilautonomes Subjekt zu stützen, das sich seinen praktischen Verstrickungen entziehen und zu diesen Distanz aufbauen kann, ist Gegenstand anhaltender Diskussionen, zu denen die Pädagogik als Disziplin in besonderer Weise beitragen kann. Sie ist zentraler Ausgangpunkt dieses Sammelbandes. Es sind jedoch nicht nur Bildungsprozesse, sondern in einem weiteren Sinne Subjektivierungsprozesse, die in der relationalen Sichtweise auf Mensch, digitale Technik und Gesellschaft, beachtenswert sind. Die vorliegenden Beiträge rekonstruieren zum einen die Verstrickungen zwischen Mensch, digitaler Technik und Gesellschaft im Rahmen von Prozessen des Lernens und der (Selbst-)Bildung. Zum anderen zeigen sie theoretische Zugänge auf, die es ermöglichen Eigensinn, Widerständigkeit und kreatives Andershandeln innerhalb der relationalen Verstrickungen zu verorten und eröffnen damit neue Zugänge für das Verständnis von Bildung und Subjektivierung in einer digitalen Kultur.
ZU
DEN EINZELNEN
B EITRÄGEN
Auch wenn dieser Sammelband in der Reihe ›Pädagogik‹ erscheint und mit Subjektivierungs- und Bildungsprozessen in der digitalen Kultur ein (medien-) pädagogisches Thema adressiert, ist der hier gewählte Zugang bewusst interdisziplinär gewählt. Hiermit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass Fragen der Medienpädagogik und -bildung eng mit den Entwicklungen in anderen medienbezogenen Wissenschaften verknüpft sind und gleichzeitig in diese zurückwirken. ForscherInnen aus den Bereichen Philosophie, Soziologie, Psychologie, Germanistik und Medienpädagogik verhandeln aus ihrer jeweiligen Perspektive das Thema des Sammelbandes und die sich hieraus ergebenden pädagogischen Implikationen. So werden insgesamt – neben verschiedensten inhaltlichen Facetten – auch verschiedene theoretische und methodische Angebote gemacht, mit denen aktuelle Phänomene einer digitalen Kultur betrachtet und analysiert werden können. Durch die Zusammenschau verschiedener wissenschaftstheoretischer und methodischer Zugänge möchten wir einerseits ein erweitertes Verständnis von digitalen Technologien in der Pädagogik befördern und andererseits auf die Relevanz pädagogischer Beiträge jenseits disziplinärer Grenzen hinweisen.
18 | A LLERT , A SMUSSEN & R ICHTER Aufgrund aktueller bildungspolitischer Diskussionen zum Thema ›digitale Bildung‹ bietet der vorliegende Sammelband auch für politisch interessierte LeserInnen Anknüpfungspunkte. Besonders prägnant und pointiert finden sich bildungspolitisch relevante Aspekte im Beitrag von Felicitas MacGilchrist. Des Weiteren erhalten LeserInnen Perspektiven auf Phänomene digitaler Kultur. Die Beitrage, die sich hier versammeln, bieten bereichernde Perspektiven, da sie Materialität (und damit Medien und Digitalität) als konstitutiv in kulturellen Prozessen verstehen. Der Sammelband ist in zwei Teile gegliedert. In einem ersten Teil versammeln sich Artikel, die Überblicke geben, indem sie allgemeinere Perspektiven auf das Thema Digitalität und Selbst aufzeigen.8 Eröffnend argumentieren Heidrun Allert und Michael Asmussen für ein Verständnis von Bildung als produktive Verwicklung. Hierbei wird den Phänomenen Digitalität und Algorithmisierung als Anlässe für Bildung besondere Beachtung geschenkt, ohne sich aber auf einen Medienbildungsbegriff zu beschränken. Kernaussage des Aufsatzes ist, dass in der digitalen Kultur nicht mehr von einem reflexiv-distanzierenden (und mentalistischen) Menschen im Bildungsprozess ausgegangen werden kann, sondern von einem performativen Selbst. Dies hat einen transaktionalen Bildungsbegriff zur Folge, der die produktive Auseinandersetzung mit Unbestimmtheit betont. Hierbei wird eine praxeologischpragmatistische Perspektive eingenommen. Zugleich werden aktuelle Konzepte digitaler Bildung diskutiert. Darauf folgt der Beitrag von Karl Heinz Hörning. Er bietet einen Überblick zum alltagspraktischen Umgang mit digitalen Technologien und den neuen sich hieraus entwickelnden Formen des Wissens. Im Mittelpunkt der Betrachtung steht dabei die Frage nach dem Beziehungsgeflecht mit den Dingen und Technologien, in das Menschen verwickelt sind. Um die komplexen Wechselwirkungen von technischem Artefakt und menschlichen Tun zu adressieren, greift Hörning auf einen breiten und starken Begriff sozialer Praxis zurück, womit er die Relationalität in stabilisierender und transformativer Hinsicht beleuchtet. Ausgehend von einer so gearteten praxistheoretischen Perspektive zeichnet er nach, wie sich Praxis im ständigen Spannungsverhältnis von Wiederholung und kontinuierlicher (Neu-)Erschließung bewegt und wie sich digitale Technologien durch die Manifestation von Handlungsregeln in Algorithmen sowie durch die von ihnen produzierten Kontingenzen in die praktischen Handlungsvollzüge einmischen. Gerade diese Kontingenzen und die damit einhergehenden Widersprüche erfor8
Die Umsetzung einer gendergerechten Schreibweise ist den jeweiligen Autorinnen und Autoren selbst überlassen worden und in diesem Sammelband daher nicht einheitlich gestaltet.
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dern, so das Argument, ein spezifisch praktisches Wissen, das es den Akteuren, ermöglicht die sich entwickelnden Ordnungen durch ihren Eigensinn zu unterlaufen. Digitale Technologien beinhalten damit auch ein Potenzial der Eröffnung von Spielräumen der Selbstformung für den Einzelnen. Im Mittelpunkt des Aufsatzes von Kurt Röttgers steht das Verständnis des Mediums im Kontext pädagogischer Praxis. In Abgrenzung zu einer handlungstheoretisch begründeten Konzeption von Praxis, in der Medien als Mittel zur Zielerreichung in Erscheinung treten, entwickelt Röttgers ein Verständnis von Praxis als einer (gemeinsamen) Lebensform, in der das Medium dasjenige ist, was die Menschen in Interaktion miteinander verbindet oder auch trennt. Er verwirft anthropologische Überlegungen als Grundlage einer Philosophie des Sozialen, des Politischen wie auch der Pädagogik und argumentiert stattdessen, dass sowohl das Individuelle wie auch das Soziale immer schon durch das Medium als verbindendem und trennendem kommunikativem Text vermittelt sind. Der so vermittelte mediale Prozess entzieht sich jedoch der Planbarkeit und fordert, so Röttgers, eine Offenheit und die Bereitschaft für offene Suchbewegungen der beteiligten Menschen. Die sich hieraus ergebende »Pädagogik des kommunikativen Textes« entzieht sich der Logik vordefinierter Lernziele – sie fordert vielmehr die gemeinsame Verstrickung der Akteure im kommunikativen Text und eine Auseinandersetzung mit dem (noch) Fremden. Jürgen Gunia thematisiert in seinem Beitrag das Verhältnis von Kompetenz, (digitalen) Medien und Subjektkonzeptionen. Ausgehend von einer Kritik am (Medien-)Kompetenzbegriff als ein durch das Können der Medien entstandenes Modell, an dem sich menschliches Können auszurichten hat (Kompetenz der Medien), stellt er dem starken Subjekttyp des Kompetenzdiskurses einen schwachen Subjekttyp entgegen, der aus seiner Leidenschaftlichkeit eine Stärke ziehen kann, die dem starken Subjekt verschlossen bleibt. Aufbauend auf der Gegenüberstellung eines starken (schwachen) mit einem schwachen (starken) Subjekt sucht Gunia nach Anknüpfungspunkten für ein komplexes Subjekt, das in der Lage ist, die Normen und Steuerungsmechanismen der digitalen Kultur auf produktive-innovative und widerständige Weise zu unterlaufen. Hierzu entwickelt er Bausteine einer Performanz des Geistes, die vor allem neue mögliche Selbstverhältnisse in einer digitalisierten Welt aufzeigen und kompetenzkaprizierenden Erwägungen zuwider laufen. Diese Bausteine grenzen sich vor allem von instrumentell-qualifikatorischen Kompetenz-Erwägungen ab und betonen kreative Momente des Andershandelns. In einem zweiten Teil versammeln sich Artikel, die Einblicke in verschiedene Kontexte und Praktiken der digitalen Kultur geben und theoretisch-perspek-
20 | A LLERT , A SMUSSEN & R ICHTER tivische sowie methodische Angebote machen, die Phänomene zu beleuchten und zu verstehen. Felicitas MacGilchrist untersucht in ihrem Artikel anhand der Strategie der Kultusministerkonferenz zur »Bildung in der Digitalen Welt« und der sie begleitenden Stellungnahmen verschiedener Akteure die unterschiedlichen Konstruktionen des medialen Subjekts in der bildungspolitischen Diskussion. Hierbei unterscheidet sie die in der Diskussion legitimierten Konstruktionen des Subjekts als NutzerInnen, KritikerInnen und Makern von den marginalisierten Figuren der ExpertInnen, der EcosophInnen und der GesellschaftsgestalterInnen. In derGegenüberstellung der legitimierten und marginalisierten Subjektkonstruktionen zeigt sie, dass gerade in den marginalisierten Konstruktionen ein politisches Subjekt und damit verbunden eine kritische digital literacy zum Tragen kommt, was aber nur an den Rändern des aktuellen Diskurses aufscheint. Karolin Eva Kapper beleuchtet mit einer (leib-)phänomenologischen und epigenetischen Perspektive Praktiken der Selbstvermessung innerhalb der Quantified Self-Bewegung. Hierbei greift sie auf ausgewertete Interviews, Beobachtungen und gehörte Vorträge zurück und rekonstruiert intendierte und unintendierte Einschreibprozesse zwischen aktuellem und habituellem Leib. In diesen Prozessen spielen digitale Technologien und die mit ihnen generierten Daten eine konstitutive Rolle. Hierbei zeigt Kappler vor allem die körperliche Dimension von Subjektivierungsprozessen auf und diskutiert im Anschluss Konsequenzen für die Pädagogik. Daniel Rode erkundet in seinem Beitrag, wie digitale Technologien und Medien wie die Musikanlage als konstitutive Mitspieler bei der Entwicklung des Selbst untersucht werden können. Dies kann nicht über individuelle Lernhandlungen, didaktische Konzepte oder das Wirken von Lehrpersonen erschlossen werden, wie es Positionen postulieren, die ein mental verfasstes Handlungssubjekt annehmen. Stattdessen nimmt Rode eine praxeologische Position auf Subjektivierungsprozesse ein, um anhand von Feldbeobachtungen der SportlehrerInnen-Ausbildung im Tanzunterricht zu zeigen, wie Technologien an der Praxis des SportlehrerIn-Werdens partizipieren. Er zeigt, dass Studierende sich in einem situativen Wechselspiel mit anderen Akteuren der Praktik des Tanzunterrichts (wie der Dozentin, Smartphones, Kameras, Schränken, Schlüsseln, Musikanlage und Musik) befinden, sich laufend re-positionieren und subjektivieren (bzw. subjektiviert werden). Der Beitrag von Emanuele Bardone befasst sich mit dem Verständnis von Lernen als einem existentiellen menschlichen Prozess. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie sich Lernprozesse ungeachtet vorausgeplanter Lehr-/Lernszenarien in den konkreten lebensweltlichen Erfahrungen einzelner Menschen vollziehen. In
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Abgrenzung zu einer instrumentellen und ergebnisorientierten Sichtweise rekonstruiert Bardone Lernen als einen Prozess des »Chance-Seekings«, als einen »absichtsvollen« (deliberative) Umgang mit den konkreten Chancen und Möglichkeiten, die sich dem Individuum im Laufe der Zeit bieten. Zur Illustration dienen zwei »fiktionale Geschichten«, an denen der erratische, aber zugleich sinnstiftende Verlauf individueller Lernprozesse nachgezeichnet wird. Die hier entwickelte Perspektive betont das idiosynkratische Moment des Lernens, in dem das Individuum sich nicht nur kulturelle Ressourcen erschließt, sondern in dem es auch sich selbst, seine Dispositionen, seine Persönlichkeit und auch seine Interessen zum Ausdruck bringt. Digitale Technologien eröffnen aus dieser Perspektive neue Möglichkeiten und Chancen. Gleichzeitig können sie aber auch andere potenzielle Chancen (z.B. durch algorithmisch erstellte Ranglisten aufgrund von Suchanfragen oder automatisch generierten Seh-Empfehlungen auf Video-Portalen) verbergen und konstitutiv in den Prozess des Lernens eingreifen. Im Artikel von Christoph Richter und Heidrun Allert wird zum Abschluss des Sammelbandes dargelegt, dass die Ambivalenz der digitalen Medien und die mit ihnen einhergehenden Formen der Subjektivierung auf die Einbindung der entsprechenden Technologien in der Praxis beruhen. Es geht um die Frage, wie Algorithmen in unsere Praktiken verstrickt sind und welche Implikationen mit ihnen, je nach Art ihrer Verstrickung, verbunden sind. Richter und Allert grenzen sich gegen eine Vorstellung des Digitalen als einer durch Algorithmen vermittelten Formung der Welt ab, da diese den ambivalenten Charakter von digitalen Medien nicht einfängt. Stattdessen wird aus einer praxistheoretischpragmatistischen Perspektive eine Brücke zwischen bildungstheoretischen Überlegungen und der Rolle von Artefakten in einer Kultur der Digitalität geschlagen. Die AutorInnen folgt dabei einem Verständnis von Regelfolgen nach Wittgenstein, und machen zwei grundlegende subjektivierende Funktionen digitaler Medien aus: regulative Spielzüge, die unter Bezugnahme von expliziten Regeln Unbestimmtheit zu überwinden versuchen und poetische Spielzüge, die alternative Interaktionsformen ins Spiel bringen.
L ITERATUR Alkemeyer, Thomas (2013): »Subjektivierung in sozialen Praktiken«, in: Thomas Alkemeyer/Gunilla Budde/Dagmar Freist (Hg.), Selbstbildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung, Bielefeld: transcript, S. 33-68.
22 | A LLERT , A SMUSSEN & R ICHTER Alkemeyer, Thomas/Budde, Gunilla/Freist, Dagmar (Hg.) (2013): Selbstbildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung, Bielefeld: transcript. Alkemeyer, Thomas/Buschmann, Nikolaus (2016): »Praktiken der Subjektivierung – Subjekivierung als Praxis«, in: Hilmar Schäfer (Hg.), Praxistheorie. Ein Soziologisches Forschungsprogramm, Bielefeld: transcript, S. 115-136. Alkemeyer, Thomas/Buschmann, Nikolaus/Michaeler, Matthias (2015): »Kritik der Praxis. Plädoyer für eine subjektivierungstheoretische Erweiterung der Praxistheorien«, in: Thomas Alkemeyer/Volker Schürmann/Jörg Volbers (Hg.), Praxis denken. Konzepte und Kritik, Wiesbaden: Springer, S. 25-50. Belliger, Andrea/Krieger, David J. (2006): »Einführung in die Akteur-NetzwerkTheorie«, in: Andrea Belliger/David J. Krieger (Hg.), ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld: transcript, S. 13-50. Carstensen, Tanja/Schachtner, Christina/Schelhowe, Heidi/Beer, Raphael (2014): »Subjektkonstruktionen im Kontext Digitaler Medien«, in: Tanja Carstensen/Christina Schachtner/Heidi Schelhowe/Raphael Beer (Hg.), Digitale Subjekte. Praktiken der Subjektivierung im Medienumbruch der Gegenwart, Bielefeld: transcript, S. 9-27. Dräger, Jörg/Müller-Eiselt, Ralph (2015): Die digitale Bildungsrevolution. Der radikale Wandel des Lernens und wie wir ihn gestalten können, München: Dt. Verlags-Anstalt. Floyd, Christiane/Klischewski, Ralf (1998): »Modellierung – ein Handgriff zur Wirklichkeit«, in: Modellierung ´98 – Proceedings. Universität Münster, Bericht # 6/98-I S. 21-26. Herzog, Walter (2001): »In Beziehung zu sich selbst. Relationales Denken in der Pädagogik«, in: Schweizerische Zeitschrift für Bildungswissenschaften 23(3), S. 529-545. Hörning, Karl H. (2001): Experten des Alltags. Die Wiederentdeckung des praktischen Wissens, Weilerswist: Velbrück. Kalthoff, Herbert/Cress, Torsten/Röhl, Tobias (2016): »Einleitung: Materialität in Kultur und Gesellschaft«, in: Herbert Kalthoff/Torsten Cress/Tobias Röhl (Hg.), Materialität – Herausforderungen für die Sozial- und Kulturwissenschaften, Paderborn: Wilhelm Fink, S. 11-41. Klafki, Wolfgang (1996): Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik: Zeitgemäße Allgemeinbildung und kritisch-konstruktive Didaktik, Weinheim: Beltz. Knox, Jeremy (2016): »Posthumanism and the MOOC: opening the subject of digital education«, in: Studies in Philosophy and Education, 35(3), S. 305320.
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Überblicke
Bildung als produktive Verwicklung H EIDRUN A LLERT & M ICHAEL A SMUSSEN
Bildungstheorien sind notwendigerweise immer an die gesellschaftlichen Bezüge ihrer Zeit gebunden. Anlässe für Bildungsprozesse sind nicht etwas ›Natürliches‹, sondern entstehen aus menschlichen Tätigkeiten heraus, im sozialen Miteinander, in der Auseinandersetzung mit gegenwärtig Neuem, Fragwürdigem und Widerständigem, aus Aushandlungsprozessen von Gemeinschaften etc. Mit anderen Worten: Anlässe für Bildungsprozesse entstehen in der menschlichen Praxis. Ziel dieses Beitrages ist es, ein Verständnis von Bildung zu entwerfen, das auf Phänomene wie Algorithmisierung und Digitalisierung reagieren kann ohne sich jedoch auf diese Phänomene zu beschränken. Dabei wird es nicht um ein Verständnis von Medienbildung gehen, sondern um ein transaktionales Bildungsverständnis.1 Wir verorten Bildung innerhalb der Verwobenheit in soziomateriellen Praktiken. Bildung kann nie abschließend bestimmt werden. Um Digitalität und Bildung in ihrem Zusammenhang zu verstehen, setzt der Beitrag als zentrale Kategorie allerdings weder Bildung noch Digitalität, sondern Unbe-
1
Das hier vertretene Verständnis von Transaktionalität, unterscheidet sich von der Sichtweise Nohls in seiner »Pädagogik der Dinge«. Zwar bezieht sich auch Nohl auf die Arbeit von Dewey und Bentley, er verortet jedoch »jene Austauschprozesse, innerhalb derer sich Menschen und Dinge erst formieren« (Nohl 2011: 203) und die er als transaktional fasst, in dem von Peirce entlehnten Modell der Erstheit, Zweitheit und Drittheit auf der Ebene der Zweitheit, »in der Dinge und Menschen in der Praxis aufeinandertreffen« (ebd.: 192). Damit wird es ihm einerseits möglich die Dinge auf materielles Substrat zu gründen und andererseits einen Raum für ikonisches, indexisches und symbolisches Wissen jenseits der Dinge zu eröffnen. Nohl weicht damit aber unseres Erachtens von der grundlegenden Intention Deweys und Bentleys ab, ein substantialistisches Denken hinter sich zu lassen und stattdessen einer prozessontologischen Sichtweise zu folgen.
28 | A LLERT & A SMUSSEN stimmtheit. Genauer: Die Transaktionen an den Übergängen von Unbestimmtheit zu Bestimmtheit und von Bestimmtheit zu Unbestimmtheit. Wie wir uns in Bildungsprozessen mit Digitalisierung befassen können oder sollten, ist Kern zahlreicher Positionen und Perspektiven verschiedenster Akteure. Grob lässt sich eine instrumentelle Sicht auf digitale Medien von kulturwissenschaftlichen Perspektiven unterscheiden, die Digitalisierung als die Transformation von Interaktionsmodi, kulturellen Strukturen und Praktiken begreifen. Der vorliegende Beitrag wird eine kulturtheoretische Perspektive auf Digitalität in Abgrenzung zur instrumentellen Sicht, die einem technokratischen Verständnis von digitaler Bildung zugrunde liegt, beschreiben. Er konzipiert Bildung als produktive Verwicklung und nutzt dafür Kreativität und Produktivsein in einem praxistheoretischen/pragmatistischen Sinne. Dies erfordert auch einen neuen Begriff von Autonomie und unterläuft gängige Sichtweisen auf Individualisierung und Kritik, die gegenwärtigen empirischen Subjektivierungsprozessen bzw. subjektivierenden Praktiken nicht mehr gerecht werden. Der Beitrag kann alle Diskurse in diesem Feld nicht nachzeichnen, sie existieren vielfältig. In bestehende Diskurse möchte der vorliegende Beitrag ein prozessontologisches Verständnis einbringen und aufzeigen, dass soziale Situationen inhärent unbestimmt sind und erst in Interaktion wechselseitig konstituiert werden. Demgegenüber bestimmen repräsentationale Modelle, welche Algorithmen zugrunde liegen, Situationen als den Interaktionen vorausgehend. Repräsentationale Modelle betreiben eine komplexitätsreduzierende Bestimmtheitserzeugung, die aber gleichzeitig Unbestimmtheit miterzeugt. Anschließend werden wir Praktiken und Selbst als performativ erläutern. Der Beitrag wird Autonomie als produktive und kreative Form entwerfen, um basierend darauf ein transaktionales Bildungsverständnis zu entwickeln, das Bildung als den gestaltenden und produktiven Umgang mit Unbestimmtheit konzipiert. Um aufzeigen zu können, wie Konzepte unterschiedlicher epistemologischer Überzeugungen den Umgang mit Unbestimmtheit organisieren, ist nicht Digitalität, sondern Unbestimmtheit die zentrale Kategorie im Beitrag. Der vorliegende Beitrag wird einen Blick auf Algorithmen, unbestimmte Situationen, soziale Praktiken und die Kultur der Digitalität werfen um in Bezug darauf Formen der Autonomie und ein Konzept von Bildung als gestaltender Auseinandersetzung mit Unbestimmtheit zu entwerfen. Dieses Konzept von Bildung fußt auf einem prozessontologischen Verständnis und wird im Beitrag als transaktionales Bildungsverständnis bezeichnet.Während die Bestimmung des Begriffs Autonomie nicht neu ist und hier in Bezug zur Digitalität dargestellt wird (vgl. Stalder 2016a, 2016b), klärt der Beitrag die Begriffe Unbestimmmtheit
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und Reflexion prozessontologisch und praxistheoretisch in Bezug auf Bildung neu auf.
B ILDUNG & D IGITALITÄT Für Bildung wird Digitalisierung zuweilen als eine neutrale Plattform zur Verteilung von Lernmaterialien verstanden, während gleichzeitig für andere gesellschaftliche Bereiche erhebliche Transformationen erwartet werden. Dies geht einher mit der Reduktion einer Idee von Bildung auf die medientechnische Verfügbarkeit von Inhalten – auf das, was produzierbar und distribuierbar, planbar und verwaltbar ist. Allerdings ist die Vorstellung, dass es ideologiefrei sei, Inhalte zu verteilen, bereits politisch und Teil eines Perspektivwechsels: »The rise of educational technology is part of a larger shift in political thought, from favoring government oversight to asserting free-market principles, as well as a response to the increasing costs of higher education. The technocentric view that technology can solve these challenges combines with a vision of education as a product that can be packaged, automated, and delivered to students.« (Veletsianos & Moe 2017: 1)
Diese technokratische Sicht ist nur scheinbar neutral und ignoriert soziale, institutionelle, politische, pädagogische und epistemische Transformationsprozesse, die sich auch dann einstellen, wenn digitale Technologien aus pragmatischen oder ökonomischen Gründen eingesetzt werden. Unterschiedliche Akteure, wie etwa Bildungspolitik, Wirtschaft, Hersteller von Lerntechnologien, netzbasierte Communities, Administration und Eltern entwerfen verschiedene Perspektiven auf digitale Bildung und Unterrichtspraxis. Mit Konzepten, Begriffen und Logiken aus ihren Bereichen, aus ihren Kulturen und Praktiken konstruieren sie Vorstellungen von Bildung und (oft implizit) von Bildungsinstitutionen. Einige dieser Vorstellungen reduzieren digitale Bildung auf etwas Planbares und Regulierbares, das in Schulen und Hochschulen stattfinden soll, als Instrument zur Optimierung des Bestehenden. Andere konstatieren, dass sich die Potentiale digitaler Bildung in Institutionen gar nicht entfalten können. In netzbasierten Diskursen stellen Akteure der Open Education und Maker Education, die sich zum Beispiel Educational Hackers nennen, Bildungsinstitutionen als überholt dar oder organisieren Formate wie Cultural Hackathons, Makeathons, FabLabs, Codeweeks oder BarCamps, die ausdrücklich außerhalb etablierter Bildungsinstitutionen in eigens dafür geschaffenen Räumen stattfinden sollen, da die Kultur des selbstbestimmten kreativen-konstruktiven Umgangs mit Technologien nicht
30 | A LLERT & A SMUSSEN in Schulen passe, sondern transformativ und alternativ sei. So erscheint Digitalität als wählbare oder zu wählende Option in der Bildung und als Eigenschaft von Objekten. Entsprechende Diskurse werden von externen Akteuren an Bildungsinstitutionen herangetragen und fordern, wenn wir sie nicht einfach übernehmen wollen, explizit pädagogische Perspektiven und Antworten heraus, die zunächst danach fragen, was Digitalität ist und wie sich das Verhältnis von Digitalität und Selbst bzw. Digitalität und Welt deuten lässt. Felix Stalder entwirft den Begriff der Kultur der Digitalität. Deren charakteristische Formen haben sich nicht durch das Internet als technische Struktur, sondern in kulturellen Praktiken entwickelt. Interaktionsmodi und kulturelle Praktiken werden transformiert und neue kulturelle Ordnungen sind bereits auszumachen (vgl. Stalder 2016b). Die Verstrickung in die digitale Kultur ist keine Frage der direkten Techniknutzung. Wir können aus der Kultur der Digitalität nicht heraustreten. Selbst wenn wir in manchen Bereichen nicht mit digitalen Technologien interagieren, sind sie ein konstitutives Moment in kulturellen Praktiken und Subjektivierungsprozessen. Aus einer pädagogischen Perspektive auf Digitalität stellt sich weniger die Frage, wie wir digitale Objekte wie Whiteboard und Tablets ins Klassenzimmer bringen und Einsatzszenarien dafür finden, sondern wie wir den Umgang mit Unbestimmtheit in einer Kultur der Digitalität im Hinblick auf Bildung gestalten können. Bildung muss in gesellschaftlichen Transformationsprozessen laufend neu bestimmt werden. Der Umgang mit Algorithmen ist heute ein epochaltypisches Schlüsselproblem.2 Das ist weit mehr als der Einsatz digitaler Medien im Unterricht, die »Digitalisierung der Wissensvermittlung« (Höttges 2017) oder das Erlernen von Programmiersprachen. Algorithmen und daten-getriebene Technologien werden zunehmend konstitutive Akteure in Gesellschaft und Bildung und transformieren diese. Es reicht nicht, diesen Phänomenen mit technischem Know-How zu begegnen. Technische Objekte sind beteiligt an der Herstellung von Situationen, in denen wir uns befinden, da unsere Aktivitäten mit ihnen konstitutiv verwoben sind, bzw. wir in Praktiken konstitutiv auf sie verwiesen sind (vgl. Alkemeyer/Buschmann 2016, Orlikowski 2007). Der Umgang mit Algorithmen ist deshalb nicht nur epistemisch, sondern auch ontologisch. Algorithmisierung stellt uns unweigerlich Fragen zum Umgang mit Unbestimmtheit. In sozialen Systemen sind regelbasierte Verfahren und Unbestimmtheit wechselseitig aufeinander 2
Der Begriff des epochaltypischen Schlüsselproblems ist dem Werk Wolfgang Klafkis entnommen, der damit Strukturprobleme bezeichnet, die von »gesamtgesellschaftlicher, meistens sogar übernationaler« Bedeutung sind und »gleichwohl jeden einzelnen zentral betreffen« (Klafki 1993: 60). Der Problemkanon sei in die Zukunft hinein wandelbar.
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bezogen: Im Versuch, mittels Technologien Bestimmtheit zu schaffen, wird Unbestimmtheit miterzeugt. Der den Algorithmen inhärente regelbasierte Umgang mit der Welt – die Regeln müssen beschrieben werden, bevor ihr Vollzug in Situationen stattfindet – trifft auf unser zutiefst situiertes und performatives menschliches Denken und Handeln. In performativen Praktiken, in denen jeder einzelne Beitrag auch seinen Kontext mitproduziert, beteiligen wir uns alle zunehmend an der Produktion von Unbestimmtheit. Durch digitale, vernetzte Medien gewinnt dies an Dynamik. Dieser zentrale Punkt wird im Laufe dieses Beitrages theoretisch fundiert und an Beispielen veranschaulicht. Digitalisierung wirkt in das Verhältnis von Institutionalisierung und Sozialem, Individuum und Gemeinschaftlichkeit, Epistemischem und Ontologischem. Es ist an dieser Stelle zu erwähnen, dass für diesen Beitrag die Unterscheidung zwischen Technik, bzw. technischem Objekt und Technologie zu treffen ist. Hier ist mit Technologie immer Technik zusammen mit der, der Praktik inhärenten Nutzungslogik der Technik gemeint; entsprechend macht es einen Unterschied, wenn wir von Technik (digitales Objekt, Ding oder System) oder Technologie (im Sinne entsprechender Praktiken) schreiben.
K REATIVITÄT , P RODUKTIVSEIN DER U NBESTIMMTHEIT
UND
F ORMEN
Solange Digitalität als Eigenschaft von technischen Objekten verstanden wird, verstehen wir diese Dinge – Roboter, Künstliche Intelligenz, Algorithmen – zuweilen als handelndes Gegenüber. Dieses Gegenüber wird dann instrumentell eingesetzt und zum Beispiel daran gemessen, Lehrende in Teilen ersetzen und objektivieren zu können. Positionen zu digitaler Bildung entwerfen implizit oder explizit jeweils auch ein Verständnis des Subjekts sowie des Verhältnisses zwischen Subjekt und Technik, bzw. Subjekt, Technik und Sozialem. Einige Positionen verstehen digitale Bildung als den Umgang des Subjekts mit digitalen Objekten, d.h. zum Beispiel als den Einsatz digitaler Lehrmittel im Unterricht. Manche fordern zusätzlich die Auseinandersetzung mit »Internetphänomenen« (vgl. Aktionsrat Bildung 2017). Digitalität ist jedoch nicht ein Programm, das NutzerInnen ausschalten können, oder eine Umgebung, in die sie sich nicht begeben müssen, wenn sie das nicht wollen, sondern bedeutet die Informatisierung der Gesellschaft. Wenn wir Digitalität als Kultur, nicht als Eigenschaft eines Objektes, verstehen, dann lässt sich ein Konzept digitaler Bildung weitreichend entwerfen als Konzept von Bildung in einer Kultur der Digitalität.
32 | A LLERT & A SMUSSEN Wir fassen das Digitale nicht als etwas, das dem Subjekt gegenüber steht sondern mit dem es in Praktiken konstitutiv verwoben ist. Digitalität als Kultur (Stalder 2016b) wird performativ gefasst. Die Vorstellungen von Digitalität als Eigenschaft von Objekten oder aber als Kultur implizieren ein je unterschiedliches Verständnis von Individualisierung sowie des Verhältnisses von Individuum und Sozialem. Während in der aktuellen Diskussion um die Potentiale digitaler Lerntechnologien, Lernen oft als regulierbar und Individualisierung im Sinne einer Atomisierung verstanden wird (vgl. z.B. Dräger/Müller-Eiselt 2015), zeigen kultur- und medienwissenschaftliche Arbeiten zur digitalen Kultur eine Entwicklung hin zu Individualisierung und Gemeinschaftlichkeit in performativen Praktiken auf (vgl. Stalder 2016b, Bryant/Forte/Bruckman 2005, Ebersbach/Glaser/Heigl 2008). Und während zum Beispiel im Bürgertum ›um 1800‹ Bildung noch als das frei sein von Produktivität verstanden wurde, wird Produktivsein heute in vielfältiger Weise als relevant in Bildungsprozessen angesehen. Die Veränderungen betreffen nicht nur das Konzept von Bildung selbst, sondern auch die Vorstellung von Welt, bzw. Wirklichkeit als stabil und außerhalb des Sozialen verortet oder aber als emergent durch performative Praktiken hergestellt. Eine Distanz zwischen Bildung und Produktivität legten Hofbeamte mit der ländlichen Adelskultur in romantischer Geisteshaltung um 1800 sogar geographisch an: Ein Spannungsfeld, »das durch die scharfe Trennung zwischen dem öffentlichen Bereich des Staates und dem privaten Bereich von Haus, Familie und Freundeskreis gekennzeichnet war. Zumeist kam dies schon in der geographischen Distanz der Landsitze zur Hauptstadt zum Ausdruck. Adeliges Landleben bedeutete dabei größere Verfügung über unproduktive Zeit. Es ermöglichte die Vervollkommnung der Bildung ebenso wie die Lust des Landlebens.« (Schwarzkopf 2017: 64)
Der Landsitz als Medium ideeller Werte, Bildung, Natur und Kunst wird als (idyllischer) Gegenentwurf zum Ort der Produktivität, der höfischen Etikette, Intrigen und Dissonanzen angelegt, denn nur selten stand bei Hofbeamten die Agrarwirtschaft als solche im Vordergrund (vgl. Schwarzkopf 2017). Der Begriff des Produktivseins ist in bildungstheoretischen Zusammenhängen durch solche Gegensätze geprägt. Entsprechend dieser Bedeutung gibt es Räume, in denen wir produktiv sind, und Räume, in denen wir unproduktiv sind oder sein wollen. Die Distanz von Bildung zum Produktivsein wird gerade in Initiativen der digitalen Bildung aufgegeben. So werden in der Maker Education Unbestimmtheitsräume explizit geschaffen um sich mit dem Digitalen im Sinne eines
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Gegenübers auseinanderzusetzen indem digitale Artefakte produziert werden. Bildung wird hier auch als Instrument gesehen um später produktiv zu sein. In Ansätzen der Maker Education werden mit Makeathons, Hackathons, Coding Weeks u.a. außerschulische Räume geschaffen, in denen vorbereitete und angeleitete Aktivitäten stattfinden: »Gerade Kinder und Jugendliche sollten für moderne Digitaltechnik begeistert werden. Schließlich sollen sie in Zukunft nicht nur als passive mobile Akku-Entladegeräte mit ständig vor dem Gesicht gehaltenen Smartphone dienen, sondern selbst kreativ sein, Neues schaffen und idealerweise damit Geld verdienen.« (Kleeberger 2017: 69)
Bildung soll durch die Produktion digitaler Artefakte stattfinden. Die Gelegenheit dazu wird zumeist von technikinteressierten Eltern initiiert, die sich durch ihren eigenen Werdegang und ihre oftmals entwickelnde und gestaltende Tätigkeit in der Digitalwirtschaft, als selbstbestimmt und autonom gegenüber digitalen Technologien erleben. Neben dem Erwerb von Know-How über Mikroprozessoren und Kenntnissen von Vorgehensweisen beim Programmieren kann Bildung verortet werden als das Erleben von Autonomie in der produktiven Auseinandersetzung mit digitalen Komponenten. Das Digitale wird hier als ein Gegenüber zum Menschen angesehen und die Auseinandersetzung als eine epistemische konzipiert. Freiräume werden explizit geschaffen, um Innovation, Kreativität und digitale Bildung zu ermöglichen. Maker Education soll explizit außerhalb von Schule stattfinden: »Die Bereitschaft, Fehler zu begehen. In der Schule riskieren sie [die Lernenden] dafür schlechte Noten. Das schreckt Kinder ab, etwas auszuprobieren, weil sie dann ja mit Fehlern rechnen müssen« (Kleeberger 2017: 68). Wenn Bildungsinstitutionen Räume der Bestimmtheit geworden sind, in denen Wissen und Praktiken als gegeben und stabil wahrgenommen werden, als in der Vergangenheit bestimmt und in die Zukunft fortschreibbar, dann haben diese Räume der Bestimmtheit Unbestimmtheitsräume mitproduziert. Mit Makethons, Hackathons usw. wird auf geschaffene Bestimmtheitsräume (die durch regelmäßige Praktiken stabilisiert sind) reagiert, indem geplante Unbestimmtheitsräume außerhalb von Schule gestaltet werden. Erwachsene leiten die Aktivitäten an. Was produziert wird, kann von Erwachsenen und Kindern gleichermaßen daran bewertet werden, ob das selbst produzierte digitale Ding funktioniert oder nicht funktioniert. Letztendlich gibt es ein Richtig oder Falsch. Der Strom fließt oder aber der Fehler muss gefunden werden. Diskurse über Werte, Bedeutung und Praktiken des Digitalen, die Auseinandersetzung mit den mit gesellschaftlichen Transformationsprozessen verbundenen Unsicherheiten und Widersprüchen und
34 | A LLERT & A SMUSSEN darüber wie wir Ambivalentes verstehen und bearbeiten wollen, müssen in den Räumen der Maker Education nicht geführt werden. Diese Diskurse können jedoch zwischen den Generationen konfliktreich und kontrovers verlaufen, da die nachwachsende Generation selbst Praktiken entwirft und Kultur produziert, und sind im Ergebnis immer offen. Letztendlich sind die geschaffenen Unbestimmtheitsräume damit eigentlich Bestimmtheitsräume (in die Zukunft gerichtet), da sie mit einer impliziten Vermittlung der instrumentellen Sichtweise auf Digitales Ambivalenzen und Konflikte ausklammern und den Diskurs auf Machbarkeit und wertfreie Innovation reduzieren. Um ein Konzept von Bildung aus pädagogischer Perspektive zu entwerfen, klären wir im Folgenden die Konzepte von Unbestimmtheit, des Digitalen und des Produktivseins weiter auf. Kreativ und produktiv sein hat in einer Welt, die wir nicht mehr als bestimmt und stabil annehmen, eine neue Bedeutung, denn Unbestimmtheit spielt im prozessontologischen Sinne eine grundlegende Rolle: Menschliche Akteure setzen sich in Situationen, die andernfalls unbestimmt und in diesem Sinne fragwürdig bleiben, mit Technologien produktiv auseinander. Produktiv heißt hier, dass die Situation nicht bestimmt ist, sondern dass sie erst in Interaktion wechselseitig erzeugt und bestimmt wird. Mit komplexen Algorithmen müssen wir die Vorstellung, dass digitale Objekte in unseren Aktivitäten ein Gegenüber darstellen, zu dem wir uns autonom verhalten und das wir bestimmen können, praktisch aufgeben. Algorithmen wirken in unsere Aktivitäten und mischen sich in unsere Beziehungen, aber wir können uns in vielen alltäglichen Fällen weder vollständig über sie informieren noch ihren Einfluss auf unsere Tätigkeiten abschätzen. Das Verhältnis von Technologie und Mensch ist durch Unbestimmtheit gekennzeichnet. Während in den folgenden Absätzen dieses Verhältnis besprochen wird, wird der Begriff der Unbestimmtheit dann im nächsten Abschnitt grundlegend eingeführt und im weiteren Text auf das Verständnis von sozialen Praktiken und Selbst bezogen. Auf Facebook wirklich jeden Eintrag systematisch zu liken oder ausschließlich eigene Beiträge zu liken, erschiene – obwohl dies technisch ohne Probleme möglich ist – wie ein Verstoß gegen die soziale Konvention, gegen latente Erwartungen und Normen. Gleichzeitig birgt diese Vorgehensweise die Hoffnung, dass der Algorithmus reagiert, eine Reaktion zeigt und dadurch die Gelegenheit bietet, ihn ein Stück weit zu erschließen. Die minimale Intervention, die möglichst geringfügige Abweichung von den Konventionen, das Ausloten selbst minimalster Freiheitsgrade, zielt darauf, etwas zu produzieren und in eine Interaktion mit dem Algorithmus zu gehen, die Erkenntnisse ermöglicht. Solche Strategien des zweckentfremdenden Umgangs mit Algorithmen erinnern an Herold Garfinkels Krisenexperimente, die erlauben sollen, soziale Praktiken
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auszuloten (Garfinkel 1967, Luo 2004). Die produktive Auseinandersetzung ist eine transaktionale Form des Verstehens. Einem Algorithmus etwas vorzumachen, ihn kreativ auszutricksen, (z.B.) Zweck zu entfremden und seine Reaktion zu beobachten, wird zur Strategie, seine Funktionsweise teilweise zu Gesicht zu bekommen, wie beschrieben in »Tricking Facebook’s Algorithm« in The Atlantic vom 08. August 2014 von Caleb Gerling. Konstruktive Aktionen dienen als Sonde in eine Situation, als Instrument der Erkenntnis und Deutung. Wir spielen (trickreich) herum, um zu erkennen, was ist und in welcher Situation wir uns befinden. Wir wollen etwas über die technischen Objekte, mit denen wir in unseren sozialen Praktiken verwoben sind, in Erfahrung bringen. An etwas herumbasteln, rumwursteln, erfinden, erschaffen, vortäuschen, einmischen und intervenieren sind sowohl Formen des Verstehens, als auch der Transformation. In unbestimmten Situationen müssen wir kreativ und produktiv werden, wir müssen sie (wechselseitig mit allen beteiligten Akteuren) konstituieren um sie zu erkennen. Die beteiligten Akteure können auch technische Dinge bzw. Algorithmen sein. Diese Konzeption richtet sich explizit gegen handlungstheoretische Konzeptionen eines intentional agierenden Subjekts, das mit Wissen planend in Situationen tätig ist nach dem Schema: Die Situation erkennen und dann aktiv werden. Die Interaktion mit dem Algorithmus ist nicht nur epistemisch, sondern auch ontologisch. Das Ausloten der Situation durch unkonventionelle Interaktion ermöglicht, Grenzen und Veränderbarkeit in Erfahrung zu bringen, während dies gleichzeitig die Situation, die Daten, Systeme, Praktiken, das Selbst und die Wirklichkeit transformiert. Das Herumspielen mit dem System, »Gaming the System«, »Machine Research«, Austricksen, Subversion und Tinkern, die eigensinnige Nutzung, der kreative Akt zur Erkenntnis, das bricolageartige Umnutzen, der produktive Umgang mit Unbestimmtheit sind Formen emanzipativen Handelns mit Technologien, welche sich ko-konstitutiv in unsere Interaktionen und Beziehungen mischen, wenn wir versuchen etwas über ihre Funktionsweise, die wir nicht mehr vollständig erkennen können, in Erfahrung zu bringen. In der Auseinandersetzung mit der Welt wird nicht nur das Selbst- und Weltverständnis im Inneren der Person, sondern auch die äußere Situation transformiert, da die Auseinandersetzung eine produktive/gestaltende in der Welt ist. Das Epistemische wird ontologisch. Wir handeln in unbestimmten Situationen nicht, weil wir sie vollständig analysiert und erkannt haben, sondern weil wir sie durch das Handeln, durch das Ausloten von Handlungsoptionen, von Veränderbarkeit und Grenzen zu erkennen suchen. Diese tätige und transformative Form der Erkenntnis kommt im von Dewey und Bentley (1949) entlehnten Begriff transaktional zum Ausdruck. Produktivsein und Kreativität werden im vorliegenden Beitrag deshalb als transaktional bestimmt: nicht als zielgerichtete Tätig-
36 | A LLERT & A SMUSSEN keit auf ein Produkt hin, sondern als Form der Auseinandersetzung mit Unbestimmtheit. Als amateurhaftes und forschendes Tinkern, Herumwursteln und Intervenieren. Diese eben kurz eingeführte Perspektive zum transaktionalen Verständnis von Kreativität als Form der Auseinandersetzung mit Unbestimmtheit wird im Folgenden systematisch eingeführt. Theoretische Grundlage dafür werden Theorien sozialer Praktik sein, die wir in diesem Beitrag praxeologische Zugänge nennen. Produktives Andershandeln ist dann nicht nur eine Form der Interaktion mit Algorithmen, sondern der Transaktion in sozialen Praktiken.
S ITUATIONEN
ALS INHÄRENT UNBESTIMMT – EIN PROZESSONTOLOGISCHES V ERSTÄNDNIS Repräsentationale Modelle über Gegenstandsbereiche der Welt basieren auf der Annahme, dass Entitäten und deren Eigenschaften sowie Regeln feststehen, beschrieben werden können und einer Handlung vorausgehen. Damit sind Situationen, in die wir uns begeben, bestimmt und bestimmbar. Wir können nach dem Schema handeln: die Situation, die Akteure, Dinge und Handlungsmöglichkeiten erfassen, analysieren, ggf. Änderungsbedarf sehen, Ziele formulieren und zielgerichtet handeln. Wenn alles gegeben und erkannt ist, was den Erfolg des Handelns ausmachen wird, wird der Erfolg sich einstellen. Etwa: Wenn alle Anforderungen erhoben sind, lässt sich eine Software, bzw. eine Lösung optimal entwickeln; wenn sie sich dennoch als nicht optimal herausstellt, wurden Anforderungen übersehen, lassen sich aber prinzipiell finden, z.B. mit einer besseren Methode der Anforderungsanalyse. Oder: Wenn die Vorlesung gut strukturiert ist, wenn sie sich am Vorwissen der Studierenden orientiert, kann Lernen erfolgreich stattfinden. Oder: Wenn Vertrauen vorhanden ist, kann Teamarbeit gelingen. Oder: Wenn alle Regeln implementiert sind und die Technologie Situationen erkennen kann, funktioniert autonomes Fahren. Die Modelle beschreiben Welt prinzipiell als stabil – das Arbiträre, Emergente und Performative muss in der Vorhersage der Zukunft ausgeblendet werden. Die epistemologische Grundlage von Algorithmen sind repräsentationale Modelle. Statt Emergenz wird Kausalität angenommen und statt Relationalität und Performativität, Struktur unterstellt. Entsprechend Bickhards (2008) prozessontologischen Überlegungen sind Situationen, an denen mindestens zwei komplexe Akteure beteiligt sind, jedoch inhärent unbestimmt:
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»Unlike the rock, the interactive potentialities of the other agent are not largely determinable just from their perceptual characteristics. [...] So, the first agent’s interactive characterization of the situation depends on the other agent’s characterization of the situation.« (Bickhard 2008: 144)
Situationen sind nicht gegeben, die an ihr beteiligten Akteure können sie nicht als unabhängige Beobachter repräsentieren. Sie wissen nicht, in welcher Situation sie sich befinden. Wissen und Deutungsschemata gehen den Situationen nicht voraus. Die Akteure können Verstehen nur in Interaktion (Bickhard 2008) und in gestaltender Auseinandersetzung mit der Situation selbst erzeugen. Sie bestimmen die Situation, indem sie in ihr interagieren und sie somit erst herstellen und bestimmen. Der Begriff von Kreativität, der diesem Beitrag und dem Konzept von Bildung als gestaltender Auseinandersetzung mit Unbestimmtheit zugrunde liegt, basiert auf der Vorstellung von Situationen als inhärent unbestimmt und Praktiken als emergent und performativ: Kreativ sind wir nicht, weil wir eine Situation vollständig verstehen und das Wissen hätten, eine neue Situation herbeizuführen, sondern weil wir mit Situationen, die wir nicht verstehen, für die wir keine Routinen und Regeln besitzen, nur kreativ umgehen können: »Creative practice (creativity) is a mode of interaction in which individuals or collectives aim to cope productively with an indeterminate situation and bring forward new ideas.« (Richter/Allert 2016: 4) Interagieren und Erkennen sind aufeinander bezogen und konstituieren gemeinsam Realität. Bickhard (2008) zeigt auf, dass wir eine Situation, an der komplexe Akteure beteiligt sind, nur wechselseitig durch Interaktion herstellen und bestimmen können. Erst durch Wiederholungen, Konventionen und Gewohnheiten werden Situationen erwartbar. Bestimmtheit ist Ergebnis impliziter oder expliziter, sprachlicher und nicht-sprachlicher Aushandlung, bzw. Konstitution. Sie wird über die Zeit durch Handlungsroutinen und Materialisierung (der Verkaufstresen beim Bäcker, die Schultische im Klassenzimmer) in soziomateriellen Praktiken, die laufend reproduziert werden, stabilisiert. Praktiken sind stabilisierte Prozesse, wobei die Akteure in die Stabilisierung laufend investieren müssen. Gleichzeitig ist jede soziale Praktik emergent und performativ. Wenn etwa eine Gruppe eine Plattform im Internet auswählen möchte, über die sie zukünftig zusammenarbeiten kann, kann sie Anforderungen an die Plattform nicht vollständig bestimmen, da sie das Emergente nicht absehen kann, und muss sie mit dieser Unsicherheit auswählen. Bestimmtheit ist immer nur eine fragile Stabilität innerhalb eines performativen und emergenten Relationengefüges. Sie wird laufend individuell und kollektiv produziert. Es erfordert Aufwand Bestimmtheit herzustellen. Die Herstellung
38 | A LLERT & A SMUSSEN von Bestimmtheit ist dabei kein einmaliger Prozess, sondern erfordert das ständige Zutun der beteiligten Akteure. Technische Dinge sind zunehmend solche komplexen Akteure, auf die wir in unseren Praktiken konstitutiv verwiesen sind. Wir können sie nicht aus einer Beobachterperspektive erkennen, sondern bringen durch Interaktion und wechselseitiges Erzeugen der Situation etwas über sie und uns in Erfahrung – während wir bereits Daten hinterlassen. Unbestimmtheit ist so auf gegenwärtige Situationen bezogen, nicht nur auf Zukunft. Algorithmen können komplexe Akteure sein, die sich in unsere Aktivitäten des Informierens, Kommunizierens, des Einkaufens und des Teilnehmens am Straßenverkehr mischen. Insofern ist etwa das Gelingen des autonomen Fahrens keine Eigenschaft des Fahrzeugs und seiner intelligenten Software an sich, sondern einer Interaktion, besser: einer Relation etwa von Fußgänger und autonomem Fahrzeug – wobei sich die Praktiken emergent entwickeln, nicht vorhersehbar und nicht aus der Vergangenheit ableitbar sind. Das Gelingen ist eine Co-Produktion aller, die an der Situation beteiligt sind – ein wechselseitiges Erzeugen der Situation. Bestimmtheit ist nicht Ausgangspunkt menschlicher Interaktion und Kreativität, sondern ist stets im Entstehen – erzeugt durch Interaktion und die Stabilisierung von Prozessen. Wenn Situationen durch Routinen und Praktiken erwartbar und in diesem Sinne bestimmbar werden, können Andershandeln, Eigensinn, Subversion und Tinkern die Erwartbarkeit aufheben und die Situation erneut in das führen was sie ist: inhärent unbestimmt und in diesem Sinne fragwürdig. Daraufhin müssen erneut (sprachliche und nicht-sprachliche) Interaktionen, Aushandlungs- und Konstitutionsprozesse stattfinden, um die Situation neu zu konstituieren und zu bestimmen. Praxis muss neu erzeugt werden. Praxis neu zu erzeugen geschieht nicht durch einen einzigen Wurf, sondern durch aufeinander bezogene (Spiel-) Züge, die Anschlusshandeln erfordern, aber nicht determinieren können (vgl. den Beitrag von Richter und Allert in diesem Sammelband). Es handelt sich also nicht um Eigensinn, Subversion und Andershandeln, sondern um eigensinnige, subversive und andershandelnde (Spiel-)Züge. Relevant wird die Unterscheidung der Modelle zu unserem Thema – wie bereits angesprochen – nicht mehr nur epistemologisch oder methodologisch, sondern auch ontologisch. Repräsentationale Modelle werden schon deshalb konstitutiv, weil die Kategorien mit denen Situationen bestimmt werden, bereits festgeschrieben und nicht in der Situation ausgehandelt werden. Die Kategorien mit denen Bildung beschrieben wird, konstituieren das Feld. Bildung ist dann das, was in (diesen) Kategorien bestimmt wird. So stellt sich auch die Frage, wer unter welcher Perspektive, die Kategorien und repräsentationalen Modelle bestimmt. Algorithmen agieren auf der Annahme, Situationen aus einer Beobach-
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tungsperspektive analysieren und bestimmen zu können. Sie agieren auf repräsentationalen Modellen von Welt. Sie unterstellen selbst menschlichen Akteuren, dass sie auf repräsentationalen Modellen agieren. Sie schreiben weder sich selbst noch uns zu, dass wir die Situation erst erkennen können, indem wir sie in Interaktion herstellen. Ein im Zuge der Digitalisierung zentrales technisches Objekt sind Kategoriensysteme, die eine Zuordnung von Objekten zu informationstechnologisch verarbeitbaren Kategorien ermöglichen, indem sie diskretisieren. Sie blenden das Performative und Konstituierende des Erkennens aus, weil sie Gegenstandsbereiche und Situationen als bestimmte und bestimmbare modellieren. Menschliche Akteure und ihr Verhalten werden mitmodelliert und entsprechend den repräsentationalen und handlungstheoretischen Modellen als informationsverarbeitende, zielgerichtet handelnde und eindeutig bestimmbare Entitäten beschrieben. Die technischen Objekte, die Erkennen, Kognition und Verhalten anderer Akteure (z.B. menschlicher Akteure) als substanziell modellieren, werden bei ihrer Nutzung unweigerlich in sozialen Praktiken relational verwoben. Das heißt, sie werden ko-konstitutive Akteure in sozialen Praktiken, die sich erst entfalten, performativ und emergent sind, und in denen das Arbiträre zu unvorhersehbaren Veränderungen führen kann. Alle Akteure, unabhängig auf welchen Modellen sie agieren, sind konstitutiv aufeinander bezogen. Zwischen dem repräsentational Angenommenen und dem performativ tatsächlich Hergestellten, bzw. der sich entfaltenden sozialen Praxis, kann eine Differenz bestehen, ein Widerspruch erwachsen – während gleichzeitig Realität entsteht. Genau diese Differenz – die Erfahrung des Unbestimmten – ermöglicht epistemische Momente, denn Unvorhersehbares und immer Neues wird fragwürdig. Sie kann Fragen aufwerfen: Was uns als Menschen ausmacht, wenn wir denn nicht vollständig bestimmbar sind; Wer wir als Menschen eigentlich sind; Was Menschsein bedeutet; Was die Situation ausmacht, in der wir uns befinden. Diese Fragen und diese Form der Reflexion realisieren sich in und durch die konstitutive Verwobenheit der menschlichen und technischen Akteure – nicht in einer Distanz herstellenden Form der Autonomie. Die Fragen entstehen, während die Akteure und ihre Qualitäten im Werden begriffen sind und sie sind aufgrund des Performativen und Emergenten der Praktiken unabsehbar. Die Differenz zwischen dem in repräsentationalen Modellen Konstituierten und dem tatsächlich Entstandenen erlaubt, die Annahmen zu hinterfragen, die bei der Entwicklung der technischen Dinge existierten und in sie eingeschrieben wurden. Das Verhältnis von Unbestimmtheit und repräsentationaler, bestimmtheitsstiftender Regel, von Struktur und Praktik und die Fragen, die daraus entstehen, werden beim autonomen Fahren beispielhaft deutlich. Autonome Fahrzeuge sind zu vorsichtig unterwegs und behindern zum Teil den Verkehr, weil sie sich an
40 | A LLERT & A SMUSSEN Regeln halten. Über Google Car schreibt die Süddeutsche Zeitung: »Das zeigt, welche Variable dem IT-Konzern im Straßenverkehr die größten Probleme bereitet: Der Mensch. Weil er sich nicht zwangsläufig an die Verkehrsregeln hält« (SZ 2015a). »Müssen Computerautos aggressiver werden – oder die Menschen sich strenger an Regeln halten?« und »Soll man ihnen sagen, dass man die Gesetze manchmal doch brechen darf? Und wenn ja: In welchen Fällen?« (SZ 2015b). Grundlegender können wir fragen, ob Regeln den Straßenverkehr denn nicht vollständig beschreiben und was wohl, außer Regeln, unsere Koordination im Straßenverkehr ausmacht. Dies ist die Frage, was unsere Praktiken ausmacht und inwiefern sich unsere Praktiken von der repräsentationalen Modellierung autonomer Systeme unterscheiden. Verändern nun die Computerautos durch ein Softwareupdate plötzlich ihr Verhalten, werden proaktiver, so werden sie zunächst unvorhersehbar, da menschliche Akteure ihre Erwartungen in der bisherigen Interaktion mit ihnen aufgebaut haben. In weiteren Interaktionen versuchen menschliche Akteure wieder, die Computerautos und ihr Verhalten vorhersehbar zu machen. Wittgensteins Regelfolgen – eine aus der Philosophie stammende wissenschaftstheoretische Grundannahme vieler praxeologischer Ansätze (vgl. Schäfer 2013: 27ff.) – kann in diesem Beispiel als Erklärungsversuch dienen und gleichzeitig verdeutlichen, wie derartige Unbestimmtheitsräume in der Interaktion mit technischen Objekten entstehen. Die Annahme, dass Verkehrsregeln in die Software von selbstfahrenden Autos einprogrammiert werden können, damit diese selbstständig am Straßenverkehr teilnehmen, erscheint logisch und nachvollziehbar. Jedoch wird dabei nur die Struktur von Regeln bedacht, ihre Auslegung und Ausführung jedoch nicht. Die Praktiken des Regelbefolgens bleiben unbeachtet. Die Geltung von Regeln steckt nicht in ihnen, sondern in ihrer Ausführung, in den sozialen Praktiken. Für Wittgenstein »ist ›der Regel folgen‹ eine Praxis« (Wittgenstein 2013: 134), es handelt sich um Gepflogenheiten (ebd.: 133). Diese Perspektive lässt keine Aufspaltung in Regeln (Struktur) und ihre Befolgung (Praktik) zu. Beides fällt in eins, in die Praxis (vgl. Puhl 2002: 85f.). Das Ausführen expliziter Regeln, wie z.B. der Straßenverkehrsordnung ist nur vor dem Hintergrund einer Praxis des Regelfolgens zu sehen. In der Annahme also, dass selbstfahrende Autos lediglich die Straßenverkehrsordnung befolgen müssen, um erfolgreich am Straßenverkehr teilnehmen zu können, steckt ein Bild über den Menschen und sein Handeln, welches als Grundlage für die Herstellung von Bestimmtheit dient: nämlich die Trennung der Regel als Struktur (die eingeschriebene Regel) von ihrer Ausführung als Praxis (der praktische Umgang mit Regeln), wobei die Struktur der Praxis vorausgehe. Die Annahme ist also, dass der Mensch nicht der Struktur folge, wenn er sich nicht an die Verkehrsregeln hält. Die folgerichtige Konsequenz müsse dann sein, dass er
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stört, bis er sich an die Regeln hält. Aber seine Tätigkeiten, oder besser, seine Praktiken sind emergent und performativ und nicht das bloße Verstehen und Ausführen von expliziten Regeln. Diese Annahme über den Menschen in einem formalen Modell führt, sobald es der Situation und performativen Praktik ausgesetzt ist, zu fragwürdigen Situationen und Fragen, was Menschsein ausmacht. Die Bestimmung und Festschreibung des Menschen als Entitäten, der Regeln und Situationen ist notwendig, um die für die informationstechnische Verarbeitung notwendige Diskretisierung bzw. Formalisierung zu erreichen. Der Mensch und seine Verhaltensweisen müssen kategorisiert werden, da andererseits eine Übertragung in digitale Daten und deren Verarbeitung nicht möglich ist. Die Modellierung selbst basiert bereits auf der Annahme der Modellierbarkeit. Die Festschreibung des Menschen ermöglicht es, Interfaces zu entwickeln und die Interaktion zwischen Mensch und Maschine zu gestalten. Vorstellungen vom Menschen und seinen Verhaltensweisen werden in technische Objekte eingeschrieben. Sobald die technischen Objekte in Praktiken wirklichkeitserzeugend und konstitutiv verwoben werden, werden Fragen aufgeworfen, die zuvor unabsehbar waren. Erst die Relationen im tatsächlichen Tun konstituieren die beteiligten Akteure. Die Fragen sind – wie die Praktiken selbst – nicht vollständig antizipierbar, da die Akteure komplex und die Situationen nicht gegeben sind, sondern in den Interaktionen erzeugt werden. Wir können sie nicht aus der Vergangenheit bestimmen, da die Relationen und Praktiken laufend in die Gegenwart hinein entstehen. Der implizite Erziehungsprozess, der sich in einer wechselseitigen Materialisierung realisiert, lässt sich am Beispiel der Idee, »Menschen direkt mit dem Gehirn schreiben«3 zu lassen, verdeutlichen. In der formulierten Idee werden Annahmen über den Menschen bei der Entwicklung technischer Objekte deutlich. Hier ist die Annahme und Vorstellung vom Menschen, dass Gedanken im Gehirn vollständig verfertigt und dann übertragen werden; die Vorstellung vom technischen Objekt ist, dass dieses Gedanken übermitteln kann und zwar »direkt«, also ohne Transformation. Dazu müsste das Interface, das technische Objekt, operieren wie das Gehirn selbst – sonst würde es nicht übertragen, sondern vermitteln. Jeder Gedanke, der in der Welt geteilt wird, ist über kulturelle Artefakte und durch körperliches Tun vermittelt, z.B. über Sprechorgane und kulturell und sozial vermittelte Sprache, oder über die Hand, ihre Bewegung und den Bleistift. Nanne Meyer4 sagt, der Gedanke sei ohne das Zeichnen nur eine unbestimmte Ahnung, dass da was ist, er wird im körperlichen Tun erst geformt. 3
Siehe: https://www.heise.de/newsticker/meldung/Facebook-will-Menschen-direkt-mit-
4
http://nannemeyer.de
dem-Gehirn-schreiben-lassen-3688940.html
42 | A LLERT & A SMUSSEN Gedanke, Bedeutung und Form sind untrennbar miteinander verbunden. Die Form, die mitgeteilte »Gedanken« einnehmen, ist eine durch den Körper und Artefakte geformte und vermittelte, sie erscheint zuweilen als wohlgeformtes Gebilde. Krämer (2001) beschreibt, dass die Strukturierungsmöglichkeiten eines geschriebenen Textes auch unsere Gedanken formen. Welche Form nun ein mitgeteilter Gedanke durch das angekündigte Interface einnimmt, ist uns noch unbekannt. Es wird eine andere Form als jede bisher bestehende sein – und sie wird ausschließlich verwoben mit dem neuen kulturellen Artefakt existent werden – während sie bereits unweigerlich den mentalen Prozess, die mentale Operation reorganisiert (vgl. Pea 1987). Wir werden dann hinter die neu existierende Praktik nicht zurückgehen können, da sie im Gehirn und außerhalb Realität erzeugt hat. Wir können die Entwicklung dann nicht mehr aus heutiger Sicht, aus unserem heutigen Menschsein beurteilen, weil wir in die Praktiken stets im Werden begriffen sind. Algorithmen führen Entscheidungen nicht aus, sondern transformieren sie. Der Modus, mit dem Medien operieren, ist nicht der des Übertragens, sondern der der Reorganisation und Transformation. Medien nehmen eine Vermittlerrolle ein. Insofern ist zu fragen, welche Form des Vermittelns Algorithmen erbringen. Algorithmen vermitteln und konstituieren durch ihre repräsentationale Modellierung der Gegenstandsbereiche, in denen sie operieren, d.h. durch die Bestimmung der Situation, in der sie Regeln und Entitäten als der Praktik vorausgehend ansehen. Weiterhin muss jede Entscheidung formal beschrieben und auf einer bestimmten technischen Plattform realisierbar sein, bzw. realisiert werden. Dies bestimmt auch mit, wie der jeweilige Gegenstandsbereich gefasst wird, etwa, was wir überhaupt unter Lernen oder Bildung verstehen und repräsentational beschreiben können. Nicht zuletzt vermitteln sie durch die Ausführung »at scale«5, d.h. auf beliebig viele Ausführungen skalieren zu können. Die Entscheidung kann häufig, immer wieder und ohne Änderung ausgeführt werden, was eine Standardisierung der Situation impliziert.
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MIT
Die Auseinandersetzung mit Unbestimmtheit ist ein wesentliches Charakteristikum von Bildung. Während Lernen innerhalb von Bestimmtheitsbereichen angesiedelt ist und erkennend-einordnend verstanden werden kann, hat Bildung das
5
Wie auf der transmediale 2017, Berlin vermehrt diskutiert wurde.
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Unbestimmte, das Fremde zum Projekt. So differenzieren auch Nohl et al. (2015) im Anschluss an eine längere Forschungstradition Lernen und Bildung: »Bildung bezeichnet insofern – im Anschluss an Marotzki (1990), Koller (1999), Nohl (2006), Lüders (2007), Geimer (2012), Thomsen (2010), Fuchs (2011), Rosenberg (2011a) und Rose (2012) – die Transformation der Selbst- und Weltreferenz in ihrer Gesamtheit. Sie ist formal zu unterscheiden vom Lernen, das sich auf die aneignende Auseinandersetzung mit Ausschnitten aus der Welt – sogenannten Lerngegenständen oder -themen – bezieht und dabei auch die gegenstands- oder fertigkeitsbezogenen Horizonte der Lernenden transformieren kann.« (Nohl et al. 2015: 154; Hervorh. i.O.).
Die Differenzierung von Nohl et al. bezieht sich in erster Linie auf die Weltreferenz, was vor allem eine kognitiv-epistemische Transformation meint. Dies impliziert, dass Unbestimmtheit als konstitutives Moment von Bildung bei Nohl et al. (ebd.) epistemisch charakterisiert ist. Dieser Aspekt wird auch bei Marotzki (vgl. Marotzki 1991, Jörissen/Marotzki 2009) deutlich, wenn er sich mit dem Verhältnis von Bestimmtheit und Unbestimmtheit und der Relevanz für Bildung beschäftigt: »Der durchgehende Gedanke ist der, daß [sic] Bildung nicht (länger) als Überführung von Unbestimmtheit in Bestimmtheit gedacht werden kann. Daraus folgt natürlich nicht, daß [sic] auf die Herstellung von Bestimmtheit verzichtet werden soll. Auf den Aufbau eines notwendigen Fakten- und Orientierungswissens, das Bestimmtheit erzeugt, will und darf niemand verzichten. Doch allein damit ist es eben nicht getan. Vielmehr kommt es darauf an, daß [sic] die Herstellung von Bestimmtheit Unbestimmtheitsbereiche ermöglichen und damit auch eröffnen muß [sic]. Anders gesagt: Unbestimmtheiten müssen einen Ort, besser mehrere Orte in unserem Denken erhalten; dann und nur dann wird tentative, experimentelle, umspielende, erprobende, innovative, kategorienerfindende, kreative Erfahrungsverarbeitung möglich.« (Marotzki 1991: 86; vgl. auch Jörissen/Marotzki 2009: 21)
Der epistemische Charakter von Bildung wird bei ihm an dieser Stelle besonders deutlich, da es ihm vor allem um kreative Erfahrungsverarbeitung geht, die nur dann stattfinden kann, wenn Unbestimmtheit einen Ort in unserem Denken erhält. Es geht ihm hiernach vor allem um eine mental-kognitive Bearbeitung von Unbestimmtheit, die dann im Folgenden das Selbst- und Weltverhältnis (vgl. Marotzki 1990: 41-52) transformiert. Die Position, die in diesem Beitrag vertreten wird, betont demgegenüber einen prozessontologischen Unbestimmtheitsbegriff. Unbestimmtheitsräume werden nicht geschaffen, denn jede Situation, an der komplexe Akteure beteiligt
44 | A LLERT & A SMUSSEN sind, ist inhärent unbestimmt. Bestimmtheit wird durch Praktiken, unter Zutun der beteiligten Akteure, kontinuierlich erzeugt. Während bei Marotzki deutlich wird, dass es sich um »Erfahrungsverarbeitungsweisen« (Marotzki 1991: 83) handelt, mit deren Hilfe Menschen mit Unbestimmtheit umgehen, so ist demgegenüber die Auseinandersetzung mit inhärent unbestimmten Situationen transaktional. Gerade aus Versuchen mit Hilfe von Technologien Bestimmtheit herzustellen, werden Situationen erneut fragwürdig und unbestimmt. Die Herstellung von Bestimmtheit erzeugt Unbestimmtheit mit. Ein simples Beispiel, in dem Bestimmtheitsbereiche entworfen werden, kann in der Gestaltung von öffentlichen Toiletten gesehen werden. Die Kategorisierung der Geschlechter hat – neben vielfältigen Festlegungen in Formularen, Kleidung, Symbolen, Praktiken und Verhalten – auch bauliche Konsequenzen. Die Aufteilung von öffentlichen Toiletten in Damen- und Herren-WCs ist eine Kategorisierung, die für viele Menschen eine Bestimmtheit in der Wahl der Toilette erzeugt. Für Menschen aber, die sich nicht in dieser heteronormativen Dichotomie wiederfinden, erzeugt die bauliche Maßnahme neue Unbestimmtheit. Auf welche Toilette sollen sie gehen? Die Kategorisierung erfasst also nicht Realität, sondern stellt sie her. UniSex-Toiletten, die keine Kategorisierung vornehmen (und damit nur eine Kategorie haben, nämlich den Menschen, der auf Toilette muss), würden auf der anderen Seite neue Verhaltensweisen, neue Praktiken von heteronormativ lebenden Menschen herausfordern. Die Praktiken des getrenntgeschlechtlichen Toilettengangs würden herausgefordert und die Situation würde sich als fragwürdig, im Sinne von unbestimmt, zeigen. Neue Routinen und Praktiken würden erneut Bestimmtheit erzeugen. Ein Phänomen – kurz angerissen –, das die Schaffung von Bestimmtheitsräumen und gleichzeitige Immanenz von Unbestimmtheit veranschaulicht, kann in der Quantified Self-Bewegung6 gefunden werden. Vor allem Meißner (2016) betont in diesem Feld zwei unterschiedliche Mechanismen der Subjektivierung, die für die Argumentation dieses Beitrages fruchtbar sind: Selbsteffektivierung und Selbststeigerung. Ersteres geht mit der Annahme einer instrumentellen Nutzung der Quantified Self-Technologien einher. Eine Person nutzt z.B. eine LaufApp, um abzunehmen oder die Kondition zu steigern. Letzteres – die Selbststeigerung – geht mit einer Entgrenzung und Transformation der Technologienut6
Lifelogging »ist ein Sammelbegriff, um die digitale Speicherung von Lebensdaten und Verhaltensspuren (sog. Lifelogs) eines Menschen zu benennen« (Selke 2014: 174), wohingegen Quantified Self definiert wird als »die in Deutschland weithin übernommene Selbstbeschreibung einer losen Gruppe von Menschen, die sich und ihre Aktivitäten quantitativ vermessen.« (Meißner 2016: 217).
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zung einher. Statt einer instrumentellen Sichtweise, könnte die Lauf-App dazu führen, dass besagte Person durch das Sammeln der Daten neue Einblicke über sich selbst und den Alltag (leistungsstarke und -schwache Tage) und somit neue Anreize zum Nachdenken, Hinterfragen und Gestalten auch anderer Lebensbereiche als die des Sporttreibens erhält. Es können sich stets neue Fragen stellen, die über den intendierten Einsatzbereich der Lauf-App hinausverweisen. Meißner hält fest, dass die mit Hilfe von Quantified Self-Technologien erhobenen Daten »nicht nur eine vorhandene Realität repräsentieren; sie stellen diese vielmehr her« (Meißner 2016: 227). Die zunächst als stabil angenommene Welt ist in hohem Maße performativ und kontingent. Als dritte Form – neben der instrumentell verstandenen Selbstoptimierung der entgrenzenden-kontingenzerhöhenden Selbststeigerung – kann mit Schäffer/Krämer/Klinge (2017) eine kulturtransformierende Ästhetisierung genannt werden.7 Auch Programme digitaler Bildung haben Bestimmtheitsräume im Blick. Digitale Bildung wird vermehrt als steuerbar und planbar verhandelt. So erscheinen zum Beispiel Open Educational Resources (OER) als geeignetes Instrument, um die digitale Bildung in Schulen und Hochschulen voranzubringen, obwohl die Community um OER und Open Educational Practices im Netz gleichzeitig die teilweise Abschaffung der Bildungsinstitutionen bespricht. Der bestimmbare Anteil des Themas ist die Bereitstellung und Verwaltung von Lernmaterialien – dies ist der Teil, der etwa bildungspolitisch verhandelt wird. Das Performative, das Gemeinschaftliche, das Transaktionale und die Transformation der Institutionen und sozialen Beziehungen bleiben größtenteils unbesprochen. Die Bildungsprozesse selbst bleiben jedoch unvorhersehbar, riskant und entziehen sich der Planbarkeit: Etwa wenn OER für SchülerInnen selbst verfügbar werden und der Bildungsprozess darüber stattfindet, dass diese einschätzen müssen, ob die offen verfügbare Hausarbeit eines/r anderen Schülers/Schülerin überhaupt von Wert ist, plagiiert zu werden. Statt des Wissenstransfers mit Hilfe von frei verfügbaren Inhalten, muss die Qualität von Wissensartefakten eingeschätzt werden. Das Medium der Bildungspolitik ist Regulierung, Steuerung und Planung. Entsprechend formuliert sie Programme. Performative und emergente Praktiken sind jedoch nicht antizipierbar, die Bestrebung zu planen, zu regulieren und Bestimmtheit herzustellen, erzeugt Unbestimmtheit mit. Das Spannungsverhältnis zwischen Regulierungsanspruch und Unbestimmtheit ist für Bildungsinstitutionen kaum auflösbar, denn inhärent unbestimmte Situationen erfordern transaktionale Aushandlungsprozesse. 7
Burkhard Schäffer, Franz Krämer und Denise Klinge zeigten auf dem Magdeburger Theorieforum am 08. Juli 2017 Ästhetisierungen digitalisiert gezählter Schrittpraktiken auf, z.B. http://runningdrawing.tumblr.com (Stand: 09.07.2017).
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P RAXEOLOGISCHER Z UGANG Die praxeologische Perspektive liefert den theoretischen Zugang, um die Verwobenheit in den Blick zu bekommen. Diese Perspektive wird im Folgenden kurz entfaltet. Dies kann aufgrund der Heterogenität der einzelnen Ansätze (vgl. Hörning 2001: 160f.; Reckwitz 2003: 283) dieses sozial- und kulturwissenschaftlichen Paradigmas nicht in aller Ausführlichkeit geschehen, es werden aber wesentliche Grundgedanken skizziert.8 Die Einführung beschränkt sich auf eine kurze Erläuterung der Begriffe Performativität, Emergenz, Kontingenz und Subjektivierung. Im Mittelpunkt der Praxistheorien stehen Praktiken. Sie sind die fundamentale Analysekategorie dieses Paradigmas (vgl. Schäfer 2013: 18). Hörning definiert Praktiken wie folgt: »Unter ›sozialer Praxis‹ wird üblicherweise das In-Gang-Setzen und Ausführen von Handlungsweisen verstanden, die in relativ routinisierten Formen verlaufen. Nicht jede Hantierung, nicht jedes Tun ist schon Praxis. Durch häufiges und regelmäßiges Miteinandertun bilden sich gemeinsame Handlungsgepflogenheiten heraus, die sich zu kollektiven Handlungsmustern und Handlungsstilen verdichten und so bestimmte Handlungszüge sozial erwartbar werden lassen.« (Hörning 2001: 160)
Zwar spricht Hörning in diesem Zitat von sozialer Praxis, verweist aber weiter auf den Begriff der Praktik. Ein wesentliches Bestimmungsmerkmal einer Praktik ist, dass nicht jede Aktivität eine Praktik darstellt. Praktiken müssen hiernach routinisiert sein, sie müssen »gemeinsame Handlungsgepflogenheiten« darstellen, die Aktivitäten sozial erwartbar und angemessen erscheinen lassen. Die einzelne Handlung wird als »Teil von kollektiven Handlungsgefügen« (Hörning 2001: 162) gesehen, die Hörning dann auch soziale Praktiken nennt (vgl. ebd.: 162). Praktiken existieren aus dieser Sicht nur über räumliche und zeitliche Grenzen hinweg, wenn sie kontinuierlich ausgeführt werden. Hörning betont, wie auch andere Autoren (vgl. z.B. Reckwitz 2003; Schatzki 2012), die implizite Logik und die Körperlichkeit von Praktiken. Er spricht hier von »implizite[r] Vertrautheit und Könnerschaft« (Hörning 2004: 19; Hervorh. i.O.) oder von »praktische[m] Wissen« (ebd.: 23; Hervorh. i.O.). Diese inkorporierten impliziten Wissensbestände sind nötig, um überhaupt auf Handlungsvollzüge anderer Teilnehmenden angemessen antworten zu können und zur Praktik passende Handlungen auszuführen (Hörning 2001: 162). Außerdem kommt praktisches
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Für eine ausführlichere Einführung siehe Hillebrandt (2014), Hörning (2001: 157201), Reckwitz (2003).
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Wissen zum Einsatz, wenn mit Störungen (von innen oder außen) innerhalb einer Praktik umgegangen werden muss. Hörning betont hierzu, »dass sich ein praktisches Wissen, das zwischen passender, ›guter‹ und nicht geeigneter, ›schlechter‹ Praxis zu unterscheiden weiß, nicht in Distanz zur instrumentellen Welt der gemachten Dinge und technischen Verfahren aufzeigen lässt, sondern nur in der Bewältigung von Problemen, in denen Dinge und Verfahren ihren Einsatz und Gebrauch finden, ›zu Wort melden‹ kann« (Hörning 2004: 28).
Auch die Materialität ist konstitutiver Bestandteil von Praktiken (vgl. Hörning 2001; Reckwitz 2003). Das Verhältnis von Mensch und Ding fasst Hörning relational und ko-konstitutiv: »Die Welt, die wir geformt haben, formt auch uns« (Hörning 2001: 165). Die Relationalität bezieht sich sowohl auf Praktiken als auch auf die Teilnehmenden an diesen. Beide sind konstitutiv verwoben: »Praktiken und ihre Subjekte konstituieren sich [...] gegenseitig und verändern somit auch gemeinsam ihre Gestalt« (Alkemeyer 2013: 34). Alkemeyer et al. (2015: 35) betonen, dass Teilnehmende einer Praktik immer auch gewisse Erwartungen, Möglichkeiten etc. einbringen. Diese Eigenschaften des Subjekts werden aber nicht essentialistisch verstanden, sondern als ein Wechselspiel, das aufzeigt, dass in Praktiken gewordene Subjekte ihr Gewordensein in neue Praktiken einbringen, diese individuell deuten und auch aus ihrer Perspektive handeln und sie somit auch transformieren können. Oder mit anderen Worten: Das Subjekt ist historisch durch Praktiken entstanden und wird durch neue Praktiken emergent erzeugt. Auf der anderen Seite bringt das Subjekt sein Gewordensein durch Praktiken immer in neue Praktiken ein und kann diese auch verändern. Das Subjekt bringt sich in seinem neuen Gewordensein mit neuen Erwartungen und Möglichkeiten in andere (oder dieselben) Praktiken ein. Es handelt sich hier also um ein ständiges relationales Wechselspiel, in dem – ontologisch verstanden – im Tun, in der Involviertheit in Praktiken Situationen erzeugt und Realität verändert wird. Es verändert sich nicht nur die Position der Teilnehmenden in einem relationalen Gefüge (vgl. Jörissen 2015: 228), sondern auch das relationale Gefüge, die Realität wird transformiert. Das Denken in Relationalität und Performativität hat auch handlungstheoretische Konsequenzen. Hörning stellt diesen Punkt deutlich heraus, wenn er schreibt: »Viele unserer Motive sind danach Ergebnisse unserer Handlungsweisen und nicht umgekehrt. Wir sprechen über Motive, weil wir handeln, wir handeln nicht, weil wir Motive haben« (Hörning 2001: 164). Er vertritt hierbei auch explizit eine pragmatistische Perspektive, die er eng mit Praxistheorien verbunden sieht (vgl. Hörning 2001, 2004). Wissen und Handeln sind hier nicht vonei-
48 | A LLERT & A SMUSSEN nander zu trennen, sondern fallen in der Praxis in eins. Eng verbunden mit dem Konzept der Relationalität sind die Begriffe Emergenz und Kontingenz. Wenn Praktiken untereinander (synchron und diachron) und auch ihre Teilnehmenden sich gegenseitig konstituieren, dann geschieht dies in ständiger Ausführung (performativ). Praktiken existieren nur im Tun, werden entweder routinisiert wiederholt oder durch Irritation und Variation transformiert. Für beides bedarf es aber ständiger performativer Akte.9 Dies verweist ebenso auf die Emergenz von Praktiken, da sie in jeder Ausführung durch das relationale Zusammenspiel neu im Entstehen sind; sie sind im ständigen Vollzogenwerden. Das Zusammenspiel von Praktiken und Teilnehmenden kann sich prinzipiell verändern, es können neue Teilnehmende in eine Praktik eintreten oder sie verlassen. Das ZustandeKommen einer Praktik ist in die Zukunft gerichtet offen und nicht deterministisch oder kausal (aus der Vergangenheit oder in die Zukunft) zu denken, sondern immer durch die aktuellen Bedingungen (die sich ändern können) und durch das Zusammenspiel mitbestimmt. In diesem relationalen Zusammenspiel sind nicht nur menschliche Akteure mit ihren Körpern involviert, sondern auch materielle Dinge, die das Zustandekommen von Praktiken ko-konstitutiv fördern oder verhindern können. Die prozessontologische Sicht lässt sich hier einbringen: Die Deutung inhärent unbestimmter Situationen werden durch Interaktion der an ihr beteiligten Akteure ausgehandelt. Durch die Schaffung von Routinen und Praktiken lässt sich Bestimmtheit laufend herstellen, wobei die Praktiken emergent und performativ sind. Stabilität ist nicht gegeben, sondern wird permanent durch das Zutun der Akteure erzeugt. Praktiken können als sich stabilisierende Prozesse verstanden werden. Bestimmtheit ist prinzipiell fragil. Auch in der pädagogischen Forschung sind praxeologische Perspektiven etabliert (z.B. Jensen/Nerland/Enquist-Jensen 2015, Fenwick 2016, Schatzki 2012). Das Erlernen einer Profession etwa stellt sich als das Hineinarbeiten in spezifische Praktiken dar.
9
Auch der gekonnte Umgang mit Problemen und Irritationen (bei Hörning (2001, 2004) kommt hier das praktische Wissen der Teilnehmenden zum Einsatz) ist relational und performativ zu verstehen.
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D IGITALITÄT
Jörg Dräger und Ralph Müller-Eiselt (2015), deren Konzept einer digitalen Bildungsrevolution exemplarisch für viele öffentliche Diskurse um digitale Bildung steht, machen »vor allem das Individuum, unabhängig von seiner sozialen Umgebung und seiner Biographie dafür verantwortlich, mit Fähigkeit, Ehrgeiz und Ausdauer Aufstiegschancen wahrzunehmen« (Schröder 2016: 17) und schlagen zum Beispiel Udacity, einen Anbieter von Massive Open Online Courses (MOOCs) als Alternative zu etablierten Bildungsinstitutionen vor. Sollte der (medientechnisch) offene Zugang nicht zur Teilhabe am Lernprozess oder an den Gemeinschaften, die sich in MOOCs entwickeln, führen, wird die Verantwortung im Individuum gesucht. Das Social Web wird in einer solchen Perspektive als Summe der Beiträge von Individuen gedacht und übersieht die sich entwickelnden Formen der Gemeinschaftlichkeit, zu denen Zugang nur gelingt, wenn der Beitrag des Einzelnen von anderen als Beitrag zum Gemeinschaftlichen anerkannt wird, wenn der Einzelne sich also in den jeweiligen Praktiken als TeilnehmerIn konstituieren kann, indem er sie re-kreieren kann. Bei Stalder (2016b) wird die laufende (Re-)Produktion sozialer Praktiken konstitutives Element der kommunikativen Selbstkonstitution: »In der unablässigen Kommunikation als konstitutives Element der sozialen Existenz verschränkt sich persönliches Begehren nach Selbstkonstitution und Orientierung mit dem äußeren Druck, präsent und verfügbar sein zu müssen, zu einem neuen verbindlichen Anforderungsprofil. Das Verhältnis von innerer Motivation und äußerem Druck kann dabei stark variieren, je nach Charakter der gemeinschaftlichen Formation und der Position des Einzelnen in ihr – wobei nicht der Einzelne bestimmt, was gelungene Kommunikation ist, was einen Beitrag zur gemeinschaftlichen Formation darstellt oder in welcher Form man präsent zu sein hat. Diese Entscheidungen werden – in Form von positivem, negativem oder ausbleibendem Feedback – von anderen Mitgliedern getroffen, und zwar unter Rückgriff auf den gemeinsam konstituierten interpretativen Rahmen.« (Ebd.: 137)
Insofern ist Open Education nicht per se offen, da das Individuum alleine seine Beteiligung nicht sicherstellen kann. Dräger und Müller-Eiselt verstehen digital als Eigenschaft von Lerntechnologien, die Individualisierung ermöglichen. In diesem und vergleichbaren Diskursen bleibt das Konzept von Individualisierung jedoch implizit – letztendlich manifestiert sich darin jedoch eine formalisierbare und insofern technizistische Sichtweise auf Bildung und ein Konzept von Individualisierung als Atomisierung. Sie beinhaltet die Vorstellung von Lernen als
50 | A LLERT & A SMUSSEN Weitergabe von bereits bestimmtem Wissen und Vermittlung bestehender Kultur, Bedeutung und Regeln an isolierte Individuen. Wie aber realisiert sich das Verhältnis von Individualisierung und Heterogenität in der Kultur der Digitalität und wie ist Individualisierung zu verstehen? Entsprechend Stalder (ebd.) transformiert sich das im soziologischen Mainstream seit den 1980er Jahren verhandelte Konzept von Individualisierung als Atomisierung mit der »starken Betonung der Freiheit des Einzelnen – zu realisieren als individueller Akteur im als offen konzipierten Markt und gegen die als bevormundend dargestellten Kollektivmechanismen« (ebd.: 130) – in der Kultur der Digitalität in eine Form der Individualisierung und Gemeinschaftlichkeit: »Nicht nur die etablierten zivilgesellschaftlichen Institutionen werden ausgehöhlt, sondern auch relativ neue kollektive Akteure differenzieren sich immer weiter aus [...]. Aber dennoch oder wohl korrekter: gerade deswegen, entstehen in diesen Verästelungen, den kleinen Handlungen des Alltags, neue Formen der Gemeinschaftlichkeit. Und diese neuen gemeinschaftlichen Formationen, nicht singuläre Personen, sind die eigentlichen Subjekte, die Kultur, also geteilte Bedeutung, hervorbringen.« (Stalder 2016b: 130f)
Kognitive Kapazität liegt demnach nicht mehr nur beim Individuum sondern auch in kollektiven Formen bzw. in der Verwiesenheit aufeinander. Von der Idee performativer Praktiken sind nicht nur Konzepte von Bildung und Individualisierung berührt, sondern grundlegende Konzepte wie die des essentialistischen Selbst, bzw. Subjekts, der bürgerlichen Freiheit und der Autonomie. Sie stellen keine anthropologischen Grundkonstanten oder finalen Bestimmungen dar, sondern in Praktiken erzeugte Formen. Stalder (2016a) schlägt vor, die Form der Autonomie neu zu bestimmen. Wenn wir das Internet als ein komplexes Gewebe sozialer Praktiken betrachten und es nicht auf seine technische Infrastruktur reduzieren, so können wir einen Blick auf Subjektivierungsprozesse werfen. Subjektivierung beschreibt Prozesse und Praktiken, in denen wir uns als Subjekt gleichsam entwerfen und entworfen werden. Stalder (2016b) beschreibt eine Veränderung des Subjekt-Typus in der Kultur der Digitalität: In immer neuen Segmenten und in den Leerstellen klassischer Institutionen entwickeln sich gemeinschaftliche Formationen, die durch ihre je eigenen Praktiken konstituiert werden. Er bezieht sich mit dem Begriff der gemeinschaftlichen Formation auf Lave und Wengers Konzept der Community of Practice. Performativ sind die Praktiken insofern, als dass jeder einzelne Beitrag die Praktik und somit den Kontext und interpretativen Rahmen miterzeugt. Die gemeinschaftliche Formation, ihre Regeln und Interaktionsmodi, als auch Einzelne, die sich beteiligen,
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werden laufend in den sich entwickelnden Praktiken konstituiert. Ein aus dem interpretativen Rahmen isolierter Beitrag trägt seine Bedeutung nicht vollständig in sich. »Alle Mitglieder sind aktiv an der Konstituierung dieses Feldes beteiligt« (Stalder 2016b: 136). Subjekte werden Teil einer Gemeinschaft, wenn ihr Beitrag dort als Beitrag zur Gemeinschaft wahrgenommen und anerkannt wird. Gleichzeitig konstituiert jeder einzelne Beitrag die Gemeinschaft mit, da er die Praktik so laufend reproduziert, (mit-)erzeugt, neu produziert und transaktional entwickelt. »Der Einzelne muss viel und kontinuierlich kommunizieren, um sich innerhalb der Felder und Praktiken zu konstituieren, sonst bleibt er unsichtbar. Die dazu notwendige Masse an Tweets, Updates, E-Mails, Blogs, geteilten Bildern, Texten, Einträgen auf kollaborativen Plattformen, Datenbanken und so weiter kann nur mithilfe von digitalen Technologien produziert und reproduziert werden.« (Stalder 2016b: 137)
Regeln und Konzepte sind den Praktiken nicht vorausgehend und bestimmbar, sondern werden laufend erzeugt. Betrachten wir dies als relationales Gefüge, so geht das Subjekt den Praktiken nicht voraus, da es sich in diesen Praktiken laufend entwirft und entworfen wird. Während ein Verlag zur Herstellung einer Enzyklopädie Experten berufen würde, die bereits zuvor als solche in bzw. durch Institutionen ausgewiesen sind, entstehen sowohl die Identität als Wikipedianer als auch entsprechendes Expertentum durch die Arbeit an der Wikipedia, durch das Schreiben der Beiträge und die Konstitution des Gesamten selbst (vgl. Bryant/Forte/Bruckman 2005, Ebersbach/Glaser/Heigl 2008). Die Idee des performativen Selbst sieht das Entwerfen und entworfen werden und das in der Situation und in Bezug auf die jeweiligen gemeinschaftlichen Formationen Hergestellte als profund an. Das steht im Gegensatz zur bürgerlichen Idee des essentialistischen Selbst, die von einem wahren konstanten Kern ausgeht, das durch Darstellung nach Außen verschleiert werden kann. Man könnte praxeologisch sogar formulieren, dass die Idee des essentialistischen Selbst Praktiken voraussetzt, die Bestimmtheit erzeugen, da immer von einem sicheren und unveränderlichen Kern heraus agiert werden kann.10 10 Empirische Arbeiten der digitalen Anthropologie bieten Belege dafür, dass die Konzepte vom Selbst keine anthropologische Grundkonstanten, sondern kulturell Vermittelte sind. Miller et al. (2016) arbeiten in ihren kulturvergleichenden Untersuchungen verschiedene Vorstellungen vom Selbst heraus und beschreiben sie als sozial und kulturell vermittelt. Sie nehmen an, dass hierarchisch organisierte Gesellschaften mit historisch gewachsenen Institutionen, dazu tendieren, Wahrheit im tiefen und konstanten Kern zu verorten während das Sichtbare als oberflächlich und flüchtig angesehen
52 | A LLERT & A SMUSSEN Auch die Idee bürgerlicher Freiheit als Freiraum außerhalb gesellschaftlicher Institutionen wird durch Praktiken digitaler Kultur fragwürdig: Persönliche und bürgerliche Freiheit werden in westlichen Kulturen verstanden als unbeobachtet sein, »dem Staat und der Industrie einen möglichst großen geschützten Raum abzutrotzen, während eine junge Generation jetzt ihre Tür weit aufmacht. Sie scheint zu rufen: Ist uns doch egal. Kommt alle rein!« (Hamann 2007: 1). Der Schutz der Privatsphäre vor dem Zugriff des Staates und vor kommerziellen Interessen wird traditionell als Form der Autonomie verstanden. Aus diesem Verständnis heraus wird der veränderte Umgang mit Privatsphäre als Zeichen der Naivität der Personen gesehen. Jeremy Knox bemerkt, dass Open Education genau auf dieser Idee bürgerlicher Freiheit aufsetzt und das Individuum von Institutionen freistellt um es direkt zu adressieren (Knox 2014). Stalder (2016a) regt jedoch an, Autonomie nicht aufzugeben, sondern neu zu bestimmen. In der Kultur der Digitalität kann der veränderte Umgang mit Daten und der Wunsch nach Sichtbarkeit durch eigene Beiträge im Internet als Zeichen des Wandels des Subjekt-Typs, der sozialen Praktiken und der Form der Autonomie verstanden werden. Autonomie und Produktivsein werden auf neue Weise miteinander verwoben und zum Umgang mit Unbestimmtheit.
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UND
H ERSTELLEN
Im Zusammenhang mit der Auflösung der Privatsphäre beschreibt Stalder eine neue Form der Autonomie. Diese grenzt er gegen die klassische Figur ab, die Autonomie als Rückzug des Individuums in Freiräume außerhalb gesellschaftlicher Institutionen entwirft. In den Arbeiten der kritischen Erziehungswissenschaft erkennt Masschelein (2003) eine vergleichbare (idealisierte) klassische Figur, um dann zu fragen, wie Autonomie heute neu zu denken sei. Autonomie realisiere sich entsprechend der Ansätze kritischer Erziehungswissenschaft durch das Bewahren von Distanz, und das werde zunehmend schwierig:
wird. „But Trinidadians, with their history of slavery and subsequent concerns with freedom and equality, believe that identity is not given by institutions such as class, occupation or upbringing. Instead, a person makes an effort to construct who they are on each occasion, and they feel that this is what other people should judge them on, since this is a result of their own labour and choices« (ebd.: 1).
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»Ausgehen möchte ich von dem, was von Dietrich und Müller neulich als Grundproblem der Erziehungswissenschaft und gerade auch der kritischen Erziehungswissenschaft angedeutet worden ist: ›die Frage nach den Chancen des Individuums, seiner eigenen Verstrickung in die historisch-gesellschaftlichen Verhältnisse gegenüber Distanz zu bewahren‹ (Dietrich/Müller, 2000, S.12). Distanz oder die Distanzierung kann in der Tat als Basisbewegung der Kritik betrachtet werden.« (Ebd.: 124)
Die Emanzipation von gesellschaftlichen Verstrickungen, die »geistige und sittliche Souveränität gegenüber den Zwängen der Welt und des praktischen Lebens« (Schelsky 1979: 478), den Vernunftgebrauch »gegenüber dem hörigen Ausgeliefert sein an soziale, politische, ökonomische Konstellationen« (Ruhloff 2000: 31) und weitere Referenzen führt Masschelein an, um die klassische historische Figur aufzuzeigen, die darin besteht, über Distanz zu und Distanzierung von Systemen, im Gegenüber zu sozialen Konstellationen, heraus aus der Verwobenheit mit gesellschaftlichen Prozessen und raus aus der Verstrickung in die historisch-gesellschaftlichen Verhältnisse die Idee von Menschlichkeit zu realisieren. Autonomie ist in dieser Figur das frei sein von, das Gegenüber zu, das Herauslösen aus Verwobenheit. Über Kritik und Emanzipation wird Autonomie erlangt. Diese Figur ist in der Krise, denn es zeichnen sich mehrere Entwicklungen ab, die hier nur kurz skizziert werden. Masschelein selbst benennt sie als Trivialisierung von Kritik: »Begriffe wie Autonomie, Selbstbestimmung, Kritik, Befreiung haben die Fronten gewechselt, und es ist zunehmend unklar, wo überhaupt die Fronten verlaufen (siehe dazu auch Bröckling 2001). Die Vermutung, dass Autonomie und Kritik nicht mehr gegen die gesellschaftliche Ordnung und gegen die Herrschaft und Macht eingebracht werden können, sondern gerade Teil dieser Ordnung sind, oder, zugespitzt und allgemeiner formuliert, dass Autonomie nicht mehr einfach als Antithese von Herrschaft dargestellt werden kann, sondern als avancierteste Form der Macht zu deuten ist, ist auf unterschiedliche Weise von verschiedenen Autoren formuliert worden. [...] Kritik ist Teil des Systems, sie ist grade ein starkes operatives Element in dem Prozess, in dem dieses System sich weiterentwickelt.« (Masschelein 2003: 129f.)
Reckwitz schreibt Kreativität, die ursprünglich eine Form der Kritik von Künstlergemeinschaften an der Gesellschaft war, eine ähnliche Entwicklung zu. Heute wird Kreativität funktional im System: Jeder will und soll heute kreativ sein (vgl. Reckwitz 2013). Wenn Distanzierung von Systemen, wenn Reflexion als (gedankliches) Heraustreten aus der Praxis nicht mehr möglich ist, wenn wir laufend verstrickt sind, wenn Kritik und Kreativität funktional innerhalb von Sys-
54 | A LLERT & A SMUSSEN temen werden, dann würde Autonomie aufrecht zu erhalten oder zu gewinnen im Sinne kritischer Erziehungswissenschaft unmöglich werden. Die Idee eines autonomen Subjekts nach diesem Verständnis, löst sich auf.11 Das heißt aber nicht, dass Autonomie aufgegeben, sondern dass ihre Form neu bestimmt werden muss. Stalder (2016a) beschreibt eine neue Form der Autonomie: Von einer Figur der Autonomie als bürgerlicher Freiheit hin zu einer Form der Autonomie als Produktion von Differenz in gemeinschaftlichen Formationen. Hörning (2004) formuliert die Figur des reflexiven Mitspielers. Im Folgenden entwickeln wir basierend darauf eine Form der Autonomie, die dem transaktionalen Bildungsverständnis zugrunde liegt.
A UTONOMIE & TRANSAKTIONALES B ILDUNGSVERSTÄNDNIS Diese ›Form der Autonomie‹ setzt beim Andershandeln, bei eigensinnigen und produktiven Spielzügen an. Sie ist insofern ein produktiver Umgang mit Unbestimmtheit und Unsicherheit, mit dem Hineinwerfen und Hineingeworfensein in die unbestimmte Situation, als dass sie die transaktionale Teilnahme an performativen Praktiken und die Herstellung von Differenz im Miterzeugen der Gemeinschaftlichkeit als Autonomie versteht. Erkennen und Transformation einer Praktik sind aufeinander verwiesen. Soziale Praktiken werden durch produktive und eigensinnige Spielzüge in Erfahrung gebracht. Ein eigensinniger Spielzug ist zunächst spekulativ – er erfordert Anschlusszüge, die er nicht determinieren kann – und er ist transaktional. Er leistet dies, indem sich der Spieler an der
11 Neben der praxeologischen Perspektive stellen weitere Theorieentwürfe und empirische Studien etwa in den Science und Technology Studies die Dichotomie zwischen Subjekt und technischem Objekt in Frage. Entsprechende Ansätze entstehen jenseits von technikdeterministischen und kulturalistischen Positionen. Wanda Orlikowski (2007) formuliert den Begriff der konstitutiven Verwobenheit des Menschen bzw. seiner Tätigkeiten mit technischen Dingen, wobei die Qualitäten beider emergent in den Praktiken entstehen. Roy Pea (1987) arbeitet soziohistorische Perspektiven auf und fasst zusammen, dass Technologien unser Denken nicht schlicht erweitern, sondern reorganisieren: »I take as axiomatic that intelligence is not a quality of the mind alone, but a product of the relation between mental structures and the tools of the intellect provided by the culture« (ebd.: 91). Er verweist darauf, dass technische Objekte nicht aus einer außerhalb des Sozialen existierenden Sphäre stammen, sondern in und durch soziale Prozesse entstehen und in diese und ins Denken wiederum hineinwirken.
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Praktik beteiligt und sich nicht außerhalb stellt. Dieser Abschnitt wird praxeologische und prozessontologische Überlegungen darlegen um zu einem transaktionalen Bildungsverständnis zu kommen. In gemeinschaftlichen Formen reproduziert der einzelne Beitrag gleichzeitig das Gemeinschaftliche und stellt darauf bezogen eine Differenz her. In der Produktion von Differenz bei gleichzeitiger Reproduktion des Gemeinsamen, erlebt der Einzelne Autonomie und sich selbst als Subjekt (vgl. Stalder 2016a). Insofern ist der gegenwärtige Subjekttyp im Sinne von Individualisierung und Gemeinschaftlichkeit zu verstehen: »Die Konstitution von Singularität und die von Gemeinschaftlichkeit, in der ein Mensch als Person wahrnehmbar werden kann, erleben die Nutzer als gleichzeitige und reziproke Prozesse. Millionenfach und schon beinahe unbewusst (weil alltäglich) üben sie ein Verhältnis von Einzelnem zu anderen ein, das so gar nicht mehr dem liberalen Gegensatz zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen persönlicher und Gruppenidentität entspricht. Anstatt sich als einander ausschließliche Entitäten zu sehen (entweder emphatische Affirmation des Individuums oder seine Auflösung in der homogenen Gruppe, setzen die neuen Formationen voraus, dass die Produktion von Differenz und Gemeinsamkeit gleichzeitig geschieht.« (Stalder 2016b: 141, der sich hier auf Jeremy Gilbert (2013), Democracy and Collectivity in an Age of Individualism, London: Pluto Books, bezieht)
Welche Bedeutung hat dies für pädagogische Fragen? Strategien digitaler Bildung verweisen auf Individualisierungsmöglichkeiten durch Medien, wobei das Konzept von Individualisierung implizit bleibt aber letztendlich eine subjektorientierte Perspektive einnimmt. So schreibt die Kultusminister Konferenz: »Bei der Gestaltung von Lehr- und Lernprozessen werden digitale Lernumgebungen entsprechend curricularer Vorgaben dem Primat des Pädagogischen folgend systematisch eingesetzt. Durch eine an die neu zur Verfügung stehenden Möglichkeiten angepasste Unterrichtsgestaltung werden die Individualisierungsmöglichkeiten und die Übernahme von Eigenverantwortung bei den Lernprozessen gestärkt.« (Kultusministerkonferenz 2016: 12)
Die instrumentelle Sicht auf Medien wird hier ergänzt durch ein Konzept von Individualisierung, das dem liberalen Gegensatz zwischen Individuum und Gesellschaft entspricht. Das Konzept von Individualisierung das der instrumentellen Sicht auf Medien zugrunde liegt entspricht nicht dem Konzept von Individualisierung und Gemeinschaftlichkeit der Kultur der Digitalität. Die instrumen-
56 | A LLERT & A SMUSSEN telle Sicht kann die Transformation wesentlicher Praktiken und Konzepte wie Autonomie und Individualisierung nicht fassen und bearbeiten. Eine praxeologische Perspektive gibt die Idee von Autonomie nicht auf, sondern versucht sie im Verhältnis von Individuum und Sozialem über den Begriff der Reflexion/Reflexivität in Bezug auf performative Praktiken zu klären. Reckwitz (2009) spricht von Praktiken der Reflexivität. Er fragt vor allem: »Was tun Akteure eigentlich, wenn sie reflexiv sind, was ist die Form des ›doing reflexivity‹?« (ebd.: 177). Hiernach gibt es Praktiken, die eine Reflexivität des Subjekts – mit konstitutivem Einbezug von Artefakten (vgl. ebd.: 179) – befördern. Reckwitz nennt hier als Beispiel Praktiken des self-monitoring oder der Selbstoptimierung. Damit fällt die Reflexion nicht unter situationsunabhängige, kontemplative Denkakte. Im Gegenteil: Sie wird zu einer routinisierten Aktivität innerhalb eines Praxiskomplexes. Alkemeyer/Schürmann/Michaeler (2015) grenzen sich explizit von Reckwitz Vorschlag ab, dass Reflexion lediglich Teil bestimmter Praktiken sei. Sie verorten Reflexivität vielmehr im relationalen Gefüge der Praxis selbst: »Indem mitkommuniziert wird, welche Anschlusshandlungen voneinander erwartet werden und welche nicht, entfalten die aneinander ausgerichteten Spielzüge eine normative Dimension, die der Praxis zwar nicht ihre Kontingenz nimmt, aber doch eine erkennbare Richtung gibt. Statt eines routinierten Ablaufs treten so die von Konflikten, Brüchen, Machtrelationen, Bewertungen und Ausschließungen gekennzeichneten Prozesse der Abstimmung in den Blick.« (Alkemeyer/Buschmann/Michaeler 2015: 32)
Sie betrachten Reflexion jedoch nach wie vor als ›einen Schritt zurück‹, also als ein Herauslösen aus der Situation. Alkemeyer/Buschmann/Michaeler (2015: 45) betonen, dass es sich hierbei um eine »›relative‹ Autonomie« handelt, da man nie ganz aus der Praxis heraustreten kann, man immer schon in die Welt verwickelt ist. Hörning hat an dieser Stelle – basierend auf pragmatistischen Grundannahmen,12 eine andere Perspektive auf Reflexion.13 Noch stärker als die anderen Autoren verortet er die Reflexion in der Situation, in den sozialen Praktiken. Hierzu führt er die Figur des reflexiven Mitspielers ein, die mit der Fähigkeit zur 12 Für eine genauere Darlegung des pragmatistischen Reflexionsbegriffes siehe Lüken (2017) und die dortigen konkreten Verweise auf John Dewey. 13 Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass die verschiedenen Autoren sich alle darin gleichen, dass Reflexion nicht a priori gedacht werden kann, sondern sich immer aus der Erfahrung speist und nur in konkreten Situationen äußert. Eine Reflexion außerhalb von Praxis ist somit nicht denkbar.
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Gleichzeitigkeit von Anpassung und Eigensinn ausgestattet ist. Der reflexive Mitspieler kann sich auf Praktiken einlassen und gleichzeitig Distanz einnehmen und Eigensinn aufbringen: »Ganz im Gegensatz zu Bourdieus Konzeption, in der sich einem Akteur schwerlich vielgliedrige oder plurale Habitusformen inkorporieren lassen, tritt etwa in der Figur des reflexiven Mitspielers ein praktisches Wissen zutage, das mit den Widersprüchen gesellschaftlicher Transformationen auf eine neue Art und Weise umgeht. Sie pendelt zwischen Adaption an die Verhältnisse und widerspenstige Skepsis.« (Hörning 2004: 36)
Mit dieser Figur wird deutlich, dass Reflektion zum Einen nicht losgelöst von alltäglichen Zusammenhängen, von sozialen Praktiken und von Erfahrung gedacht werden kann. Reflexives Vorgehen findet nur im Wechselspiel von »Anpassung und Eigensinn« (ebd.) statt und der Eigensinn ist keine substanzialistische Eigenschaft, die über jegliche Kontexte erhaben ist, sondern zeigt sich immer nur konkret in der Praktik: »In dem dargestellten Handlungsmodell verankern wir Kreativität im Handeln. Damit suchen wir das Veränderliche, Unbestimmte der sozialen Praktiken nicht in vorgängigen Strebungen oder Fähigkeiten von Subjekten, sondern im Ablauf der Praktiken selbst: in ihrem Gelingen oder Misslingen, in ihrem immer wieder Neu-Ansetzen und den Modifikationen von Vorhandenem. Nicht der Akteur, sondern die Praktiken mit ihren Handlungsabläufen und –problemen sind Ausgangspunkt der Analyse. Wiederholungen und Innovation, das Beständig-Gewohnte und das Suchend-Offene, sind zwei Seiten der sozialen Praxis.« (Hörning 2004: 33)
Dies richtet sich gegen die traditionelle Annahme, dass Distanz, das Herausgelöstsein aus konkreten Lebenszusammenhängen, als Bedingung von Erkenntnis und Vernunft gilt (ebd.: 20). Das menschliche Erkennen hat »seinen Ort innerhalb des ›In-der-Welt-Seins-und-Handelns‹« (ebd.). Ein klassischer Begriff von Autonomie als kritische Distanzierung vom Geschehen zur Reflexion und Erkenntnisgewinnung wird somit abgelehnt, denn »Vernunft und Erkennen [...] werden durch die Einordnung in die Welt begründet« (ebd.: 21). Für die Erziehungswissenschaft werden die Begriffe Distanz und Reflexion von Winfried Marotzki in Bezug zu Performativität konzeptionell gefasst. Er geht davon aus, dass das Individuum Handlungen unhinterfragt und performativ, also in Vollzügen und Aufführungen verstrickt, im Alltag ausführt:
58 | A LLERT & A SMUSSEN »Solange die performativen Akte also im Sinne einer gewissen Viabilität gelingen, gehen wir nicht auf Distanz zu dieser natürlichen Einstellung. Erst dann, wenn Viabilität nicht mehr sichergestellt ist, wenn unser Handeln und Verhalten nicht mehr erfolgreich sind, klammern wir die Natürlichkeit dieser Welt gleichsam ein und gehen zu ihr auf Distanz: wir reflektieren über sie.« (Marotzki 2007: 183)
Marotzki spricht hiernach dem Alltag Performativität zu, sieht aber als gegenüberliegenden Pol die Reflexion und das Auf-Distanz-gehen, was dann quasi die Performativität stoppt. Dies impliziert, dass ein Problem, eine Situation zumindest vorläufig gefasst, erkannt und repräsentational bestimmt werden kann, um dieses Verständnis zum Gegenstand von Reflexion zu machen. Das transaktionale Bildungsverständnis, das dieser Beitrag entwickelt, versteht Reflexion und Kritik statt des ›Schrittes zurück‹ oder ›heraus‹, als ›Schritt nach vorne‹ in die Situation. Reflexion wird an der Überführung von Bestimmtheit zu Unbestimmtheit und von Unbestimmtheit zu Bestimmtheit realisiert. Unter Rückgriff auf praxeologische und prozessontologische Überlegungen geht der Ansatz davon aus, dass die Akteure immer performativ verstrickt sind und sich mit eigensinnigen und produktiven Zügen an Praktiken beteiligen, um diese im Sinne von Reflexion transaktional auszuloten, d.h. zu erkennen und zu transformieren. Wir nennen den eigensinnigen und produktiven Zug poetischen Spielzug (siehe Richter/Allert in diesem Band). Der poetische Zug stoppt die Performativität nicht. Er ist ein eigensinniger Zug innerhalb einer Praktik, er ist notwendigerweise spekulativ, da er Anschlusszüge und folgende Aushandlungsprozesse nicht determiniert, aber herausfordert bzw. befragt. Der Zug muss nicht als eigenwillig intendiert sein. Wenn wir Routinen und Praktiken als Möglichkeit verstehen, Erwartbarkeit zu schaffen und Bestimmtheit laufend und durch das ständige Zutun der Akteure herzustellen,14 dann kann ein eigensinniger Beitrag die im Vollzugsgeschehen kontinuierlich hergestellte Bestimmtheit fragwürdig erscheinen lassen. Die Bestimmtheit wird durch den poetischen Zug nicht länger aufrechterhalten, denn die Situation wird in eine unbestimmte überführt. Die Akteure finden sich in einer inhärent unbestimmten Situation wieder, da kein erwarteter Zug stattgefunden hat und Bestimmtheit nicht aufrecht erhalten wird. Sie müssen nun durch Interaktion in der inhärent unbestimmten Situation (nicht durch Heraustreten und Repräsentation derselben aus der Beobachterperspektive) diese neu konstituieren und bestimmen.
14 Dass Unbestimmtheit und Unsicherheit zunehmend erfahren wird, liegt demzufolge daran, dass bestimmtheitsherstellende Praktiken wenig stabil sind, bzw. nicht lange aufrechterhalten werden. Daher erfahren Akteure zunehmend Unbestimmtheit.
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Der Bestimmtheit wohnt die Unbestimmtheit inne. Unbestimmtheit lässt sich nicht kodifizieren oder repräsentieren. Bestimmtheit und Unbestimmtheit sind gleichursprünglich.15 Poetische Züge können Bestimmtheit auflösen und in eine inhärent unbestimmte Situation überführen, die durch Interaktion der an ihr beteiligten Akteure wiederum konstituiert und bestimmt wird. Neue Praktiken, d.h. neue Praxis und Bestimmtheit müssen erzeugt werden. Neue Prozesse (Regeln und Interaktionsmodi) werden stabilisiert. Souverän sind wir durch die Möglichkeit anders handeln und Eigensinn aufbringen zu können, d.h. uns in einer Praktik konstituieren, eine Differenz herstellen und Performativität aufrecht erhalten zu können – darin erfahren wir Autonomie und sind gleichzeitig in der sozialen Praktik auf andere Akteure verwiesen. In transaktionalen Interaktionen, in der Überführung von Bestimmtheit in Unbestimmtheit und in anschließenden Aushandlungsprozessen zur Konstitution neuer Praxis und Bestimmtheit realisieren die beteiligten Akteure Reflexion und Kritik. Sie ist eine Form des Erkennens und der Transformation durch Eigensinn. Ein Beispiel für einen poetischen Zug innerhalb der Praktik einer Vorlesung: Die vortragende Dozentin macht ihre Folien in der Vorlesung für alle editierbar (technisch realisierbar mit einem online Editor der kollaboratives Editieren in Echtzeit erlaubt). Ansonsten verändert sie nichts, weder die Sitzordnung, noch den Zeitraum, noch den Ort, den Inhalt, die didaktische Methode usw. Dieser Zug bezieht sich auf die Praktik der Vorlesung, stellt aber gleichsam einen eigensinnigen Spielzug dar und führt in eine inhärent unbestimmte Situation, sobald die anderen Akteure im Sinne von (vielfältig möglichen) Anschlusszügen von der Editierbarkeit Gebrauch machen. Jemand schreibt in riesigen Lettern »Sokrates stinkt« während der Vorlesung für alle sichtbar auf die Folien, jemand bessert einen Rechtschreibfehler aus, jemand löscht »Sokrates stinkt« schnell wieder raus, jemand kopiert ein Gedicht von Jean-Paul Sartre in den Text, drei Studierende führen einen schriftlichen Dialog über den Vorlesungsinhalt und formulieren Fragen, jemand bittet, die Editierbarkeit wieder auszuschalten. Wie soll editiert und was soll getan werden? Keiner der Beteiligten kann die Situation alleine neu bestimmen (höchstens kann die Vortragende die Editierbarkeit wieder ausstellen und die eingeübte und erwartbare Praktik der Vorlesung wiederherstellen). Die in der Praktik der Vorlesung geschaffene Bestimmtheit (die Rolle der Autorin, die Relation von Vortragen und Zuhören) löst sich auf und die Beteiligten finden sich in einer inhärent unbestimmten Situation. Niemand kann aus der vorherigen Praktik die neue Praxis ableiten. Die neue Praxis und Be15 Dies legt auch Giorgio Agambens Werk Ausnahmezustand (übers. V.U. MüllerSchöll (2006), Frankfurt/M., Suhrkamp) nahe: Der Ausnahmezustand liegt dem Recht inne.
60 | A LLERT & A SMUSSEN stimmtheit muss in Interaktion, in einem Aushandlungsprozess (mittels etlicher Züge aller Beteiligten) neu geschaffen werden. Regeln und Interaktionsmodi sind der Situation nicht vorausgehend, sondern müssen im Vollzug erzeugt werden. Dadurch, dass jemand formuliert, er möchte gerne weiterhin sichergestellt wissen, dass deutlich wird, welcher Text auf den Folien von der Dozentin stammt, wird die implizite Logik der Praktik der Vorlesung deutlich.16 Nicht nur die neue Praxis, auch die an ihr beteiligten Akteure sind im Werden begriffen. Die Dozentin hat sich mit ihrem eigensinnigen Spielzug ein stückweit zur Disposition gestellt, ebenso wie die Spieler der Anschlusszüge.17 Technologien sind komplexe Akteure in unbestimmten Situationen. Poetische Züge erlauben, eine Praktik auszuloten, ihre implizite Logik teilweise zu erkennen, während sie gleichzeitig transformiert wird. Die Überführung von Bestimmtheit in Unbestimmtheit und die Überführung von Unbestimmtheit in Bestimmtheit (im Entwerfen neuer Praxis), ist jeweils transaktional. Poetische Züge sind produktiv und performativ. Wirklichkeit wird unweigerlich transformiert. Die Teilnehmenden einer Praktik beginnen also nicht sich zu beteiligen sobald sie die laufende Praktik reflektieren und erkannt haben, sondern suchen kollektive Praktiken in Erfahrung zu bringen indem sie sich daran beteiligen und darin Spielzüge setzen. Nicht die Bestimmung eines Problems ist Ausgangspunkt von Reflexion. Praktiken stellen Bestimmtheit her und machen Situationen erwartbar, sie sind jedoch nie vollständig bzw. abgeschlossen. Poetische Züge sind spekulativ und erlauben, implizite Logiken ein stückweit zu erkennen, weil Aushandlung erforderlich wird. Durch eigensinnige und alternative Spielzüge wird Erwartbarkeit aufgelöst und Unbestimmtheit erfahren.18 Neue Praxis, d.h. bestimmtheitsstiftende Praktiken, müssen die beteiligten Akteure wechselseitig
16 Eine vergleichbare Situation ist die Bereitstellung eines Wikis im Projekt nupedia. Die Editierbarkeit der Seite im WWW wurde von einem Besucher der Seite als Bug eingeschätzt. Letztendlich haben sich daraus aber die Praktiken der Wikipedia entwickelt, die unvorhersehbar waren. Nachzulesen bei Möller (2005). 17 Ein poetischer Spielzug kann auch von den Studierenden ausgehen, etwa, sich mit dem Rücken nach vorn in die Reihen zu setzen. 18 Dunne und Rabys Konzept von Critical Design kann in gewisser Weise als vergleichbar dazu verstanden werden. Objekte werden, um Fragen zu provozieren, zur Nutzung zur Verfügung gestellt um Annahmen, Dichotomien und implizite Logiken erfahrbar zu machen: »Critical Design uses speculative design proposals to challenge narrow assumptions, preconceptions and givens about the role products play in everyday life. It is more of an attitude than anything else, a position rather than a method.« http://www.dunneandraby.co.uk/content/bydandr/13/0 (Stand: 03.07.2017)
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aufeinander bezogen herstellen. In diesen Werdensprozessen realisiert sich Bildung. Manche Beiträge stellen eine Differenz dar, die von den beteiligten Akteuren als Beitrag zum Gemeinschaftlichen angesehen wird, d.h. die Kontinuität der Praktik wird aufrechterhalten. Andere überführen die bestimmtheitsschaffende Praktik in Unbestimmtheit, d.h. in die inhärent unbestimmte Situation, die durch Interaktion in ihr wiederum (neu) konstituiert und bestimmt wird. Determinierbar ist das eine oder andere nicht. Durch welchen Zug die bestimmtheitsstiftende Praktik in Unbestimmtheit überführt wird und die anschließenden Aushandlungsprozesse, ermöglichen Erkenntnisse über die Praktik selbst. Sie sind jedoch nicht absehbar. Eine Praktik mittels eines Spielzugs auszuloten kann Veränderbarkeit und Grenzen der Veränderbarkeit erkennbar machen. In Interaktion konstituieren wir uns selbst und die Situation gleichzeitig.19 Diese tätige und transformative Form der Erkenntnis kommt im Begriff transaktional zum Ausdruck.20 Weil wir selbst darin verwoben sind, ist die reflexive Selbstkonstitution eine transaktionale Selbstkonstitution. Reflexion findet in der Verwobenheit mit der Praxis statt. Man muss also den Blick vom Subjekt hin zu den Relationierungen wenden, wenn man situativreflexive Aktivitäten von Subjekten in Praktiken bzw. in der Praxis verstehen will. Es geht nicht um kritische Distanzierung, die zu einem reflexiven Erkenntnisgewinn führt und dadurch veränderte Handlungen oder Denkweisen eröffnet. Dies wäre ein Rückfall in individualistische und rationalistische Denkweisen über den Menschen. Es müssen die vielfältigen und konstitutiven Verflechtungen aller Akteure und ihre Abstimmungen, ihre Aushandlungsprozesse, ihr Anders-Handeln, ihre alternativen Spielzüge in der Situation, im Tätigkeitsfluss betrachtet werden. Dort ist Reflexion zu finden. Damit ist sie kein mentales Phänomen der Distanzierung von Situationen mit anschließendem Erkenntnisgewinn, der zum Umdenken führt. Sondern Reflexion ist – im Gegenteil – in der konkreten Praxisverwobenheit zu finden und kann eher als ein ›Schritt nach vorne‹, als ein Such-Handeln im relationalen Gefüge gesehen werden, in der tätigen Auseinandersetzung mit Praktiken und dem eigenen Selbst. Oder mit anderen Worten: Bei Reflexion kann es nicht darum gehen, Gegensatzpaare wie Mentales vs. Nicht-Mentales oder Praktiken und Praxis (wie z.B. bei Alkemeyer/Buschmann/Michaeler 2015) anzunehmen und durch Reflexion 19 Vergleichbar formulieren Menschen, die sich an der Wikipedia beteiligen, dass sie eine Identität als Wikipedianer entwickeln (Bryant, Forte, Bruckman 2005). 20 Hiermit ist eine Form der Kreativität als transaktional abzugrenzen von solchen Formen die auf Basis von Analyse und Verstehen einer Situation Innovation, bzw. innovative Produkte entwickeln.
62 | A LLERT & A SMUSSEN Autonomie über einen dieser Pole zu erlangen. Eigentlich – und pragmatistisch gedacht – muss man sich noch tiefer verstricken. Der produktive und kreative Umgang mit inhärent unbestimmten Situationen ist Grundlage des transaktionalen Bildungsverständnisses. Wir sprechen deshalb auch von Bildung als produktiver Verwicklung. Was tun Akteure dann eigentlich, wenn sie vorgeben über ihr Handeln nachzudenken/zu reflektieren? Wir vermuten, dass wir es auch hier mit einer produktiven Form der Artikulation zu tun haben, nämlich einer solchen, bei der die Akteure dem praktischen Handlungsvollzug ein (sprachliches) Modell eben dieses Handlungsvollzugs im Sinne eines partiellen Modells an die Seite stellen, das aber selbst Teil der Praktik wird. Insofern wäre auch das Nachdenken produktiv und transaktional.
F AZIT Die auf performativen Praktiken basierende Kultur der Digitalität erfordert permanent Aushandlungsprozesse, die kontingent sind. Dies können Bildungseinrichtungen, die Medien instrumentell einsetzen um Bestimmtheit zu vermitteln, nicht leisten. Während Praktiken aller Lebensbereiche wie die des Publizierens, des Autofahrens, des Politikmachens neu bestimmt werden, finden Unbestimmmtheit und Innovation in stark regulierten Bildungssituationen kaum statt. Performativität, Prozesse der Relationierung und Transaktionales werden in der instrumentellen Sicht auf Medien nicht mitgedacht. Da der Modus, mit dem Medien operieren, allerdings nicht Übertragen, sondern Vermitteln ist, da Medien unweigerlich transformieren anstatt zu transportieren, da sie konsitutiv in unseren Praktiken verwoben sind, da sie komplexe Akteure sind, wird der Versuch, Medieneinsatz auf das Instrumentelle zu reduzieren, immer scheitern. Transformations- und Aushandlungsprozesse sowie der Umgang mit Unbestimmtheit sind unausweichlich. Selbst wenn Technologien zur Regulierung und Optimierung eingesetzt werden entsteht nicht die Bestimmtheit, die intendiert ist (siehe Selbstoptimierung, Selbsteffektivierung und Ästhetisierung mittels Lauf-App). Es würde den SchülerInnen im Sinne von Bildung sogar zustehen, (personalisierte adaptive) Systeme, die Bestimmtheit vermitteln sollen, subversiv auszuloten oder transformativ ästhetisierend zu verwenden. Denn Freiheitsgrade in der Interaktion mit Technologien eigensinnig auszuloten und den Algorithmus trickreich auszuspielen ist eine kreative und produktive Form der Erkenntnis und der Kritik. Beispiele für poetische Spielzüge, Aushandlungsprozesse und die Neuproduktion von Praxis,
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Regeln und Interaktionsmodi (und damit Wirklichkeit), gibt es etliche in der digitalen Kultur. Die Aktivitäten der jüngeren Generation, können heute noch gar nicht abschließend als ›Skurrilitäten, Fehltritte oder Jugendsünden‹ bewertet werden, sondern sind auch produktive Spiele mit Konventionen, Rebellion und Variation, die zunächst auch Chancen für die Gesellschaft bieten und die viel später, wenn Wandel stattgefunden hat, erst vollständig bewertbar sind. Neu ist nicht die Exploration der jüngeren Generation, die eine wichtige Rolle in dynamischen Gesellschaften spielt, sondern dass sie in datenbasierten Systemen Spuren hinterlässt.21 Die Verwertungslogiken datenbasierter Geschäftsmodelle wurden in diesem Beitrag allerdings nicht besprochen. Da die Teilhabe am Gemeinschaftlichen in der Kultur der Digitalität nicht alleine in der Kompetenz des Individuums liegt, da das Individuum auf die Gemeinschaft verwiesen ist, ist Open Education nicht notwendigerweise für jeden offen. Demgegenüber haben Bildungsinstitutionen die Aufgabe, alle zu beteiligen, ihre Beteiligung durch formale, strukturelle, juristische und didaktische Mittel sicher zu stellen. Diese Aufgabe und dieser Wert von Bildungsinstitutionen müssen erhalten bleiben, selbst wenn etwa MOOCs als disruptiv für Bildungsinstitutionen besprochen werden (vgl. Knox 2014). Praktiken netzbasierter Gemeinschaften und offener Umgebungen können in Bildungsinstitutionen nicht reproduziert werden, da Praktiken nicht generalisiert und instanziiert werden können, wie dies allerdings in Kompetenzkatalogen22 vorgesehen ist. Eine Praktik ist immer an bestimmte gemeinschaftliche Formation gebunden. Die Idee des performativen Selbst gibt eine Idee von Menschlichkeit nicht auf. Aber Menschlichkeit wird nicht über Distanz zu Technologie erfahrbar, sondern in den performativen Praktiken selbst. Wenn formale Modelle menschliches Handeln repräsentieren, wenn die in Technologien eingeschriebenen Annahmen über den Menschen in der sich entfaltenden Praxis fragwürdig und 21 Wer Teil einer netzbasierten Gemeinschaft werden will, muss die Praktiken, durch die sie sich laufend erzeugt, re-kreieren und gleichzeitig eine Differenz dazu herstellen können. Während der Einzelne das versucht, erfährt und erkennt er zunehmend die Praktik. Er entwirft sich in dieser selbst. Dadurch, dass er Beiträge erzeugt, die von anderen als Beiträge zur Gemeinschaft anerkannt werden, erkennt er die (Praktik der) Gemeinschaft und reflektiert sein im Werden begriffenes performatives Selbst. Wer etwa an der Wikipedia mitarbeitet tut dies nicht nur um zu etwas von großem kulturellem Wert beizutragen. Die Arbeit transformiert auch die eigene Identität (Bryant et al. 2005). Der Einzelne kann im Versuch die Praktik zu reproduzieren aber auch hinterfragen, ob er sich überhaupt darin entwerfen will. In diesem Werden des performativen Selbst, hinterlässt er bereits Daten und konstituiert Realität. 22 Etwa in der KMK Strategie »Bildung in der digitalen Welt«.
64 | A LLERT & A SMUSSEN dadurch erkennbar werden, ermöglichen sie Fragen, was Menschlichkeit ist, was Menschsein ausmacht und bedeutet. Wenn Optimierung unter den gleichen Annahmen nicht funktioniert. Die Qualität aller Akteure realisiert sich erst in Praktiken.
L ITERATUR
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Wissen in digitalen Zeiten K ARL H EINZ H ÖRNING
Die schnell fortschreitenden Prozesse der Digitalisierung unserer Lebensverhältnisse bringen deutlich veränderte Anforderungen an unser Wissen mit sich. Im Folgenden frage ich nach diesen neuen Formen des Wissens, wie sie sich im Rahmen unseres alltagspraktischen Umgangs mit den neuen Techniken herausschälen. Um diesen angemessen auf die Spur zu kommen, nehme ich eine praxistheoretische Perspektive ein, die die komplexen Wechselwirkungen von technischem Artefakt und menschlichem Tun in den Mittelpunkt stellt. Dabei kommt als hervorstechendes Ergebnis ein spezifisch praktisches Wissen in den Blick, das als kritisch-reflexive Fähigkeit auch in neuartige Formen praktischer Vernunft einzumünden vermag.
I MMER
MEHR MISCHEN MIT
Als Menschen der Moderne verwickeln wir uns von früh an durch unser tägliches Handeln mit der technischen Ausrüstung der Welt, ihren materiellen Artefakten, Installationen, Netzwerken, Programmen, Algorithmen. Auf diese Weise mischen all diese Dinge auf sehr unterschiedliche Weise mit im Geflecht unserer fortlaufenden sozialen Praktiken und beteiligen sich so aktiv an Aufbau und Veränderung menschlicher Verhältnisse. Heute gilt das mehr denn je. Gerade die Digitalisierung verstärkt die Tendenz einer von Technik durchdrungenen sozialen Praxis. Sie steigert die Verwobenheit. Die Netze werden immer engmaschiger. Immer mehr spielen mit. Damit kommt erst heute so richtig das Dazwischen, das Beziehungsgeflecht in den Blick. Die darin wirkenden Vermittlungen, Mobilisierungen, Überlappungen, Transformationen werden so zur sozialtheoretischen Herausforderung. Lange beschäftigte uns die Frage, was wir alles mit den Dingen tun können und
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welche Chancen und vor allem Risiken wir damit hervorrufen. Heute dreht sich bei zunehmender Technisierung und Digitalisierung die Frage darum, was die Dinge mit uns tun, wie sie unser Denken und Handeln mitprägen, wie sie uns auf den Leib rücken, uns in Anspruch nehmen, vereinnahmen, hineinziehen. Lange sahen wir die Dinge als Objekte, Instrumente, über die wir als aktiv Handelnde verfügen, oder wir sahen sie lediglich als Gegenstände unserer Bedeutungszuschreibung oder Symbolisierung und verkannten dabei ihre transformierende Wirkung im Auf und Ab unseres täglichen Tuns. Oder wir schrieben ihnen eine zu große unentrinnbare Eigenmacht zu, die die Lebenswelt völlig zu überlagern und zu determinieren droht. So ging es hin und her zwischen einer Unter- oder Überbewertung der Dinge. Heute sind wir angehalten, das Entweder-oder hinter uns zu lassen und nach den dynamischen Vermischungen von Menschen und Dingen zu fragen, hat doch die zunehmende Digitalisierung schon jetzt zu einer erheblichen Vermehrung von technischen Ver-Mittlern geführt, deren Verknüpfung mit unserer Alltagspraxis uns immer mehr dazu veranlasst, in einer bestimmten, gegenüber der bisherigen Praxis, deutlich veränderten Weise zu handeln. Um dem gerecht zu werden, verlasse ich im Folgenden den einseitigen (›cartesianischen‹) subjektzentrierten Blick, verlasse die binäre Dichotomie zwischen Subjekt und Objekt und nehme konsequent eine Prozess- und Vollzugsperspektive ein. In der Ausführung der fortlaufenden Praktiken selbst, in deren Vollzug findet die Hereinnahme, Zusammenführung und Auseinandersetzung mit den Dingen statt. Hier finden die Vermittlungen statt, hier bauen sich die Mischungen auf, werden sie aktiviert, entfalten, wandeln sie sich, lösen sich auf, gruppieren sich neu. Im Vollzug selbst werden die Dinge wirksam, gewöhnen wir uns an sie, werden sie Teil unserer Alltagsrituale und befördern sie. Im Vollzug selbst werden die vorprogrammierten Handlungsanleitungen aber auch aufsässig, beschäftigen uns, irritieren uns, bringen uns zum Reflektieren und Kommunizieren über sie. Dort werden wir mit ihnen tätig, probieren und experimentieren mit ihnen, haben Erfolg, Freude bzw. Ärger, sortieren sie aus, setzen die Suche nach Alternativen und Neumischungen in Gange. Auf diese vielfältig verwickelte Weise bringen uns die Dinge dazu, Dinge zu tun, die wir ohne sie nicht tun würden. Nicht nur wir, sondern immer mehr heuern uns die Dinge an. Unter ihrer Beteiligung haben sich vor allem die Kommunikations- und Mobilitätspraktiken grundlegend geändert. Viele der digitalen Medien partizipieren durchgehend an unseren Handlungen und Routinen; wir schauen unentwegt aufs Handy, ohne es zu merken. Und die permanente Verfügbarkeit des Internets via Smartphone hat dazu geführt, dass sich die Mobilitätspraktiken durch den mobi-
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len Zugang zu Navigation, Routenwahl, Ticketerwerb, Reservierungen u. dgl. erheblich verändert haben. Ständig spielen die Medien mit, vereinnahmen uns geschmeidig, fordern uns heraus, liefern uns weltumspannende Informationen und Einblicke, genauso wie wir mit ihrer Hilfe jenseits jeglicher lokaler Beschränkungen soziale Beziehungen aufbauen und intensivieren. Michel Serres, in seinem vehementen Plädoyer für das Hybride, für eine »zu schaffende Philosophie der Mischungen«, meint dazu: »Maschinen und Werkzeuge könnten nicht in so beträchtlichem Maße zur Herstellung von Gemeinschaften und zur Verzweigung der Geschichte beitragen, wenn sie lediglich passive Objekte wären. Diese Stifte, Schreibutensilien, Tafeln, Bücher, Disketten, Konsolen, Chips und Netzwerke erzeugen nicht nur Wissen und Information, nicht nur Fähigkeiten, Fantasie, Intelligenz und Gedächtnis, sondern zugleich auch die Gruppen, die denken, sich erinnern, etwas zum Ausdruck bringen und gelegentlich auch etwas erfinden, und damit erzeugen sie gleichsam am Horizont zum ersten Mal die Menschheit als globales Subjekt des Denkens.« (Serres 2005: 122f.)
Doch auch wenn wir heute im Zuge der Digitalisierung immer mehr auf derartige hybride Beziehungen, heterogene Netzwerke und globale Verweisungsgefüge aufmerksam werden, sollten wir doch all die Ambivalenzen und Widersprüche nicht übersehen, die es stets erneut im Austausch mit anderen zu bearbeiten gilt, wollen wir uns nicht in den Netzen verfangen und mit unerwarteten Gefahren und fatalen Folgen konfrontiert werden. Dies erfordert nicht nur spezielle Fähigkeiten und Fertigkeiten in unserem Alltag, nicht nur ein Handlungswissen und ein besonderes Können, sondern auch ein praktisches Erfahrungswissen, das auch vielfältige Reflexionen, Bewertungen und Kritik einzubringen vermag. Als Mitglied moderner Gesellschaften sind wir aber nicht nur mit technischmateriellen, sondern auch mit einer Fülle sozialer und kultureller Uneindeutigkeiten konfrontiert. Mit all diesen Kontingenzen einigermaßen zurande zukommen, bedarf es praktischer Einsicht und Urteilsvermögen.
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D AS P RAXISPARADIGMA Um ein derartiges Wissen in der hochtechnisierten Moderne theoretisch und empirisch angemessen zu erfassen, braucht es einen breiten und starken Begriff sozialer Praxis. Thematisch zentral ist ihm das kollektive Tun, die fortlaufende und unabgeschlossene Einmischung, Bearbeitung und Transformation der Welt, die ständig auf die Akteure zurückwirkt. So etwas wie die isolierte Handlung gibt es danach nicht. Soziale Praxis ist ein »endless happening«, »an indeterminate social event« (Schatzki 2013). Alles Handeln, was wir ausführen, ist danach eingebettet in ein Verweisungsgefüge von Handlungszügen, die sich über Zeit und Raum erstrecken. Solche Handlungsmuster und Handlungsketten bündeln sich zu sozialen Praktiken und Praxisformen. In diesem Geflecht mischen die Dinge mit, hier werden sie zu Mittlern, die einen deutlichen Unterschied machen, hier spielen sie mit und entfalten dabei ihre Bedeutung und ihre Kraft. Unter sozialen Praktiken versteht das Praxisparadigma fortlaufend eingespielte Handlungsmuster, die mit einer bestimmten Beständigkeit und Fertigkeit ausgeführt werden und in denen auch soziale und kulturelle Vorannahmen und kollektive Wissensbestände eine wichtige Rolle für ihren gemeinsamen Fortgang spielen (vgl. Hörning 2001: 160-170). Durch häufiges und regelmäßiges aufeinander bezogenes Tun bilden sich gemeinsame Handlungsgepflogenheiten und Konventionen heraus, die sich zu kollektiven Handlungspraktiken verdichten und bestimmte Handlungszüge sozial erwartbar werden lassen. Solche sozialen Praktiken entstehen im Zusammenleben mit anderen in der Familie, in der Nachbarschaft, in der Schule, bei der Arbeit, beim Kochen, beim Kindererziehen, beim Seminarleiten, beim Computerspielen, beim Sport. Sie üben sich dort ein, werden zu verkörperten Routinen, zu Selbstverständlichkeiten und transportieren doch eine Reihe wichtiger Bedeutsamkeiten und Wertigkeiten, ohne dass die Akteure ständig darüber nachdenken oder sich mit den Mitakteuren ausdrücklich verständigen würden. An vielen solchen habitualisierten Praktiken nehmen wir teil, klinken uns in sie ein und spielen nach – meist impliziten – Spielregeln mit. Ein Großteil unseres täglichen Tuns ist eher von derartigen Gepflogenheiten geleitet und nicht stets Ergebnis eines – von einer bewusst und motiviert entschiedenen Intention jeweils in Gang gesetzten – einzelnen Handlungsakts. Solche Praktiken: Körperpraktiken, Zeitpraktiken, Ernährungspraktiken, Medienpraktiken, Kommunikationspraktiken, Praktiken der geschlechtsspezifischen Interaktion, Unterrichtspraktiken sind von vorneherein interaktiv in Lebenssituationen und kulturelle Kontexte eingebettet, in denen vor allem auch materielle Dinge, Artefakte jeglicher Art, technische Geräte, Autos,
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Gebäude, Computer, Handys, Kleidung, aber auch banale Dinge wie der mit Kaffee gefüllte Pappbecher eine Rolle spielen können. Dinge sind so integraler Bestandteil solcher sozialer Praktiken, beeinflussen sie, prägen sie mit, werden zu »Mitspielern« (Hörning 2015). Dieses Argumentationsgebäude wird gespeist aus einem praxistheoretischen Ansatz, bei dem es sich eher um ein Bündel praxisorientierter Theoriestränge als um eine ausgefeilte Theorie handelt (vgl. zur theoriegeschichtlichen Herleitung Reckwitz 2000). Dieser Ansatz hat sich in den beiden letzten Jahrzehnten in Auseinandersetzung mit Pierre Bourdieu (1976: 139-202) und der Ethnomethodologie (vgl. Garfinkel 1967), aber vor allem durch den Rückgriff auf Wittgenstein und seine sprachphilosophische »Gebrauchstheorie der Bedeutung« (vgl. Wittgenstein 1984: 550) herausgebildet. Auch deutliche Bezüge zum amerikanischen Pragmatismus um John Dewey und George Herbert Mead und deren »Primat der Praxis« bestehen (vgl. insb. Dewey 1998: 219-293). In der neueren praxistheoretischen Diskussion gewinnt nun neben der Materialität vor allem auch die Körperlichkeit menschlichen Tuns an Aufmerksamkeit (Hirschauer 2004). Schon Marcel Mauss (1989) hatte in seinem Blick auf die »Techniken des Körpers« die sinnhaft regulierten Körperbewegungen herausgearbeitet. Zusammen mit den materiellen und technischen Artefakten gewinnen sie ihre Relevanz als Träger und Mittler der sozialen Praxis. Diese Sichtweise lässt die gängige Spaltung von Subjekt und Objekt sowie die zwischen Handeln und Struktur hinter sich. Das Praxisparadigma schiebt theoretisch etwas Drittes dazwischen, ein kollektives, die Spaltung übergreifendes Praxisgeflecht. Damit distanzieren sich praxistheoretische Ansätze nicht nur von Struktur- und Systemtheorien jeglicher Couleur, sondern auch von der recht üblichen Gleichsetzung mit Handlungstheorien. Soziale Praktiken sind nicht einfach ein anderer Ausdruck für soziales Handeln oder Handlung. Beide Begriffe sind ihnen zu individualistisch, isolieren zu sehr die Motive und Sinnorientierungen der einzelnen Akteure. Durch eine fundamental relationale Perspektive wird der vielfach aufeinander bezogenen und untereinander verketteten Handlungspraxis Vorrang eingeräumt. So wendet sich das Praxisparadigma gegen einen zu starken Subjektbegriff, der das Subjekt als eine unabhängige, präpraktische Handlungsursache voranstellt. Es ist eher der Ansicht, dass sich viele subjektive Intentionen und Fähigkeiten, wie die zu Einsicht, Reflexion und Kritik, erst im längerfristigen praktischen Tun und Erfahren mit anderen herausbilden, sich also Subjektivität nicht unabhängig von sozialen Praktiken wie die des Lernens, Arbeitens, Kommunizierens, Spielens, Konsumierens denken lässt.
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H ÖRNING
S OZIALITÄT
GENERIERT
K REATIVITÄT
Die neuere praxistheoretische Diskussion dreht sich vor allem um die Frage, wie wir uns die Produktivität und Kreativität kontinuierlich eingespielter Praktiken erklären können. Wie kommt es zur neu- und andersartigen Hervorbringung und Weiterentwicklung von Routiniertem, Bewährtem, Vertrautem? Angestachelt wurde diese Diskussion immer wieder durch die so einflussreiche, doch so problematische Habitus-Konzeption von Pierre Bourdieu. Der »Habitus« ist für Bourdieu eine Art Handlungsprogrammatik, die den stillschweigenden, regelmäßigen Vollzug der Praxis betreibt, in dem der Akteur das, was er tut, zwar selbst vollbringt, dass er sich aber vorreflexiv immer schon in einer Sinnstruktur vorfindet, die ihn das tun lässt, was er tut. Und dieser Sinn liegt in den unterschiedlichen Habitusformen selbst, als dauerhaft im jeweiligen Körper der Akteure verankerte Handlungsdispositionen (vgl. Bourdieu 1987: 105, 127). Dies bedeutet, dass der Habitus »eine systematische ›Auswahl‹ [...] zwischen Orten, Ereignissen, Personen des Umgangs trifft [...] und sich so vor Krisen und kritischer Befragung schützt, indem er sich ein Milieu schafft, an das er soweit wie möglich vorangepasst ist« (Bourdieu 1987: 114; Herv. i.O.). Neuere Arbeiten kritisieren vor allem die strukturalistische Schlagseite bei Bourdieu, wenn er immer wieder jede Handlung als Produkt eines in den Akteuren präreflexiv verankerten ›praktischen Sinns‹ auffasst und damit den Prozesscharakter sozialer Praxis verdeckt. Soziale Praxis ist immer beides: Reproduktion und Rekonstruktion, Wiederholung und kontinuierliche Neu-Erschließung. Soziale Praktiken sind zum einen fraglose Anwendungen von bereits bestehenden Möglichkeiten, sind wiederholte Aneignungen, aber auch die gekonnte Wiederherstellung eines bisherigen Zustandes in einer veränderten Situation. Zum andern sind Praktiken immer auch produktiv zu sehen: als neuartige Nutzung von Eingelebtem, von andersartigem Gebrauch von Vertrautem. Soziale Praxis ist auch eine Form des Erschließens, eine kreative Art des Welt- und Dingumgangs, indem sie Möglichkeiten eröffnet und so neuartige Sicht- und Handlungsweisen hervorbringt und alte transformiert. Das so Erschlossene wird erst durch die Weise seines Erschlossenwerdens in der Praxis generiert (vgl. Hörning 2012). Das Praxisparadigma verankert Kreativität im Handeln. Es sucht das Veränderliche, Unbestimmte, Ausufernde, eben Kreative nicht isoliert in vorgängig verursachenden Motiven, Präferenzen und Fähigkeiten kreativer Einzelindividuen, sondern im Vollzug, im Fortgang der Praktiken selbst: In ihrem Gelingen, Misslingen, im immer wieder Neu-Ansetzen und den Modifikationen von Vorhandenem. Im Tun mit anderen, im Zusammenführen von Dingen, Medien und
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Artefakten, im Umsetzen von Regeln und Programmen, im Aktivieren von Erfahrungswissen und Deutungsmustern entfalten Praktiken ihre Potentialitäten, ja emergieren sie. Diese poststrukturalistische Sichtweise hat zwei ›Vordenker‹, Wittgenstein und Dewey, die für unser Thema der Digitalisierung ausgesprochen relevant sind. So wendet sich Wittgenstein dezidiert gegen die »Mythologie der Regel«, die Vorstellung, Regel verpflichteten Akteure zu einer bestimmten Verhaltensweise. Für ihn müssen Regeln von ihrer praktischen Ausführung, Umsetzung her verstanden werden: »Darum ist ›der Regel folgen‹ eine Praxis« (Wittgenstein 1984: 345). In der bloßen Kenntnis der Regel liegt gar nichts, was eine einheitliche Anwendung garantieren könnte. Erst in der gemeinsamen Praxis des Regelfolgens, in den aufeinander bezogenen Spielzügen, bilden sich für den einzelnen Akteur Standards korrekter, richtiger Anwendungen heraus, eine Art Geschicklichkeit, die aus der fortlaufenden Teilnahme an den etablierten Alltagspraktiken hervorgeht. Diese Regeldiskussion ist aktueller denn je, denn was ist der Algorithmus anderes als eine Handlungsregel, eine meist in Programmsprache implementierte eindeutige Handlungsvorschrift, »wie mittels einer endlichen Anzahl von Schritten ein bestehender Input in einen angestrebten Output überführt werden kann« (Stalder 2016: 167). Algorithmen als Handlungsregeln sind für ihre Wirkung angewiesen auf ihren Einsatz in den menschlichen Praktiken. Sie operieren auf der Unterstellung regelgemäßen Verhaltens, doch ihre vermittelnde Kraft gewinnen sie erst in einer sozialen Vollzugswirklichkeit mit je eigenen Spielregeln und entsprechend eingespielten Korrektheitsstandards. Ebenso aktuell ist Deweys zyklisches Handlungsmodell, das von der Instabilität, dem Scheitern und dem ständig Neu-Ansetzen ausgeht. Kern des Modells bildet der Zyklus, der einsetzt, sobald erfahrungsgesättigte Handlungsroutinen in eine Krise geraten und, durch eine Phase experimenteller Lösungsversuche hindurch, neue, die Blockade überwindende Handlungsmöglichkeiten freigelegt werden, die wiederum zu Handlungsroutinen absinken können. Erst in der Phase der Irritation und Problembearbeitung kommt Kreativität ins Spiel und wird neue Erkenntnis hervorgebracht. Erst in der Phase der Unterbrechung und Distanznahme, in der sich die Handelnden fragen, was da passiert ist und anfangen, das Geschehen zu rekonstruieren, setzt Reflexion ein. In Deweys Handlungsmodell sitzt der »Stachel des Zweifels« im Handeln selbst: Der Gang der Dinge wird unterbrochen, Erkenntnis setzt als »verzögertes Handeln« ein (Dewey 1998: 223), bestimmte präreflexive Vorannahmen werden explizit, andere Aspekte werden herangezogen, die Praktik wird umstrukturiert, bis sie bald wieder aufläuft und erneut Reflexionen und Neu-Justierungen angesagt sind.
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Soziale Praxis ist nie einsinnig, baut Hindernisse auf, ruft Zweifel hervor, Gewissheitsverlust setzt ein, Reflexivität und Problembearbeitung sind gefragt. »Das Reich des Praktischen ist die Region des Wandels, und Wandel ist immer kontingent« (Dewey 1998: 23). Und digitale Technik ist ein ganz besonderer Kontingenzgenerator.
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IN
A KTION
Praxis verlangt Wissen, aber ihr Wissen ist im Gegensatz zum abstrakten Tatsachenwissen ein eher anwendungs- und kontextbezogenes Wissen. Theorien sozialer Praktiken interessieren sich für das Hervorbringen von Wissen und Erkenntnis im Handeln und weniger für das kognitive Vorwissen und auch weniger für das allpräsente Bewusstsein der Akteure. Die Fixierung auf das Kognitive übersieht aus ihrer Sicht die implizite Vertrautheit und Könnerschaft, die dem Alltagshandeln unterliegt und es so weithin unthematisch agieren lässt. Das Wissen, wie man etwas mehr oder weniger gekonnt macht (knowing how), steht damit im Gegensatz zu einem Wissen, was der Fall ist, ein Wissen, dass etwas so und nicht anders verläuft, dass dies der Sachverhalt ist (knowing that). In der ersten Fassung, dem Wie-Wissen, ist Wissen ein Können, eine Fähigkeit und Fertigkeit der Wissensträger im Umgang mit konkreten Problemen und Gefahren. In der zweiten Fassung, dem Was-Wissen, ist Wissen ein mehr oder weniger gesicherter Bestand, in vielerlei Formen aufgezeichnet, gespeichert, validiert und zwischen den Gruppen und Generationen verteilt und transferiert (vgl. zur Unterscheidung Ryle 1969: 26-77). In der ersten Fassung wird Wissen dagegen eng mit der Handlung verknüpft und enthält dabei auch viele präreflexive Wissenselemente, von denen oft die Wissensträger selbst nicht wissen, dass sie es wissen. Es besteht aus Fähigkeiten, etwas gekonnt zu machen, dazu im Stande zu sein, sich auf etwas verstehen, Fertigkeiten und Einsichten, die sich oft nur begrenzt und fragmentarisch in Worte fassen lassen. Derartiges Wissen unterscheidet sich grundsätzlich von den heute immer mehr technisch-digital zirkulierenden Informations- und Wissensbeständen, die immer leichter von jedem und überall abzurufen sind. Auch unterscheidet es sich deutlich von den Beständen an formalem Wissen, die im Sozialisations- und Lernprozess anzueignen sind. Das Praxisparadigma stützt sich auf ein anderes Lernmodell. Es richtet sich gegen kognitivistisch-individualistische Konzepte und sieht Lernen als einen dynamischen Prozess der Teilnahme in offenen, nicht-abschließbaren sozialen Kontexten und Praktiken: Lernen als Praxis durch Praxis. »Learning is not a
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distinctive process, but, rather, a description of the state of a person’s progress in coming to know how to go on in a practice.« (Kemnis 2012: 47) Praxisnahes Lernen ist ein wechselseitiger Lernprozess, kein einseitiger Wissens- oder Fertigkeitstransfer, ein Prozess, der das Kennen nicht vom Können, das Denken nicht vom Tun trennt (»situated learning«, vgl. Lave 1996). Die neuere Lernforschung sieht nun auch Lernen nicht mehr nur im kognitiven Nachvollzug von Wissensinhalten, sondern vor allem in einer involvierten Teilnahme im praktischen Vollzug des Unterrichtsgeschehens, in dem auch zunehmend materielle Artefakte und technische Geräte teilnehmen (vgl. Röhl 2016). Was sich die Akteure einverleiben, sind Weisen des Tätigseins, ein Wissenserwerb, der nicht so sehr von den Wissensinhalten, sondern von den Handlungsergebnissen beurteilt werden kann. Gute, passende Resultate geben Rückschlüsse auf ein Wissen, das Handlungsgegebenheiten routiniert und sicher abzuschätzen, Anpassungen vorzunehmen und unsichere und widersprüchliche Situationen gemeinsam zu bearbeiten und zu meistern weiß. Aber als ein situatives Wissen, das oft implizit dem Handeln unterliegt, lässt es sich nicht so leicht im Detail in Worte fassen, formulieren, programmieren, transportieren. Doch das ›Wissensmanagement‹ ist da anderer Ansicht. Seit langem versucht es, dem Wie-Wissen und vor allem seinen impliziten Wissensanteilen auf die Schliche zu kommen und es einer systematischen Nutzung zuzuführen. Auch die rapide wachsende Beratungsindustrie kreist um die Beobachtung, Erhebung, Bearbeitung und den Transfer von Wie-Wissen. Dabei verliert das Wissen aber oft recht schnell seinen sozialen Charakter und wird zu einer von Einzelpersonen erwerbbaren und umsetzbaren individuellen Fertigkeit, die Probleme geschickter und gekonnter anzugehen, systemisch zu denken und flexibler zu handeln. Doch das Wie-Wissen gewinnt seine Sozialität und Kreativität erst durch ständiges, wechselseitig aufeinander bezogenes Tun und Einüben gemeinsamer Gepflogenheiten und Kriterien gelungenen Handelns. Nun sollten wir die schnell fortschreitende Intelligenz technischer Expertensysteme nicht unterschätzen, die mit Hilfe ihrer Algorithmen immer raffinierter unsere Spuren absucht, die wir durch unser emsiges Treiben in der digitalen Welt permanent hinterlassen. Und doch ist meiner Ansicht nach soziale Alltagspraxis weit vielfältiger, auswuchernder, unordentlicher als es sich ein noch so intelligentes Expertensystem ausdenken kann. Ein Algorithmus der sozialen Praxis ist (noch) unvorstellbar. Offensichtlich reicht hierzu die Unterscheidung von Was- und Wie-Wissen nicht aus und muss durch eine zusätzliche Wissensform erweitert werden. Ich nenne sie praktisches Wissen. Denn auch das Wie-Wissen umfasst keinesfalls die Fülle und Komplexität des gesamten alltagspraktischen Wissenshaushalts.
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Das Wie-Wissen verweist auf die Fertigkeit, gekonnt in den jeweiligen Praktiken mitzuspielen und sie aktiv mit- und umzugestalten. Ich nenne es ein Können, eine Befähigung, sich geschickt im Autoverkehr zu bewegen, souverän ein Seminar zu leiten, mit einem weit verstreuten Freundeskreis erfolgreich digital zu kommunizieren, in den Tagesablauf klug Zeitpuffer einzubauen. Mit dem Begriff des Könnens umgehe ich den problematischen Begriff der Kompetenz, da dieser meist allzu eng individualistisch als persönliche Eigenschaft verstanden wird, die es zu optimieren gilt.
K ÖNNEN : I MSTANDE -S EIN Moderne Menschen können viel und sind stolz darauf. Aber auch ihre Maschinen und Algorithmenprogramme können viel und ständig mehr. So sortieren, ordnen, extrahieren die neuen Suchmaschinen die seit Gutenberg über Jahrhunderte üppig gespeicherten Informations- und Wissensbestände und überführen sie in eine, gegenüber den ursprünglichen Klassifikationen völlig veränderte eigene Ordnung, die dem Nutzer ohne Mühe erlaubt, in allen möglichen Situationen, an allen unmöglichen Orten auf die ›verrücktesten‹ Informationen zuzugreifen. So bringen zunehmend algorithmische Prozesse unermessliche Datenmengen in ein Format, in dem sie dem Nutzer und seinen praktischen Belangen immer leichter zugänglich sind. Dabei übersieht der user allzu leicht, dass er durch seine vielfältigen Zugriffe der Maschine ein immer größeres Können verleiht. Durch ihren raffinierten Suchalgorithmus gelingt es ihr immer besser, sich auf den individuellen Nutzer einzustellen, und über ihn ›Profile‹ anzulegen und so immer besser seine Vorlieben zu kennen, was Orte, Zeiten, Interaktionspartner u. dgl. angeht. Dies mag für den Kunden von ›Amazon‹ unproblematisch sein. Doch die Profilbildung kann ausgesprochen negative Folgen haben, wenn der in den Modellen eingebaute bias gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen bei Arbeitssuche, Kreditaufnahme, Versicherungsabschluss u. dgl. massiv diskriminierend wirkt (vgl. O’Neil 2016). Der Nutzer wird oft willfähriger Mitspieler in einem digitalen Netzwerk, das ihm mit Hilfe einer ausgeklügelten Programmsprache so attraktive, vorformatierte Handlungsangebote offeriert, dass er ›freiwillig‹ mitmacht. Umso mehr dynamische selbstlernende Algorithmen ihren Einsatz finden, desto vielfältiger und aufsässiger werden solche Feedback-Schleifen funktionieren und mit des Nutzers Hilfe das maschinelle Können vermehren (vgl. Stalder 2016: 177). Jeder menschliche Nutzungsakt füttert die Maschine und macht sie zu einem noch geschmeidigeren und schlaueren Teilnehmer in unserer Alltagspraxis. Das Er-
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staunliche daran ist, dass den Alltagsmenschen die technische Funktionsweise dieser Zusammenarbeit überhaupt nicht interessiert, ja über deren Existenz er nur sehr bruchstückhafte Kenntnisse hat. Was er wissen muss, wie er mit dem in den Apparaten sedimentierten Handlungspotential zu verfahren hat. Doch zunehmend kommt die Forderung auf, »to develop a basic level of algorithmic literacy [...] to understand what most basic bits of code are doing« (Pariser 2011: 228 f.). Wenn Maschinen so viel können, dann wird ein Wissen der Menschen besonders relevant, das sich immer weniger als Wissensbestand präsentiert, das in vielfältigen Formen aufgezeichnet und gespeichert ist, als ein Wissen in Aktion, das die Codes, Artefakte, Medieninhalte umsichtig gekonnt in den sozialen Praktiken zusammenführt, zur Wirkung bringt. Nicht nur werden durch die Kommunikationstechniken, Computerprogramme und Expertensysteme ständig eingelebte Routinen aufgestöbert, vielmehr provozieren sie auch eine deutlich veränderte Form des Wissens, die nun vor allem Selektion, Anwendung, Organisation, Verarbeitung und Verknüpfen ins Zentrum stellt. Hervor tritt die Fähigkeit, Wissen auf Wissen anzuwenden, gewissermaßen ein Wissen, um zu wissen, um Einblick zu gewinnen, um »Transportmittel« zu mobilisieren, auf die passende »Ausstattung« – Latour (2007: 352-368) nennt sie »plug ins« – zuzugreifen und diese entsprechend als Handlungsstützen in das Praxisgeschehen einzubringen und es voranzutreiben. Wenn man sich immer weniger auf gesicherte, stabile, abgeschlossene Wissensbestände verlassen kann (die ›Gatekeeper‹ haben weithin abgedankt), wenn das Tempo und die Kurzlebigkeit des Wissens ansteigt, dann sind Fähigkeiten und Fertigkeiten gefragt, die sich darauf verstehen, mehr explorativ, filternd, mehr navigierend, mehr modular Wissen zu verarbeiten und in den Handlungspraktiken zusammenzuführen. Meist handelt es sich gar nicht um Wissen, sondern um Informationen, die auf uns einstürzen und die wir erst zu relevantem und sinnhaftem Wissen selektiv verarbeiten und einbinden müssen, um dem information overload zu entkommen. Dann gilt es, im Strom der Gleichwertigkeiten Unterscheidungen zu treffen, d.h. Prozesse des Auswählens, Filterns in Gang zu setzen, Dinge herauszugreifen, Verbindungen herzustellen, Aufmerksamkeiten zu verlagern und Relevanzen zu verschieben. So weitet sich etwa durch die sozialen Medien der Teilnehmerkreis erheblich aus, immer mehr stellen Informationen zur Verfügung, haben eine Stimme, werden gehört und müssen einen reziproken Interaktionsprozess in Gang halten. Durch die digitale Veränderung der Kommunikationssysteme hat die Wissenspraxis eine erstaunliche Ausdehnung und Aktivierung erfahren.
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ALS MEHRDIMENSIONALER
Alltagswissen erschöpft sich nicht in der Befähigung, in gekonnter oder weniger gekonnter Weise mit den technisch durchsetzten Gegebenheiten umzugehen. Menschen der Moderne machen vielfältige langwierige Erfahrungen mit ihnen und leiten Einschätzungen und Folgerungen daraus ab. Aus derartigen erfahrungsgesättigten Praxisverwicklungen und sozialen Lernprozessen gewinnen sie auch ein Urteilsvermögen, mit dem sie Relevanzen und Bedeutsamkeiten der immer wieder neuen Apparate und Verfahren einzuordnen versuchen. Umso gravierender diese in ihren Alltag treten, desto mehr werden sie mit anderen darüber kommunizieren und Einschätzungen abgleichen. Technik ist heute mehr denn je ein äußerst gewichtiges Moment sozialer Praxis. Aber soziale Praxis ist mehr als die technisch noch so gekonnte produktive Bearbeitung der Welt. Sie ist auch die Art und Weise, die wie Menschen darüber zu Übereinkünften gelangen, was sie für wichtig halten und wie sie dementsprechend ihr Leben gemeinsam gestalten wollen. Hier ist praktisches Wissen am Werke. Eine Art situationsübergreifende Fähigkeit zur Lebensbewältigung, die sich aus der aktiven Teilnahme an den vielfältigen und heterogenen Alltagspraktiken herausschält. Auch ein solches Wissen ist keinesfalls als gefestigter Wissensbestand zu denken. Entspringt es doch einem Praxisgeschehen mit vielen Revisionen und Neuansätzen. Gerade in Zeiten offener und kontingenter Handlungsbedingungen sowie vielfältiger und medienvermittelter Informationsströme wird dieses Wissen mit Widersprüchen konfrontiert, die den Akteuren immer wieder veränderte Antworten und Problembearbeitungen abverlangen. Praktisches Wissen geht somit nicht in den fortlaufenden Handlungsprozeduren, nicht in den noch so intelligent vorprogrammierten Handlungsgeflechten auf. Es ist ein Vermögen, das sich aus einem mehrdimensionalen Praxisgeschehen als eine Art Urteilskraft herausbildet. Es ist damit mehr als die Fähigkeit, durch geschicktes Verknüpfen das Spiel am Laufen zu halten. Es ist auch die Fähigkeit, auf dem Hintergrund einer offenen und vielfältigen Vollzugswirklichkeit menschlicher Praxis den immer neuartigen technischen Angeboten und Zumutungen mit Bedenken, Zweifeln und Kritik zu begegnen und sich ihnen auch zu widersetzen bzw. zu entziehen. Es ist im besten Fall das Vermögen, auf die eigenen Erfahrungen reflektierend zu reagieren und so – von innen heraus – das technisch durchsetzte Geschehen kreativ mit- und umzugestalten. Urteilsvermögen, Reflexion und Kritik sind somit keine der Praxis vorgängige, stets von außen an sie heranzutragenden Qualitäten. Sehr relevant für diese Argumentation sind die empirischen Untersuchungen einer Gruppe französischer
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Soziologen um Luc Boltanski und Laurent Thévenot. Ihr Untersuchungsgegenstand sind die Bedingungen der Kritikfähigkeit von Alltagsakteuren. Gegen (ihren Lehrer) Bourdieu und seine Habitus-Konzeption wenden sie ein, dass er den Alltagsmenschen viel zu wenig Selbstaufklärungschancen einräumt, ihre reflexiven Fähigkeiten weit unterschätzt. Die Forschungsgruppe konzentriert sich auf Alltagssituationen, in denen sich Personen ans Kritisieren machen und deshalb mit anderen Dispute und Auseinandersetzungen führen. Dabei interessieren besonders die kollektiven Konventionen, auf die sich die Akteure bei ihrer Kritik stützen. Mit kollektiven Konventionen werden situationsübergreifende Handlungsprinzipien und Beurteilungsmaßstäbe bezeichnet, die die Akteure heranziehen, um ihre Kritik zu begründen. Ein zentrales Forschungsergebnis ist, dass der einzelne Akteur dabei je nach Situation ein ganz unterschiedliches Register an Bewertungs- und Beurteilungskriterien heranzieht, um die jeweiligen Diskrepanzen anzuprangern und seine Kritik mit passenden Gründen zu versehen. Für Boltanski und Thévenot drückt sich darin die Zweideutigkeit und Widersprüchlichkeit der modernen Welt aus, die von den Akteuren eine Art doppelte Moral einfordert, d.h. ein flexibles Umschalten zwischen grundlegenden Beurteilungsprinzipien verlangt, um je nach Praxisfeld erfolgreich kritische Dispute und Auseinandersetzungen zu führen und darüber eventuell Übereinkünfte zu erzielen. Die Autoren schließen daraus, dass die betreffenden Akteure nicht mehr systematisch als sich selbst kohärent angesehen werden können (vgl. Boltanski/Thévenot 2011). Die Pluralität der widersprüchlichen Urteilsregister, in die die Akteure bei ihrer kritischen Arbeit gefangen sind macht die Kohärenz des Selbst zu einem praktischen Problem, mit dem die Akteure konfrontiert sind und mit dem sie umzugehen lernen. Praktisches Wissen ist unter derartigen Hybridverhältnissen ein sozialer Prozess, in dessen Verlauf sich immer häufiger unterschiedliche Wissensregister im gleichen Akteur kreuzen. Soziale und kulturelle Überlagerungen und Überschneidungen von Praxis gewinnen im Zuge weitgreifender Diversifizierung und Vernetzung zunehmend an Normalität. Mit diesen Feld- und Weltverschiebungen schlagen sich Spannungen und Widersprüche im gleichen Subjekt nieder. Sichtbar wird ein Phänomen, das schon früh mit dem Konzept des Multiple Self benannt wurde und insbesondere auf den amerikanischen Pragmatismus und dabei vor allem auf George Herbert Mead zurückreicht. In einer Welt voller Mischungen, in einem Praxisgefüge mit vielfältigen Wissensdimensionen, ist dann auch endgültig von einem ›Habitus‹ Abschied zu nehmen, der eine widerspruchsfreie Stabilität des Sozialen unterstellt. So ist nun auch von einem »gespaltenen Akteur«, von einem »hybriden Subjekt« (Reckwitz 2006) die Rede. Damit wird eine Subjektivität erfasst, die eng mit der Welt der Praxis verknüpft
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ist, mit ihr auf eine bestimmte Weise korrespondiert, jedoch keinesfalls in ihr aufgeht, sich eher in veränderten Formen ausprägt. Verlassen wir damit die strukturalistischen Versteinerungen à la Bourdieu und öffnen so die theoretische Landschaft, dann kann auch die kreative Fähigkeit hervortreten, die Ordnung durch Eigensinn zu entstellen, ohne sie zu verlassen, Modi des Widerstandes mit denen der Akzeptanz zu kombinieren. So tritt etwa in der Figur des reflexiven Mitspielers ein praktisches Wissen zu Tage, das mit den Widersprüchen sozialer und technischer Transformationen auf eine neuartige Weise umzugehen versucht. Der reflexive Mitspieler nimmt die Mehrdimensionalität einer Praxis in sich auf und wechselt so zwischen der Adaptation an eine Moderne, die ihm immer flexiblere Handlungs- und Selbstentfaltungsmöglichkeiten offeriert und einer erhöhten kritischen Aufmerksamkeit und Reflexivität. Die digitalen Medien sind an diesem Wechselspiel nicht unbeteiligt. Indem sie auf bisher unvorstellbare Weise Möglichkeiten eröffnen, auf eine Vielfalt von Texten, Tönen, Zeichen, Informationen, auf Bildung, Unterhaltung, Erlebnis, visualisierte Imaginationen zuzugreifen, orchestrieren sie ein Potential, das dem Einzelnen Spielräume für Praktiken der Selbstformung offeriert. Mit dem reflexiven Mitspieler werden Typen von Akteuren sichtbar, die ein Doppelspiel treiben: Sie praktizieren gleichzeitig Selbstentfaltung und Affirmation, sie vereinen Autonomieansprüche und Abhängigkeitserfahrungen. Sie lassen sich affizieren und ›verführen‹, sie klinken sich ein in das gemeinsame Spiel der Marken und Erlebnisse – auch um nicht sozial marginalisiert zu werden – und wissen doch auch um die andere Seite der Medaille. Sie nutzen intensiv die neuen Kommunikationsmedien, flexibilisieren, navigieren, optimieren mit ihnen Vieles und erkennen gleichzeitig auch die massiven Zeitnöte und Stress-Überforderungen, die ihr Mitspiel bei ihnen hervorruft (vgl. hierzu schon Hörning/Ahrens/Gerhard (1996) mit dem »zeitjonglierenden Spieler«). In diesen Figuren vereint sich beides: Vereinnahmung und Distanz; sie kennzeichnet kein Entweder-oder, sondern eine praktische Mehrdimensionalität, die bestimmte Ambivalenzen und Unentscheidbarkeiten offenlässt und damit Abstürze einschließt. Lebensformen sind heute ständigen Verunsicherungen unterworfen und erfordern nicht nur individuelle, sondern besonders kollektive Antworten auf die digitalen Offerten und Zumutungen. Dabei können auch neue gemeinschaftliche Formen, wie die Commons, relevant werden, die sich gegen die krassen MachtUnterschiede im Zugang zu den Daten richten. Viele derartige Open-Data- und Open-Access-Initiativen sind entstanden, »um Daten dezentral zu erheben, zu vernetzen und gemeinschaftlich zu organisieren« (Stalder 2016: 270). Solche kooperativen Beteiligungsverfahren lassen sich mit den digitalen Techniken
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besonders gut organisieren. Dabei geht es den Bewegungen nicht nur um den besseren Zugang zu den Daten, sondern zunehmend auch um die Transparenz der Programmcodes selbst, des Inputs, »to reveal the imbalances and injustice embedded in the models [...] to tame and disarm them« (O’Neil 2016: 211). Praktisches Wissen zeigt sich somit nicht nur im Tun, sondern im darauf bezogenen Argumentieren, gemeinsamen Erkunden und Beurteilen, im InfrageStellen, in der Auseinandersetzung, in der gemeinschaftlichen Suche nach Alternativen. Im Prozess dieser Art von Auf-Klärung bilden sich Deutungen und Erkenntnisse heraus, die die problematisierten Kontexte weit überschreiten, bisher verdeckte Spielräume ausleuchten und dabei auch Regeln und Institutionen in Frage stellen. Vernünftiges Handeln kommt somit keinesfalls nur aufgrund von abgehobenen Perioden des Reflektierens und Kritisierens zustande. Praktische Vernunft entspringt immer auch einer reflexiven Struktur sozialer Praxis. Um sie geht es, ihr volles Wirken bedarf unserer permanenten Sorge, erst recht in digitalen Zeiten.
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Vom Medieneinsatz zur medialitätszentrierten pädagogischen Praxis im Zwischen von Selbst und Anderem K URT R ÖTTGERS
M EDIEN
ALS
M ITTEL
IM PÄDAGOGISCHEN
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Pädagogen1 haben lange Medien für Mittel gehalten, die zu Zwecken der Bildung und Erziehung bei Bedarf oder gegebenenfalls auch nach Belieben eingesetzt werden können. Aber es tauchten auch schon bald Bedenken auf, dass diese neutralen Mittel immer schon einen eigenen Inhalt, eine implizite Botschaft enthielten, ihr Einsatz also wohl überlegt zu sein hätte. In meiner eigenen Schulzeit wurde es von den Schülern begeistert aufgenommen, wenn der Lehrer einen Unterrichtsfilm vorführte, z.B. über Holzkohlenmeiler im Siegerland. Filmvorführung war immer ein willkommenes Ereignis, egal ob es um Holzkohlenmeiler oder die Lebensgewohnheiten der heimischen Katzen ging; der Erlebniswert steigerte sich noch, wenn der Film während der Vorführung riss und wir schmunzelnd bis freudig lachend die verzweifelten Bemühungen des Lehrers um Heilung des Missgeschicks und Fortsetzung der Filmvorführung beobachten konnten. Filme waren ganz besondere Medien, die 1
Da in dem theoretischen Teil dieses Beitrags grundsätzlich von Rollen und Funktionen die Rede ist, nie von konkreten Personen, wird generell das inklusive Genus des Maskulinums verwendet; wäre von Personen die Rede – und ganz am Schluss wird es so sein – müsste selbstverständlich auf beiderlei Geschlechter Bezug genommen werden, ja für die Grundschule wohl vorrangig von Lehrerinnen die Rede sein. Und selbstverständlich gibt es Gesichtspunkte der Theorie, für die das Geschlecht des Rolleninhabers wichtig ist und Erwähnung finden muss. Aber darum wird es im Folgenden nicht gehen.
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selten zum Einsatz kamen, weil der Lehrer die Filme persönlich in der Filmbildstelle entleihen musste, die an einem Tag der Woche, ehrenamtlich betreut von einem anderen Lehrer, geöffnet hatte. Alles, was wir zu lernen hatten, war uns vor allem durch ein anderes Medium zugänglich: durch das Buch. Aus den Büchern konnten wir lernen, z.B. wie man Erdbeerpflanzen vermehrt, was fast alle von uns ebenso gut auch im elterlichen Garten sehen und lernen konnten. Medientheoretiker subsumieren beides unter die sogenannten unidirektionalen Medien: Wissen befindet sich an einem Ort und wird an einen anderen Ort übertragen. Die ersten euphorischen Überzeugungen hinsichtlich des Medieneinsatzes begannen mit dem sogenannten Programmierten Unterricht, der in theoretisch didaktischer Hinsicht auf den Lehren der behavioristischen Psychologie aufbaute. Der englische Originaltitel von B. F. Skinners Buch »Erziehung als Verhaltensformung« (Skinner 1971) lautete noch eindeutiger: »The Technology of Teaching«. Darin war davon die Rede, dass wir »Teaching Machines« einsetzen müssten, um keine Zeit zu verplempern und den Lernerfolg zu optimieren. Skinner bezeichnete Erziehung als den vielleicht bedeutendsten Zweig »of scientific technology«. Also müsste die Erziehungspraxis im Hinblick auf die Fortschritte der Technologie im Allgemeinen verbessert werden. Unter dem Einfluss von Skinners technologischem Verständnis von Erziehung verstand sich pädagogische Praxis als technisch gestütztes Einwirken auf Zöglinge. Aber auch als dieses behavioristische Modell der technischen Einwirkung auf Erziehungs-Opfer durch das kybernetische Modell des Regelkreises erweitert wurde, änderte sich an der Grundkonstellation kaum etwas: Ein Lehrer und hinter oder über ihm ein Didaktiker will handelnd unter Einsatz optimal effektiver technischer Mittel etwas bzw. möglichst viel in einem Objekt seiner Behandlung erreichen. Die Zielerreichung namens ›Lernerfolg‹ soll durch technisch effizientes Handeln maximiert werden. Und auch heute folgen einige Propagandisten des e-Teaching und e-Learning (Arnold/Kilian/Thillose/Zimmer 2015) immer noch diesem Modell der handlungstheoretischen Einwirkung auf Opfer, genauer auf (Aus-) ›Bildungs‹-Objekte. Die Basis-Ideologie des Programmierten Unterrichts unterstellt freilich etwas ganz Anderes, nämlich dass der instruierend Handelnde im Lernprozess ganz verschwindet und dass es folglich um ein individualistisches, selbstbestimmtes Lernen gehe. Die Praxis widerspricht dieser Ideologie eklatant; denn tatsächlich wird der Prozess der Lernzielerreichung (von wem wohl?) in Teilprozesse zerstückelt, mit Erfolgskontrollen überprüft bzw. zur Selbstüberprüfung geleitet und dann bei Erfolg mit der Erlaubnis zu weiterem Lernen belohnt. Der Handelnde versteckt sich ganz und gar in der Technik. So erzeugt er beim Lernenden die Illusion der Sachzwang geleiteten Selbstbestimmung. Auf Seiten des Erziehers
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ist das auch eine Flucht aus der Verantwortung, d.h. Ansprechbarkeit. In den Fünfzigerjahren hätten wir es nicht gewagt, die Frage zu stellen »Holzkohlenmeiler im Siegerland – was soll der Sch***?«, in den Sechzigerjahren hätten wir es gewagt und den Lehrenden mit der Aufforderung zur Rechtfertigung bedrängt; im Programmierten Unterricht ist niemand mehr da, an den wir die Frage richten könnten außer an uns selbst. Dieser Selbstlern-Autismus hat Folgen. Im Sprachlabor des Erlernens einer Fremdsprache redet der Lernende mit einer Maschine. Jeder Lernende sitzt in seiner Kabine neben den Kabinen der anderen Lernenden und abgeschirmt vor ihnen. Damit fehlt ihm, was Sprache überhaupt und das Spracherlernen im Besonderen sinnvoll macht: die Kommunikation. Man stelle sich nun einmal vor, dass auch der Erstspracherwerb, normalerweise mit Eltern und Geschwistern, ebenfalls durch programmiertes Lernen ersetzt würde, und man begreift sofort, dass Kommunikation nicht durch maschinen-instrumentelle Instruktion ersetzt werden kann. Es gibt Kritiker solcher Annahmen; so sagt etwa Hubert Dreyfus in seinem Buch »On the Internet: Thinking in Action« (Dreyfus 2001), dass es zu einem solchen Wandel der effektiven Technisierung von Lernprozessen nicht kommen werde, weil, wenn er käme, es schlimm wäre. Gegenüber solchen Diagnosen, in die konstitutiv ein Wunsch eingebaut ist, ist Skepsis angesagt. Dreyfus’ Gründe sind folgende: Er sagt, je mehr der Mensch sein Leben und Lernen durch das Internet gestaltet, desto mehr muss er ein Gespür für das wirklich Wichtige verlieren und damit das eigentliche Ziel des Lebens und Lernens im Internet. Wandel der Inhalte unter dem Einfluss des Medieneinsatzes wäre also in dieser Diagnose gleichbedeutend mit zunehmender Beliebigkeit allseits erreichbarer Informationseinheiten. Indem die Anwesenheit des Lehrers und das risikoreiche Lernen aus Fehlern ersetzt werden durch eine beliebig abrufbare Telepräsenz ohne jedes Risiko schmerzhafter Erfahrungen, ereignet sich ein Lernen unter Realitätsverlust und unter gänzlichem Verlust von Vertrauen in irgendwelche persönlich verantwortliche Autoritäten. Die Anonymität und Beliebigkeit der Lerninhalte führe auf Seiten des Lernenden zu einem Verlust ernsthafter Hingabe und damit auch zu einem Verlust dessen, was man den Sinn des Lebens nannte. Hingabe und Lebenssinn sind elementar verbunden mit der Leiblichkeit unserer Existenz, so Dreyfus, die im medialen Lernen minimalisiert werde. Wo Materialität durch Virtualität ersetzt werde, werde das Einüben von Fertigkeiten erschwert, die immer den Widerstand des Materiellen und das Nachahmen in Gegenwart des Lehrers implizieren. Die Abstraktion von der Leiblichkeit der Erfahrung finde des Weiteren ihr Pendant in einer Ausschaltung des affektiven Hintergrunds von Lernprozessen. Meiner Ansicht nach überleben in solchen Rundum-Kritiken mythische Vorstellungen von Unmittelbarkeit, die schon die
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Leiblichkeit in Frage stellt, wie die leibzentrierte Philosophie eines MerleauPonty (Merleau-Ponty 1945: bes. 81ff.; Dastur 2001; Zielinski 2002) lehren kann. Wir wählen im Folgenden einen anderen Perspektivenwechsel als diese Nostalgie der Leiblichkeit. Im einsprachigen Fremdsprachenunterricht geschieht dieses Eintauchen und dieses Verwickeln in die Kommunikation der neuen Sprache. Als wir seinerzeit Englisch nach Latein als zweite Fremdsprache zu erlernen hatten, kam unser Lehrer ins Klassenzimmer und begrüßte uns mit »Good morning, boys!«, und wir hatten zu antworten »Good morning, Mr. Poettering!«. Das war für uns eine ganz neue Lernerfahrung; denn unser Latein-Lehrer hatte uns nicht mit »Salvete, pueri« begrüßt, sondern uns aufgefordert, das Lateinbuch aufzuschlagen (das Buch als Medium im Sinne von Mittel statt wie in der Englisch-Kommunikation Medium als Mitte zwischen uns). Als wir das Medium Buch öffneten, fanden wir darin den Satz »Agricola in casa est« und hatten das so zu verstehen, dass der Bauer im Hause ist, was auch immer die praktische Relevanz dieser im Medium übermittelten Botschaft gewesen sein mag. Der Englischlehrer hatte uns in das Medium der Kommunikation miteinander hineingezogen, der Lateinlehrer hatte das Medium Buch als ein Mittel eingesetzt. Um diese zwei Verständnisse von Medium wird es im Folgenden gehen.
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VON
M EDIUM
Dieses unterschiedliche Verständnis von Medialität, als Mitte und als Mittel, ist nicht beiläufig, sondern an ihm zeigen sich unterschiedliche implizite Annahmen von Praxis. Auf der einen Seite steht eine handlungstheoretische PraxisKonzeption, für die Handeln das Erreichen eines vorgesetzten Ziels durch Einsatz optimaler Mittel ist. Von dieser Art ist produktives Handeln. Wenn jemand einen Schuh herstellen will, braucht er neben dem Ausgangsmaterial (z.B. Leder) geeignete Werkzeuge nach der Devise: »Suse, liebe Suse, was raschelt im Stroh? Das sind die lieben Gänslein, die haben kein’ Schuh. Der Schuster hat Leder, kein Leisten dazu…«. Bei optimalem Einsatz von Leder und Leisten wird ein Schuh daraus. Auf der anderen Seite aber: Wenn ich eine Sonate spielen möchte, kommt es nicht darauf an, unter Einsatz von Klavier und Noten das vorgesetzte Ziel des Schlussakkords möglichst effektiv und zeitökonomisch rational zu erreichen. Vielmehr hat der Prozess des Musizierens seinen immanenten Sinn. Ebenso vollzieht sich der Lebensprozess. Zwar werden in diesem Prozess auch immer wieder Ziele gesetzt, die durch Mitteleinsatz erreicht oder
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scheiternd nicht erreicht werden, aber es kommt im Leben nicht darauf an, das Endziel, den Tod, möglichst effektiv und aufwandarm zu erreichen. In diesen beiden Prozesssorten sind sowohl verschiedene Praxis-Konzepte als auch verschiedene Medialitätskonzepte wirksam, die auch nicht aufeinander reduziert werden können.2 Das eine Praxiskonzept ist handlungstheoretisch und orientiert sich an Produktion, an Ziel- und Zwecksetzung und Mitteleinsatz. Für es sind Medien Werkzeuge der Beeinflussung und Zurüstung von Menschen, in der Erziehungspraxis von Zöglingen. Für das andere Konzept ist Praxis eine (gemeinsame) Lebensform. Hier ist Medium ein Zwischen, das uns verbindet (und trennt). Seine pädagogische Praxis ist nicht eine Zurüstung eines Zöglings, sondern eine Verstrickung und Verführung in einen gemeinsamen Sinn;3 das Miteinander-Sprechen, die Kommunikation eröffnet einen Blick auf Medialität, die wie die Sprache ihren Ort im Zwischen der Sprecher hat. Dass beide Prozesssorten sich nicht ausschließend gegenüberstehen, sondern so gut wie immer ineinander verwoben sind, zeigen nicht nur die jeweils anderen Seiten der Beispielsprozesse. Wer den Schuh ohne jede Freude an der Arbeit, sondern nur versessen zielorientiert herstellt, wird ihn am Ende wohl nicht gut gemacht haben, genau deswegen ist es unter rein ökonomischen Gesichtspunkten rational, den Schuster durch eine Maschine und den arbeitenden Menschen durch einen Roboter zu ersetzen. Maschinen und Roboter benötigen keine Freude oder Genugtuung im Prozessvollzug, um das Ziel vordefiniert optimal zu erreichen. So sollten auch die Lernmaschinen des Programmierten Unterrichts arbeiten. Und umgekehrt: Den Genuss beim Spielen der Sonate wird man nur dann haben können, wenn man vorher fleißig, d.h. zielorientiert geübt hat. Und auch ein Leben ohne Zielsetzungen und Zielerreichungen zwischendurch wird eben kein gelingendes Leben gewesen sein. Aber irgendwie hatte Aristoteles recht: Letzten Endes kommt alles darauf an, die Partikularziele dem Gesamtziel des guten, gelingenden Lebens einzuordnen; denn die hastenden Zielerreichungsverkettungen allein machen noch keinen Sinn. 2
Anders Günter Dux, der meint, jeglichen Sinn und alle Logiken auf Handlungslogik zurückführen zu können (Dux: 1990-91: 44-70; cf. Dux 1989: 121). »Alle Logik hat ihren genetischen Ursprung in der Handlung.« Er weitet dieses Schema auch aus auf das primitive Verstehen von Kausalität, sie werde zunächst als ein Handeln der Naturkräfte gedeutet (Dux/Kumari: 1994). Er meint sogar, dass ursprünglich auch alle Naturvorgänge als ein Handeln verstanden würden, dass also die Kantische »Kausalität aus Freiheit« das Grundmodell aller Kausalität sei.
3
Nach dem Sinnverständnis von Jean-Luc Nancy, das ihn sagen lässt: Wir sind der Sinn. (Nancy 2004: 19-24): Kap. 1: »Daß wir der Sinn sind«; (Nancy 2001: 91-103): »Der Sinn, das sind wir«.
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Kommen wir zurück auf unser Beispiel der Filmvorführung eines Unterrichtsfilms. Es scheint auf den ersten Blick ein unterrichtstechnisch vorgenommener Einsatz eines Mediums als ein Mittel zur Erreichung eines Lernziels zu sein. Aber gleichzeitig tauchen die Schüler ein in ein ganz anderes Medium, das sich zwischen ihnen entfaltet: die Dunkelheit, die bekanntermaßen zu allerlei Streichen einlädt, z.B. die Mädchen an den Zöpfen zu ziehen oder ihnen »Juckpulver« in die Krägen ihrer Kleider zu schütten. Das mag pädagogisch unerwünscht und mit Sanktionsandrohungen bewehrt sein, aber das sich zwischen den Schülern im Klassenraum entfaltende Medium der Dunkelheit mit ihren Verlockungen wird man durch Sanktionsandrohungen nicht los. Das ist durchaus vergleichbar mit der Sprachlichkeit, die uns verbindet. Wenn die Schüler nicht in stiller Einzelarbeit ihr Arbeitsblatt ausfüllen, sondern wenn sie in ein Unterrichtsgespräch verwickelt werden, zumal in kleinen Gruppen, entfaltet sich zwischen ihnen das Medium des sie verbindenden kommunikativen Textes. Am Ende der Unterrichtsstunde muss aber doch ein Lernziel erreicht worden sein, sagt man. So hat man eine didaktische Aufbereitung vom Lehrer gefordert, die das jeweilige stundengetaktete Lernziel in Unterziele und Unter-Unterziele aufteilte und diese jeweils einer Zeitspanne zuordnete. In der Wikipedia kann man diese Lernzielorientierung folgendermaßen formuliert finden: »In Schulen werden grundlegende Lern- bzw. Lehrziele durch die Bildungsministerien über Lehrpläne festgelegt. Die Umsetzung der Lehrpläne erfolgt durch beauftragte Lehrer. Für die Planung einzelner Unterrichtseinheiten müssen sie die Zwischenlernziele festlegen, um die Vorgaben für ihre Schüler mit den angetroffenen Vorkenntnissen umzusetzen [...]. Das Finden und Festlegen sinnvoller Zwischenlernziele und angemessener Lehrmethoden für jede Unterrichtseinheit ist eine der Hauptaufgaben des Lehrers. Sie dienen als Orientierung für die Unterrichtsdurchführung und Überprüfung in Lernzielkontrollen.«4
In der Praxis, die einem Referendar von einem erfahrenen Lehrer beigebracht wird, sieht das dann so aus, dass, um die Zeit der Unterrichtsstunde zu füllen und zielpunktgenau am Ende der Stunde das Unterrichtsziel erreicht zu haben, zunächst ein sogenannter dummer Schüler gefragt wird, der vermutlich eine falsche oder nur halbrichtige Antwort geben wird, auf die dann das Unterrichtsgeschehen mit seinen Unterzielen und Unter-Unterzielen aufgebaut werden kann. Was geschieht auf diese Weise?
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https://de.wikipedia.org/wiki/Lernziel (Stand: 08.12.2016).
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Die Dimension der Zeit des Mediums des kommunikativen Textes wird hier der Medialitätszentrierung entzogen und der Handlungslogik unterworfen.5 Zeit ist nicht mehr in der verbindenden Mitte, sondern ist dezentriert zu einem bloßen Mittel geworden, ein Mittel wie in dem Beispielsfall der Verzögerung des Lernerfolgs. Das gleiche ließe sich auch für die beiden anderen Dimensionen des kommunikativen Textes zeigen: für das Soziale und für den Sinn. Ich möchte diese Reduktion zuerst an der Anthropozentrik zeigen. Denn es gilt ja doch als ein Gemeinplatz, dass der Mensch im Zentrum aller pädagogischen Bemühungen zu stehen habe. Mit der Frage, was das sei, der Mensch, möchte ich Zweifel an der Gültigkeit dieses Gemeinplatzes ausstreuen. Meine Gegenthese wird lauten, nicht der Mensch steht im Zentrum, d.h. in der Mitte (dem Medium), sondern dasjenige, was Menschen verbindet, der kommunikative Text, die Medialität. Die Sozialphilosophie des kommunikativen Textes kennt die Positionen im Text, nämlich das Selbst, den Anderen (und den Dritten); Selbst ist der jeweils Sprechende, der Andere, der Hörende. Die Besetzung dieser Positionen wechselt in einer normal gelingenden Kommunikation. In pädagogischer Praxis ist das seit jeher die Maxime gewesen, dass der Zögling nicht nur fragend-beantwortend auch zu Wort kommen müsse, sondern dass die emanzipative Erziehung die Wortergreifung fördern muss und vor allem, dass der ›Monolog mit der Jugend‹ zu vermeiden sei.
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PÄDAGOGISCHER
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UND
Noch einmal: Geht es dabei nicht immer um den heranzubildenden Menschen; ja mehr noch: Bildet nicht der Mensch immer das Bezugszentrum? Ja und Nein. Erstens ist die Frage: »Was ist der Mensch?« vielleicht falsch gestellt. Hat es pädagogische Praxis wirklich mit dem Menschen zu tun, oder nicht vielmehr mit Menschen. 6 Ferner: Wenn wir, wie diagnostiziert, im postanthropologischen, oder doch wenigstens im postanthropozentrischen Zeitalter leben, dann ist uns die Wissenszuversicht, was der Mensch im totalisierenden Singular sei, nicht nur
5
Zum Begriff des kommunikativen Textes und seiner Zeitdimension (Röttgers 2012; zuvor Röttgers 1982).
6
Die Kantische Frage »Was ist der Mensch?« wird bereits bei Raoul Richter pluralisiert zu der Frage »Was sind die Menschen?« (Dietzsch 2003); daher tritt Richter – wie übrigens auch schon Nietzsche – für eine konsequente Rassenvermischung ein.
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abhandengekommen, sondern zur Lösung der drängenden sozialen Fragen unwichtig geworden. Man sagte uns im 19. Jahrhundert, dass zur Menschwerdung, zur Realisierung des Wesens des Menschen die Arbeit gehöre. Also arbeiten und schuften wir weiter und weiter. Zweifel sind erlaubt, ob wir dadurch und seither wirklich menschlicher geworden sind, uns dem Wesen des Menschen wenigstens ein bisschen angenähert hätten. Martin Jörg Schäfer sagt – mit Luhmann –, dass das Reden von der Menschwerdung, ja die Förderung von Menschlichkeit durch die Arbeit zur »Geschwätzigkeit« geworden sei (Schäfer 2013: 154f.; mit Bezug auf Luhmann 1994: 222). Heidegger, der ja immer das Gerede der Leute in der Seinsvergessenheit begründet sah, hat gesagt, dass die Frage nach dem Menschen durch die Frage nach dem Sein ersetzt werden müsse.7 Und Gerhard Gamm hat auf die Korrosion der Ausdeutbarkeit des Menschen aufmerksam gemacht. »Die Moderne konstatiert oder dramatisiert den Verlust der Bestimmung des Menschen oder den Zerfall der kantischen Autonomie: Der Mensch weiß nicht mehr, wer er ist, noch, was er sein soll« (Gamm 2000: 209, 257). Oder etwas anders formuliert: »Niemand weiß was ein Mensch ist« (Gamm 2004: 67; Gamm 2000: 220).8 Das alles ist mehr als eine bloße Verschiebung von Fragestellungen, sondern dieses ist auch angestoßen durch reale Entwicklungen, die die alten Begriffe brüchig und nicht mehr tragfähig werden lassen. Drastisch formuliert: Der Mensch, der ›sich?‹ im Internet bewegt, ist ein anderer als jener, der mit seiner Herde von Schafen durch die Heide zog oder der das glühende Eisen auf dem Amboss schmiedete. Michel Serres meinte sogar, dass es diesen neuen Menschen ausmacht, dass er nicht mehr wissen will, wer oder was er ist; denn seine ganze praktische Existenz baut er auf genau diese Ignoranz auf – oder Heidegger sagte: auf dieser Fraglosigkeit und Seinsvergessenheit. Zum ersten Mal in der Geschichte, so Serres, befreit uns ein spekulatives Nichtwissen von dem praktischen Wissen und Arbeiten, von dem wir angenommen hatten, dass dieses zum Menschsein befreie.9 Alle die liebgehabten philosophischen Vorstellungen, dass wir die Totalität von Mensch und Welt zu denken hätten, ja dass der Mensch sein eigentliches Wesen nur philosophierend erschließen könne, weil die Vernunft sein Eigentliches sei, mussten aufgegeben werden und ebenso die Vorstellung, dass die Be7
Für Heidegger ist nicht die Frage: »Was ist der Mensch?«, sondern: »Was ist das
8
Vgl. Gottfried Benns Ausruf »Es ist überhaupt kein Mensch mehr da, nur noch seine
Seyn?«. Symptome« (zit. nach Marramao 1989: 112). 9
Auf die Frage »Was ist der Mensch?« antwortet Michel Serres: »Cette bête qui refuse de savoir qui elle est, parce que toute sa fortune consiste justement à l’ignorer« (Serres 2001: 78).
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stimmung des Menschen irgendwie von seiner Realität und der Beschreibung dieser Realität ausgehen könne und auszugehen hätte.10 Genau das motivierte ja die pädagogische Praxis. Wir müssen das, was aussieht wie ein Mensch, erst noch gemäß der Wesensvorstellung von dem Menschen zu einem richtigen Menschen machen: erziehen, d.h. hochziehen. »Derowege hat Gott die Obrigkeit und gute Aufferziehung der Jugend gesetzt; diese / daß sie Kinder zu Menschen mache / und auß dem Stand der Bestialität bringe; jene / das sie die Menschen / so sie die Schrancken ihrer Glückseligkeit überschreiten und zu hoch hinauß wollen/ zurück halten. Kinderzucht ist eine Peitsche / so die Menschen / wann sie nicht fortwollen / und Menschen wollen werden / forttreibet…« (Becher 1969: 22, zit. n. Seitter 1985: 125). Anthropologie ist für Johann Joachim Becher die Anwendung der Moralphilosophie: »Philosophia Moralis … dadurch die Leut zu Menschen werden«. »Anthropologia seu ars educandi homines utriusque sexus. Das ist: Kunst Menschen so wol Manns- als Weibs-Bilder zuerziehen« (Seitter 1985: 127). Schon im 18. Jahrhundert wurde die Frage diskutiert, ob der Mensch die Vernunft habe, oder ob nicht die Vernunft den Menschen habe. Damit ist bereits die Dezentrierung des Menschen angedacht; es wird nun zu denken möglich, dass der Mensch, d.h. seine Wesenseigenschaft eine Formation ist, die eine außerindividuell anzunehmende Vernunft angenommen habe, Beleg ist oftmals die Sprachlichkeit von Vernunft, nämlich als eine Art von Vernehmen (Heidegger 1984: 139). Zuhören können ist Vernunftgenese, d.h. die Position des Anderen im kommunikativen Text realisiert Vernunft; und in gelingender Kommunikation wechselt die Position dieses Anderen. Und im 20. Jahrhundert setzte Peter Wust den Gedanken fort, indem er feststellte, dass das Vernunftwesen Mensch die Ordnung liebe. Ordnung und Vernunft entspringen aber nicht dem Individuum, sondern gehen ihm voraus (Wust 1937: 16ff.). Das aber heißt auch, nebenbei gesagt, dass der Mensch seine Identität nicht aus sich heraus hat oder in sogenannter Selbstverwirklichung und einem Kontinuum der Selbstverwirklichungen sichert. Identität wird ihm ereignishaft verliehen (Röttgers 2016), so wie ihm im Taufereignis ein Name gegeben wird. Wegen dieser Diskontinuität der Identitätszuweisung empföhle sich eine Pädagogik der Diskontinuität, wie sie seinerzeit Otto Friedrich Bollnow in existentialistischer, d.h. eben dann doch leider noch anthropozentrischer Weise vertreten hatte. 10 Odo Marquard in seiner Auseinandersetzung mit den Motiven der Theodizee fragt sich, warum Gott die Schöpfung der Welt nicht hat bleiben lassen, wenn diese mit all ihrem Elend die bestmögliche sein soll; und seine Antwort ist: er hat es ja bleiben lassen: der Mensch ist der Schöpfer dieser Welt, so wie sie ist (Marquard 1985).
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D IE A NTHROPOZENTRIK
UND IHRE
F OLGEN
David Hume war noch der Ansicht, dass »alle Wissenschaften« »in gewissem Maße von der Lehre vom Menschen abhängig« seien, alle Naturwissenschaften, selbst Mathematik und Religion. Seine Begründung ist mehr als fragwürdig: Die Wissenschaften seien doch Produkte menschlichen Erkennens, also – so sein Fehlschluss – brauchten wir eine Lehre vom Menschen, um diese anderen Wissenschaften fachgerecht betreiben zu können (Hume 1912: I, 2f.). Und umgekehrt: Die Lehre von der menschlichen Natur stellt »ein vollständiges System der Wissenschaften« (ebd.) in Aussicht.11 Das vollständige System aller Wissenschaften mit seinen Grundlagen in der Anthropologie fuße auf Erfahrung und Beobachtung der Menschen – die Menschen als Subjekte der Erkenntnis des Erkenntnisobjekts Mensch. Diese zu Zeiten Humes übertriebene Erwartung wurde jedoch im 19. Jahrhundert durch einen ganz anderen Typ wissenschaftlicher Bezüglichkeit auf den Menschen abgelöst (Marquard 1973; 1981), ohne dass freilich der Begründungsanspruch für Logik, Mathematik oder natürliche Religion weiter aufrechterhalten werden konnte. Es sind die sich formierenden Humanwissenschaften, die nun allerdings auch nicht mehr den Anspruch erheben konnten, dass die Lehre vom Menschen fundierend für alles Wissen sei, und zwar weil – mit der impliziten Überzeugung, dass die Kultur den Menschen ausmacht – die Humanwissenschaften als Kulturwissenschaften sich auf eine Lehre von den Kulturgebilden beziehen, d.h. nicht mehr auf die Erkenntnis der Dinge, sondern auf die Erkenntnis der Repräsentationen der Dinge, auf Zeichen, Symbole und Metaphern; Ernst Cassirer nannte es die »symbolischen Formen« (Cassirer 1977). Der Mensch ist aber nicht nur reflektiertes und reflektierendes Subjekt wissenschaftlicher Erkenntnis, sondern rückt zugleich zum Objekt einer so gestalteten Wissenschaft auf: Die Anthropologie verdankt ihre Zeugung und ihre Geburt dem geisteswissenschaftlichen Geist des 19. Jahrhunderts. Auf diese Weise wird es, zumal nach der Erfindung der Menschenrechte, zur vordringlichen Kulturaufgabe, den Menschen zu definieren. Dieses Vorstellungssyndrom hat, vielleicht nicht erstmals, aber eben sehr nachhaltig Maurice Blanchot in Zweifel gezogen. Dass in den sogenannten Humanwissenschaften vom Menschen die Rede sei, treffe nicht zu. Damit von dem Menschen geredet werden könne, müsse er eine bestimmbare Natur zu eigen haben. Blanchot bringt seine Zweifel auf die eingängige Formel: »Où est
11 Ähnlich auch Denis Diderot, zit. n. Wolfgang Welsch (Welsch 2007: 87f.): »Man is the unique concept from which one must start and to which one must refer everything back«. So wird zur Standardantwort auf alle Fragen: »Es war der Mensch«.
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l’homme lorqu’on rencontre un homme?« Tatsächlich ist die »Lehre vom Menschen«, d.h. eben dem Menschen seit längerem aus dem ernsthaften philosophischen Diskurs verschwunden, aber vielleicht hat es auch noch niemals (außer bei Feuerbach) eine ernstzunehmende Antwort auf die Frage gegeben »qu’est-ce que l’homme?« (Blanchot 1969: 371ff.). Also haben die sogenannten Humanwissenschaften kein identifizierbares Objekt in dem Menschen. Der Mensch fehlt oder ist abwesend in den Humanwissenschaften, oder anders gesagt: In den Humanwissenschaften erforscht der Mensch sich als Abwesenden. Blanchot spitzt den Gedanken im Anschluss an Nietzsche weiter zu, indem er sagt, der Mensch sei das Wesen, das verschwindet; genau das sei die Lehre von der Heraufkunft des Übermenschen: Der erwartete Übermensch ersetzt den Menschen, so wie wir bisher ihn kannten (ebd. 232, 184).12 Kehren wir von den Humanwissenschaften, aus denen der Mensch sich zurückgezogen hat, zurück zu der These, dass es die Philosophie ausmache, sich mit dem Wesen des Menschen zu befassen. Seit der Entstehung der Humanwissenschaften hat sich auch in der Philosophie die These durchgesetzt, dass das Wesen des Menschen nicht zum Gegenstandsbereich der Naturwissenschaften gehöre. Besonders deutlich wird das in Kants Begründung der praktischen Philosophie als einer der Naturgesetzlichkeit enthobenen Begrifflichkeit von Pflicht und dem kategorischen Imperativ entfaltet, nämlich als Ausdruck einer ganz anderen, d.h. moralischen Gesetzlichkeit, will sagen des Sittengesetzes. Folgte der Mensch der natürlichen Gesetzlichkeit seiner sinnlichen Antriebe, dann wäre er egoistisch und unsittlich.13 Folgt er jedoch der seiner sinnlichen Natur widersetzlichen Pflicht, dann bewährt er sich als vernunftgeleitetes Wesen der Sittlichkeit. Das Verhältnis dieser praktischen Vernunft zu der theoretischen bleibt bei Kant bis zuletzt im Wesentlichen unklar, auch wenn sich Kant bis in die Aufzeichnungen des »Opus postumum« hinein um eine Philosophie des Übergangs, die genau dieses fehlende Zwischenglied hätte erbringen sollen, bemüht hat.14 Aus der Sicht der theoretischen Vernunft allein müsste man zugestehen, 12 Der Mensch verschwindet, und selbst sein Verschwinden verschwindet – er entschwindet in der Frage, ob er verschwindet (ebd. 187f.). 13 Dass es auch in der Natur eine Solidarität der Lebewesen geben könnte, das kommt Kant nicht in den Sinn. Léon Bourgeois (1896) spricht in seiner evolutionsbiologischen Begründung des Solidarismus sogar von Altruismus, der neben dem Kampf ums Dasein auch in der Natur allenthalben wirksam sei; zum Begriff Altruismus (ebd. 10). Es gebe zwischen den Lebewesen, und daher auch zwischen den Menschen ein »lien nécessaire de solidarité«. 14 Zum Übergang über Abgründe s. Immanuel Kant (Kant 1910: XX, 272f.); die Wichtigkeit des Themas der Übergänge für die Kantische Philosophie allgemein, für das
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dass die Vernunft im Sinne einer Zweckrationalität durchaus, d.h. in ihrem praktischen Vollzug, sich unsittlicher Mittel bedienen kann. Georg Simmel hat daraus folgende Schlussfolgerungen gezogen: »Kant hat doch auch in theoretischer Beziehung erkannt, dass die Sinne niemals irren, nicht weil sie immer richtig urtheilen, sondern weil sie überhaupt nicht urtheilen. Ganz entsprechend hätte er sagen müssen, dass die Sinnlichkeit nicht unsittlich ist, nicht weil sie immer das Richtige will, sondern weil sie überhaupt nicht will.« (Simmel 1989: I, 108)
Simmels Konsequenz ist es gewesen, die Vorstellung der Einheit des Ich aufzugeben. Das Ich ist sinnlich-egoistisch und es ist praktisch-vernünftig. Es gibt keinen Grund, hier eine Einheit zu fingieren; Kant allerdings tat es, indem er von einer »Niederschlagung« aller sinnlichen Antriebe spricht, aber zugleich paradoxerweise diese »Niederschlagung« für kein empirisch beobachtbares Phänomen hält. »Wie man das Handeln eines Menschen theoretisch nur dann zu verstehen meint, wenn man es auf Egoismus zurückgeführt hat, so meint man es nur rechtfertigen zu können, wenn man es schliesslich auf Altruismus zurückgeführt hat.« (Ebd. 125)
Aber selbst wenn man kontrafaktisch gesonnen wäre, wird man wohl kaum unter dieser strengen Perspektive Kants behaupten können, dass Gruppen und soziale Kollektive sich selbst in ihrem kollektiven Handeln vom kategorischen Imperativ bestimmen lassen (können). Simmel stellte dazu fest: »So könnte der Altruismus des Einzelnen seiner Gruppe gegenüber ein Theil des absoluten Egoismus sein, mit dem die Gruppe sich selbst liebt« (ebd. 120). Individualisten in der Nachfolge Kants behaupten dann einfach, dass auch im kollektiven Handeln letztlich immer Individuen ›handelten‹, die eben doch jeder für sich sittlich handeln könnten, woraus sich mit einer gewissen Zwangsläufigkeit eine kollektive Sittlichkeit ergebe. Das ist nicht nur falsch, sondern wäre auch von Kant nie behauptet oder auch nur als möglich vorgesehen worden. Im Gegenteil: Für kollektives Handeln hat er sowohl in seiner Rechtsphilosophie als auch in seinen kleineren geschichtsphilosophischen Schriften ganz andere Mechanismen vorgesehen. Also wird man auch für die pädagogische Theorie und Praxis nicht ausgehen können von einem homogenen Ich, auch genannt der Mensch.15 Opus postumum insbesondere betonen Gerhard Lehmann, Joachim Kopper und Eckart Förster (Lehmann 1969; Kopper 1964; Förster 1991). 15 Zur Kritik des Ich-Begriffs (Simmel 1989: 136) – Bei Kant gibt es jene vierte Formel des kategorischen Imperativs, die im Allgemeinen den größten Beifall erntete, näm-
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Angesichts der Globalisierung, die eine globale Moralisierung impliziert (der ethische Wert dieser ›Moral‹ sei dahingestellt, z.B. der Redeverbote im Sinne der political correctness), angesichts also dieser globalen Domestizierung der Menschen zu Haustieren der Menschen ist die individualistische Moralisierung durch einen kategorischen Imperativ anachronistisch und partiell sinnwidrig. Die Menschen sind Menschenprodukte geworden. Die Pädagogik und die Polizey wollten das immer schon, aber inzwischen ist die Machbarkeit des Menschen durch den Menschen in sehr viel weitere Bereiche vorgedrungen (von der Genetik bis zu den Mensch-Maschine-Hybriden), so dass die Menschen heute nur noch zu Verkörperungen des Menschen, also eines Prototyps oder eines Modells geraten sind.16 Es gibt heutzutage eine technisch definierbare Mitte zwischen den Menschen, durch die jede Individualisierung hindurch muss. Das Medium, d.h. die Mitte im Zwischen hat die Selbstvermittlung der Gesellschaft übernommen (Gamm 2004: 160f.), weswegen eine in diesem Sinne und nur in diesem Sinne verstandene Medienpädagogik das Zentrum pädagogischer Theorie und Praxis ausmachen dürfte. Aus der Verwechslung des Menschen mit den Menschen, die ich vor mir habe, resultieren auch die umgekehrten Absurditäten. Dann kann beispielsweise Cees Noteboom erklären: »Der Mensch ist ein trübseliges Tier, das sich kämmt« (ebd. 50). Oder mit Odo Marquard: »Der Mensch ist ein Taugenichts« (Marquard 2004: 13). Oder man macht die Beobachtung, dass Menschen im Prinzip essbar sind oder für die Medizintechnik recyclebar. Oder mit Nietzsche ließe sich sagen, dass der Mensch normalerweise krank sei, was dann zwei Interpretationen zulässt. Entweder muss man von dem Menschen umstellen auf die vielen Menschen und dann sagen, viele Menschen seien oftmals krank, oder aber man versteigt sich zu der Behauptung, dass der Mensch eine Krankheit der Natur sei, gewissermaßen ihre Pestbeule oder ihr Geschwür. Ernster zu nehmen in dem Verhältnis zur Natur ist dann schon die ökologische These, die Michel Serres lich: »Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst« (Kant 1910: IV, 429). Kant fügte allerdings hinzu: »Wir wollen sehen, ob sich dieses bewerkstelligen lasse«. Und Simmel ist der Ansicht, dass nicht: »Der Mensch kann überhaupt nie Zweck sein, sondern immer nur eine Modifikation seiner, auf dessen Bestimmung es eben ankommt« (Simmel 1989: I, 138). Einen Generalnenner menschlicher Zwecksetzungen, jenen Kantischen Zweck an sich selbst, gibt es gar nicht. Erst recht bleibt es gänzlich unbestimmt, was es heißen könnte, im Sinne des kategorischen Imperativs den Mitmenschen als Zweck an sich selbst zu behandeln. 16 Gertrud Brücher hält es für wichtig darauf hinzuweisen, »dass dieses Verschwinden des Menschen transzendentaltheoretischen Ursprungs ist« (Brücher 2004: 196).
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vertritt, dass es eine Co-Evolution z.B. von Mensch und Haustier gibt, ja dass auch beide sich gegenseitig dressieren (Serres 2001: 131ff., 142f.). Ein weiterer Begriff des Menschen erscheint in der politischen Perspektive, wie sie Gertrud Brücher thematisiert hat: der Mensch als (potenzieller) Terrorist und terroristischer Anti-Terrorist.17 Das eine ist, dass im Prinzip jeder Mensch, d.h. eben der Mensch, ein Terrorist zu sein oder zu werden im Verdacht stehen muss. Diese potenziell Werdenden oder Noch-nicht-Terroristen heißen »Schläfer«; sie sind schon jetzt und jederzeit verdächtig, in Zukunft ein Terrorist werden zu können; dieses, ihr Potenzial haben sie vielleicht selbst noch gar nicht entdeckt oder jedenfalls noch nicht entwickelt, aber in der totalen Überwachung werden sie im Vorgriff auf ihr eigenes Bewusstsein vorsichtshalber schon einmal so behandelt als ob. Da diese Terrorismus-Potenzialität auf den Menschen zutrifft, müssen alle Menschen möglichst lückenlos überwacht werden. Bereits Blanchot hat dieses Syndrom der Überwachungs-Neurotik als inzwischen eingetretene Alltäglichkeit bezeichnet und den Verdächtigen als einen Menschen bezeichnet, der schuldig ist, noch nicht schuldig sein zu können (Blanchot 1969: 357). Die These, dass der Prototyp des modernen Menschen der Schläfer ist, geht einerseits davon aus, dass der Mensch trotz aller Überwachungs-Technik unberechenbar geblieben ist (Brücher 2004a: 32ff.); zugleich aber arbeitet sie emsig daran, dieses Residuum des Unbekannten an dem Menschen zu eliminieren, eine der Methoden, an denen auch die Menschenerziehung arbeitet, ist die Installierung der Selbstüberwachung in den Seelen der Menschen, was die Kantianer unter den Pädagogen dann euphemistisch Autonomie nennen. Wir wissen, dass alles, was jeder von uns tut, digitale Spuren hinterlässt, ob es nun der Einkauf mit EC- oder Kreditkarte oder nur die Beschaffung von Bargeld am Automaten ist, ob es ein Telefonat mit Handy oder nur die Bewegung im Raum mit einem Handy in der Tasche ist, erst recht natürlich jede Bestellung oder auch nur jede Anfrage im Internet. Wir wissen es alle, weil wir ungefragt Angebote erhalten, die auf unsere digitalen Spuren zurückgehen. Von uns allen werden psychometrische Profile angelegt und gespeichert. Wir könnten auch wissen, dass mit einem von Michal Kosinski18 weiterentwickelten psychometrischen Modell 68 Facebook-Likes ausreichen, um mit 95%iger Trefferwahrscheinlichkeit Aussagen über die Hautfarbe des Users treffen zu können (Grassegger/Krogerus 2016).
17 »[…] wird deutlich, dass der Krieg gegen den Terrorismus … nur als Terrorismus möglich ist […]« – »Der Antiterrorkrieg ist mithin Terrorismus …« (Brücher 2004a: 43, 44). 18 Einzelheiten dazu auf http://www.michalkosinski.com/
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»Aber es geht noch weiter: Intelligenz, Religionszugehörigkeit, Alkohol-, Zigaretten- und Drogenkonsum lassen sich berechnen. Sogar, ob die Eltern einer Person bis zu deren 21. Lebensjahr zusammengeblieben sind oder nicht, lässt sich anhand der Daten ablesen.« (Ebd.) Weiter: Schon »kann sein [Kosinskis] Modell anhand von zehn Facebook-Likes eine Person besser einschätzen als ein durchschnittlicher Arbeitskollege. 70 Likes reichen, um die Menschenkenntnis eines Freundes zu überbieten, 150 um die der Eltern, mit 300 Likes kann die Maschine das Verhalten einer Person eindeutiger vorhersagen als deren Partner.« (Ebd.) Das Smartphone schließlich ist: »ein gewaltiger psychologischer Fragebogen, den wir konstant bewusst und unbewusst ausfüllen. Vor allem aber, und das ist wichtig zu verstehen, funktioniert es auch umgekehrt: Man kann nicht nur aus Daten psychologische Profile erstellen, man kann auch umgekehrt nach bestimmten Profilen suchen – etwa: alle besorgten Familienväter, alle wütenden Introvertierten. […] Was Kosinski genau genommen erfunden hat, ist eine Menschensuchmaschine.« (Ebd.)
Die Gefahr einer solchen Maschine ist klar: Sie ist in der Lage, die gesuchten Menschen alias Profile zu manipulieren. Die Autoren Hannes Grassegger und Mikael Krogerus sind der Überzeugung, dass sowohl die Brexit-Abstimmung als auch der Wahlkampf von Trump auf der Grundlage dieser Modelle von der Firma Cambridge Analytica beeinflusst worden sind und dass sich vor allem die Rechten in Europa für die anstehenden Wahlen für dieses Verfahren des sogenannten Mikrotargetings interessieren. Sie schreiben: »Facebook erwies sich als die ultimative Waffe und der beste Wahlhelfer, wie ein TrumpMitarbeiter twitterte. Das dürfte beispielsweise in Deutschland der AfD gefallen, die mehr Facebook-Freunde hat als CDU und SPD zusammen.« (Ebd.)
Aus dem Generalverdacht gegen den Menschen als Noch-nicht-Terroristen ergibt sich, dass der Anspruch auf die Menschenrechte, die seit 1776 dem Menschen zugesprochen worden waren, nunmehr vom einzelnen Menschen angemeldet, ja die Würdigkeit dazu ›bewiesen‹ werden müsste. Das Formale der Antwort auf die lückenlose Überwachung, nämlich »Ich habe nichts zu verbergen«, reicht eben dann als Exkulpation nicht mehr aus. Der terroristische Antiterrorismus muss nämlich ebenso maßlos sein wie jeder Terrorismus. Er folgt einer manichäischen Logik, nach der Wir-die-Guten gegen das Böse kämpfen, um es endgültig zu eliminieren. Ein solcher moralisierter Kampf der Terrorismen
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(US und IS) darf nicht enden, bevor er nicht zur vollständigen Zerstörung der Anhänger des Bösen geführt hat; denn zwischen dem Guten und dem Bösen gibt es keinen Kompromiss. Entsprechend fällt die Bewertung aus: »Was Terrorismus und Antiterrorkrieg offensichtlich verbindet, ist genau dieses moralisch neutralisierte Zweck/Mittel-Denken. Nur der Zweck, nicht die Mittel symbolisiert den Wertbezug des Handelns.« (Brücher 2004a: 41)
Das philosophische Grundproblem hinter dieser Logik der Vernichtung ist nicht ethischer Natur; denn zu den Guten zu gehören, ist in der Ethik eine moralische Grundverpflichtung. Dahinter aber steht das gravierendere Problem der handlungstheoretischen Zweck-Mittel-Orientierung. Denn einerseits heiligt der Zweck des Kampfs gegen den Terrorismus der Bösen die eingesetzten Mittel inklusive der Kollateralschäden dieser Mittel; andererseits aber verderben die eingesetzten Mittel jeglichen hehren Wert des verfolgten Zwecks. Es geht nicht mehr um Menschen in Konstellationen (das relationale, mediale Verständnis), sondern es geht in dieser handlungstheoretischen Interpretation um den Menschen, den guten, der wir sind, oder den bösen, gegen den wir legitimerweise kämpfen. Auf diese Weise gerät das Bestehen auf den Menschenrechten derjenigen Menschen, die als ›Kollateralschäden‹ geführt werden, in den Verdacht, nämlich den Verdacht geheimer Sympathien mit den bösen Terroristen und rechtfertigt eben dadurch die lückenlose Überwachung, d.h. Verdächtigung aller Noch-nicht-Terroristen, also auch derjenigen, die vermeintlich noch auf der Seite der Guten stehen. Verdächtig sind eben alle. Mit der im Prinzip anonymen Überwachung aller, die auf diese Weise mit der Überwachung der Anonymität entzogen werden sollen und im Rahmen der Big Data längst bereits entzogen worden sind als individuell identifizierte potenzielle Tatverdächtige, gelangen wir in den Bereich der Mensch-MaschineInteraktionen und der diesem Bereich entstammenden Hybride. Hier geht es nicht mehr um Menschen, die Maschinen bedienen, also ihnen dienstbar sind, sondern es geht um diejenigen Maschinen, die die Mensch-MaschineInteraktionen kontrollieren und optimieren (Hubig 2015: 136ff.). Die Mensch-Maschine-Hybride haben vor allem bei Bruno Latour Aufmerksamkeit gefunden. So sagt er z.B. zu einem Waffenträger: »Mit der Waffe in der Hand bist du ein anderer Mensch« (Latour 1991: 218). Was soll das heißen? Es kann nicht heißen, dass sich im Bewusstsein des Waffenträgers etwas geändert hätte (das wäre die psychologisch-anthropozentrische Interpretation); denn dann würde der Bewusstseinswandel auch dann überdauern, wenn er die Waffe aus der Hand legte. Es gibt vielmehr eine Interaktion zwischen dem Potenzial der
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Waffe und dem Potenzial des Menschen, der sie hält. Und genau dann, wenn beide aktual sind, entfaltet sich das Tötungspotenzial. Die Waffe allein tötet nicht, welche Trivialität die NRA in den USA ja unermüdlich betont. Aber der Mensch ohne Waffe kann auch niemanden erschießen. Die hybride Interaktion erzeugt die problematische Situation. Wenn diese Medialität, die Mensch und Waffe verbindet, fehlt, geschieht nichts. Weil der Fokus nicht auf Medialität umgestellt wird, sind ja auch die nicht endenden Diskussionen um die gewaltverherrlichenden Computerspiele so fruchtlos. Die einen sagen, empirisch gestützt, dass die Kinder, die diese Spiele spielen, verrohen und auch außerhalb der Mensch-Maschine-Interaktion zu Gewalt neigen werden.19 Die anderen sagen, ebenfalls mit Berufung auf Empirie, dass nur diejenigen von diesen Spielen zum Gewalthandeln verführt werden, die sowieso zu Gewalt disponiert sind. Auch wenn es die zweite Gruppe von Argumenten schwerer hat, weil Dispositionen so schwer empirisch zu erfassen sind, zeigt doch die Ausweglosigkeit der Diskussion, dass die Darstellungsebene mit ihrer grundlegenden Anthropozentrik falsch gewählt ist, nämlich das Bewusstsein der Kinder und Jugendlichen, und dass auf Medialitätszentrierung umgestellt werden müsste, um das Problem als MenschMaschine-Interaktion darstellen zu können. Die Mensch-Maschine-Interaktionen sind einer der Anlässe, die Anthropozentrik der Moderne aufzugeben und auf die Medialitätszentrierung der Postmoderne umzustellen. Ein anderer viel diskutierter, hier aber nur anzudeutender Anlass ergibt sich aus den Überlegungen einer Ökologie-Ethik (mit ihrer Physiozentrik oder ihrer Pathozentrik) (Brenner 1996: 132ff.). Niklas Luhmann hat die Anthropozentrik mit harten, fast zynischen Worten gegeißelt: Er spricht davon, dass der Mensch den Namen »Subjekt« erhalten habe, um dieses Wesen in einer konspirativen Verteidigung gegen die Gesellschaft abzusetzen, es sei eine Tücke dieser Konspiration, sich als menschlich »anzubiedern« (Luhmann 1994: 42-45). Mit Lacan wäre mit Entschiedenheit auf die Spaltung in der Psychoanalyse hinzuweisen. Lacan deutet Freud so, dass er die Differenz im Inneren des Subjekts positiv als ein Zwischen versteht, ein Zwischen, zwischen dem aussagenden und dem ausgesagten Subjekt im Text der Analyse. Freuds Begriff des Unbewussten hatte zu einer theoretischen Revolution geführt. Freud selbst spricht von einer dritten Kränkung im Selbstbild des Menschen: Nach Kopernikus steht der Mensch nicht mehr im Zentrum des Universums, nach Darwin ist er nichts 19 Man könnte neben den Computerspielen auch auf die Tatsache verweisen, dass kein Tag vergeht, an dem nicht auf irgendeinem Fernsehkanal ein Krimi gesendet wird, selbst Weihnachten, das angebliche Fest des Friedens, der Liebe und der Freude, macht da keine Ausnahme.
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der Evolution der Lebewesen Enthobenes und nach der Psychoanalyse ist das Ich nicht einmal »Herr … in seinem eigenen Haus« (Freud 1972: 11).20 Diese theoretische Revolution, die das Cartesische Ego entthront hatte, wurde zwar durch die US-amerikanische Psychoanalyse in Form einer neuen Ich-Psychologie in einer Art Konterrevolution rückgängig zu machen versucht. Aber die am Strukturalismus orientierte Psychoanalyse Lacans, die das Unbewusste als wie eine Sprache strukturiert ansieht, gewinnt die Freudsche Radikalität zurück. Und Jessica Benjamin spricht es so aus: »Die Feststellung, daß das Subjekt eine sprachliche Position und nicht ein Zeichen für die tatsächliche Psyche eines Menschen ist« (Benjamin 2002: 105). Das Subjekt ist demnach »unwiderruflich gespalten« (ebd. 106). Sie bezieht sich damit auch auf Judith Butler, die von der Strukturierung des Subjekts durch den Diskurs ausgehend, feststellt: »Kein Subjekt ist sein eigener Ausgangspunkt« (Butler 1992: 41). Also müssen wir nun doch zuletzt in der Thematisierung der Frage, was der Mensch sei, auf die sozusagen postanthropologische Anthropologie Helmut Plessners zu sprechen kommen, der sich dieser Frage nach dem Wesen des Menschen verweigert und stattdessen die Exzentrizität und das Abstandnehmen von sich selbst betont (Kämpf 2001; Schürmann 2014). Die postanthropologische Anthropologie Helmuth Plessners hatte notiert, dass die (philosophische) Anthropologie nichts über den Menschen feststellt, sondern die Vollzugsstrukturen, d.h. die relationalen Prozesse, in denen er sich findet, thematisiert, mit der Konsequenz: »Mensch-Sein ist das Andere seiner selbst Sein« (Plessner 1981: 225).21 Und Heidegger, der gerade die letzten Urstände der Anthropozentrik in der sogenannten Existenzphilosophie beobachtete, die sich bekanntlich u.a. auch auf Heidegger berief, sprach von der »Lächerlichkeit« dieser Philosophie: »Das Getue um den Menschen muß zum Verschwinden gebracht werden« (Heidegger 2014: 19). Ihm kommt es nun in seiner Spätphilosophie und in Abkehr von seiner frühen Philosophie (»Fremd wie ein stillgelegter Weg«) darauf an, das Seyn in den Mittelpunkt zu stellen; aber es war ja immer schon ein groteskes Missverständnis, »Sein und Zeit« als Anthropologie zu deuten. Mit unserem Ansatz einer medialitätszentrierten Sozialphilosophie des kommunikativen Textes eint diese späte »Kehre« in Heideggers Philosophie, dass auch für Heidegger dieses Seyn in der Mitte, inmitten also, im Zwischen (also im Medium) aufzusuchen 20 Eine explizite Beziehung von Rimbauds poetologisch gemeintem Ausspruch »Je est un autre« (Rimbaud 2010) zur Psychoanalyse stellt her: Joël Clerget (Clerget 2015). 21 Vgl. Beatrix Himmelmanns Kant-Interpretation; sie zitiert Kant, (Himmelmann 2003: 14) der über den Menschen sagte, dass er »[…] niemals bestimmt und mit sich einstimmig sagen kann, was er eigentlich wünsche und wolle.«
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sei. In dieser Mitte tritt das Ereignis in die Erscheinung. Auf diese Weise und nur unter Verzicht auf alles Arché-Denken gewinnt Heidegger den Zugang zu einer pluralen Ontologie. Damit ist sein pluraler An-archismus jeglichem Denken von einem Führer-Prinzip aus entgegengesetzt (Schürmann 2013: 23). Anders als manche Kritiker mit ihren Bedenken gegen eine vermeintliche Moral der Unmenschlichkeit gemeint haben, ist mit der Abkehr von der Anthropozentrik kein Antihumanismus verbunden. Heideggers vielleicht so zu nennender Anhumanismus wählt nicht mehr den Menschen zum Fetisch eines Ausgangspunktes. Martin Heidegger, nachdem er das angesammelte empirische Wissen über den Menschen von der Medizin bis zur Weltanschauungslehre aufgezählt hatte, stellt fest: »Keine Zeit hat so viel und so Mannigfaltiges vom Menschen gewußt wie die heutige. … Aber auch keine Zeit wußte weniger, was der Mensch sei, als die heutige« (Heidegger 2010: 209). Und so wie sich Heidegger weigerte, Metaphysik (Ontologie) auf Anthropologie zu gründen, so weigere auch ich mich in der Nachfolge von § 26 von »Sein und Zeit« und dem, was Jean-Luc Nancy in seiner Sozio-Ontologie daran anknüpfend daraus gemacht hat, die Philosophie des Sozialen und des Politischen auf eine Anthropologie zu gründen (Heidegger 1957: 117-125; Heidegger 2010: 208-214; Nancy 2004). Handlungstheorien bemühen als ihre zuweilen auch verschwiegene Grundlage eine Anthropologie.22 Eine am Netz und, wie wir sehen werden, damit an Medialität orientierte Sozialphilosophie jedoch braucht keine anthropologischen Grundlagen, man darf sie daher vielleicht eine postanthropologische Theorie nennen. Sie ist darum nicht gleich als transhumanistisch oder gar antihumanistisch zu beargwöhnen. Die Möglichkeit einer humanistischen Praxis, auf die wir noch zu sprechen kommen werden, ist nicht gebunden daran, dass ihr eine anthropologische Theorie zur Grundlage dient. Erst unsere Postmoderne23 konnte denn auch den theoretischen 22 Wie sich das anthropologische Interesse einem polizeylichen Zugriff auf die »Leute« verdankt, zeigt Walter Seitter (Seitter 1985: 116-133). Dass schon Husserls Psychologismus-Kritik auch eine Kritik der Anthropologie impliziert, dazu (Welsch 2007: 94ff.). Da hilft auch keine Anthropologie gemäß einer Logik des »Ohne«, die den Menschen genau dadurch zu bestimmen versucht, was ihm fehlt (Crowley 2008: 3949). 23 Es ist wahr, es gibt diejenigen, die ignorieren (möchten), dass es einen epochalen Wandel gibt. Sie tun gut daran; denn, wenn es wirklich ein epochaler Wandel ist, dann kann er von denen, die er betrifft, nicht bemerkt werden; dazu wäre der Abstand des Philosophen vom Getriebe nötig, d.h. eine souveräne Perspektive. Ludwig XVI. konnte die Französische Revolution nicht erkennen, wie M. Blanchot notierte (Blanchot 1969: 394), er hielt sie bekanntermaßen einfach für einen Aufstand (»mais c’est une révolte« – »Non, Sire, c’est la Révolution«). Vielleicht aber ist andererseits gerade das
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Mut aufbringen, die inzwischen faktisch eingetretene Dezentrierung des Menschen anzuerkennen, ohne zugleich in den Verdacht der praktischen Inhumanität zu geraten. Im Gegenteil sind es ja die fundamentalistischen Menschenbilder, die dazu anleiten, ideologisch-imperialistisch gewisse Andere als nicht im vollen Sinne Menschen anzusehen und zu markieren. Für eine medialitätsorientierte Sozialphilosophie ist praktische Humanität nicht ausgeschlossen, und die Praxis eines solchen Denkens ist nicht unmoralisch. Eine postanthropologische Sozialphilosophie geht lediglich nicht mehr von dem Menschen und einem Wissen über den Menschen als Bedingung jeglicher Sozialphilosophie aus.24 Die Philosophie des Sozialen und die Pädagogik in der Postmoderne können also methodisch nicht von einer Fundierung durch Anthropologie ausgehen; denn die Fiktion der Natur des Menschen reicht nicht, den Vermittlungszusammenhang des Sozialen aufzuklären. Das Leben, sei es nun das individuelle Seelenleben oder sei es auch das soziale Leben, ist je schon ein vermitteltes und gibt uns nicht eine solche Unmittelbarkeit ab, dass sie zum Ausgangspunkt gewählt werden könnte. Das ist der Grund, warum im Folgenden nicht von einer vermeintlichen Unmittelbarkeit irgendeiner Art ausgegangen werden soll, sondern von der Vermitteltheit selbst, dem Medium, dem Zwischen, konkret vom kommunikativen Text, der uns trennt und verbindet, mit anderen Worten in dem wir in Berührung stehen.25 Anders gesprochen: Wenn es also die Menschen (im Plural) gibt, und daran kann ja kein Zweifel sein, ist das allein noch kein hinreichender Grund, den Menschen als Ausgangspunkt einer Theoriebildung über das Soziale zu wählen.
die größte Gefahr, dass wir uns weiter im Diskurs der Politik bewegen und daher die Zeichen der Zeit nicht erkennen können, so dass dieses politische Handeln in seiner Verzweiflung gefährliche Dinge meint unternehmen zu müssen, z.B. da, wo der freie, globalisierte Markt nicht das erbringt, was die Politik von ihm erwartet hatte, kriegerisch nachzuhelfen, so die Kriege der USA im Nahen Osten zur Sicherung der Versorgung der USA mit Erdöl; Derrida (2003: 146) zitiert William Cohen mit der Maxime, dass die USA jeden Staat zum Schurkenstaat erklären und gegen ihn vorgehen wird, der die Märkte oder die Versorgung mit Ressourcen der USA gefährdet. 24 Über die Konzeption eines Menschlichseins, einer praktischen Humanität also, ohne ein (Wissen vom) Wesen des Menschen bei Bataille, s. Martin Crowley (Crowley 2008: 39-55). 25 Es könnte natürlich sein, dass es ist, wie Sybille Krämer vermutet: »Die Mittelbarkeit des Mediums ist angewiesen auf die Illusion einer Unmittelbarkeit« – aber eben eine Illusion und eignet sich daher nicht als Ausgangsbasis (Krämer 2008: 30).
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Der An-humanismus ist eine Konsequenz davon, den Menschen als Ursprung, als Arché, aufgegeben zu haben, ist also eine Form von An-archismus.26 Nach dem Fortfall der transzendentalphilosophischen praktischen Philosophie bleibt nichts anderes übrig, als die Menschen als Objekte eines externen Zugriffs in der Art der Domestikation zu konzipieren; das aber hat den entscheidenden Nachteil, dass das Erziehungsziel kontingent wird. Die damit einhergehende Dezentrierung des Menschen verbietet es, ein vermeintes Wesen, und sei es auch ein leibgebundenes als Kriterium zu verwenden. Die Kontingenz hat zur Folge, dass Abweichungen nicht mehr normativ als negativ bewertet und sanktioniert werden können, aber umgekehrt auch nicht mit Berufung auf so etwas wie Menschenrechte legitimiert werden können. Residual bleiben sie nichts anderes als Störungen normaler Abläufe des Sozialen. Mit anderen Worten der Mensch spielt in den diversen Menschen keine Rolle – in der ganzen Mehrdeutigkeit dieses Ausdrucks. Ein Mensch wird zum Schauspieler seiner selbst: Er übernimmt die Rolle, Mensch zu sein. Diese Rolle kommt ihm aber nicht mehr als unverwechselbarem Individuum zu, sondern die Besetzung dieser Rolle ist für Umbesetzungen freigegeben. Ein bisheriger »Un«Mensch wird zum Mitmenschen deklariert und umgekehrt. Das Soziale ist das Zwischen, ist das Medium, und die diversen Menschen sind in den Funktionspositionen des Mediums dessen Effekte (Schürmann 2014: 2010f.). In einer noch radikaleren Form als Musil es meinte, ist der Mensch als Schauspieler ein »Mann ohne Eigenschaften«; seine Eigenschaften, d.h. seine Eigenheit, werden ihm vom Medium zugewiesen. Besonders deutlich und besonders krass wird das in demjenigen Medium, das mittlerweile zum Leitmedium aufgestiegen zu sein scheint, dem Geld. So wird das, was früher Würde hieß (der immanente Wert des Individuums) im Kapitalismus, und gesteigert noch im Finanzkapitalismus, zum Tauschwert (Geltungswert).27 Was bleibt? Was bleibt vom ehemaligen Menschen in dieser medialitätszentrierten Postmoderne? Es überdauert auch in dieser sozialen Konstellation: die Ansprechbarkeit (Schürmann 2014: 95). Im Kapitalismus heißt Ansprechbarkeit: als zahlungsfähiger Konsument als ein Objekt von Werbung zu fungieren. Eine Pädagogik im Rückzug möchte darauf antworten und zum ›bewussten‹ Konsum erziehen. Freiheit, ehemals als Autonomie des Subjekts figuriert, soll sich im bewussten Wählen zwischen angebotenen Alternativen bewähren. Aber Ansprechbarkeit heißt in einem fundamentaleren, sozialontologischen Sinn: im kommunikativen Text die Funktionsposition des Anderen, des Hören26 Ausführlicher dazu Röttgers: 2015. 27 Zum Menschen als Schauspieler, mit Bezug auf Lacoue-Labarthe, und zum eigenschaftslosen Menschen s. (Meyzaud 2011: 10-15).
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den einnehmen zu können. Und genau das verweist auf etwas Fundamentales in der Medialität des kommunikativen Texts des Sozialen: die Sprachlichkeit von Text und Kommunikation in der Triade der Dimensionen von Zeit, Sozialem und Sinn (Röttgers 2012; Röttgers 2016). Die Situierung im kommunikativen Text bedeutet auch die Angewiesenheit der kommunikativen Bestätigung durch andere. Alleine oder alleine in einer Mensch-Maschine-Interaktion oder alleine gelassen als Objekt eines Medieneinsatzes auf ihn als Zögling ist der Mensch halbiert. Denn der Mensch, das wusste schon Aristophanes, ist kein Holon, ist keine (evtl. reparierbare oder ergänzbare) Ganzheit, er ist seiner Natur nach auf den Anderen angewiesen. 28 Das Eins ist eine trügerische Gestalt, Menschen leben immer schon in Vielheit. Der skeptische Pluralist Odo Marquard folgerte: Jeder Mensch ist ein Diener mehrerer Herren, und jeder Mensch sollte viele Überzeugungen haben und pflegen (Marquard 2004: 84-88).
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HANDLUNGSTHEORETISCHE I MPLIKATION
Die anthropozentrische Theorie der Moderne und auch der Spätmoderne hatte ihr Objekt, den Menschen, begriffen als ein Wesen, das handelt und d.h. sich nicht bloß verhält. Handeln soll sich, anders als Verhalten, dem behavioristischen Mechanismus von Reiz und Reaktion entziehen. Oder anders bestimmt, Handeln ist nicht kausal determiniert, sondern hat eine eigene und eigentümliche Emergenz,29 und es begründet eine Verursachung sui generis: Handeln entzieht sich einer determinierenden Kausalität, ist aber seinerseits in der Lage, Kausalketten zu begründen. Diese Kausalketten sind unter Umständen ihrerseits der nachherigen handelnden Einwirkung entzogen, es sind die sogenannten Nebenfolgen des Handelns.30
28 Der späte Derrida drückte es so aus: Ein Leben ohne den Freund ist nur ein Leben als halber Mensch (Derrida 2000: 254f., 359f.). Im Symbol, dem Symbolon, der zerbrochenen Tonscherbe, gewinnt dieser Bedeutungszusammenhang handgreifliche Gestalt. Heranzuziehen wäre auch Plutarch, der davon sprach, dass Menschen zur Vielheit geboren sind (Plutarch 1893: 19ff.). 29 Emergenz als Gegenbegriff zu Kausalität lässt die Gewalt des Realen zugunsten der Fiktion der Macht eines Subjekts zurücktreten (Brücher 2004a: 104). 30 Daher muss man, wenn man jede Verantwortung für Nebenfolgen vermeiden möchte, ein Rousseau sein, der nur das als ein originäres und legitimes Handeln ansah, was quasi eine Schöpfung aus dem Nichts ist und keinerlei Konsequenzen hat, sonst hat
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Die klassische Theorie des Handelns nahm eine enge gedankliche Verbindung von Handlungsstruktur und Rationalität an. Handeln sei ein rationales Beherrschen der Bedingungen sowie auch Selbstbeherrschung. Solche Rationalität ist Zweckrationalität. Das Erstere geht auf die kluge Mittelauswahl und deren Einsatz zum Erreichen des vorgesetzten Zwecks, das Letztere geht auf die Sittlichkeit der Zielsetzungen. Mit beidem strebe der Handelnde an, sich seine Welt verfügbar und beherrschbar zu machen. Insofern sind Handlungen »rationalisierte Stellungsnahmen« zur Welt des Handelnden (Rehberg 1979: 203). Diese Handlungstheorie der Moderne ist am deutlichsten ausformuliert worden in den »Soziologischen Grundbegriffen« Max Webers, die Karl-Siegbert Rehberg als »großbürgerliches Aktionsmodell« bezeichnet hat (Weber 2005: 1-42). Die Qualität, Kausalketten undeterminiert beginnen zu können, heißt dass auch Freiheit (des Willens)? Menschliches Handeln gilt in dieser Denktradition als frei. Im Rahmen der Handlungstheorie stellt sich Freiheit zuerst dar als individuelle Freiheit, ohne jede fundierende Sozialität; soziale Freiheit, also eine Freiheit, die Individuen nur gemeinsam haben können, wird, wo sie dem Individualismus überhaupt in den Blick kommt, als ein abgeleitetes, sekundäres Phänomen betrachtet. Diese individuelle Freiheit bewährt sich darin, dass das Handlungssubjekt sich Zwecke und Ziele nach Gutdünken setzen kann, die es dann durch Handeln erreichen will und kann. Man spricht daher nicht nur von Handlungsfreiheit, sondern fast gleichsinnig auch von Willensfreiheit. Es ist der Wille, der frei ist, zu wollen und wollend sich Ziele zu setzen, im Inneren des Subjekts so etwas wie Intentionen auszubilden.31 Der Wille und sein Effekt, das Handeln, alleine reichen aber meist nicht aus, die direkte Wirkrelation des Handelns wäre Magie, oder das Wollen bleibt bloßes Wünschen. Das Zwecke setzende und wollende Subjekt muss über geeignete Mittel verfügen, um die Zwecke realisieren zu können. Handlungstheorie ist geprägt durch eine Zweckman seine Handlungsfreiheit verspielt (Starobinski 1971: 274f.). Dem folgt Röttgers (2013). 31 Niklas Luhmann meint feststellen zu können, dass interne Intentionenbildung sich seit dem 12. Jahrhundert herausgebildet habe (Luhmann 1978: 219). Wenn jedoch in der Postmoderne soziale Systeme nicht mehr steuerbar sind, sondern höchstens störbar, dann verliert die Fiktion von irgendwelchen, den Subjekten inhärenten Intentionen an Sinn; okkasionalistisch werden »kurzfristige Gründe und Motive für die Interventionen«, und das meist im Nachhinein entwickelt (Brücher 2004a: 91). »[…] genügt politisches Handeln sich selbst; es bedarf keiner extern zu beziehenden Legitimation, weil es als wirklichkeitskonstituierender Faktor jene gesellschaftlichen Phänomene erst auftauchen lässt, deren Geltung in einem sekundären Akt der Beobachtung zweiter Ordnung diskutiert werden können« (ebd. 109f.).
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Mittel-Orientierung. In einem gewissen, eingeschränkten Sinne sind Mittel dieser handlungstheoretischen Orientierung auch Medien, es sind Mitten, die den direkten Zugang zum Ziel vermitteln; aber es sind verfügte Mitten, nicht Mitten, von denen her der Sinn der Prozesse organisiert wird. Das wird deutlich darin, dass Mittel, wenn sie zuhanden sind, selbst zu Zwecken, zu Zwischen-Zwecken werden, für die wiederum Zwischen-Mittel erforderlich werden. Nun wird deutlich, dass die sogenannte Medientheorie der Spätmoderne bisher keine Medientheorie war, sondern eine Theorie des Mitteleinsatzes im Rahmen einer Handlungstheorie. Die Freiheit als Willens- und Handlungsfreiheit ist bereits von Georg Simmel problematisiert worden. In diesem Begriff, der einem substantiell begriffenen Ich zugeschrieben wird, überlebt eine Kausalvorstellung, die Kant »Kausalität aus Freiheit« nannte. Diese originäre Freiheit zu wollen ist insofern ein paradoxer Begriff, als, wenn er wirklich bedeuten soll, in jedem Moment neu und frei wollen zu können, jegliche Handlungskontinuität infrage stellen würde. Wäre Freiheit so abgründig im Subjekt, dann wäre auch Strafen sinnlos, weil die Strafe immer den Falschen träfe, denjenigen, der sich aus seiner Freiheit heraus bereits zu einem ganz anderen bestimmt hätte. Die Subjekte sind nicht erst und an sich frei, und verschulden sich dann; in Schuld oder Verdienst realisiert sich Freiheit. Nicht ein an sich freies Subjekt trifft aus dieser Freiheit heraus Entscheidungen, sondern wenn die Entscheidungen im Kampf der Willensstrebungen gefallen sind, dann gilt der Sieger in diesem Kampf als das verantwortliche Subjekt, genannt Ich. Daher kehrt Simmel auch den Verantwortungsbegriff um. Nicht Freiheit im Subjekt begründet Verantwortlichkeit des Subjekts, sondern zur Verantwortung wird es gezogen, weil man es strafen möchte, und genau deswegen wird ihm Freiheit zugesprochen – nämlich in der Vergangenheit anders gehandelt haben zu können. Freiheit ist ein Effekt einer sozialen Zuschreibung. Sie substanziell im sogenannten Ich zu lokalisieren ist eine diese Zuschreibungspraxis in Strafabsicht rechtfertigende Ideologie.32 Aber diesen sozialen Kontext der Freiheitszuschreibung ethisch zu beurteilen, dazu ist die klassische Individualethik schlecht vorbereitet (Crowley 2008: 108-113). Zu den hervorragendsten Mitteln eines handelnden Subjekts gehört die Macht.33 Für einen Handlungstheoretiker ist Macht das Mittel erster Wahl, dem Handeln Kontinuität durch Anschlusssicherung zu verleihen, und zwar durch Modalisierung, das soll heißen: Macht hat der Handelnde genau dadurch, dass er nicht handelt, sondern das Handeln verschiebt auf die Möglichkeit zu handeln. 32 Simmel 1989: IV, 130-227; III, 252-282; zur Rechtfertigung des Handelns durch Ideologie als Selektion der beachtlichen Folgen s. Luhmann 1962: 439. 33 Zur Medientheorie der Macht s. Luhmann 1975.
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So und nur so, also durch Modalisierung des Handelns zu Macht als Mittel der Kontinuitätssicherung, kann er in die Zukunft hinein, auf andere Menschen oder im Sinn der Sinnverschiebung wirken, ohne zum jetzigen Zeitpunkt selbst handeln zu müssen.34 Handeln, insbesondere Gewalthandeln lässt Macht zusammenbrechen; denn durch Gewalt kann Handlungskontinuität nicht gesichert werden. Daher war auch die Prügelstrafe nicht nur inhuman, sondern in hohem Maße ineffizient zur Sicherung der Anerkennung der Kompetenz und Autorität des Erziehers. Nun befindet sich aber nur das Wenigste von dem, was einen Menschen betrifft, im Bereich seines Handelns und seiner Macht. Allmachtsphantasien sind keine vernünftige Lebenseinstellung, sondern sollten in der frühen Kindheit aufgegeben worden sein.35 Vieles entzieht sich für die Menschen in Unwägbarkeiten, es tritt ihnen statt als mögliche Handlungsresultate als Widerfahrnisse entgegen. Das Widerfahrnis36 unterbricht die Handlungskontinuitätssicherungen. Da als Folge der dominanten handlungstheoretischen Anthropozentrik solche Unterbrechungen der Kontinuität nur als Störungen, ja in Selbstzurechnung als Scheitern gedeutet werden können, wird in den Fällen solcher Unterbrechungen im anthropozentrischen Universum nach dem »Schuldigen« gesucht, weil, wenn alles Geschehen als verursacht gedeutet wird, das Handeln eines anderen Individuums dafür verantwortlich sein muss, dass der Handelnde sein vorgenommenes Ziel nicht erreicht. Selbst bei Naturkatastrophen wird heute nach denjenigen Handlungssubjekten gesucht, die unterlassend dafür verantwortlich gemacht werden können, dass der Schutz gegen dieses »Handeln« der Natur unzureichend war, wie als wäre die Natur ein den Geheimdiensten und ihren Überwachungen unerkannt gebliebener Terrorist. Und so wird heutzutage letztlich jeder Todesfall interpretiert als ein Versagen der Medizin und der Ärzte, während früher die Ärzte bewundert wurden, wenn es ihnen ausnahmsweise gelang, eine schwere Krankheit zu heilen. 34 Diese handlungstheoretisch begründete Theorie der Macht habe ich selbst früher vertreten, s. Röttgers 1990; s. jedoch jetzt Röttgers 2008; Röttgers 2010; und vor allem Röttgers 2016a. 35 Wenn nicht geschehen ist, was man erwartet hatte, gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten: Entweder man reagiert lernbereit: So ist das also, jetzt weiß ich Bescheid und erwarte es in Zukunft auf andere Weise; oder man reagiert normativ: So hätte es nicht ablaufen sollen, und ich erwarte für die Zukunft weiter, dass es so geschieht, wie es dieses Mal nicht geschehen ist. 36 Zur Widerfahrnis s. Marquard 2007: 63; er spricht in Anschluss an Wilhelm Schapps Geschichtenphilosophie von den Handlungs-Widerfahrnis-Gemischen, die die Geschichten darstellen: »wir sind stets mehr unsere Zufälle als unsere Leistungen.«
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Stellt man jedoch von der anthropozentrischen und handlungstheoretischen Orientierung im Sozialen um auf eine Medialitätszentrierung, dann erscheint der Kontinuitätsbruch vielleicht immer noch als eine Störung, aber Störungen in einer Kontinuität der Katastrophen37 haben eben durchaus auch etwas Heilsames. Und in der postanthropozentrischen Sicht wollen wir die Kontinuitätsunterbrechung ein Ereignis nennen. Für pädagogische Prozesse, die nicht mehr primär als ein (Be-)Handeln von Erziehungsobjekten konfiguriert werden, die also durch Störungen in ihrem Erfolg der Zielerreichung nur aufgehalten oder gar verhindert würden, sondern die als kommunikativer Text zu deuten wären, wird das Ereignis im Medium, im Zwischen, zu etwas Grundlegendem. Der mediale Prozess im Zwischen ist nicht mehr planbar, sondern ergibt sich, gesteuert nicht mehr von einer übergreifenden Rationalität, sondern von einer okkasionellen Sensibilität im Augenblick. Eine solche medialitätszentrierte Pädagogik wäre wesentlich ein Offensein für Ereignisse und ein Sicheinlassen, ein Suchverstricken auf den Sinn von Kontinuitätsunterbrechungen. Vielleicht wird am Ende einer so verlaufenden Unterrichtsstunde das vorgeschriebene Lernziel, gesteuert durch das intentionale und rational überwachte Handeln eines Lehrersubjekts, nicht immer erreicht sein. Im Ereignis im Medium, das Zielerreichenshandeln unterbrach, wird aber etwas Anderes realisiert und eingeübt worden sein: Souveränität. Souveränität (und zwar der Lehrer und der Schüler) wird im Medium des kommunikativen Textes, der beide verbindet, realisiert, sie lässt sich als Handlungsresultat eines planvollen Handelns eines Lehrers/Erziehers durch Einsatz der sogenannten Medien als Mitteln und durch Macht nicht erreichen. So ist nicht mehr das Schielen auf das vorgesetzte Ziel dasjenige, was den Bildungsprozess als gelungen (oder misslungen) erscheinen lässt, sondern der Prozess selber in seinem Vollzug gelingt (oder misslingt). Befreiung zur Souveränität hat in diesem Zwischen, dieser Medialität, ihren Ort. Freiheit ist nicht im Subjekt vorgegeben und ist auch nicht durch erzieherisches Einwirken zu produzieren, sondern sie ist real im Prozess der Befreiung. Für die Zielerreichungsbemühungen hat das zur Folge, dass die Ziele selbst in diesem Befreiungsprozess zur Disposition stehen und im kommunikativen Text diskutiert werden. Solche Prozesse sind autopoietisch, d.h. sie erzeugen sich aus ihren Elementen selbst,
37 Benjamin 2011: II, 884: »Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren. Daß es ›so weiter‹ geht, ist die Katastrophe.« Zur Unterbrechung: »Das Bewußtsein, das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen, ist den revolutionären Klassen im Augenblick ihrer Aktion eigentümlich.« (Benjamin 2011: II, 964).
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sie haben keinen »vorgelagerten Prozess-Unternehmer« 38 nötig. Die fälligen Entscheidungen im Fortgang des Lehr-/Lern-Prozesses ergeben sich aus der sequentiellen Logik der Abläufe (das ist der eigentliche Sinn von Curriculum), sie sind nicht dirigiert von den zufälligen Meinungen von Subjekten, die als Prozess-Unternehmer auftreten und sich in ihrer Macht über den Prozess spiegeln und genießen möchten. Für den Erzieher, der sich darauf einlässt, ergibt sich daraus, dass die Störung, der Bruch der Kontinuität stets auch ein Bruch mit sich selbst ist.39 Die Qualität im Ereignis lässt den Erzieher neben sich selbst treten, d.h. in eine Prozess-Alternative, einen Umweg oder Abweg. Alle Kultur aber ist Kultur der Umwege und Abwege (Röttgers 2012: 45, 297) (im Unterschied selbstverständlich zur Berufsausbildung, die aber leider auch den Geistesund Sozialwissenschaften im Zuge der Modularisierung der B.A.-Studiengänge als Vorbild aufgezwungen worden ist). Der Erzieher hört auf, auf die Rolle des Besserwissers in einem Kontext (relativer) Ignoranz festgelegt zu sein. Es ist der Vorschlag gemacht worden, an die Stelle der Handlungstheorie eine Praxistheorie zu setzen (Alkemeyer/Schürmann/Volbers 2015; Bertau 2015). Das macht jedoch nur dann Sinn, wenn man mit Andreas Hetzel festhält: »[…] kann Praxis […] nicht im Ausgang von einem Subjekt beschrieben werden, das sich kultureller Muster gleichsam von außen zur Verwirklichung seiner Intentionen bedient« (Hetzel 2001: 11). Und ähnlich äußert sich Gerhard Gamm, wenn er festhält: »Das Miteinanderleben der Menschen, die bewusste oder unbewusste Koordination ihrer Absichten und Pläne, die institutionellen Bindungen der sozialen Akteure untereinander – sie bilden das Medium, das als Allgemeines zugleich die Bedingung darstellt, die Individuation des Einzelnen zu ermöglichen.« (Gamm 2014: 217)
Und das bedeutet, eben nicht Handeln, sondern soziale Praxis zum Grundbegriff der Sozialphilosophie und einer ihr entsprechenden Pädagogik zu wählen (Gamm 2014: 201-230; Gamm 2000: 159). Der Verzicht auf Handlungstheorie und ihre Grundlage in der Anthropozentrik lässt das Handeln, ausgehend von dem Menschen zurücktreten. Aber nicht nur die Zentrierung auf den Menschen als Ursprung ist in der medialitätszentrierten Theorie aufgegeben, sondern auch jegliche Einbettung der medialen Praxis durch irgendeine Arché und irgendein Telos. Die Prozesse werden an-archisch. Reiner Schürmann hat in seinem der Philosophie Heideggers gewidmeten Buch 38 So die glückliche Begriffsprägung von Schürmann 2007: 180. 39 Badiou 2003: 17-23; zum willkürlichen Setzen von Fakten in der Politik s. auch Brücher 2004: 62.
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unter dem paradoxen Titel »Le principe d’anarchie« diese Umorientierung an Heidegger geschildert. Seine Spätphilosophie – und auch »Sein und Zeit« müsse quasi rückwärts lesend von dort her verstanden werden – ist eine Philosophie, deren Ökonomie nicht mehr durch einen Rückbezug auf irgendeine Arché gedeutet werden kann. Dieses an-archische Denken der Praxis beginne allerdings schon mit Nietzsche (Schürmann 1982: 11). Dieser An-archismus ist etwas ganz anderes als der klassische Anarchismus; denn dieser ersetzte lediglich den Prinzeps durch das abstrakte Prinzip. Aber Principium ist nichts anderes als Arché. Die unvorhersehbare und auch nicht planbare Störung und Intervention des Ereignisses macht das mediale Geschehen an-archisch, d.h. offen für das Eintreten und Auftreten von Vielheiten. »Das Lied von der Unzulänglichkeit menschlichen Strebens« in Brechts »Dreigroschenoper« bringt es auf den Punkt: »Ja, mach nur einen Plan | Sei nur ein großes Licht! | Und mach dann noch ‘nen zweiten Plan | Gehn tun sie beide nicht« (Brecht 1967: 465). Das »große Licht« ist das sich handlungsmächtig glaubende Subjekt der Aufklärung (»Les Lumières«), das glaubte, Ur-heber – epistemisch und praktisch – einer Welt sein zu können. Nachdem wir jetzt gründliche Zweifel an der Anthropozentrik und an der mit ihr verbundenen Handlungstheorie entfaltet und für eine Medialitätszentrierung plädiert haben, wollen wir jetzt der Frage nachgehen, was sich dort in der Mitte, im Medium, abspielt und was dieses Medium dazu qualifiziert, eine Neuorientierung der pädagogischen Praxis vorzunehmen. Auch hierzu werden wir wieder auf einige Essentials einer postmodernen Sozialphilosophie Bezug nehmen müssen. Es hat sich also herausgestellt, dass Medialität nicht in Subjektivität fundiert ist, sondern umgekehrt. Aber was heißt das und was folgt daraus für pädagogische Theorie und Praxis? Subjektivität hat ihr Lebensmedium in Sprache (langue) und Sprachlichkeit (langage). Sie entfaltet sich im Text (parole) zwischen Selbst und Anderem. In der Sozialphilosophie des kommunikativen Textes bezeichnen Selbst und Anderer die aufeinander bezogenen Funktionspositionen, grob umrissen als der Sprechende und der Hörende. Die Besetzung dieser Positionen durch verschiedene Subjekte wechselt in gelingender Kommunikation. Zwischen den Positionen entfaltet sich das Medium Text als ein relationaler Prozess. Selbst ist nichts ohne diesen relationalen Prozess, der ihm seinen Ort, seine Position zuweist. Ebenso die Position des Anderen im Text. Subjekte können überhaupt nur in Erscheinung treten, indem sie die Positionen im kommunikativen Text einnehmen.40 Und es ist der Fortgang des Prozesses selbst, der sie in die Positionen einweist. 40 Die von manchen Phänomenologen so geschätzte Leiblichkeit muss ebenfalls im Text in Erscheinung treten, andernfalls ist sie unbeachtlich.
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Wenn Subjekt A die Position des Selbst einnimmt, ist Subjekt B auf die Position des Anderen festgelegt. Konkreter gesprochen: Wenn A spricht und solange A spricht, muss B zuhören, es sei denn er wird das Wort ergreifen, dann nimmt er die Position des Selbst ein. Aber auch umgekehrt: Wenn B sich in die Position des Anderen begibt, also hören will, muss A sprechen, wenn es Kommunikation geben soll,41 also sich in die Position des Selbst begeben. Noch konkreter: Wenn es ein Auditorium, z.B. von Studenten gibt, ist der Professor gezwungen zu sprechen – oder jemand anderes an seiner Stelle (der Funktionsposition des Selbst). Noch deutlicher lässt sich die Sprachlichkeit des kommunikativen Textes (der Medialität also) herausstellen, wenn man mit Walter Benjamin auf Übersetzungen achtet.42 Der Übersetzer spricht nicht von sich aus, aber er hört auch nicht von sich aus, er vermittelt beides. Er begibt sich in die Medialität selbst und wird zum Vermittler. Und das ist – idealiter – die »reine« Sprache, als Sprachlichkeit verstanden. Im Prozess des Übersetzens ist Sprache nicht Mittel, sondern die reine Mitte (Frey 1997). Nun ist allerdings Übersetzung ein Sonderfall und die Funktion des Übersetzers dieser Art eine Idealisierung. Ja, so wie jeder kommunikative Text die Positionen von Selbst und Anderem organisiert und relationiert, so ist auch dieses Modell des idealen Übersetzers nur eine Verbildlichung von Medialität. Er selbst, dieses Ideal von Übersetzung hört und spricht, d.h. organisiert im Medium dieses selbst. »Die Übersetzung erlaubt es, die eigene Sprache in einen Unterschied zu sich selber zu bringen, das heißt sie zu verändern.« (Ebd. 59)
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Kann sich der Erzieher dieses Bild des Übersetzers zum Vorbild nehmen? Ja und Nein. Ja, denn er hat sich um Verständlichkeit seines Sprechens als ein Selbst zu bemühen, d.h. er muss das Hören des Anderen für sich simulieren. Und er hat sich um ein Verstehen in seinem Hören als Anderer zu bemühen, d.h. er muss
41 … und es gibt Kommunikation noch bevor es die Kommunizierenden gibt: »[…] die Menschheit ist nicht aus Einzelwesen gemacht, sondern aus der Kommunikation zwischen ihnen. Niemals sind wir gegeben, nicht einmal uns selbst, es sei denn in einem Kommunikationsnetz mit den anderen. Wir sind in Kommunikation gehüllt, wir sind auf diese unaufhörliche Kommunikation angewiesen […]« (Bataille 1987: 79). 42 Benjamin 2011: 206-220; 574-576; 383-393; Krämer 2008: 52ff.: »Das Medium als Übersetzung«.
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das Sprechen der Zöglinge für sich simulieren können. Et vice versa das Gleiche ließe sich für die Zöglinge sagen. Mit anderen Worten, beide müssen vorbehaltlos in den kommunikativen Text, der sie verbindet, eintauchen, oder anders gesagt, sich miteinander in das Gewebe des Textes verstricken lassen. Und nein: Der Erzieher kann nicht wirklich in die Rolle des Zöglings einrücken. Die Hörerposition zu simulieren und sich um Verständlichkeit zu bemühen kann nicht heißen, das Sprechen auf ein Minimalniveau abzusenken. Anders gesagt: Im kommunikativen Text wird der Sprechende den Hörenden, das Selbst den Anderen, immer leicht überfordern, um dessen Sein-Können als potenziell Sprechender zu fördern. Und in seinen Zuhörern das Verstehen zu simulieren, kann nicht heißen, sich dumm zu stellen, d.h. der Hörende muss dem Sprechenden immer mehr zutrauen, als sein Text zu sagen scheint. Der kommunikative Text entfaltet sich daher auf beiden Seiten stets auf zwei Ebenen: der kommunikativen Auseinandersetzung und der Reflexion eben dieser Konfrontation in Erwartungen des Fortgangs und Repräsentation des geschehenen Textes. Für beide Seiten, also die Subjekte in ihren jeweiligen Positionen, entspricht die Einübung dieser Doppelfähigkeit einer Kultur von Souveränität. Es gibt, gerade heute, ein Sonderproblem. Das ist die Figur des Fremden. Als Fremden wollen wir einen bezeichnen, der nicht etwa nur etwas mehr anders ist als alle Anderen. Der Fremde ist vielmehr derjenige, der jenseits der (bisherigen) Grenze der Verstehbarkeit situiert ist und so die Eigenheit radikal infrage stellt. In seiner kurzen Erzählung »Ein altes Blatt« spricht Franz Kafka von den Nomaden, von den »Nomaden aus dem Norden«, die sich als Soldaten in der Hauptstadt aufhalten (Kafka 2004: 1153-1154). »Ihrer Natur entsprechend lagern sie unter freiem Himmel; denn Wohnhäuser verabscheuen sie.« Und dann folgt im Text das Entscheidende, das den Nomadismus aus der diskursiven Normalität des kommunikativen Textes ausgrenzt: »Sprechen kann man mit den Nomaden nicht. Unsere Sprache kennen sie nicht, ja sie haben kaum eine eigne.« (Ebd. 1153) Verzweifelte Versuche der Kommunikation mit ihnen enden so: »[…] sie haben dich doch nicht verstanden und werden dich nie verstehen. Oft machen sie Grimasse; dann dreht sich das Weiß ihrer Augen und Schaum schwillt aus ihrem Munde, doch wollen sie damit weder etwas sagen noch auch erschrecken; sie tun es, weil es so ihre Art ist.« (Ebd.) Besser kann man die Fremdheitsanmutung für die Sesshaften kaum beschreiben. Deleuze bringt sie auf die Formel: »Irgendetwas springt aus dem Buch und tritt in Kontakt mit einem reinen Außen« (Deleuze 1976: 113). Diese Begegnung mit dem »reinen Außen«, sprachlos, außerhalb des kommunikativen Textes, hat aber nicht nur etwas Bedrohliches wie bei Kaf-
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ka.43 Denn die Fraglichkeit der Eigenheit kann grundsätzlich zwei verschiedene, ja entgegengesetzte Reaktionen auslösen: Fremdenfeindlichkeit oder Identitätswandel. Feindliche Abwehr gegenüber dem Fremden heißt: Er wird nicht in den kommunikativen Text als ein verstehbarer und verstehender Anderer integriert. Er ist Terrorist oder »Schurke« oder, wie man heutzutage sagt, ein verdächtiger44 und zu überwachender »Gefährder«. Vom Fremden kann aber auch eine verführerische Faszination ausgehen, die ein Subjekt nicht bleiben lässt, was es war: ein radikaler Kontinuitätsbruch (Mamber 2007), der die Redeweise von »Identität als Ereignis« (Röttgers 2016) zulässt.45 Permanenter Kontinuitätsbruch jedoch ist ebenso absurd wie die vollständige Isolation vor jeglicher Fremdheitsbegegnung.46 Es ist auch eine Art des Respekts vor dem Fremden, ihn fremd sein zu lassen (Bahr 1985: 54). Aus dieser Maxime des Respekts vor dem Fremden in seiner Fremdheit folgt auch ein (horribile dictu!) Diskriminierungsgebot. Der »humanistisch«-liberalistische Kampf gegen jegliche Diskriminierung (wörtlich: gegen jegliche Unterscheidung, nämlich von Eigenem und Fremdem) führt nicht nur zu einer Universalisierung des Verdachts gegen jegliche Unkorrektheit. Sondern es können eben nicht strukturlos alle Menschen unsere Brüder sein, ohne zugleich Brüderlichkeit gegenüber dem wirklichen Bruder oder Nachbarn zu entwerten (Röttgers 2011). Daher fordert Slavoj Žižek zu recht eine andere Universalisierung als diejenige der monokulturell zentrierten liberalen Toleranz (Žižek 2010: 46-53; 35-42). Es sei auch daran erinnert, dass antike Kulturen einen wesentlich differenzierteren Umgang mit dem Fremden hatten, als nur wohlwollende Integration, d.h. Aufhebung von (jeglicher) Fremdheit, oder Abschottung in der heimatlichen Idylle kultureller Isolation, sie kannten z.B. Isolation, Akkomodation, Assimilierung, Exklusion, Segregation und Extermination.47 Noch die Griechen unterschieden die inneren Fremden (Metöken), die als Gäste einkehrenden Fremden (Xenoi) und wilden, äußeren Fremden (Barbaroi). 43 Otto Friedrich Bollnow zitiert Gogarten, der von dem »jähem Erschrecken« in der Begegnung mit dem Fremden sprach (Bollnow 1962: 90). Das beruht allerdings hier bei beiden auf einer Perspektivenumkehr: Der bisherige Andere wird in diesem jähen Erschrecken zu einem Fremden, ein Abgrund in der Vertrautheit tut sich auf. 44 Da wir alle einer möglichst lückenlosen Überwachung unterworfen werden, kann man auch sagen: Wir alle sind Gefährder, man muss uns alle überwachen. 45 Zur Verführung im Anschluss an Kierkegaards »Tagebuch des Verführers« s. Röttgers: 2002: 407-470; ferner J. Baudrillard 1980. 46 Zum Ersteren s. Kapust 1999: 175: Abwehr von Fremdheit zur Sicherung des Bestandes in (eigener, eigenheitlicher) Rationalität. 47 Diese Differenzierung findet sich bei Jürgen Osterhammel; (Osterhammel 1995: 121) cf. Stichweh 1994: 78.
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Für den kommunikativen Text hat das die Konsequenz, er ist als prozessuale Struktur abgeschlossen und hat ein Außen, die Grenze ist allerdings immer verschoben worden und ist immer wieder verschiebbar, das macht Kultur aus. Wenn die Besetzungen der Positionen im kommunikativen Text regulär wechseln, dann hat das Folgen für die Positionen besetzenden Subjekte. Nicht nur ist Subjekt A in dem Moment, wenn es spricht, nicht dasselbe, wie wenn es zuhört; das ist trivial. Nicht trivial wird der Zusammenhang dann, wenn der Positionswechsel nicht oder länger nicht geschieht, wenn einer die Position des Selbst nicht aufgeben mag oder kann: der Lehrer, der vor den Schülern monologisiert, der Professor, der eine Vorlesung hält (Habilitation und Berufung sind ja bekanntlich Verfahren, durch die man hinfort eine Unterbrechung im Redefluss nicht mehr zu fürchten braucht), Politiker, die ihre Sätze nicht beenden, weil sie ihr Reden nicht durch Zwischenfragen beenden (lassen) möchten, also all die Rechthaber und Besserwisser. Oder auch umgekehrt diejenigen, die die Position des Anderen nicht aufgeben möchten oder können: die ›Schüchternen‹, diejenigen, denen das Schweigen auferlegt wurde (taceat mulier in ecclesia), die Inkompetenten, die sich nicht blamieren möchten, die Kinder, die stille sein sollen, wenn Erwachsene reden, diejenigen, die lieber darauf warten wollen, dass ihnen ›das Wort erteilt‹ wurde. Aber es gibt auch die unfreiwilligen Positionszuweisungen: Redegebote wie unter der Folter oder in Prüfungen. All das hat eine Pädagogik der Medialität zu berücksichtigen; das ist zweifellos eine schwierigere Aufgabe als technokratisch auf einen Medieneinsatz zur Steigerung des Lernzielerreichungserfolgs zu setzen. Angesichts des gesellschaftlichen Wandels in der Postmoderne mit ihrer Dezentrierung des Menschen und des Subjekts ist jedoch dieser Wandel unabweisbar. Und dieser neuen Perspektive erhält auch der Begriff der Medienkompetenz eine ganz neue, und sozialphilosophisch besser begründete Bedeutung. Gesetzt den Fall, jemand fände unsere Ausführungen überzeugend und möchte seine oder ihre pädagogische Praxis entsprechend ausrichten. Müsste er oder sie es sich nun untersagen, ›Medien‹ (im herkömmlichen Sinne) als Mittel ›einzusetzen‹? Nein, natürlich nicht! Nur sollten sie und er reflektieren können, dass ›Medieneinsatz‹ eine ganz bestimmte, vereinseitigende Interpretation einer Praxis der Mitte ist, die die Mitte als Mittel festlegt, und ebenso die Zielerreichung nur eine ganz bestimmte Ausrichtung der erzieherischen Kulturpraxis einer Kultur der Medialität, die uns im kommunikativen Text verbindet, statt nur die Zöglinge zu manipulieren und durch Mitteleinsatz effektiver auf ein vorgegebenes Ziel hin aus- oder abzurichten. Die Lehrerin wird sich nicht nur zu fragen haben, ob sie in der ministeriell verwalteten Institution Schule ihre Unterrichtsziele erreicht hat oder haben wird, sondern auch wird sie sich zu fragen
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haben: Was habe ich heute oder gestern von den Schülern und Schülerinnen gelernt? Und die Schülerinnen und Schüler werden sich nicht nur fragen können, was hat uns die Lehrerin heute durch effektiven Medieneinsatz beigebracht, sondern auch, was war heute unser Anteil am kommunikativen Text des Mediums Unterrichtsprozess.
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Die Kompetenz der Medien und die Performanz des Geistes J ÜRGEN G UNIA »Die große Maschine läuft, läuft, muss ewig laufen.« (Huxley 1982: 50) »Der Mensch denkt.« (Spinoza 2010: 103)
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DER
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»Kompetenz gibt es ja nicht einmal, hat es nie gegeben, wird es nie geben« (Bernhard 1988a: 179). Dieser Satz aus Thomas Bernhards ›Komödie‹ Alte Meister ist zunächst nichts als ein gutes Beispiel für die Übertreibung, die Bernhard als rhetorisch-musikalisches Negationsverfahren praktiziert. Nichts hat vor diesem Verfahren Bestand: Weder Beethoven noch Mahler, weder Heidegger noch Stifter, weder die Peterskirche noch Österreich. Und eben auch nicht die Kompetenz. Löst man den Satz jedoch aus dem Zusammenhang literarischer Performanz, deutet man ihn als konstativen Satz, kann man ihm ebenso etwas abgewinnen. Zumindest wird man zugestehen müssen, dass man Kompetenz als Fertigkeit und Fähigkeit – mithin: als Können – einer Person selbst nicht ansehen kann. Das hat offenbar im 19. Jahrhundert schon Marie von EbnerEschenbach in ihrem in der Management-Literatur beliebten Aphorismus geahnt: »Für das Können gibt es nur einen Beweis: das Tun« (Ebner-Eschenbach 1956: 870). Und, so müsste man hinzufügen, einen weiteren Beweis, der freilich mit dem Tun einhergeht, ja einhergehen muss: das kontrollierende Testen. Was die Linguistik im Anschluss an Chomskys Sprachtheorie umgetrieben hat – wie genau Sprachkompetenz und Sprachperformanz zusammenhängen (vgl. z.B. Grewendorf/Hamm/Sternefeld 1987: 31ff.) –, das hat der Erziehungswissenschaftler Franz Weinert im Auftrag der OECD gelöst: »It is possible to use hierarchically
126 | G UNIA and heterarchically constructed performance tests as valid indicators of competence hierarchies and competence components« (Weinert 1999: 28). Das genau ist die Logik des Kompetenzbegriffs: Er ist bezogen auf die Performanz einer Praxis, und diese Praxis hat den Charakter eines Tests. Ein Test, der nicht nur das Vorhandensein, sondern auch das Niveau von Kompetenz misst und damit kontrolliert. Ein Test, dessen Ergebnisse in der Auswertung zur Modifikation der Kompetenz führen, um auf diese Weise eine verbesserte Performanz zu gewährleisten – die wiederum den Charakter eines Tests hat etc. Das ist, etwas trivial formuliert, das Prinzip des Feedbacks, der fortwährenden Rückmeldung, in welche Kompetenz, die aus diesem Grunde in Wahrheit eine unendlich durchlaufende Kompetenz-Performanz-Schleife ist, eingebunden ist (vgl. Bröckling 2007: 236ff.). Bemerkenswert ist, dass die große Bezugstheorie, auf die das FeedbackKonzept zurückgeht, die Kybernetik ist. Denn die Kybernetik gibt auch die Grundfigur für algorithmengesteuerte Programme ab; vor allem für solche, die zum Deep Learning fähig sind, Programme also, die sich selbstständig verändern, um sich den jeweiligen Erfordernissen und Problemlagen anzupassen (vgl. Stalder 2016: 179). Der Kompetenzbegriff, mit dem man Subjekte seit einigen Jahren als Leistungsträger beschreibt, ist also durch ein technisches Arrangement prädeterminiert bzw. konfiguriert. Wenn bislang galt, dass künstliche Intelligenz menschliches Denken so gut wie möglich nachahmen möchte, so gilt nun implizit der Umkehrschluss: dass das menschliche Denken am Modell künstlicher Intelligenz ausgerichtet wird. Was nichts anderes bedeutet, als dass Denken mit großer Selbstverständlichkeit reduziert wird auf Akte stets optimierbaren Problemlösens. Das Gehirn mutiert so zur Rechenmaschine, das Denken zur offen programmierten Problemlösung. Es dient zu nichts anderem als der steten Verbesserung und Anpassung an gegebene Erfordernisse und Herausforderungen. Diese Erkenntnis ist ein Gemeinplatz älterer Anthropologie und Soziologie: So wies bereits Arnold Gehlen 1957 auf die zunächst recht triviale Tatsache hin, »dass das menschliche Bewusstsein jeweils von kulturell bevorzugten Denkarten und Verhaltensweisen durchgeformt wird«. Er fährt fort mit der Feststellung, »wie an der Technik entwickelte Denkweisen sich in nichttechnische Gebiete, wo sie unangemessen sind, dennoch fortsetzen« (Gehlen 1957: 36). Noch deutlicher wird, nur ein paar Jahre später (1963), Helmut Schelsky: »Es wird wissenschaftlich ja heute nicht nur ›Natur‹ neu- und umgeschaffen, sondern diese Art der wissenschaftlichen Produktion richtet sich längst auf eine Umkonstruktion und technische Beherrschung des Menschen selbst in seinen leiblichen, sozialen und seelischen Bezügen und diese ›künstliche‹ Veränderung des Menschen erweist sich mehr
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und mehr als die Voraussetzung des Fortschritts der Natur- und Gütertechniken.« (Schelsky 1971: 164f.)
Die Konjunktur des Kompetenzbegriffs im Bildungsdiskurs hat, so die hier vertretene These, mit dem zu tun, was Schelsky einen »neuen technischen Selbstbezug des Menschen« (ebd.) nennt. Insbesondere in seiner besonderen Variante der ›Medienkompetenz‹ erhält er, folgt man diesen Überlegungen, eine neue semantische Dimension: ›Medienkompetenz‹ heißt, der These zufolge, nicht, Medien zu beherrschen, zu verstehen, zu verwenden, zu gestalten oder zu bewerten (vgl. Sutter 2010: 176), ›Medienkompetenz‹ ist vielmehr beziehbar auf die Kompetenz technischer Medien selbst, die dem Menschen als Modell für sein Verhalten und sein Denken zu dienen hat. ›Medienkompetenz‹ beinhaltet geradezu einen unausgesprochenen Imperativ: ›Verhalte dich, wie (digitale) Medien sich verhalten würden. Denke und handle, als wäre deine Intelligenz artifiziell.‹ Sich selbst in erster Linie als kompetenten Menschen zu definieren, wäre somit geradezu ein Akt der »Selbsttechnisierung« bzw. »Selbstcyborgisierung« (Müller 2010: 154ff.). Es mag andere Gründe für die gegenwärtige Dominanz des Kompetenzdiskurses geben, etwa die durchschlagende Entwicklung der ›Psychotechnik‹ durch Hugo Münsterberg und William Stern (vgl. Gelhard 2011: 40ff. u. passim), die seit jeher auf ›Employability‹ abzielende Aufgabe der Schulausbildung oder schließlich der so genannte ›Neoliberalismus‹ (Gunia 2016: 19ff.). Der Aspekt des impliziten Aufrufs zur Selbsttechnisierung ist in der Kritik der Kompetenz jedoch meist vernachlässigt worden. Zumal es so aussieht, als könnte man in Schulen und Universitäten, wo Lehre und Lernen nahezu zeitgleich auf Kompetenz und Digitalisierung verpflichtet wurden, unschwer eine Bestätigung dieser These ausmachen. Verschwörungstheoretisch könnte man gar behaupten: Erst sollen Lehrpersonen auf Medienkompetenz reduziert werden, um sie dann umso besser durch didaktische Soft- und Hardware zu ersetzen oder sie zumindest zu Anwendern und Moderatoren technischer Medien zu degradieren. Auf eklatante Weise tritt hervor, was die Technikhistorikerin Martina Heßler als »Paradigma des Technischen« benennt: Technik ist »die maßgebliche Vergleichsfolie für die ›Richtigkeit‹ des Menschen geworden«, und mit dieser Vergleichsfolie droht »das Menschliche zu einer Restfunktion des Technischen« zu verkommen (Heßler 2015: 31).
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D AS
STARKE ( SCHWACHE ) UND
DAS SCHWACHE ( STARKE )
S UBJEKT
Wie auch immer: Das kompetente Subjekt ist ein starkes und zugleich in sich dezentriertes, posthumanistisches Subjekt. Es hat keinen festen Wesenskern, es ist überhaupt nicht mehr fest, da es sich ja in einem Prozess fortwährender Selbstoptimierung stets von neuem gestalten muss. Das unwandelbar Kernhafte, das dem alten metaphysischen Subjekt unterstellt wurde, ist offensichtlich nach außen gewandert: Es erscheint dort als unerhört effizienter, medial generierter imaginärer ›Panzer‹, als eine in ihrer Flexibilität und Vielseitigkeit offensive Defensivwaffe. Stark ist dieses nachmetaphysische Subjekt nicht wegen seines AutonomieAnspruchs, stark ist es, weil es seine Effizienz dem Ideal einer universellen Problemlösungsmaschine und einem vollständig internalisierten Optimierungsbegehren verdankt. Stark nicht wegen eines überzeitlich mit sich selbst identisch bleibenden ›Kerns‹, sondern wegen seiner fortwährenden Etablierung dieser ›Panzerung‹ (vgl. Gunia 2012). ›Panzerung‹ heißt: Jede Situation wird darauf hin wahrgenommen, was in ihr an Herausforderungen bewältigt und an Problemen gelöst werden muss. Die Verpflichtung zu fortwährendem Feedback, zu ›lebenslangem Lernen‹, lässt das starke freilich zugleich zu einem schwachen Subjekt werden. Stark ist es ja nicht aus sich selbst heraus, sondern nur durch auf Dauer gestellter ›Selbsttechniken‹. Das gepanzerte Subjekt ist die gesteigerte Variante des ›abgepuffertem‹, »die Welt auf Distanz« haltenden Subjekts, von dem Charles Taylor im Hinblick auf die Neuzeit spricht (Taylor 2012: 54). Theoretisch hat der strukturalistisch geprägte Psychoanalytiker Jacques Lacan in seinem berühmten Aufsatz über das »Spiegelstadium« den tendenziell pathologischen Status der Ich-Bildung, »wo das Subjekt verstrickt ist in die Suche nach dem erhabenen und fernen inneren Schloß«, metaphorisch als Imagination einer »Befestigungsanlage« umschrieben (Lacan 1973: 67). Seinen Widerpart hat das ›abgepufferte‹ oder gepanzerte Subjekt natürlich in der Vorstellung eines schwachen Subjekts, welches Michael Mayer im Anschluss an Überlegungen Jean-François Lyotards und Gilles Deleuze‘ definiert als sensibles und empfängliches Subjekt; ein Subjekt, das sich auszeichnet »durch Charakteristika wie Anfälligkeit, Hinfälligkeit, Zufälligkeit« (Mayer 2012b: 10) und das sein Erleben konsequent nach der Logik des Ausgesetzt-Seins ausrichtet. Auch das schwache Subjekt jedoch hat eine Stärke: Indem es kontingente Widerfahrnisse und Chaos zulässt und bejaht, ist es erfahrungsgesättigter und letztlich lebendiger als das starke Subjekt. Elisabeth List behauptet folgerichtig: »Lebendigsein, leibhaftig existieren, bedeutet immer dem Unver-
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fügbaren ausgesetzt sein« (List 2009: 55). Aus diesem Grund liegt es nahe, in diesem Fall von einem (starken) schwachen Subjekt zu sprechen. Zusammenfassend (und holzschnittartig) kann man zwei Subjekttypen unterscheiden, das (schwache) starke und das (starke) schwache Subjekt: Das starke Subjekt setzt auf Überleben, das schwache auf Lebendigkeit. Das starke Subjekt ist motiviert, das schwache leidenschaftlich. Das starke Subjekt ist ein Erbe des cartesianischen Subjekts, das starke eines Spinozas. Entscheidend ist allerdings: Es gibt keine Differenz im Sinne einer Demarkationslinie zwischen den beiden Konzepten. Die Rede vom (schwachen) starken auf der einen und vom (starken) schwachen Subjekt auf der anderen Seite legt bereits nahe, dass sich beide berühren und einander bedingen. Was Hartmut Rosa für die von ihm reklamierten »Weltbeziehungen« hervorhebt, gilt für die vorgeschlagenen Subjektkonzepte: Es gibt eine Beziehung zwischen ihnen, und diese ist »komplex, historisch wandelbar und auch individuell variabel« (Rosa 2016: 33). Was beide verbindet, ist ihre Prozessualität und ihr Angewiesen-Sein auf Performanz. Beide, das (schwache) starke wie das (starke) schwache Subjekt, sind nicht, sie werden. Und dieses setzt Differenzierungen ebenso voraus, wie es welche produziert. Es gibt kein Subjekt, sondern nur differente und gleichsam ineinander verschlungene Subjektivierungsprozesse. Mehr noch: Bei beiden handelt es sich um transhumane Subjektkonzepte: Das starke Subjekt ist transhuman, weil es sich radikal von der technisch-medialen Konfiguration – von Algorithmen bzw. vom Deep Learning – her denkt und sich endlosen Feedback-Schleifen und Optimierungsprozeduren verschrieben hat. Das schwache Subjekt ist transhuman, weil es mit der Betonung existenziellen Ausgesetzt-Seins seine dezentriert-verletzliche Position markiert, die seine fundamentale Abhängigkeit von materiellen (körperlichen, medialen) Gegebenheiten impliziert. Eingedenk dieses Ineinanders beider Konzepte wäre über eine Subjekttheorie nachzudenken, die der Komplexität möglicher Subjektkonstellationen angemessen Rechnung trägt. Das Modell, das dieser Theorie zugrunde liegt, könnte – in Anlehnung an Didier Anzieus psychologisch grundierten Begriff des »HautIchs« (Anzieu 1996) – die Haut sein. Als paradigmatisches Empfindungsorgan ist die Haut bereits das bevorzugte Organ schwacher Subjektivität, zeigt sich deren Empfänglichkeit doch gerade dort, »wo mich etwas angeht wie ein Wind, Lufthauch, Atem [sic] wie ein kaltes Brennen auf der Haut.« (Mayer 2012a: 89) Die Haut vermag jedoch mehr zu sein: ›weiche Haut‹ und Hornhaut, Ort des Austauschs und Grenze, Pore und Panzer, kurzum: eine ebenso schwache, verletzliche wie starke, abwehrbereite Oberfläche.
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D IE R ETTUNG
DES › SPEKULATIVEN
M OMENTS ‹
Das eine ist es, über ein ›Oberflächen-Modell‹ für ein komplexes Subjekt nachzudenken. Das andere ist es, auszuloten, was mit ihm im Hinblick auf Kreativität und Materialität möglich ist., d.h. es ist danach zu fragen, welche Potenziale ein solches Subjekt in dem Augenblick entfalten kann, in dem Steuerungs- und Kontrollparadigmen – zumindest partiell – suspendiert werden. Dazu ist es notwendig, das so genannte praxisorientierte, auf Problemlösung und Herausforderungsbewältigung entworfene Konzept, zu dem der Begriff der Kompetenz unzweifelhaft gehört, zu verlassen. Mit anderen Worten: Es ist notwendig, spekulativ zu denken. Spekulatives Denken gilt als Denken, das Nutzenkalkül und Zwecksetzungen ausblendet zugunsten einer Hinwendung auf die Struktur des Denkens selbst (vgl. Koßler 2008). Das »spekulative Moment« zeigt sich bei Theodor W. Adorno »in der engsten Fühlung mit den Gegenständen und in der Absage an sakrosankte Transzendenz« (Adorno 1992: 29). Außerdem springt einem ein Begriff ins Auge, der als einer der Grundbegriffe spekulativer Philosophie gelten kann (und an dem sich Adornos Philosophie wiederholt abgearbeitet hat): Geist. Geist nun ist ein prätentiöser Begriff mit diffuser Aura. Dennoch – oder gerade deshalb – eignet er sich besser zur Konturierung einer Alternative zum Kompetenzbegriff als der subjektzentrierte und ideologisch belastete deutsche Begriff der Bildung. Traditionell verstanden, steht Bildung für die humanistische Tradition, die man auffassen kann als »ständiges Identifizieren mit einer quasimystischen universellen menschlichen ›Natur‹«, mit deren Hilfe »große kulturelle Errungenschaften hervorgebracht werden« (Herbrechter 2009: 15). Geist dagegen ist, wie zu zeigen sein wird, eine Kategorie, die das Subjekt unterläuft bzw. übersteigt. In diesem Zusammenhang soll gerade der Poststrukturalismus die »Austreibung des Geistes« (Kittler 1980) betrieben haben, was allerdings nur halb zutrifft, was sich im Hinblick auf Michel Foucaults und Gilles Deleuze‘ Verwendung des Terminus ›Spiritualität‹ belegen lässt (vgl. Gunia 2017). Auch Jacques Derrida zeichnet sich durch ein spezifisches Interesse an der Kategorie Geist aus, die er etwa im Werk Martin Heideggers aufspürt, wo man diese ebenso wenig vermuten würde (Derrida 1992). Die Ubiquität des Geistes betreffend, könnte man gar behaupten, dass der Poststrukturalismus in der Tat ein posthumanistisches Erbe spekulativen Denkens ist. Jedenfalls kommt man allem Anschein nach ohne diesen ›Signifikanten‹ nicht aus! Es muss jedoch in den Ansätzen vorrangig französischer Provenienz noch ein anderer Traditionsstrang namhaft gemacht werden, auf den eine nichtidealistische Verwendung des poststrukturalistischen ›ésprit‹ zurückgeht. Ein Strang,
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der nicht zufällig jeder Systematik wissenschaftlicher Prägung entsagt und im Zwischenbereich von Literatur und Philosophie bzw. Wissenschaft angesiedelt ist. Es geht um Vertreter des so genannten französischen Moralismus und etwa um die Essayistik Michel de Montaignes. Montaigne beschreibt in einer berühmten Wendung seiner Apologie des Raimundus Sebundus Geist als »ein unstetes Werkzeug« und »zweischneidiges Schwert«, er attestiert ihm eine »ungemeine Lebhaftigkeit«, aber auch »Flatterhaftigkeit und Ausschweifung« (Montaigne 1991: 462f.). In der Moderne ist es dann vor allem Paul Valéry, der in seinen fragmentarischen Aufzeichnungen ausführlich über den Begriff des Geistes nachdenkt. Einige Beispiele aus seinen Cahiers, die verblüffend an Montaigne erinnern: »Der ›Geist‹ ist eine so bizarre, so launische Funktion, dass man nie sagen kann, ob das Fehlen irgendeiner Voraussetzung oder Kenntnis ihn nicht mehr fördert als hemmt« (Valéry 1991: 194). »Geist ist Zufall. Ich will sagen, dass das Wort ›Geist‹ neben manchem andern alle Bedeutungen des Wortes ›Zufall‹ umschließt« (ebd. 199). Und in seinen Essays heißt es: »Beweglichkeit des Geistes ist Geist. Der Geist ist seine Beweglichkeit.« Oder: »Geist – Agens der Instabilität, der Nicht-Trägheit, der Diskontinuität« (Valéry 1989: 144 u. 154). Montaignes und Valérys ›ésprit‹, den ich nicht weiter historisch kontextualisiere, scheint nichts zu tun zu haben mit Bewusstsein, er ist kein Synonym für Intellekt und schon gar keine Erscheinungsform einer metaphysischaußerweltlichen Instanz. Vielmehr bezeichnet er eine selbstreferenzielle Bewegung, die auf Instabilität und Kontingenz setzt und von daher ein lebhaftlebendiges, präreflexives Denken bezeichnet. Dass im übrigen Geist dem Körper nicht entgegensteht, sondern beide eng miteinander zu tun haben, darüber hat sich Valéry, obwohl er in anderen Zusammenhängen oftmals dem Cartesianismus verhaftet bleibt, ebenfalls Gedanken gemacht. Seine Formel lautet: »Am Ende des Geistes, der Körper; am Ende des Körpers, der Geist« (Valéry 1969: 72, zitiert bei List 2001: 204). Diese Formel taucht dann anverwandelt in der Phänomenologie des ValéryLesers Maurice Merleau-Ponty auf: »Es gibt einen Leib des Geistes und einen Geist des Leibes und einen Chiasmus zwischen beiden« (Merleau-Ponty 1994: 326). Was schließlich bei Merleau-Ponty als Überkreuzung beschrieben wird, das ist bei Spinoza noch eine einzige Substanz. Spinozas Ansatz basiert auf der Annahme, »daß nämlich der Geist und der Körper ein und dasselbe Ding sind, das bald unter dem Attribut Denken, bald unter dem Attribut Ausdehnung begriffen wird« (Spinoza 2010: 227). All diese Zitate sollen nicht ein fest definiertes Verhältnis von Geist und Körper nahelegen, was in der Geschichte der Philosophie wiederholt versucht wurde (vgl. z.B. Decher 2015). Sie sollen lediglich
132 | G UNIA belegen, dass keineswegs der alten Dichotomie (›Geist vs. Körper‹) das Wort geredet wird, sondern, im Gegenteil, dass der Geist seine Renitenz, seine Langsamkeit und Unberechenbarkeit, ja seine spezifische Widerständigkeit gegen alles allzu Praktische und damit seinem Status als Grundbegriff spekulativen Denkens dem Körper verdankt. »Alles Geistige ist«, so kann man mit Adorno zusammenfassen, »modifiziert leibhafter Impuls, und solche Modifikation der qualitative Umschlag in das, was nicht bloß ist« (Adorno 1992: 202). Genau dies zu umreißen versuchen etwa neuere Konzepte wie das des »Embodiments«, die allerdings ohne den Begriff des Geistes auskommen (vgl. Koch 2011). Vergegenwärtigt man sich aber noch einmal das komplexe Subjekt als Haut-Subjekt, so ist hervorzuheben, dass jede Berührung ein Berührtwerden impliziert (Anzieu 1996: 87). In diesem Berührtwerden, das sich nicht ›ausschalten‹ lässt, hinterlässt die Materialität von Körpern, Dingen und Medien ihre Spuren, sie ›tätowiert‹ und ›faltet‹ gewissermaßen das Subjekt und belegt auf diese Weise sein unhintergehbares Verstrickt-Sein in die Welt. Argumentiert man, an diesen Gedanken anschließend, im Sinne eines »Plädoyer[s] für die Eigendynamik der eigenen und fremden Materialität« (Becker 2000: 43), so gibt etwa Bruno Latours »Akteur-Netzwerk-Theorie« einen möglichen Bezugsrahmen (Latour 2014: 244ff.). Überhaupt versteht sich hier vorgestellte Begriff des Geistes immer auch als Effekt von Materialität. So mag es nicht wundern, wenn Beiträge zum New Materialism ebenfalls Produktivität und Widerständigkeit (Köhler/Siebenpfeiffer/Wagner-Egelhaaf 2013) oder Offenheit in einem dezidiert spekulativen Sinn (Folkers 2013: 23) als Merkmale von ›Materie‹ unterstreichen. Entsteht der Geist im Übrigen als »experimental spirit« (Marks 2005: 88) aus und inmitten dynamisch ineinander verschachtelter Gefüge, so wäre darüber hinaus zu überlegen, ob der Begriff der Kreativität, in welchem nach wie vor das Subjekt als Genie anklingt, ersetzt werden müsste durch den der ›Konkreativität‹, wie er in der esoterischen Anthropologie des Phänomenologen Heinrich Rombach entwickelt wurde. Rombach hebt hervor, dass die Wirklichkeit und die Dinge selbst »kreativ« seien und nicht bloß das Subjekt (Rombach 1987: 128). Dieser Vorschlag, der erweiterbar ist durch Begriffe wie Medialität und Materialität, wäre an anderer Stelle vertieft zu diskutieren.
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B AUSTEINE
ZU EINER
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Die folgende Skizze rollt einzelne Kategorien vom ›Subjektpol‹ des kreativen Prozesses auf, was sich dadurch legitimiert, dass es um die Etablierung neuer Selbstverhältnisse geht. Er konstruiert ›Bausteine‹ und greift dabei auf Konzepte unterschiedlichster theoretischer und historischer Provenienz als ›Steinbruch‹ zurück. Im Vordergrund steht das Denken, jedoch sind zugleich Felder wie Arbeiten, Lernen oder Herstellen anschließbar, deren materielle Bedingtheit einmal stärker, einmal weniger evident hervortritt. Die zentrale Frage lautet: Wird eine »Kultur des Digitalen« (F. Stalder) so etwas wie Geist als kreatives Erregungsfeld von Subjektivität ermöglichen bzw. zulassen? Und zugleich: Wann geschieht Geist, wann testet sich bloß Kompetenz? Konstruiert wird dabei nicht die Vehemenz eines ›Gegen‹, sondern der Schattenriss eines kritischen ›Mit‹. Entscheidend ist das produktiv-innovative und widerständige Unterlaufen von Normen und Steuerungsmechanismen, das einhergeht mit einer Steigerung affektiver Intensität und Lebendigkeit. In diesem Zusammenhang wird angeknüpft an eine weitere Bemerkung Paul Valérys: »Alles Leben des Geistes – ist Abweichung. Denken heißt abweichen, Elongation. Lebhaft fühlen ist ein Impuls« (Valéry 1989: 297). Erfahrung und Diskontinuität. Das Ziel »der von Algorithmen erstellten Ordnung« besteht nach Felix Stalder darin, »den im Akt des Suchens zum Ausdruck kommenden Bruch zwischen der Welt, wie sie jede einzelne Person erlebt, […] zu minimieren.« Als Beispiel nennt Stalder Bestrebungen von Google, »die nächsten Schritte des Nutzers zu antizipieren und ihm die notwendigen Informationen bereitzustellen, bevor er sie sucht, um diese Schritte möglichst effizient erledigen zu können.« (Stalder 2016: 191) Mit der angestrebten Bruchlosigkeit, der auf Vermeidung von signifikanter Diskontinuität programmierten EffizienzOrdnung der Algorithmen, konvergiert die Formung einer umfassenden »Erlebniswelt«, auf die Stalder an anderer Stelle zu sprechen kommt (vgl. ebd. 63f.). Denn auch die Erlebniswelt ist letztlich dazu da, Brüche zu vermeiden, trägt sie doch »zur Konsensbildung und zur Herausbildung von Konformitätsbalancen« (Legnaro 2004: 74) bei. Was u.a. von Hannah Arendt als Signatur der Neuzeit gedacht wurde, nämlich ein gravierender Verlust an Erfahrungsmöglichkeiten (Arendt 2008: 410), das wird in der digitalen Kultur gesteigert, denn »[i]m Gegensatz zum Erlebnis beruht die Erfahrung auf einer Diskontinuität« (Han 2015: 104). Erfahrung negiert das Gegebene (Deines et al. 2013: 15.), sie ist u.U. krisenhaft. Genau dies kann Impulse abgeben für eine Vielfalt kreativer, lebendiger Prozesse. Über die
134 | G UNIA Differenz von Erfahrung und Erlebnis schließt sich obendrein der Kreis zur Kompetenz: diese kennt vorrangig auf die Kontinuität des Weitermachens abzielende »Erfolgserlebnisse« (z.B. Graf 2012: 315). Basteln und Gebrauch. Ist Kreativität einerseits kontingent (Bröckling 2004: 139), also auch anders möglich, so steht sie andererseits für den produktiven Umgang mit Kontingenz. Kreativität ist Basteln, d.h. sie muss »jederzeit mit dem, was ihm zur Hand ist«, auskommen (Lévi-Strauss 1968: 30). Michel de Certeau hat für dieses Basteln – als produktiven Umgang mit dem Unverfügbaren – als Alltagspraxis den Begriff des Gebrauchs – als Gegensatz zu dem des Konsums – vorgeschlagen: Etwas, ein Ding, ein Gerät, eine sprachliche Wendung wird anders als vorgesehen benutzt (de Certeau 1988: 13 u. 79ff.). Der Gebrauch ließe sich in Anlehnung an de Certeau in dem Sinne als experimentelles Ausprobieren vorstellen, als er nicht nur eine anverwandelnde Modifikation des Gebrauchten implizieren kann. Er impliziert auch eine Modifikation des Gebrauchenden, eine Selbstmodifikation also. Ein durchaus kybernetisch beschreibbarer, weil auf Rückkopplungsschleifen setzender Vorgang, der aber nicht zum optimierten Lernen, sondern zur Freisetzung spiritueller Energien angetan ist. In diesem Sinne verwendet ihn etwa Gilles Deleuze (vgl. Gunia 2017). Assoziation und Affizierung. Dem Gelenkt-Werden durch Algorithmen steht die Assoziation als subjektimmanente Kombinatorik entgegen. Eine Kombinatorik, die nach Eckhard Lobsien das Denken ganz entscheidend prägt: »Denken« sei, so Lobsien, »praktisch identisch mit der Herstellung und Bearbeitung assoziativer Kontexte«. Die Assoziation geriere sich als ungreifbare Instanz, »die es uns gestattet, uns von einer bloßen Repetition der immer gleichen Eindrücke zu emanzipieren und uns in ein Feld praktisch unerschöpflicher Rekombinationsmöglichkeiten zu orientieren« (Lobsien 1999: 54). In der Assoziation meldet sich ein Eigensinn zu Wort, eine bezüglich normativ-steuernder Vorgaben ›emanzipatorische‹ Dynamik. Bis in einzelne Formulierungen hinein findet die Assoziation ihre Entsprechung im Begriff der Affizierung, als dessen prominentester Theoretiker Spinoza gilt (vgl. Spinoza 2010: 223 u. passim). Affizierung, verstanden als präreflexives Sich-Berührt- und Angesprochen-Fühlen, das im Hinblick auf »konstitutions-, Anziehungs-, Synthese- und Artikulationsprozesse auf verschiedenen Ebenen« als »Disjunktor« wirkt, initiiert »Arten des Innehaltens« sowie »Verzögerungen und Haltepunkte« (Ott 2010: 13 u. 17) – also dem oben erläuterten Zaudern nahekommende Effekte. Auch hier ist das entscheidende Merkmal eine quasi
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›emanzipatorische‹, neue Differenzen und Alternativen schaffende Abweichungsbewegung. Nicht(s)tun und postheroisches Management. Assoziationen und Affizierungen entfalten ihre je eigene, kreative Dynamik am ehesten in entpragmatisierten Situationen, z.B. in Zeiten der Muße, dem Tagtraum oder anderen Formen des »Nicht(s)tuns« (Fuest 2008). In Situationen, die durch das Ziel, eine Lösung zu finden, determiniert sind, bietet sich das Verfahren der Prokrastination an, insofern es die Lösung auf den »richtigen Augenblick« verschiebt und den gesamten Vorgang verlangsamt (Passig/Lobo 2010, 93ff.). Damit verwandt ist auch das Zaudern, das dem, was sich »als notwendig und verpflichtend oktroyiert«, skeptisch und vorsichtig begegnet (Vogl 2008: 115). Als aufschiebendes Verfahren in Frage kommt zudem das vom Dirk Baecker so benannte »postheroische Management«, das die Lösung eines Problems dem »Einschlafen, Aufwachen, Duschen oder Spazierengehen« (Baecker 1994: 118) überlässt – Situationen, die zum Kontrollverlust tendieren. Suspendiert wird das Dringlichkeitspostulat lösungsorientierter Situationen, wie es oftmals im Kompetenzdiskurs vorausgesetzt wird, suspendiert wird damit aber auch ein algorithmisch nahegelegter Aktionshorizont. Das ist ganz im Sinne Lyotards, der schreibt: »Bei dem, was wir hier ›Denken‹ nennen, ›lenkt‹ man den Geist nicht, man lässt ihn vielmehr los« (Lyotard 2014: 31). Umwege und Vernetzung. Trotz aller mit Valéry präsupponierten Instabilität und Kontingenz kann (und muss) mit Geist nach wie vor eine synthetisierende Leistung benannt werden. Die Performanz des Geistes besteht demnach darin, Diskontinuität und Kontinuität als paradoxes Ineinander zu ermöglichen. Genau dies macht seine spezifische Lebendigkeit aus, die man als paradoxes Zugleich von Struktur und Ereignis beschreiben kann (vgl. Koselleck 1995: 144ff.). Nicht zufällig wird man in diesem Augenblick rückverwiesen auf G.W.F. Hegel, der diesen Aspekt als die Neigung des Geistes, Umwege zu machen, vorstellt (Hegel 2014a: 55). Diese Präferenz des Umwegs – der gewissermaßen das Aufschieben, Zaudern und das postheroische Management ins Räumliche projiziert – wird von neueren, medientheoretischen Ansätzen stark gemacht, um einer »an-archischen Praxis« Kontur zu geben: Der Umweg schafft, so beispielsweise Kurt Röttgers, im digitalen Medium nicht nur Netzwerke, er schafft ein »alternatives Netz« (Röttgers 2015: 76). Befreit man Hegels geschichtsphilosophischen Ansatz von der Idee des Allgemeinen und des Fortschritts (Hegel 2014a: 51ff.), ›(post)modernisiert‹ man seinen teleologischen Ansatz, so gerät auch in den Blick, dass er (in Anlehnung
136 | G UNIA an Shakespeare) »die Arbeit des Geistes« mit der eines blinden Tiers, eines Maulwurfs, vergleicht (Hegel 2014b: 685). Der Maulwurf ist ein Wühler, der im Untergrund eine komplexe lineare Struktur – ein Netz – erschafft, dessen Teil er selbst ist (vgl. Bodenheimer 2011: 230f.). Es ist dies eine konsequente, weil letztlich transhumane Auslegung von Performativität – und mehr noch: Legt man neben Hegels Bild des Maulwurfsgeistes das des ›Rhizoms‹, des unterirdischen Wurzelgeflechts, das Gilles Deleuze und Félix Guattari für vergleichbare Prozesse geprägt haben (Deleuze/Guattari 1997: 15ff.), stellt sich heraus, dass deutscher Idealismus und französischer Poststrukturalismus – zumindest in seiner konstruktivistisch-vitalistischen Variante – mehr Berührungsflächen haben, als man gemeinhin glaubt: Maulwurf und Rhizom gehen in ihrer Konstruktion komplexer, transhumaner Linearität unterirdisch vor; nimmt man sie als Modell ernst, folgt der Geist der Topographie des Subversiv-Unbewussten, ohne dessen psychoanalytischen Implikationen verpflichtet zu sein, Subjekt und Faltung. Dem Phänomenologen Lobsien zufolge ist die Assoziation die »kreative Dimension unseres Bewusstseins«, die jedoch »eine potenzierte, jedenfalls ausdrückliche Selbstreflexivität des Bewusstseins erfordert« (Lobsien 1999: 55). Die Argumentation geht von einer transzendentalen Subjektstruktur und vom »Bewusstsein« aus. Versteht man Geist jedoch als prozessualuntergründige Selbstreflexivität eines nicht mit sich identischen Subjekts, wird man erneut verwiesen auf die Affizierung. So kann Subjektivität beispielsweise gedacht werden als Sich-durch-sich-selbst-Affizieren, also als affektiv besetzter Verdopplungsvorgang oder schlicht, wie es Deleuze in seiner Lektüre des späten Foucault vorschlägt, als »Faltung« (Deleuze 1992: 138f.). Als Vorgang, der dazu angetan ist, das Subjekt selbst als fortwährende Subjektivierung und somit als kreativen Prozess zu begreifen – und eine Metapher, die erneut hinzeigt auf das diesen Überlegungen zugrundeliegende Modell des Haut-Subjekts. Denn die Haut ist es, die sich im Laufe der Zeit ›faltet‹ und nicht zuletzt auf diese Weise zur »Maske des Tastsinns« und zum ›nach außen gewendeten Gedächtnis‹ wird (Serres 1998: 21 u. 41).
A USBLICK
MIT
B UCH
Der vorangehende Versuch, Bausteine zu einer Performanz des Geistes zu benennen und zu beschreiben, ist naturgemäß unvollständig und ungenau. Die zahlreichen Zitate und Bezugsautoren, die sich in ihm versammelt finden, beto-
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nen denn auch seinen vorläufigen und fragmentarischen Charakter. Andeutungsweise muss zudem noch einmal wiederholt werden, dass nicht grundsätzlich gegen Kompetenz oder Digitalität argumentiert wird. Das wäre schlicht borniert. Einmal gewonnene Assoziationen können digital sehr gut nachgeforscht werden; auch der Autor des vorliegenden Beitrags ist so vorgegangen. Assoziationen lassen sich auf diese Weise erweitern, verfestigen oder als verfehlt herausstellen, die entsprechende Recherchekompetenz einmal vorausgesetzt. Zu diskutieren wäre, welche Konsequenzen die ernstgenommene Performanz des Geistes speziell für den schulischen Unterricht hätte. Das ist freilich ein weites Feld. Einspruch erhoben werden jedoch müsste in kompetenzkritischer Hinsicht dort, wo unerwartete Erkenntnisse und Entdeckungen der Schülerinnen und Schüler ignoriert werden, weil dafür kein Feld in jener Liste vorgesehen ist, auf der die Lehrperson das Vorhandensein bestimmter Kompetenzgrade abhaken muss. Überhaupt wäre viel gewonnen, wenn unerwartete Reaktionen und Ideen größere Aufmerksamkeit bekämen und das Denken nicht zwanghaft auf in den Lehrplänen vorgegebene Schemata rückgebunden würde. Aber das ist natürlich ein alter Hut in der Geschichte der Unterrichtskritik. In medienpraktischer Hinsicht müsste dort Einspruch erhoben werden, wo digitale Medien um der digitalen Medien willen in den (Deutsch- bzw. Literatur) Unterricht implantiert werden (vgl. Lankau 2016/2017). Beispiel ›digitales Klassenzimmer‹: Neuere Untersuchungen zeigen, dass Schüler und Schülerinnen viel lieber Texte in Büchern lesen und nicht am Bildschirm, und Pädagogen betonen, dass vor allem im analogen Medium Buch »Effekte« zum Tragen kommen, »die wir nicht bewusst suchen« (Küchemann 2017). Der Wissenschaftshistoriker Michael Hagner hebt zwar grundsätzlich die Offenheit dieser technischen Entwicklung hervor. Allerdings muss er in Hinsicht auf die die haptisch-räumliche Qualität des Lesens das Buch momentan noch als die ›angemessenste‹ akzeptieren (Hagner 2015: 228). Die spezifische Sinnlichkeit des Lesens im Buch hat auch mit dem ›Blättern‹ als seiner materiellen »Organisationsform« (Schulz 2015: 163 u. passim) zu tun. Blättern ist auch sinnlich intensives, diskontinuierlich-kreatives Lesen; ein Lesen, das im Buchraum Literatur Umwege macht und auf diese Weise unerwartete – wenn man so will ›geistreiche‹ – Entdeckungen im und mit dem Text fördert. Das wäre nicht nur für den schulischen, sondern auch für den universitären Unterricht zu bedenken. In allgemeinerer philosophischer und ästhetischer Richtung wäre abschließend zu überlegen, inwiefern für die Bausteine der Performanz des Geistes nicht alteuropäische Begrifflichkeiten wie ›Freiheit‹ und ›Kritik‹ oder ›Stil‹ und ›Rhythmus‹ neu zu verhandeln wären. Und schließlich stellt der vorgestellte experimentelle Ansatz, der oftmals Metaphern als Modelle und Modelle als
138 | G UNIA Begriffe deutet, möglicherweise nicht nur eine unhistorische Verkürzung, sondern eine Übertreibung dar. Wenn das so sein sollte, handelt es sich jedoch um eine Übertreibung, die sich aus der Eigenlogik der Sache ergibt, ohne dass freilich das methodische Kalkül auf der Strecke bleibt. Denn wenn der Geist etwas ist, das durch Über-Steigung entsteht, so kann ihm methodisch nur durch eine Über-Treibung – also eine bestimmte Form der Performanz – beigekommen werden (Gunia 2012). Noch einmal Thomas Bernhard: »Um etwas begreiflich zu machen, müssen wir übertreiben« (Bernhard 1988b: 128).
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Einblicke
Die medialen Subjekte des 21. Jahrhunderts: Digitale Kompetenzen und/oder Critical Digital Citizenship F ELICITAS M AC G ILCHRIST
E INLEITUNG Digitale Selbstbestimmung, gesellschaftliche Teilhabe und aktive Mitgestaltung. Diese zentralen Begrifflichkeiten fallen häufig im Diskurs über Bildung in der digital vernetzten Welt. Aber wie werden sie mit Leben gefüllt? Ziel dieses Beitrags ist es, die unterschiedlichen medialen Subjekte, wie sie derzeit in Deutschland diskutiert wird, zu kartieren und diese Subjektfiguren auf ihr kritisch-gestalterisches Potenzial hin zu befragen. Um dies zu tun, nehme ich die Diskussion um die Strategie der Kultusministerkonferenz (KMK) zur »Bildung in der digitalen Welt« als Ausgangspunkt. Nach einer kurzen Begriffsbestimmung und Beschreibung des Kontextes stelle ich drei Subjektfiguren vor, die im KMK-Entwurf, in der KMK-Strategie sowie in vielen Stellungnahmen erscheinen: die Nutzer_innen, die kritisch-reflexiven Subjekte und die Maker. Diese Figuren – so die erste These hier – konturieren die gesellschaftliche Konfiguration, in der wir uns derzeit befinden und in der ein lebbares, legitimes Leben ermöglicht wird. Gleichzeitig erscheinen an den Rändern des Diskurses, z.B. in den Stellungnahmen, noch weitere Subjektfiguren, die von der überarbeiteten Strategie nicht aufgegriffen werden. Die zweite These des Beitrags ist, dass diese marginalen Subjektfiguren – die Expert_innen, die Ecosoph_innen und die Gesellschaftsgestalter_innen – »Interferenzen« und »Beugungsmuster« einer Gesellschaft aufzeigen, in der ein lebbares, legitimes Leben anders aussieht (Barad 2007; Haraway 1997). Diese Subjektfiguren werden mit Überlegungen zu einer kritischen digital literacy verknüpft.
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V ORBEMERKUNGEN Zwei Begriffe müssen vorab geklärt werden. Erstens: »digitale Bildung« ist ein schillernder Begriff, der sich vor allem dank Twitter in der öffentlichen Debatte durchsetzt. Obwohl Kritik an der Nutzung von »digital« als Adjektiv vor »Bildung«, »Welt« oder »Zeitalter« geäußert wird (es klinge so, als wäre Bildung ein rein digitales Phänomen), sind zutreffendere Alternativen, wie z. B. »Bildung in einer durch Digitalisierung und Mediatisierung beeinflussten Welt« (GMK: 2)1, mitunter sperrig. Für diesen Beitrag dient »digitale Bildung« als hilfreiche Kurzform um die Ereignisse zusammenzufassen, die derzeit an unterschiedlichen Orten der Welt diskutiert werden. Ob es nun um digitale Medien, Big Data, learning analytics, Datenaktivismus o.Ä. geht, auch im Bereich der Bildung gilt, dass »die Debatten über das Digitale die zentralen Spiegel sind, über die sich die Gesellschaft gegenwärtig selbst beobachtet, problematisiert und reflektiert« (Süssenguth 2015: 8). Zweitens: nach dem »Subjekt« zu fragen, heißt nach »der spezifischen kulturellen Form, welche die Einzelnen in einem bestimmten historischen und sozialen Kontext annehmen, um zu einem vollwertigen, kompetenten, vorbildlichen Wesen zu werden«, zu fragen (Reckwitz 2008: 9). Im Reden und Schreiben über digitale Bildung – vor allem im Kontext Schule – werden immer auch Vorstellungen von lesbaren und wünschenswerten zukünftigen Erwachsenen konfiguriert. Wenn es sich um eine textbezogene Analyse – wie in diesem Beitrag – handelt, stehen die diskursiven Positionierungen oder Subjektfiguren, die in den Texten angenommen bzw. präsupponiert oder entworfen werden, im Vordergrund (vgl. Wrana 2015). Schüler_innen werden als Subjekte adressiert, ob implizit in Annahmen über ihre Fähigkeiten und Wünsche oder explizit in Kompetenzmodellen und Zukunftsprognosen. In der Auseinandersetzung über die Gestaltung von Bildung ringen konfligierende Projekte um die Hegemonie über die Subjekte, die entworfen werden. Was sollen sie tun können, was sollen sie tun wollen, was sollen sie wollen wollen? In der wiederholten Erwähnung wünschenswerter Fähigkeiten von jungen Menschen in der digital vernetzten Welt erscheinen bestimmte Subjektpositionen selbstverständlich und unhinterfragbar bzw. hegemonial. Aber »genau in dieser Operation ihrer Wiederholbarkeit« zeigen »hegemoniale Machtformen ihre eigene Zerbrechlichkeit« bzw. lassen Raum für Interferenzen und Beugungsmuster (Butler 1998: 256).
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Die für diesen Beitrag analysierten Quellen sind im Anhang aufgeführt. Im Fließtext werden entsprechende Zitate mit Kürzeln der jeweiligen Institution kenntlich gemacht.
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Dieser Fokus auf Subjektfiguren bringt Verluste mit sich: Der KMK-Entwurf, die Stellungnahmen und die KMK-Strategie ringen um viele Dimensionen der Bildung in einer digital vernetzten Welt. Die Stellungnahmen kritisieren am Entwurf u.a. ein funktionalistisches Verständnis von Medien, in dem es nur um Werkzeuge und Hilfsmittel des Lehrens und Lernens geht; einen verkürzten Bildungsbegriff, der nur auf die (ökonomische) Verwertbarkeit von Bildungsinhalten, die Vermittlung von Fakten und den Erwerb von berufsrelevanten Kompetenzen zielt und seinen Anspruch auf eine umfassende Persönlichkeitsbildung vergisst. Sie kritisieren die Annahme, dass der kompetente Umgang mit digitalen Medien als eine neue Kulturtechnik neben den traditionellen Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen steht, und sehen stattdessen eine grundsätzliche Transformation dieser Kulturtechniken – Lesen, Schreiben und Rechnen – durch digitale Medien. Sie vermissen Verbindlichkeiten, prüfungsrelevante Elemente und praktische Beispiele für die Umsetzung sowie konkrete Hinweise darauf, wie z.B. das Primat des Pädagogischen mehr als Rhetorik bleiben sollte. Sie wünschen sich konzeptionelle Klarheit in Bezug z.B. auf Open Educational Resources (OER) und eine Betonung der Chancen und Potenziale der digitalen Bildung, um den Eindruck zu vermeiden, es würde nur noch mehr Belastung auf Lehrpersonen zukommen. Viele dieser Kritikpunkte wurden in der Strategie aufgegriffen und eingearbeitet, mehr oder weniger im Einklang mit der Kritik. Auf diese Punkte kann dieser Beitrag nicht eingehen. Ich konzentriere mich hier stattdessen, wie oben erwähnt, auf ausgewählte Subjektfiguren und dabei auf die Figuren der Schülerin/des Schülers. Die Darstellung der Lehrperson soll an anderer Stelle ausgeführt werden.
K ONTEXT Mit der Einladung der Kulturministerkonferenz (KMK) vom Sommer 2016, den Entwurf einer Strategie für »Bildung in der digitalen Welt« (KMK-Entwurf) zu besprechen und zu kommentieren, leitete die KMK einen offenen und partizipativen Prozess ein. Im Mai 2016 lag der Entwurf vor. Anfang Juni wurde dieser in Berlin präsentiert und diskutiert. Bis zum Spätsommer sind eine Reihe von Stellungnahmen erarbeitet worden – einige sind online öffentlich zugänglich gemacht worden, weitere wurden als interne Dokumente direkt an die KMK übermittelt. Am 8. Dezember 2016 – kurz nach der Ankündigung der Bildungsoffensive für eine digitale Wissensgesellschaft des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF 2016) – wurde die endgültige Strategie der KMK
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(KMK-Strategie) mit einem verbindlichen Rahmen für »Bildung in der digitalen Welt« verabschiedet. Für diesen Beitrag sind neben dem KMK-Entwurf und der finalen KMKStrategie neun online zugängliche Stellungnahmen analysiert worden (siehe Anhang). In Anlehnung an Subjektivierungstheorien (siehe oben) und postqualitative Ansätze der Grounded Theory wurden diese Dokumente kodiert und analysiert (vgl. Charmaz 2008).2 Der Blick gilt deren Annahmen und Aussagen zum Schüler_innen-Subjekt.
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Keine der analysierten Stellungnahmen beinhaltet nur eine einzige Subjektfigur; unterschiedliche Textstellen figurieren unterschiedliche Subjekte. Eine Grundannahme des aktuellen Beitrags ist, dass diese »Nicht-Kohärenz« keine »Inkohärenz« ist, die behoben werden sollte, sondern dass die Nicht-Kohärenz das grundlegende Ordnungsprinzip unserer Gesellschaft ausmacht (Meseth, Proske & Radtke 2012; Verran 2007). Wie die Subjektfiguren nebeneinanderstehen und miteinander verschränkt sind, bringt die leitenden Annahmen über unser gegenwärtiges Leben – in der digital vernetzten Welt – zum Vorschein. In diesem Abschnitt werden drei Subjektfiguren diskutiert, die an zentralen Stellen in mehreren Dokumenten entworfen werden: Nutzer_in, Kritiker_in und Maker. Die Nutzer_innen Eine prominente Figur in den KMK-Papieren ist die Nutzerin bzw. der Nutzer. Diese Figur bedient vorhandene Technologien, rezipiert Medienangebote und reagiert auf Wandlungsprozesse. Der Entwurf sieht als überfachliches Ziel vor, Schüler_innen zu befähigen, »Medien aller Art zielgerichtet, sozial verantwortlich und gewinnbringend zu nutzen« (KMK-Entwurf: 14). Einer von sechs Kompetenzbereichen im Kompetenzrahmen der Strategie heißt z.B. »Suchen, Verarbeiten und Aufbewahren«: Schüler_innen sollen u.a. »[i]n verschiedenen digitalen Umgebungen suchen«, »Informationen und Daten sicher speichern, wiederfinden und von verschiedenen Orten abrufen« oder »Informationen und
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Der Fokus der Kodierung lag dabei auf den Prozessen, die bei der Konstitution eines wünschenswerten Schülers oder einer wünschenswerten Schülerin eingesetzt wurden, d.h. vor allem die Beschreibung von dem, was Schüler_innen können, sollen oder wollen.
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Daten zusammenfassen, organisieren und strukturiert aufbewahren« können (KMK-Strategie: 15f.). Im Kompetenzrahmen sollen Schüler_innen eine Reihe verschiedener Technologien für unterschiedliche Zwecke »nutzen« und »anwenden« können, z.B. »Digitale Werkzeuge für die Zusammenarbeit bei der Zusammenführung von Informationen, Daten und Ressourcen nutzen«, »[d]igitale Werkzeuge bei der gemeinsamen Erarbeitung von Dokumenten nutzen«, »[ö]ffentliche und private Dienste nutzen«, »[m]ehrere technische Bearbeitungswerkzeuge kennen und anwenden«, oder »[e]ffektive digitale Lernmöglichkeiten finden, bewerten und nutzen« (KMK-Strategie: 15-18). Auch in den Stellungnahmen der Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur (GMK) und der AG Medienkultur und Bildung der Gesellschaft für Medienwissenschaft (GfM) werden die Nutzer_innen als eine Figur adressiert, z.B.: »Die Lernenden sollen Medienangebote und Programme bzw. Mediengeräte oder Informatiksysteme sachgerecht handhaben können und das damit verbundene Prinzip der Eingabe, Verarbeitung und Ausgabe von Daten verstehen. Dies umfasst z.B. Kenntnisse und Fertigkeiten beim Starten und Beenden, An- und Abmelden, Suchen und Auswählen, Aufzeichnen und Wiedergeben, Speichern und Ordnen, Senden und Verbreiten, Sichern und Schützen.« (GMK: 10)3
Allerdings bezeichnet die Gesellschaft für Medienwissenschaft »Fragen der Beherrschung und Anwendung« als »trivial«; sie »haben sich historisch weitgehend erledigt« (GfM: 3): »Die technische Beherrschung ist hierzu allenfalls der erste und aufgrund der signifikant verbesserten Usability durch weitgehend selbsterklärende Systeme und intuitive Interfaces ein vergleichsweise unbedeutender Schritt, dessen Relevanz im Übrigen absehbar weiter abnehmen wird.« (GfM: 3)
In der Einleitung zur KMK-Strategie »Bildung in einer digitalen Welt« steht die Frage: »Über welche Kompetenzen müssen Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene verfügen, um künftigen Anforderungen der digitalen Welt zu genügen?« (KMK-Strategie: 5). Die erste Antwort auf diese Frage legt in der Strategie – und in vielen weiteren hier analysierten Dokumenten – ein instrumentalistisches Verständnis von digitalen Kompetenzen (oder digital literacy) nahe: Junge Menschen sollen gute, kompetente, sichere Anwender_innen werden. Um den 3
Alle Hervorhebung in Zitaten in diesem Beitrag sind von der Autorin. Ausnahmen werden kenntlich gemacht.
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»Anforderungen« einer digitalen Welt zu »genügen«, müssen sie kompetente Nutzer_innen sein; sie müssen auf die schon vorhandene digitale Welt reagieren. Ziel ist es, sich Fähigkeiten anzueignen, um in der Welt zurechtzukommen. Es ist aber umstritten, welchen Status diese minimale digitale Kompetenz haben sollte: Soll sie so prominent sein wie im Strategiepaper? Oder ist sie so irrelevant wie bei der Gesellschaft für Medienwissenschaft? Die Position der GfM kritisiert nicht nur die Antwort, sondern hinterfragt implizit, ob die richtige Frage gestellt worden ist. Ich möchte an dieser Stelle zwei Aspekte hervorheben. Erstens, das Leben in mediatisierten Zeiten: Werden zum Beispiel die Debatten über ›produser‹ berücksichtigt, dass mit dem Web 2.0, sozialen Medien usw. ›user‹ auch zu ›producern‹ werden – die ihren eigenen Content produzieren, verändern und verbreiten – dann stellt die Bedienung maximal eine Teilkompetenz dar (Bird 2011; Bruns 2011). Werden junge Menschen in ihrem »Medienleben« betrachtet, dann holt die Schule sie mit einer Adressierung als Nutzer_innen nicht von ihrem Alltagsleben ab (vgl. Hepp 2016; Hjarvard 2013; Livingston 2009). Für Mark Deuze und Kolleg_innen leben wir heute nicht nur »mit« Medien, sondern »in« Medien: »[W]e begin our thinking with a view of life not lived with media, but in media. The media life perspective starts from the realization that the whole of the world and our lived experience in it are framed by, mitigated through, and made immediate by (immersive, integrated, ubiquitous and pervasive) media.« (Deuze, Blank & Speers 2012)
Zweitens, die Frage der digitalen Spaltung (digital divide): Auch wenn die digitale Spaltung keine klaren Linien zwischen Gruppen markiert und die Metapher des ›divide‹ kritisch betrachtet werden sollte (boyd 2014; Buchem 2013), kann die Nutzer-Figur Folgen für die ungleichen Zukunftschancen der jungen Menschen haben. Zum einen – innerhalb einer instrumentellen Logik – erwerben einige Schüler_innen weitere kreative Kompetenzen außerhalb der Schule: Wenn es darum geht, am Ende der Schulzeit die Kompetenzen in der digitalen Welt zu zeigen, können sie Erfahrungen nachweisen, die sie besser positionieren, den »Anforderungen« der digitalen Welt – z.B. auf dem Arbeitsmarkt – zu »genügen«. Zum anderen – innerhalb einer politischen Logik – eignen sich einige Schüler_innen außerhalb der Schule kritische Kompetenzen an, nehmen eine kritische Haltung gegenüber gesellschaftlichen dominanten Ideen über Technologie ein bzw. erproben Praktiken, um digitale Technologien für die Veränderung der Gesellschaft einzusetzen. Diese Schüler_innen eignen sich dadurch nicht nur digitale Kompetenzen an, sondern auch eine »radical digital citizenship« (vgl. Emejulu & McGregor 2016; Pangrazio 2016).
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Wie im Folgenden sichtbar wird, werden einige dieser weiteren Aspekte auch in den Überlegungen zu digitaler Bildung aufgegriffen. Allerdings nimmt die Nutzerfigur eine zentrale Rolle in den Dokumenten ein. Ihre Prominenz zeigt, wie ein instrumenteller Zugang zu digitalen Kompetenzen die gesellschaftliche Debatte über das Digitale prägt. Die Kritiker_innen Eine medienpädagogisch und bildungstheoretisch zentrale Figur ist die Figur des kritisch-reflexiven Subjekts. Im Entwurf liegt der Fokus auf einer allgemein kritischen Reflexion und Bewertung der »Gefahren und Risiken« der Digitalisierung (KMK-Entwurf: 1) und »die eigene Medienanwendung kritisch zu reflektieren« (KMK-Entwurf: 14). Lernende und Lehrende sollen »situationsangemessen über deren Potential, Auswahl und Einsatz kritisch reflektiert entscheiden können« (KMK-Entwurf: 4). Der Schwerpunkt liegt auf der Anwendung. Die Stellungnahmen verstärken diese Fokussierung auf die Kritik, z.B. begrüßt der Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv: 4), »dass neben der Nutzung der Chancen digitaler Medien ein kritischer Umgang mit ihnen zentral ist, welcher als integraler Bestandteil im Bildungsauftrag innerhalb aller Unterrichtsfächer zu verankern ist«. Allerdings finde »keine Verknüpfung zur KMKEmpfehlung »Verbraucherbildung an Schulen« (2013) statt, die das kritische Hinterfragen des eigenen Medienhandelns und Medieninhalte umfasst, um sachgerechte und unabhängige Entscheidungen treffen zu können« (vzbv: 6). Forderungen, wie »Gefahren kritisch reflektieren und bewerten können« (KMKEntwurf: 1) blieben aus Sicht der Initiative Keine Bildung ohne Medien! (KBoM!: 2) im Entwurf »noch zu vage und unverbindlich«. Es gehe auch »nicht allein darum, über Kriterien zu verfügen, die Richtigkeit von Informationen »kritisch verarbeiten« ([KMK-Entwurf], S. 7) zu können, sondern kritisch einschätzen und bewerten zu können«, stellt die Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft fest (DGfE: 3, Hervorh. i.O.). Es genüge nicht, das reproduktive dem prozessorientierten Lernen im Entwurf gegenüberzustellen; es solle vielmehr darauf hingewiesen werden, dass »insgesamt ein erkundungs-, problem-, entscheidungs-, gestaltungs- und beurteilungsorientiertes Vorgehen bzw. Lernen wünschenswert ist« (GMK: 6). Der KMK-Entwurf beschäftige sich zu sehr »mit der unterrichtstechnologischen Applikation, nicht jedoch mit der Analyse und reflektierten Diskussion dieser Prozesse« (GfM: 2). Kritik solle sich nicht nur auf Inhalte und Themen beziehen, sondern auch auf die »Träger«, »Plattformen« und auf die »zur Datenverwertung genutzten Algorithmen« (vzbv: 8). Mit der Dominanz der Überle-
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gungen zum »Lernen mit Medien gegenüber dem Lernen über Medien […] muss dem Strategie-Papier eine vorwiegende funktionale Sichtweise zugeschrieben werden, die auch nicht durch einzelne Hinweise auf Reflexions- und Bewertungsnotwendigkeiten aufgelöst wird« (GMK: 7). Der Wikimedia Deutschland e.V. (WMDE: 3) stellt fest: »Der Fokus auf eine kritische Auseinandersetzung […] sollte nicht nur darauf gesetzt werden, diese als »Schutz« (eher negativ konnotiert), sondern vielmehr als zentrale positive Kompetenz des Lernenden in der digitalen Welt zu verstehen«. Die Arbeit mit Wikis und Blogs fördere bspw. »die kritische Reflexion« (WMDE: 8). In der verabschiedeten Strategie sind viele dieser Hinweise aufgegriffen worden. Die medienkritische Reflexion der eigenen Nutzung steht nicht mehr im Mittelpunkt. Die Kritik wird größer eingebettet, bleibt aber abstrakt: »Das Lernen im Kontext der zunehmenden Digitalisierung und das kritische Reflektieren werden künftig integrale Bestandteile dieses Bildungsauftrages sein. Die Länder haben nichts weniger getan als den Bildungsauftrag zu erweitern.« (KMKStrategie: 6). Junge Menschen sollen »frühzeitig Kompetenzen entwickeln, die eine kritische Reflektion in Bezug auf den Umgang mit Medien und über die digitale Welt ermöglichen« (KMK-Strategie: 11). »Kritisch bewerten«, »beurteilen«, »reflektieren« und »analysieren« stehen weiterhin an einigen Stellen im Kompetenzrahmen (KMK-Strategie: 15-18; KMK-Entwurf: 38-40). Allerdings beziehen sich fast alle diese kritischen Prozesse im Kompetenzrahmen auf Medien: »Informationen und Daten«, »Informationsquellen«, »Interessengeleitete Setzung, Verbreitung und Dominanz von Themen in digitalen Umgebungen«, »Wirkungen von Medien in der digitalen Welt«, »Medien«, »Chancen und Risiken des Mediengebrauchs«, »Vorteile und Risiken von Geschäftsaktivitäten und Services im Internet« und »Potenziale der Digitalisierung im Sinne sozialer Integration und sozialer Teilhabe«. Nur der letzte Punkt in dieser Liste (soziale Integration und Teilhabe) bezieht sich auf gesellschaftliche Prozesse, die über Medieninhalte, Medienträger oder Medienpraktiken hinausgehen. Die Kritikerfigur, die entworfen wird, ist ein_e Medienkritiker_in. Er/sie reflektiert nicht nur über Medieninhalte, sondern auch über Träger, Ideologien und Praktiken. Seine/ihre Kritik bleibt aber weitgehend auf Medien fokussiert, statt auf Gesellschaftsverhältnisse. Die Einschränkung des Begriffs »Kritik« auf den Begriff Medienkritik wiederholt eine breitere konzeptionelle Verschiebung im Bildungsbereich: Das Wort »kritisch« wurde in den 1970ern verstanden im Sinne der »Fähigkeit und Bereitschaft, gesellschaftliche Zwänge und Herrschaftsverhältnisse nicht ungeprüft anzunehmen, sondern sie auf ihre Zwecke und Notwendigkeiten hin zu befragen und die ihnen zugrundeliegenden Interes-
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sen, Normen und Wertvorstellungen kritisch zu überprüfen« (NordrheinWestfalen 1973: 10). Eine solche kritische Hinterfragung der Gesellschaft erscheint nur noch sehr selten in bildungspolitischen Texten, Bildungsstandards, Lehrplänen usw. (vgl. Giroux 2011: 40). Eine solche gesellschaftskritische Haltung würde – im Sinne einer critical digital literacy – eine Kritikerfigur aufrufen, darüber zu reflektieren, wie digitale Medien und digitale Bildung mit Konzepten wie knowledge capitalism, creative capitalism, cybernetic capitalism, educational capitalism und cognitive labor verflochten sind (Dyer-Witherford 1999; Fuchs 2015; Peters 2013), wie digitale Praktiken Individualismus oder neoliberale Tendenzen in der Gesellschaft verstärken (Selwyn 2013) oder welche ökologischen Auswirkungen von digitalen Technologien ausgehen (Ideland & Malmberg 2015; Parikka 2015). Eine solche gesellschaftskritische Figur würde auch darüber nachdenken, wie sie selber aktiv werden kann, um die Gesellschaft anders zu gestalten. Die Maker Im Unterschied zur Kritiker_in ist das Gestalten allerdings zentral für die dritte prominente Figur, die im KMK-Entwurf, in der KMK-Strategie und in einigen Stellungnahmen entworfen wird: die Figur des ›Makers‹. Bei dieser Figur geht es um die Vorstellung von jungen Menschen – und Lehrenden – als kreative Problemlöser_innen und Gestalter_innen, die sich durch ihre »planerischen Fähigkeiten« (KMK-Entwurf: 32f.) und »darstellerischen« Kompetenzen (GfM: 3) auszeichnen. Digitale Medien erlauben »neue schöpferische, kreative Prozesse« (KMK-Entwurf: 2) bzw. »neue schöpferische Prozesse und damit neue mediale Wirklichkeiten« (KMK-Strategie: 8). Es gehe um einen »Wandel des klassischen Rollenverständnisses von Kindern und Jugendlichen: weg vom passiven Nutzen, hin zum aktiven Anbieten von Medieninhalten« (KMK-Entwurf: 30). Da die »Linearität von Produktion, Verteilung und Nutzung von Medien« aufgebrochen wird, könne »nun jede nutzende Person und somit auch Schülerinnen und Schüler sowie Lehrkräfte Medien selbst entwickeln und verteilen« (KMKStrategie: 30). Digitale »Hilfsmittel« sollen »kreative Prozesse« unterstützen; allerdings nur solche, »die dazu dienen, die in den Unterrichtsvorgaben der Fächer formulierten Bildungsziele zu erfüllen«, d.h. die schon vorhandenen Bildungsziele, keine neu zu erarbeitenden Ziele (KMK-Entwurf: 5). Den »Schülerjob« (Breidenstein 2006) anerkennend – d.h. die Notwendigkeit, in den schulischen Fächern »Produkte« zu erarbeiten – betont der Entwurf, dass es für die fachspezifischen »Produkte« jeweils »spezielle digitale Werkzeuge [gibt], die mit ihren Potenzialen
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zum Teil völlig neue Bearbeitungsmöglichkeiten erschließen« (KMK-Entwurf: 6). Diese Möglichkeiten gehen über Text als Gestaltungsform hinaus; sie schließen visuelle Kommunikation ein und machen »die neue Gestalt- und Manipulierbarkeit von (digitalen) Bildern« (DGfE: 2) sichtbarer. Lernende sollen über »Kenntnisse und Verständnis sowie über Anwendungs- und Urteilsfähigkeit« in verschiedenen Bereichen verfügen, u.a. über »Gestaltungsmöglichkeiten von Medienformaten und Medieninhalten« (GMK: 10). Um das Lernen mit Medien mit dem Lernen über Medien zu verknüpfen, sollten »produktionsorientierte, an die Fachdidak-tiken angebundene Projekte wie Radiosendungen von Schülerinnen und Schülern, selbst erstellte Erklärvideos (›Tutorials‹), interaktive virtuelle Labore, Film- und Videoprojekte, Games etc.« entwickelt werden (KBoM!: 6). »Digitale Medien ermöglichen auch die aktive Gestaltung von Content. Dies ließe sich medienpädagogisch ausdrücken im Gedanken einer aktiven und konstruktiven Arbeit mit digitalen Medien (z.B. im Sinne von FabLabs, Maker Culture usw.), die ein Feld eröffnet, in dem sich Kooperationen mit Informatik, Kunst (Medienkunst), Robotik und anderen anbieten würde.« (DGfE: 5)
Neben diesen dem Unterricht immanenten Produktionspraktiken wird auch eine gesellschaftliche Wirkkraft thematisiert: Im Entwurf wird der Kompetenzbereich ›Produzieren‹ (in der Strategie dann »Produzieren und Präsentieren«) mit einem Superlativ eingeleitet: »Der größte Nutzen [digitaler Werkzeuge und Umgebungen] kann aber dadurch erreicht werden, dass man zum aktiven Teilnehmenden und Produzenten wird« (KMK-Entwurf: 8). Warum das gut ist, wird im darauffolgenden Satz durch ein ökonomisches Vokabular beschrieben: »Gemeinsame Projekte mit anderen Personen oder gemeinsame Aktivitäten in einer Gemeinschaft (Community) bieten für viele soziale und wirtschaftliche Vorteile« (KMK-Entwurf: 8). Laut des Bundesverbandes Informationswirtschaft, Telekommunikation und Neue Medien e.V. wird das Ökonomische in der Einbettung kreativer Prozesse in der durch Digitalisierung bedingten »Neu-Erfindung von Geschäftsmodellen und Prozessen« eingebettet: »Gründergeist und Kreativität sollten – z.B. durch das Fördern von Schüler Start-ups – einen größeren Stellenwert einnehmen« (bitkom: 2). Aber Produktion sei auch »die kreative und sozialverantwortliche eigene Gestaltung von Medienbeiträgen und Programmen und ihre Verbreitung« (GMK: 11) bzw. soll »kreatives und sozial verantwortliches Handeln in einer medial geprägten Lebenswelt« fördern (KBoM!: 5). Auch der Kompetenzbereich »Problemlösen« (in der KMK-Strategie: »Problemlösen und Handeln«) wird im KMK-Entwurf mit einem allumfassenden Determinativ eingeführt: »Alle Nutzer/innen sollten in der Lage sein, ausgehend
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von zu lösenden Problemen und Aufgaben die technischen Bedarfe zu beschreiben und Lösungsstrategien zu entwickeln« (KMK-Entwurf: 8). Insgesamt sei »ein erkundungs-, problem-, entscheidungs-, gestaltungs- und beurteilungsorientiertes Vorgehen bzw. Lernen wünschenswert«, schreibt die Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur (GMK: 6). Dass die Maker-Figur nicht nur unterrichtsintern (mit einer Fokussierung auf Lernen, Content und fachliche Produkte) oder in Bezug auf die eigene Lebenswelt (Vorteile, Teilnahme, Medienproduktionen) zu denken ist, sondern als eine gesellschaftliche Aufgabe betrachtet werden kann, darauf verweist die Gesellschaft für Informatik e.V. Auf deren Betonung der Gestaltung der Gesellschaft komme ich weiter unten zurück. Die Maker-Figur ist zentral in Debatten um das Maker-Movement oder die Maker-Kultur. ›Maker‹ wird zur Selbstbeschreibung der Gesellschaft; es gehe nicht um Innovation oder Erfindungen, sondern um explizit altmodisches ›tinkering‹ (herumbasteln): Maker »describes each one of us, no matter how we live our lives or what our goals might be. We all are makers: as cooks preparing food for our families, as gardeners, as knitters« (Dougherty 2012: 11). Die neue Begrifflichkeit und das Engagement in der Bewegung hat zu sehr viel Enthusiasmus für eine Integration der Maker-Figur – vor allem, aber nicht nur, mit digitalen Technologien – im Bildungsbereich geführt (Assaf 2014; Clapp et al. 2017; Halverson & Sheridan 2014). In großen Gesellschaftsentwürfen werden Maker die traditionelle Ökonomie umkrempeln: Konservative oder liberale Kräfte begrüßen die Maker wegen dem Unternehmergeist und Gründergestus, die Dynamik ins System bringen. Progressive Kräfte begrüßen Making wegen der basisdemokratischen, gemeinschaftsstiftenden Praktiken, welche die Selbstwirksamkeit und Teilhabe der Maker-Figur fördern und das kapitalistische System humaner machen. In den Dokumenten zur Bildung in der digitalen Welt werden beide Positionen sichtbar: Gründergeist und wirtschaftliche Vorteile stehen neben aktiver Teilnahme und sozialer Verantwortung. Mit diesen beiden Aspekten wird ein Muster wiederholt, welches in bildungspolitischen Texten in verschiedenen Kontexten hervorgebracht wird: die Verschränkung ökonomischer und sozialer Perspektiven. Allerdings zeigt sich in granularen Diskursanalysen, wie die soziale Perspektive zumeist der ökonomischen nachgelagert wird (vgl. Macgilchrist, Ott & Langer 2014). In kritischen Diskussionen zur Maker-Figur wird hinterfragt, wo das Reparieren und die pflegenden und sorgenden Tätigkeiten in einer Maker-Kultur bleibe, die das Neue, die Produktion und die kreative Generierung lobe
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(Doxtdator 2017). Ein Bildungssystem, das zur Maker-Figur hin erzieht und Designer_innen, Gründer_innen, Ingenieure usw. als wünschenswerte Karrierewege nahelegt – so die Kritik –, wertet somit soziale Berufe wie Sozialarbeiter_innen, Erzieher_innen und Pflege sowie unbezahlte Pflegetätigkeiten, z.B. in der Familie, ab. Diese Pflegetätigkeiten, welche schwer in Produktivitätszahlen gemessen werden können, werden allerdings in der heutigen Gesellschaft (Stichwörter: Migration, Flucht, demographischer Wandel) immer notwendiger (vgl. Autorengruppe Bildungsbericht 2016). Maker werden als Teil einer »kalifornischen Ideologie« (Barbrook & Cameron 1995) kritisiert, die eine individualistische, marktorientierte Gesellschaft fördert: Neue Technologien und Maker-Praktiken versprechen in dieser Hinsicht »to empower the individual, enhance personal freedom and radically reduce the power of the nation-state« (Barbrook & Cameron 1995). Der Staat wird umgangen, indem individuelle Praktiken, Tools und Lösungen gefunden werden. Diese Individuen (mit diesen digitalen Kompetenzen) basteln sich ein gutes Leben. Weil die Notwendigkeit, politische, soziale oder rechtliche Fragen im Kollektiv zu diskutieren und zu bearbeiten wegfällt, so diese Kritik, werden die Ungerechtigkeiten des Systems aufrechterhalten (Sadowski & Manson 2014): »If we continue to praise creating and making, while undervaluing caring and repairing, we certainly won’t prepare kids for either the jobs or civic life of tomorrow« (Doxtdator 2017).
S UBJEKTE
DER
D IFFRAKTION
Am Rande des Diskurses tauchen weitere Subjektfiguren auf: manchmal nur in einem Dokument, manchmal in verschiedenen Stellungnahmen (werden dennoch nicht in der verabschiedeten Strategie aufgegriffen), einmal auch in der KMKStrategie. Ich lese diese Figuren mit Donna Haraway als ›Beugungsmuster‹ (diffraction patterns), wo Beugung/Diffraktion eine optische Metapher dafür ist, eine Welt zu prägen, die anders als unsere derzeitige aussieht (Haraway 1997; vgl. Barad 2007). In diesem Abschnitt werden nur drei ausgewählte Subjektfiguren exemplarisch diskutiert, ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Die bereits angedeuteten Expert_innen, Ecosoph_innen und Gesellschaftsgestalter_innen stellen hegemoniale (selbstverständliche, unhinterfragte) Wissensordnungen und Handlungsoptionen unserer gegenwärtigen Welt – so die These hier – grundsätzlich in Frage.
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Die Expert_innen An nur einer Stelle werden junge Menschen als Expertinnen und Experten positioniert. In der Stellungnahme des Deutschen Studentenwerks (DS) zum Entwurf der KMK geht es primär um die barrierefreie Zugänglichkeit und uneingeschränkte Nutzbarkeit der digitalen Angebote und Infrastrukturen. Ziel ist es, sicher zu stellen, dass Studierende mit Beeinträchtigungen die Möglichkeit der chancengleichen Teilhabe an der Hochschulbildung erhalten. Die Stellungnahme fordert, dass »Studierende mit Beeinträchtigung als Expertinnen und Experten in eigener Sache frühzeitig einbezogen werden« sollen (DS: 2). Beauftragte für Studierende mit Behinderungen und chronischen Krankheiten sollen die Erarbeitung von Prozessen, Konzepten und Strategien sowie die Umsetzung begleiten und unterstützen (DS: 2). Im Hochschulbereich sprechen also die Studierenden für sich selber und bieten sich als Begleiter und Unterstützer der Digitalisierungsprozesse an. Das Studentenwerk positioniert seine Mitglieder als Expertinnen und Experten: Sie können nicht nur mitgestalten, sondern als Expert_innen mitgestalten. Im schulischen Bereich wird eine solche Positionierung in den für diesen Beitrag analysierten Dokumenten nicht sichtbar. In einem wirklich sehr »offenen Prozess und einem transparenten Verfahren« hat die KMK »die Expertise von Wissenschaftlern, Unternehmen, Verbraucherschützern, Verbänden und Gewerkschaften einbezogen.« (KMK-Strategie: 5). Aber nicht die Expertise von Schüler_innen oder Studierenden. Gerade im Bereich der digitalen Bildung werden Schüler_innen zunehmend von nicht-schulischen Akteuren als Expert_innen adressiert und in Entwicklungsprozesse eingebunden. In agilen Produktentwicklungsverfahren werden die Kunden der EdTech-Start-ups und Bildungsmedienprovider frühzeitig in die Entwicklung von neuen Lern-Apps eingebunden. Die ›Kunden‹ der Schulbuchverlage waren traditionell die Lehrenden. Nun, mit zunehmend personalisierten und individualisierten, dynamischen und interaktiven Bildungsmedien, verschiebt sich bei einigen Providern die Orientierung von den Lehrenden hin zu den Schüler_innen als primäre Kunden, deren Expertise wichtig ist (vgl. Macgilchrist 2017). Diese Verschiebung der Expertise, die auch in der Stellungnahme des Studentenwerks sichtbar ist, verschiebt die traditionelle Rollenverteilung im schulischen System. Die »banking method« des Lehrens und Lernens, in der Schüler_innen als leere Gefäße betrachtet werden, die von Lehrenden mit Inhaltsstoff und Wissen gefüllt werden sollen, ist längst kritisiert worden (Freire 1970/1993). Konstruktivistische Lerntheorien sind zur Selbstverständlichkeit geworden, die
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die Lernenden als aktive Wissenskonstrukteure betrachten. Die Lehrperson bleibt allerdings auch dort die Expertin, die den Schüler_innen den Weg zeigt, Angebote macht, Erklärungen anbietet. Eine radikalere Sicht auf Schüler_innen als den Lehrenden ›gleichwertig‹, wie z.B. von Jacques Rancière erarbeitet, bleibt noch am Rande der pädagogischen Diskussion (vgl. Bingham & Biesta 2010). Wenn wir Expertise mit Rancière lesen, würde die Expertise von Schüler_innen als genauso wertvoll betrachtet werden wie die Expertise der Lehrenden oder weiteren Stakeholdern im Bildungsprozess: »From this ignoramus, spelling out signs, to the scientist who constructs hypotheses, the same intelligence is always at work – an intelligence that translates signs into other signs and proceeds by comparisons and illustrations in order to communicate its intellectual adventures and understand what another intelligence is endeavouring to communicate to it.« (Rancière 2009: 10)
Rancière kritisiert eine Perspektive auf Schüler_innen (und andere) als »ignoramuses«, die auf einer anderen Wissensstufe als Wissenschaftler_innen, Lehrende usw. stehen. Bei allen, so seine These, operiert die gleiche Art von Intelligenz. Wir alle beobachten, wählen aus, vergleichen, interpretieren; wir alle verknüpfen das Gesehene mit unseren Erfahrungen und Erlebnissen an anderen Orten; wir übersetzen das Gesehene oder Gelesene auf eigene Art und Weise (Rancière 2009: 13; vgl. Rancière 1991, 2014; Smith & Weisser 2011). In diesem Sinne haben die Schüler_innen eine relevante Expertise für Überlegungen zu Bildung in einer digitalen Welt. Die Ecosoph_innen An zwei Stellen im KMK-Entwurf und einer Stelle in der veröffentlichten KMKStrategie erscheint eine Figur, die ich Ecosoph_in nennen möchte, d.h. eine ökologisch reflektierte Person, die sich der Komplexität der Mensch-NaturBeziehungen sowie der eigenen (anthropogenen) Rolle bei der Zerstörung der Umwelt bewusst ist und entsprechend handelt. In einer Anlage zum Entwurf werden Weiterentwicklungsperspektiven in vier Fachbereichen exemplarisch angeboten. Darunter der Bereich der gesellschaftswissenschaftlichen Fächer. Eine Frage zur Digitalisierung als gesellschaftlichem Phänomen, die behandelt werden könnte, wäre demnach:
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»Welche Chancen und Grenzen ergeben sich durch die Digitalisierung für das Wahrnehmen sozialer, ökologischer und ökonomischer Verantwortung in einer globalisierten Welt?« (KMK-Entwurf: 34).
Hier wird eine Figur entworfen, die über die Verantwortung für soziale, ökologische und ökonomische Prozesse reflektiert und diskutiert. Interessant ist hier zum einen, dass Ökologie im Zusammenhang mit Digitalisierung erwähnt wird, und zum anderen, dass eine Verknüpfung von sozialen, ökologischen und ökonomischen Dimensionen durch die Zusammenstellung im Satz angedeutet wird. Da die Weiterentwicklungsperspektiven nicht mehr in der verabschiedeten Strategie erscheinen, fällt auch dieser Satz weg. Im Kompetenzrahmen erscheint allerdings die ökologische Dimension im Kompetenzbereich »Schützen« (KMKEntwurf) bzw. »Schützen und sicher Agieren« (KMK-Strategie): »Natur und Umwelt schützen: Umweltauswirkungen digitaler Technologien kennen« (KMK-Entwurf: 39). »Natur und Umwelt schützen: Umweltauswirkungen digitaler Technologien berücksichtigen« (KMK-Strategie: 17).
Die Änderung von »kennen« (KMK-Entwurf) zu »berücksichtigen« verschiebt die Subjektfigur von einer wissenden Figur zu einer handelnden Figur. Der/die Ecosoph/in kennt nicht nur die Umweltauswirkungen, sondern er/sie beachtet sie bei seinen/ihren Überlegungen und seinem/ihrem Handeln. Ob sich diese Umweltauswirkungen nur auf die physische/materielle Welt beschränken, oder ob »Umwelt« auch die Menschen und globale Verteilung von Fabrikarbeit einschließen, wird nicht näher beschrieben. Im Jahre 2007 wurde das erste Smartphone auf den Markt gebracht. Zum zehnjährigen Jubiläum erstellte Greenpeace einen Bericht und kurze animierte Videoclips mit Informationen zu den Umweltauswirkungen der 7,1 Milliarden Smartphones, die seitdem produziert worden sind. Im Jahre 2014 alleine wurden 3 Millionen Tonnen e-Müll von kleinen Geräten wie Smartphones generiert (Greenpeace 2017). Eine Reihe wissenschaftlicher und populärwissenschaftlicher Bücher berichten und reflektieren über die globalen Ausmaße der von der industriellen Herstellung der Hardware generierten Umweltverschmutzung und deren Auswirkungen auf die Arbeiter_innen (Minter 2015; Parikka 2015; Rossiter 2016). Die glänzenden, sauberen Oberflächen der neuen Geräte für den
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Unterricht und die Freizeit »betray the toxic conditions of production and their effects on worker’s health and the environment« (Rossiter 2011). Würde die Kompetenz zum »Schutz von Natur und Umwelt« ernst genommen werden, und würden Schüler_innen etwa die Auswirkungen des Abbaus von Rohstoffen wie Coltan und Zinn, die für digitale Technologien mit Gewalt in Krisengebieten abgebaut werden, oder die Auswirkungen der Schadstoffe auf die Gesundheit der Fabrikarbeiter_innen – wie im Kompetenzrahmen verlangt – »berücksichtigen«, würde das eine fundamentale Veränderung der Lebensweise und Alltagspraktiken in Deutschland bedeuten. Die Gesellschaftsgestalter_innen Wie bereits angedeutet, wird nur in der Stellungnahme der Gesellschaft für Informatik e.V. (GI) die Gestaltung der Gesellschaft – statt die Gestaltung von Produkten oder Content – mehrmals betont: »Der digitale Wandel, der unsere gesamte Gesellschaft, Kultur und Wirtschaft betrifft, wird maßgeblich von Personen gestaltet, die informatisch qualifiziert sind« (GI: 2). Informatik verfolge das Ziel, »Lernenden die Wirkprinzipien der »digitalen Welt« zu erschließen und ihnen Möglichkeiten zu deren aktiver Mitgestaltung zu eröffnen« (GI: 5). Nicht nur bei der Informatik, sondern in allen schulischen Fächern gehe es auch »darum, die Welt zu verstehen und die jeweils fachlichen Grundlagen für eine Mitgestaltung der Welt zu legen« (GI: 5). Wenn das Ziel ist, »Lernende weiterhin zu gesellschaftlicher Teilhabe in der »digitalen Welt« und damit zur aktiven Mitgestaltung zu befähigen«, sollten die folgenden drei Perspektiven »erneut und zwar aus gestalterischer Sicht eingenommen werden« (GI, Herv. im Original; vgl. Brinda et al. 2016): »Aus anwendungsbezogener Perspektive kann dann hinterfragt werden, wie Aufgaben oder Probleme des Alltags unter Verwendung vorhandener Systeme gelöst werden können. Aus gesellschaftlich-kultureller Perspektive wird betrachtet, wie Interaktionen zwischen Systemen, Individuen und der Gesellschaft gestaltet werden können und schließlich aus technologischer Perspektive wird untersucht, wie Systeme zur Lösung von Problemen entwickelt, d. h. systematisch geplant und anschließend programmiert, werden können.« (GI: 4f.)
Aus verschiedenen Perspektiven betrachtet, geht es hier um das Lösen von Problemen des Alltags und die Gestaltung komplexer gesellschaftlicher Interaktionen. Die Gesellschaft für Informatik e.V. verortet das aktive Handeln der Schü-
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ler_innen in der Größenordnung der »(digitalen) Welt« – und nicht nur in der Größenordnung des Unterrichts. In der KMK-Strategie wird diese Subjektfigur nicht aufgegriffen. Die Einleitung verdeutlicht, welches Verständnis von ›Gestaltung‹ die Strategie prägt: »Über welche Kompetenzen müssen Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene verfügen, um künftigen Anforderungen der digitalen Welt zu genügen? Und welche Konsequenzen hat das für Lehrpläne, Lernumgebungen, Lernprozesse oder die Lehrerbildung? Die Gestaltungsmöglichkeiten in der digitalen Welt von morgen sind eng damit verknüpft, wie wir heute junge Menschen in Schulen, in der Berufsausbildung und in den Hochschulen darauf vorbereiten.« (KMK-Strategie: 5)
Wie oben diskutiert, ist die »digitale Welt« etwas, was – laut dem Strategiepapier – »Anforderungen« stellt, denen die jungen Menschen »genügen« müssen: Sie prägen und gestalten diese digitale Welt nicht, sondern sie reagieren darauf. In dieser reaktiven Position werden junge Menschen »vorbereitet«, um etwas Vorhandenem (der digitalen Welt) zu begegnen. Es geht in diesem Auszug – und im gesamten Dokument – um Subjektfiguren, die die Möglichkeit haben, »in der digitalen Welt« zu gestalten, aber nicht um Subjektfiguren, die diese Welt selber gestalten. Sowohl die Gesellschaft für Medienwissenschaft als auch die Gesellschaft für Informatik formulieren in ihren Stellungnahmen eine fundamentale Kritik am Strategieentwurf der KMK. Wo die GfM allerdings die Notwendigkeit einer medienkulturellen Subjektivierung betont, z.B. bei Analysefähigkeiten und einer reflektierten Distanz zu digitalen Medien, legt die GI den Fokus auf Lösungen und Gestaltung. Dies spiegelt den breiteren gesellschaftlichen Diskurs um Informationswissenschaften wider, die – nicht nur im Bildungsbereich – Lösungen anbieten. Diese Lösungsrhetorik ist als »solutionism« (Morozov 2013) kritisiert worden und karikiert. Neben der Annahme, dass technische Lösungen einfacher sein werden als soziale, ethische oder politische Lösungsversuche, steht u.a. die Sorge, dass für die Politik die individualisierenden Techno-Lösungen (z.B. das Messen bzw. Anzeigen des eigenen Kalorienkonsums oder Stromverbrauchs) eine Alternative zu strukturellen Maßnahmen (z.B. Regulierung der Lebensmittelindustrie oder Reformen wegen des Klimawandels) anbieten. Dennoch wird hier – bei allem Vorbehalt gegenüber dem solutionism – eine Figur entworfen, die nicht nur auf eine vorhandene (digitale) Welt reagiert, nicht nur im Unterricht oder in Bezug auf Medienprojekte gestalterisch tätig wird, und auch nicht nur eine analytische Distanz zu den gegenwärtigen Transformationen
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der Welt einnimmt. Diese Figur nimmt an, dass sie die Welt der Zukunft mitgestalten kann. Mit dieser Annahme ähnelt sie der rancièreschen Figur der Expert_innen. Beide operieren auf der Hypothese der Gleichheit: Die Intelligenz oder Fähigkeiten (Kompetenzen) der Schüler_innen seien nicht anders als die der anderen gesellschaftlichen Akteure, der Stakeholder im Bildungsprozess oder der Gesellschaftsgestalter_innen.
F AZIT In diesem Beitrag sind sechs Subjektfiguren nachgezeichnet worden, die 2016 in der Debatte um eine Strategie für Bildung in der digitalen Welt entworfen worden sind. Drei dieser Figuren stellen wiederkehrende Bezugspunkte in der Debatte dar: der/die Nutzer_in, das kritisch-reflexive Subjekt und die Maker. Inwieweit diese Figuren jeweils für die zukünftige digitale Gesellschaft wichtig sind, ist in den Dokumenten umstritten, aber fast alle sind sich einig, dass sie notwendig sind. Die Debatte über diese Figuren, so die erste These des Beitrags, zeichnet nach, wie Nutzung, Kritik und Medienproduktion zentrale »Spiegel« sind, in denen sich »die Gesellschaft selbst beobachtet, problematisiert und reflektiert« (Süssenguth 2015: 8). Sie konturieren die gesellschaftliche Konfiguration in der wir uns derzeit befinden, und markieren, wie ein legitimes, wünschenswertes Leben gesehen wird. Drei der Figuren tauchen in den Lücken und an den Rändern des Diskurses auf: der/die Expert_in, der/die Ecosoph_in und der/die Gesellschaftsgestalter_in. Diese möchte ich als Momente fassen, in denen die Spiegelmetaphorik zusammenbricht: Diese Figuren »reflektieren« nicht die Gesellschaft, sondern »beugen« selbstverständliche Erwartungen an die digitale Welt: Diese Figuren »diffract the rays of technoscience so that we get a more promising interference pattern on the recording films of our lives and bodies« (Haraway 1997). Diffraktion, die Beugung von Lichtwellen und anderen Wellen, »is a narrative, graphic, psychological, spiritual, and political technology for making consequential meanings« (Haraway 1997). So wie Interferenzerscheinungen die Wirkkraft der Diffraktion zeigen, so zeigen die drei Subjektfiguren hier die Wirkkraft, wenn die »gewöhnliche Verwaltung« der Bildung unterbrochen wird und die Frage aufgeworfen wird, wie digitale Bildung anders aussehen könnte, z.B. »welchen Typus von Gemeinschaft sie betrifft, wer an dieser Gemeinschaft teilhat und mit welchem Recht« (vgl. Rancière 2011: 7). Die Subjektfiguren der Expertise, Ecosophie und Gesellschaftsgestaltung deuten auf Themen hin, die im Rahmen einer kritischen digital literacy oder
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digital citizenship diskutiert werden (z.B. Emejulu & McGregor 2016; Medosch, Vater & Zwerger 2014; Pangrazio 2016). Es geht in diesen Diskussionen um mehr als Kompetenzen in einer digitalen Welt. Um den Anforderungen einer digitalen Welt zu genügen und um eine digitale Welt mitzugestalten, benötigt es Subjekte, deren Expertise in Entscheidungen einfließt, denen die Komplexität der sozialen-menschlichen-materiellen Ökologie bewusst ist, und die mit der Annahme operieren, sie können gesellschaftliche Transformationen selber mitgestalten. Diese Subjekte sind politische Subjekte und somit prekär (Rancière 2008: 37). Ihre Erscheinung in den hier analysierten Debatten demonstriert einige für die Vertreter_innen einer kritischen digital literacy vielversprechende Interferenzen bei der Entwicklung einer allumfassenden Strategie für Bildung in der digitalen Welt.
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Selbstverständlich: Habitualisierung aus phänomenologischer und epigenetischer Sicht
K AROLIN E VA K APPLER
Das Praxisfeld der Selbstvermessung stellt auf besondere Art und Weise das eigene Selbst und spezifisch den eigenen Körper in das Zentrum der medialen (Selbst-)Beobachtung und Messung. Die Singularität des Einzelnen wird explizit von einem fiktiven ›Durchschnittsmenschen‹ abgehoben, womit jeder für sich selbst feststellen muss, wer oder wie er ist. Welche Rolle Habitualisierungsprozesse bei diesen Selbstvermessungspraktiken spielen, wird in diesem Beitrag untersucht. Die Projekthaftigkeit der Praktiken wird hierfür aus (leib-) phänomenologischer und epigenetischer Perspektive beleuchtet. Intendierte und unintendierte Einschreibprozesse zwischen aktuellem und habituellem Leib sowie neueste Erkenntnisse aus der Epigenetik helfen, hierbei entfremdende als auch emanzipatorische Momente herauszuarbeiten.
E INLEITUNG 2008 stand im Nation G- Geograph der Durchschnittsmensch und das ist der Durchschnittsmensch und das bin nicht ich.
Dieses Zitat stammt aus einem Kurzvortrag, den Yannik1 bei einem Show & Tell-Treffen der Quantified Self-Bewegung 2 gehalten hat, und spiegelt die 1
Zur Erklärung: Yannik bezieht sich hier auf das Titelblatt des National Geographic, auf dem das Gesicht eines fiktiven globalen Durchschnittsmenschen dargestellt wird,
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Grundidee dieser Bewegung, aber im weitesten Sinne auch der Selbstvermessung wider, welche sich in der Formel n=1 ausdrücken lässt. Mithilfe von digitalen Medienassemblagen, die aus Schrittzählern, Herzfrequenzmessgeräten, Pulssensoren, Trackingarmbändern, Smartphones und (mobilen) App-Programmen bestehen, umfasst Selbstvermessung Praktiken der Datenerfassung, - verarbeitung und gegebenenfalls -weitergabe, wobei das eigene Selbst und insofern der eigene Körper im Fokus solcher Messungen stehen.3 Sie stellt somit die Singularität des Einzelnen heraus, um diese explizit von der Allgemeinheit, Durchschnittswerten und einem – in Yanniks Worten – »Durchschnittsmenschen« abzuheben. Was also für andere Menschen gelte, müsse nicht unbedingt für den Einzelnen stimmen. Jeder müsse für sich selbst feststellen, wer oder wie er sei. Dies wird bei der Selbstvermessung durch das digitale und sensorielle Erfassen von Daten versucht, die durch Aktivitäten im Alltag oder direkt physiologisch vom Körper generiert werden. Der Leitspruch »self knowledge through numbers« der Quantified-Self-Website macht das Interesse am Selbst deutlich, das jedoch nicht durch reine Introspektion erreichbar scheint. Yannik beschreibt z.B. im weiteren Verlauf seine Erfahrung, dass auf sein Körpergefühl zum Teil kein Verlass sei; vielmehr ermöglichten gemessene Daten eine objektive Beurteilung:
das asiatische Züge aufweist. Das empirische Datenmaterial, das diesem Beitrag zugrunde liegt und sowohl selbstvermessende Personen aus dem QS-Umfeld als auch allgemeine Self-Tracker umfasst, wurde im Rahmen des DFG-geförderten Projektes »Taxonomien des Selbst. Zur Genese und Verbreitung kalkulativer Praktiken der Selbstinspektion« (FernUniversität in Hagen, Projektdauer September 2015 - August 2018) erhoben. Zur Anonymisierung des Datenmaterials (Interviews, Beobachtungen und Vorträge) wurden die Namen der interviewten und vortragenden Personen geändert. Mehr Informationen zum Projekt unter: http://www.fernuni-hagen.de/soziologie/lg2/forschung.shtml (letzter Zugriff am 29. April 2017). 2
Die Quantified Self-Bewegung, kurz QS, wurde 2007 in den USA gegründet und hat sich zu einer weltweiten Community mit regelmäßigen lokalen und internationalen Treffen, sogenannten Show & Tell-Meetings, und Austauschen im Netz auf verschiedenen Plattformen entwickelt. Ruckenstein und Pantzar (2017) folgend kann QS hierbei als Metapher- und Diskursgeberin für das Self-Tracking als Ganzes gesehen werden mit dem Schwerpunkt, ein »new numerical self« zu definieren. Beim gewöhnlichen Self-Tracking (Didžiokaitė et al. 2017) wird dies auf alltägliche Ziele und Praktiken heruntergebrochen, aber das dahinter stehende Paradigma bleibt bestehen.
3
Selbstvermessung und Self-Tracking werden in diesem Beitrag synonym verwendet.
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»Es gibt nen messbaren Wert und den kann ich vergleichen und den kann ich komplett entkoppelt von meinem persönlichen Empfinden interpretieren und bewerten. Das ist das Thema das mich an Quantified Self reizt.« (Yannik)
Yannik drückt hier ein weiteres zentrales Argument der Selbstvermessung aus: Das Vermessen, d.h. das Niederschreiben von Messwerten und Zahlen, scheint objektives bzw. neutrales Wissen zu generieren, das zum einen Zweifel am »persönlichen Empfinden« weckt und zum anderen wiederum ermöglicht, Dinge, wie beispielsweise Verhaltensmuster oder -weisen, zu verändern. Folglich wird den meist über digitale Medien generierten Daten des Körpers bzw. Selbst mehr Objektivität zugeschrieben, als der eigenen subjektiven Wahrnehmung, da (digital generierte) Zahlen »Unbestreitbarkeit und Objektivität« (Heintz 2007: 80) signalisieren. Den schon bekannten Beispielen und Zitaten folgend wollen wir uns in diesem Beitrag auf das Praxisfeld der Selbstvermessung konzentrieren, um der Frage nach dem Selbst und seiner Entwicklung in Zeiten der digitalen Kultur nachzugehen. In diesem Feld kommt der von Wehner, Passoth und Sutter (2012) aufgeworfenen Frage des Einflusses der Medien in der Verbreitung (und Standardisierung) von Zahlensystemen und deren Wirkung eine bedeutende Rolle zu im Sinne einschränkender bzw. kontingenter Wechselwirkungen digitaler Medien. Dabei steht bei der Mediatisierung digitaler Selbstvermessungspraktiken immer das eigene Selbst im Zentrum der Messungen. In dieser spezifischen »mediatisierten Welt« (Krotz/Hepp 2012) stellen sich neben relativ trivialen Fragen nach Idealgewicht, Fitnessgrad, Schlafqualität oder Leistungssteigerung jedoch vor allem die Frage nach dem Selbst, die Suche nach der Antwort auf: »Wer bin ich?« Ausgehend von Bourdieus praxeologischem Ansatz (Bourdieu 1991; vgl. Hillebrandt 2008) geht es in diesem Beitrag konkret darum, welche Rolle Habitualisierungsprozesse bei der Beantwortung dieser Frage mittels Selbstvermessung spielen. Diese müssen »als das Einschreiben von Handlungs-, Denk-, Wahrnehmungs- und Bewertungsdispositionen in die Körper der sozialen Akteure begriffen werden« (Hillebrandt 2014: 67), wodurch Handlungen verfestigt und somit einfacher reproduziert werden. Wie entstehen diese ›Selbst‹verständlichkeiten mittels Selbstvermessungspraktiken? Und welche pädagogischen Möglichkeiten gibt es, auf diese Habitualisierungsprozesse einzuwirken? Hierfür geht der Beitrag zuerst auf die existierende Literatur ein, welche vor allem Selbstvermessung als Projekt kategorisiert und schaut sich dann aus phänomenologischer Perspektive empirische Habitualisierungsprozesse im Wechselspiel zwischen aktuellem und habituellem Leib an. Die Epigenetik dient dann
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im letzten Abschnitt dazu, Einschreibprozesse zwischen biologischen Prozessen und sozialen Faktoren zu beschreiben, um neue pädagogische Diskussions- und Handlungsfelder zu öffnen.
S ELBSTVERMESSUNG
ALS
P ROJEKT ?
In den bisherigen deutschsprachigen Sammelbänden zu Selbstvermessung (Selke 2016; Duttweiler et al. 2016) wird diese hauptsächlich als Projekt gerahmt. So lautet beispielsweise der Untertitel des Sammelbandes von Duttweiler et al. (2016) »Self-Tracking als Optimierungsprojekt?«, wobei das Fragezeichen genau diese Verbindung hinterfragen soll. Duttweiler und Passoth (2016) kommen in der Einleitung zu diesem Band zu folgendem vorläufigen Schluss: »Reiht sich Self-Tracking in die Reihe moderner Optimierungsnarrative ein oder entstehen neue, ungewöhnliche Mess-, Bewertungs- und Lebenspraktiken? Die empirische Forschung steht hier noch am Anfang.« (Duttweiler/Passoth 2016: 35)
Diese Idee des Projekthaften, ob sie nun an ein Optimierungs- oder anders geartetes Projekt angebunden ist, entspricht nach Luc Boltanski und Ève Chiapello dem Neuen Geist des Kapitalismus (2013). Ihrer Studie von Managementliteratur folgend hat sich seit den 1980er Jahren über das Moment der Vernetzung, d.h. einem Bedeutungszugewinn von Beziehungen zwischen Akteuren, die »Cité par projets« (Boltanksi/Chiapello 2001) entwickelt. Diese stellt im Sinne einer kritischen Soziologie eine neue öffentlich wirksame Rechtfertigungsordnung dar, mit deren Hilfe Wertigkeiten und Rangordnungen festgelegt werden. Vernetzungskompetenzen und der Grad an Aktivität – d.h. die Fähigkeit Projekte zu entwickeln, sich in existierende Projekte zu integrieren und Projekte zu wechseln – als tragende Elemente der »Cité par projets« stellen somit das Hauptkriterium für die Entscheidung, wer wichtig oder wertvoll ist bzw. nicht. »Das Leben wird als eine Folge von Projekten aufgefasst« (Boltanski/Chiapello 2001: 466), wobei Flexibilität und Mobilität wichtige Momente darstellen. Erste empirische Untersuchungen scheinen die These der Selbstvermessung als Projekt zu stützen. Stefanie Duttweiler und Robert Gugutzer (2015) haben beispielsweise Selbstvermessung im Sport untersucht und dabei beobachten können, dass die damit verbundenen Praktiken häufig nicht nachhaltig sind, d.h. rasch wieder in den Hintergrund rücken und somit einen Projektcharakter bekommen. Auch Lisa Wiedemann (2016) nennt Selbstvermessung »Das IchProjekt als Datenstrom« (ebd.: 75) und das dazugehörige »Datensammeln als
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Arbeit an sich« (ebd.: 76). Dieses Verständnis von Selbstvermessung wird im folgenden Zitat eines Selbstvermessers deutlich: »[…] wenn man bestimmte Zielvorstellungen hat von seinem Gewicht zum Beispiel, hat irgendein Level erreicht und man bleibt auf dem Level, dann ist nichts mehr interessant an dem Vortages-Gewicht äh und auch nicht am Vorjahres-Gewicht, weil man ja sein Wunschlevel erreicht hat.« (Michael)
Michael beschreibt hier eine »Cité par projets« par excellence: Sein Projekt besteht darin, ein Wunschgewicht zu erreichen. Hierfür führt er eine Selbstvermessungspraktik durch, d.h. er wiegt sich täglich und vergleicht seine Werte mit vorangegangenen Werten. Sobald er jedoch sein Ziel bzw. sein »Wunschlevel« erreicht hat, ist »nichts mehr interessant«. Die Selbstvermessungspraktik dient als Werkzeug bzw. Methode, um die »Zielvorstellung« zu erreichen. Sobald diese bzw. das Projekt ›Wunschgewicht‹ erfüllt ist, tritt die Selbstvermessung(spraktik) in den Hintergrund, womit dieses Projekt als (erfolgreich) abgeschlossen gilt und unter Umständen ein neues Projekt initiiert werden kann. Eine ähnliche Praxis stellen Mina Ruckenstein und Mika Pantzar (2015) in ihrer Studie zu Herzvariabilitätsmessung aus techno-anthropologischer Perspektive dar, in der sie zeigen, wie Daten das Selbst zu einem bearbeitbaren Selbst transformieren, d.h. Flexibilität und Wandelbarkeit – wichtige Momente der »Cité par projets« – ermöglichen. Der Körper und das Selbst werden als veränderbar, modellierbar, als Projekt wahrgenommen. Diese Idee greifen Lars Gertenbach und Sarah Mönkeberg (2016) auf, indem sie Selbstvermessung in der rekursiven Verdatung des Lebens verorten, welche einer sich am Leben (und nicht mehr klassisch am Sozialen) orientierenden normalisierenden Steuerungslogik folgt. Durch die Erzeugung einer digitalen Kopie des erlebten Lebens gehen Gertenbach und Mönkeberg davon aus, dass Selbstvermessung als eine völlig neue Sozialtechnik zu einer Neukonfiguration von Körper und Selbst führen wird. Dafür schlagen sie das Konzept des vitalen Normalismus vor. »Diese an Vitalität ausgerichtete Normalisierung führt zu grundlegenden Verschiebungen: von der ›Logik des Sozialen‹ zur ›Logik des Lebens‹, von der Idee der Selbsterkenntnis zur Selbstoptimierung, vom Referenzpunkt des Psychischen zu einem, der in der eigenen Vitalität verortet werden kann.« (Selke 2016: 14)
Stefan Meißner (2016) untersucht kritisch diese Optimierungsthese, die eng mit der Idee von Selbstvermessung als Projekt verknüpft ist und Selbstvermessung
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direkt mit der Optimierung des Selbst in Verbindung bringt. Dabei fragt er nach »nicht-intendierten Folgen von QS« (ebd.: 221). Hierfür unterscheidet er Selbstoptimierung in einerseits Kontingenz reduzierende Selbsteffektivierung und Kontingenz steigernde Selbststeigerung im Sinne von Selbsterkenntnis. Letztere scheint seiner Meinung nach durch das Moment der Distanzierung zum eigenen Selbst der Selbstvermessung inhärent, wohingegen er keinen Zwang zu einer Selbsteffektivierung sieht. Die Projekthaftigkeit der Selbstvermessungspraxis liegt jedoch beiden zugrunde. Somit scheint die Empirie es nahezulegen, dass Selbstvermessungspraktiken
häufig nicht nachhaltig sind und nach erfolgreicher (oder missglückter) Zielerreichung relativ rasch wieder in den Hintergrund rücken bzw. komplett wieder aus dem Alltag der SelbstvermesserInnen verschwinden.
H ABITUALISIERUNG
UND
S ELBSTVERMESSUNG
Ein Großteil der Selbstvermessungspraktiken scheint sich somit nicht zu habitualisieren. Inwieweit andere möglicherweise unintendierte Habitualisierungsprozesse durch Selbstvermessung angestoßen werden, soll am Beispiel der Essensvermessung im Folgenden aus einer phänomenologischen Perspektive untersucht werden. Anna, eine Selbstvermesserin, hat eine Zeit lang akribisch genau ihre Kalorienzufuhr digital festgehalten, d.h. alle Kalorien, die sie im Laufe eines Tages zu sich genommen hat, in eine App eingegeben. Nach Erreichen ihres Wunschgewichtes hat sie mit diesem Projekt – ähnlich wie Michael – aufgehört, aber die Folgen ihrer Selbstvermessungspraktik, d.h. die Erfassung ihrer Nahrungsaufnahme, sind weiterhin spürbar, da sich ihr Körpergefühl verändert hat: »Ich habe gelernt, nicht nur Gewichtsveränderungen einzuschätzen, sondern auch Hunger einzuschätzen. Also ich weiß ziemlich genau, wie sich Hunger anfühlt, wenn man 250 Kalorien bräuchte oder 750 bräuchte, dann werde ich so ungefähr schlecht gelaunt.« (Anna)
Anna lernt folglich durch das Vermessen ihrer Kalorienaufnahme und ihres Kalorienverbrauchs, eine konkrete Zahl mit ihrem Hungergefühl in Verbindung zu bringen. Die Vermessungspraktik tritt nach einiger Zeit in den Hintergrund, aber auch ohne Vermessung wirkt bzw. existiert sie weiter. Die Vermessungspraxis an sich kann als Projekt einer Optimierung verstanden werden, aber auch über die Projektdauer bzw. nach ihrer Beendigung hinaus scheint sie weiterhin
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eine Wirkmächtigkeit zu haben. Als eine Art Aufmerksamkeitsschulung schärft und sensibilisiert sie die Wahrnehmung der Selbstvermesserin, vor allem durch die Verbindung eines diffusen Körperempfindens mit einem vermessenen und objektivierten Zustand, bei Anna ein spezifisches Hungergefühl mit einem Kaloriendefizit von 250 bzw. 750 Kalorien. Phänomenologisch betrachtet kommt es zu einer Wahrnehmungsverschiebung: Durch die anhaltende Aufmerksamkeit, die Anna auf das Kalorienzählen richtet, nimmt sie Vorgänge ihres Körpers plötzlich verändert wahr. Durch den Gebrauch von Vermessungsmedien stellt sich mit deren Umgang ein neues Verhalten mit unterschiedlichen Aspekten ein. Leibphänomenologisch betrachtet, stehen sich der sogenannte habituelle und der aktuelle Leib gegenüber.4 Bisher war es der habituelle Leib, der bei Hunger bestimmte Praktiken einleitete. Durch den Gebrauch von Kalorien zählenden Apps wird er jedoch nach und nach durch den aktuellen Leib verdrängt: Die neue Aufmerksamkeit auf den sonstigen Vollzug des Leibes löst nicht nur alte Gewohnheiten und Praktiken ab, sondern durch die Sensibilisierung für die Körperempfindungen eignet sich der Leib eine Art neuen Sinn an: den Hunger-Sinn. Dieser lässt sich jedoch nicht vollständig auf das bewusste Intendieren von Anna zurückführen, die ursprünglich lediglich mehr über ihre Essensgewohnheiten erfahren und abnehmen wollte. In einem berühmten Beispiel von Merleau-Ponty aus den 1940er Jahren, lassen sich Aspekte wiederfinden, die auch bei der Entstehung des gerade gesehenen Hunger-Sinns eine Rolle spielen: Wenn jemand erblindet und demzufolge einen Blindenstock benötigt, um sich orientieren zu können, stellt sich sehr bald ein Gefühl an der Spitze des Stocks ein, durch welches der leibliche Raum auf den Stock ausgeweitet wird und der Verlust des Sehens kompensiert wird. Ein 4
Die Leib-Körper-Differenz kann mit Plessners Worten wiedergegeben werden, wonach wir unseren Körper haben, demgegenüber jedoch unser Leib sind (Plessner 1982). Der Körper kann also als objektiviert – wie am Beispiel eines medizinisch untersuchten Körpers – verstanden werden, wohingegen der Leib sich dem Blick entzieht. Er stellt das Medium der Erfahrung, der Wahrnehmung und des Handelns dar. Als Mittel zur Welt-Habe und Welt-Erschließung ist er in gewisser Weise das eigentliche Subjekt unserer Praktiken. In den habituellen Leib sind gewohnte Praktiken in Form von Habitualisierungen eingeschrieben, die es ermöglichen, dass diese Praktiken im Verborgengen ablaufen können, was unter dem Begriff des Körperschemas subsumiert wird. Tauchen nun neue Praktiken auf bzw. verändert sich der aktuelle Leib – wie im Falle einer Amputation oder durch den Neuerwerb eines »Hungergefühls« –, so stimmt das Körperschema zwischen habituellem Leib und dem aktuellen Leib nicht mehr überein. Zur weiteren Unterscheidung von aktuellem und habituellem Leib vgl. Merleau-Ponty 1976: 107 und 111; Waldenfels 2000: 181-190.
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anderes prominentes Beispiel ist das Phantomglied: Nach der Amputation eines Körpergliedes, z.B. eines Beines, stellt sich häufig der sogenannte Phantomschmerz ein, als Reaktion auf das verlorene Bein. An diesem Beispiel wird das Auseinandertreten zwischen habituellem Leib – also dem, der gewohnt war, beide Beine wie selbstverständlich zu gebrauchen – und aktuellem Leib – der sich im Phantomschmerz ausdrückt und insofern auf eine Veränderung reagiert – besonders deutlich. Diese Beispiele zeigen auf, dass es nicht dem bewussten Willen entspringt, einen Blindenstock-, Seh- bzw. Hunger-Sinn oder einen Phantomschmerz zu entwickeln. Bei der Konfrontation mit einer neuen Situation – also dort, wo der habituelle und der aktuelle Leib aufeinanderprallen – passt sich der Leib automatisch und anonym an diese neue Situation an: »Der Leib ist es, [...] der im Erwerb einer [neuen] Gewohnheit ›versteht‹. [...] eben das Phänomen der Gewohnheit nötigt uns, unseren Begriff von ›Verstehen‹ sowohl als auch den des ›Körpers‹ zu revidieren.« (Merleau-Ponty 1976: 174)
Der Hunger-Sinn der Selbstvermesserin darf hier jedoch nicht wie ein Wahrnehmungssinn im herkömmlichen oder anatomischen Sinne verstanden werden. Er ist vielmehr der Erwerb einer neuen Art und Weise, sich auf die Welt zu verstehen, und zeigt auf, dass es der Leib ist, der sich auf den Umgang mit Dingen versteht und Neues in sein Körperschema integriert. Hieran kann also abgelesen werden, wie der habituelle Leib, der meist unthematisiert und anonym im Hintergrund agiert, plötzlich durch die Praxis des Kalorienvermessens mit einer neuen Wahrnehmung und Verhaltensweisen konfrontiert wird – in dem Sinne, dass am Ende der Hunger mit einem spezifischen Wissen um das genaue Kaloriendefizit dieses Hungers verbunden wird. Der Leib eignet sich diese an, wodurch sie in der Wahrnehmung des eigenen Körpers nunmehr bemerkbar werden. Käte Meyer-Drawes Zitat weist jedoch auf eine mögliche Gefahr hin: »Disziplinierungen unseres Leibes bringen Habitualisierungen unseres Lebens mit sich. In dem Maße, wie sie unser Agieren regeln und uns zu Rollen stilisieren, nivellieren sie unsere spontanen Möglichkeiten.« (Meyer-Drawe 1984, 151)
Diese Realität gewordene Gefahr beschreibt Bettina, die anlässlich einer Nahrungsumstellung und dem Beginn einer veganen Ernährungsweise für einige Monate ihre Kalorienzufuhr vermessen hat:
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»Denn ich habe gelernt, dass etwas passiert, [...] in der speziellen Sache, also was Ernährung angeht und auf seinen Körper hören, dass das absolut nicht funktioniert, wenn man sich auf Zahlen fokussiert und ein Programm entscheiden lässt oder dir suggerieren lässt, dass das zu wenig sei oder dir irgendwas fehlen würde und ähm ich habe, ich habe etwas verlernt, was ich bereits gelernt hatte, mühsam gelernt hatte. Eben drauf zu hören, was braucht mein Körper und wann ist es zu viel ...« (Bettina)
Im Gegensatz zu Anna, die angibt, einen Hunger-Sinn erworben zu haben, scheint Bettina durch die Vermessung ihrer Ernährung etwas verloren zu haben, sogar etwas, was sie vorher »mühsam gelernt hatte«. Das Auf-den-Körper-Hören wird bei ihr durch den Einsatz der Vermessungstechnologie gestört, indem ihr das Vermessungsmedium suggeriert, dass ihr noch Nährstoffe fehlten und sie noch mehr essen müsse, obwohl das Gefühl ihr das Gegenteil vermittelt. »Und wie gesagt, meine Fähigkeit zu lernen, wann habe ich wirklich Hunger, worauf habe ich jetzt Lust. Denn ich bin der Meinung, wenn ich auf etwas Lust habe, dann braucht mein Körper das auch. Und wann bin ich satt und nicht, ach, es fehlt noch so und so viel, das muss ich jetzt noch reinhauen. Für mich war das absolut gar nichts.« (Bettina)
Das vorangegangene Zitat zeigt die körperlich-leibliche Verwirrung, verursacht durch die Berechnungen und Empfehlungen der Ernährungsapp. Fragen nach Sättigungsgrad, dem Fehlen von Nährstoffen, der Lust am Essen, den Bedürfnissen des Körpers und dem wirklichen Hunger überkreuzen sich und können nicht mehr zufriedenstellend beantwortet werden. Die von Meyer-Drawe angesprochene Nivellierung tritt ein, das verobjektivierte Zahlenwissen steht im Widerspruch mit den Körpergefühlen und überdeckt diese teilweise. Sowohl bei Anna als auch bei Bettina führt folglich die Nutzung von Vermessungsmedien dazu, sich in ein verändertes Verhältnis zum eigenen Körper und zu den eigenen Praktiken zu setzen. Diese Form einer Reflexivität in der Praxis setzte bei Anna eine Inkorporierung durch den Leib in Gang. Die vermehrte Aufmerksamkeit auf den eigenen Körper führte zu einem Widerspruch zwischen habituellem und aktuellem Leib, wodurch sich eine neue Habitualität, d.h. eine neue Gewohnheit als Hunger-Sinn einstellt. Bevor Anna also bemerkt, dass plötzlich ein neuer Hunger-Sinn entstanden ist, ist es zuvor der Leib, der diesen exploriert, der diesen überhaupt erst schafft. Bei Bettina kann dabei besonders deutlich gesehen werden, dass mit dem neuen habituellen Leib alte Habitualitäten abgelegt werden, die des Mit-sich-imKontakt-Seins. Auch Michael geht in folgendem Zitat auf seine Ernährungsver-
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messung ein. Nachdem er detailliert seine Alltagspraxis des Kalorien- und Nährwertzählens beschrieben hat, sagt er: »Das ist erträglich bis zu einem gewissen Level, aber irgendwann hat man keine Lust mehr das einzutragen, weil das einfach lästig ist und irgendwann hat man auch keine Lust mehr so gezielt zu leben. Also dieses healthy, das ähm ist schön, aber ist mir nicht so viel Wert, wie meine Lebensqualität. Ähm und deswegen habe ich gerade Lasagne gegessen zum Beispiel, wohlwissend, dass das auf der äh äh Ernährungsbilanz vollkommen negativ ist. Äh es schmeckt aber einfach unheimlich lecker, äh so viel ist es mir einfach nicht wert. [...] Ich esse gerne gesund, aber eher hochwertig als äh nur kalorienzählend. Das hat mir noch nie Spaß gemacht.« (Michael)
Michael führt den von Bettina erwähnten Lustfaktor des Essens noch weiter aus und stellt den Konflikt zwischen Vermessungspraktik, Zielerreichung und Lebensqualität bzw. Genuss dar. Abnehmen lasse sich wohl am besten, »wenn man genau weiß, was man isst«, aber: »… mir das Leben mit Genuss wichtiger ist als all das, dieses Erfüllen. Äh also ich habe mir da nie Zwänge auferlegen lassen durch diese Apps.« (Michael)
Die durch Selbstvermessungspraktiken ausgelösten Habitualisierungsprozesse sind somit vielschichtig, da sich die aktiven, d.h. von den NutzerInnen ausgeführten Praktiken, als häufig widerspenstig und aufwändig erweisen und, sobald ein Ziel erreicht wird, wieder abgelegt werden. Oder aber die Vermessungspraktik wird – wie in Bettinas Fall – sogar als störend oder kontraproduktiv wahrgenommen. Über das Körperschema können jedoch im Wechselspiel zwischen aktuellem und habituellem Leib unintendierte Einschreibprozesse in Gang kommen und somit teilweise Konflikte hervorrufen mit existierenden Praktiken und Habitualitäten.
E INSCHREIBPROZESSE UND S OZIALEM
ZWISCHEN
G ENETIK , E PIGENETIK
Ausgehend von der Formel n=1 sehen sich viele SelbstvermesserInnen als einzigen validen Referenzpunkt. Eine rein digital-mediale Selbstvermessung stößt hier relativ schnell an ihre Grenzen, weshalb es immer mehr Anbieter und Nachfrage nach stärker invasiven Vermessungstechniken, wie beispielsweise (Trocken-)Blutanalysen oder Genscreenings gibt. Die dabei entstehenden Praktiken
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können trotz der externen Auswertung des Blutes in einem Labor als Selbstvermessung betrachtet werden, da zum einen die Blutentnahme von den SelbstvermesserInnen selbst durchgeführt wird und zum anderen auch bei der sonstigen digital-medialen Selbstvermessung Technologien verschiedenster Art im Hintergrund mitzählen, Daten erheben, auswerten und dann die NutzerInnen mit den Ergebnissen konfrontieren. In Bezug auf die in diesem Beitrag untersuchten Habitualisierungsprozesse sind vor allem Geninformationen von Interesse, da diese die (genetische) Prägung einer Person und ihres Körpers beschreiben. Erste Selbstvermessungsangebote (vor allem aus den USA) bieten hierfür z.B. »genetically guided fitness«5 oder eine Ausweitung des eigenen »quantification mix« durch Geninformationen an: »You've got 1.5GB of data in your own DNA that might be worth adding to the quantification mix« (Baxter-Reynolds 2013). Mithilfe dieser zusätzlichen Informationen können z.B. Trainingspläne noch individueller, spezifischer und genauer ausgearbeitet werden. Durch einen Gentest von 23andme fand Ralph beispielsweise heraus, dass sein Körper für Krafttraining einen genetischen Nachteil, aber einen genetischen Vorteil im Bereich Kardiotraining hat. Durch diese Feinstinformationen konnte er u.a. seinen Trainingsplan so verändern, dass er nach dem Krafttraining noch stärker auf seine Ernährung achtet und dieses spezifisch unterstützt, während er sein Kardiotraining bewusst permanent variiert, um eine stetige Verbesserung zu erreichen.6 Anhand immer präziserer Messtechniken und -verfahren kann in immer tiefere bzw. innere und verborgenere körperliche Bereiche vorgestoßen werden, welche durch Vermessungstechniken und -praktiken sichtbar gemacht werden können. Schrittzähler oder Herzfrequenzsensoren zeigen körperliche Bewegung und Aktivität, Fitness oder Leistungsfähigkeit in (Verlaufs-)Grafiken, wohingegen Blutbilder und Geninformationen Einblicke in bisher unbekanntes oder nur für ein medizinisch-klinisches Fachpublikum zugängliches Wissen über das Selbst gewähren. Neben der Genetik ist das noch relativ junge Forschungsgebiet der Epigenetik ein weiteres Feld der Vermessung, wenn diese auch derzeit noch sehr laborintensiv und nicht für die Allgemeinnutzung zugänglich ist. Das dahinterliegende Prinzip lässt sich am besten anhand einer Studie aus Schweden beschreiben (Lindholm et al. 2014). In ihr mussten 23 junge und gesunde Männer und Frauen 5
So z.B. die Anbieter Genetrainer (Zitat aus https://www.genetrainer.com/) oder 23andme (https://www.23andme.com/) (jeweils letzter Zugriff am 29. April 2017).
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Vorträge (›how-to‹ Session und ›ignite talk‹) von Ralph Pethica auf der Quantified Self Europe Konferenz in Amsterdam, 18. und 19. September 2015. Eigene Aufzeichnungen und Einträge auf www.quantifiedself.com (letzter Zugriff am 29. April 2017).
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mit einem Bein ein spezielles Fahrradtraining absolvieren, welches 4 Trainingseinheiten á 45 Minuten pro Woche über 3 Monate umfasste. Das nicht trainierte Bein diente als Kontrollgruppe. Die Leistung sowie Veränderungen wurden in beiden Beinen gemessen: Das trainierte Bein wies im Stoffwechsel des Skelettmuskels signifikante Veränderungen auf, konkret 480.000 Methylierungen im Genom und eine Aktivität von über 20.000 Genen. Die Studie zeigt somit auf, dass zum einen langanhaltendes und regelmäßiges Ausdauertraining das epigenetische Muster der Skelettmuskulatur verändert und zum andern sich der Metabolismus und die Entzündungsbereitschaft verbessern. Folglich kann also ganz aktiv die Epigenetik beeinflusst und manipuliert werden, z.B. über direkte Körperpraktiken, wie in der gerade beschriebenen Studie über regelmäßiges Ausdauertraining. Aber wie funktionieren nun diese Epigenetik und die dahinter liegenden Einschreibprozesse? Ruth Müllers (i. Ersch.) Worten folgend, beschäftigt sich die Epigenetik als ein Forschungsbereich der Molekularen Biologie mit Veränderungen in der Genexpression, d.h. mit Veränderungen, die nicht auf Veränderungen in der DNA selbst zurückzuführen sind. Genexpression stellt den Prozess des Ablesens genetischer Information und somit den ersten Schritt in der Übersetzung des genetischen Codes der DNA in die lebenden Strukturen des Körpers dar. Die Epigenetik fokussiert dabei Veränderungen in diesem Übersetzungsprozess, die durch chemische Modifikationen auf der DNA (altgriechisch ›epi‹ – um, auf, herum) und nicht durch Mutationen in der DNA selbst bedingt sind. Diese chemischen Modifikationen bestehen z.B. aus dem Hinzufügen oder Entfernen von Methylgruppen an spezifischen Stellen der DNA (vgl. Lindholm et al. 2014). Diese modifizieren den Code selbst nicht, aber regulieren, ob und wie oft ein Gen abgelesen wird. Diese Veränderungen können Gene und deren Bausteine aktivieren, stilllegen und die Rate ihrer Expression steigern oder vermindern. Das Genom bleibt dabei unverändert, die abgewandelte Genregulation kann jedoch phänotypische Veränderungen, so z.B. Krankheiten, verursachen. Das Spezialfeld der Umweltepigenetik erforscht soziale, kulturelle und gesellschaftliche Einflussfaktoren. Da Körper hier nicht mehr vollständig getrennt von ihrer Umwelt verstanden werden, erfährt die Epigenetik großes interdisziplinäres Interesse, weshalb sie auch immer stärker in den Sozial- und Geisteswissenschaften rezipiert wird (Pickersgill et al. 2013). Beispiele für epigenetische Untersuchungen mithilfe von äußeren Umweltfaktoren sind u.a. Stress, traumatische Erfahrungen, Umweltbelastung oder Mangelernährung. In exemplarischen Studien wurde z.B. der Zusammenhang von einer Mangelernährung der Mütter während der Schwangerschaft (in Holland während des 2. Weltkrieges) und einem signifikant höheren Risiko der Kinder, später im Leben an Diabetes zu
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erkranken, erforscht (Landecker 2011). Diese Studie ist Teil des Forschungsfeldes der »nutritional epigenetics«, welches die Folgen von Ernährung auf die Genexpression versucht, zu erklären. Essen wird hier als ein Umwelteinfluss auf den Körper (und das Selbst) aufgefasst, welcher die Aktivität des Genoms und die Physiologie des Körpers beeinflusst. Durch diese experimentelle Sichtweise auf das menschliche Leben wird Ernährung als Einflussfaktor auf molekulare Strukturen im Körper gesehen. Konkret wird hierbei untersucht, wie Nährstoffe auf die Epigenetik wirken und somit in Verbindung zu Krankheiten wie Krebs, Fettleibigkeit oder Diabetes stehen (ebd.). Die Epigenetik macht somit Verbindungen plausibel, die früher schwer zu erklären waren. Durch das Methylierungs-Paradigma und die molekulare Epigenetik können nun direkte Verbindungen zwischen den Molekülen des Essens und den Molekülen, die Genomexpressionen regulieren, sowie den Genexpressionsmustern, die das enzymatische und hormonale System des Körpermetabolismus bedingen, gezogen werden (ebd.: 178). Es wird nun immer weniger von einer starren ›Programmierung‹, sondern vielmehr von einer »induction« (ebd.: 178) gesprochen im Sinne einer Anregung bzw. Beeinflussung eines Phänomens durch äußere Faktoren. Zusammenfassend kann somit gesagt werden, dass Studien in diesem Feld betrachten, wie Umweltfaktoren, z.B. Toxine, Ernährung, Bewegung oder soziale Erfahrungen, Einfluss auf das epigenetische Profil bestimmter Körperzellen haben können und somit auf die Expression der Gene in diesen Zellen. Diese Umweltfaktoren und ihre Folgen werden nicht nur am erwachsenen Menschen untersucht, sondern besonders hinsichtlich der als »epigenetisch plastisch« (Müller i. Ersch.) verstandenen pränatalen und frühkindlichen Entwicklung. Ein besonderes Augenmerk liegt hierbei auf den Umweltfaktoren und wie diese körperliche Entwicklungen mitformen und hiermit Rahmenbedingungen für Gesundheit und Krankheit im späteren Lebensverlauf entscheidend gestalten. An der Konzeption von Körper in der Umweltepigenetik ist im Kontext dieses Beitrages vor allem ein Aspekt besonders bemerkenswert: Hier liegt ein Model eines biologischen Körpers zugrunde, der bis in sein Innerstes, bis hin zur Expression der DNA im Zellkern, für Einflüsse aus der Umwelt offen ist. Dies bedeutet zumindest theoretisch und im Modell, dass die DNA nicht mehr – ähnlich einer stabilen Blaupause – den Gang des Lebens und den Bau des Körpers vorschreibt. Das Leben folgt somit nicht mehr einer linearen Geschichte, sondern ist plastisch zu verstehen, je nach Umwelt des Körpers, welche im aktiven Wechselspiel auf ihn einwirkt. Diese Verschränkungen machen die Umweltepigenetik zu einem Hoffnungsfeld, vor allem was die Erforschung vieler Krankheiten betrifft, aber auch was die Erkenntnis und Veränderbarkeit des Selbst angeht. Die Epigenetik eröffnet somit neue Möglichkeiten »for investigat-
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ing the complex interactions between the social and the biological« (Hanson/Müller 2017: 12). Um dies mit Jörg Niewöhner (2011) auszudrücken: Die Epigenetik schafft einen »embedded body«, d.h. einen Körper, der stark geprägt ist von seiner Vergangenheit, seinem sozialen und materiellen Kontext, der evolutionären und transgenerationellen Zeit, seiner Frühkindheit; und einen Körper, welcher hochempfindlich ist für Veränderungen in seinem sozialen und materiellen Umfeld. Die noch offene Frage, die sich hier stellt, ist folgende: Kann hier noch von einem eingebetteten Körper gesprochen werden oder haben wir es hier nicht schon (fast) mit dem habituellen, aber zumindest dem aktuellen Leib zu tun? Denn epigenetische Veränderungen sind einerseits plastisch und reversibel, aber andererseits auch stabil: Sie halten sich sogar über Generationen und schreiben somit körperliche Erinnerungen und Erfahrungen ein. Aus phänomenologischer Sicht scheint es interessant, dass Merleau-Ponty verständlicherweise nicht auf die Genetik eingehen kann, jedoch bei seinen Reflexionen zum Unbewussten von einer Ablagerung von »impliziten unbewussten Schichten« (Gerlek/Kristensen i. Ersch.) spricht als Teil einer wahrnehmenden Praxis. In frühen Schriften bei Merleau-Ponty werden diese noch über das Körperschema als »habitueller« und »aktueller Leib« beschrieben. Erfahrungen und Wahrnehmungen werden ihm zufolge in einem »permanente(n) Prozess der sinnstiftenden Sedimentierung« (ebd.) niedergeschrieben. Auch wenn diese Betrachtung aus epigenetischer Sicht etwas statisch anmutet, so scheint das Verständnis von einem in die Umwelt eingebetteten Körper/Leib, der offen ist gegenüber Erfahrungen und externen Einflüssen, dennoch gemeinsam. Gerade aus einer pädagogischen Sicht stellen sich daraus ergebend neue Fragestellungen, da sie neue Einsichten über die Stabilität vs. Plastizität des Körpers/Leibes, (Einschreib-)Prozesse sowie deren hereditären und sozialen Faktoren ermöglichen und somit das Selbst in teilweise neuem Licht erscheinen lassen.
F AZIT Digitale Selbstvermessung ist somit ein emergierendes und sich schnell entwickelndes Feld, in dem das Selbst nicht nur im Mittelpunkt steht, sondern vor allem mit dem Selbst experimentiert wird. Es wird versucht, dem Selbst »näher auf den Leib zu rücken« (Kappler i. Ersch.), d.h. das bisher eher implizit und subjektiv erfahrbare Selbst zu objektivieren und darstellbar zu machen, um somit meist kurz- bis mittelfristige Ziele zu erreichen. Das Selbst ist dabei mehr als der
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Körper und/oder Leib: Im digitalen Zeitalter und besonders unterstützt durch digitale Selbstvermessungspraktiken besteht es auch aus dem bzw. den »Datendoppelgänger(n)«, d.h. den Datenflüssen, die den Körper und das Selbst (teilweise) abbilden. Diese können jedoch keine perfekte Kopie des Originals darstellen, sondern spiegeln Prozesse wider, »that abstract and slice the self into various kinds of data flows« (Ruckenstein 2014). Die Erfahrungsberichte aus der Quantified Self-Bewegung lesen sich hierbei teilweise wie Pionierberichte, die davon berichten, wie Unbekanntes entdeckt und sichtbar gemacht wird. Aber auch hier wird meist die Projekthaftigkeit der Selbstvermessungspraktiken deutlich, da das Selbst nun mithilfe von Zahlen und Werten von außen als Objekt betrachtet werden kann. Somit kann das Selbst auch als Projekt aufgefasst werden, mit und an dem Experimente durchgeführt werden. Das Verständnis eines modellierbaren, plastischen Körpers/Leibes, der offen gegenüber äußeren Einflüssen ist, liegt diesen Praktiken zugrunde. Zumindest nach Hartmut Rosas Verständnis zielen Selbstvermessungsprojekte rein auf die »Erweiterung der eigenen Vermögen und Fähigkeiten« (Rosa 2016: 47), da »nichts anderes als das Ressourcenpotential der Individuen« (ebd.) vermessen werden könne. Die Widerspenstigkeit der Praktiken gegenüber einer Habitualisierung und der Gegensatz, den zumindest Bettina und Michael beschreiben, wenn sie die Selbstvermessung mit dem eigenen Körpergefühl und Genuss kontrastieren, scheinen diese These der Ressourcenlastigkeit in einer beschleunigten Welt zu bestätigen. Die Inkorporierung in das Körperschema von neuen Wahrnehmungsmustern und beispielsweise dem Erwerb neuer Sinne, wie bei Anna gesehen, scheinen dem zumindest teilweise jedoch zu widersprechen, nach Meißner (2016) zu verstehen als Kontingenz steigernde Selbststeigerung im Sinne von Selbsterkenntnis. Und diese Habitualisierungsprozesse verlaufen nicht immer intendiert und geradlinig, sondern schreiben durchaus auch völlig Neues ein (Gerlek et al. i. Ersch.). Neueste Entwicklungen des Selbstvermessungsfeldes hin zu Blut- und Gentests erlauben mit Blick auf den aktuellen Forschungsstand in der Epigenetik, diese Einschreibprozesse biochemisch zu beleuchten und somit biologische und soziale Faktoren in ihrem komplexen Zusammenspiel beschreiben und verstehen zu können. Dies würde es ermöglichen, die Wahrnehmung unterschiedlichster sozialer Phänomene, darunter auch des Selbst, neu zu justieren und komplexe Zusammenhänge interdisziplinär zu erfassen. Dies würde zudem der Tendenz einer vereinfachten und zahlenbasierten Darstellung des menschlichen Körpers und des Selbst im Rahmen der Selbstvermessungspraktiken entgegenwirken. Das Wissen, das durch diese modernsten digitalen Technologien und Forschungsfelder generiert wird, scheint wiederum zentral und zumindest teilweise konstitutiv
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für die Entwicklung des Selbst zu werden, da es ermöglicht, Einschreibprozesse besser zu verstehen und somit zu beeinflussen. Wenn nun aber der Körper und das Selbst als veränder- und modellierbar, sowie als Projekt, aufgefasst werden, stellen sich spezifische Fragen für die Pädagogik: Welche Ziele werden definiert und worauf basieren diese Wunschvorstellungen? Wie sollen diese Ziele erreicht werden, d.h. welche (legitimen) Mittel werden zur Zielerreichung eingesetzt? Und welche Rolle spielen hier digitale und andere Medien? Und welche Veränderungen bezüglich Verantwortung gegenüber dem eigenen (unperfekten) Körper und Selbst ergeben sich daraus, sowohl für das Individuum als auch für die Gesellschaft? Und was passiert mit einer Gesellschaft und deren Pädagogik, die sich über die Singularität ihrer Mitglieder definiert? Neben der Beantwortung dieser Fragen als primäre Aufgabe der Pädagogik scheint ein pädagogisch fruchtbarer Zugang im Praxisfeld der Selbstvermessung selbst angelegt: Es kombiniert und erlaubt Wechsel zwischen einer vermeintlich objektiven (zahlenbasierten) Außenperspektive und einer phänomenologisch verorteten Ich-Perspektive, wobei das Selbst mediatisiert und reflexiv in den Mittelpunkt rückt. Habitualisierungsprozesse werden somit transparenter und (experimentell) beeinflussbar, was die Nutzbarmachung mediatisierter Selbstvermessungspraktiken in pädagogischen Ansätzen als Mittel und Prozess nahe legt.
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Sportlehrer*in werden Subjektivierung in Praktiken hochschulischen Lernens 1 D ANIEL R ODE
Die »Bildung« und »Entwicklung«2 unseres Selbst bildet ein wichtiges Thema verschiedener alltagsweltlicher Handlungszusammenhänge. Wir machen Diäten, treiben Sport oder informieren uns über die Produktionsbedingungen unserer Lebensmittel, um schlanker, fitter oder ökologisch bewusster zu werden. Glaubt man post-modernen Zeitdiagnosen, dann macht das Wegfallen traditioneller Orientierungsinstanzen und ›Haltegerüste‹ eine kontinuierliche Arbeit am eigenen Werden sogar zum lebensweltlichen Dauerthema. Der Begriff der Digitalisierung weist nun darauf hin, dass dieses lebensweltliche Bestreben nach »Selbst-Entwicklung« immer häufiger und mitunter in neuer Art und Weise unter Einbezug digitaler Medientechnologien stattfindet. Untersuchungen zu digitaler Aktivitätsvermessung (Self-Tracking) können beispielsweise eine Arbeit am Selbst nachzeichnen, die grundlegend auf die Bezugnahme auf ein nichtmenschliches, algorithmus- und codebasiertes Gegenüber setzt (vgl. z.B. Rode im Erscheinen). Dadurch entstehen Fragen nach einer agency von Geräten und Software und nach deren Berücksichtigung in der Analyse gegenwärtiger Subjektkonstitutionen 3 (vgl. Kreknin/Marquart 2016). Der vorliegende Beitrag nimmt diese Fragen zum Ausgangspunkt, um zu einer sozialwissenschaftlich fundierten Untersuchung des Verhältnisses von Digitalität und Selbst beizutra1
Ich danke Michael Asmussen und Christoph Richter für die Begutachtung dieses Beitrags und für ihre konstruktiven und fruchtbaren Hinweise und Anmerkungen.
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Ich setze Begriffe wie »Entwicklung«, »Bildung« oder »Lernen« (später auch »Theorie« und »Praxis«) in Anführungszeichen, wenn ich mich auf ihre alltagsweltliche Verwendung und auf das gemeinsame Thema dieser Verwendungszusammenhänge beziehe.
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Ich verwende die Begriff Selbst und Subjekt im Folgenden synonym.
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gen. Ich gehe davon aus, dass die Untersuchung dieses Verhältnisses es verlangt, ein Verständnis von Subjektkonstitution im Allgemeinen und »SelbstEntwicklung« im Speziellen zu entwickeln, das die Medialität dieser Prozesse berücksichtigen kann, und nach dem Unterschied fragt, den digitale Medientechnologien in ausgewählten empirischen Feldern machen (vgl. ebd.). Bei der Feldauswahl möchte ich vom allgemeinen Trend der Forschung zum Zusammenhang von Digitalität und Selbst abweichen: Der alltagsweltliche Topos der »Selbst-Entwicklung« findet sich nicht nur in ›neuen‹ Phänomenen wie der digitalen Selbstvermessung, die durch digitale Technologien überhaupt erst entstanden sind, er wird auch nach wie vor in den Bildungsinstitutionen unserer Gesellschaft kultiviert. Diese machen »Lernen« – verstanden als »SelbstEntwicklung« durch »Stoff«-Bearbeitung – zum ›Kerngeschäft‹ ihrer pädagogischen Praxis. Die Digitalisierung schreitet in diesen Feldern nicht nur langsamer, sondern scheinbar auch unauffälliger und folgenloser voran: Wie das Kino den Übergang von analogen zu digitalen Arbeitsweisen weitgehend ›schadlos‹ überstanden hat, so scheinen auch die Neuerungen in Schulen und Universitäten, die mit dem Ersetzen von Video- und Kassettenrekorder und Tageslichtprojektoren durch digitale Abspielgeräte, Beamer und Smartboards einhergehen, auf den ersten Blick keinen grundlegenden Umbruch in dem, was Unterricht und »Lernen« bedeuten und wie sie praktiziert werden, mit sich zu bringen. Umso wichtiger scheint es mir, empirisch nachzuvollziehen, wie sich digitale Technologien ganz nebenbei und unscheinbar in das »Lernen« dieser Felder ›einmischen‹. Ich werde dies mit Blick auf die universitäre Sportlehrer*innenbildung untersuchen. Dafür bediene ich mich des konzeptionellen Angebots aktueller praxistheoretischer Ansätze (Reckwitz 2003; Schatzki/Knorr-Cetina/Savigny 2001; Schmidt 2012) und entwickle eine Analyseperspektive, die die in Schule und Hochschule kultivierten Verständnisse von »Bildung«, »Lernen« und »Selbst-Entwicklung« destabilisiert, indem sie diese nicht alleine über individuelle Lernhandlungen, didaktische Konzepte oder das Wirken von Lehrpersonen, sondern über geteilte soziale Praktiken erschließt und digitale Technologien als konstitutive ›Mitspieler‹ in der Arbeit am eigenen Werden berücksichtigt. In den Bildungsinstitutionen wird das Verständnis eines »lernenden« und »sich entwickelnden« Subjekts kultiviert, das autonomes Initiativzentrum seines eigenen Bildungsprozesses ist und sich durch eine individuelle Innerlichkeit von Wissen, Können und Wollen auszeichnet, die es in einzelnen Handlungsakten veräußerlicht. Didaktischen Konzepten und dem pädagogischen Handeln von Lehrpersonen wird – im Sinne einer »Fremdaufforderung zur Selbsttätigkeit« (Benner 2005) – die zentrale Funktion zugesprochen, diese Selbstinitiative anzuregen. Der Einzug digitaler Technologien scheint diese Perspektive nicht grundlegend zu verunsichern,
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finden doch die öffentlichen wie wissenschaftlichen Diskussionen um die Wirkung neuer Technologien auf das Subjekt sowie um den medienkompetenten Umgang mit ihnen erneut in einem ›starken‹, vornehmlich mental verfassten Handlungssubjekt ihren Bezugspunkt. Eine praxistheoretische Perspektive unterzieht dieses Alltagsverständnis von »Selbst-Bildung« einer »Praxeologisierung« (Schmidt 2012: 28ff.). In Anknüpfung an verschiedene theoretisch-empirische »Absetzbewegungen« (Schmidt 2016) rückt diese das Subjekt gleichsam aus dem Zentrum, um die Kollektivität und Situiertheit sozialer Vollzüge und die konstitutiven ›Beiträge‹ dinglichmaterieller und technischer Praxisbestandteile zu berücksichtigen. Individuelles »Lernen« und die Zuschreibung von Fähigkeiten und Qualitäten und deren Entwicklung zu einzelnen Personen wird in dieser Blickrichtung als eine ›Leistung‹ sozialer Praktiken untersucht, die von einem Netzwerk aus Menschen, Körpern, Dingen, technischen Artefakten, Texten etc. in verschiedenen Situationen und Konstellationen wiederholt erbracht wird. Unter dem Begriff der Subjektivierung kann darauf hingewiesen werden, dass sich die verschiedenen menschlichen und nicht-menschlichen Bestandteile einer Praxis dafür permanent wechselseitig zum ›Mitspielen‹ befähigen und Menschen im Zuge dessen Dispositionen ausbilden, die es ihnen erlauben, sich in einer Vielzahl ähnlicher Praktiken gekonnt zu engagieren (Alkemeyer 2013). Aus praxistheoretischer Perspektive lässt sich »Selbst-Entwicklung« in einer zunehmend technologisierten und digitalisierten Kultur mithin als ein interaktiver Subjektivierungsprozess in sozialen Praktiken untersuchen, zu dem es eben auch gehören kann, sich in pädagogischen Kontexten im Umgang mit neuen Technologien als »lernendes«, am eigenen Werden arbeitendes Subjekt hervorzubringen. Ziel des Beitrages ist es, diese Perspektive am Beispiel der universitären Sportlehrer*innenbildung zu entfalten. Dafür führe ich zunächst die methodologische Position eines praxistheoretischen Zuschnitts von »Selbst-Entwicklung« ein. Dann beleuchte ich das den Praktiken der Sportlehrer*innenbildung zugrunde liegende »Selbst-Entwicklungs«-Verständnis und fokussiere schließlich anhand von Unterrichtsbeispielen, wie ›neue‹ und Alltagstechnologien an der Praxis des »Sportlehrer*in-Werdens« partizipieren. Aus diesen Beispielen lassen sich abschließend theoretische Schlussfolgerungen zur Medialität von »SelbstEntwicklung« formulieren, die mir im Zuge der fortschreitenden Digitalisierung unserer Gesellschaft als eine wichtige Analysedimension erscheint, im praxistheoretischen Forschungsprogramm allerdings noch systematisch auszuarbeiten ist.
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E INE
PRAXEOLOGISCHE
P ERSPEKTIVE
Die Methodologie der Praxeologisierung Mit dem Begriff der Praxistheorien ist eine heterogene Familie von Ansätzen gemeint, die auf Heidegger, Wittgenstein, Bourdieu, Butler, Foucault, Garfinkel, Goffman, Latour und einige mehr zurückgeht und gegenwärtig im deutsch- und englischsprachigen Raum verschiedentlich weitergeführt wird (vgl. z.B. Reckwitz 2003; Schatzki 2002; Schatzki/Knorr-Cetina/Savigny 2001; Schmidt 2012; Shove/Pantzar/Watson 2012). Als ein Forschungsprogramm begriffen, weisen praxistheoretische Arbeiten zwar teils beträchtliche Unterschiede auf, teilen aber einige entscheidende Grundannahmen: Diese besagen, dass sich soziale Wirklichkeit und soziale Ordnung als Verschränkungen und Konstellationen sozialer Praktiken rekonstruieren lassen, dass diese Praktiken spezifische Verschränkungen und Formgebungen verschiedener doings and sayings (Schatzki) darstellen und, dass diese Aktivitätszusammenhänge über körperliche Bewegungen, kulturspezifische Wissensbestände und materielle Vermittler situiert, verteilt und verbunden sind. Mit diesen Grundannahmen wird ein offener theoretischer Rahmen aufgespannt, der empirischen Analysen sozialer Geschehnisse und Zusammenhänge als ›Werkzeug‹ dienen soll (vgl. Bourdieu/Chamboredon/Passeron 1991). Denn praxistheoretische Ansätze begreifen ihr eigenes Vorgehen als eine enge Verzahnung von empirischer Forschung und Theoriebildung (Hillebrandt 2014: 118). Sie gehen davon aus, dass soziale Praxis immer komplexer ist als ihre Beschreibung durch theoretische Modelle und sehen ihr Potenzial weniger in der Diskussion anthropologischer oder ontologischer Grundannahmen, mit denen die soziale Welt ›wirklich‹ am angemessensten zu beschreiben ist, sondern vielmehr im Ermöglichen eines systematischen »Gegenlesen[s]« (Kleinschmidt 2016: 103) von theoretischen Modellen und empirischen Perspektiven, aus dem neue Sichtweisen auf die lebensweltliche Praxis sowie die (Weiter-)Entwicklung von Themen und Theorien gleichsam aus dem Feld heraus hervorgehen (Schmidt 2012: 28ff.).4
4
Schmidt (2012: 28ff.) spricht deshalb nicht von Praxistheorie, sondern von einer Methodologie der »Praxeologisierung«.
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Konzeptuelle Absetzbewegungen Der analytische Rahmen, mit dem eine praxeologische Methodologie fruchtbare Differenz zu den Selbstbeschreibungen der Feldteilnehmer*innen und zu theoretischen Vorverständnissen der Forschenden herstellen möchte, speist sich aus einigen konzeptuellen Absetzbewegungen von gängigen soziologischen Erklärungsmodellen (Schmidt 2016, 2017: 149ff.), die ich kurz skizziere. Die Überzeugung hinter diesen Bewegungen ist, dass der Fokus auf ein ›starkes‹ Handlungssubjekt den Blick auf kollektive Sinnstrukturen, geteiltes praktisches Wissen und die Öffentlichkeit der Logik sozialer Vollzüge versperrt (Schmidt 2017: 149). Eine erste Bewegung führt von der Sozialphänomenologie (Schütz 1995) zu ethnomethodologischen und mikrosoziologischen Ansätzen (Garfinkel 1967; Goffman 1971) und damit von einem methodologischen Individualismus zu einem methodologischen Situationismus (Schmidt 2017: 149f.). Ein sozialphänomenologischer Ansatz führt soziale Gebilde auf das sinnhafte Handeln von Subjekten zurück, das aus individuellen Sinnsetzungen ihres als intentional verstandenen Bewusstseins hervorgeht (Schütz 1995). Situationistische Ansätze nehmen demgegenüber die soziale Situation und ihre Interaktionsordnung zum Ausgangspunkt, weil sie davon ausgehen, dass Sinnhaftigkeit im wechselseitig aufeinander bezogenen öffentlichen Verhalten der Situationsteilnehmer*innen praktisch vollbracht wird (practical acomplishment, Garfinkel 1967). Statt einem sinnsetzenden und handelnden Subjekt stehen somit situierte Interaktionsteilnehmer*innen im Fokus, die in einer Situation sozialen Sinn erzeugen, indem sie gemeinsam (und oft unbewusst oder -geplant) Bedeutungsrahmen etablieren und modulieren (Goffman 1980; Schmidt 2017: 150). Eine zweite Absetzbewegung vom sinngebenden Handlungssubjekt führt vom sozialen Handeln zu situierten sozialen Praktiken und einem sens pratique (Bourdieu 1987; Schmidt 2017: 150f.). Die in den Geistes- und Sozialwissenschaften dominante Konzeption eines mental verfassten, rationalen Subjekts als Handlungszentrum sozialer Vollzüge kann als ein »scholastischer Irrtum« (Bourdieu 2001), als die Projektion der Logik scholastischer Praktiken auf die zu erforschenden Praktiken, entlarvt werden. Demgegenüber betont etwa Bourdieu (1987) mit seinem Konzept eines praktischen Sinns bzw. Spielsinns, dass soziale ›Spiele‹5 (erstens) maßgeblich auf einem vorreflexiven, nicht-rationalen Verständnis für die ungeschriebenen Gesetze und die Anforderungen einer Situation
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Zur »Heuristik des Spiels« in (praxis-)soziologischen Ansätzen, siehe Schmidt (2012: 38ff.).
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basieren,6 und dass sie (zweitens) eine Eigendynamik aufweisen, die sich zwischen allen Beteiligten entfaltet und nicht von einer Instanz kontrolliert werden kann. Ein Sinn für das Spiel ist darum nicht als eine bloße Gewohnheit zu verstehen, sondern als eine (verteilte) Intelligenz, die auch ohne Reflexion und rationales Entscheiden kreatives und flexibles Eingreifen in Spielverläufe ermöglicht. Diese epistemologische Perspektivverschiebung führt somit von einem ›starken‹ Handlungssubjekt zu sozialen Mit-Spieler*innen, die ›Träger‹ kollektiver Wissens-, Könnens- und Verstehensordnungen sind (Schmidt 2017: 151). An dieser Stelle knüpft eine dritte Bewegung an, die die Kritik an einer ›privaten‹, ›inneren‹ Sphäre als Ursache für ›äußerlich‹ sichtbares sinnhaftes Verhalten unter dem Prinzip der Öffentlichkeit sozialer Praktiken (Schmidt/Volbers 2011) zuspitzt: Aus den ersten beiden Absetzbewegungen folgt, dass kollektive Wissensordnungen nicht gleichsam im Kopf einzelner Praktikenteilnehmer*innen zu verorten sind, sondern sich ebenso in Körpern und Bewegungen, in Dingen, Artefakten bis hin zu Softwarealgorithmen finden (Schmidt 2017: 151). Sie werden als Wissensordnungen der Praxis begriffen, die öffentlich mobilisiert, beobachtet und interpretiert werden (ebd.). Mit der »Öffentlichkeit sozialen Sinns« (Schmidt 2016) ist gemeint, dass alles, was für die Sinnhaftigkeit einer Praxis bzw. für das gemeinsame Erzeugen von Sinn von sozialer Relevanz ist, der Beobachtung und Interpretation durch Teilnehmer*innen (prinzipiell) zugänglich ist (Schmidt/Volbers 2011). Dies gilt auch für vermeintlich innere Prozesse des Denkens, des Anhäufens von Wissen und Können und der Selbst-Bildung: Diese Prozesse betreffen auch ›private‹ Gedanken, begriffliches Wissen und individuelle emotional-affektive Zustände, allerdings sind sie in Konstellationen von Zeichen- und Artefaktgebräuchen, Körpertechniken, Mimiken und Gestiken, Interaktionen mit Menschen und anderen Lebewesen, raumzeitlichen Strukturierungen etc. situiert und haben nur in diesen Konstellationen eine soziale Existenz. Eine Existenz, die sich dynamisch zwischen allen diesen Partizipanden aufspannt und impliziten wie expliziten Aushandlungs-, Regulations-, Beobachtungs- und Interpretationsprozessen bedarf.7 Die letzte Perspektivverschiebung führt somit von vermeintlich individuellen Zuständen und Ent6
Bourdieu (1992: 103) schreibt: »Die Logik der Praxis besteht darin, nicht weiter als bis zu jenem Punkt logisch zu sein, ab dem die Logik nicht mehr praktisch wäre.«
7
Öffentlichkeit ist dabei nicht gleichbedeutend mit Offensichtlichkeit bzw. offensichtlicher Beobachtbarkeit, weil Beobachtungs- und Interpretationsfähigkeit stets (ethno-) methodisch hergestellt werden müssen (Schmidt/Volbers 2011). Das Beherrschen dieser Methoden und damit das (praktische) Vermögen, an den öffentlichen Wissensund Verstehensordnungen zu partizipieren, ist Teil des Prozesses der Subjektivierung als Mitspieler*in.
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wicklungen, wie sie unter Begriffen wie »Lernen« oder »(Selbst-)Bildung« gefasst werden, zu deren öffentlicher Aufführung und Zuschreibung zu einzelnen Personen, ihrer Intentionalität und ihrer Innerlichkeit im Vollzug geteilter Praktiken. Die skizzierten konzeptuellen Absetzbewegungen von gängigen soziologischen Erklärungsansätzen rücken somit das individuelle Handlungssubjekt aus dem Brennpunkt und zentrieren stattdessen Netzwerke von Menschen, Körpern, Dingen, Artefakten, anderen Lebewesen, Symbolsystemen u.v.m., die in charakteristischen Sagens- und Verhaltensweisen geteilte Wissensbestände geltend machen und eine sinnhafte soziale Praxis realisieren. Damit ist die epistemologische Voraussetzung geschaffen, bei Fragen nach der »Entwicklung des Selbst« in pädagogischen Kontexten auch das Mitspielen digitaler Technologien konstitutiv mit einzubeziehen. Für das »Lernen« und die »(Selbst-)Bildung«, die gemäß der eigenen Selbstdeklaration in diesen Kontexten betrieben werden, ermöglicht der analytische Rahmen einer praxeologischen Methodologie ein »Befremden« (Hirschauer/Amann 1997) lebensweltlicher Perspektiven, indem z.B. Individualität, das »praktische« (oder eben »theoretische«) Vollziehen und die unausgesprochene Annahme, dass dabei »gelernt« und das eigene Werden vorangetrieben wird, als Aspekte analysiert werden, die von den doings and sayings selbst zu ihren zentralen Prinzipien erhoben werden, wodurch bestimmte An- und Ausschlusskriterien für dieses Feld öffentlich markiert werden (Hardt 2016: 161). Subjektivierung Den Fluchtpunkt eines praxeologischen Analyserahmens, der sich mit der Entwicklung des Selbst beschäftigt, bilden mithin nicht Handlungssubjekte, sondern soziale Praktiken und die empirische Frage, welche Prinzipien wie genau kollektiv realisiert werden, wenn in der lebensweltlichen Perspektive einer bestimmten Praxiskonstellation von »Lernen« oder »Selbst-Entwicklung« die Rede ist. Die Untersuchung von »Selbst-Entwicklung« ist damit eine Analyse der praktischen Erzeugung dieser Selbstdeklaration. Von einem pädagogischen Standpunkt aus ist es dann interessant, wie in dieser Perspektive die menschlichen Mitspieler*innen und ihre Subjektivität in den Blick kommen können. Ich skizziere unter dem Begriff der Subjektivierung einen Zugang, der dies leisten kann. Im Anschluss an die bereits angesprochenen Arbeiten von Bourdieu können Lern- und Selbstbildungsprozesse zunächst als Sozialisations-, Habitualisierungs- und Inkorporierungsprozesse betrachtet werden (Hillebrandt 2014: 61ff.). Diese finden nicht nur in selbstdeklarierten »Lern«- und »Bildungs«-Praktiken,
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sondern in jeglicher Art sozialer Praktiken statt. Denn die Öffentlichkeit sozialen Sinngeschehens beinhaltet, »dass Praktiken […] immer auch (mehr oder weniger ausführlich) Hinweise über ihre eigene Funktionsweise transportieren« (Schindler 2011: 336). Diese Hinweise – in machttheoretischer Sichtweise ließe sich auch von Zwängen oder Zumutungen sprechen – liegen nur in kleinen Teilen explizit formuliert vor und wirken vornehmlich implizit. Sie zeigen sich in Anerkennungs- und Verkennungs-, Adressierung-, Bestätigungs- und Sanktionierungs-, Zeige- und Verbergungs-, An-, Ein- und Ausschlussmechanismen. Für die Teilnehmer*innen bilden sie die »verborgene[n] Imperative« einer »stille[n] Pädagogik« (Bourdieu 1987: 128) der Praxis, die sprachlich, körperlich wie materiell-dinglich geltend gemacht werden und Menschen gemäß der Logik der jeweiligen Praktiken bis in ihre Bewegungen, Gesten und Haltungen, ihre Emotionen, ihre Wahrnehmungsmöglichkeiten und Geschmacksurteile, ihre Bewertungs- und Denkweisen und ihr Selbstverstehen hinein formen. In dieser Perspektive stellt die Teilnahme an sozialen Praktiken einen fortwährenden Lernprozess im Sinne eines permanenten Ausbildens und Aktualisierens habitueller Dispositionen dar, der Handlungsmöglichkeiten in einer ganzen Reihe familienähnlicher Praktiken ermöglicht wie beschränkt. Subjektivierungstheoretisch formuliert bekommt eine praxeologische Perspektive die zuerst de-zentrierten menschlichen Mitspieler also wieder in den Blick, indem sie davon ausgeht, dass sich bestimme Subjektivitäten in sozialen Praktiken aus- und umformen. In Praktiken werden bestimmte Subjektformen – z.B. »die Schülerin« oder »die angehende Sportlehrerin« – erzeugt, indem in verschiedenen Situationen bestimmte soziale Positionierungen – bestimmte Subjektpositionen – im Wechselspiel aller Partizipanden hervorgebracht, zugewiesen und angeeignet werden, so dass Menschen in diesen Situationen als Subjekte (an-)erkennbar und handlungsfähig sind (vgl. Reckwitz 2008). Während dieser Zuschnitt die impliziten, materiell-dinglichen und körperlichen Dimensionen kollektiver Subjektivierungsprozesse sichtbar machen kann, wird kritisiert, dass er dazu tendiert, etablierte Dichotomien (z.B. Körper-Geist, implizitexplizit) gleichsam unter umgekehrten Vorzeichen fortzuschreiben und wiederum die Bedeutung von Sprache, Reflexion und expliziten Wissens- und Sinngehalten zu marginalisieren (Brümmer 2015: 64ff.). Außerdem wird kritisiert, dass Praktiken aus diesem Blickwinkel als ›wie von Geisterhand‹ gelingende Routinen erscheinen und Misslingen, lokale Bewältigungsanstrengungen sowie Subversion und Kritik unterbelichtet bleiben (ebd.). Dies kann auf eine analytische ›Helikoptereinstellung‹ (Spaargaren/Lamers/Weenink 2016: 18) zurückgeführt werden, die durch ein ›Heranzoomen‹ an Mikroprozesse des wechselseitigen Sich-Positionierens und sich selbst sowie andere Zum-Mitspielen-Befähigens –
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d.h. an das »Wie genau?« der Inkorporierung – zu komplementieren ist (Alkemeyer/Buschmann 2017: 9ff.; Alkemeyer/Buschmann/Michaeler 2015).8 In praxeologischer Sichtweise können Personen und ihre Subjektivität demnach in den Blick genommen werden, indem einerseits die ›Karrieren‹ bestimmter Praktiken und ›ihrer‹ Subjektformen, -positionen und Subjektivierungsweisen nachgezeichnet werden und, indem andererseits und in Anknüpfung an die bereits angesprochenen mikrosoziologischen und interaktionistischen Verfahren die lokal situierten, geteilten Prozesse detailliert aufgeschlüsselt werden, in denen Teilnehmer*innen mit jedem praktischen Vollzug aufs Neue ihre ›Beiträge‹ aufeinander und auf andere Partizipanden abstimmen, kreativ und improvisierend in Situationsverläufe eingreifen und sich emotional wie auch kognitiv und reflektierend in das soziale Spiel involvieren, um sich wechselseitig zum Mitspielen zu befähigen (Alkemeyer/Buschmann 2017: 10ff.). Subjektivierung ist in dieser Perspektive als ein Geformt-Werden in sozialen Praktiken sowie als ein aktiver Prozess des Selbst- und Praktiken-Formens zu analysieren, der sich permanent vollzieht und der im Fall pädagogischer Settings oft beinhaltet, die Praxis als »Lernen« und sich selbst als »Lern«-Subjekt, das in der Bearbeitung von »Lernstoff« an der eigenen »Selbst-Entwicklung« arbeitet, hervorzubringen. Ich werde die Möglichkeiten dieses Analyserahmens im Folgenden an einem Beispiel aus dem Bereich der universitären Sportlehrer*innenbildung aufzeigen und mich auf das Mitspielen technischer Partizipanden in Subjektivierungsprozessen konzentrieren.9
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Im Einklang mit dem Selbstverständnis praxeologischer Ansätze als Methodologien der Praxeologisierung fordern Alkemeyer/Buschmann/Michaeler (2015: 27ff.) einen »methodisch-systematische[n] Perspektivwechsel« zwischen einer ›Theaterperspektive‹ auf die Gleichförmigkeit und Strukturiertheit bestimmter Praxisformen und rekonstruierten Teilnehmerperspektiven auf die Unsicherheit und Offenheit von Praxisvollzügen.
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Dem Rahmen des Beitrages geschuldet, werden die Beschreibungen ein Abstraktionsniveau aufweisen, welches das angesprochene ›Hineinzoomen‹ nur bedingt leisten kann und tendenziell eine ›Draufsicht‹ einnimmt.
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Vom praktischen Akteur zum reflektierenden Arrangeur In den institutionalisierten Unterrichtspraktiken des lehramtsbezogenen Sportstudiums stellt sportliches Sich-Bewegen den »Lernstoff« dar, dessen »theoretische« und »praktische« Bearbeitung dazu beitragen möchte, dass Studierende zu Sportlehrkräften werden. Dieses Werden wird als ein individueller Entwicklungsprozess verstanden (Miethling 2013), der sich auf die griffige Formel »vom praktischen Akteur zum auf wissenschaftlicher Grundlage reflektierenden Arrangeur« (dvs 2016: 1, Herv. D.R.) bringen lässt. Ich fokussiere im Folgenden einen Studienbereich mit dem Namen »Theorie und Praxis der Sportarten«, der für sich beansprucht, einen zentralen Beitrag zu diesem Entwicklungsprozess zu leisten (ebd.). Der Name des Studienbereichs weist bereits darauf hin, wie dieser Beitrag konzeptionell angelegt ist: In den Kursen sammeln die Studierenden »praktische« Erfahrungen in verschiedenen Sportarten bzw. Bewegungsfeldern und sie reflektieren diese »theoretisch«, womit das Herstellen methodischdidaktischer sowie pädagogischer Bezüge gemeint ist.10 In praxeologischer Perspektive lässt sich davon sprechen, dass der körperliche Vollzug von Bewegungsformen und ein vermeintlich kognitives Distanzieren und Reflektieren dieser Vollzüge in den doings and sayings dieses Unterrichts kollektiv als zwei zentrale und einander komplementierende Prinzipien entworfen werden, die eine (gelungene) Arbeit der »Lernenden« an ihrer »Selbst-Entwicklung« von Akteuren zu reflektierenden Arrangeuren verbürgen.11
10 Oft sind zudem kurze Lehrproben gefordert, in denen die »Theorie« dann wieder »praktisch« umgesetzt werden soll und erste Erfahrungen im Arrangieren von Vermittlungssituationen gesammelt werden können. Ich kann auf diese Praktiken hier nicht weiter eingehen. 11 Das Prinzip des sportlichen Machens lässt sich allgemein als Identitätskern der Fachkultur Sport rekonstruieren, der über deren verschiedene Entwicklungsetappen hinweg im Schnittfeld von bildungspolitischen Entwicklungen, verschiedenen Reformbemühungen und der Entwicklung und Ausdifferenzierung der Sportwissenschaft sowie damit verknüpften fachlichen Legitimations- und Positionierungsbemühungen eine erstaunliche Beharrungskraft zeigt (Schierz 2013). Dem zur Seite steht für das Schulfach Sport ein stetig wachsender Stellenwert von wissenschaftlicher Betrachtung und theoretischer Reflexion des sportlichen Sich-Bewegens (Serwe-Pandrick 2013: 102), das für Sportlehrer*innen aktuell das Ideal des »reflective practitioner« (Schön 1983) geltend macht (Serwe-Pandrick 2013; auch Lüsebrink 2012).
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Ich gehe nun darauf ein, wie sich das Hervorbringen beider »Lern«-Prinzipien und die damit verbundene Subjektivierung der Studierenden als »Lernende« des Unterrichts in der »Theorie und Praxis der Sportarten« unter der Voraussetzung eines gelungenen Mitspielens technischer Partizipanden vollziehen. Als Beispiel dienen Kurse im Bewegungsfeld »Tanzen und Gestalten«. Den nachfolgenden Beschreibungen dieser Kurse liegt eine ethnographische Feldforschung im Rahmen eines noch laufenden Forschungsprojekts zugrunde, in der ich insgesamt drei Kurse im Bewegungsfeld »Tanzen und Gestalten« über ein Semester hinweg teilnehmend beobachte. Die teilnehmende Beobachtung umfasst vom ›danebensitzenden Beobachten‹ bis zum ›Mitmachen‹ – und der mit letzterem verbundenen Möglichkeit, die Anforderungen des Lerngeschehens an die angehenden Lehrkräfte am eigenen Körper zu erfahren – verschiedene Formen der Involvierung. Als Datenbasis fungieren neben Beobachtungs- und Gesprächsnotizen und Feldprotokollen auch Videoaufnahmen. Zum einen kommt eine stationäre Kamera zum Einsatz, die eine Überblicksperspektive auf das Unterrichtsgeschehen liefert und zu bestimmten Gelegenheiten genutzt wird, um an einzelne Personen oder Interaktionen heran zu zoomen. Zum anderen werden Videoaufnahmen analysiert, die von den Studierenden selbst als ein Bestandteil des Unterrichts angefertigt werden und gleichsam einen Blick über ihre Schulter erlauben – auf die genaue Funktion dieser Aufnahmen innerhalb des Unterrichts gehe ich weiter unten noch ein. Die Analyse erfolgt zunächst angelehnt an das codierende Vorgehen der Grounded Theory (aktuell Breuer/Muckel/Dieris 2017) und wählt auf dieser Basis einzelne Episoden aus, die einer praxeologischen Feinanalyse unterzogen werden. In der Regel geschieht dies anhand der Videodaten und lehnt sich an das Vorgehen einer interaktionsanalytischen Videoanalyse an (vgl. Tuma/Schnettler/Knoblauch 2013). Insbesondere bei den Aufnahmen der Feldteilnehmer*innen wurde auf einen viergliedrigen Analyserahmen zurückgegriffen, der die Dimensionen des Vor-, Hinter-, Für- und Mit-der-Kamera berücksichtigt (vgl. Moritz 2014). Ich verwende im Folgenden synthetisierte und stark abstrahierte Beschreibungen, die nicht als zu interpretierendes empirisches Datum fungieren, sondern der Illustration dienen. Keeping Together in Time Im universitären Tanzunterricht treffen wir in einer Turnhalle auf angehende Sportlehrkräfte, die sich in Blockformationen vor Spiegeln Hip-Hop- bis hin zu Folklore-Tanzschritte aneignen und diese in »Gestaltungsparametern« wie »Raum«, »Zeit«, »Dynamik« oder »Form« modifizieren und weiterentwickeln
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(vgl. z.B. Behrens 2009), um zu einer Choreographie zu gelangen, die präsentiert werden kann. In anderen Stunden treffen wir die gleichen Studierenden bei der Arbeit in Kleingruppen, bei der ein Bild, Redewendungen oder ein Thema als Ausgangspunkt für das gemeinsame Kreieren neuer Bewegungsformen und deren Zusammenfügen zu kurzen »Stücken« bzw. »Gestaltungen« dienen. Dem Beobachter wird schnell deutlich, dass Bewegung, im Unterschied etwa zu den Bereichen Leichtathletik oder Fußball, im Tanzunterricht weniger funktional – d.h. als Werkzeug zum Erzielen von Toren, Weiten oder Höhen –, sondern als »gestaltbares Material« (Neuber 2002) verstanden wird, bei dem Präsentationsund Ausdrucksdimensionen im Vordergrund stehen (Behrens 2014).12 Das Prinzip des »praktischen Agierens« steht im Zentrum dieses Unterrichts und bedeutet, dieses tanzspezifische Bewegungsverständnis im körperlichen Tanzvollzug zu »lernen«. Zu diesem Zweck ist der Semesterverlauf als eine Aneinanderreihung sich wiederholender Arbeitsformen und Arbeitsprinzipien bei stetig wechselnden Inhalten und Themen gestaltet. Für die Studierenden bedeutet dies einerseits, dass Bewegungsabläufe, sobald sie endlich beherrscht werden, oder Bewegungsideen, die nach einiger Arbeit ihren Weg in eine Choreographie gefunden haben, bald schon wieder passé sind, weil in der nächsten Woche Neues und Anderes von ihnen verlangt wird. Andererseits zeigt sich, dass die Studierenden immer routinierter in und mit den sich wiederholenden Aufgabenstellungen, Arbeitsformen und -prinzipien agieren und charakteristische Unterrichtsabläufe ebenso wie Verhaltens- und Anerkennungsnormen mit zunehmender Selbstverständlichkeit hervorbringen. In der repetitiven »praktischen« Bearbeitung immer neuer Themen und Inhalte werden die Studierenden und ihr tänzerisches Agieren mithin fortwährend als unfertig und als im Werden begriffen destabilisiert. Zugleich formieren sie sich zu einer zunehmend ›eingespielten‹ LernGemeinschaft, die immer routinierter an der eigenen Unfertigkeit arbeitet, indem sie an den exemplarischen Themen und Inhalten ein Einfinden in das tanzspezifische Verständnis von Bewegung öffentlich geltend macht. Dieses Einfinden stellt ein »Einfinden in Rhythmen« (Dinkelaker/Herrle 2010) dar: Wenn sich Studierende über weite Strecken des Unterrichts dadurch 12 Dieses im Feld vorgefundene Tanzverständnis ist offensichtlich stark von zeitgenössischen Strömungen (Rosiny/Clavadetscher 2007) beeinflusst und grenzt sich z.B. von einem Tanzverständnis ab, dass auf das Perfektionieren hoch-formalisierter Tanztechniken setzt (dazu Müller 2016). Teil dieses Selbstverständnisses des tänzerischen Feldes ist es auch, Tanz als eine eigene, vornehmlich implizit und körperlich verfasste Wissenskultur zu begreifen (Brandstetter 2007), die vor allem »praktisch« zugänglich ist.
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als »Lernende« formieren, dass sie sich in den Übungs- und Präsentationspraktiken als »praktische« Tanz-Akteur*innen im Sozialgefüge des Unterrichts positionieren, dann geschieht dies im Zusammenspiel mit einer Materialität und einem technischen Artefakt, die selbstverständlicher Bestandteil jeden Tanzunterrichts sind: die Musik und die Musikanlage.13 In jeder Stunde ist die Turnhalle ständig von Musik erfüllt, die als Taktgeber des Unterrichts und der Bearbeitung von Bewegungs-»Stoff« dient: Die musikalische Füllung und Entleerung des Raumes markiert einen rhythmischen Wechsel von Unterrichtsphasen und aktiviert Personen und Körper zum intensiven Selbst-Engagement auf der Tanzfläche oder stellt sie still und lässt ihre Blicke in Erwartung einer »Ansage« zur Dozentin wandern. In der Bewegungsarbeit markieren Tempo, Takt, Stimmung und Stil der jeweiligen Musik Bewegungsvollzüge als passend oder unpassend und dienen als zentrale Orientierungsinstanz zum Erfinden oder Erlernen von Tanzbewegungen. Die Musikanlage stellt die Steuerungseinheit dieses Taktgebers dar und ein Großteil der »Lern«- und Unterrichtspraktiken organisiert sich um dieses technische Artefakt herum. Sie befindet sich in einem verschließbaren Schrank am Rand der Halle und kann nur von dort aus bedient werden, wobei dies qua ungeschriebenem Gesetz der mit Schlüsselgewalt über den »Musikschrank« ausgestatteten Dozentin obliegt. In Übungssituationen positioniert diese Bedienung die Dozentin am Rand der Tanzhalle und exponiert sie als Einzelperson, die der Gruppe an Studierenden, die sich in der Halle befinden, gegenüber steht. Diese visuell exponierte Stellung nutzt sie für Demonstrationen, um sich als Bewegungsvorbild ›ins Spiel‹ zu bringen und um die Studierenden als ein Kollektiv zu adressieren. In Phasen des intensiven Übens erzeugt die räumliche Konstellation eine panoptische Struktur, in der die Dozentin einzelne Studierende beobachten kann, ohne dass deren Selbst-Engagement es zulassen würde, jederzeit festzustellen, ob sie gerade im Fokus stehen oder nicht. Hinzu kommt, dass im Umgang mit der Musikanlage Autorität über die Akustik erlangt wird: Das Spielen lauter Musik verhindert, dass Anspruch auf den akustischen Raum erhoben werden kann, das Verstummen-Lassen erzeugt eine plötzliche Stille, die von der Dozentin beansprucht wird. In Verbindung von gezielten Ansagen, Gesten, der Position im Raum und der Kontrolle über die Musik scheint die Dozentin Studie-
13 Die neuere, praxistheoretisch ausgerichtete Materialitätsforschung beschränkt die materiellen Dimensionen des Sozialen nicht auf Dinge und Artefakte, sondern berücksichtigt ebenso Materialien (Farbe, Stoffe), Zeichen und graphische Systeme (Schrift, Landkarten), physikalische Phänomene wie Klang und Licht und Substanzen (Wasser, Luft) (Kalthoff/Cress/Röhl 2014: 11-12).
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rende zu aktivieren und stillzustellen und damit ein sich gemeinsam bewegendes Übendenkollektiv rhythmisch zu dirigieren. In diesen Umgangspraktiken mit Musik und Musikanlage zeigt sich demnach eine Rhythmisierung studentischer Tanzbewegungen sowie eine Rhythmisierung und hierarchische Ordnung des Unterrichts. Mit Blick auf die Dozentin verbürgen die Umgangsweisen mit dem technischen Artefakt ein ›Gefühl‹ für situatives Timing, das jenseits bewusster Planung in subtiler Weise am situativen Agieren der Studierenden ausgerichtet ist und von diesem grundlegend mit bestimmt ist. Umgekehrt werden so auf Seiten der Übenden jedes Mal aufs Neue spezifisch abgestimmte Verhaltensweisen gefordert und gefördert, die kollektiv erzeugt werden und zugleich ein Kollektiv erzeugen: Beim Abstimmen auf Bewegungsrhythmen und auf den Rhythmus des Unterrichtsverlaufs fungieren die jeweils anderen Studierenden und ihre Körper als ›Verstärker‹, die Gleichklänge sowie Aus-dem-Takt-Fallen unmittelbar spür-, seh- und hörbar machen und eine körperlich-sinnlich-emotionale Synchronisation befördern. In den wechselseitig aufeinander bezogenen Aktivitäten von Dozentin und Studierenden im Verhältnis zu Musik und Musikanlage (fingerfertige Bedienung, selbst-engagierter Tanzvollzug, aufmerksames Zuwenden etc.) werden die angehenden Sportlehrkräfte somit zu »Lernenden«, indem sie unter den Bedingungen einer von ihnen mit-erzeugten hierarchischen Unterrichtsstruktur des Führens und Folgens und deren räumlichen, visuellen und akustischen Ordnungen ein »praktisches Agieren« situativ vollziehen. Diese Perspektive auf den universitären Tanzunterricht macht das »praktische Agieren« als Teil der »Selbst-Entwicklung« von angehenden Sportlehrkräften somit als ein Bündel kollektiver Praktiken sichtbar, das sich um die Musikanlage und die mit ihr kontrollierte Musik und ihre Einbindung in unterschiedliche doings and sayings entfaltet. Im situativ hergestellten Netzwerk von Studierenden, Dozentin, Körpern, Sprache, Klang und Musikanlage erfolgt die Subjektivierung der angehenden Lehrkräfte als »praktisch Lernende« im selben Akt als Rhythmisierung von tänzerischen Bewegungen und als Rhythmisierung und hierarchische Strukturierung des Unterrichts. Im Zuge dessen konstituiert sich eine »Lern«-Gemeinschaft von Unfertigen, die sich körperlich-sinnlich synchronisiert und mit Dozentin, Klang und Technik koordiniert, um Stunde für Stunde gemeinsam den Takt zu halten.14
14 In einer historischen Perspektive argumentiert McNeill (1997), dass »keeping together in time«, d.h. die Formierung und Durchsetzung von Gemeinschaften über die Zeit hinweg, in verschiedensten Epochen der Menschheitsgeschichte ganz allgemein auf Formen des rhythmisierten »muscular bonding« und damit verbundener sinnlich-
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Dokumentierendes Beobachten Im Tanz-Unterricht ist die Musikanlage ein Beispiel für eine Alltagstechnologie, deren Einbindung in verschiedenste Tanzvermittlungspraktiken in ganz unterschiedlichen Kontexten über die Zeit hinweg bestimmte Übungs- und Arbeitsformen tradiert hat und die deshalb auch in den Unterrichtsbeispielen aus dem Bereich der Sportlehrer*innenbildung als selbstverständlicher und nicht weiter zu hinterfragender Bestandteil gilt. An diesem Beispiel wurde deutlich, wie in einer praxeologischen Analyseeinstellung sichtbar wird, dass und wie dieses technische Artefakt (und der durch es gesteuerte musikalische Klang) grundlegend an der Konstitution der Subjektposition des »praktischen Tanzakteurs« und damit an der Subjektivierung von Studierenden als »Lernende« und an ihrer »Selbst-Entwicklung« beteiligt ist. Im Kontrast dazu lassen sich nun ›neue‹ Technologien betrachten, die kein traditioneller Bestandteil von Tanzvermittlung sind und denen die Funktion der Unterstützung einer Distanzierung vom »praktischen Agieren« zugeschrieben wird: Videokameras und Smartphones. Die Aufgabenstellungen, didaktischen Arbeitsweisen und choreographischen Arbeitsprinzipien, unter denen sich das »praktische Agieren« der Studierenden im universitären Tanzunterricht vollzieht, dienen nicht nur der tänzerischen Befähigung der Studierenden, ein wichtiger Bestandteil der Lehramtsausbildung ist es auch, dass sie von den angehenden Lehrkräften als didaktische und choreographische ›Werkzeuge‹ zum Arrangieren von Tanzvermittlung und zur tanzspezifischen Bearbeitung ganz unterschiedlichen Bewegungs-›Materials‹ erkannt, begriffen und reflektiert werden. Die Studierenden sollen also die didaktisch-methodische Struktur ihrer universitären Tanzkurse nachvollziehen, was im Verständnis der Teilnehmer*innen ein individuelles und kognitives Distanzieren und ein dem »praktischen Agieren« enthobenes nachträgliches Betrachten erfordert. Deshalb wird von den Studierenden verlangt, dass in jeder Einheit zwei von ihnen als VideoProtokollant*innen am Unterricht teilnehmen: Sie dokumentieren das Unterrichtsgeschehen mit Videokameras oder Smartphones und nutzen im Anschluss ein Videobearbeitungsprogramm, um relevante Szenen und kurze Beschreibungen zu einem digitalen Video-Stundenprotokoll zu editieren, das sie dem gesamten Kurs auf einer Online-Lernplattform zur Verfügung stellen. In der Feldperspektive ist es vor allem die konservierende Wirkung des Mediums, die im Prozess des Editierens und in der nachträglichen Betrachtung des fertigen Produktes
emotionaler Koordination – d.h. auf das gemeinsame Takt-Halten (»keeping together in time«) – in tänzerischen und militärischen Ritualen zurückgeführt werden kann.
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ein »Lernen« im Sinne einer kognitiven Distanzierung und Reflexion befördert.15 Digitalisierung hält hier Einzug in den Tanzunterricht, insofern Videotechnologien mittlerweile zum selbstverständlichen Teil vieler lebensweltlicher Praktiken geworden sind und nun in Universitätskursen offenbar für Protokollzwecke verwendet werden können, ohne dass die Studierenden dafür einer Schulung bedürfen oder dass der Unterricht dadurch grundlegend irritiert würde. Eine Analyse dieses Videoprotokollierens kann nach den Quasi-Objektivitäten fragen, die mit digitalen Videotechnologien im Vergleich zu Mitschriften in stärkerem/anderem Maße erzeugt werden, und danach, wie die spezifischen Möglichkeiten der Aufnahme- und Schnitttechnologie den Blick der Studierenden auf den Unterricht konturieren.16 Ich werde gleichsam einen Schritt vorher ansetzen und darauf eingehen, wie sich die Studierenden im Umgang mit den auf visuelles ›Ins-Bild-Rücken‹ ausgerichteten Videotechnologien, d.h. beim Filmen, in das Unterrichtsgeschehen involvieren und wie mögliche ›Blickschneisen‹ durch diese Prozesse bestimmt sind. Während des Unterrichts zeigt der Blick auf die Protokollierenden, dass die Anforderungen der dokumentierenden Teilnahme am Unterricht sie von bisherigen Zugehörigkeiten ›entkoppeln‹ und vor Unsicherheiten stellen: Die räumlichen Positionierungen, die körperlichen Bewegungen und Haltungen sowie die feinmotorische Bedienungsarbeit, die nötig sind, um das Unterrichtsgeschehen ins Bild zu bekommen, entkoppeln die Protokollierenden sicht- und spürbar aus dem Bewegungsrhythmus der »Lern«-Gemeinschaft der Studierenden. Ebenso wie durch die Anforderung der systematischen Filterung von Aufgabenstellungen und Ansagen der Dozentin als Nicht-Adressierte werden dadurch gewohnte Muster des Wahrnehmens und Verhaltens im Unterricht verunsichert und die Protokollierenden dazu aufgefordert, sich neu und anders im Sozialgefüge des Unterrichts zu positionieren. Dies umso dringlicher, weil Protokollieren erfordert, den Unterrichtsverlauf möglichst ›störungsfrei‹ zu registrieren, ohne sich selbst zum Thema zu machen, wobei die Kameraarbeit aber nicht per se unauf-
15 Eine zweite Funktion ist es, dass die Videoprotokolle den Studierenden auch nach ihrem Studium noch als Erinnerungsdokumente dienen sollen, mit denen sie sich exemplarische Themen und didaktisch-methodische Herangehensweisen vergegenwärtigen können. 16 Im Forschungsprojekt wird auch das Editieren der Videos am Computer durch die Studierenden, d.h. das gemeinsame Erstellen ihrer Version der jeweiligen Sitzung, von mir videographiert und analysiert. Die Ergebnisse können noch nicht in diesen Beitrag einfließen.
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fällig ist:17 Jedes Ausrichten der Kamera auf Personen verteilt Aufmerksamkeit und exponiert die Gefilmten wie auch die Filmenden; mit jedem Ein- und Ausschalten, Fokussieren und Schwenken werden öffentlich sichtbar Relevanzen gesetzt und das Geschehen sequenziert. Eine Positionierung als protokollierende Unterrichtsteilnehmer*innen erfordert mithin, dass sich alle Partizipanden wechselseitig aufeinander einstellen, um in unterschiedlichen Situationen den Unterrichtsrhythmus und den ›Lernbetrieb‹ am Laufen zu halten und gleichzeitig eine distanzierte Beobachtung dieses Geschehens zu ermöglichen. Dies geschieht z.B. indem die Kameraarbeit der Protokollierenden bei den Übenden auf subtile Gesten, Blicke, Sich-Entziehen oder -Zuwenden bis zu expliziten Zurückweisungen oder Aufforderungen zum Filmen trifft und daran gleichsam wie an Leitplanken aneckt, wodurch sich »Lern«- und Dokumentationsaktivitäten interaktiv aufeinander abstimmen. Dies betrifft auch das »distanzierte« Sehen von Unterrichts-›Bausteinen‹ und choreographischen Werkzeugen: In ihren mitunter unbewusst auf die Filmenden Bezug nehmenden Verhaltensweisen markieren die Übenden Wichtiges, Richtiges sowie Nebensächliches und Nicht-zum-Unterricht-Gehöriges und machen damit Relevanzsetzungsangebote. Noch bedeutsamer die Dozentin: Es lässt sich beobachten, wie sich die Protokollierenden in ihren Kamerabewegungen, dem Ein- und Ausschalten der Kamera bis hin zu ihrer Positionierung im Raum an den Bewegungen, Gesten, Positionierungen in der Halle, Hinweisen, Korrekturen und Bestätigungen der Dozentin orientiert. Sie schmiegen sich im mimetischen Sinn (Gebauer/Wulf 1998) an eine von der Dozentin verkörperte Perspektive an und strukturieren so ihren körperlich-technisch vermittelten Blick auf Unterricht schon lange bevor sie die Video-›Konserven‹ nach der Unterrichtsstunde »theoretisch« reflektierend begutachten. Während im Selbstverständnis des Feldes Videokamera und Smartphone Werkzeuge einer konservierenden Vorarbeit für eine nachträgliche distanziertreflektierende Betrachtung sind, erkennt eine praxeologische Perspektive ihr konstitutives Verwoben-Sein mit relational aufeinander bezogenen Subjektposition: In den geteilten Umgangspraktiken mit der Kamera und ihrer Einbettung in die anderen Praktiken des Unterrichts (z.B. der Umgang mit der Musikanlage zur Rhythmisierung von Tanzen und Unterricht) konstituieren sich »distanzierte Beobachter*innen«, »praktische Akteur*innen« und »Dozentin« wechselseitig. Das Prinzip der »Distanzierung« als Teil der »Selbst-Entwicklung« der Studierenden zeigt sich als ein soziotechnischer Prozess, in dem eine in den vorherigen 17 Zum Erstellen von Stundenprotokollen als einer ›unauffälligen‹ Unterrichtstechnik und zu einer ausführlichen Herleitung der nachfolgenden Ausführungen am empirischen Material, siehe Rode/Stern (im Erscheinen).
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Unterrichtseinheiten bekleidete Subjektposition verlassen und eine neue angeeignet wird und Irritationen gewohnter Wahrnehmungs- und Handlungsmuster sowie die kollektive Formierung neuer Wahrnehmungs- und Handlungsfähigkeiten gefördert und gefordert werden.
Z UR M EDIALITÄT
VON
»S ELBST -E NTWICKLUNG «
Ich habe mich in diesem Beitrag dem Verhältnis von Digitalität und Selbst genähert, indem ich mich am Beispiel der universitären Ausbildung von Sportlehrer*innen institutionalisierten Bildungspraktiken gewidmet habe, die »SelbstEntwicklung« unter der Formel »vom praktischen Akteur zum Arrangeur von Schulsport« für sich zum Thema machen. In einer praxeologischen Perspektive habe ich deutlich gemacht, dass »Selbst-Entwicklung« als Subjektivierung eines gekonnten Mitspielens im »Lernen« dieses Feldes untersucht werden kann. Für den ›Lernbetrieb‹ im Studienbereich »Tanzen und Gestalten« habe ich gezeigt, dass die Formierung der Studierenden als Mitspieler*innen einen soziotechnischen Prozess der Re-Positionierung darstellt, zu dem es gehört, sich im situativen Wechselspiel miteinander, mit der Dozentin und mit Musik, Musikanlage sowie Videokameras und Smartphones als »praktische Tanz-Akteur*innen« und als »distanzierte Unterrichtsbeobachter*innen« zu subjektivieren. Ich habe die Digitalisierung dieses Unterrichts somit in der Perspektive einer Partizipation digitaler Technologien untersucht und herausstellen können, inwiefern schon das scheinbar selbstverständliche protokollierende Filmen mit einem Smartphone oder einer Kamera sich in fundamentaler Weise auf die Selbst-Positionierung als Unterrichtsteilnehmer*in auswirkt. Ausblickend lassen sich diese empirischen Einsichten skizzenhaft in theoretische Überlegungen zur Medialität des Sportlehrer*in-Werdens im Speziellen und der Subjektivierung in »Lern«-Praktiken im Allgemeinen überführen. Denn dass es beim Verhältnis von Digitalität und Selbst immer auch um Medien geht, scheint unstrittig, wie Medialität aber zu analytischen Zwecken systematisch in einer hier veranschlagten praxeologischen Perspektive berücksichtigt werden kann, scheint mir derzeit noch offen. In einem ersten Zugriff lässt sich der jeweilige mediale Charakter verschiedener am Unterricht und den sich dort vollziehenden Subjektivierungsprozessen beteiligter Materialitäten und Technologien bestimmen: Die Musikanlage und die Musik sind maßgeblich für die Rhythmisierung der »Stoffbearbeitung« und damit der Wissens- und Könnensarbeit des Unterrichts. Sie stellen allerdings kein »Wissensmedium« dieser Arbeit dar, wie es im Schulunterricht oder in der Vorlesung etwa die Wandtafel ist, die »Stoff« und »Wissen« in Zeichenform
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präsentiert und dadurch be-greifbar macht, dass sie ihre eigene mediale Darstellungsleistung zugunsten des Dargestellten unsichtbar macht (Röhl 2013). Im Tanzunterricht übernehmen Körper und Bewegung diese Funktion als Wissensmedien, etwa der zu Demonstrationszwecken exponierte Körper der Dozentin, die tanzenden Körper der anderen Studierenden oder der im Spiegel sichtbare eigene Körper. Musik und Musikanlage kommen in diesem »Lernen« hingegen eine infrastrukturelle Funktion zu: Sie strukturieren die räumliche, die visuelle und die akustische Ordnung des »Lernens« und bleiben dabei als technische und materielle Gegebenheiten im Hintergrund, indem sie zu keinem Zeitpunkt selbst zu »Lern«-Gegenständen erhoben werden. Der mediale Charakter der Videokameras/Smartphones in dieser »Lern«-Praxis ist weder präsentativ, noch infrastrukturell, sondern aufzeichnend. Sie sind integraler Bestandteil eines »Aufschreibesystems« (Kittler 2003), welches das flüchtige Wissen des TanzUnterrichts selektiert, konserviert und ›härtet‹. Dabei stehen sie besonders zu Körper und Bewegung als weiteren zentralen Speichermedien des Tanzunterrichts in Kontrast: Ein tanzspezifisches Bewegungsverständnis wird nicht nur an und mit sich bewegenden Körpern zu Lernzwecken dargestellt, diese werden im Zuge dessen auch geformt und transportieren so ein entsprechendes (inkorporiertes) Wissen und Können von einer Unterrichtsstunde in die nächste, damit es dort ergänzt, erweitert und modifiziert werden kann. Die Videokameras/Smartphones erlauben hingegen ein technisches Aufzeichnen, das andere, nämlich gerade nicht »körperlich-tänzerisch agierende« Formen der Involvierung in die Unterrichtspraxis beansprucht. Die »Selbst-Entwicklung« als soziale Re-Positionierung vom »praktischen Tanzakteur« zum »distanzierten Unterrichtsbeobachter« ist grundlegend an diesen Medienwechsel vom körperlichen Tanz-Vollziehen zum technisierten Aufzeichnen gebunden, der die Studierenden und die von ihnen verkörperte Perspektive auf das Unterrichtsgeschehen sowie das, was es jeweils zu sehen gibt, transformiert. Über diesen Zugriff hinaus wurde in der praxeologischen Analyse aber auch deutlich, dass diese Medien ihren medialen Charakter nicht per se und nicht alleine ›besitzen‹, sondern dass dieser im Zusammenspiel mit Aktivitäten und (Nicht-)Umgangsweisen von Personen, entsprechend geformten und disponierten Körpern, Sprache, anderen Materialitäten wie den Spiegeln oder dem Hallenboden etc. erzeugt wird.18 In einem praxeologischen Vokabular sollte deshalb von medialen Konstellationen gesprochen werden, in denen sich Medialität 18 Auch das Führen eines mathematischen Beweises an der Tafel erfordert z.B. einen entsprechend befähigten Körper und eine kommunikative Einbettung für das Publikum, damit die Tafel zu einem präsentativen Medium dieser Praktik werden kann (vgl. als Beispiel Greiffenhagen 2015).
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konstituiert, das »Lernen« des Tanz-Unterrichts hervorgebracht wird und Personen als »lehrende«, »praktisch agierende« oder »distanziert beobachtende« Subjekte Geltung erlangen, je nachdem, wie sie sich in diese Konstellationen verstricken. Eine praxeologische Analyse von »Selbst-Entwicklung« in Zeiten digitaler Kultur kann mithin an den spezifischen medialen Konstellationen ansetzen, in denen sich Personen als Mitspieler in sozialen Praktiken subjektivieren. Sie kann nach charakteristischen Verflechtungen unterschiedlicher Partizipanden und ›ihren‹ präsentativen, infrastrukturellen und registrativen Medialitäten fragen. So können z.B. im Rahmen einer Praxis die unterschiedlichen Funktionen analoger und digitaler Medien gegenüber gestellt werden, es können Veränderungen im Zuge der Ablösung ›alter‹ durch ›neue‹ Technologien nachgezeichnet werden, 19 oder es kann beobachtet werden, was passiert, wenn Digitales Einzug erhält, das ›Alte‹ aber noch präsent ist (z.B. Röhl 2013: 165ff.). Eine Praxeologisierung des Verhältnisses von Digitalität und Selbst, die derart auf die Medialität des sich immer häufiger unter digitalisierten Bedingungen vollziehenden Aus- und Umformens von Praktiken und Subjektivitäten ausgerichtet ist, ermöglicht es mithin, empirisch detailliert nachzuvollziehen, wie genau gegenwärtig gilt: Keine Bildung ohne (digitale) Medien!20
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19 Wie unterscheidet sich etwa die »Selbst-Entwicklung« in einem universitären Tanzunterricht, in dem schriftliche Stundenprotokolle angefertigt werden? Welche Involvierungen und Positionierungen realisieren sich dort? 20 Zur medienpädagogischen Initiative, die den Ausspruch »Keine Bildung ohne Medien« für sich als Leitformel verwendet, siehe http://www.keine-bildung-ohnemedien.de/.
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Learners as Chance-Seekers E MANUELE B ARDONE
The main objective of this text is to present a view on learning. Specifically, this view is based on the idea of chance-seeking (Bardone 2011 and, 2016). Indeed, learning has been the object of a countless number of theories, perspectives, frameworks, empirical analyses, etc. Therefore, my contribution is in a way yet another account that tries to look at learning in a more systematic way. So, why bother? While introducing the topic of his lecture on science, one of the greatest theoretical physicists of all time, Richard Feynman, said that we have to repeat good ideas already developed in the history of man. The reason is that there are new generations born anew every day, and good ideas do not last unless they are passed on (Feynman 1999: 4). What is the great idea I am trying to pass on? What could this text be a reminder of? Learning as such is not unique to humans. Animals learn too. And to some extent even the creatures inhabiting the vegetative world, namely, plants, exhibit some kind of adaptive behaviour comparable, to some extent, to learning (Garzon/ Keijzer 2011). However, while a dog is eventually trained as the result of a learning process, learning in humans may have a very different impact: it potentially leads to a transformation of one’s own being in the world, which is visible at the personal as well as social level. In other words, learning in humans is potentially educational. By this I mean that it has something to do with the way in which we become and develop as subjects with our own goals, purposes, hopes, aspirations to be pursued individually or/and collectively as part of a larger social whole. This is something that might be connected with the idea of conviviality, which was developed by Illich (1973), who wrote: »I choose the term conviviality to designate the opposite of industrial productivity. I indent it to mean autonomous and creative intercourse among persons, and the intercourse of persons with their environment«. (p. 24) This is in stark opposition to the idea
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of being mere instruments that may be able to perform a certain task or set of tasks. What I will hopefully achieve at the end of this chapter is to give a hint as to what learning could look like ›from the inside‹. However, what I will present is not a theory on learning. Conversely, it stems from a concern for learners and the articulation of one important aspect of learning. Although learning can be pursued instrumentally, e.g. to find a better job, to achieve a higher social status, or to please parents and grandparents; it is a fundamental expression of our being projected upon the next happenings and as such it is fundamentally open and forward-looking. The idea of learning as chance-seeking tries to capture this element and articulate it so as to do justice to learning and what learners experience. Before turning to the actual structure of the chapter, I would like to begin with introducing the sort of ›methodological approach‹ that the reader will find applied in the chapter. Learning is essential to our being human (Richerson/ Boyd 2005; Ingold 2004). Which means that learning plays anyway a big part in our lives: we cannot separate the two – living and learning. This suggests that one way to approach learning is precisely that of looking at the lives of learners. That is the vantage point from which we may study and learn about learning. In a nutshell, focusing on the lives of learners means that we cannot study learning without referring to particular learners. This is in opposition to the dominant discourse in the Western world that focuses on terms like skill or competence, which often robs learning of its context and its lives. There are two major consequences that we can derive from this approach. The first is what we may call ›the primacy of particular lives‹. This means that we do not look at how learning should be, but how it actually happens in the actual and particular lives of learners. This means to adopt and retain a more ethnographic look, which resists the temptation to idealise or typify learning. Conversely, it is committed to render the experience of learning as it happens. This is in sharp contrast to those approaches that apply a sort of ideal image that exists prior to the practice (Allert/ Richter 2016). The lives of learners have their own raison d'être. In direct analogy with the work of ethnographers and anthropologists, the goal is, in other words, to provide an account of the lives of learners, not to normalise them. It follows that the approach I am describing is existential, as it assumes that existence precedes essence, according to the claim made by Sartre in his famous post-war lecture Existentialism is a Humanism (2007). In the present context, this statement means that it is the way the learner’s life unfolds in time that creates its own image, which consequently can only be seen by looking backwards – after the process has come to an end.
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The second aspect specifies even further the existential character of my ›sort‹ of methodology (see Jackson/Albert Piette 2005). In creating accounts of the lives of learners we turn to the variability and particularity of what Graeber (2011) referred to as »the very small things«, the minutiae of our everyday life (Chia/ Holt 2011). Minutiae is a Latin word, which refers to the details, the tiny bits characterising the phenomenon under investigation. This responds to the necessity of rendering the lived lives of learners and so focusing on the particulars as opposed to the abstractions that willy nilly create an image of learning deprived of its actual happenings in the search for ›patterns‹, ›regularities‹, ›typologies‹, and an alleged ›effectiveness‹ and ›efficiency‹. I come now to the structure of the chapter. In the first part I will present two fictional stories. They will describe two fictional characters, which I named respectively Orvar and Priit and their own lives as learners. Why fictional? The term fictional (and fiction) is characterised by a certain degree of ambiguity. It may refer to science fiction, for instance. In another context – that of modelling – fiction refers to something abstract as opposed to something that is not (e.g. Godfrey-Smith 2009). The ontological status of models – usually expressed in the language of mathematics – is eminently fictional, because models do not relate back to something real that we find in our world. With the rise of the socalled post-truth politics and fake news, fiction may also refer to an arena that is politically contested, in which truth no longer has the value it used to have. This is not how I use the notion here. In this specific context, terms like fiction and fictional refer to the way in which the variability, the particulars, the minutiae of a life can be presented so as to accomplish the specific goal of focusing on certain aspects of learning that cannot be detached from the lives of learners. So, turning to fiction is not a contradiction. But, in this specific context, it has the function of magnifying, so to say, the possibility of showing the connection between learning and chanceseeking, which is the main goal of the chapter. That fictions can accomplish such a task is not my own invention. For instance, the world of literature is full of what would indeed qualify as thick descriptions (Geertz 1973). They may describe historical conditions, cultural traits, happenings, personalities, phenomenological states, experiences, and so on. Yet they are fictional (Geertz himself thought that thick descriptions are fictional to some extent, because they are made). In a way even philosophy, especially at the beginning of its history, had profitably adopted fiction. Think of Plato’s dialogues, in which non-philosophical happenings provide the pregnant context for the presentation of the arguments that would follow one another. Would Plato’s Symposium have been the same, if the conversations around love had not been
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happening precisely during a symposium? Even physics is not foreign to fiction. For example, part of Democritus’s scientific work on cosmology, which influenced the likes of Einstein and Newton, is known to us chiefly thanks to a poem called De Rerum Natura by Lucretius (see Rovelli 2014). In ethnography, fiction has entered the scene with the so called ethnodrama. Interviews, participant observations, fieldwork notes, etc. are presented by making use of the traditional craft and artistic techniques of theatre production, usually a staged script (Saldaña 2005). But apart from that, there is a crucial point characterising the reality of fictional accounts. It is a common experience to be totally immersed while reading a good story. The characters seem so real, so it is easy to identify oneself with them. In some cases, literature can even be therapeutic, as it speaks so much about lived life and its predicaments. I posit that it feels so real precisely because a story is an exemplar of what actually happens to us. It provides a vast amount of details or, better particulars. It is then up to the reader to extract more general lessons that are somehow tacitly implied in the fictional account. This is a point made very clear, for instance, by Stake (1995) in his case-based methodology and later by Flyvbjerg (2001) and his phronesis-based approach. Although they do not talk about fiction, they claim that cases offer much more than we generally think, because they show a possible instantiation of something general. I should mention that the two fictional stories are not entirely fictional, though. They are sourced from my own experience – whether it is something that has actually happened to me or somebody else. This does not mean that everything I recount actually happened. Some details were made up to make the stories easier to follow. They might have happened, though. And this is the background against which stories like mine should be judged. That is, if they are somehow realistic enough. Indeed, as far as I am concerned the judge can only be the reader. One last note: I will be dealing with learning from the learner’s point of view. The reader might be surprised to see that an important character will be missing, which is that of the teacher. The choice is somehow conscious and it is not intended to diminish the importance and value of the teacher (Biesta 2016). The reason for such choice is that I wanted to avoid the identification of learning with some form of schooling. I therefore prioritise in my stories forms of learning belonging to what is called ›autodidaxy‹.
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F ICTION
Orvar Orvar is a 27-year-old man. He works in a company dealing with logistics and holds a university degree in management. He has never been particularly active in politics. As many young men of his generation, he was always quite indifferent to political events and issues – until his uncle lost his job, as the company where he used to work decided to close down the factory and move production overseas. Initially, the whole thing left Orvar pretty much indifferent, although, indeed, he felt sorry for his uncle. However, the situation was precipitated by his uncle’s attempt on his own life. Luckily, they found him in time, although as a result of his attempted suicide, Orvar’s uncle is now crippled. This episode made Orvar reflect. He did not know anything about psychology, and having never experienced any suicidal thoughts himself, he could not quite make sense of what had happened. He remembered something from high school though, a talk that went viral on the net. It was Randy Pausch's Last Lecture. Pausch was an American professor at Carnegie Mellon, who was diagnosed with cancer. In a very touching attempt to make sense of what was going on in his life, Pausch delivered a lecture on his achievements and life, which instantaneously became a big hit, and the book that was released afterwards was translated into several languages. He died a few months later. Orvar had been always very much impressed by the courage and love for life that Pausch displayed on stage and could not believe that a person may come to take his own life. In a rather short period of time he started a sort of journey into the nature of happiness, which increasingly absorbed part of his free time and weekends. He began with a few inspirational TED talks on YouTube. He got acquainted with the likes of Dan Gilbert and Malcolm Gladwell – major TED celebrities and best-selling authors. These were short and engaging talks that provided an initial hint at the topic. He did not have any particular plan in the beginning. He would just browse YouTube recommendations and one video just led to another in a rather desultory way. Between one video and the other, he would play some music, chat with friends and do all the stuff that a young man would do with his laptop. Occasionally, he would have some talks with his co-workers, who, however, were not particularly interested in what soon became some kind of private philosophical wandering. Until one day a new co-worker, who participated in Occupy Wall Street in the US a few years back, mentioned a book just published called
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The Happiness Industry written by William Davies. This book seemed to be radically different from the stuff that he had previously come across in his erratic youtubing. He decided to buy it from Amazon, where he turned to every time he had to buy books in English. To his surprise, he found the book of great interest, as it was not so much discussing the nature of happiness as how working conditions could affect one’s well-being. In particular, he was struck by the chapter devoted to the history of stress. He was surprised to get to know that stress designates a cluster of symptoms, not a disease, which cannot be diagnosed. He also learned a great deal about behaviourism, which was just one of the many labels that he heard in passing in a course that he attended at the university, and indeed, he didn’t take much notice of back then. He learned that psychologists from late 1800 onwards were very much involved in trying to figure out how to make workers more productive (or simply less prone to work fatigue and exhaustion). Happiness now was not just a personal pursuit, but something that was being connected to society in a rather surprising way. One day, while accompanying his girlfriend to the local bookshop to buy a gift, he stumbled upon a book called Austerity by Mark Blyth. He had heard this word on the news. The government introduced austerity policies, which resulted in massive cuts in public expenses. Fuelled by a new interest in society and politics, he did not think twice and bought the book. The book was not an easy ride. Orvar realised that he lacked most of the vocabulary in English pertaining to political economy. So, he turned again to YouTube. He specifically looked for a presentation that could provide a sort of overview of the book. He realised that Blyth was somewhat of a celebrity on YouTube. And his Scottish accent made the whole experience even more interesting. Not being a native English speaker, Orvar had always found it intriguing to get more acquainted with different English accents. Although he still lacked a plan, he was determined to learn more and more about how tax rates, productivity, and growth rates are all interconnected. He even joked with his friends saying that he wanted to go back to university and study political economy – the subject that Blyth teaches at Brown University in the US (from William Davies he learned that political economy is the original term to designate what is now commonly known as economics). As Blyth often mentioned Neoliberalism as a label to describe the ideology behind austerity, Orvar became interested in it, and tried to find some sort of guide that could help. And he found a book called A Brief History of Neoliberalism by David Harvey. Unlike Blyth, David Harvey was not teaching political economy, but geography. The book was actually published in 2005 and in there
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Harvey provided a historical perspective on Neoliberalism. Orvar managed to find a copy in PDF from the Net that he avidly read on his tablet. Before stumbling upon Blyth and Harvey’s works, none of the things on happiness that he had listened to on YouTube or read occasionally in blogs had made him think that his uncle’s attempted suicide would or could be somehow connected to the social and political predicaments of the present time. Now his original interest in happiness took an unexpected turn. A Google search showed that Harvey had written an impressive number of books in the past decade and most of them were about capitalism, of which Harvey was – and still is – one of the finest critics. Initially met with a bit of scepticism, Orvar came across and learned about a few fundamental concepts like accumulation by dispossession, the distinction between production and realisation, which broadened his intellectual horizons and helped him get a better view on historical and social processes that had always eluded him, and his interest. Recent events in the political global arena (chiefly Brexit) made the whole thing even more relevant. He then continued to look for other materials about the topic and found iTunes and its podcasts to be quite a resource. He would download a talk and listen to it while driving home from work, sometimes more than once, as they often contained rather complicated concepts. On Twitter, he bumped into a few accounts providing valuable suggestions such as the Twitter account called »Sociological imagination«. He also subscribed to their blog, which poured into his email account one or two short daily blog posts about politics and the social sciences, which he found witty and educational. Thanks to one of their tweets Orvar stumbled upon a talk called »How will capitalism end?« delivered by the German economist Wolfgang Streeck. He found that the talk was based on one of Streecks’s recent books called »How Will Capitalism End? Essays on a Failing System«, which he could quickly find in electronic format in one of those dodgy websites distributing free books in PDF. The book proved to be quite a resource, as it gave a number of insightful explanations that helped him understand and become aware of the social predicaments of the present time. Like, for instance, the decoupling of democracy from capitalism, the notion of fiscal consolidation, and the present social fragmentation, which made Orvar realise the limitations of the idea of »network society« that he had previously embraced. Over a period of time that spanned about one year or so, which followed the tragic event of his uncle’s attempted suicide, Orvar got his own initiation into social and political issues, which transformed his worldview and his priorities.
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Priit Priit is a 44-year-old man, and a father of three children. He works as a salesman in a company selling cars. A few years ago, after a medical check, his doctor suggested him to do a bit of physical exercise, to avoid the health problems that at his age become more and more frequent. After trying a few different workouts in the gym, he could not find anything that suited him. Long working hours would make him feel tired and wanting something to evade the daily routine. So, he was in desperate need of any activity resembling some kind of sports that could keep him active. One day at work he was dealing with a client who, during a routine test drive, put on the back seat a small flashy silver case. For the entire test drive Priit was wondering what the case contained, until he decided to satisfy his curiosity and asked the client. The silver case – not bigger than a seven-inch laptop – contained a table tennis racket (or bat), which looked as professional as the silver case that had previously attracted Priit’s attention. Once they got back, Priit rushed into his office, visibly excited, telling his colleague and office mate about his epiphany: they should start playing ping pong. Priit had played a bit during his adolescence. Nothing serious, but at least he could knock the ball over the net without looking like a contortionist. His colleague Mario used to be an amateur tennis player, which meant for Priit that he could somehow learn fast or at least be interested in his ›project‹ and become a good ›ping pong buddy‹. And so he was. The company building had a free spot in the backyard large enough to accommodate a real ping pong table, which the pair bought a few weeks later in a second-hand shop. At first the pair would just play once in a while, inviting some of their colleagues to join them during longer and longer breaks. Priit justified this, citing an article he had found on Facebook suggesting that playing ping pong at the workplace increases productivity among workers. Unlike his office mate, who always remained moderately excited about the whole thing, Priit increasingly got more and more into table tennis, and the prospect of learning how to play properly. Which meant like those crazy guys who could hit the ball at each other with phenomenal speed. After some time Priit and Mario could indeed have a few nice and rather fast rallies once in a while. Yet Priit felt that there was something wrong with his style. Or, better, that there must have been something wrong, since he could not release all the power that he felt he had in his body. He was always sort of ›holding back the shot‹. The first thing he decided to do was to try out different grips, that is, different ways of holding the bat. So, he turned to YouTube. Predictably,
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YouTube became a treasure house. He quickly seized the opportunity of tapping into a vast number of channels providing video tutorials of all kinds, and levels. He fairly soon became quite fond of two YouTube channels in particular: PingSkills and Table Tennis University. One video led to another, and without any specific plan in mind Priit quickly gained a lot of knowledge not only about the two main grips – which was his initial challenge – but also about different strokes, which he would now diligently put into practice with Mario during the breaks at work. His repertoire grew dramatically. Initially limited to what he learned to be ›backhand strokes‹, he learned how to hit the ball with the forehand. This type of stroke, which is not as intuitive as the backhand, marks the difference between beginners and all the rest of the players. This shot requires the involvement of the whole body, which a beginner may think is not needed, because ping pong seems to be more a pastime than a serious sport. Learning how to perform the forehand led him to getting more and more involved and thus learning and practising different types of spin, which he learned to be a fundamental ingredient in modern table tennis. The story goes that since the introduction of modern bats, which resemble a sandwich (because of the two rubber sponges applied to the two sides of a blade), a player can put different types of spin on the ball. As a consequence, a moving ball – Priit diligently learned – is characterised by two types of speed. The most intuitive one is the so-called linear speed of the motion of its centre. This is what we refer to when we say that ›the ball is going very fast (or slow)‹. The spin applied to the ball is basically a second type of speed, which is called ›circumferential‹. In plain English, this is how fast the ball rotates around its own axis. The two speeds add up. Depending on how the ball is struck, though, the circumferential speed may cause the ball to run forwards, adding up to the linear speed, backwards or sideways. So, the ball may get faster, it may miraculously get back to the player like a boomerang, or it may take surprising trajectories, going right or left without any further contact with the bat. This sort of introduction into the science of spin was important, because it allowed Priit to realise that different strokes apply different types of spin. He also learned that each spin would require a specific type of stroke to be countered: backhand flick to counter a sidespin/backspin ball, backhand or forehand push to counter a backspin ball. Topspin would be countered by backhand or forehand loops – the latter being a highly aggressive and spectacular stroke. He would put his knowledge to the test by practising.
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Interestingly, Priit stepped into the role of a teacher for a while, trying to teach his colleague how to do all these strokes. This made the whole thing even more enjoyable, as he could share everything he had learned with Mario. As he became more and more familiar with the different strokes and how to counter different spins, he realised he could understand the whole game much better. Once again, YouTube proved to be helpful, offering a huge library of matches from all eras in which to appreciate all the strategic and technical nuances of the sport. As a result, Priit could now understand and therefore enjoy the matches among top players. He learned about different types of serve and its strategic role, the so-called third stroke attack and the different opening strategies (that is, how to start an attack). He realised that ping pong is far from being the robotic type of sport that it seems to be in the beginners’ eyes. He had the chance to develop this initial insight, when, in a bookshop at the airport, he stumbled upon the The Metaphysics of Ping Pong. This book did not contain tutorials or tips on how to play well. Conversely, it was the story of Guido Mina Di Sospiro – an Italian writer living in the US – and his passion for the sport. The book helped Priit unveil the hidden connections that this apparently simple sport has with what Mina Di Sospiro called in the book »perennial philosophy«. The book looked at the history of thought through the lens of ping pong. In this way Priit had a sort of crash course in the History of World Philosophy, which included bits and pieces of Ancient Western Philosophy (chiefly Plato), Sufism, Confucianism and Taoism with a final twist provided by a chapter devoted to the (more recent) ideas concerning the theory of chaos, and homo ludens – all somehow related to ping-pong, which now Priit would look at more as a practice analogous to karate or judo than a regular sport like football or tennis.
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If the fictional stories are supposed to present and magnify certain aspects related to learning, what actually are those? Can we articulate them in a more coherent and systematic manner so as to provide a general idea about learning as essentially open? The general idea I will present over the following pages is that learning can be viewed eminently as a forward-looking activity. Or to use a terminology I have developed over the past few years (Bardone 2011, 2016), learning can be considered an activity of chance-seeking. This particular view can be illustrated by resorting to five main tenets, which I will describe in detail by referring back to the two stories. The five tenets are:
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Learning is not exceptional but abundant, and it happens (potentially) any time, everywhere; Learning happens over time and we learn what we eventually learn; The deliberative element of learning is captured by tinkering (not planning); The goals of learning are plural and dependent on the lives of learners; The forms that learning takes are historical and therefore relative to the present time.
Let us look at them one by one. Learning is not Exceptional but Abundant and it Happens (Potentially) any Time, Everywhere What we see from the two stories presented above, is that learning is nothing exceptional. We tend to think of learning as something that needs some kind of structure (a course) or a serious intention. However, that does not imply that learning is something rather unique in one’s life, something that should be done consciously and conscientiously. Although signing up for a course is a good way to learn something, learning is possible under very different circumstances. We may even say that we may potentially have something to learn almost every day. It is just that we do not pay sufficient attention to that, because it is almost like a habit. It is tacit. In this sense, I claim that there are plenty of chances around us that may make us learn something. That is, we (may) learn a lot. Let me go back to our stories. Indeed, there is a sense of abundance the moment in which we just list the things that a person could learn in unplanned interactions. A closer look at our two stories may help me clarify this point. Orvar quickly seized upon a quite complicated set of conceptual tools for understanding the present time. Concepts like austerity, fiscal consolidation, Neoliberalism, public debt and its dynamic with private debt, accumulation by dispossession. And even more than that, Orvar learned that the fate of a person – his uncle – may not necessarily be framed as a personal problem, but as an issue concerning the highly intricate relations between personal circumstances, on the one hand, and social and historical events, on the other. Priit learned not only how to hold a table tennis bat, but he got introduced into a fascinating world – that of table tennis, made of different and un-assorted bits and pieces. From its recreational aspects, to the science of spin, from disci-
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plining the whole body to perform highly spectacular strokes, like forehand loops to the theory of chaos and Sufism. Once we realise that learning is not exceptional or that it is not necessarily identifiable with the duration of a course in which we say ›we are learning something‹, there are really no borders to put up in order to delimit the place and time of learning. In this sense, the common distinction between informal and formal may not be so poignant, as soon as we admit that learning is somehow ubiquitous. Either at school, at home, on a laptop, at the dining table, we just learn something. Indeed, the distinction between formal and informal learning captures something important, but that has to deal more with the organisation of learning (and education) rather than learning per se and the variety of ways in which the learner can experience it, which cannot be reduced to the distinction between the informal and formal. In our stories, the two main characters learn something everywhere at any time. In a bookshop, where they learn that there is an interesting author whose book is worth reading. They are learning by playing, by sitting in front of the computer while watching a ping pong match, in the night, during a break at work. There is a dense network of interactions as well as chance encounters that radically boost the possibility of learning something. The ubiquity of learning hints at the fact that it can also be considered as a continuum of experiences characterised, in other words, by continuous and meaningful exchanges with the environment. So, to make a rather trivial example, one YouTube clip leads to another. Or it may lead to a book, a discussion with a colleague, a surprising fact about which we feel the sudden urge to know more. Such flow does not really end. Unless forced, there are no real borders. Indeed, I do not want to give here the impression that I mean learning is unconstrained, that is, free from any influence. For example, the selection of the kind of YouTube clip is not entirely up to the learner. YouTube provides automated recommendations and such choices are made without the learner having their say. So, during their youtubing, both Orvar and Priit were not actually free to choose what to watch. As I have just noted, YouTube recommendations follow an opaque logic, or at least not entirely transparent to Orvar and Priit. I will come back to this issue in the last section.
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Learning Happens in Time and We Learn what We Eventually Learn The sense of continuity that I have just described is very much captured by the term »flow« popularised by Csikszentmihalyi (2002) and points to the fact that learning is ultimately a temporal activity, that is, an activity that unfolds in time. This implies that learning might be considered more as a process rather than exclusively in terms of specific outcomes, which the process is instrumental to. In contemporary education, the discourse around learning objectives and acquiring specific competences has become the dominant way in which we think of learning. Historically speaking, this might be explained by the fact that under the Neoliberal ideology, the relationship between learners and educational institutions increasingly resembles one between service providers and customers. A contractual relationship inevitably implicitly specifies what is actually offered and what one may expect to receive. This is quite close to what Biesta (2010b) called »learnification«. Besides, this is also the reassurance that educational institutions (schools, universities, etc.) do not waste tax payers’ money. On a more abstract level, the view that I have just presented might be called the engineeristic view of learning, which resembles what Combs called the myth of the industrial model applied to learning (and education) (Combs 1979: 39-43). Accordingly, learning can be compared to programming a computer. Which means that the whole teaching process consists in imparting a list of instructions that can be understood by the recipient, the computer-like learner (see Magnani 2001 and his discussion on the Meno’s paradox). Learning equates with achieving the desired outcome by following the prescribed recipe independent from the context of application and therefore scales. That is, once it is used with this learner or this class of learners it can be used with that learner or that class of learners. The recipe may indeed change, but the general approach does not. The engineeristic approach has the major drawback of closing off the entire learning process from any element not contemplated beforehand and whose actual value cannot be entirely factorised. Learning is and should be planned. Or, better, pre-ordined in an ideal form, »which we take to be a goal and we act in such a way as to make it become fact« (Jullien 2004: 3). Consequently, time is just a variable that measures the effectiveness of the recipe – the tic-tac of the chronometer. Conversely, when we turn to the actual ways in which learning manifests itself, it is worth noting that what one learns is not definable in advance at all. Indeed, like in the second story, a person may show a great interest in learning
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how to play table tennis. Yet that describes more an aspiration and does not tell enough about what is going to happen, that which is open temporally. Looking at learning as a process gives the opportunity to see that what we actually learn depends on how things eventually develop over a period of time. In other words, time is a contributor. The major reason is that it is in, with and over time that chances and opportunities manifest themselves, that is, they pop out potentially re-projecting the whole process forward. By chances, here I mean any encounter, event or happening, that come to influence the process at some level and that as such is outside of the learner’s will. If we turn to the two stories, we get the sense that one thing leads to another. The YouTube recommendation, the book found in the bookshop, the twit, Priit’s colleague and his willingness to play ping-pong, Orvar’s friend who participated in Occupy Wall Street, etc. In more technical jargon, this implies that learning as a process unfolding in time is very much non-ergodic (David 2001; Garud/ Kumaraswamy/ Karnøe 2009). Which means that one’s own learning trajectory – what one eventually learns – cannot really be understood without looking at its actual history. Non-ergodic processes are those in which a path is not followed meticulously, but created in due course. So, time – viewed in terms of the chances and opportunities found along the way – is a fundamental factor that makes Orvar's or Priit’s learning trajectory take their own course rather than somebody else's. Or, even worse, that of an abstract entity like the »74% percent« of a sample in a randomised trial involving 300 graduate students. And mostly likely coming from an Ivy League university in the US, which is a character way more fictional than Priit and Orvar, as it does not actually exist. If we turn our attention back to the two stories, we see that learning, apart from being a constant flow, is punctuated by a number of chance events that stood out from the rest, because they acted very much like triggers for furthering the positive potential of opportunities encountered along the way (Bardone 2016). There is a sense of ambulation (Ingold 2000: 228-230) that cannot be anticipated, but created or, better, found in due course. The Deliberative Element of Learning is Captured by Tinkering, not Planning Arguing that time is a contributor means that we open up learning to happenstance, that is, to encounters, events and occurrences that are not under our control. The process is taken for what it is, that is, essentially open-ended and thus potentially creative. This may indeed cause trouble for those who – not without
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good reasons – may think that the class of educators have in the end precisely the responsibility to help learners not just to learn something, but something important and relevant. And do all this effectively. That is because learning contains in fact (and inevitably) a grain of paternalism or it is anyway the expressions of adults’ normative commitments. Leaving aside for a moment what it is important to learn, there is a fundamental misconception to debunk here. The main confusion lies in the fact that saying that a process is open to chance means we simply do not care, in other words, we are indifferent as to what is going to happen, because we let chance (or sheer luck) decide – some sort of flipism, that is, the idea to let a flip of coin decide about what to do next. There is a sense of moral indifference and thus irresponsibility that seems to characterise our engagements with learning (and educational goals). Does anything go? When we plan, deliberation plays a specific role. We have to figure out what to do designing path-ways that are supposed to lead us to what we have in mind – what we want to achieve. Later on during the ›implementation phase‹ deliberation consists in controlling that the actual decisions we make along the way bring us closer to the ›expected output‹. In this case chance happenings have a negative impact, as they may divert the whole process from our goals. In addition, even when a chance event actually comes to favour us, that would be seen anyway as an accident, which this time has favoured us (Dunne 1993: 205). The line of argumentation that I am pursuing here is different. A rebuttal rests on the premise that deliberation (and purposefulness) can be identified and thus attributed even in absence of a clear definition as to what we are heading for, that is, our goals. As I have pointed out, the learning process is a creative process in the sense that one’s learning trajectory is explored and created in due course. This means to shift attention from a fixed goal, to goals that are defined and re-defined continuously as one goes, not before, depending on whatever the learner finds. So, deliberation still plays a role, but it regards more moments in which we can deploy what Allert and Richter (2016) called »microtactics«. This is in essence what the term tinkering refers to: the deliberative response to whatever comes in handy in temporally localised moments. So, tinkering implies a different approach to deliberation that is fundamentally de-coupled from planning and control. It does not involve any foresights into the final outcome of the process (Jacob 1977), which may well remain unknown or not fully specified until the very end (if an end is reached). However, it is precisely in the ways in which available resources can actually be tinkered with that one exhibits purposefulness and therefore takes ownership of the process no
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matter what it may lead to eventually. That is, what appears to be deliberative in tinkering is no longer expressed by being in control. Taking a step further, I may argue that the deliberative character of tinkering as a form of practical rationality can be identified in the very activity of taking care, which implies a high level of engagement in and with the process not to steer it towards a fixed goal, but to creatively deal with what comes in the immediacy of the here and now. In the two stories, tinkering is clearly represented by the ambulatory character mentioned above, and the taking care. The goals of the learning process – what it actually leads to – become clear only in due course. Besides, any learning occasion becomes a springboard that re-projects the whole process forward onto further possibilities, rather than bringing it to an end. So, Orvar does not happen to be immediately interested in digging into the social and political roots of his Uncle’s attempted suicide, which is not viewed at first as connected to problems that go beyond the personal sphere. With the wisdom of hindsight we can indeed see that the path that took Orvar from beginning to end somehow makes sense in the light of a few main pillars – an interest in happiness, the relationship with one’s own workplace, the socio-economic conditions of labour. However, this is merely due to the retrospective and thus deforming lenses through which we look at the process. In fact, we can clearly see the absence of a master plan that brought Orvar from a traumatic event like his uncle’s attempted suicide to the development of a new worldview. On the other hand, we can see that Orvar was very much involved in the learning process, which allowed him to respond creatively to several chance encounters – the colleague from Occupy Wall Street, the book on austerity in the shop, the witticisms from Sociological Imagination, etc. These were moments in which Orvar deliberatively chose how to proceed, even in the absence of a clearly defined goal – a destination. The same can be said about the second story. Indeed, we can say that Priit was very much interested in learning how to play table tennis properly. However, firstly, the way in which this chance materialised was indeed unpredictable. The silver case acted as a trigger and perhaps even more. Secondly, and more importantly, the direction that his learning trajectory took was indeed shaped and re-shaped by a continuous activity of tinkering with chance encounters – one video leading to another, for example. At every stage he found opportunities to tinker with deliberatively. So, the intention to learn how to hold the bat properly led him, first, to the science of spin, and later to a deeper engagement with the very principles of the sport (i.e. spin and how to counter it) and even to the discovery of more philosophical ideas manifested in the practice of ping pong (chaos theory, homo ludens, Sufism etc.).
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The Goals of Learning are Plural and Dependent on the Lives of Learners The so-called evidence-based stance to educational research keeps generating a considerable body of »evidence-based knowledge« concerning learning (Hargreaves 1995, 1999). Yet focusing on cognitive aspects of learning may come to disregard more substantial and therefore controversial issues, which are related to what to learn – what we may call the very goals of learning (Biesta 2010a). What I am referring to is epitomised by the following joke: coming home from school a boy is asked by his father »what have you learned?« to which the boy enthusiastically replies »we have learned effectively«. The word ›goal‹ is characterised by a sort of conceptual ambiguity. Indeed, a goal expresses something we value, something we care about. The protagonist of the second story I presented above wants to learn how to play table tennis properly. That is his goal, what he cares about. We can use here the word ›purpose‹. However, as I have noted above, a goal (or a purpose) can also be interpreted as a specific target to reach. In the second story Priit turns to YouTube to find a tutorial showing how to hold the bat correctly. This would qualify as a target to reach. The difference rests on the fact that what we call a target can be considered as a specification of a goal, not the goal itself (Wiggins 1980). As such it is in a specific state of affairs that we can try to make it happen directly by selecting the best means available. In the present educational discourse, the tendency is to see the goal of learning as a matter chiefly related to acquiring skills and competences, which are directly valued on the job market (Biesta 2010b). This informs a number of policies that are then converted into actions that aim for this target directly. All this appears to be ›scientific‹ and thus uncontroversial, because then it is all about implementation, that is, selecting the proper/effective means for otherwise uncontroversial goals. Which in the end implies an assurance that the target is hit effectively. However, the major problem with this approach is that it makes the whole issue concerning the goals of learning very much opaque, because it conflates goals with targets – the issue that I mentioned before. To be more precise, it is assumed that a single specification can exhaust the meaning that the term goal may have when it comes to learning. On closer inspection we see that learning can be done for its own sake, that is, it may have a value in itself. This is implicit in the German notion of Bildung, which is hard to translate into English. Analogously, Edgar Morin, to mention another example, pointed out that learning (and education) cannot be separated from what he termed la Tête bien faite – which
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can be translated into English as ›the mind that is well formed‹. That is, learning is essential to become and develop as a subject, as noted above. We can also go on connecting learning to the formation of responsible citizens, which means to form persons able to participate democratically in the life of the polis. This is for instance the value orientation that is clear in the first story I presented above. A further option is to say that learning is intrinsically related to one’s own interest and ways of making sense of the world. So, learning is an expression of one’s own dispositions, personality, and also interests. The case depicted in the second story belongs to this category. The goal and meaning of learning can translate into something quite different depending on a number of variables including context, age, value orientations, etc. If we do not acknowledge such a plurality, everything can be easily reduced to what we may call ›the management of learning‹, which means to adhere to an instrumental form of rationality that disregards the big questions concerning learning (and education). This seems to be very much the approach tacitly adapted in learning analytics, in which ›learning-to-the-target‹ seems to be the best description of what is going on. So, generally speaking, it is extremely hard to come up with a universal and unproblematic specification of the goal(s) of learning, that is, a specification that could fit to all cases. In the two stories presented above the learning trajectory is since the beginning infused with elements closely related to biographical circumstances rooted in the lives of the learners. Such circumstances keep influencing and affecting the whole learning trajectory. This happens at the beginning when in both cases there are quite personal events triggering the whole learning process. The initial ›trigger‹ is a tragic event in the first story, a check-up at the doctor’s in the second one. What happens subsequently is that the initial interest or motivation takes shape along the same path as the learning process itself. Curiosity, for instance, is the major drive in Priit’s case. Learning unfolds here fuelled by an interest that stems from the learner’s inner ›workings‹. In the case of Orvar, the kind of motivation propelling him is quite different. It starts as a private affair concerning a tragic episode in his life – his uncle’s attempted suicide – to become something more social that comes close to the very historical and political predicaments of Orvar’s present time. Indeed, because of the particular choice I made, the two stories presented learning in a rather unusual way, that is, not anyhow related to schooling or to topics that we would see taught at school like reading, math, and all the rest of it. But this is not a limit in itself. It is telling us that every story featuring learning
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speaks about a particular way in which learning is actually encountered and therefore can take shape and place. The Forms that Learning takes are Historical and their Innovative Character is Relative Capturing the sort of ethnographic texture characterising the lives of learners – what they actually do in their particularness – allows us to see and highlight the particular forms that learning takes, along with the circumstances it is affected by. It goes without saying that forms and circumstances are eminently historical. There are no forms of learning that are outside of time and space as well as culture (including its ideological expressions). This leads me to addressing in this last section the question concerning technology. What we see from the two stories is that technology is indeed a central character. I have mentioned YouTube, Facebook, Twitter, Podcasts, Smartphones, E-books found on the net for free, as a part of Priit’s and Orvar’s learning trajectory. All this tells us about the present time, specifically, the kind of instruments and tools that are, say, in vogue around the year 2017. An interesting exercise would be to try to tell the very same stories, imagining them not in 2017, but say in 2007, 1997 and 1987. What would be different? And what not? Would it be better? Worse? Or would these kinds of questions matter at all? A common (and very much reiterated) narrative is that, indeed, the Internet has profoundly changed the way learning is conducted, and consequently, how education is shaped. Accordingly, the introduction of new technologies invariably caused profound changes in the way in which we may conceive of learning and then education. We are therefore living in a permanent state of revolution, in which what one can see is how very often one hype simply follows the other, and very few things actually have an impact going beyond a short-lived span. The case of MOOCs, for instance, is quite interesting in this regard. While praised by many as a revolutionary moment in mass education, it is now criticised for producing the very same type of model it was supposed to replace: the broadcasting one, which brings us back virtually (pun intended) to the earliest forms of distant learning (Newfield 2016). To make another example, learning analytics has been compared to the establishment of a sort of panopticon, which has very little to share with the more emancipatory and participatory forms of learning and education promoted in the second half of the last century (Lundie 2015). These are claims that are in my opinion well founded. However, I would like to pose here a different question. As I have noted above, learning is never un-
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constrained. An interesting example that I mentioned above is YouTube. In the two stories YouTube is an omnipresent character. Orvar got acquainted with many of the topics he had learned via youtubing. The same goes with Priit, who could actually rely on quite a vast library of tutorials, and his knowledge about table tennis expanded. However, this does not mean that Youtube and youtubing are somehow liberating learners, providing them with unlimited opportunities for learning. The inner workings of YouTube – its algorithms to put it bluntly – are far from being transparent to the learners, and this may have quite an impact on their actual opportunities to have access to the myriad of clips uploaded daily to YouTube. The same goes with the incessant stream of Facebook and Twitter. Additionally, algorithms may contribute to spreading implicit biases and for favouring conformity effects (O’Neill 2016), so that the decisions made, say, by the recommending system can indeed be far from being optimal for the learner. Or at least not entirely under his/her control. On top of that, not only are the decisions made via algorithmic thinking opaque to the learners, but to a certain degree also to the very same people who created them (Dourish 2016). So, we can say that a YouTube search reveals as much as it potentially conceals. There is another source of constraints that can affect the actual forms of learning that we can practice, develop or simply observe. The protagonist of the second story massively relied on online video tutorials found on YouTube. We are indeed prone to considering this as somehow innovative and to a large extent desirable. But what if that would have prevented him from getting in contact with a real coach? Are we ready to give up on the idea that the likes of coaches, instructors, teachers and gurus are in the end useless or obsolete? While we cannot rule out the possibility that a person can learn a great deal by watching online tutorials, a coach might still be a good option for learning. Yet it is not the kind of thing that the Internet provides. We can easily make the case that a coach being there in the flesh would not simply give a few general tips, but he/she would also provide the opportunity for the sort of creative intercourse that Illich talked about, as well as the initiatory process that all practitioners go through. Both of these are invariably mediated by the presence of another person (see Biesta 2016). In this sense relying on technologies simply replacing crucial features of a practice may lead to an impoverished sense of the practice itself, because one may think tutorials found on YouTube are, say, enough when in fact they are not. This may produce what has been called fake chances (Bardone/ Magnani 2013), that is, chances for action that may eventually lead us to a dead end, although initially they may have appeared to be so promising. Overall, we may say that the kind of chances a learner may have at their disposal are always rooted, and therefore constrained, by the historical situation,
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along with its inevitable predicaments. The disproportionate and seemingly uncontested power that algorithmic thinking has come to acquire in recent years is an example of such predicaments and limitations (McQuillan 2016), which indeed, affect all learners in one way or another. And indeed there is more than that. I have argued against neomania that regards learning and education perennially on the brink of a revolution due to the introduction of new technologies. However, that does not deny or ignore change as a historical fact. Things do change. And so do people and their habits. That is why it is worth noting here that what is somehow new or, better, different in 2017 from 2007, 1997 or 1987 is the actual historical form(s) that learning actually takes in each and every case. And this is in a way a strong as well as an undeniable ontological claim. This, though, should not be viewed as the neomaniac would view it, that is, as a triumphant march towards the possibility of naïve improvement and betterment (whatever this may actually refer to). Conversely, what is unique or different is the actual combinations and re-combinations of existing resources as well as the constraints that learners encounter. That is where I would ideally locate creativity and the attempts to change things that do not satisfy us in the present times, rather than in the discourse of innovation and seemingly boundless betterment.
P ARTING T HOUGHTS The main goal of the present chapter was to describe the idea that sees learning as chance-seeking. In order to do so, I decided to resort to two stories that describe the learning trajectory of two fictional characters. The stories offered the sort of ethnographic backbone upon which I relied to present five points, which hopefully helped me illustrate the idea of learning as chance-seeking. As I mentioned in the opening section, learning as chance-seeking is a way to make a point concerning learning. The point is that learning is an activity projected upon future happenings, that is, it is essentially forward-looking. Indeed, we can design learning, for instance, starting from its very basic elements – instruments, materials, environments, etc. And to some extent this is also what we do. Yet learning is something that inevitably happens over time and therefore it will take its own course. Even when we can specify that which we want or, better, aspire to learn, this does not mean that we can design the learning trajectory, which, conversely, will take its own course. As I have tried to point out, a perspective that opens learning to time and thus to chance happenings, should not lead us to the conclusion that then we
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would be better off watching the tide roll in, that is, to be content or indifferent as to what is happening around us. Chance-seeking implies, conversely, a commitment, which simply does not equate with control, but with the more creative capacity to tinker with and around whatever may come in handy. Which means that we take ownership of a learning process not in the act of steering the process towards a certain goal determined in advance, but in the strategic use of chance happenings with the intent to further the process hopefully for the better. Tinkering applied to learning introduces a conception of rationality that cuts across the distinction between means and ends. Means help re-describe and rework our ends, and ends may become triggers for further explorations in a potentially endless loop. In this sense, I may say that the kind of practical rationality I am hinting at is ambulatory. It is found not before one learns, but as one learns – to paraphrase Tim Ingold. The connection with time allowed me to make a last important point about learning, which is particularly salient in a time of ›technological entanglement‹. Learning is open to chances. And chances are always in one way or another related to what is going on in the present time. This means that the forms of learning are always historically rooted, constrained and therefore relative to the present time. I claim that this is an important point to make in a time when socalled neomania seems to be affecting the ways in which we think about learning. So, in this regard I do not jump on the bandwagon of those who are ready to call for the next revolution – whether it is in learning, or more in general, in education. My take is that learning is contingent to and occasioned by what the present time offers in terms of instruments and tools.
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Poetische Spielzüge als Bildungsoption in einer Kultur der Digitalität C HRISTOPH R ICHTER & H EIDRUN A LLERT We must make our freedom by cutting holes in the fabric of this reality, by forging new realities which will, in turn, fashion us. Putting yourself in new situations constantly is the only way to ensure that you make your decisions unencumbered by the inertia of habit, custom, law, or prejudice – and it is up to you to create these situations. CRIMETHINC. 2001
D IE A MBIVALENZ D IGITALER M EDIEN In der aktuellen Diskussion um die Bedeutung digitaler Medien für Prozesse der Subjektivierung und Bildung sind zwei unterschiedliche Entwicklungen zu beobachten. Während auf der einen Seite der Versuch unternommen wird, sich den Phänomenen des Digitalen über die Rolle der Dinge in Bildungsprozessen zu nähern (z.B. Nohl 2014; Jörissen 2015), finden sich auf der anderen Seite Positionen, die Prozesse der Subjektivierung über die Charakteristika einer Kultur der Digitalität zu rekonstruieren versuchen (z.B. Stalder 2016). Beide Herangehensweisen konvergieren in der Vorstellung des Digitalen als einer durch Algorithmen vermittelten Formung der Welt. So hält Jörissen (2015: 214) fest, »das, was in digitalen Kontexten ›schreibt‹, sind primär Algorithmen, also Software«, während Stalder (2017) die Frage aufwirft »welche Algorithmen wir brauchen und welche wir nicht wollen«. Während das Digitale ohne die Verwendung von Algorithmen schlicht nicht denkbar ist, liefern beide Herangehensweisen nur sehr bedingt Erklärungen für den ambivalenten Charakter, den Algorithmen in
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der Praxis aufweisen. So machen wir uns in unserem Alltag immer wieder Algorithmen zunutze, um bestimmte Ziele zu erreichen, etwa wenn wir am Computer einen Text schreiben, ein Haushaltsbuch führen oder auch nur unsere digitale Küchenwaage verwenden. Andererseits wird unser Alltag selbst in zunehmendem Maße durch Algorithmen bestimmt, sei es bei der Risikoeinstufung für eine Versicherung, der Werbung und Inhalten, die uns auf den diversen SocialMedia-Plattformen präsentiert werden oder der automatisierten Überwachung öffentlicher Plätze. Im Rahmen dieses Aufsatzes versuchen wir zu zeigen, dass die Ambivalenz der digitalen Medien und die mit ihnen einhergehenden Formen der Subjektivierung weniger auf den spezifischen Algorithmen als vielmehr auf der Art und Weise beruht, wie die entsprechenden Technologien in die Praxis eingebunden sind. Die Frage ist somit weniger, welche Art von Algorithmen wir brauchen, sondern vielmehr wie die Algorithmen in unsere Praktiken verstrickt sind und welche Implikationen mit ihnen, je nach Art ihrer Verstrickung, verbunden sind. Um eine Brücke zwischen den bildungstheoretischen Überlegungen zur Rolle der Dinge und einer Kultur der Digitalität schlagen zu können, nähern wir uns dieser Frage über die Prozesse der Formalisierung praktischer Handlungsvollzüge. Hierzu nehmen wir eine praxistheoretische Position ein, die es uns einerseits ermöglicht »›Bildung‹ auf der Ebene der Transformation subjektivierender Relationierungen zu verorten« (Jörissen 2015: 228) und es andererseits gestattet die materielle Struktur und den performativen Charakter komplexer Technologien zu erfassen, ohne Mensch und Maschine denselben ontologischen Status einräumen zu müssen. Der Brückenschlag, den wir im Rahmen dieser Arbeit versuchen, hat insofern einen skizzenhaften Charakter, als dass wir die subjektivierende Funktion digitaler Medien auf die Frage der Formalisierung der Praxis einengen und andere Phänomene wie etwa die Allgegenwart und Skalierung digitaler Medien wie auch die den entsprechenden Praktiken inhärenten Dynamiken der Macht und die Politik der Daten zunächst ausklammern. Uns interessiert in diesem Sinne weniger die Frage nach den möglichen Verzerrungen und Vorurteilen, die sich in einem bestimmten Algorithmus manifestieren können, als die grundlegendere Frage nach den Prozessen, in denen Praxis einer Formalisierung unterworfen wird. Der Versuch eines Brückenschlags erfolgt in vier Schritten. Im ersten Schritt rekonstruieren wir die Regelmäßigkeit sozialer Praxis als einen Prozess, der zugleich auf dem konstitutiven wie illusionären Charakter von Regeln basiert. Wir unterlaufen damit die Vorstellung, dass soziale Praxis auf explizierbaren Regeln beruht und eröffnen damit die Möglichkeit, dass es Formen menschlichen Seins gibt, die sich expliziten Regeln und damit auch einem algorithmi-
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schen Prozessieren entziehen. Im zweiten Schritt zeigen wir, wie unter Rückgriff auf Sprache, formale Regeln hergestellt und aktiv reproduziert werden können. Hierdurch wird es möglich, die Formalisierung von Praxis als einen kontingenten Prozess zu verstehen, der selbst in der Praxis begründet und durch das Streben nach situativer Sicherheit motiviert ist. Im dritten Schritt stellen wir den, der Formalisierung der Praxis zugrundeliegenden, regulativen Spielzügen das Konzept der poetischen Spielzüge als einen alternativen Modus der Transformation subjektivierender Relationierungen gegenüber. In der Gegenüberstellung von regulativen und poetischen Spielzügen wird es möglich, einen transaktionalen Bildungsbegriff näher zu bestimmen. Im vierten Schritt rekonstruieren wir die Rolle digitaler Medien in Relation zur Formalisierung der Praxis. Hierbei zeigt sich, dass die Ambivalenz digitaler Medien nicht in den Algorithmen selbst, sondern in der Einbettung der Medien in Praxis zu verorten ist. Abschließend umreißen wir die theoretischen wie praktischen Implikationen der hier entwickelten Position.
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Nimmt man die Transformation subjektivierender Relationierungen als Ausgangpunkt der Beschreibung von Subjektivierungs- und Bildungsprozessen, bietet sich eine praxistheoretische Betrachtungsweise an, da entsprechende Theorieangebote von der Annahme ausgehen, dass sowohl soziale Ordnungen wie auch die sozialen Subjekte der Praxis nicht vorausgehen, sondern in dieser entstehen (siehe z.B. Schatzki 2012; Alkemeyer et al. 2015). Im Unterschied zu anderen Sozialtheorien setzen Praxistheorien weder ein von seiner sozialen Umwelt determiniertes Individuum, noch ein intentionales und autonomes Subjekt voraus, sondern gehen davon aus, »dass Subjekte aus der Verwicklung von Körpern in sozialen Praktiken entstehen« (Alkemeyer et al. 2015: 26). In einer ersten Annäherung lassen sich Praktiken dabei als soziale Arrangements von Menschen verstehen, »die aufeinander bezogene Handlungen vollziehen, sich damit in sozial und kulturell erwartbare und einsichtige Beziehungen zueinander stellen und dabei (doch) eigenständige Identitäten artikulieren« (Hörning 2001: 193). Praktiken lassen sich in diesem Sinne als wiederkehrende Handlungsmuster bzw. soziale Konventionen begreifen, die sich aus der wiederholten Interaktion von Menschen miteinander und mit ihrer Umwelt herausbilden. Während in der soziologischen Forschung oftmals die Beschreibung und Analyse bereits existierender Praktiken von Interesse ist und Praktiken entsprechend als identifizierbare Einheiten gefasst werden (vgl. Alkemeyer et al. 2015),
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interessieren uns im Hinblick auf die vorliegende Fragestellung vor allem die Prozesse, in denen sich Praktiken entwickeln, aufrechterhalten und transformieren, da hier die Transformation subjektivierender Relationierungen zu verorten ist. Aus diesem Grund folgen wir dem von Hörning (2001, 2004) beschriebenen pragmatistischen Standpunkt innerhalb der Praxistheorien und betrachten Praktiken aus der Sicht der Menschen, die sich in ihrem Alltag immer wieder mit Handlungssituationen konfrontiert sehen, in denen sie sich irgendwie gemeinsam mit den anderen Akteuren zurechtfinden und nach einer anschlussfähigen Form des Umgangs suchen müssen. In diesem Sinne betrachten wir menschliche Tätigkeit nicht primär als eine Kette intentionaler Akte, in der eine Person vordefinierte Pläne realisiert, sondern als einen fortwährenden Prozess, in dem sich, in Abhängigkeit der situativen Gegebenheiten, Motive, Ziele, Erwartungen und Interessen herausbilden. Das Individuum ist dabei einerseits auf sein praktisches Wissen und Können angewiesen, das es ihm ermöglicht sich in einer Situation zurechtzufinden und für die anderen Teilnehmer_innen anschlussfähig zu sein, andererseits muss es auch mit Situationen zurande kommen, die ihm nicht verständlich und in diesem Sinne problematisch sind (ausführlicher hierzu Hörning 2004). Handlungssituationen sind im praxistheoretischen Verständnis in grundlegender Weise sozial vermittelt, da sich das Verständnis für die Situation, in der sich ein Teilnehmer, eine Teilnehmerin befindet, wie auch die Angemessenheit und Anschlussfähigkeit einer Handlung nur in der Interaktion mit anderen Akteuren ausmachen lässt. Infolge ihrer unmittelbaren sozialen Vermittlung sind unsere Interaktionen mit anderen Akteuren von einer eigentümlichen Ambivalenz geprägt. Einerseits erscheint uns die soziale Welt als eine in hohem Maße geordnete, in der einzelne Teilnehmer_innen in einer routinierten Weise miteinander interagieren und ein gemeinsames Verständnis davon zu haben scheinen, was sie tun und wie sie angemessen auf die Herausforderung der jeweiligen Situationen reagieren können. Auch uns selbst fällt dies für gewöhnlich nicht schwer und wir wissen quasi intuitiv, was zu tun ist. Andererseits finden wir uns aber auch immer wieder in Situationen wieder, in denen wir nicht verstehen, worum es eigentlich geht, welcher Art diese Situation ist, was die anderen eigentlich tun, was von uns erwartet wird und wie wir uns angemessen verhalten können. Soziale Praxis ist dementsprechend sowohl durch Regelmäßigkeit und Erwartbarkeit, aber auch durch Unbestimmtheit und Ambivalenzen gekennzeichnet (vgl. Hörning 2004). Um dieser, im wahrsten Sinne des Wortes, existenziellen Ambivalenz Rechnung zu tragen, stützen sich praxistheoretische Ansätze auf ein Verständnis sozialer Regeln, das auf dem Spätwerk Wittgensteins aufbaut (z.B. Puhl 2002;
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Schäfer 2013). Regeln werden hier nicht als eigenständige Entitäten verstanden, die der Praxis vorausgehen, sondern als ein emergentes Phänomen, das dem häufigen und regelmäßigen Miteinandertun entspringt und soziale Erwartungen konstituiert. Folgt man den Überlegungen von Bickhard (2003; 2008) lassen sich soziale Regeln als situative Konventionen verstehen, die es den beteiligten Personen möglich machen, ein gemeinsames Verständnis der Situation zu entwickeln, in der sie sich befinden. Situative Konventionen und Regeln stellen somit eine Lösung des Koordinationsproblems zwischenmenschlicher Interaktion dar, also der Frage, wie in Situationen vorzugehen ist, in denen die Akteure an einem aufeinander abgestimmten Handeln interessiert sind, aber eine relative Indifferenz über zwei oder mehr mögliche Alternativen besteht (ebd.). Regeln haben insofern aus praxistheoretischer Sicht einen konstitutiven Charakter, »als sie für die Produktion derjenigen Handlungen immanent sind, die sie vorgeblich erst regulieren« (Schäfer 2013: 31). Der konstitutive Charakter von Regeln lässt sich zum Beispiel an der Durchführung einer Seminarveranstaltung illustrieren: Ob das Seminar in Raum A oder B stattfindet, ist im Prinzip gleichgültig. Dennoch ist es notwendig, ein gemeinsames Verständnis für Zeit und Ort der Veranstaltung und, in diesem Sinne, eine Regel zu etablieren, da andernfalls eine ›regelmäßiges‹ Zusammentreffen der Studierenden und die gemeinsame Auseinandersetzung mit dem Unterrichtsgegenstand nicht stattfinden kann. Die so entstehenden Konventionen bzw. Regeln definieren nicht nur die Situation, sondern auch die an ihr beteiligten Personen. Wer nicht (regelmäßig) im Seminar erscheint, ist insofern auch kein Teilnehmer, keine Teilnehmerin. Die Ausbildung einer Regel und eines damit verbundenen regelfolgenden Verhaltens setzt somit die direkt oder indirekt beteiligten Personen untereinander und mit ihrer Umwelt in eine bedeutungsstiftende Beziehung, im Sinne einer subjektivierenden Relationierung. Die Transformation dieser Relationierungen, etwa durch die formelle Aufhebung der Anwesenheitspflicht, ist damit unweigerlich an die Transformation der Praktik und eine veränderte Praxis gebunden. Die Etablierung einer Regel im Sinne einer situativen Konvention setzt jedoch weder eine explizite Aushandlung noch eine sprachliche Fixierung der Regel voraus. So können sich etwa auch aus der gemeinsamen allmorgendlichen Nutzung eines öffentlichen Verkehrsmittels Handlungsmuster und gegenseitige Erwartungen der Teilnehmer_innen entwickeln, ohne dass diese in irgendeiner Weise zur Sprache kommen müssen. Regelfolgendes Verhalten entspringt aus dieser Perspektive nicht der Kenntnis einer expliziten Regel, sondern ist vielmehr »regelmäßiges Verhalten, das erlernt und jedem selbst sowie anderen verständlich ist« (Schäfer 2013: 28). Die hier angesprochenen Merkmale des Regelfolgens lassen sich mit der Metapher des Spiels verdeutlichen. Dabei entspringt
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die Regelmäßigkeit des Spiels weniger den Regeln als den aufeinander abgestimmten Spielzügen der Teilnehmer_innen. Im Rahmen des Spiels kommt es zu wiederholten Handlungen, die von den Teilnehmer_innen als gleich erachtet werden, auch wenn sie nicht ident sind, sondern eine Familienähnlichkeit aufweisen (siehe Schäfer 2013). Durch ihre Regelmäßigkeit sind Spiele prinzipiell erlernbar, auch wenn die Teilnehmer_innen jeweils unterschiedliche Voraussetzungen mitbringen. Schließlich wohnt jedem Spiel eine Logik inne, die dem Spiel wie auch den einzelnen Spielzügen einen Sinn verleiht. Die genannten Kriterien lassen sich am Doppelpass als Spielzug verdeutlichen, wie er in verschiedensten Ballsportarten zu finden ist: Der Doppelpass stellt ein wiederkehrendes Verhaltensmuster dar, das je nach Situation auf dem Spielfeld zum Einsatz kommen kann, ohne dass es einer expliziten Regel bedürfte. Aufgrund der ständigen Bewegungen der Spieler_innen ist jeder Doppelpass anders und kann doch von den Spieler_innen als solcher erkannt werden. Der Doppelpass ist als Spielzug erlernbar, aber in seiner Durchführung immer mit der Möglichkeit des Scheiterns und der Abweichung behaftet. Schließlich wird er von den Teilnehmer_innen als ein sinnvolles Tun verstanden, auf das sie entsprechend reagieren können. Alkemeyer et al. (2015: 32-33) illustrieren wie sich dies in der Dynamik des Spielverlaufs realisiert: »Die in einem solchen Spiel entstehenden Verflechtungszusammenhänge können von keinem einzelnen Spieler vollständig beherrscht werden. Um ›kompetent‹ am Spiel teilnehmen zu können und im Spiel zu bleiben, müssen sich die Spieler in ihrem Denken und Handeln fortlaufend auf sich verändernde Spielkonstellationen einstellen – und zwar auf Spielkonstellationen, die sie selber durch ihr Tun erzeugen. [...]. Innerhalb dieses wechselseitigen Erzeugungsverhältnisses von Spiel und Spielern müssen die Spieler ihr Tun beständig in eine Form bringen, die von allen am Spiel beteiligten Akteuren als spieladäquat erkannt und anerkannt wird. Nur dann nämlich, wenn das eigene Handeln für andere Teilnehmer verständlich ist, sind Anschlusshandlungen möglich.«
Das hier skizzierte und bei Puhl (2002) sowie Schäfer (2013) näher ausgeführte, praxistheoretische Verständnis der Regel und des Regelfolgens hat zwei wesentliche Implikationen, auf die im Weiteren näher eingegangen wird. Zum einen eröffnet ein derart konstitutives Regelverständnis die Möglichkeit gemeinsamer Erwartungen und anschlussfähiger Handlungen, aber auch der Abweichung von der Regel, des Scheiterns und des Regelbruchs. In den Regeln ist »ihre Infragestellung und ›Störung‹ schon angelegt oder ›eingebaut‹ und keine ihr äußerliche
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Bedrohung« (Puhl 2002: 87)1. Zum anderen macht ein konstitutives Regelverständnis deutlich, dass es sich bei der Vorstellung, eine Regel würde das zukünftige Verhalten der Teilnehmer_innen bestimmen, um eine Illusion handelt, »die auf der Selbstverständlichkeit der Regel im Handlungsablauf beruht und erst im Rückblick entsteht« (Schäfer 2013: 31). Wie wir im Folgenden zu zeigen versuchen, wird die Illusion der Regel als eine eigenständige Entität noch verstärkt, wenn uns gemeinsames Tun zusätzlich durch Sprache vermittelt wird.
S PRACHE
UND DIE
F ORMALISIERUNG
DER
P RAXIS
Wie wir im vorangegangen Abschnitt gezeigt haben, ist aus der hier skizzierten Sicht auf Praxis »die normative Organisation sozialer Handlungen und Praktiken [...] in diesen selbst verankert« (Puhl 2002: 85) und nicht durch explizite Regeln bestimmt. Das damit einhergehende konstitutive Regelverständnis ermöglicht, soziale Ordnung herzustellen, ohne das Verhalten der Akteure festzuschreiben. Die jeweiligen Situationen des Handelns bleiben somit ergebnisoffen und potenziell unsicher (siehe Hörning 2004). Die Akteure können jederzeit andere Deutungen ins Spiel bringen, neue Spielzüge entwickeln und auch das Spielfeld verändern. Gegenseitiges Verständnis ist aus dieser Sicht eine fortwährende soziale Leistung und kein vordefinierter Satz gemeinsamer Annahmen (Bickhard & Terveen 1995). Auch wenn in diesem Sinne die Regeln des sozialen Zusammenlebens eine Illusion darstellen, da sie letztlich auf dem regelmäßigen Handeln in der Vergangenheit beruhen und zukünftiges Handeln nicht determinieren, so werden wir in unserem sozialen Alltag doch gleichzeitig immer wieder auf die Bedeutung expliziter Regeln hingewiesen. Sei es im Straßenverkehr, bei Behördengängen, auf der Arbeit oder in der Schule: Immer wieder verweisen die beteiligten Personen auf bestimmte Regeln oder erklären ihr Verhalten damit, dass sie an bestimmte Regeln gebunden seien. Insofern stellt sich auch aus praxistheoretischer Sicht die Frage nach der Rolle und Funktion formalisierter bzw. kodifizierter Regeln sowie ihrer Entstehung. Die Frage ist insofern nicht trivial, da eine Antwort auch bei der Konstitution und Befolgung formalisierter Regeln die implizite Logik der Praxis in Rechnung stellen muss (vgl. Schulz-Schaeffer
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Die so gefassten Regeln lassen sich mit Schurz (2001; 2011) als »normische Generalisierungen« verstehen, die den temporären Normalzustand innerhalb eines evolutionären Systems beschreiben. Wie Scriven (1959) gezeigt hat, ermöglichen entsprechende Normalfallhypothesen zwar eine Erklärung zurückliegender, aber keine Vorhersage zukünftiger Ereignisse.
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2004). Bevor wir auf die Prozesse der Formalisierung eingehen, ist es zunächst jedoch nötig, die Funktion der Sprache für die Praxis näher zu bestimmen. Im Unterschied zu repräsentationalen Modellen lässt sich Sprache aus einer pragmatistischen Sicht selbst als eine Form der sozialen Interaktion verstehen, in der die beteiligten Personen ihr Verständnis der Situation, in der sie sich befinden, und die damit einhergehenden Regeln im Sinne situativer Konventionen aushandeln, aufrechterhalten oder transformieren (Bickhard & Terveen 1995; Bickhard 2003). Sprache ist aus dieser Sicht weniger ein Prozess der Informationsübertragung, sondern ein grundlegend soziales Phänomen, mit dem wir uns darüber verständigen, in welcher Situation wir uns befinden und welche weiteren Interaktionsmöglichkeiten wir in einer gegebenen Situation für verfüg- oder erwartbar halten (ebd.). Sprache ist in diesem Sinne ein konventionalisiertes, auf regelfolgendem Handeln basierendes System, das es den Akteuren ermöglicht, Einfluss auf das Verständnis und den Vollzug der Praxis zu nehmen. So ist es durch sprachliche Äußerungen den Teilnehmer_innen möglich, Einfluss auf die Interpretation der Situation und den damit verbundenen Deutungsrahmen zu nehmen und hierdurch Handlungen sozial zu normalisieren (vgl. Hörning 2004). Da Sprache in diesem Modell selbst auf einem konstitutiven Regelverständnis basiert, setzt sie keine von ihrer Anwendung unabhängige Bedeutung einer Äußerung voraus (siehe Schäfer 2013). Die hiermit verbundene Unschärfe sprachlicher Äußerungen ermöglicht den beteiligten Personen ein hohes Maß an Flexibilität, da sie auch auf Merkmale einer Situation verweisen können, die für sie (noch) nicht näher bestimmbar sind. Insofern ermöglicht es sprachliche Interaktion, nicht nur eine Situation zu bestimmen, sondern diese auch offen zu halten, indem wir etwa unsere eigene Verunsicherung zum Ausdruck bringen und anderen mitteilen, dass wir nicht verstehen, worum es hier gerade geht. Durch sprachliche Interaktion ist es den Teilnehmer_innen nicht nur möglich, auf ein bestimmtes Verständnis der Situation zu verweisen, sondern auch dieses infrage zu stellen (vgl. Bickhard 2003). Für die Frage der Formalisierung von Praxis lassen sich aus dem hier skizzierten Verständnis von Sprache zwei wichtige Implikationen ableiten. Zum einen erweitern sprachliche Äußerungen praktische Situationen um eine diskursive Dimension und erzeugen somit eine zusätzliche symbolische Ebene, die es ermöglicht auf ›Gleiches‹ zu verweisen. Sprache ermöglicht es den Beteiligten, sich nicht nur in, sondern auch über ihre Praxis zu verständigen. Zum anderen setzt Sprache zunächst noch keine Eindeutigkeit und damit keine Formalisierung voraus. Sprachliche Interaktion ist aus pragmatistischer Sicht nicht auf eine vorhergehende Festlegung der Bedeutung angewiesen. Durch die Möglichkeit einen Doppelpass als solchen ›bezeichnen‹ zu können, wird es den Spieler_innen möglich, einander über ihre Absichten in Kenntnis zu
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setzen, indem sie einander zum Beispiel einen entsprechenden Wink geben. Weder das Konzept des Doppelpasses noch des zu gebenden Zeichens müssen dafür explizit festgelegt werden. Die Verwendung von Sprache erleichtert somit zwar die Aushandlung eines gemeinsamen Situationsverständnisses, kann dieses aber nicht garantieren, da auch ihre Verständlichkeit auf der retrospektiv wahrgenommenen Regelmäßigkeit ihrer Verwendung basiert. Sprache ist somit zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung für die Entwicklung formalisierter bzw. kodifizierter Regeln und ihrer Anwendung. Da formalisierte Regeln aus praxistheoretischer Sicht nicht notwendig sind, um soziale Ordnung zu gewährleisten, sie aber trotzdem eine zentrale Rolle in vielen alltäglichen Handlungsvollzügen einnehmen, muss ihnen eine praktische Funktion zukommen. Oder um es mit den Worten von Graeber (2016: 18) zu formulieren; Es muss einen Grund dafür geben, dass es »viele Menschen – oder die meisten Menschen wenigstens manchmal – insgeheim als reizvoll [empfinden], innerhalb eines Systems formalisierter Gesetze und Regularien unter der Hierarchie unpersönlicher Vorgesetzter zu handeln«. Während sich das Interesse an formalen Regeln sozialtheoretisch sowohl in der Sicherung von Machtansprüchen wie auch in der Komplexitätsreduktion für die beteiligten Personen begründen lässt (vgl. Graeber 2016), rückt aus praxistheoretischer Sicht eine andere Begründung ins Blickfeld. In Anbetracht der selbst durch die sprachliche Vermittlung von Praxis weiterbestehenden Unsicherheit, ermöglichen formalisierte Regeln den beteiligten Personen eine prospektive Orientierung, die auf der Prognostizierbarkeit zukünftiger Ereignisse basiert (Schulz-Schaeffer 2004: 113). Oder anders ausgedrückt: Die Verständigung auf kodifizierte Regeln vermittelt den beteiligten Akteuren Sicherheit, in dem Maße, wie sie sich selbst dieser Regel unterwerfen und ihre kollektive Einhaltung sicherstellen. Das Streben nach formalen Regeln lässt sich somit als eine Form des Umgangs mit jenen Situationen verstehen, die nicht eindeutig und somit problematisch sind. Wie aber werden nun Regeln formalisiert und wodurch entfalten sie ihre Wirkung? Unter Rückgriff auf das bereits beschriebene Verständnis von Sprache als einer situativen Konvention lässt sich Formalisierung als ein Prozess rekonstruieren, in dem die Illusion der Regel vergegenständlicht wird. Mithilfe sprachlicher Äußerungen ist es den Akteuren nicht nur möglich, sich innerhalb der Praxis zu verständigen, sondern sich auch über ihr gemeinsames Tun auszutauschen. Indem sie eine praktische Regel sprachlich explizieren, konstruieren sie ein Modell der Situation. Hierzu müssen sie von der einzelnen Situation abstrahieren und das benennen, was ihnen situationsübergreifend regelmäßig erscheint. Der direkte Verweis auf ein Objekt, eine am Handlungsvollzug beteiligte Person oder ein anderes Merkmal der Situation reicht nicht mehr aus. Stattdessen müs-
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sen auch die Begriffe selbst nun situationsübergreifend bestimmbar werden. Die auf diese Weise entstehenden Modelle basieren auf einer bestimmten Sichtweise und unterstellen ein Verständnis der verwendeten Begriffe in Bezug auf die beschriebenen Verhaltensregelmäßigkeiten. Insofern lässt sich die Beschreibung einer Regel als eine »sekundäre Interpretation« (Schulz-Schaeffer 2004: 124) auffassen. Die Akteure, die mit diesem Modell konfrontiert werden, haben zwei grundlegende Möglichkeiten, auf die sich ihnen darstellende Situation zu reagieren, d.h. sie können die Explikation einer Regel in zweierlei Hinsicht deuten. Sie können einerseits das Modell als einen Versuch aufgreifen, ein gemeinsames Verständnis der Situation zu entwickeln, gewahr der Differenz zwischen der Praxis und ihres Umstandes, dass dieses Modell situativ zu interpretieren ist, in der also vieles für die Praxis Relevante ungesagt geblieben ist. Das Modell erscheint hier in seiner Funktion als ein Modell von etwas, das eine Perspektive einnimmt und von der Komplexität des praktischen Vollzugs abstrahiert. Die Teilnehmer_innen haben aber auch die Möglichkeit, das Modell als ein Modell für etwas2 aufzugreifen und können versuchen, ihr weiteres Handeln daran auszurichten. Die Regel wird somit zur Blaupause für zukünftige Interaktionen. Auch die Verwendung als Blaupause erfordert eine Interpretation der Regel im Hinblick auf eine konkrete Anwendungssituation, sie erleichtert dies jedoch dadurch, dass sie den beteiligten Personen eine Sichtweise, einen Deutungsrahmen an die Hand gibt, der es ihnen erlaubt, (vermeintlich) Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden. In dem Maße, wie die Akteure ihr Handeln an den sprachlich gefassten Regeln und nicht an den praktischen Vollzügen orientieren, wird »die Regel dann doch zum Erzeugungsprinzip der Praxis, die sie zuerst nur nachträglich rationalisiert hatte, und aus der anfänglichen Illusion wird empirische Realität« (Schulz-Schaeffer 2004: 124). Die Entwicklung formalisierter Regeln und einer entsprechenden Praxis ist kein einmaliger Schritt, sondern ein dynamischer Prozess, in dem die Teilnehmer_innen immer wieder auf die (sprachlichen) Modelle Bezug nehmen, an denen sie sich gemeinsam orientieren und die sie kontinuierlich weiterentwickeln und optimieren. So können sie etwa um weitere Regeln ergänzt werden. Ebenso kann ihr Geltungsbereich erweitert oder eingeschränkt werden. Mit jeder Anwendung der Regel machen die beteiligten Personen neue Erfahrungen, die sie zur Weiterentwicklung des Modells verwenden können. Die Verfügbarkeit entsprechender Modelle bietet nicht nur Sicherheit für die schon miteinander interagierenden Personen, sondern erleichtert es auch anderen, sich in die entsprechenden Praktiken hineinzufinden. Zudem erweist sich der Rückgriff auf entsprechende Modelle insbesondere bei Konflikten als nützlich, da er es ermög2
Zum Modellbegriff siehe ausführlicher Mahr (2004).
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licht, eine Lösung zu finden ohne dabei die ganze Komplexität des praktischen Handlungsvollzugs in Rechnung stellen zu müssen. Insofern lässt es sich leichter über eine Regel als über die Praxis streiten (vgl. Graeber 2016: 235). Die Zuverlässigkeit von Regeln setzt nicht nur eine präzise Formulierung voraus, sondern auch eine möglichst hohe Ähnlichkeit der Situationen, auf die sie sich beziehen. Da in einer expliziten Regel nur die Aspekte gefasst werden können, die bewusst oder beiläufig als relevant erachtet wurden, impliziert eine Regel immer auch eine idealtypische Situation (Schulz-Schaeffer 2004: 117). Um die Zuverlässigkeit einer Regel zu erhöhen, ist es dementsprechend notwendig, Situationen zu schaffen, die denen in der Regel implizierten ähneln. Die Verwendung von Regeln als Modell für zukünftige Interaktionen legt damit eine Standardisierung bzw. Normierung der Situationen nahe. Zur Illustration mag hier wieder das Beispiel des Fußballspiels dienen. Während sich im informellen Fußballspiel auf der Straße die Regeln des Spiels aus einer situativen Verständigung ergeben (›diese Dose ist der Ball‹, ›zwischen diesen beiden Bäumen ist Tor‹ usw.), materialisieren sich die Regeln des formalen Fußballspiels in einer exakt bestimmten Größe des Spielfeldes, in der Markierung spezifischer Orte, in der Größe und Beschaffenheit des Balls, aber auch in den Rollen, die den einzelnen Teilnehmer_innen zugewiesen werden. Mit der Standardisierung der Situationen verengt sich somit auch der effektive Handlungsspielraum der Akteure, da es zur Aufrechterhaltung der Modelle notwendig ist, dass sich die Praxis den in den Modellen beschriebenen Regeln anpasst. Insofern wandelt sich mit der Formalisierung der Praxis die Illusion der Regel in eine »Utopie der Regel« (Graeber 2016). Die Regel ist im Zuge der Formalisierung nicht mehr nur pragmatische Heuristik, sondern ihre Realisierung wird zur handlungsleitenden Zielsetzung. Formale Regeln sind vor diesem Hintergrund nicht Abbild einer bereits bestehenden Ordnung, sondern müssen aktiv in der Praxis hergestellt und fortlaufend reproduziert werden. Hierzu ist es notwendig, dass es den Akteuren gelingt, die formale Regel von der Kontingenz und Unbestimmtheit der konkreten Situation, inklusive der an ihr beteiligten Personen, so weit abzuschirmen, dass zuverlässige Prognosen über den Ausgang einer Handlung möglich werden (siehe Schulz-Schaeffer 2004). Wie alle anderen Regeln werden somit auch formale Regeln »nur vor dem Hintergrund etablierter Reaktionen, Praktiken, Gepflogenheiten und Institutionen« (Puhl 2002: 85) wirksam. Mit der hier beschriebenen Sichtweise auf Praxis wird zudem deutlich, dass der Prozess der Formalisierung ein transformativer ist, insofern er die Praxis selbst und das relationale Gefüge der beteiligten Akteure verändert. Der Prozess der Formalisierung bietet den an ihr beteiligten Personen Sicherheit. Diese Sicherheit setzt aber voraus, dass sich die Akteure regelgemäß verhalten und die
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Situationen, in denen sie sich wiederfinden, entsprechend interpretieren. In der Konsequenz bedeutet dies, dass Situationen nur im Sinne rationaler Zielerreichungen zu denken sind und die Akteure anhand vordefinierter Kategorien hinreichend beschreibbar sind. Je weiter der Prozess der Formalisierung voranschreitet, desto kontrollierter/kontrollierbarer wird die Situation und desto mehr verliert das Fremde und Andersartige in uns selbst wie auch den Anderen an Bedeutung, indem es als irrelevant ausgeblendet wird. Der Prozess der Formalisierung ist jedoch nicht der einzige denkbare Transformationsprozess einer Praktik. Die andere Option besteht im praktischen Ausloten der Handlungspotenziale, die eine Situation in sich birgt und dem Entwurf alternativer Deutungen in der Interaktion. Auch hierdurch können sich neue Praktiken und andere subjektivierende Relationierungen entwickeln. Hinsichtlich der Transformation subjektivierender Relationierungen lassen sich somit zwei diametral gegenläufige Spielzüge ausmachen, auf die wir im Folgenden näher eingehen.
R EGULATIVE & P OETISCHE S PIELZÜGE Mit dem Konzept des Spielzugs möchten wir verdeutlichen, dass es uns weder um die Beschreibung einer isolierten und zielgerichteten Handlung noch um eine regelhafte und konventionalisierte Praktik geht, sondern um eine situationsgebundene Transaktion, in der sich die Spielsituation selbst wandelt. Wir möchten damit betonen, dass das Vermögen der Akteure, miteinander im Spiel zu bleiben, wichtiger ist als die Befolgung der explizierten Regeln (vgl. Ehn 1988). Im Mittelpunkt unseres Interesses stehen Spielzüge, die die Praxis selbst transformieren und nicht nur fortsetzen3. Entsprechend einer pragmatistischen Sichtweise kommen transformative Spielzüge immer dann zum Tragen, wenn sich die Akteure in einer Situation wiederfinden, die sich als problematisch erweist, in dem Sinne, dass sie nicht wissen, welcher Art die Situation ist und wie sie sich verhalten können und/oder sollen (siehe Dewey 1938). Wie bereits angedeutet, lassen sich zwei grundlegende Arten transformativer Spielzüge ausmachen, die wir im Folgenden als regulativ bzw. poetisch bezeichnen.
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Wir folgen hier Nohls (2014) Überlegungen, dass Bildung im Unterschied zur Sozialisation immer auch ein Moment der Entfremdung und des Unwissens beinhaltet, mit dem sich die Akteure in einem experimentellen Entdeckungsprozess konstruktiv auseinandersetzen müssen.
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Regulative Spielzüge sind solche Spielzüge, die eine als problematisch erfahrene Situation durch die Bezugnahme auf explizite Regeln zu überwinden suchen. Sie unterstellen, dass es eine explizite Regel gibt bzw. geben könnte, durch die die Situation interpretierbar wird und regelfolgende Anschlusshandlungen möglich werden. Regulative Spielzüge wenden die bestehenden Regeln nicht einfach an, sondern sichern ihre Wirksamkeit, indem sie die Passung von expliziter Regel (Modell) und Situation aktiv absichern. Dies kann auf unterschiedliche Art geschehen. So können Teilnehmer_innen etwa versuchen, den Geltungsbereich einer Regel auszuweiten, so dass die aktuelle Situation unter ihr subsumiert werden kann. Ebenso können sie versuchen, auf der Gültigkeit einer bereits etablierten Regel zu beharren auch wenn diese nicht allen Aspekten der aktuellen Situation gerecht wird. Umgekehrt können sich die Akteure auch auf neue Regeln, etwa in Form von Verträgen, verständigen oder die bestehenden Regeln modifizieren. Auch die Aufforderung eines Schülers/einer Schülerin, an eine Lehrkraft, diese möge ihm/ihr doch bitte endlich erklären, wie eine Aufgabe richtig zu lösen sei, kann als ein regulativer Spielzug aufgefasst werden. Ebenso kommen regulative Spielzüge zum Einsatz, wenn etwa empirische Daten zu einer unhinterfragbaren Entscheidungsgrundlage stilisiert werden. Regulative Spielzüge sind in diesem Sinne nicht reproduktiv, sondern konstruktiv, indem sie das Verständnis der Situation und das relationale Gefüge der in ihr verwickelten Akteure transformieren. Gleichzeitig haben regulative Spielzüge einen instrumentell-rationalen Charakter, indem sie die Lösung einer als problematisch erfahrenen Situation in der Formulierung und Anwendung kodifizierter Regeln suchen. Sie zielen auf die Absicherung »technischer Kerne« (Schulz-Schaeffer 2004) ab. Sie erhöhen die Vorhersehbarkeit und Kalkulierbarkeit der Situation und ermöglichen es den Teilnehmenden, sich gegenseitig als rationale, im Sinne regelgemäß handelnder Akteure zu positionieren. Regulative Spielzüge fokussieren auf die Aspekte des Handlungsvollzugs und der Situation, die sich explizit beschreiben und somit auch formalisieren lassen. Indem sie die Situation auf eine explizierbare Sichtweise reduzieren, klammern sie jedoch das aus, was entweder nicht explizit greifbar ist und/oder keine Regelmäßigkeit aufweist. Zugespitzt formuliert, basiert die durch regulative Spielzüge gewonnene Sicherheit somit auf der Negation des Anderen und Unbestimmten. Dies betrifft auch das (Selbst-)Verständnis der beteiligten Akteure, deren Beziehungen zueinander unpersönlicher werden. Poetische Spielzüge sind im Gegensatz hierzu solche Spielzüge, die eine als problematisch erfahrene Situation dadurch zu überwinden suchen, dass sie alternative Interaktions- und Erfahrungsformen ins Spiel bringen. Sie suchen die Lösung der problematischen Situation nicht auf der Ebene expliziter oder expli-
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zierbarer Regeln, sondern in der Qualität der praktischen Erfahrung selbst. Sie stellen formalisierte Praktiken in Frage, indem sie sich den mit ihnen einhergehenden, vermeintlichen Sachzwängen und Alternativlosigkeiten widersetzen, mit kodifizierten Regeln brechen und eine qualitativ andere Form des Miteinanderseins für möglich halten. Poetische Spielzüge sind nicht auf künstlerische Ausdrucksformen beschränkt, sondern kommen auch dann zum Tragen, wenn etwa die vermeintliche ›Sicherheit‹ einer Situation durchbrochen wird, indem ein Akteur sich mit seiner eigenen Verletzlichkeit und Unbestimmtheit ins Spiel bringt, wenn Teilnehmer_innen frei schlendernd, explorierend ihre Umwelt durchschreiten, wenn sie unfertige Gedanken teilen oder wenn sie sich der gemeinsamen Improvisation widmen. Poetische Spielzüge eröffnen neue Möglichkeitsräume, indem sie die bestehenden Erwartungen durchkreuzen und ein anderes Anschlusshandeln ermöglichen. In ihnen agieren die Akteure so, als wäre die Möglichkeit, die sie imaginieren, die sie erahnen, schon eingetreten, wohlwissend um den Umstand, dass sie nicht sicher sein können, wie die anderen auf unseren Spielzug reagieren werden. Der poetische Spielzug widersetzt sich in diesem Sinne der expliziten Erwartung und artikuliert einen Wunsch nach einer anderen Möglichkeit, indem er diese realisiert, gewahr der Unsicherheit über den Ausgang der Ereignisse. Poetische Spielzüge machen sich die existenzielle Unbestimmtheit der problematischen Situation zu nutze, um neue Handlungs- und Erfahrungsmöglichkeiten in Interaktion mit Anderen zu explorieren. Poetische Spielzüge basieren auf keiner im Vorhinein fixierten Zielvorstellung, sondern sind vielmehr der Ausdruck einer Suchbewegung nach neuen, zufriedenstellenderen Formen des Miteinanderseins. Poetische Spielzüge sind insofern bedeutungsoffen, als dass sich den Akteuren ihre Sinnhaftigkeit immer nur in der Retrospektive erschließen kann. Anstelle der Fokussierung auf explizierbare Regeln beharren poetische Spielzüge darauf, dass es eine Qualität der Praxis, des menschlichen Miteinanderseins gibt, die sich der Sprache entzieht und nur in der Interaktion selbst zum Ausdruck kommen kann. Poetische Spielzüge entziehen sich somit einem rational-instrumentellen Verständnis, einem Denken in Mittel und Zweck, indem sie darauf bauen, dass das Unerwartete anschlussfähig ist. Da poetische Spielzüge nicht auf kodifizierte Regeln rekurrieren, müssen sie die problematische Situation nicht explizit spezifizieren, sondern können sie in der Schwebe halten. Auch die Teilnehmenden sind somit nicht auf bestimmte Aspekte reduziert, sondern können auf den Spielzug in ihrer eigenen Andersartigkeit und Unbestimmtheit reagieren. Der poetische Spielzug bietet den teilnehmenden Akteuren keine Sicherheit, indem er die Situation eindeutig bestimmt. Stattdessen eröffnet er neue Handlungsspielräume, in denen die teilnehmenden Akteure qualitativ neue Erfahrungen sammeln können.
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Sowohl regulative wie auch poetische Spielzüge sind mit Unsicherheit behaftet, da sie ihre eigene Anschlussfähigkeit nicht garantieren können und somit immer darauf angewiesen sind, dass andere Akteure sie aufgreifen und fortführen. Ebenso wie die Teilnehmer_innen ein Lächeln, eine Metapher oder eine Geste aufgreifen oder verwerfen können, können sie auch dem Ruf nach einer Regel folgen oder diesen ausschlagen. Ebenso ist ihnen gemein, dass sie die Praxis nicht einfach fortsetzen, sondern sie transformieren. In beiden Fällen muss sich der Akteur in die Situation werfen, um herauszufinden, welche Reaktion anschlussfähig ist. Ihr zentraler Unterschied liegt in ihrem Fokus. Während regulative Spielzüge die explizite bzw. explizierbare Seite der Praxis in den Vordergrund rücken, begegnen poetische Spielzüge dieser Sichtweise mit Skepsis und betonen stattdessen die Qualität der praktischen Erfahrung. Während regulative Spielzüge darauf abzielen, Unsicherheit zu reduzieren, indem sie Handlungsund Erfahrungsspielräume einschränken, eröffnen poetische Spielzüge neue Möglichkeiten der Interaktion und nehmen dafür Unsicherheit in Kauf. Die hier vorgeschlagene Konzeption regulativer und poetischer Spielzüge unterscheidet sich von den in der Strukturalen Bildungstheorie (Marotzki 1990) beschriebenen Prozessen der Subsumption und der Tentativität insofern als transformative Spielzüge nicht epistemischer, sondern konstitutiver und damit transaktionaler Natur sind. Regulative Spielzüge sind keine kognitiven Prozesse, sondern finden immer in Auseinandersetzung mit einer konkreten Situation statt, die sie dadurch transformieren, dass die Regel zu einer realen Entität wird, mit der sich die Akteure auseinandersetzen müssen. In gleicher Weise sind auch poetische Spielzüge konkrete Handlungen, die auch nur in dem Maße wirksam werden, wie sie konkrete Transaktionen darstellen. Poetische Spielzüge haben gerade keinen Als-ob-Charakter, sie sind kein Probehandeln, sondern Realisierung einer alternativen Seinsweise. Regulative und poetische Spielzüge zielen somit weniger auf die Veränderung der »Regeln und Schemata der Weltaufordnung« (ebd.: 19), sondern auf die unmittelbare Veränderung der Handlungs- und Erfahrungsspielräume der beteiligten Akteure ab. Die Konzeption transformativer Spielzüge macht zudem deutlich, dass die Transformation subjektivierender Relationierungen immer auch ein soziales Gegenüber, einen Anderen, miteinschließt. Im Anschluss an Koller (2016) ist mit der Unterscheidung von regulativen und poetischen Spielzügen auch eine Aussage hinsichtlich der Richtung bzw. Qualität der jeweiligen Transformationsprozesse verbunden. So lassen sich poetische Spielzüge Transformationsprozesse als Bildungsprozesse verstehen, insofern sie eine problematische Situation als Ausgangspunkt für eine Erweiterung der gemeinsamen Handlungs- und Erfahrungsspielräume nehmen und in
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diesem Sinne »geeignet sind, einen bereits artikulierten Widerstreit offenzuhalten oder einem bislang nicht artikulierbaren Anliegen zur Sprache zu verhelfen« (Koller 2016: 159)4. Durch ihren Bezug auf explizite bzw. explizierbare Regeln und die damit einhergehenden Festschreibungen des Subjekts verweisen regulative Spielzüge in eine gegenläufige Richtung. Indem sie Erfahrungs- und Handlungsspielräume auf die Aspekte reduzieren, die einer instrumentellen Rationalität zugänglich sind, »zielen [sie darauf ab], andere Diskursarten zum Schweigen zu bringen« (ebd.). Auch wenn regulative Spielzüge nicht notwendigerweise »den Ausschluss, die Verfolgung oder gar Vernichtung Andersdenkender zum Ziel haben« (ebd.), so verweisen sie doch in eine Richtung totalitaristischer Positionen, als sie die unhintergehbare Andersartigkeit des Anderen ausblenden bzw. für irrelevant erklären.
T RANSFORMATIVE S PIELZÜGE
UND DIGITALE
M EDIEN
Mit den vorangestellten Überlegungen zu einer Formalisierung praktischer Handlungsvollzüge und der Gegenüberstellung von regulativen und poetischen Spielzügen wird es möglich, die Rolle digitaler Medien näher zu bestimmen und der Frage nachzugehen, inwiefern sie Praktiken und damit auch die subjektivierenden Relationierungen transformieren. Wir versuchen zu zeigen, dass die Rolle digitaler Medien insbesondere davon abhängig ist, ob sie als Werkzeuge in der Praxis verfügbar sind oder ob sie darauf abzielen, die praktischen Vollzüge selbst zu automatisieren. Zu diesem Zweck ist es notwendig, zunächst die Merkmale digitaler Medien im Sinne einer durch Computer vermittelten Praxis herauszuarbeiten. Zentrales Merkmal digitaler Medien ist die Encodierung von Informationen in einer von Maschinen les- und verarbeitbaren Form. Die Nutzung digitaler Medien setzt insofern immer auch eine durch Computer vermittelte Praxis voraus. Während Computer ihre praktische Bedeutung letztlich nur im Zusammenspiel der in ihnen integrierten Hard- und Software-Komponenten sowie der mit ihnen verbundenen Peripheriegeräte wie Tastaturen, Kameras, Mikrophonen, Monitoren, Druckern, Lautsprechern etc. entfalten, liegt das Hauptaugenmerk im Folgenden auf den von Computern prozessierten Programmen und ihrer Entwicklung. Mit Floyd (2002) lassen sich Computerprogramme als autooperationale Formen verstehen, in denen die in einem bestimmten Anwendungskontext 4
Im Unterschied zu Koller gehen wir jedoch davon aus, dass Bildungsprozesse keine sprachliche Artikulation, sondern lediglich eine Form des praktischen Ausdrucks erfordern.
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beobachteten oder vorgesehenen operationalen Zusammenhängen, im Sinne von Mittel-Zweck-Relationen, explizit modelliert und in einer Programmiersprache zum Ausdruck gebracht werden. Die Entwicklung eines Programms erfordert zunächst die Spezifikation eines operationalen Modells, indem einerseits die als relevant angenommen Entitäten in Form eines entsprechenden Datenmodells und andererseits die operationalen Zusammenhänge in Form von Algorithmen festgelegt werden. Die so geartete Spezifikation muss dann in eine Programmiersprache übersetzt werden, so dass eine Verarbeitung durch den Computer möglich wird, der seinerseits wiederum periphere Geräte steuert und so mit seiner Umwelt interagiert. Sowohl die Spezifikation des operativen Modells wie auch die Umsetzung in einem Programm sind dabei selbst als soziale Prozesse zu verstehen. So erfordert die Spezifikation des operativen Modells eine Theorie des Gegenstandsbereichs, auf deren Grundlage die Akteure darüber entscheiden können, welche Aspekte zum Modell gehören und welche nicht5. In diesem Sinne ist »any program [...] a model of a model within a theory of a model of an abstraction of some portion of the world or of some universe of discourse« (Lehman 1980: 1061). Die Entwicklung von Computerprogrammen, und damit auch der digitalen Medien, lässt sich somit in ihrem Kern als ein Prozess der Entwicklung von Modellen verstehen, die einerseits von einem bestimmten Anwendungskontext abstrahieren und sich andererseits in ausführbaren Programmen vergegenständlichen. Sie basieren auf der Annahme, dass sich ein funktionaler Kern praktischer Handlungs- und Interaktionszusammenhänge explizieren und dekontextualisiert repräsentieren lässt (vgl. Floyd 2002; Lehman/Ramil 2002). Die Entwicklung von Computerprogrammen weist damit eine grundlegende strukturelle Ähnlichkeit mit der Formalisierung von Praxis auf, indem sie praktische Handlungsvollzüge expliziert und formalisiert darstellt. Entsprechend ist der Hinweis von Autoren wie Schulz-Schaeffer (2004) oder Stalder (2017) richtig, dass sich Algorithmen und Datenstrukturen nicht nur in Computerprogrammen, sondern auch in sozialen Systemen und institutionellen Prozessen manifestieren. So hält etwa Geuter (2015) fest: »Jeder Sachbearbeiter und jede Sachbearbeiterin in der Arbeitsagentur, der oder die darüber entscheidet, welche Zuwendungen einer antragstellenden Person zustehen, arbeitet 5
Softwareentwicklung ist letztlich nicht nur ein sozialer, sondern immer auch ein politischer Prozess (vgl. Floyd 1992; Cohn/Sim/Dourish 2010). Die der Entwicklung zugrundeliegenden Motive und die Frage, inwiefern entsprechende Prozesse rational sind, spielt für die vorliegende Argumentation jedoch keine Rolle und wird hier deshalb ausgeklammert.
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nach einem vorgegebenen Schema. Einer Beschreibung des Vorgangs. Arbeitet also einen Algorithmus ab. Strafverfolgung, öffentliche Verwaltung und auch unser Gesundheitssystem können als Algorithmensysteme verstanden werden, die statt auf Prozessoren nur eben auf sozialen Strukturen laufen.«
Die Ausführung von Algorithmen und Datenstrukturen durch Computerprogramme unterscheidet sich jedoch in einem wesentlichen Punkt von der Abarbeitung vordefinierter Prozeduren durch menschliche Akteure: Während die menschlichen Akteure die Regeln im praktischen Vollzug immer noch auslegen und interpretieren müssen, verfügt der Computer in der Ausführung eines Programms nicht über diesen Interpretationsspielraum, da jede mögliche Interpretation ebenfalls im Programmcode festgeschrieben sein muss (Floyd 2002). Diese betrifft sowohl die Informationen über die Situation, in der er operiert wie auch die Möglichkeiten diese zu prozessieren. Sein ›Erfahrungshorizont‹ ist somit vollständig durch seinen Code festgelegt. Die Delegation der Umsetzung formalisierter Prozesse erhöht somit noch weiter die Sicherheit innerhalb des Systems, erfordert gleichzeitig aber auch eine weitergehende Anpassung der Situation an die Regel (vgl. Sesink 1989). Da die Entwicklung eines Computerprogramms im Sinne der Modellbildung immer auch eine Loslösung der operationalen Form aus dem situativen Kontext erfordert, muss sichergestellt werden, dass das Computerprogramm auch in anderen Situationen Anwendung finden kann. Hierfür stehen den Entwicklern zwei grundlegende Optionen zur Verfügung. Einerseits können sie versuchen, alle möglichen Anwendungssituationen selbst in einem formalen Modell zu fassen und Regeln festzulegen, wie mit verschiedenen Situationen umzugehen ist. Sie können aber andererseits den Anwendungskontext eines Programms offen bzw. unbestimmt lassen, so dass es den Anwendern obliegt, festzulegen, ob und wie ein bestimmtes Programm in einer bestimmten Situation zu verwenden ist (Floyd 2002: 25-26). Ein wesentlicher Unterschied bezüglich der Einbettung digitaler Medien in den praktischen Handlungsvollzug besteht somit darin, ob das zugrundeliegende operationale Modell ›lediglich‹ eine Regel, im Sinne einer Mittel-Zweck-Relation expliziert oder ob das operationale Modell auch die Regeln für die Anwendung der Regel formalisiert. Während im ersten Fall, die auf dem Computerprogramm basierende Anwendung Werkzeugcharakter hat, da die Steuerung und Kontrolle der Handlungsausführung beim menschlichen Akteur verbleibt, wird im zweiten Fall die Handlungsausführung selbst automatisiert; der Computer übernimmt hier die Steuerung und Kontrolle (Sesink 1989). Dass Computer sowohl als Werkzeuge wie auch als Automaten auf praktische Vollzüge Einfluss nehmen können, ist letztlich dem Umstand geschuldet,
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dass es sich bei ihnen um eine Universalmaschine handelt. Der Computer als Universalmaschine ist dabei in seinem Kern niemals neutral, da er immer schon eine instrumentelle Rationalität voraussetzt. Die für den vorliegenden Zusammenhang relevante Frage ist somit weniger die Frage nach der prinzipiellen Sinnhaftigkeit instrumenteller Rationalität, sondern vielmehr danach, ob wir instrumentelle Rationalität selbst als Werkzeug verstehen und verwenden oder ob wir sie zur alleinigen Grundlage unserer Existenz machen. Die Entwicklung und Verwendung digitaler Medien führt zu einer Transformation der Praxis, unabhängig davon, ob es sich um ein Werkzeug oder einen Automaten handelt. Die Verwendung digitaler Werkzeuge, sei es als Mess- und Beobachtungsinstrument oder als Kommunikations- und Arbeitswerkzeug, verändert den praktischen Handlungsvollzug und die damit verbundenen Erfahrungen. Wie jedes Werkzeug ist auch das digitale Werkzeug ein vermittelndes, als dass es die beteiligten Personen auf eine neue Weise mit sich, miteinander und mit der Welt in Beziehung setzt. Die Verwendung eines Textverarbeitungsprogramms etwa verändert nicht nur die technische Grundlage, sondern transformiert die Art und Weise der Textproduktion, etwa indem es Arbeitsschritte rückgängig zu machen erlaubt. Ebenso transformiert es soziale Beziehungen, z.B. indem verschiedene Autorenschaften explizit ausgewiesen werden müssen. Gleichzeitig belässt das digitale Werkzeug die Interpretation der praktischen Situation bei den menschlichen Akteuren. Die Verwendung eines digitalen Werkzeugs setzt insofern immer auch sozial geteilte Handlungs- und Deutungsschema voraus, die den Einsatz eines Werkzeugs als angemessen oder unangemessen in Erscheinung treten lassen (vgl. Béguin & Rabardel 2000). Die Verwendung als Werkzeug beinhaltet immer auch die Möglichkeit der NichtNutzung, der Umnutzung und der Zweckentfremdung. Da digitale Werkzeuge in ihrer Verwendung nicht festgelegt sind, können sie sowohl in regulativen wie auch poetischen Spielzügen zum Einsatz kommen. So können etwa Tabellenkalkulationsprogramme genutzt werden, um die Umsatzzahlen von Mitarbeitern zu überwachen oder Computersimulationen können eingesetzt werden, um Mitarbeiter hinsichtlich vordefinierter Ziele zu trainieren. Eine Tabellenkalkulation kann aber auch dazu genutzt werden, ein Kunstwerk zu erstellen6 und eine Spiele-Engine dazu, ein Musikvideo zu produzieren. Werden in einem Computerprogramm nicht nur praktische Handlungsvollzüge, sondern auch die praktischen Regeln ihrer Anwendung und damit das Verständnis der Situation formalisiert, kommt es ebenfalls zu einer Transformation der Praxis. Die Richtung dieser Transformation bestimmt sich jetzt allerdings nicht mehr anhand des praktischen Verständnisses der menschlichen Ak6
Siehe z.B. https://blog.wdr.de/digitalistan/kunst-in-excel/
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teure, sondern basiert auf der instrumentellen Rationalität des Automaten. Die Automatisierung sozialer Praktiken beschränkt sich dabei nicht nur auf physische Geräte und Einrichtungen wie Bankautomaten, Paketstationen oder selbstfahrende Autos, sondern findet ihren Niederschlag ebenso in intelligenten tutoriellen Systemen, in Systemen zur automatisierten Verarbeitung von Anträgen und zur Informationsfilterung, in Verkehrsüberwachungssystemen, in automatisierten Online-Trading-Systemen, in Social Bots − um nur einige der aktuellen Anwendungsfelder zu nennen. Im Unterschied zu digitalen Werkzeugen beinhalten alle diese Anwendungen nicht nur ein operationales Modell im Bezug auf einen bestimmten Ausschnitt der Realität, sondern auch ein Modell ihrer eigenen Anwendung (vgl. Lehman 1980). Dieser Unterschied lässt sich am Beispiel einer Suchmaschine verdeutlichen: So ermöglicht etwa die Suchmaschine der Universitätsbibliothek Kiel, den vorhandenen Bestand an Büchern und Zeitschriften durch die Eingabe von Suchbegriffen wie auch das Setzen von Filtern zu durchsuchen. Die Suchmaschine baut auf einem definierten Datenmodell auf und verwendet Algorithmen, um die Suchanfrage zu bearbeiten. Sie formalisiert zwar einen Teil des Suchvorgangs, aber nicht den Prozess des Suchens, da sie indifferent ist bezüglich der Anfragen, die gestellt werden, wie auch dem Umgang mit den Ergebnissen, die sie liefert. Insofern hat sie Werkzeugcharakter. Im Gegensatz hierzu beschränkt sich der Suchalgorithmus von Google jedoch nicht auf das prozessieren einer Suchanfrage, sondern bezieht sowohl vorhergehende Suchanfragen wie auch die Reaktionen der Anwender in Bezug auf die vorgeschlagenen Ergebnisse in sein Kalkül mit ein. Der Algorithmus verliert seinen statischen Charakter, indem er Bezug nimmt auf ein Modell seiner eigenen Anwendung7. Da digitale Automaten ein Modell ihrer eigenen Anwendung beinhalten, lassen sie sich, im Unterschied zu digitalen Werkzeugen, im praktischen Vollzug nicht hintergehen. Es gibt in diesem Sinne keine Suchanfrage, mit der sich die Logik von Google außer Kraft setzen ließe. Google bestimmt insofern nicht nur was wir finden, sondern auch wie wir suchen8. Digitale Automaten widersetzen sich 7
Am Beispiel von Google wird zudem deutlich, dass digitale Automaten soziale Praxis auch ohne Rückgriff auf eine explizite Modellierung einzelner Nutzer steuern können. Die Erstellung und Verwendung von Personenprofilen ist zwar wichtiger Bestandteil vieler digitaler Automaten (vgl. Iske 2016), aber keine zwingende Voraussetzung. Insofern wird aus unserer Sicht auch nicht nur der Umgang mit personenbezogenen Daten, sondern vor allem die Subsumption sozialer Praxis unter das Diktat einer instrumentellen Rationalität zum epochaltypischen Schlüsselproblem.
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Der Umstand, dass wir auch andere Suchmaschinen nutzen können, ändert dabei nichts daran, dass die Praktik des ›Googelns‹ der Logik des entsprechenden Automaten folgt, wir hätten es schlicht mit einer anderen Praktik zu tun.
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poetischen Spielzügen, indem sie jedwede Handlung entsprechend der in ihnen realisierten Interpretation der praktischen Situation auslegen. Hiermit verschwindet die Möglichkeit des Widerspruchs und der Zweckentfremdung. Sesink hält entsprechend fest: »Aber der vom Menschen abgelösten Rationalität wird damit auch jede subjektive Einspruchs- und Widerrufs-Instanz genommen, durch die sie auf das bezogen bleiben könnte, was ihren eigenen Maßstäben, den Maßstäben der Rationalität, nicht unterliegt, sondern vorausgeht: auf die ›Idee‹ des Menschen, die wir uns nicht ausdenken, die wir nicht erfinden, sondern nur in uns, in unserer materiell-sinnlichen Existenz, ihren Notwendigkeiten und Möglichkeiten, zu finden versuchen können.« (Sesink 1989: 20)
Zusammenfassend lässt sich somit festhalten, dass für Bildung in einer Kultur der Digitalität weniger die Frage von Bedeutung ist, ob Algorithmen und Datenstrukturen im Spiel sind, sondern vielmehr, ob diese als digitale Werkzeuge verfügbar sind oder ob sie auf die Automatisierung der Praxis abheben. Sowohl digitale Werkzeuge wie auch Automaten führen zu neuen Formen der Subjektivierung, sie unterscheiden sich jedoch im Hinblick auf die Möglichkeit zur Eröffnung poetischer Spielzüge.
F AZIT Die hier entwickelte Perspektive auf das Verhältnis von digitalen Medien und Bildung macht deutlich, dass der Einsatz und die Verwendung von Algorithmen und Datenstrukturen immer auch mit einer Veränderung der Praxis und somit auch der subjektivierenden Relationierungen verknüpft ist und in diesem Sinne niemals neutral sein kann. Durch die Möglichkeit digitaler Medien, sich sowohl in Form von Werkzeugen wie auch Automaten in praktische Handlungsvollzüge zu verwickeln, bilden sie eine qualitativ neue Art der Dinge, die sich nicht allein auf den Einsatz (einer bestimmten Art) von Algorithmen und Datenstrukturen zurückführen lässt. Infolgedessen verfehlt die Frage nach den Algorithmen, die wir brauchen, und denen, die wir nicht wollen (Stalder 2017), den entscheidenden Punkt: Es geht nicht um eine den digitalen Medien in irgendeiner Weise eingeschriebene »neoliberale Programmatik«, die sich durch eine »alternative Programmatik« (ebd.) ersetzen ließe, sondern darum, dass alle Versuche einer Formalisierung der Praxis letztlich darauf hinauslaufen, unsere Handlungs- und Erfahrungsmöglichkeiten und damit unsere kollektiven Entwicklungsmöglichkeiten einzuschränken, indem sie soziale Praxis auf das reduzieren, was expli-
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zierbar ist. Die »Diktatur der Zweckrationalität« (Sesink 1989: 14) beschränkt sich nicht auf eine neoliberale Programmatik, sondern findet sich auch und gerade in solchen Ansätzen, die einer bestimmten Vision des Zusammenlebens anhängen, sei diese rechter oder linker Provenienz. Je stärker und expliziter die Vision, desto einfacher ist es letztlich, die Formalisierung der Praxis voranzutreiben9. Der Ausweg aus einer Situation, in der wir durch das Beharren auf der Utopie der Regel versuchen, Sicherheit zu gewinnen, indem wir uns unserer eigenen Fremdheit, wie der des Anderen, entledigen und damit letztlich Bildung verunmöglichen, scheint vielmehr in Spielzügen zu liegen, die das Diktat der Zweckrationalität unterwandern, indem sie den Wert einer Handlung nicht in der Erreichung eines Ziels, sondern in der Praxis selbst verorten. Insofern fußen poetische Spielzüge auf dem Prinzip der An-archie, einer Praxis jenseits von Ursprung und Ziel (Röttgers 2015). Sie gleichen einem »trotzige[n] Beharren darauf, so zu handeln, als wäre man bereits frei« (Graeber 2016: 119). Bildung erfordert insofern nicht nur das Aushalten von Unsicherheit, sondern das aktive Öffnen und Offenhalten von Gestaltungsspielräumen von ›Welt‹, und den damit verbundenen Möglichkeiten der Subjektivierung. Dies schließt die Nutzung und Entwicklung digitaler Medien in keinster Weise aus, fordert aber zu Skepsis, Widerspruch und Widerstand auf, wenn immer eine illusionäre Regel in eine Utopie verwandelt wird und sich der Fokus von der Qualität des Miteinanders, der unhintergehbaren Fremdheit des Anderen auf die Befolgung einer Regel verschiebt.
L ITERATUR Alkemeyer, Thomas/Buschmann, Nikolaus/Michaeler, Matthias (2015): »Kritik der Praxis. Plädoyer für eine subjektivierungstheoretische Erweiterung der Praxistheorien«, in: Thomas Alkemeyer/Volker Schürmann/Jörg Volbers (Hg.), Praxis denken – Konzepte und Kritik, Wiesbaden: Springer VS, S. 2550. Béguin, Pierre/Rabardel, Pierre (2000): »Designing for Instrument-Mediated Activity«, in: Scandinavian Journal of Information Systems 12, S. 173-190.
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Der Ruf nach einer digitalen Agenda und entsprechender Visionen unterliegt letztlich selbst dem Diktat der Zweckrationalität (vgl. CrimethInc. 2013).
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Autorinnen und Autoren
Allert, Heidrun Prof. Dr., ist Professorin der Pädagogik, Schwerpunkt Medienpädagogik/Bildungsinformatik an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Studium der Pädagogik in Freiburg, Promotion an der Fakultät für Elektrotechnik und Informatik der Leibniz-Universität Hannover. In der Forschung befasst sie sich mit der Untersuchung von Wissenspraktiken, Design als Untersuchung, Kreativität als soziale Praktik, mit der materialen Qualität epistemischer Artefakte sowie mit Digitalisierung und Algorithmisierung der Bildung und in Bildungsinstitutionen unter praxistheoretischer Perspektive. Asmussen, Michael hat in Kiel Pädagogik und Philosophie studiert und ist derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Pädagogik (Abteilung Medienpädagogik/Bildungsinformatik) der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der pädagogischen Bildungs- und kulturwissenschaftlichen Praxistheorien. In seiner Dissertation beschäftigt er sich mit der Fundierung eines praxistheoretischen Bildungsbegriffs. Bardone, Emanuele wurde an der Universität Pavia im Fach Philosophie promoviert. Er lehrt dort kognitive Philosophie und an der Universität Tallinn Philosophie der Kognition für ein tieferes Verständnis von HCI. Derzeit ist er Senior Reseacher am Institute of Education an der Universtität Tartu und Mitglied des Center of Educational Technology. Bardone ist der Autor des Werkes »Seeking Chances: From Biased rationality to Distributed Cognition« (Springer 2011) und seine Forschungsinteressen drehen sich um die Begriffe Untersuchung, Innovation und Lerntechnologien. Gunia, Jürgen hat in Freiburg und Würzburg deutsche Literaturwissenschaft und Philosophie studiert und 1999 an der Universität Bielefeld bei Karl Heinz Bohrer mit einer Arbeit über Robert Musil promoviert. Er arbeitet als Lehrkraft für besondere Aufgaben in der Stellung eines Studienrats im Hochschuldienst
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D IGITALITÄT UND S ELBST
am Germanistischen Institut der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Seine Arbeitsschwerpunkte sind: Literarische Moderne, Subjekttheorie, Ästhetik und Kompetenzdiskurs. Hörning, Karl Heinz, geb. 1938, Prof. Dr., studierte Soziologie und Ethnologie in München, Heidelberg und Mannheim, war Postdoc an der Harvard University und Assistant Professor an der State University of New York in Buffalo. 1972 habilitierte er sich in Bochum und lehrte danach in Kassel, an der Columbia University in New York und bis zu seiner Emeritierung 2004 an der RWTH Aachen. Ausgewählte Publikationen: Zeitpioniere (Mitautor,1990); Experten des Alltags. Die Wiederkehr des praktischen Wissens (2001); Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis (Mithg., 2004); »Praxis und Ästhetik«, in: Moebius/Prinz (Hg.), Das Design der Gesellschaft (2012); »Was fremde Dinge tun. Sozialtheoretische Herausforderungen«, in: H.P. Hahn (Hg.), Vom Eigensinn der Dinge (2015). Kappler, Karolin Eva, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt »Taxonomien des Selbst. Zur Genese und Verbreitung kalkulativer Praktiken der Selbstinspektion« am Lehrgebiet Soziologische Gegenwartsdiagnosen an der FernUniversität in Hagen. Neben Lehraufträgen an der Bergischen Universität in Wuppertal und der Universitat Oberta de Catalunya kooperiert sie mit europäischen Forschungseinrichtungen wie dem Technology Center of Catalonia – Eurecat- oder der Martin Buber University. Nach ihrer Promotion an der Universitat de Barcelona (2009) habilitiert sie derzeit zu »Big Data ›in the making‹: Praxisformen in Forschung und Alltag«. Sie hat zahlreiche Buch- und Zeitschriftenbeiträge zu Selbstvermessung, kalkulativen Praktiken, Netzwerkanalyse und Gewalt im Alltag veröffentlicht. MacGilchrist, Felicitas, Professorin für Medienforschung mit dem Schwerpunkt Bildungsmedien an der Universität Göttingen, und Abteilungsleiterin am Georg-Eckert-Institut – Leibniz Institut für internationale Schulbuchforschung (GEI), Braunschweig. Sie forscht an der Schnittstelle von Medien und schulischer Bildung, vor allem zur Medialität und Materialität von Bildungstechnologien sowie zu den gesellschaftlichen Debatten zu ›neuen‹ Medien in der Bildung. Richter, Christoph, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Abteilung Medienpädagogik/Bildungsinformatik des Instituts für Pädagogik der ChristianAlbrechts-Universität zu Kiel. In einer Reihe vorwiegend internationaler For-
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schungs- und Entwicklungsprojekte hat er sich insbesondere mit der Untersuchung und Förderung computer-unterstützter und kollaborativer Lern- und Wissenspraktiken befasst. Sein aktuelles Forschungsinteresse gilt der Rolle digitaler Technologien in Bezug auf Kreativität und ästhetische Artikulationen. Er hat zahlreiche Beiträge zu kollaborativen Lern- und Wissenspraktiken, zur Gestaltung digitaler Lern- und Arbeitsumgebungen, sowie zur Funktion epistemischer Artefakte veröffentlicht Rode, Daniel, hat Lehramt für Gymnasien in den Fächern Sport und Englisch an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz studiert (1. Staatsexamen). Derzeit lehrt und forscht er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sportwissenschaft und Motologie der Philipps-Universität Marburg. Seine Arbeitsschwerpunkte sind qualitative (insbesondere ethnographische) Sozial-, Bildungsund Unterrichtsforschung, Körperlichkeit, Bewegung und Subjektivierung innerund außerhalb pädagogischer Praktiken sowie neue Technologien in Bewegungspraktiken. Röttgers, Kurt Prof. Dr., 1984-2009 Professor für Philosophie, insbesondere Praktische Philosophie an der FernUniversität in Hagen, 1973-2009 Mitherausgeber des Historischen Wörterbuchs der Philosophie, Ehrenmitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften; Arbeitsschwerpunkte: Sozialphilosophie, Politische Philosophie, Französische Philosophie der Gegenwart, Philosophie der Medialität; letzte Veröffentlichungen: Muße und der Sinn von Arbeit: Ein Beitrag zur Sozialphilosophie von Handeln, Zielerreichung und Zielerreichungsvermeidung. Heidelberg 2014; Identität als Ereignis. Zur Neufindung eines Begriffs. Bielefeld 2016; Die Möglichkeit einer an-archischen Praxis. In: Praxis denken, hrsg. v. Th. Alkemeyer, V. Schürmann, J. Volbers. Wiesbaden 2015, S. 51-79.
Pädagogik Anselm Böhmer
Bildung als Integrationstechnologie? Neue Konzepte für die Bildungsarbeit mit Geflüchteten 2016, 120 S., kart. 14,99 E (DE), 978-3-8376-3450-1 E-Book PDF: 12,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3450-5 EPUB: 12,99 E (DE), ISBN 978-3-7328-3450-1
Jan Erhorn, Jürgen Schwier, Petra Hampel
Bewegung und Gesundheit in der Kita Analysen und Konzepte für die Praxis 2016, 248 S., kart. 19,99 E (DE), 978-3-8376-3485-3 E-Book PDF: 17,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3485-7
Elisabeth Kampmann, Gregor Schwering
Teaching Media Medientheorie für die Schulpraxis — Grundlagen, Beispiele, Perspektiven (unter Mitarbeit von Linda Leskau, Kathrin Lohse, Arne Malmsheimer und Jens Schröter) März 2017, 304 S., kart., zahlr. Abb., 24,99 E (DE), 978-3-8376-3053-4 E-Book PDF: 21,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3053-8
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Pädagogik Juliette Wedl, Annette Bartsch (Hg.)
Teaching Gender? Zum reflektierten Umgang mit Geschlecht im Schulunterricht und in der Lehramtsausbildung 2015, 564 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 34,99 E (DE), 978-3-8376-2822-7 E-Book PDF: 34,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-2822-1
Tobias Leonhard, Christine Schlickum (Hg.)
Wie Lehrer_innen und Schüler_innen im Unterricht miteinander umgehen Wiederentdeckungen jenseits von Bildungsstandards und Kompetenzorientierung 2014, 208 S., kart. 29,99 E (DE), 978-3-8376-2909-5 E-Book PDF: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-2909-9
Peter Bubmann, Eckart Liebau (Hg.)
Die Ästhetik Europas Ideen und Illusionen 2016, 206 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3315-3 E-Book PDF: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3315-7
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