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German Pages XIV, 320 [326] Year 2020
Christoph Hertrich
Differenzierung im Wirtschaftsunterricht Eine qualitative Delphi-Studie zu Chancen und Hürden
Differenzierung im Wirtschaftsunterricht
Christoph Hertrich
Differenzierung im Wirtschaftsunterricht Eine qualitative Delphi-Studie zu Chancen und Hürden
Christoph Hertrich Waldkirch, Deutschland Zugleich Dissertation an der Pädagogischen Hochschule Freiburg im Jahr 2020.
ISBN 978-3-658-31166-7 ISBN 978-3-658-31167-4 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-31167-4 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Stefanie Eggert Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Danksagung
Dieses Promotionsprojekt unter den gegebenen Rahmenbedingungen erfolgreich umzusetzen, weist starke Ähnlichkeiten zu einer Wirbelsäulenoperation auf. Trotz sorgfältiger Aufklärung im Vorfeld bemerken die meisten Patienten erst im Aufwachraum nach der Operation, worauf sie sich eigentlich eingelassen haben und können anfangs nur erahnen, wie lange und kompliziert der Weg bis zur vollständigen Genesung sein würde. In diesem Sinne möchte ich mich zu allererst sehr herzlich bei meiner Doktormutter Prof. Dr. Franziska Birke bedanken! Sie hat mich dazu ermutigt, diese Chance zu ergreifen und es nicht versäumt, mich im Vorfeld offen und ehrlich über den damit verbundenen „Weg der Krisen“ aufzuklären. Auch möchte ich mich hiermit für sämtliche Unterstützung und Input in den letzten Jahren bedanken. So wurden mir keine Möglichkeiten zur Weiterentwicklung, wie zum Beispiel die Teilnahme an einer Summer School, Konferenzteilnahmen, erste Publikationen etc. verwehrt, sondern diese explizit angeregt und unterstützt. Diese Erfahrungen und Herausforderungen waren für mich sehr wertvoll und rückblickend wesentliche und gewinnbringende Aspekte für meinen Promotionsprozess und darüber hinaus. Ebenfalls möchte ich mich sehr herzlich bei Dr. Bernd Remmele bedanken, der mein Projekt in unterschiedlichen Phasen immer wieder durch kluge Ideen und konstruktives Feedback unterstützt hat. Dank gilt zudem meiner Kollegin und Büronachbarin Annette Kern. Für die vielen guten fachlichen und nichtfachlichen Gespräche, ihre stets sehr freundliche und ausgeglichene Art, die gute Stimmung im Büro und die produktive Zusammenarbeit. Diese Merkmale sind so auch auf das ganze Lehrstuhlteam anwendbar, wodurch mir die PH in den letzten Jahren sehr ans Herz gewachsen ist und irgendwie zu mehr wurde als nur ein Job.
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Danksagung
Ebenso wesentlich für den Erfolg des Projekts war eine Vielzahl externer Akteure, bei denen ich mich ebenfalls sehr herzlich bedanken möchte. Hierzu zählen vor allem die Experten aus den unterschiedlichen Tätigkeitsfeldern. Ohne ihren Einsatz wäre die Studie nicht möglich gewesen. Die Deutsche Gesellschaft für Ökonomische Bildung (DeGÖB) bot mit dem Nachwuchsforum und den Jahrestagungen wertvolle Möglichkeiten, um weitere Einblicke in die Welt der ökonomischen Bildung zu gewinnen und erste Ergebnisse meiner Arbeit vorzustellen und zu diskutieren. Auch wäre der Spagat zwischen meiner Tätigkeit am BSZ-Waldkirch und der PH-Freiburg nicht ohne die Unterstützung meiner Schulleiter (H. Kleinböck und B. Berhorst) möglich gewesen; Herzlichen Dank hierfür. Dass sich Prof. Dr. Ilona Ebbers dazu bereit erklärt hat, als Zweitbetreuerin tätig zu sein, freut mich sehr; Danke. Im privaten Bereich möchte ich mich vor allem bei meiner Mutter, Christl Hertrich, sehr herzlich bedanken! Sie hat mich auf meinem gesamten Lebensweg unterstützt und stets alle kleineren und größeren Abenteuer befürwortet und gefördert, wodurch u. a. auch die Grundlagen für dieses Projekt gelegt wurden. Meiner Freundin Rini danke ich für ihre Geduld und Toleranz, dass sie mein Promotionsprojekt, im Sinne einer sehr zeitintensiven aber dennoch befristeten Affäre, so lange mitgetragen hat, sowie Doris und Peter Müller für unsere außergewöhnliche Freundschaft und ihre langjährige Unterstützung und Begleitung. Auch bei Marlene Rzehak möchte ich mich sehr herzlich bedanken. Zuletzt danke ich dem Zufall. Er war es, der mich im richtigen Moment an die PH-Freiburg führte und diese tolle Zeit ermöglichte!
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 2
Die Heterogenitätsdebatte im historischen Kontext . . . . . . . . . . . . . . 7 2.1 „Heterogenität“ – eine Begriffsbestimmung. . . . . . . . . . . . . . . . . 7 2.2 Eine historische Perspektive zur Beschulung von heterogenen Schülerinnen und Schülern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 2.3 Innere Differenzierung als Rezept in den 70er Jahren. . . . . . . . . . 16
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Die Heterogenitätsdebatte im aktuellen Kontext. . . . . . . . . . . . . . . . . 21 3.1 Das Schulsystem aus gesellschaftlicher Perspektive. . . . . . . . . . . 22 3.2 Das Schulsystem aus organisatorischer Perspektive. . . . . . . . . . . 24 3.2.1 Alle Differenzierungsformen haben auch Nebenwirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 3.2.2 Das dreigliedrige Schulsystem und die Logik der externen Differenzierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 3.3 PISA forderte das etablierte System heraus. . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 3.3.1 Bessere Schülerleistungen in integrativen Schulstrukturen?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 3.3.2 Leistungsfähigkeit von selektierten „homogenen“ Schülergruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 3.3.3 Die Forderung nach mehr Chancengerechtigkeit. . . . . . . 33 3.3.4 Geringere Chancengleichheit durch Fehlselektion . . . . . 35 3.4 Schulpolitische Herausforderungen im Bereich der Hauptschulen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 3.4.1 Übergänge nach dem Hauptschulabschluss. . . . . . . . . . . 42 3.4.2 Schwierige Schüler und sinkende Schülerzahlen als Herausforderung für die Politik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44
VII
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Inhaltsverzeichnis
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Die Heterogenitätsdebatte und der Umbau des Schulsystems in Baden-Württemberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 4.1 Genehmigung von Gemeinschaftsschulen und neuer Bildungsplan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 4.2 Ansprüche an die Gemeinschaftsschule. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 4.3 Abschließende Bewertung zur Schulreform . . . . . . . . . . . . . . . . . 53
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Zentrale Begriffe und Herausforderungen im schulpädagogischen Heterogenitätsdiskurs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 5.1 Individualisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 5.1.1 Mögliche Maßnahmen einer Individualisierung . . . . . . . 57 5.1.2 Hürden und problematische Aspekte im individualisierten Unterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 5.1.3 Wirksamkeit von individualisiertem Unterricht. . . . . . . . 61 5.2 Differenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 5.3 Adaptivität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 5.4 Offener Unterricht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 5.4.1 Konsequenzen und Bedingungen für offenen Unterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 5.4.2 Aufgaben als ein wesentliches Gestaltungselement von offenem Unterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 5.4.3 Methoden als Gestaltungsmerkmal von offenem Unterricht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 5.4.4 Systemische Hürden in offen gestalteten Lernsituationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 5.5 Differenzierung und offener Unterricht als Herausforderung für Lehrkräfte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80
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Das ZAFE-Modell als konzeptioneller Orientierungsrahmen. . . . . . 85 6.1 Differenzierungsziel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 6.2 Differenzierungsaspekte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 6.3 Differenzierungsform. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 6.4 Differenzierungsebene. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88
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Differenzierungskonzepte in verschiedenen Fachbereichen. . . . . . . . 89 7.1 Gesellschaftswissenschaftliche Fachbereiche. . . . . . . . . . . . . . . . 90 7.1.1 Fachbereich Geographie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 7.1.2 Fachbereich Geschichte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 7.1.3 Fachbereich Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97
Inhaltsverzeichnis
7.2 7.3 7.4
IX
Naturwissenschaftlicher Fachbereich (Mathematik). . . . . . . . . . . 99 Fachbereich Wirtschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Fazit zum Vergleich der verschiedenen Fachbereiche. . . . . . . . . . 110
8
Die Delphi-Studie als Instrument der empirischen Sozialforschung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 8.1 Übliches Vorgehen bei Delphi-Studien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 8.2 Arten von Delphi-Studien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114
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Qualitative Untersuchung zur Differenzierung im Fach Wirtschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 9.1 Übergeordnete Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 9.2 Forschungsdesign. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 9.2.1 Experten und Stichprobengröße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 9.2.2 Erhebung der Delphi-Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 9.2.3 Erläuterung zur Auswertung der Daten. . . . . . . . . . . . . . . 123 9.2.4 Fragebogendesign der ersten Delphi-Runde. . . . . . . . . . . 125
10 Ergebnisse der ersten Delphi-Runde. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 10.1 Ergebnisse zur Wahrnehmung von Heterogenität . . . . . . . . . . . . . 135 10.2 Erste Einschätzungen zur Dimension „Differenzierungsziel“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 10.3 Erste Einschätzungen zur Dimension „Differenzierungsaspekte“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 10.4 Erste Einschätzungen zur Dimension „Differenzierungsform“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 10.5 Erste Einschätzungen zur Dimension „Differenzierungsebene“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 10.6 Weiterführende Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 10.7 Fragebogendesign der zweiten Delphi-Runde. . . . . . . . . . . . . . . . 192 11 Präzisierungen und Auswertung der zweiten Delphi-Runde . . . . . . . 197 11.1 Analyse der Stichprobe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 11.2 Zweite Einschätzung zur Dimension „Differenzierungsziel“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 11.3 Zweite Einschätzung zur Dimension „Differenzierungsaspekte“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 11.4 Zweite Einschätzung zur Dimension „Differenzierungsform“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236
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Inhaltsverzeichnis
11.5 Zweite Einschätzung zur Dimension „Differenzierungsebene“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 11.6 Weiterführung der Delphi 1 Ergebnisse jenseits des ZAFE-Modells. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 12 Gesamtfazit der Delphi-Studie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 12.1 Wie geeignet ist das Fach Wirtschaft, um die vorhandene Heterogenität der SuS nutzen zu können?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 12.2 Welche Heterogenitätsaspekte haben Einfluss auf den Wirtschaftsunterricht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 12.3 Lassen sich im Umgang mit Heterogenität Parallelen oder Unterschiede zu anderen Fächern erkennen?. . . . . . . . . . . . . . . . . 287 12.4 Welche zukünftige Entwicklung prognostizieren die Experten für einen differenzierten Wirtschaftsunterricht?. . . . . . . 294 13 Fachdidaktische Implikation und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 2.1 Abbildung 3.1 Abbildung 3.2 Abbildung 3.3 Abbildung 3.4 Abbildung 3.5 Abbildung 5.1 Abbildung 5.2 Abbildung 5.3 Abbildung 5.4 Abbildung 6.1 Abbildung 10.1 Abbildung 10.2 Abbildung 10.3 Abbildung 10.4 Abbildung 10.5 Abbildung 10.6 Abbildung 10.7
Angebot-Nutzenmodell. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Ebenen-Modell. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Kompetenzstufenzugehörigkeit der SuS, differenziert nach Übergangsempfehlung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 Schulformwunsch nach höchstem Abschluss der Eltern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Schulempfehlung nach höchstem Abschluss der Eltern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 Realisierter Übergang nach höchstem Abschluss der Eltern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 Zentrale Begriffe im Heterogenitätsdiskurs. . . . . . . . . . 56 Stufen der Individualisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 Aufgabentypen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Stufenmodell. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 ZAFE-Modell. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Anzahl der Experten in den unterschiedlichen Tätigkeitsbereichen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 Zuordnung der Experten zu den Schularten. . . . . . . . . . 134 Einschätzung von Heterogenität nach Schulart . . . . . . . 136 Einschätzung von Homogenität nach Schulart. . . . . . . . 137 Zukünftige Bedeutung von differenziertem Unterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 Zukünftige Bedeutung von differenziertem Wirtschaftsunterricht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 Ausprägung von Differenzierung im Fach Wirtschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
XI
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Abbildung 10.8 Abbildung 10.9 Abbildung 10.10 Abbildung 10.11 Abbildung 10.12 Abbildung 10.13 Abbildung 10.14 Abbildung 10.15 Abbildung 10.16 Abbildung 10.17 Abbildung 10.18 Abbildung 11.1 Abbildung 11.2 Abbildung 11.3 Abbildung 11.4 Abbildung 11.5 Abbildung 11.6 Abbildung 11.7 Abbildung 11.8 Abbildung 11.9 Abbildung 11.10 Abbildung 11.11 Abbildung 11.12 Abbildung 11.13 Abbildung 11.14 Abbildung 11.15
Abbildungsverzeichnis
Eignung des Fachs Wirtschaft zum Einbeziehen von Vielfalt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Beschreibung von Sachebene und Meinungsebene . . . . 154 Ranking Heterogenitätsaspekte und Leistung. . . . . . . . . 157 Verteilungen innerhalb der Heterogenitätsaspekte. . . . . 158 Einfluss von Geschlecht auf Leistung nach Expertengruppen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Heterogenitätsaspekte, die den Unterricht beeinflussen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Im Unterricht angewendete Maßnahmen, um auf Heterogenität zu reagieren. . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Eignung von Methoden zur Differenzierung im Fach Wirtschaftsunterricht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 Ranking der Methoden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Selbsteinschätzung der Planungs- und Umsetzungskompetenz „Differenzierte Stunde“ . . . . . . 182 Selbsteinschätzung der Planungs- und Umsetzungskompetenz für eine differenzierte Unterrichtseinheit. . . 184 Tätigkeitsbereich der Experten im Vergleich . . . . . . . . . 198 Anzahl der Experten je Tätigkeitsbereich (Delphi 2). . . 199 Zuständigkeit der Experten nach Schulart (Delphi 2). . . 199 Anteile der Experten nach Schularten im Vergleich. . . . 200 Ebenen zur Einbeziehung von Vielfalt. . . . . . . . . . . . . . 201 Verhältnis von wirtschaftlicher Sachebene und wirtschaftlicher Meinungsebene . . . . . . . . . . . . . . . 205 Unterschiede in der Regelgeleitetheit. . . . . . . . . . . . . . . 207 Delphi 1-Ergebnisse zur Dimension „Differenzierungsaspekte“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 Bevorzugte Differenzierungsformen im Fach Wirtschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Eignung einer Differenzierung über Aufgaben. . . . . . . . 243 Bewertung der Methoden und Differenzierung (Delphi 1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 Problematische Aspekte der Projektmethode. . . . . . . . . 249 Vergleich der Methodenbewertungen Delphi 1 & 2. . . . 259 Ausprägung von Differenzierung. Ergebnis aus Delphi 1. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 Ausprägungen von differenziertem Wirtschaftsunterricht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263
Tabellenverzeichnis
Tabelle 5.1 Tabelle 7.1 Tabelle 9.1 Tabelle 10.1 Tabelle 10.2 Tabelle 10.3 Tabelle 10.4 Tabelle 10.5 Tabelle 10.6 Tabelle 11.1 Tabelle 11.2 Tabelle 11.3 Tabelle 11.4 Tabelle 11.5 Tabelle 11.6 Tabelle 11.7 Tabelle 11.8
Ausprägungen von Adaptivität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 Differenzierungskonzepte verschiedener Fachbereiche. . . . 90 Übersicht zum Forschungsdesign. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Antwortkategorien und Möglichkeiten, Vielfalt einzubeziehen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 Gewichtete Bewertung von Differenzierungsaspekten und Leistung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Antwortkategorien: Präzisierung zu den Differenzierungsaspekten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Antwortkategorien: Eignung einer offenen oder geschlossenen Differenzierungsform. . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 Antwortkategorien Umsetzungshürden . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Antwortkategorien: zukünftige Auswirkung von Heterogenität auf den Unterricht. . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Antwortkategorien: Vielfalt im Rechnungswesen . . . . . . . . 212 Antwortkategorien: Bewertung des AEIOU-Ansatzes. . . . . 216 Antwortkategorien Geschlecht und Leistung. . . . . . . . . . . . 221 Antwortkategorien Sprachkompetenz und Leistung . . . . . . 225 Antwortkategorien Arten von Vorwissen. . . . . . . . . . . . . . . 230 Antwortkategorien: mathematische Grundfähigkeiten im Wirtschaftsunterricht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 Antwortkategorien: Lösung für Problemaspekte bzgl. der Differenzierungsformen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Antwortkategorien: Umsetzung einer Differenzierung anhand der Aufgabenebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244
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Tabelle 11.9 Tabelle 11.10 Tabelle 11.11 Tabelle 11.12 Tabelle 11.13
Tabellenverzeichnis
Antwortkategorien Eignung von „Freiarbeit, „Gruppenarbeit“ und „Lernzirkel“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 Antwortkategorien: Begründungen zum schlechten Abschneiden des Gruppenpuzzles. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Antwortkategorien: Ängste, sich zu äußern. . . . . . . . . . . . . 267 Antwortkategorien: Gründe für Widerstände. . . . . . . . . . . . 269 Antwortkategorien: Konflikt zwischen Bedarf und Hürden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273
1
Einleitung
Die Frage, wie Schülerinnen und Schüler1 im Klassenverband am besten beschult werden können, ist so alt wie das Schulwesen selbst. Das Kernelement von Unterricht, die individuellen SuS, sind dabei über hunderte von Jahren nicht aus dem Fokus gerückt. Sehr wohl haben sich im Laufe der Geschichte jedoch Forschungs- und Interessenschwerpunkte zu Lehr-Lernprozessen verschoben. So können beispielsweise Themenbereiche und Konzepte aus dem Blickfeld der Forschung oder dem öffentlichen Interesse geraten. Es ist aber auch möglich, dass bestimmte Themenbereiche im Laufe der Zeit wieder verstärkt in den Fokus rücken und sozusagen eine Renaissance erfahren. Dies trifft auch für den Heterogenitätsdiskurs zu. Während die Diskussionen zur Individualität der SuS und die damit verbundenen Forderungen nach mehr Binnendifferenzierung, vor allem in den 1970er Jahren, sehr präsent waren, verlor die Debatte nach rund zehn Jahren deutlich an Bedeutung (Trautmann und Wischer 2009, S. 161). Erst nach der Jahrtausendwende rückte die Heterogenitätsdebatte wieder stärker in den öffentlichen Fokus, was sich durch eine steigende Anzahl an Publikationen und Beiträgen, unter anderem in der allgemeinen Didaktik und der Erziehungswissenschaft, bemerkbar machte. Diese Entwicklung wurde in einem Beitrag aus dem Jahr 2007 nüchtern und treffend mit den Worten „Heterogenität hat »Konjunktur«“ (Wenning 2007, S. 22) beschrieben. Wer sich mit der Heterogenitätsdebatte auseinandersetzt, stellt zwangsläufig fest, dass der Heterogenitätsbegriff ein sehr großes Themenfeld aufspannt, da
1Für
eine einfachere Lesbarkeit wird in der Arbeit für die Formulierung „Schülerinnen und Schüler“ die Abkürzung „SuS“ verwendet. Ebenso wird der Begriff „Experten“ genderneutral verwendet.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Hertrich, Differenzierung im Wirtschaftsunterricht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31167-4_1
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1 Einleitung
mit ihm eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Problemstellungen und Ansprüche im Wirtschaftsunterricht (und darüber hinaus) in Verbindung gebracht werden können. Umso mehr ist an dieser Stelle auch die Wirtschaftsdidaktik gefordert, Lösungsansätze für diese Herausforderungen zu finden, um diesen Ansprüchen gerecht werden zu können. Die Leitfrage dieser Dissertation zu den Chancen und Hürden in einem differenzierten Wirtschaftsunterricht ist somit von zentraler Bedeutung, da gelingende Konzepte für die Unterrichtsebene nur auf Grundlage einer realistischen Einschätzung des Differenzierungspotenzials der wirtschaftlichen Inhalte, der Rahmenbedingungen und den sich daraus ergebenden Möglichkeiten konzipiert werden können. Der Wirtschaftsdidaktik liegen hierzu jedoch bisher nur punktuelle Erkenntnisse vor. Ziel dieser Arbeit soll es deshalb sein, die Möglichkeiten auszuloten, die das Fach Wirtschaft für eine Differenzierung bietet, und bestehende Hürden zu identifizieren. Um die Bedeutung der Forschungsfrage für die Wirtschaftsdidaktik und die Lehrkräfte in den Schulen besser darlegen zu können, beschreibt die Arbeit vorab einige wesentliche übergeordnete Facetten und Argumentationsstränge im Heterogenitätsdiskurs. Danach erfolgt die Vorstellung des Forschungsdesigns und dessen Umsetzung. Nach einer allgemeinen Begriffsbestimmung lenkt Kapitel 2 den Blick zuerst in die Vergangenheit. Obwohl der Heterogenitätsbegriff aktuell im Trend liegt und häufig auch mit innovativen Unterrichtskonzepten in Verbindung gebracht wird, zeigt das Kapitel auf, dass der Ursprung derartiger Ideen schon lange zurückliegt und teilweise fast identische Ansätze bereits in den 1970er Jahren forciert wurden (Wischer und Trautmann 2012). Kapitel 3 bezieht sich hingegen auf den aktuellen Kontext der Heterogenitätsdebatte und stellt die Funktion des Schulsystems aus der gesellschaftlichen und organisatorischen Perspektive dar. Hierdurch wird deutlich, dass jedes Schulsystem Schülerströme lenken und qualifizieren muss, wodurch es zwangsläufig auf die Anwendung einer inneren oder externen Differenzierung angewiesen ist (Fend 2008, 22 ff.). Die Frage, ob und wie differenziert werden soll, spiegelt sich somit nicht nur auf der Unterrichtsebene, sondern auch auf der Schulsystemebene wider. Abhängig von der Logik der Systemebenen hat dies auch immer Auswirkungen darauf, wie der Unterricht an den Schulen in optimaler Weise konzipiert werden sollte. Das deutsche Schulsystem ist diesbezüglich traditionell dreigliedrig, nach der Logik einer externen Differenzierung strukturiert. Durch das schlechte Abschneiden Deutschlands bei der PISA-Studie im Jahr 2000 bekamen die kritischen Argumente gegen das etablierte System erneut eine größere Bedeutung (Groeben et al. 2012, S. 10). Untermauert wurde dies vor allem dadurch, dass andere Länder, deren Schulsysteme nach einer Logik der
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inneren Differenzierung stärker integrativ ausgerichtet waren, deutlich bessere Leistungen erzielen konnten (Bräu und Schwerdt 2005, S. 9). Ebenfalls zeigte sich, dass das deutsche Schulsystem auch mit Blick auf die Chancengerechtigkeit nicht gut aufgestellt war, was entsprechende politische Reformforderungen mit sich zog (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2012, S. 226). In Baden-Württemberg, das sich im Vergleich zu anderen Bundesländern, wie zum Beispiel Hessen sehr auf die Dreigliedrigkeit fokussierte (Herrlitz et al. 2003, S. 17), wurde der Reformdruck auf die Bildungspolitik zudem dadurch erhöht, dass SuS zunehmend die Wahl einer Hauptschule vermieden und gleich nach höherwertigen Bildungsabschlüssen strebten. Dies zwang die Politik sowohl aus organisatorischen als auch aus pädagogischen Gründen zum Handeln und resultierte in der Einführung der Gemeinschaftsschule, was durch die rot-grüne Landesregierung im Jahr 2012 umgesetzt wurde. Ebenso folgte ein neuartiger, niveaudifferenzierter Bildungsplan, der im Jahr 2016 implementiert wurde. Vor allem die Einführung der Gemeinschaftsschule kann nach über fünfzigjähriger Dreigliedrigkeit als ein ambitioniertes Reformprojekt angesehen werden, da in Baden-Württemberg bis dahin kaum entsprechende Erfahrungswerte vorlagen und das Zusammenlegen von Haupt- und Realschule wie auch die Gemeinschaftsschule mit erheblichen Unsicherheiten verbunden waren (Bohl und Meissner 2013, S. 10). Diese Entwicklung wird in Kapitel 4 nachgezeichnet. Durch die nach einer integrativen Logik konzipierten Gemeinschaftsschule wird von den Lehrkräften an diesen Schulen und darüber hinaus somit ein neues Maß an Differenzierung im Unterricht gefordert (Kratzmeier 2013, S. 29). Diese relativ aktuelle Reform in Baden-Württemberg legitimiert somit die Fragestellung dieser Arbeit und kann als ein exemplarisches Beispiel verstanden werden. Ähnliche Bestrebungen dieser Art fanden oder finden auch in anderen Bundesländern statt, wodurch diese Forschungsfrage für den Wirtschaftsunterricht in Baden-Württemberg, aber auch darüber hinaus, von Bedeutung ist. Die mit derartigen Reformen häufig verbundenen, politischen und wissenschaftlichen Ansprüche in Verbindung mit entsprechenden Appellen an das Pflichtgefühl der Lehrkräfte, welche die Reformschritte zum Wohle der Kinder zwingend umsetzen müssen, erhöhen dabei den Druck auf die Lehrkräfte (Wischer und Trautmann 2010, S. 159). Auch kann in der Frage, wie mit Heterogenität umgegangen werden sollte, eine klare Diskrepanz zwischen der schulischen Realität einerseits und den politischen Vorgaben beziehungsweise wissenschaftlichen Ansprüchen andererseits gesehen werden (Trautmann und Wischer 2013). Dabei mangelt es häufig nicht an wissenschaftlichen, normativen Handlungsempfehlungen. Vielmehr verlieren sich diese hin und wieder in immer
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feineren Kategorien2, welche die Komplexität der Handlungsentscheidung im Unterricht für die Lehrkräfte erhöhen. „Verführerisch daran ist, dass man auf konzeptioneller Ebene das Spektrum von Differenzierungsvarianten immer weiter steigern, konkrete Umsetzungsfragen aber getrost der Lehrperson überlassen kann.“ (Wischer und Trautmann 2010, S. 161)
Der Forschungsbeitrag dieser Arbeit möchte daher genau an dieser Stelle ansetzen und untersuchen, welche konkreten Chancen und Hürden in einem differenzierten Wirtschaftsunterricht vorhanden sind, zumal dieser Bereich bisher auch wirtschaftsdidaktisch kaum beforscht wurde. Hierzu wurde die Forschungsfrage in die folgenden Leitfragen untergliedert: • Wie geeignet ist das Fach Wirtschaft, um die vorhandene Heterogenität der SuS nutzen zu können? • Welche Heterogenitätsaspekte haben Einfluss auf den Wirtschaftsunterricht? • Welche didaktischen Maßnahmen lassen sich in einem differenzierten Wirtschaftsunterricht erfolgreich umsetzen? • Lassen sich im Umgang mit Heterogenität und der Verwendung von Differenzierungskonzepten Parallelen oder Unterschiede zu anderen Fächern erkennen? • Welche zukünftige Entwicklung prognostizieren die Experten für einen differenzierten Wirtschaftsunterricht? Um später durch die gewonnenen Erkenntnisse, neben einem wissenschaftlichen Beitrag, auch verwertbare Impulse für die Umsetzungsebene in den Schulen leisten zu können, wurden die Daten mittels einer qualitativ ausgerichteten Delphi-Studie und praxisnahen Fragen erhoben. Im Rahmen derer wurden Experten mit einem wirtschaftsdidaktischen Bezug aus den Hochschulen, den Seminaren aber auch aus den Schulen gebeten, entsprechende Einschätzungen abzugeben. Diese Befragungsrunden fanden jeweils im Sommer 2017 und 2018 statt. Als strukturgebendes Element für diese Untersuchung sowie für einen Vergleich von Differenzierungskonzepten aus ausgewählten Fachbereichen diente das ZAFE-Modell (Leuders und Prediger 2016, S. 151), das im Bereich der
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das Konzept der Intersektionalität.
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Mathematikdidaktik entwickelt wurde und als eine Art übergeordneter Planungshilfe für einen differenzierten Unterricht gesehen werden kann. Die Untersuchung ist somit an den Stand der aktuellen Forschung angeschlossen und verfügt zugleich über einen praxisorientierten Fokus. Die Ergebnisse dieser Arbeit sollen neben einem wissenschaftlichen Forschungsbeitrag auch neue Impulse für die Lehrerausbildung und die zukünftige konzeptionelle Planung von differenziertem Wirtschaftsunterricht im täglichen Unterrichtsgeschehen beisteuern können. Die Aussagen der Experten in der DelphiStudie weisen darauf hin, dass wirtschaftliche Inhalte vielfältige Möglichkeiten bieten, um eine Differenzierung umsetzen zu können.
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Die Heterogenitätsdebatte im historischen Kontext
Um den aktuellen Heterogenitätsdiskurs und die damit verbundenen bildungspolitischen Konzepte besser einordnen zu können, soll die Debatte vorab in einen historischen Kontext verortet werden. Obwohl die Publikationen in diesem Themenfeld ungefähr seit dem Jahr 2010 deutlich zugenommen haben, sind die grundsätzlichen Fragestellungen und Problemlagen dieser Debatte schon deutlich länger bekannt. Auch in Bezug auf die Forschungsfrage dieser Arbeit ist ein Abgleich mit der historischen Diskussion von Interesse, um dadurch später bewerten zu können, ob sich die Chancen und Problemlagen im Laufe der Jahre verändert haben. Bevor jedoch die historischen Ansätze zur Beschulung von heterogenen SuS genauer dargestellt werden, soll zuerst der Heterogenitätsbegriff in einem allgemeinen und in einem pädagogischen Kontext definiert werden.
2.1 „Heterogenität“ – eine Begriffsbestimmung Der Begriff „Heterogenität“ kann allgemein als eine Verschiedenartigkeit oder Ungleichartigkeit definiert werden und wird auch zur Beschreibung einer uneinheitlichen Zusammensetzung von Dingen verwendet (Duden 2019). Der Begriff ist somit sehr weit gefasst und kann für eine Vielzahl von Bereichen verwendet werden. Im naturwissenschaftlichen Bereich können zum Beispiel chemische Stoffe als heterogen bezeichnet werden. Ebenso ist der Begriff aber auch in einem soziologischen Zusammenhang anwendbar, zum Beispiel, wenn es um eine Beschreibung verschiedener Mitarbeitergruppen in einem Unternehmen geht. In einem schulischen Kontext können auf diese Weise auch SuS einer Schule oder einer Schulklasse als heterogen beschrieben werden. Diese Darstellung ist jedoch immer nur in Bezug auf eine Vergleichsgruppe möglich. Um © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Hertrich, Differenzierung im Wirtschaftsunterricht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31167-4_2
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2 Die Heterogenitätsdebatte im historischen Kontext
Heterogenität feststellen zu können, wird grundsätzlich ein Vergleichskriterium („tertium comparationis“) benötigt (Hagedorn 2010, S. 404; Prengel 2005). Dies bedeutet, dass Heterogenität und ihre Ausprägungen nur durch einen direkten Vergleich sichtbar werden können, wenn zum Beispiel die Prüfungsergebnisse der SuS von Klasse A mit denen von Klasse B verglichen werden. Somit handelt es sich bei der Beschreibung von Heterogenität immer um eine relative Angabe, was weitergehend auch für das Gegenteil, die „Homogenität“ gilt. Begründen lässt sich dies dadurch, dass es sich bei den beiden Begriffen keinesfalls um objektive Eigenschaften handelt, welche einer Person direkt zugeschrieben werden können, sondern die sich nur durch einen Kontrast mit einer Normgröße1 bestimmen lassen. Je nach Definition dieser Normvorstellung können unterschiedliche Ergebnisse in Bezug auf die Gleichartigkeit (Homogenität) oder Ungleichheit (Heterogenität) von Personen einer Gruppe festgestellt werden. Auch muss die Zuordnung zu einer dieser beiden Kategorien keineswegs permanent sein, da Personen durch die Veränderung ihrer persönlichen Eigenschaften, zum Beispiel durch gezielte Fördermaßnahmen, den Abstand zur Normgröße beeinflussen können. Dadurch wird die Intensität der Kategorien variierbar und könnte sogar gänzlich getauscht werden (Wenning 2007, S. 22). Es wäre aber auch denkbar, dass sich die Normvorstellung einer Gesellschaft oder einer Institution verändert, die einer Gruppe einen entsprechenden Grad an Heterogenität bescheinigt. Ein Beispiel für eine solche Normvorstellung wäre die Zusammensetzung einer Eliteklasse. So würden SuS mit besonderem Förderbedarf hinsichtlich ihrer Leistungsfähigkeit in einer Klasse für Hochbegabte deutlich stärker als heterogen wahrgenommen werden als in einer anderen Klasse, die nach integrativen Überlegungen zusammengesetzt wurde (Wenning 2007, S. 25). Würde man die SuS einer Klasse anhand verschiedener Merkmale, wie zum Beispiel Gender, Alter, Intelligenzquotient etc. direkt miteinander vergleichen, so ließen sich sogenannte interindividuelle Differenzen innerhalb der Klasse aufzeigen. Setzt man hingegen die Ausprägung von verschiedenen Fähigkeiten und Verhaltensmuster eines einzelnen Schülers in Bezug zu einem Normwert, so spricht man von intraindividuellen Differenzen. Es wäre zum Beispiel möglich, dass SuS im Bereich Kopfrechnen ihrem Alter voraus sind und in einem anderen Bereich über einen Förderbedarf verfügen (Largo und Beglinger 2009, S. 284). Zudem ist es der Breite des Heterogenitätsbegriffs zu verdanken, dass er sowohl positiv als auch negativ konnotiert sein kann. Versteht man Heterogenität
1Hierbei
kann es sich auch lediglich um eine Normalitätsvorstellung handeln.
2.1 „Heterogenität“ – eine Begriffsbestimmung
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im Sinne von Mannigfaltigkeit und Buntheit, so würde wahrscheinlich niemand widersprechen, dass es durchaus bereichernd sein kann, ein gesellschaftspolitisches Unterrichtsthema mit SuS aus unterschiedlichen Kulturkreisen zu diskutieren. Andererseits lässt sich der Heterogenitätsbegriff aber auch mit weniger positiven Aspekten verknüpfen, wenn man zum Beispiel an deutlich ungleiche Einkommen trotz ähnlicher Arbeitszeit denkt. Auch unterschiedliche Verhaltensmerkmale, wie zum Beispiel aggressives Auftreten oder ungleiche Lernvoraussetzungen, stellen einen Heterogenitätsbereich dar, der sehr wahrscheinlich nicht per se als positiv bewertet werden würde, sondern eher als eine Herausforderung (Trautmann und Wischer 2011, S. 65). Derartige Herausforderungen existieren in vielen gesellschaftlichen Bereichen und sollen durch politische Maßnahmen gezielt abgemildert oder sogar ganz ausgeglichen werden. Im politischen oder soziologischen Kontext wird neben dem Heterogenitätsbegriff auch häufig der Begriff „Diversität“ verwendet, um sich auf eine Verschiedenheit in der Gesellschaft zu beziehen. Während die Politik Gesetze verabschiedet, die gegen Diskriminierung vorgehen und für mehr Gerechtigkeit sorgen sollen, nimmt die soziologische Diskussion eine eher kritische Perspektive ein, in der sie Aspekte wie soziale Ungleichheit oder Machtbeziehungen thematisiert (Scherr 2008, S. 57). Ebenfalls wird der Begriff Diversität auch häufiger in einem wirtschaftlichen bzw. industriellen Zusammenhang verwendet. So ist zum Beispiel das „Diversity Management“ ein Ansatz aus dem Personalmanagement, der mit der Zielsetzung verbunden ist, die persönlichen Unterschiede im Rahmen von konstruktiven und nicht diskriminierenden Umgangs- und Kooperationsformen zu nutzen, um somit ein zusätzliches Effizienzpotenzial freisetzen zu können. Der Heterogenitätsbegriff wird hingegen verstärkt im schulischen Kontext verwendet und wird dann oft mit Anstrengungen und Schwierigkeiten im Unterrichtsprozess assoziiert, die zum Beispiel durch unterschiedliche Persönlichkeitsmerkmale der SuS hervorgerufen werden können. Die Vielfalt an Vergleichskriterien, welche auf Personen angewendet werden könnten, um Heterogenität oder Homogenität festzustellen, ist dabei nahezu unbegrenzt. Für den schulischen Bereich ist jedoch entscheidend, dass nicht alle möglichen Persönlichkeitsmerkmale gleich relevant sind. Erkenntnisse, die den Einfluss von entsprechenden individuellen Merkmalen auf die schulische Leistung erklären, finden sich im Bereich der Lehr- und Lernpsychologie. Forschungsergebnisse aus diesem Bereich legen nahe, dass es gesellschaftliche, sozioökonomische und schulsystemische Aspekte gibt, die einen nachweisbaren Einfluss auf die Schulleistung haben. Einen Überblick über das Zusammenspiel
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2 Die Heterogenitätsdebatte im historischen Kontext
dieser unterschiedlichen Aspekte im schulischen Kontext liefert zum Beispiel das Angebot-Nutzen-Modell nach Helmke (Abbildung 2.1).
Abbildung 2.1 Angebot-Nutzenmodell. (Nach Helmke 2017, S. 71 f.)
Im Zentrum von Helmkes Modell steht der Unterricht, der von der Lehrperson als Angebot zur Verfügung gestellt wird. Verbunden damit ist die Zielsetzung, über eine möglichst hohe schulische und außerschulische Lernaktivität einen maximalen Ertrag im Sinne eines Kompetenzzuwachses bei den Lernenden zu erreichen oder ein erzieherisches Wirken zu erzielen. In Bezug auf die Frage, welche individuellen Aspekte Einfluss auf die schulischen Leistungen haben, verdeutlicht Helmkes Modell, dass neben den individuellen Merkmalen der Lernenden auch Lehrpersonen sehr heterogen sein können, was somit zwangsläufig zur Überkreuzung von Differenzlinien zwischen Schüler und Lehrer führen kann (Krüger-Potratz 2011, S. 197). Relevante Unterschiede können bei den Lehrkräften, laut Helmkes Modell, zum Beispiel in den Bereichen der allgemeinen Charakteristika (Lehrerfahrung, Persönlichkeit, Alter etc.) oder der professionellen Kompetenzen (fachliche, didaktische, diagnostische Kompetenz, pädagogische Orientierung etc.) verortet werden (Helmke 2017). Obwohl nach Helmkes Modell eine Vielzahl von Faktoren Einfluss auf den Lernerfolg haben,
2.1 „Heterogenität“ – eine Begriffsbestimmung
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sind wesentliche Aspekte jedoch im Bereich der individuellen Bedingungsfaktoren zu suchen. „Auch wenn die Einflüsse gesamtgesellschaftlicher, sozioökonomischer, schulsystematischer und klassenspezifischer Bedingungen auf die Schulleistung trotz gelegentlich schwacher empirischer Evidenz hoch eingeschätzt werden, so gibt es keinen vernünftigen Zweifel daran, dass der Lernende mit seinen dispositionalen Merkmalen und seinem aktuellen Verhalten die wichtigste dynamische Determinante der Schulleistungen und der Entstehung von Schulleistungsunterschieden darstellt.“ (Helmke und Weinert 1997, S. 99)
Diese dispositionalen Merkmale, anhand derer sich Individuen unterscheiden lassen, sind in der Literatur auch häufig unter der Bezeichnung „Differenzlinien“ zu finden. Dabei können die möglichen Differenzlinien sehr vielseitig sein und in Bezug auf verschiedene Dimensionen miteinander in Verbindung stehen. Man spricht dann häufig auch von Intersektionalität oder individuellen Differenzbäumen. Der Forschungsbereich um Intersektionalität verdeutlicht diese Problematik sehr gut. Dieser untersucht beispielsweise, inwiefern überschneidende Differenzlinien auch zu eigenständigen Diskriminierungsformen führen können, die mehr sind als nur eine Addition der einzelnen Diskriminierungsarten (Krüger-Potratz 2011, S. 191). Demnach könnte zum Beispiel ein blinder ausländischer Schüler nicht nur als Ausländer oder Blinder benachteiligt werden, sondern auch im Rahmen einer eigenständigen Benachteiligung als blinder Ausländer. Ansätze aus dem Bereich der Wirtschaftsdidaktik legen nahe, dass es durchaus angebracht ist, bei einer näheren Betrachtung von individuellen Persönlichkeitsprofilen neben dem Heterogenitätsbegriff noch weitere Referenzkonzepte, wie zum Beispiel „Gender“, „Interkulturalität“ und „Intersektionalität“ mit einzubeziehen (Ebbers 2009, S. 160). Abhängig von der jeweiligen Zielsetzung, könnte eine verknüpfte und feingliedrige Darstellung von Unterscheidungsaspekten, wie es beim Konzept der Intersektionalität angesprochen wurde, aber auch dazu führen, dass sie auf der praktischen Unterrichtsebene sehr wahrscheinlich zunehmend weniger handhabbar werden. Daher soll auch im weiteren Verlauf dieser Arbeit nur auf Aspekte eingegangen werden, die für eine Lehrkraft in der Unterrichtssituation erkennbar, unterscheidbar beziehungsweise bewertbar sind. Nur so wird es möglich sein, die für den Domänenbereich der ökonomischen Bildung leistungsbezogene Differenzlinie näher bestimmen beziehungsweise bewerten zu können, um daraus für die Praxis verwertbare Erkenntnisse ableiten zu können.
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2 Die Heterogenitätsdebatte im historischen Kontext
Bevor in Kapitel 3 eine detaillierte Auseinandersetzung mit dem aktuellen Heterogenitätsdiskurs erfolgt, wird in den nächsten beiden Unterkapiteln vorab der Blick in die Vergangenheit geschwenkt. Eine Auseinandersetzung mit historischen Ansätzen und Diskussionen zum Umgang mit heterogenen SuS soll dabei verdeutlichen, wie alt die originären Fragestellungen der aktuellen Debatte bereits sind.
2.2 Eine historische Perspektive zur Beschulung von heterogenen Schülerinnen und Schülern Beachtet man die Vielzahl an Publikationen der letzten Jahre, die sich mit Heterogenität im pädagogischen und schulischen Kontext beschäftigt haben und das Augenmerk auf eine verstärkte Individualisierung legen, scheint die provokante Frage: „Was ist das Neue am Altbekannten, dass es jeden Schüler nur einmal gibt?“ (Arnold 2010, S. 11) durchaus berechtigt. Erste Überlegungen zu dieser Thematik wurden bereits im 17. Jh. von Johann Amos Comenius thematisiert, der daran glaubte, dass jede Person individuell ist und unabhängig von ihrer Begabung einen Lernerfolg verbuchen könne, auch wenn dieser noch so klein sei: „Du wirst sagen: Es gibt nichtsdestoweniger große Schwachköpfe, denen man nichts beibringen kann. Antwort: Es gibt kaum einen so schmutzigen Spiegel, der nicht wenigstens auf irgendeine Weise Bilder aufnimmt, kaum eine so rauhe Tafel, auf der sich nicht wenigstens etwas und auf irgendeine Weise schreiben ließe. Überdies, wenn dir ein bestaubter oder bespritzter Spiegel gereicht wird, mußt du ihn erst abwischen, und wenn die Tafel so rauh ist, mußt du sie erst glätten, dann werden sie sich gebrauchen lassen.“ (Comenius 1638/1961, S. 111)
Zudem sprach sich Comenius dafür aus, dass die gesamte Jugend, sowohl Jungen als auch Mädchen, der Schule anvertraut werden sollten, wobei die Trägeren und Schwächeren eine besondere Förderung erfahren sollten. „Denn je träger und schwächer einer von Natur aus ist, umso mehr bedarf es der Hilfe, um von seiner schwerfälligen Stumpfheit und Dummheit so weit wie möglich befreit zu werden. Und man findet keine so unglückliche Geistesanlage, daß sie durch Pflege nicht verbessert werden könnte.“ (Comenius 1638/1961, S. 113).
Diese besondere Förderung der Trägeren sollte jedoch nicht durch die Lehrkraft direkt vollzogen werden. Im Gegenteil, die Lehrkraft sollte vielmehr eine stark
2.2 Eine historische Perspektive zur Beschulung …
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autoritär geprägte Rolle einnehmen, die Wissen weitergibt und die Klasse möglichst direkt durch Frontalunterricht mit strenger Hand führt. Diese Strenge und gleiche Behandlung aller galt insofern als notwendig, da Comenius von einer Klassengröße von rund 100 SuS pro Lehrkraft ausging und ein derartiges Verhalten für die Herstellung eines positiven Lernklimas als erforderlich einschätzte. Eine individuelle Förderung sollte hingegen nur indirekt in Kleingruppen mit je zehn SuS stattfinden, wobei jeder Kleingruppe dabei ein Aufseher, beziehungsweise Mentor, zugeordnet ist, der die individuelle Förderung der SuS übernimmt (Reble 1992, S. 25). Die Frage, wie mit der Verschiedenartigkeit der SuS umgegangen werden sollte, beschäftigte auch Ernst Christian Trapp, Deutschlands ersten Pädagogikprofessor, rund einhundert Jahre später. Die grundlegende pädagogische Annahme, dass man jedes Kind in irgendeiner Weise bilden könne, wurde dabei von Comenius übernommen. Jedoch geht Trapp in seinen Überlegungen von Rahmenbedingungen aus, wie sie auch heute üblich sind. Nämlich, dass nur eine Lehrkraft die Bildungsaufgabe im Klassenraum ausführt, wodurch die pädagogische Herausforderung entsteht, diese tatsächlich allen SuS der Klasse irgendwie gerecht werden muss. So stellte sich bereits Trapp die Frage, wie es gelingen könne „bei einem Haufen Kinder, deren Anlagen, Fähigkeiten, Fertigkeiten, Neigungen, Bestimmungen verschieden sind, die aber doch in einer und eben derselben Stunde von Dir erzogen werden sollen?“ (Trapp und Herrmann 1977, S. 10). Die Lösung für das Problem sah Trapp darin, dass sich der üblicherweise frontal durchgeführte Unterricht zwangsläufig am Durchschnittsniveau der SuS bzw. an den „Mittelköpfen“ orientieren sollte (Trautmann und Wischer 2011, S. 19). Aber nicht nur Trapp, sondern auch der Pädagoge Herbart empfand rund 50 Jahre später die Heterogenität der SuS für die schulische Ausbildung durchaus als ein Hindernis. Hierbei legte Herbart jedoch den Blick auf die Ebene der Schulorganisation und bemängelte, dass, wenn die Schulgesetze diese Verschiedenheit nicht ausreichend berücksichtigten, die Lehrkräfte zur Tendenz neigen würden, SuS nach dem gleichen Maßstab zu bewerten (Graumann 2008, S. 17). Unter dem Aspekt eines verantwortungsvollen Umgangs mit den individuellen SuS forderte Herbart eine stärkere Bedeutung der Schulsystemfrage und plädierte für ein mehrgliedriges Schulsystem aus Gymnasium, Bürgerschule und Elementarschule, die im ganzen Schulsystem so verbunden werden solle, damit alle SuS den für sie richtigen Unterricht bekämen (Graumann 2008, S. 17). Hierdurch thematisierte Herbart einen wesentlichen Punkt, der sich später auch in einem selektiven dreigliedrigen deutschen Schulsystem widerspiegeln sollte.
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2 Die Heterogenitätsdebatte im historischen Kontext
Jedoch gab es schon damals Kritiker, wie zum Beispiel Diesterweg, die ein dreigliedriges Schulsystem ablehnten, da sie darin lediglich ein Abbild der Ständegesellschaft sahen. Neben der Frage, wie SuS allgemein beschult werden sollten, ist aus historischer Sicht zudem anzumerken, dass Bildung generell, sowie die damit verbundene gesellschaftliche Durchlässigkeit, keine Selbstverständlichkeit war. Vielmehr hat sich diese mit der Industrialisierung erst sehr langsam etabliert. Zuvor definierten sich die persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten vor allem dadurch, in welcher Schicht des klassischen Gesellschaftssystems2 die Schüler hineingeboren wurde. „Dabei glich die soziale Herkunft (Geburt) einen Kristallisationskern, um den herum sich nach Art und Umfang die spezifischen Anspruchslagen und Teilhabechancen der Stände lagerten.“ (Herrlitz 2005, S. 17)
Die im 18. Jahrhundert in Deutschland entstandene allgemeine Schule sah daher auch nur ein niedriges Schulwesen für die einfache Bevölkerung vor und ein höheres Schulwesen, das vor allem dem Adel und dem Bildungsbürgertum dienen sollte. Erst zur Zeit des Kaiserreichs wurde ein mittlerer Bildungsweg in Form der Realschule hinzugefügt, wodurch erstmals eine Dreigliedrigkeit entstand (Tillmann 2012, S. 1). Dieses Schulsystem stellte jedoch keineswegs die einzige mögliche Option dar. Vielmehr lässt sich ein Ringen zwischen verschiedenen Alternativen feststellen. Neben der Möglichkeit eines eingliedrigen Systems im Sinne einer Einheitsschule, standen auch das dreigliedrige System und eine zweigliedrige Variante, sozusagen als Kompromisslösung, im Raum. Bereits nach dem Ersten Weltkrieg 1918 fand eine Diskussion im reformpädagogischen Sinne statt, die nur knapp mit dem Versuch scheiterte, eine Einheitsschule in der Verfassung der Weimarer Republik zu verankern (Hurrelmann 2013, S. 455). Die meisten dieser reformpädagogischen Ideen, die ab dem Ende des 19. Jh. entstanden sind, waren darauf ausgerichtet, das bisherige Wesen von Schule und Erziehung grundlegend zu reformieren. Zu den typischen Strömungen der Reformpädagogik zählten zum Beispiel die Volkshochschulbewegung, die Einheitsschulbewegung, aber auch eine stark am Kind ausgerichtete Pädagogik, die auch für die aktuelle Heterogenitätsdiskussion noch immer von Bedeutung ist (Böhm 2012, S. 12).
2Aus Adel,
Bürgertum und Bauern.
2.2 Eine historische Perspektive zur Beschulung …
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Die Frage, wie mit der Verschiedenheit der SuS umgegangen werden sollte, war auch immer eng mit dem politischen System und der davon abgeleiteten Ausgestaltung des Schulsystems verbunden, was vor allem im Dritten Reich klar zum Vorschein kam. Die Machtübernahme der NSDAP 1933 und die daraus resultierende Gleichschaltung sorgte zum Beispiel für eine konsequente Unterbindung sämtlicher reformpädagogischer Ideen. Hierdurch erscheint die reformpädagogische Bewegung als begrenzt und abgeschlossen, obwohl ihr Gedankengut dennoch erhalten blieb und im Nachkriegsdeutschland wieder sichtbar wurde (Oelkers 2005, S. 13). Aber auch die Arbeitswelt übte vor dem Hintergrund der sich verschlechternden Arbeitsbedingungen in den 1920er Jahren einen immer stärkeren Druck auf das Schulsystem aus, indem sie durch scheinbar gestiegene Arbeitsanforderungen höhere Bildungsabschlüsse einforderte. Dieser Druck des notwendig gewordenen Bildungsaufstiegs wurde vor allem an den Gymnasien spürbar und der Einheitsschulgedanke wurde zugunsten eines hierarchisch gegliederten Sekundarschulsystems verworfen. Die wesentlichen Züge eines dreigliedrigen Bildungssystems setzen sich auch nach 1945 in der Bundesrepublik durch und wurden spätestens mit dem Düsseldorfer Abkommen der Kultusministerkonferenz von 1955, das eine Vereinheitlichung des Schulwesens der Länder vorsah, manifestiert (Drewek 2013, S. 509; Herrlitz et al. 2003). Dem Gymnasium kam dabei eine strukturbildende Leitfunktion zu. Während die Bundesrepublik diesen Weg einschlug, setzte man in der sowjetisch besetzten Zone und der späteren DDR, entsprechend dem gegensätzlichen politischen System, auf die Umwandlung der bisherigen Schularten in ein Einheitsschulmodell aus verschiedenen Oberschulen (Drewek 2013, S. 516). Durch die Bildungsreformeuphorie in den 1970er Jahren wurde der Fokus wieder stärker auf die Unterrichtsebene verlagert und versucht, den unterschiedlichen SuS durch neue Prinzipien der Unterrichtsgestaltung gerecht werden zu können. Zu diesen Prinzipien zählten unter anderem ein Bezug zur Lebensnähe, mehr Schüleraktivität, Individualisierung, Gruppenunterricht oder auch Projektunterricht. Alle diese Ansätze waren sehr ähnlich zu reformpädagogischen Überlegungen und wurden aufgrund fehlender anderweitiger empirischen Legitimation sogar durch diese gerechtfertigt (Böhm 2012, S. 12). Auch die aktuell forcierte Etablierung von Gemeinschaftsschulen wurde bereits in den 70er Jahren emotional diskutiert, wo man sich u. a. auf das zuvor entwickelte Konzept der „Elastischen Einheitsschule“ von Paul Oestreich aus den 1920er Jahren berief. Oestreichs Konzept sah damals vor, dass Lerngruppen nicht nach Alter, sondern nach der Logik einer inneren Differenzierung gebildet werden sollten und war somit der Gegenentwurf zur gewöhnlichen Jahrgangsklasse. Obwohl Oestreichs
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2 Die Heterogenitätsdebatte im historischen Kontext
Konzept in seiner eigentlichen Form nicht realisiert werden konnte, setzte sich der Gedanke einer verstärkten inneren Differenzierung bis in die 1970er Jahre durch, wo er als Lösungsansatz für diverse Problemlagen propagiert wurde (Böhm 2012, S. 11). Da die Problemlagen und Lösungsansätze im aktuellen Heterogenitätsdiskurs viele Parallelen zu den Diskussionen der 1970er Jahre erkennen lassen, soll im folgenden Kapitel nochmals ein Blick in die Vergangenheit geworfen werden.
2.3 Innere Differenzierung als Rezept in den 70er Jahren Bereits in den 70er Jahren wurde die Konzeption von differenziertem Unterricht ausgiebig propagiert und war zugleich mit großen Erwartungen verbunden, auf diese Weise auf unterschiedlichste Problemlagen im Bildungssystem reagieren zu können. Dabei galt vor allem das dreigliedrige Schulsystem mit seiner systemimmanenten Logik der Selektion und externen Differenzierung als ein zentraler Problemaspekt, dem entgegengewirkt werden sollte. So sahen Geppert und Preuss die Chance, „dass im Rahmen der inneren Differenzierung, die mit der äußeren Differenzierung verbundenen Nachteile (…) überwunden werden könnten und darüber hinaus sich vielseitige, bisher noch unausgeschöpfte Möglichkeiten, den individuellen Lernmöglichkeiten der Schüler gerecht zu werden, ergeben werden.“ (Geppert und Preuß 1978, S. 13)
Als Hauptargument gegen eine externe Differenzierung wurde schon damals die zu frühe Trennung (Selektion) der Schüler vorgebracht, die nur bedingt dazu beitragen konnte, schul- bzw. klassenintern homogene Schülergruppen herzustellen. Vielmehr orientierte sich Unterricht, im Sinne von Trapp (Trapp und Herrmann 1977), am durchschnittlichen Leistungsniveau der Klassen. Mit Blick auf die individuellen SuS wurde dies jedoch nicht als angemessen empfunden. „Die Schüler unterscheiden sich in ihrem generellen durchschnittlichen Lernstand und Lernerfolg, jeder Schüler zeigt aber auch unterschiedliche Lernvoraussetzungen und Leistungen in den unterschiedlichen Fächern. Diese unterschiedlichen Lernvoraussetzungen müßten eigentlich im Unterricht jedes Faches berücksichtigt werden, wenn der einzelne Schüler optimal gefördert werden soll. Nur zu oft wird der Unterricht aber am sog. „Durchschnittsschüler“ orientiert (…).“ (Schittko 1984, S. 13)
2.3 Innere Differenzierung als Rezept in den 70er Jahren
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Ebenfalls wurde die Forderung vertreten, dass Differenzierung in jedem Fach stattfinden müsse, da sich Individuen nicht nur untereinander (inter-individuell), sondern vor allem auch intraindividuell, hinsichtlich ihrer individuellen Ausprägungen, unterscheiden. Somit verfügen alle SuS folglich über individuelle Begabungen, Bedürfnisse und Interessen, die auch im schulischen Kontext entsprechende Berücksichtigung finden sollten. Hieraus wurde abgeleitet, dass ein Unterrichtskonzept, das für eine ganze Klasse geplant wurde und keine Individualisierung vorsieht, den individuellen SuS grundsätzlich nicht gerecht werden kann (Trautmann und Wischer 2009, S. 162). Um diesen Anspruch im Unterricht erfüllen zu können, wurden diverse didaktische und methodische Konzepte propagiert, die im Gegensatz zum damals üblichen Frontalunterricht standen und den Fokus auf individuelle und vor allem kooperative Lernformen legten. „Innere Differenzierung’ meint (…) alle jene Differenzierungsformen, die innerhalb einer gemeinsam unterrichteten Klasse oder Lerngruppe vorgenommen werden, im Unterschied zu allen Formen sog. äußerer Differenzierung, in der Schülerpopulationen nach irgendwelchen Gliederungs- oder Auswahlkriterien – z. B. den Gesichtspunkten unterschiedlicher Leistungsniveaus oder unterschiedlicher Interessen – in Gruppen aufgeteilt werden, die räumlich getrennt und von verschiedenen Personen bzw. zu verschiedenen Zeiten unterrichtet werden.“ (Klafki und Stöcker 1976, S. 497)
Durch derartige kooperative Lernformen wurde die Chance gesehen, SuS nicht nur fachlich zu schulen, sondern gleichzeitig auch deren Sozialkompetenz, Eigenverantwortung, Kooperationsfähigkeit und Mitbestimmungsfähigkeit etc. zu fördern (Trautmann und Wischer 2009, S. 162). Exemplarisch sollen an dieser Stelle drei dieser Ansätze erwähnt werden, die teilweise unter einer anderen Bezeichnung auch im aktuellen Diskus wieder Eingang in die Literatur gefunden haben. Neben diversen Ansätzen zur „Gruppenarbeit“ wurde mit den Konzepten des „Zielerreichenden Lernens“ und des „Programmierten Lernens“ gearbeitet. Das zielerreichende Lernen leitet sich aus dem amerikanischen Ansatz der „Mastery Learning“ nach Bloom ab und steht für das Prinzip, dass alle SuS durch/trotz Binnendifferenzierung ein festgelegtes Lernziel erreichen sollen. Dieses Konzept dient auch in der neueren deutschsprachigen Literatur als Ansatz, zum Beispiel bei der Entwicklung von Ausbildungskonzepten für Industriekaufleute (Achtenhagen et al. 2001). Ein ebenfalls aus den USA stammender und in Deutschland ebenfalls populärer Ansatz ist das Konzept des programmierten Lernens (Teschner (1971)). Programmiertes Lernen zielt darauf ab, die SuS
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2 Die Heterogenitätsdebatte im historischen Kontext
mithilfe von überschaubaren und sequenzierten Inhaltsblöcken zu unterrichten, die darauf ausgelegt sind, dass sie selbstständig und in einem individuellen Lerntempo erschlossen werden können. Diese Inhaltsblöcke wurden den SuS dabei entweder in Form von Arbeitsheften oder Computerprogrammen bereitgestellt. Aus derartigen didaktischen Ansätzen leitete sich bereits damals, auf Grundlage der lernpsychologischen Effektivitätsforschung, der Wunsch ab, die einzelnen SuS mit ihren individuellen Stärken und Schwächen vorab möglichst genau analysieren zu können. Diese Analyse sollte wiederum als Grundlage dienen, um eine optimale Passung zwischen den einzelnen SuS und den gestalteten Lernsituationen herstellen zu können. Wie das folgende Zitat zeigt, waren die damaligen Ambitionen alles andere als bescheiden, denn es ging um nicht weniger als die „Erfassung der jeweiligen pädagogischen Situation, speziell der individuellen Disposition der Schülerinnen und Schüler. Dabei geht es nicht primär um eine Globalanalyse der jeweiligen Klassenstruktur, sondern um die Aufschließung der vielschichtigen Individuallage der Schüler, und zwar immer im Hinblick auf die jeweilige Thematik und Zielsetzung sowie das intendierte unterrichtliche Arrangement.“ (Geppert und Preuß 1978, S. 19)
Die damaligen Reformer schätzten den Nutzen und die Wirkung der angedachten Maßnahmen jedoch zu optimistisch ein, da zum Erreichen des erhofften Nutzens zugleich eine entsprechende Umsetzbarkeit gewährleistet sein muss. Aber schon zu Beginn zeigte sich eine gewisse Unschärfe bezüglich der Zielvorstellungen von Binnendifferenzierung sowie Fragen hinsichtlich der zur Verfügung stehenden Ressourcen. Schon damals zeichnet sich ab, dass die Entwicklung und Umsetzung von binnendifferenziertem Unterricht mit einem deutlich erhöhten Arbeitsaufwand verbunden sein würden, welcher in erster Linie von den Lehrkräften bewältigt werden muss. So beschrieb Bönsch bereits 1970 eine Reihe von Anforderungen, mit denen die Lehrkräfte und die Schulorganisation im Rahmen einer verstärkten Binnendifferenzierung konfrontiert sind (Bönsch 1970, S. 18). Hierzu zählen: • • • • • •
generell höhere Anforderungen an die Lehrkraft, diffizilere Unterrichtsorganisation (u. a. Raum- und Zeitfragen), schwierigere Umsetzung (mehr Lärm und höhere Arbeitsbelastung), zeitintensiverer Vorbereitungsaufwand, Fragen des Arbeitsmaterials sowie Fragen der Lernprozesssteuerung und der Leistungsüberprüfung.
2.3 Innere Differenzierung als Rezept in den 70er Jahren
19
Vor allem die Frage, wer für die Entwicklung von geeignetem Unterrichtsmaterial zuständig sein sollte, und ob es überhaupt möglich wäre, dass Lehrkräfte dies neben der normalen Unterrichtstätigkeit (Teamarbeit vorausgesetzt) leisten könnten, war schon damals eng mit dem Diskurs verbunden (Klafki und Stöcker 1976, S. 503). Ein weiterer Stolperstein war darin zu sehen, wie die zuvor beschriebene Leistungsdiagnose und Eingruppierung der SuS konkret umgesetzt werden sollte. Die damaligen Vorschläge setzten einerseits auf entsprechende Diagnosetests anhand von Fragebögen, aber andererseits auch auf eher pragmatische Lösungen, wonach zum Beispiel die Lehrkraft den Leistungsstand der SuS aufgrund ihrer Unterrichtserfahrung einschätzt oder sogar die SuS ihren Leistungsstand eigenständig bestimmen (Schittko 1984, S. 177). Eine weitere Hürde war dadurch gegeben, dass schon damals die SuS zumindest über eine gewisse Fähigkeit zur Selbstorganisation verfügen sollten, um binnendifferenzierten Unterricht erfolgreich umsetzen zu können. Hinzu kam, dass derartige Unterrichtsmethoden in den 1970er Jahren eher unüblich waren und zum Teil auch auf Widerstände der Eltern trafen (Trautmann und Wischer 2009, S. 163). Neben diesen konkreten Problemlagen auf der Unterrichtsebene fehlte dem damaligen Diskurs zudem eine klare Zielrichtung dahingehend, was eigentlich genau durch mehr binnendifferenzierten Unterricht erreicht werden sollte. So blieb unklar, ob es primär um die Kompensation von Nachteilen im Sinne eines Chancenausgleichs bei entsprechenden SuS gehen sollte, oder ob es das Ziel war, alle SuS gleich zu fördern und ggf. die Leistungsunterschiede zwischen den SuS zu akzeptieren. Wenn jedoch die SuS einer Klasse individuell optimal gefördert werden würden, und individuell abgestimmtes Unterrichtsmaterial bekämen, so würde dies zwangsläufig einem gemeinsamen Unterrichten entgegenstehen, da die SuS bezüglich des Niveaus keinen gemeinsamen Referenzpunkt mehr hätten. Dies hätte eine permanente Differenzierung zur Folge. Wie diese internen Probleme und beschriebenen Ressourcenfragen (Bönsch 1970) gelöst werden sollten, war schon in der damaligen Literatur vielschichtig und nebulös zugleich. Dabei reichten die Vorschläge von einer Lehrplanreform über Umgestaltung von Klassenräumen bis hin zu entsprechenden Arbeitsmaterialien, die ein selbstständiges Arbeiten der SuS ermöglichen sollten (Trautmann und Wischer 2009, 164 f.). Schon damals war es eine verbreitete argumentative Figur, die konkreten Fragen der Umsetzung auf der Ebene der Lehrkräfte zu belassen, frei nach dem Prinzip, dass alles gelingen könne, sofern vor allem die Einstellung und die Qualifikation der Lehrkräfte stimme.
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2 Die Heterogenitätsdebatte im historischen Kontext „Lehrerinnen und Lehrer müssten außerdem eine geänderte, wertschätzende Einstellung zu Heterogenität entwickeln. Außerdem benötigten sie neue Fertigkeiten der Schülerbeobachtung und Diagnose ihrer Lernvoraussetzungen und ihrer Lernschwierigkeiten.“ (Schittko 1984, 186 ff.)
Dies würde dann ein großes Potenzial für Lernprozesse darstellen, von dem die SuS deutlich profitieren könnten, sofern die Lehrkräfte entsprechend ausgebildet würden und zugleich bereit wären, sich mit ihrem Einsatz hinter die Ziele der Binnendifferenzierung zu stellen. „Sobald aber die Bereitschaft und Fähigkeit des Lehrers zur Konzeption variabler Lehrstrategien als die eigentliche Drehscheibe schulischer Innovationen ins Bewusstsein kommt, wird damit auch das vorzüglichste Instrument der optimalen Förderung jedes einzelnen gefunden sein, das sensibler auf die inter- und intrapsychischen Differenzen zu reagieren vermag als jedes äußerlich gestufte System.“ (Vierlinger 1974, S. 20)
Die aufgeführten Aspekte zeigen, dass mit dem Konzept Binnendifferenzierung in Verbindung mit Abschwächung der üblichen externen Differenzierung hohe Erwartungen zum Wohle der SuS verbunden waren. Diesen Erwartungen standen jedoch auch klar definierte Schwierigkeiten, vor allem im Bereich der konkreten Umsetzung, gegenüber. Mitte der 1980er Jahre ebbten die Forderungen nach mehr binnendifferenziertem Unterricht ab, ohne die etablierte Dreigliedrigkeit zu verändern. Ob die Gründe dafür in den genannten Umsetzungshürden gesehen werden können oder ob es weitere Aspekte gab, die zu dieser Entwicklung geführt haben, geht aus der Literatur leider nicht hervor. Das dreigliedrige Schulsystem erwies sich auch bis in die Gegenwart immer wieder als resistent gegenüber unterschiedlichen Reformbestrebungen. Für die Analyse der heutigen Heterogenitätsdebatte ist jedoch interessant, dass sehr ähnliche Argumentationsmuster und Forderungen, wie in den 1970er Jahren, angewendet werden. Woher diese aktuellen Forderungen stammen, was diese beinhalten und auf welchen Argumentationsmustern diese beruhen, soll nun im dritten Kapitel vorgestellt werden.
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Die Heterogenitätsdebatte im aktuellen Kontext
In Anlehnung an das in der Einleitung vorgestellte Zitat von Wenning (2007), dass Heterogenität Konjunktur habe, geht dieses Kapitel der Frage nach, worin die Gründe hierfür gesehen werden können. Wie kann es sein, dass die soeben beschriebenen Konzepte für mehr innere Differenzierung und sonstige Ideen zum Umgang mit der Individualität der SuS nach ca. 35 Jahren plötzlich wieder populär sind und in der Literatur sowie in öffentlichen Debatten entsprechend ausgiebig diskutiert werden. Um sich dieser Frage zu nähern, wird in diesem Kapitel das Feld aufgespannt, in dem sich der aktuelle Heterogenitätsdiskurs bewegt und es werden dabei verschiedene Perspektiven und Argumentationslinien aufgezeigt. Hierbei wird deutlich, dass dieser Diskurs im schulischen Kontext auf unterschiedlichen Ebenen betrachtet werden muss und populistische Titel wie „Heterogenität als Chance“ (Bräu 2005) zwar einfache Lösungen erwarten lassen, diese aber leider keineswegs gegeben sind. Dies liegt sowohl an der bereits dargestellten Vielschichtigkeit des Heterogenitätsbegriffs als auch an der Tatsache, dass die in der Literatur vorherrschenden Debatten um Heterogenität im Bildungssystem sowohl auf pädagogische, wie auch soziologische und (schul-)politische Argumentationslinien zurückgreifen und dadurch mit unterschiedlichen Ursprüngen und Zielsetzungen verbunden sind. Um diese Vielschichtigkeit in möglichst geordnete Bahnen zu führen, soll zuerst die gesellschaftliche Perspektive des Schulsystems vorgestellt werden, bevor dann die organisatorische Notwendigkeit von Differenzierung im schulischen System beleuchtet wird. Die Diskussion zur Selektion im Schulsystem, in Verbindung mit der Forderung nach mehr Bildungsgerechtigkeit, sowie nach entsprechenden schulpolitischen Herausforderungen rund um die Hauptschule, bildet den Abschluss der Ausführungen zur aktuellen Heterogenitätsdebatte. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Hertrich, Differenzierung im Wirtschaftsunterricht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31167-4_3
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3 Die Heterogenitätsdebatte im aktuellen Kontext
3.1 Das Schulsystem aus gesellschaftlicher Perspektive Mit seinem Buch „Theorie der Schule“ aus dem Jahr 1980 lieferte der Schultheoretiker Helmut Fend (Fend 1980) einen wesentlichen Beitrag, in dem er aus einer soziologisch-gesellschaftlichen Perspektive die gesellschaftlichen Aufgaben von Schulsystemen charakterisierte. Schulen oder Schulsysteme sieht Fend daher als Institutionen mit klar definierten Aufgaben, die vor allem im Bereich der Sozialisation angesiedelt sind. Allgemein werden Institutionen als ein von der Gesellschaft geschaffenes Instrument verstanden, das dazu beitragen soll, grundlegende gesellschaftliche Probleme des Zusammenlebens zu lösen. So findet sich im täglichen Leben eine Vielzahl an Institutionen, zum Beispiel im wirtschaftlichen, rechtlichen oder politischen Bereich, auf die diese Beschreibung ebenfalls zutrifft (Fend 1980, S. 2). Mit Blick auf die gesellschaftlichen Probleme, die ein Schulsystem lösen sollte, definierte Fend drei wesentliche Funktionen, die er der Institution Schule zuwies: Unter einer Qualifizierungsfunktion versteht Fend die gesellschaftliche Notwendigkeit, dass die wirtschaftliche Produktionsfähigkeit oder auch Konkurrenzfähigkeit einer Gesellschaft gesichert werden muss. Das Schulsystem hat folglich die Aufgabe, junge Menschen dahingehend zu qualifizieren, dass diese später im Berufs- und Beschäftigungssektor produktiv eingesetzt werden können (Fend 1980, S. 19). Dabei sieht Fend in den Schulsystemen jedoch mehr als eine reine Versorgung mit Lernprozessen, sondern auch die Möglichkeit über das Schulsystem Einfluss auf den Arbeitsmarkt nehmen zu können. Dies wäre zum Beispiel dann gegeben, wenn Schulbesuchszeiten gezielt verlängert würden, um dadurch potenzielle Arbeiter noch aus dem Arbeitsmarkt fernhalten zu können. Es sollte jedoch angemerkt werden, dass sich derartige Steuerungsvorhaben in der Realität nur bedingt realisieren lassen, da eine Veränderung von Schulgesetzen auch immer mit einem erheblichen Aufwand und politischem bzw. gesellschaftlichem Widerstand verbunden ist (Fend 1980, S. 26). Die Allokationsfunktion/Selektionsfunktion des Schulsystems beschreibt Fend wie folgt: „Danach wird das Schulsystem als großes „Rüttelsieb“ konzipiert, das zwischen den Generationen eingebaut ist und zu einer Neuverteilung von Lebenschancen führt, indem es den Zugang zu hohen oder niedrigen beruflichen Positionen und damit zu Prestige, Macht und Einkommen reguliert.“ (Fend 1980, S. 29)
3.1 Das Schulsystem aus gesellschaftlicher Perspektive
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Durch die begrenzten vorhandenen Ressourcen, zum Beispiel im Sinne von attraktiven Führungspositionen, wird folglich ein Schulsystem benötigt, welches die SuS anhand des Leistungsprinzips selektieren muss, um ihnen Abschlüsse mit unterschiedlichen Wertigkeiten zuweisen zu können, die wiederum zu unterschiedlichen beruflichen Positionen befähigen. Fend ist sich mit Blick auf die Geschichte jedoch durchaus bewusst, dass gesellschaftliche Chancen schon immer sehr eng mit dem gesellschaftlichen Status verbunden waren und nicht einzig und allein über unterschiedliche Leistungsniveaus zu rechtfertigen sind. In Bezug auf internationale Studien folgert Fend, dass Vorteile hinsichtlich Macht, Verdienst und Anerkennung nicht in der Schule, sondern zum Großteil extern geschaffen werden (Fend 1980, S. 34). Da diese Effekte wiederum auch in das Schulsystem hineinwirken, würde dieses zwar selektieren, aber keinesfalls in Form eines Rüttelsiebs Chancen komplett neu verteilen. Folglich sollte dafür gekämpft werden, gleiche Bildungschancen für alle herzustellen (Fend 1980, S. 37). Gerade dieses Zusammenspiel beziehungsweise die Gewichtung von Selektion und Bildungsgerechtigkeit ist auch in der heutigen Debatte nach wie vor von zentraler Bedeutung. Ein weiterer wichtiger Aspekt stellt die Legitimationsfunktion des Schulsystems dar. Diese ist eng mit der Allokations- und Qualifizierungsfunktion verbunden. Schulische Bildung soll demnach nicht nur für den beruflichen Bereich ausbilden und selektieren, sondern die junge Generation auch dahingehend formen, dass sich diese durch eine entsprechende Haltung in einer kapitalistisch und industriell geprägten Gesellschaft zurechtfindet. Von zentraler Bedeutung ist dabei die Anerkennung des Leistungsprinzips, welches die Legitimationsgrundlage für die Verteilung von knappen Ressourcen bildet. Auf dieser ideologischen Basis ließe sich Ungleichheit (auch im materiellen Sinne) als Resultat unterschiedlicher Leistung und/oder menschlicher Begabung begründen (Fend 1980, S. 45). Erfolg und Scheitern wären nach dieser Auffassung jeweils eine Konsequenz der individuellen Anstrengungen und Begabung und somit selbst verschuldet. Das Schulsystem hat somit die Aufgabe, dieses Leistungsprinzip entsprechend zu vermitteln, dass SuS lernen, die Ungleichheit zu akzeptieren, die durch Prüfungen zustande kommen und durch unterschiedliche Schulabschlüsse bescheinigt werden. Das Anerkennen dieses Leistungsprinzips ist somit auch für den Erhalt des gesellschaftlichen Friedens von Bedeutung. Zudem sollte das Leistungsprinzip auch im Sinne eines kulturellen Grundwissens durch weitere Aspekte ergänzt werden. Zu diesen Aspekten gehören laut Fend zum Beispiel Vorstellungen über gerechte Verteilungsprozesse, Vorstellungen zu gerechten Instanzen, zum Begriff
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3 Die Heterogenitätsdebatte im aktuellen Kontext
der Gerechtigkeit und Ordnung aber auch Arbeitstugenden etc.(Fend 1980, S. 47). Auch in der neueren Literatur wird derartigem kulturellem Grundwissen noch immer eine entscheidende Rolle beigemessen: „Die Schule der Zukunft ist die funktionierende Schule. Die Schule muss wieder in die Lage versetzt werden, ihre Aufgabe zu erfüllen; sie muss eine Schule sein, in der Unterricht erteilt wird und nicht ausfällt; eine Schule, in der Schüler Wissen und Fertigkeiten vermittelt bekommen; eine Schule, die dafür sorgt, dass jeder ihrer Schüler am Ende lesen, schreiben und rechnen kann und die jedem Schüler jenes kulturelle Grundwissen vermittelt, das nötig ist, um dem Zerfall der sozialen Bindekräfte entgegenzuwirken.“ (Brenner 2006, S. 195)
Bei der Umsetzung dieser Aufgabe stellt sich somit die Frage, wie die Institution Schule diese Formungsprozesse strukturieren kann, da Schüler bekanntermaßen nicht einzeln beschult werden, sondern es sich bei Schulen um „Einrichtungen für Massenlernprozesse“ (Herrlitz, S. 28) handelt. Folglich kommt der Frage, wie sich große Schülerströme organisieren lassen, um dies leisten zu können, eine wesentliche Bedeutung zu.
3.2 Das Schulsystem aus organisatorischer Perspektive Schulen sind aus organisatorischer Sicht in ein breites Netz von Verwaltungsvorschriften und politischen Entscheidungen eingebunden. Dies betrifft zum Beispiel die Frage nach den verfügbaren finanziellen Mitteln, verfügbaren Deputaten oder ob eine Verbeamtung im jeweiligen Bundesland grundsätzlich möglich ist oder nicht. Vor dem Hintergrund der Heterogenitätsdebatte soll an dieser Stelle der Fokus auf die Möglichkeiten zur Steuerung von großen Strömen unterschiedlichster SuS gelegt werden. Dass SuS auf verschiedene Schularten und Schulen aufgeteilt werden müssen, ist unbestreitbar. Dabei ist allerdings zu beachten, dass aus rein organisatorischen und gesellschaftlichen Gesichtspunkten die individuellen Bedürfnisse eines Kindes, im Gegensatz zur pädagogischen Dimension, ggf. in den Hintergrund gestellt werden könnten (Trautmann und Wischer 2011, S. 74). Da zum Beispiel in einem dreigliedrigen Schulsystem nur eine begrenzte Anzahl an gymnasialen Schulplätzen vergeben werden kann, muss diese Vergabe nach einer begründbaren Logik erfolgen. Die Beschulung von vielen unterschiedlichen SuS muss somit gesteuert werden, wodurch die Umsetzung einer (externen) Differenzierung zugleich auch eine organisatorische Notwendigkeit darstellt.
3.2 Das Schulsystem aus organisatorischer Perspektive
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Im pädagogischen Sinne wird unter Differenzierung hingegen eine „schulorganisatorische Maßnahme zur Anpassung schulischer Lernangebote und Leistungsforderungen an Lerntempo, Lerninteressen und Leistungsfähigkeit der Schülergruppen mit dem Ziel einer Individualisierung der Bildungsgänge“ (Brockhaus 2018) verstanden. Differenzierung hat somit immer eine organisatorische und eine didaktische beziehungsweise pädagogische Komponente. Entsprechend Fends Ebenen-Modell (Fend 2008, S. 22) findet eine Differenzierung im Schulsystem auf verschiedenen Ebenen statt, die zugleich durch Verwaltungsvorschriften miteinander in Verbindung stehen (Abbildung 3.1).
Abbildung 3.1 Ebenen-Modell. (Nach Fend 2008)
Auf der übergeordneten Makroebene ist es die Aufgabe, unterschiedliche Schultypen und Schulformen auszudifferenzieren, was bedeutet, dass deren Wertigkeit festgelegt werden muss. Man kann in diesem Zusammenhang auch von einer interschulischen Differenzierung sprechen. Diese wird in Deutschland traditionell durch die Bildung von Jahrgangsklassen umgesetzt. Die Mesoebene nimmt hingegen die Einzelschule in den Blick, verbunden mit der Frage, wie eine schulische Differenzierung durch unterschiedliche Klassen oder Kurse umgesetzt werden kann. Ein derartiges Vorgehen wird als intraschulische Differenzierung bezeichnet und wird am Beispiel von Neigungskursen an Gymnasien deutlich (Fend 2008, 22 f.). Auf der Mikroebene sind sämtliche Differenzierungsmaßnahmen angesiedelt, die im Unterricht durch Lehrkräfte geplant und umgesetzt werden. Diese werden in der Literatur auch als „Binnendifferenzierung“ oder „innere Differenzierung“ bezeichnet (Bohl 2013, S. 245).
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3 Die Heterogenitätsdebatte im aktuellen Kontext
Paradies und Linser verfolgen eine ähnliche Systematik wie Fend und unterscheiden zwischen einer äußeren und inneren Differenzierung. Zum Bereich der inneren Differenzierung zählen die Autoren einerseits eine schulorganisatorische Differenzierung, die den Lehrkräften auf der Unterrichtsebene einen entsprechenden Handlungsspielraum bei der Zusammenstellung von Lerngruppen ermöglicht. Diese Lerngruppen könnten je nach Unterrichtssetting zum Beispiel in Abhängigkeit von Lernvoraussetzungen, Sozialform oder methodischem Konzept unterschiedlich gestaltet sein. Andererseits kann darunter aber auch eine didaktische Differenzierung verstanden werden, welche den Fokus des Angebotsunterschieds auf konkrete Lerner-Merkmale, wie zum Beispiel das Lerntempo, Interesse, Lernstil, Motivation etc. legt (Paradies und Linser 2010, S. 34).
3.2.1 Alle Differenzierungsformen haben auch Nebenwirkungen Es sollte jedoch beachtet werden, dass jegliche Form einer offensichtlichen, organisatorischen Differenzierung (manifeste Differenzierung) meist auch Nebenwirkungen in Form einer zusätzlichen, unbeabsichtigten Differenzierung (latente Differenzierung) mit sich bringen kann (Trautmann und Wischer 2011, S. 75). Als Beispiel hierfür könnte die Wahlmöglichkeit von Wahl- oder Neigungskursen aufgeführt werden. So zeigte sich bei Untersuchungen zu dieser Form der intraschulischen Differenzierung, dass Wahlentscheidungen der SuS, die eigentlich auf Grundlage von Fähigkeit und Interesse getroffen werden sollten, häufig an weitere Aspekte, wie z. B. der Anforderung des Wahlkurses, gekoppelt werden. Dieses Verhalten führt somit zu einer indirekten Leistungsselektion (Hausser und Beisenherz 1981, S. 22). Aufgrund der Tatsache, dass Schulsysteme sowohl eine gesellschaftliche Selektionsfunktion haben als auch einen funktionierenden Massenlernprozess durch das Lenken von Schülerströmen herstellen müssen, ist eine Differenzierung (an welcher Stelle auch immer) quasi als alternativlos anzusehen. Das deutsche Schulsystem setzt dabei traditionell auf eine externe Differenzierung durch Hauptschulen, Realschulen und Gymnasien.
3.2.2 Das dreigliedrige Schulsystem und die Logik der externen Differenzierung Das zweite Kapitel zeigte bereits, dass die Logik des Schulsystems und somit auch Fragen der Differenzierung meist eng mit den gegebenen politischen
3.2 Das Schulsystem aus organisatorischer Perspektive
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Konstellationen in Verbindung stehen. Die in einem Schulsystem verwendete Art der Differenzierung sollte somit auch immer im historischen Kontext des jeweiligen Schulsystems betrachtet werden. In diesem Kapitel wird daher die Entwicklung des deutschen Schulsystems nach 1945 kurz beschrieben und die Verbindung zur damit verbundenen Differenzierungslogik dargestellt. Mit dem politischen Neubeginn nach 1945 setzte man in Deutschland auf ein dreigliedriges Schulsystem. Obwohl ein dreigliedriges System nicht die einzige mögliche Option darstellte und sich dieses auch gegen kritische Stimmen behaupten musste, zeigte es sich bis in die jüngste Gegenwart als sehr resistent gegenüber äußeren Einflüssen und Reformbestrebungen. Dies lässt sich auch am Beispiel von Baden-Württemberg und Bayern aufzeigen, wo erst relativ aktuell1 tief greifende Veränderungen im Schulsystem möglich wurden. Diese Reformbeständigkeit kann sowohl durch die föderalen Strukturen erklärt werden, aber auch dadurch, dass es durch die gegebene Parteikonstellation lange nicht möglich war, einen entsprechenden Reformkonsens herzustellen. Während die Sozialdemokraten ein eingliedriges Schulsystem mit einer Gesamtschule für alle Kinder anstrebten, lehnten CDU/CSU derartige Reformvorschläge programmatisch grundsätzlich ab. Sie empfanden das dreigliedrige System hingegen als geeignet, um die pädagogischen Herausforderungen im Sinne einer Berufsvorbereitung und Studienvorbereitung gut erfüllen zu können (Hurrelmann 2013, S. 456). Die Einführung von Gesamtschulen war somit in allen Bundesländern, seit den 1970er Jahren, stark vom politischen Einfluss der SPD in den jeweiligen Landesregierungen abhängig. So wurden Gesamtschulen vor allem in Bundesländern mit einer starken SPD eingeführt. Dies lässt sich beispielsweise in Hessen, N ordrhein-Westfalen, Bremen, Hamburg und Berlin aufzeigen. Diese Gesamtschulen waren jedoch eher als eine Ergänzung im Sinne eines Versuchsprogramms zu sehen, da es aufgrund von politischen und gesellschaftlichen Widerständen keinem dieser Länder gelang, die Dreigliedrigkeit grundsätzlich zu überwinden. Vor allem die traditionell von CDU und CSU dominierten Länder, wie Baden-Württemberg und Bayern hielten sehr rigide an der Dreigliedrigkeit2 fest (Herrlitz et al. 2003, S. 17; Herrlitz 2005). Als mögliches Kompromisskonzept zwischen diesen beiden Polen propagierte der deutsche Bildungsforscher Klaus Hurrelmann in den 70er und 80er Jahren ein Zwei-Wege-Modell, welches
1In
Baden-Württemberg ab 2012 und in Bayern noch zögerlicher. bleibt zu erwähnen, dass Sonderschulen in allen Ländern und bei allen Parteien als eigenständigen Bereich gesehen wurden und Inklusion zu dieser Zeit noch nicht auf der Agenda stand.
2Es
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3 Die Heterogenitätsdebatte im aktuellen Kontext
sowohl den politischen als auch wissenschaftlichen Kontrahenten theoretisch erlauben sollte, einen Kompromiss eingehen zu können. Dieses Konzept sah vor, die SuS der Hauptschulen, der Realschulen und ggf. der Gesamtschulen, in einer integrierten Sekundarstufe zusammenzufassen und dort den Leistungsstarken einen Oberstufenanschluss zu ermöglichen. Dabei sollte diese Schulart „auf anderen unterrichtsorganisatorischen und didaktischen Wegen die Schülerinnen und Schüler ansprechen, die sich – aus welchen Gründen auch immer – vom Gymnasium nicht angezogen fühlen“ (Hurrelmann 1988, S. 456). Ein wesentlicher Aspekt dieses Modells war es, dass das traditionelle Gymnasium als zweiter Weg erhalten bleiben sollte, da diese Schulart für große Teile der Bevölkerung (vor allem die Oberschicht) äußerst attraktiv war und eine steigende Nachfrage verzeichnete. Die Abschaffung der Gymnasien wäre somit politisch und gesellschaftlich nicht vermittelbar gewesen. Hurrelmanns Kompromissansatz traf zur Zeit seiner Veröffentlichung sowohl politisch als auch wissenschaftlich auf wenig Zustimmung. Erst mit der Wiedervereinigung stellte sich die Frage, wie die unterschiedlichen Schulsysteme aus Ost und West integriert und gemeinsam für alle 16 Bundesländer strukturiert werden können (Hurrelmann 2013, S. 460). In diesem Zusammenhang fand das Zwei-Wege-Modell erstmalig den Weg in die politische Diskussion, da es eine attraktive Kompromisslösung für die alten und neuen Bundesländer darstellte. Die Politiker der DDR konnten auf diese Weise den Einheitsschulgedanken weitertragen und sich zugleich an das Grundsystem der BRD anpassen, ohne die Hauptschule übernehmen zu müssen. In einigen neuen Bundesländern verzichtete man folglich auf die Einführung einer Realschule. In Westdeutschland beeinflusste diese Debatte ebenfalls die Kompromiss- und Innovationsbereitschaft, auch wenn der Weg in Richtung Zweigliedrigkeit in nur relativ wenigen Bundesländern, wie zum Beispiel Bremen, Brandenburg oder Berlin beschritten wurde (Tillmann 2012, 3 f.). In Baden-Württemberg wurde hingegen klar an der etablierten Dreigliedrigkeit in Verbindung mit einer externen Differenzierung festgehalten.
3.3 PISA forderte das etablierte System heraus Erst die internationalen Leistungsvergleichsstudien um PISA zum neuen Jahrtausend setzten das deutsche Bildungssystem erneut unter Druck und verschafften dem Argument gegen die etablierte Dreigliedrigkeit entsprechend Gehör (Groeben
3.3 PISA forderte das etablierte System heraus
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et al. 2012, S. 10). Konkret spielten hierbei vor allem die Ergebnisse der PISAStudie 2000 eine Rolle. Das schlechte Abschneiden der deutschen SuS stand dabei im Gegensatz zum erwarteten Erfolg, den man sich durch die extern differenzierten Lerngruppen erhofft hatte (Bräu und Schwerdt 2005, S. 9). Zudem wurde dem deutschen Schulsystem durch die PISA-Studie eine hohe soziale Selektivität bescheinigt, was die Kritik am dreigliedrigen Schulsystem ebenfalls befeuerte und Forderungen nach weniger Selektion und mehr innerer Differenzierung stärkten. „Mit dieser Heterogenität [der SuS] soll die Schule, sollen die Lehrkräfte pädagogisch produktiv umgehen; das ist spätestens seit PISA die Forderung, die öffentlich auf breite Resonanz stößt. Den Wunsch nach der ‚homogenen Lerngruppe‘ gilt es deshalb genauso zu verabschieden wie den Unterricht für ‚Mittelköpfe‘“. (Becker 2004, S. 1)
Derartige Forderungen führten zu einer erneuten intensiven Auseinandersetzung mit dem dreigliedrigen Schulsystem auf unterschiedlichen Ebenen.
3.3.1 Bessere Schülerleistungen in integrativen Schulstrukturen? Im Rahmen von PISA wurden vor allem Länder mit integrativen Schulsystemen medial hervorgehoben. Derartige Schulstrukturen finden sich zum Beispiel in den skandinavischen Ländern oder lassen sich auch gut am Einheitsschulmodell einer amerikanischen High School aufzeigen. Charakteristisch daran ist, dass allen SuS nur ein Schultyp zur Verfügung gestellt wird, wodurch ein möglichst langes gemeinsames Lernen der SuS ermöglicht werden soll. Das bessere Abscheiden dieser integrativen Systeme übte somit Druck auf das dreigliedrige deutsche Schulsystem aus. Im Rahmen einer Realanalyse der PISA-Daten aus dem Jahr 2000 relativierte (Schümer 2008) die in diesem Kontext aufgestellte Behauptung, dass Länder mit einem integrativen Schulsystem generell bessere Leistungen erzielen. Als Negativbeispiele nennt Schümer dabei Länder wie Spanien, Polen oder die USA. Alle diese Länder schnitten bei PISA trotz eines vergleichsweise schwach selektiven Schulsystems relativ schlecht ab. Im Gegensatz hierzu gelang es Ländern wie Österreich oder Frankreich, mit einem stark selektiven Schulsystem Ergebnisse zu erzielen, die deutlich über dem OECD-Durchschnitt lagen. Aus ihrer Analyse folgerte Schümer, dass sich weder die Leistungsunterschiede
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3 Die Heterogenitätsdebatte im aktuellen Kontext
noch der soziale Gradient3 der Länder in einer systematischen Abhängigkeit zur Selektivität des Schulsystems befinden (Schümer 2008, S. 52). Schümer begründet dies dadurch, dass auch in integrativen Schulsystemen auf der Makro- und Mesoebene eine Differenzierung stattfindet, die in der Wirkung durchaus vergleichbar mit der eines selektiven Systems ist. In Bezug auf die Schulsystemebene ergibt sich dieser Effekt vor allem durch die Existenz eines verhältnismäßig stark ausgeprägten Privatschulwesens. Zudem existieren Schulen mit besonders attraktiven Profilen, die eine Konkurrenz zu den Regelschulen darstellen oder durch große sozioökonomische Unterschiede zwischen den Schuleinzugsgebieten. Aber auch durch intraschulische Prozesse können SuS innerhalb eines integrativen Systems zu möglichst leistungshomogenen Gruppen zusammengefasst werden. An amerikanischen High Schools geschieht dies zum Beispiel durch sogenannte „Advanced Placement“-Kurse, die nur besonders leistungsstarken Schülern Unterricht auf Collegeniveau bieten. Diese Klassenzusammensetzung nach Leistung wird auch als „Tracking“ oder „Streaming“ bezeichnet und steht der Idee einer leistungsheterogenen Klassenzusammensetzung entgegen. Aber auch Wahlkurse mit unterschiedlichen Ansprüchen oder ein selektives außerschulisches Fördersystem sorgen für den denselben Effekt (Schümer 2008, S. 54). Zudem wirken sich auch noch weitere Faktoren, wie das Schuleintrittsalter, die Gewichtung von einzelnen Fächern, das Vorhandensein von Zusatzunterricht oder Konzepte der Binnendifferenzierung in Gruppen mit durchmischten Leistungsniveaus aus. Ebenso könnten auch gesellschaftliche Merkmale, wie die Verwertbarkeit von Schulabschlüssen oder die Arten der Erziehung als wichtige Determinanten für den Schulerfolg genannt werden. Dieser wurde so bei PISA jedoch nicht erfasst (Schümer 2008, S. 55). Obwohl die Untersuchungen von Schümer (2008) die Leistungen von integrativen Schulsystemen durch das Aufzeigen von indirekten Selektionsmechanismen durchaus relativieren, bleibt dennoch die Frage nach der Leistungsfähigkeit von extern selektierten Schülergruppen bestehen. Auch wird anhand der Darstellung der PISA-Diskussion deutlich, dass sich eine Gesellschaft in Bezug auf den schulischen Umgang mit Heterogenität darüber klarwerden muss, welche gesellschaftlichen Anforderungen bezüglich der Selektion und Allokation an das Schulsystem gestellt werden sollen.
3Der
soziale Gradient gibt an, wie stark die soziale Herkunft mit der Schülerleistung zusammenhängt.
3.3 PISA forderte das etablierte System heraus
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3.3.2 Leistungsfähigkeit von selektierten „homogenen“ Schülergruppen Ähnlich wie es in integrativen Schulsystemen zu einer indirekten Leistungsdifferenzierung kommen kann, so ist es auch in Schulsystemen mit einer klaren externen Differenzierung kaum möglich, eindeutig abgegrenzte leistungshomogene Schülergruppen bilden zu können (Gröhlich et al. 2009, S. 87). Von leistungshomogenen Gruppen, wie man sie durch eine externe Differenzierung erzeugen möchte, versprach man sich eine Leistungsniveausteigerung aufgrund einer optimalen Passung zwischen der Zielgruppe, dem Lerninhalt sowie den methodischen Möglichkeiten. Für schwächere Schülergruppen in entsprechenden Schularten bedeutet dies folglich eine Reduzierung der Lerninhalte und mehr Raum für individuelle Betreuung und Förderung. Zudem ging man lange Zeit davon aus, dass der psychische Leistungsdruck für schwächere SuS reduziert würde, da kein direkter Vergleich mit deutlich leistungsstärkeren SuS gegeben ist (Slavin 1987). Ausgehend von diesen Überlegungen könnte man diesem System durchaus positiv unterstellen, alle SuS entsprechend ihrer Fähigkeiten bzw. sozialen Voraussetzungen optimal fördern zu wollen. Obwohl es eigentlich das Ziel dieser Homogenisierung ist, allen SuS entsprechend ihrer kognitiven Leistungsfähigkeit eine geeignete Schulart anzubieten, müssen aber dennoch vorhandene Selektionsfehler durch Maßnahmen, wie Sitzenbleiben oder eine Überweisung auf eine niedrigere Schulform, ausgeglichen werden. Dass eine Leistungsselektion in Verbindung mit guten Gesamtergebnissen im dreigliedrigen System nur bedingt gegeben ist, zeigte sich sowohl durch die PISA-Studie als auch die IGLU-Studie. Mit beiden Studien wurde deutlich, dass das deutsche System in Bezug auf die Leistungsfähigkeit der SuS in den Testverfahren nur durchschnittlich abschnitt (Ratzki 2007, S. 22). Beim Vergleich der unterschiedlichen Schulsysteme stellte sich heraus, dass die neun Spitzenreiter nicht über eine derartige Selektion im Bildungswesen verfügen, sondern auf Gesamtschulen mit einem stark gemischtem Schülerklientel setzten (Ratzki 2005, S. 40). Für das deutsche Bildungssystem erhöhten diese internationalen Vergleichsstudien den Reformdruck auf das bestehende System, auch wenn diese Ergebnisse entsprechend der Studie vom Schümer (2008) durchaus stärker hätten hinterfragt und diskutiert werden können. Die IGLU-Studie (Bos und Lankes 2003) zeigte jedoch deutlich, dass es bei der Lesekompetenz der SuS unter Berücksichtigung der Übergangsempfehlung zu klaren Überschneidungen zwischen den Schülerkohorten der jeweiligen Schulformen kommen kann (Abbildung 3.2). Wie aus der folgenden Abbildung
32
3 Die Heterogenitätsdebatte im aktuellen Kontext
e rsichtlich wird, unterscheiden sich die Mittelwerte der unterschiedlichen Schulformen deutlich. Hingegen kommt es vor allem in den Kompetenzniveaus II und III zu deutlichen Überschneidungen zwischen den Schularten. Auffällig ist hingegen, dass sogar über 5 % der SuS mit Hauptschulempfehlung die höchste Kompetenzstufe erreichen. Es wird jedoch auch der umgekehrte Effekt deutlich. So erreicht ein deutlicher Teil von SuS mit Gymnasialempfehlung nicht Kompetenzstufe III und eine kleine Minderheit schafft es selbst nicht über Kompetenzstufe I hinaus (Bos und Lankes 2003, S. 131).
Abbildung 3.2 Kompetenzstufenzugehörigkeit der SuS, differenziert nach Übergangsempfehlung. (Bos und Lankes 2003, S. 131)
Diese Ergebnisse legen nahe, dass es nur mit klaren Einschränkungen möglich ist, anhand einer externen Differenzierung leistungshomogene Schülergruppen bilden zu können. Zudem verdeutlichen die Ergebnisse, dass ein nicht zu vernachlässigender Anteil von knapp 10 % der SuS mit Hauptschulempfehlung sehr schwach abschneidet und nicht einmal die erste Kompetenzstufe erreicht. Die Ergebnisse der IGLU-Studien decken sich mit den Erkenntnissen aus PISA, wo ebenfalls auf einen hohen Anteil an sehr schwachen SuS verwiesen wurde und sich in diesen Zusammenhang eine Verbindung zur sozialen Herkunft der SuS belegen ließ (Trautmann und Wischer 2011, S. 7). Dieser Zusammenhang von Bildungsherkunft und schulischem Erfolg ist von der empirischen Bildungsforschung bereits seit ca. 50 Jahren immer wieder kritisiert worden. Durch Ergebnisse der
3.3 PISA forderte das etablierte System heraus
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internationalen Vergleichsstudien wurden diese Erkenntnisse bestätigt und zudem öffentlichkeitswirksam kommuniziert (Rauschenbach 2005, S. 7). Geht man davon aus, dass eine leistungshomogene Selektion aufgrund der genannten Überschneidungseffekte nur bedingt funktioniert, führt dies zur Frage, was leistungshomogene Klassenkonstellationen im Vergleich zu leistungsheterogenen Zusammensetzungen für die unterschiedlichen Schülerkohorten bedeuten. Kämmerer et al. (2002) untersuchten diese Unterschiede mit Blick auf die selbstbezogene Fähigkeitskognition sowie die wahrgenommene Unterrichtspartizipation und soziale Akzeptanz. Hierbei zeigt sich, dass sich leistungsschwache SuS in heterogenen Gruppen weniger am Unterricht beteiligen und über ein schwächeres Selbstkonzept im Fach Mathematik verfügen (Kämmerer et al. 2002, S. 248). Auch Bohl plädiert für eine leistungsheterogene Gruppierung, da schwächere SuS davon profitieren können. Dieser Effekt kann aber nur dann voll ausgeschöpft werden, wenn schwächere SuS auch in Bezug auf ihr Selbstkonzept gestärkt werden und zugleich auch die Leistungsstarken entsprechend gefördert werden (Bohl 2013, S. 247). Dies steht im Gegensatz zur Argumentation von Salvin, dass schwächere SuS in homogenere Klassenkonstellationen psychisch entlastet würden, da kein direkter Vergleich mit deutlich leistungsstärkeren Schülern stattfindet (Slavin 1987). Mit Blick auf die leistungsstarken SuS zeigt sich, dass diese stärker von einer leistungshomogenen Klassenzusammensetzung mit einem hohen Niveau profitieren können (Arnold 2010, S. 20). Lernen in heterogenen Gruppen führt in der Gesamtheit hingegen zu keinen schlechteren Lernergebnissen, bietet jedoch die Möglichkeit, dass leistungsschwächere SuS besser durch den Klassenverband unterstützt werden können (Klemm 2006, S. 78). Durch die Ergebnisse der internationalen Leistungsvergleichsstudien wurden die Erwartungen widerlegt, dass durch eine externe Differenzierung leistungshomogene Gruppen gebildet werden können, die eindeutig zu besseren Lernergebnissen führen können. Zudem bestätigten diese Studien dem deutschen Schulsystem einen Zusammenhang zwischen einer schlechten schulischen Leistung und der sozialen Herkunft der SuS, was die Forderung nach mehr Chancengerechtigkeit verstärkte.
3.3.3 Die Forderung nach mehr Chancengerechtigkeit Forderungen nach mehr Chancengleichheit beziehungsweise Bildungsgerechtigkeit sind u. a. im deutschen Bildungsbericht von 2012 klar verankert (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2012, S. 226).
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3 Die Heterogenitätsdebatte im aktuellen Kontext
Für den Aspekt der Bildungsgerechtigkeit liefert Prengel mit ihrem Konzept „Pädagogik der Vielfalt“ (Prengel 2006) für den Heterogenitätsdiskurs einen wichtigen argumentativen Pfeiler, der sich in vielen wissenschaftlichen Beiträgen zu dieser Thematik wiederfindet. Dies kann dadurch begründet werden, dass Prengels Konzept versucht, eine Verbindung von „Gleichheit“ und „Verschiedenheit“ herzustellen, die zugleich untrennbar mit der Frage nach Gerechtigkeit bzw. gerechter Behandlung von Individuen verbunden ist. So sieht Prengel Gleichheit nicht als eine gegebene Realität, sondern vielmehr als ein Verhältnis zwischen Menschen und Dingen, die aufgrund ihrer natürlichen Individualität verschieden und ungleich sind. Soll Gleichheit verwirklicht werden, stellt sich die Frage, wie die Wirklichkeit wahrgenommen und mit ihr umgegangen wird. Prengel stützt sich bei ihrer Argumentation auf die Erkenntnisse der „interkulturellen Pädagogik“, der „feministischen Pädagogik“ und der „integrativen Pädagogik“. Obwohl alle drei Bereiche verschiedene Aspekte abdecken, geht sie davon aus, dass Unterschiede generell gesellschaftlich positiv beziehungsweise negativ konnotiert sind und zugleich hierarchisch eingeordnet werden. Diese Hierarchisierung führt auch dazu, dass gesellschaftliche Schichten fixiert werden. Dieser Fixierung könnte nur entgegengewirkt werden, sofern Unterschiede neutral angenommen würden, was Prengel als die Akzeptanz gleichwertiger Differenzen beschreibt (Prengel 2006, S. 47). Artikel 3 [Gleichheitsgrundsatz] des deutschen Grundgesetzes, zielt ebenfalls in diese Richtung und gibt vor, dass keine Person aufgrund von Merkmalen wie Geschlecht, Rasse, Sprache etc. bevorzugt oder benachteiligt werden sollte. Dass dieser gesetzliche Anspruch in der Realität häufig umgangen wird und Differenzen nicht als gleichwertig behandelt werden, lässt sich zum Beispiel anhand der geführten politischen Debatten um gleiche Entlohnung von Männern und Frauen (bei gleicher Arbeit) oder die politische Diskussion zur Frauenquote erkennen. Während die Arbeitswelt durch Kontrollinstanzen, wie zum Beispiel Arbeitsgerichte, geregelt wird, birgt der Gleichheitsgrundsatz für den pädagogischen Bereich eine besondere Herausforderung, da derartige Kontrollinstanzen nicht existieren oder nur sehr schwach ausgeprägt sind. Daher ergibt sich für das Bildungssystem die zentrale Frage, wie die Forderung nach gleichwertigen Differenzen in diesem Bereich überhaupt durchgesetzt werden könnte (Prengel 2006, S. 15). Dieses Prinzip der Gleichbehandlung bildete in den letzten Jahren ebenfalls die Grundlage für Diskussionen, Ansätze und Forderungen im Bereich der Inklusion. Dieser Bereich soll in dieser Arbeit jedoch bewusst ausgeklammert werden, da der Fokus auf den Chancen und Hürden einer Differenzierung im Wirtschaftsunterricht liegen soll und damit Ansätze und Forderungen einer inklusiven Didaktik zu weit führen würden.
3.3 PISA forderte das etablierte System heraus
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Vielmehr steht die Forderung nach Chancengerechtigkeit in Verbindung mit der Suche nach den Ursachen, die diese verhindern. Mit Blick auf das dreigliedrige Schulsystem wird eine Ursache vor allem in der vorhandenen und frühen Selektion gesehen.
3.3.4 Geringere Chancengleichheit durch Fehlselektion Als ein wesentlicher Kritikpunkt am Selektionsprozess wird in der Literatur vor allem eine zu frühe Verteilung der SuS auf die verschiedenen Bildungsgänge genannt. Sie führt dazu, dass sich gesellschaftliche Unterschiede in Form von homogenen sozialen Gruppen verfestigen und Kinder aus bildungsfernen Familien häufig schlechter gestellt werden. Dies entspricht keineswegs dem Prinzip der Bildungsgerechtigkeit und verhindert zugleich, dass das gesellschaftliche Bildungspotenzial, im Sinne einer volkswirtschaftliche Ressource, voll ausgeschöpft werden kann (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2012, S. 200). Diese sozialhomogenen und vermeintlich leistungshomogenen Gruppen bilden laut Kritikern eine Kanalisierungsfunktion, die dazu führt, dass die oberen Schichten ihrer Status durch die Einschulung ihrer Kinder auf Gymnasien sichern und zugleich die nach oben gerichtete Durchlässigkeit von Nicht-Akademikern oder Kindern mit Migrationshintergrund behindert oder sogar verhindert (Drewek 2013; Sauter 2007; Maurer 2015). Dieser Forschungsbereich bietet seit den 1960er Jahren eine Vielzahl an Publikationen, die vor allem im sozial- und kulturwissenschaftlichen Bereich angesiedelt sind. Im Folgenden sollen drei zentrale Aspekte aus diesem Forschungsbereich vorgestellt werden, die wiederum im Rahmen der Heterogenitätsdebatte Auswirkungen auf die Veränderung der Schullandschaft haben. 1. Grundlegende Benachteiligung aufgrund einer anderen Sozialisation Im klassischen Sinne soll an dieser Stelle auf Bourdieu Bezug genommen werden, der eine Ursache für diese Benachteiligung in der Diskrepanz des in der Familie kulturell angeeigneten Habitus und dem später vom Schulsystem eingeforderten Habitus sieht. (Kramer et al. 2009, S. 13; Bourdieu et al. 1971). Bourdieu ist sich dabei durchaus bewusst, dass Individuen über unterschiedliche Fähigkeiten verfügen, bemängelt aber, dass die kulturell erworbenen Sichtweisen auf Bildung und Vorkenntnisse, die je nach sozialer Schicht sehr unterschiedlich sein können – vom Bildungssystem nicht als kulturelle Vorprägung neutral aufgefasst werden, sondern auf der Ebene von Begabung und Intelligenz verortet werden (Bourdieu et al. 1971, S. 40). Diese Auffassung deckt sich zudem mit Prengels Forderung nach gleichwertiger Differenz. Praktisch gesehen bedeutet
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3 Die Heterogenitätsdebatte im aktuellen Kontext
dies, dass Kinder aus gebildeten Familien bereits in der Grundschule häufig über einen vom Elternhaus mitgegebenen Wissensvorsprung (später z. B. auch durch Nachhilfe) verfügen sowie einen Vorteil durch eine entsprechend anerzogene Einstellung haben. Diese Umdeutung von kultureller Vorbildung als Intelligenz, kann somit in einem Selektionsprozess nach dem Leistungsprinzip zu Fehlwahrnehmungen führen. „Die Ausgeschlossenen halten ihren Ausschluss für legitim, denn sie haben es halt nicht ‘’gepackt‘’, den Privilegierten hilft das Bildungssystem, nicht als Privilegierte zu erscheinen, sondern als solche, die sich den Erfolg selbst verdient haben.“ (Böttcher 2005, S. 9)
2. Das Übergangssystem von der Grundschule in die Sekundarstufe I: Wunsch, Empfehlung und Realität Kinder und Jugendliche werden während ihres Erwachsenwerdens mehrfach mit Übergängen in ein anderes System konfrontiert. Daher sind diese Übergänge als wesentlicher Bestandteil der persönlichen Entwicklung anzusehen, deren Erfolg bzw. Misserfolg Einfluss auf die individuellen Lebensbiografien haben kann. Zu diesen Übergängen zählt zum Beispiel der Eintritt in den Kindergarten, die Einschulung in die Grundschule und der spätere Wechsel in eine weiterführende Schule (Kramer et al. 2009, S. 23). Dabei steht das Übergangssystem von der Grundschule in den Sekundarbereich I im besonderen Fokus der Wissenschaft. Ein zentraler Kritikpunkt an diesem Übergangssystem ist, dass hier eine Selektion nach unterschiedlichem Maß stattfindet, die gegebenenfalls für die weiteren Berufschancen entscheidend sein können. Die im Rahmen der „Timms Studien“ im Jahr 2006 und 2007 durchgeführten Untersuchungen zum „Übergang von der Grundschule in die weiterführende Schule“ (Maaz und Anders 2010) waren ein Gemeinschaftsprojekt verschiedener Universitäten und Bildungsforschungseinrichtungen. Sie belegen den lange kritisierten Aspekt, dass sich die Übergangschancen in Richtung Gymnasium entsprechend der Empfehlung der Grundschule für Kinder aus bildungsnahen Elternhäusern deutlich von Kindern aus bildungsfernen Familien unterscheiden. Für diese repräsentative Studie wurden an insgesamt 227 verschiedenen Schulen in 13 Bundesländern rund 5000 SuS befragt, inklusive deren Eltern und Lehrer. Die Forscher konnten dadurch ein Zusammenhang zwischen dem Schulabschluss der Eltern, dem Schulwahlwunsch, der Schulempfehlung und der tatsächlich realisierten Entscheidung aufzeigen (Baumert et al. 2010, S. 6). Eine Darstellung
3.3 PISA forderte das etablierte System heraus
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dieses Sachverhalts findet sich auch bei Jonkmann (2010) der u. a. diesen Zusammenhang für die Schulwunschform darstellt. Die folgenden Grafiken (Abbildung 3.3–3.5) veranschaulichen diesen Sachverhalt (Jonkmann 2010, 130 ff.).
Abbildung 3.3 Schulformwunsch nach höchstem Abschluss der Eltern. (Jonkmann 2010, S. 130)
Aus Abbildung 3.3 wird deutlich, dass 9,8 % der Eltern mit einem niedrigen Schulabschluss (Hauptschule) diesen Bildungsweg auch für ihr Kind in Erwägung ziehen würden, wohingegen bei Eltern mit Abitur ein Hauptschulbesuch des Kindes mit nur 1 % keine erstrebenswerte Option darstellt. Hier zeigt sich mit 75 % der klare Wunsch, dass auch das Kind Abitur machen sollte oder „zur Not“ erst mal einen mittleren Bildungsabschluss erwirbt (16 %). Ähnliche Bestrebungen sind in Familien erkennbar, bei denen mindestens ein Elternteil über einen mittleren Bildungsabschluss verfügt. Allerdings ist hier der Gymnasialwunsch nicht so dominant ausgeprägt, sondern liegt nur 10 Prozentpunkte über dem Realschulwunsch. Abbildung 3.4 zeigt, dass das Streben nach einem Bildungsaufstieg der Kinder jedoch auch bei Eltern mit einem niedrigen Bildungsabschluss vorhanden ist. Die Mehrheit strebt mit 45 % den Weg über die Realschule an und nur 30 % fassen das Gymnasium ins Auge (Abbildung 3.4).
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3 Die Heterogenitätsdebatte im aktuellen Kontext
Abbildung 3.4 Schulempfehlung nach höchstem Abschluss der Eltern. (Jonkmann 2010, S. 131)
Vergleicht man die Wunschvorstellungen der Eltern mit den tatsächlichen Schulempfehlungen der Lehrkräfte, so wird deutlich, dass bei Eltern mit einem niedrigen Bildungsabschluss die tatsächliche Anzahl an Hautschulempfehlungen (53 %), die Wunschquote (10 %) um ein Vielfaches übersteigt und deutlich dominiert. Dagegen beträgt der Anteil an Hauptschulempfehlungen bei Eltern mit Abitur nur 11 % und dem Gymnasialwunsch wird mit 59 % überwiegend entsprochen. Bei Kindern von Eltern mit mittlerem Bildungsabschluss ist das Ver-
Abbildung 3.5 Realisierter Übergang nach höchstem Abschluss der Eltern. (Jonkmann 2010, 132)
3.3 PISA forderte das etablierte System heraus
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hältnis zwischen Realschulempfehlung und Gymnasialempfehlung mit jeweils 24 % hingegen ausgeglichen (Jonkmann 2010, 128 f.). Wie Abbildung 3.5 zeigt, weicht der tatsächlich von den Eltern gewählte Übergang zum Teil erheblich von den Empfehlungen der Lehrkräfte ab. Dabei zeigt sich der klare Trend, dass alle Elterngruppen unabhängig vom Schulabschluss versuchen, einen Übergang ihrer Kinder in die Hauptschule möglichst zu vermeiden und zumindest einen Realschulbesuch anzustreben (Jonkmann 2010, S. 130). Dieses Verhalten und die daraus resultierenden niedrigen Schülerzahlen im Bereich der Hauptschulen, stellt für das Schulsystem eine entsprechende Herausforderung dar, auf die in Abschnitt 3.4.2 genauer eingegangen wird. Jonkmanns Darstellung zum Zusammenhang zwischen dem Schulabschluss der Eltern und der Schulempfehlung deckt sich zudem auch mit anderen Forschungsergebnissen in diesem Bereich (Maaz und Anders 2010, S. 8). Sucht man nach Erklärungsmustern für diese Ungleichverteilung, so lässt sich aufzeigen, dass Lehrkräfte bei der Vergabe der Schulempfehlung neben Noten auch weitere Faktoren, wie zum Beispiel Selbstdisziplin, Motivation und Konzentrationsfähigkeit der SuS mit in ihre Beurteilung einfließen lassen (Ditton 2007, S. 7). Durch qualitative Interviews mit Grundschullehrkräften aus Berlin konnte u. a. gezeigt werden, dass diese bei der Vergabe von Schulempfehlungen häufig auch das mögliche Förderpotenzial des sozialen Umfelds mit in ihre Empfehlung einbeziehen. Die Absicht der Lehrkräfte besteht darin, zu antizipieren, wie hoch die Chancen sind, dass das Kind die empfohlene Schulart auch erfolgreich bestehen wird. Verbunden damit ist meist die Absicht, ein Scheitern im Sinne eines Schulwechsels auf eine niedrigere Schulform für das Kind zu vermeiden. Das Vorhandensein von entsprechenden Deutschkenntnissen, Bildungsinteresse und auch motivierende Unterstützung durch das Elternhaus werden, neben dem Notendurchschnitt, als wichtige Variablen angesehen. Sie sollten zum Wohle des Kindes vor allem bei einer Gymnasialempfehlung vorhanden sein, da sich hierdurch die Erfolgschancen auf dem Weg zum Abitur eindeutig erhöhen (Hollstein 2008, S. 2608). Durch diese Argumentation zeigt sich, dass die Lehrkräfte die individuellen Fördermöglichkeiten zum Ausgleich von vorhandenen Defiziten innerhalb der verschiedenen Schularten als relativ begrenzt bewerten und die SuS somit in der Lage sein sollten, möglichst selbstständig im „Leistungsstrom“ der jeweiligen Schulart mitschwimmen zu können. Daher ist es auch fraglich, ob man hinter dieser Praxis eine systematische/institutionelle Diskriminierung verstehen sollte, wie sie in der Literatur teilweise angeführt wird (Gomolla und Radtke 2009, S. 274). Obwohl der Zusammenhang zwischen dem sozialen Hintergrund und Schulempfehlung als eindeutig angesehen werden
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3 Die Heterogenitätsdebatte im aktuellen Kontext
kann, sollen an dieser Stelle zwei Aspekte erwähnt werden, die den Vorwurf der systematischen Fehlselektion etwas relativieren. Obwohl die Grundschulempfehlung der Lehrkräfte ein entsprechendes Gewicht besitzt, können die Erziehungsberechtigten im Fall von Dissens, von dieser abweichen, wie bereits in Abbildung 3.5 deutlich wurde (Bos und Lankes 2003, S. 132). Grundlage hierfür ist Artikel 6, Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes, der besagt, dass „Pflege und Erziehung der Kinder […] das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht“ sind. Hieraus leitet sich ab, dass die Wahl der Schule und der daraus resultierende Bildungs- und Lebensweg das elterliche Erziehungsrecht in besonderer Weise betrifft. Dieser Entscheidungsspielraum zeigt sich auch dadurch, dass Eltern generell staatliche Bildungseinrichtungen umgehen könnten, indem sie ihr Kind an einer Privatschule anmelden (Füssel 2010, S. 88). Bei der Wahl einer weiterführenden Schule kann das elterliche Erziehungsrecht jedoch in Konflikt mit der staatlichen Schulaufsicht stehen, die Schülerströme entsprechend der zur Verfügung stehenden Bildungskapazitäten steuern muss. Der Grad der Verbindlichkeit einer ausgesprochenen Übergangsempfehlung kann dabei zwischen den Bundesländern stark variieren. Einige Bundesländer wie Bremen, Hamburg, Hessen, Niedersachsen verzichten beispielsweise völlig auf eine negative Selektion. Nach einem vorangegangenen Beratungsprozess obliegt die Schulwahlentscheidung den Eltern, völlig unabhängig von der Übergangsempfehlung der Lehrkräfte. Hierdurch kann keinem Kind der Zugang zu einer höheren Schule verwehrt bleiben. In anderen Bundesländern, wie zum Beispiel Bayern, Sachsen oder das Saarland, besitzt die Übergangsempfehlung hingegen eine größere Verbindlichkeit. Wenn hier die Eltern von dieser abweichen wollen, muss das Kind an der gewünschten Schule eine Aufnahmeprüfung bestehen und wird im Falle eines Scheiterns abgelehnt (Füssel 2010, S. 100). In diesen Zusammenhang sollte folglich die Frage thematisiert werden, warum nicht mehr Eltern aus bildungsfernen Familien, von denen entsprechend der Darstellung von Jonkmann (Jonkmann 2010, 130 ff.) ursprünglich 31 % einen Gymnasialwunsch äußerten, diesen infolge der eigentlich bestehenden Schulwahlfreiheit auch realisieren. Schließlich könnte dies dazu beitragen, die Chancenungleichheit zu beseitigen. 3. Der mikrosoziologische Ansatz zur Wahl von Bildungswegen nach Boudon Einen Erklärungsansatz hierfür bietet der mikrosoziologische Ansatz zur Wahl von Bildungswegen nach Boudon (Boudon 1974). Nach dieser Theorie erfolgt eine Bildungsentscheidung auf Grundlage schulischer Leistung, der Übergangsempfehlung der Lehrkräfte und des Entscheidungsverhaltens innerhalb
3.4 Schulpolitische Herausforderungen im Bereich der Hauptschulen
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der Familie. Die soziale Diskrepanz, die bereits bei dem Wunsch der Schulform deutlich wird, ist neben der schulischen Leistung (primärer Faktor) vor allem dem familiären Bildungsbestreben (sekundärer Faktor) zuzuschreiben (Maaz 2010, S. 67). Aus diesem sekundären Faktor können sich auch bei gleicher schulischer Leistung in Bezug auf Noten, Unterschiede in der Schulformwahl ergeben, da die Elternhäuser entsprechend ihrem sozialen Status unterschiedliche Kosten-Nutzen-Risikoabwägungen treffen. So könnte es zum Beispiel sein, dass eine bildungsferne Familie einen kürzeren Hauptschulabschluss ihres Kindes und somit ein schnelleres zusätzliches Einkommen, z. B. im Rahmen einer Ausbildung, einem längeren Schulbesuch (Abitur) vorziehen könnte. Wie sich die Zunahme einer elterlichen Entscheidungsfreiheit auf Verteilung von Übergangsempfehlung nach Aspekten einer Chancengerechtigkeit auswirkt, ist in der Literatur nicht eindeutig geklärt. Eine Position sieht in einem Übergangssystem mit freiem Elternwillen eine Verringerung der sozialen Ungerechtigkeit vor (Schimpl-Neimanns 2000, S. 641). Andere Meinungen gehen davon aus, dass die soziale Ungleichheit gerade durch den freien Elternwillen verstärkt wird, weil dadurch die Notwendigkeit zur Bildungsaspiration von bildungsfernen Familien abgemildert werden könnte (Harazd 2007, S. 56). Diese Entscheidungsfreiheit der Eltern bezüglich der Schulwahl führt jedoch jenseits von Gerechtigkeitsfragen in der Praxis dazu, dass sich die schulspezifische Nachfrage nach Schulplätzen verschiebt, was das System aus organisatorischer Sicht eindeutig vor Herausforderungen stellt. Auf diese Herausforderungen soll im folgenden Kapitel genauer eingegangen werden.
3.4 Schulpolitische Herausforderungen im Bereich der Hauptschulen Das dreigliedrige Schulsystem hatte in den letzten Jahren mit grundlegenden Problemen im Hauptschulbereich zu kämpfen. Hierzu liefert die Forschung breite Analysen und Erkenntnisse, in denen die Lage der Hauptschulen in verschiedenen Bundesländern relativ uneinheitlich beschrieben wird (Wacker et al. 2010, S. 31). Das Spektrum reicht dabei von einer Position, welche die Hauptschule als eine wichtige Schulart im dreigliedrigen Schulsystem beschreibt, da sie es schafft, den SuS eine gute Perspektive bieten zu können (Trautwein et al. 2007, S. 7), bis hin zur Darstellung der Hauptschule als eine „Restschule“ (Rösner 2007, S. 22). Dabei sollte jedoch erwähnt werden, dass sich die unterschiedlichen Positionen zur Hauptschule nur bedingt generalisieren lassen und die Wirksamkeit einer Hauptschule vor allem von individuellen Faktoren, wie dem Bundes-
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3 Die Heterogenitätsdebatte im aktuellen Kontext
land, dem Einzugsgebiet, dem pädagogischen Konzept, der Vernetzung zu lokalen Arbeitgebern, Möglichkeiten der außerbetrieblichen Bildung und weiterführende Bildungsgänge abhängt. Dennoch sollen an dieser Stelle zwei Problempunkte dargestellt werden, mit denen die Hauptschule zu kämpfen hat und die entsprechend Druck auf die Bildungspolitik ausüben (Hiller 2006, S. 24).
3.4.1 Übergänge nach dem Hauptschulabschluss „Kein Abschluss ohne Anschluss“ lautet ein zentraler Leitsatz der Regierungspräsidien von Baden-Württemberg4, der die Durchlässigkeit im Schulsystem als eindeutiges Qualitätsmerkmal manifestiert (Regierungspräsidien BadenWürttemberg 2019). Dabei bezieht sich dieser Leitsatz auf alle Abschlüsse des allgemeinbildenden und beruflichen Teils des Schulsystems und suggeriert, dass auch SuS mit Hauptschulabschluss alle Möglichkeiten offen stehen. Die Übergangsmöglichkeiten in Baden-Württemberg lassen sich grob in die folgenden drei Bereiche zusammenfassen: 1. Übergang auf eine zum mittleren Bildungsabschluss führende Schule 2. Übergang in das duale Ausbildungssystem 3. Übergang in eine berufsvorbereitende Maßnahme.5 Über die Verwertbarkeit eines in Baden-Württemberg erworbenen Hauptschulabschlusses gibt es hingegen nur sehr wenige Studien, welche die Berufsbiografie von SuS nach dem Hauptschulabschluss über mehrere Jahre dokumentiert und evaluiert haben. So beschreibt Hiller (2008) den „Marktwert“ von 445 Hauptschulabschlüssen, die 1998 in Reutlingen und Umgebung abgelegt wurden. Die Ergebnisse zeigen deutlich, dass ein Hauptschulabschluss als Eintrittskarte in das Berufsleben nur sehr begrenzt verwertbar ist. Unter allen im IHKBezirk Reutlingen geschlossenen Ausbildungsverträgen6 entfielen nur 18 %7 auf Jugendliche mit Hauptschulabschluss, wovon sich zwei Drittel der geschlossenen
4Dieser
Leitsatz ist auch in anderen Bundesländern gültig und kann als ein generelles Prinzip verstanden werden. 5https://kultusportal-bw.de/,Lde/Startseite/schulebw/Berufliche+Schule. 6Zum Zeitpunkt der Untersuchung 1998. 7IHK-Ausbildungen auf Bundesebene mit HS-Abschluss 1997 = 23 %.
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Verträge auf nur acht Ausbildungsberufe beschränkten. Für die von Hiller untersuchte Gruppe beträgt der Ausbildungsanteil (inklusive gewerbliche Richtungen) 34 %. Ein weiteres knappes Drittel wechselte auf eine zweijährige Berufsfachschule, 10 % schafften den Sprung auf die Werkrealschule, die damals mit einem Notenschnitt von 2,5 die höchste Zugangsvoraussetzung verlangte. Rund 25 % der Jugendlichen konnte hingegen keinen Bildungsaufstieg realisieren und wechselte in eine berufsvorbereitende Maßnahme (Hiller 2006, S. 25). Eine Untersuchung von (Wacker et al. 2010) begleitet insgesamt 71 SuS der Entlass-jahrgänge 2001 und 2003 einer zweizügigen Hauptschule im ländlichen Raum bei Stuttgart. Sie widerspricht der Darstellung Rösners, dass es sich bei der Hauptschule um eine Art Endstation (Rösner 2007, S. 22) handeln solle. Dies begründet Wacker damit, dass 49 der 71 SuS nach sechs beziehungsweise acht Jahren seit dem Verlassen der Hauptschule im Berufsleben angekommen sind. Zwar ist Wackers Stichprobengröße nicht repräsentativ, sie zeigt aber auch die Tendenz, dass rund 40 % der Absolventen alle verfügbaren Wege zu einem mittleren Bildungsabschluss realisiert haben, da der Hauptschulabschluss den SuS nur wenig attraktive Möglichkeiten geboten hat (Wacker et al. 2010, S. 31). Dieses Verhalten bestätigt auch (Zenke 2007) und macht in Bezug auf den Handwerkskammertag Baden-Württemberg und dem Institut der Deutschen Wirtschaft deutlich, dass es den Hauptschulen immer weniger gelingt, ein derartiges Humankapital zu produzieren, das den Ausbildungsanforderungen der Wirtschaft genügt. Gute Chancen auf eine Ausbildung im direkten Anschluss an die Hauptschule haben demnach vor allem SuS, die einen „befriedigenden“ Notenschnitt erreichen, wobei es sich dann in erster Linie um Ausbildungsplätze im Handwerk oder im Dienstleistungsbereich handelt (Zenke 2007, S. 25). Hierzu bleibt festzustellen, dass sich allerdings auch die Ansprüche seitens der Wirtschaft deutlich erhöht haben. Während vor fünfzig Jahren ein Hauptschulabschluss als Zugangsberechtigung für eine Banklehre ausreichend war, wurde vor vierzig Jahren der mittlere Bildungsabschluss als Mindestmaß angesehen. Heutzutage liegt der Standard bei einem guten mittleren Bildungsabschluss oder noch besser; dem Abitur (Rösner 2007, S. 29). Für die guten SuS einer Hauptschule steht eine Ausbildung in Konkurrenz zu einem schulischen Bildungsaufstieg und damit attraktiveren Berufsaussichten. So ist es nicht verwunderlich, dass am Ende der allgemeinbildenden Pflichtschulzeit der weitere Schulbesuch (Weiterführung zum mittleren Bildungsabschluss oder berufsvorbereitende Maßnahme) quantitativ deutlich bedeutender ist, als ein Übergang in eine duale Ausbildung (Reißig et al. 2006, S. 12). Aus den dargestellten Informationen wird aber auch deutlich, dass ein Hauptschulabschluss zwar Anschlussmöglichkeiten bietet, dieser für sich allein aber immer weniger
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3 Die Heterogenitätsdebatte im aktuellen Kontext
attraktive berufliche Optionen offerieren kann, was sich folglich auch auf den Ruf der Hauptschule und die Nachfrage nach derartigen Schulplätzen auswirkt.
3.4.2 Schwierige Schüler und sinkende Schülerzahlen als Herausforderung für die Politik Betrachtet man die Debatte zur Hauptschule, so wird deutlich, dass kritische Aspekte und reformerische Denkansätze zu dieser Schulform bereits lange vor der Veröffentlichung der ersten PISA-Ergebnisse stattgefunden haben. Hauptkritikpunkt war schon damals die Sorge, dass die Hauptschule als unattraktivste Schulart Probleme mit der Schülerklientel bekommen könnte. In diesem Zusammenhang mahnte der Deutsche Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen: „Wenn hier nicht bald Wirksames geschieht, dann wird die Volksschule eines Tages die ‘Restschule’ sein, die Schule nämlich nur derjenigen Jugendlichen, deren Lebenschancen sich auf ungelernte Arbeit beschränkt.“ (Bohnenkamp 1966, S. 370)
Verbunden mit dieser Sorge forderte dieser Ausschuss bereits 1964 die Umsetzung wesentlicher Erneuerungen, damit die Hauptschule im Sinne einer zukunftsweisenden Bildungseinrichtung ihrem Namen gerecht werden kann. Zu diesen Forderungen zählten unter anderem: • Gemeinsame Beschulung bis zur sechsten Klasse, • vierjährige Hauptschulzeit bis Klasse 10, mit dem Abschluss einer Mittleren Reife, • Niveaudifferenzierter Unterricht von vollakademischen Lehrern sowie • Wahlmöglichkeiten für Schüler in Sinne von Kern und Kursangebote. Dass diese Forderungen zur damaligen Zeit kein Gehör fanden, ist wenig verwunderlich, da es das westdeutsche dreigliedrige Schulsystem, inklusive dem dazugehörigen System der Lehrerausbildung auf unterschiedlichen Niveaustufen (Fachlehrer/PH/Uni) sowie der unterschiedlichen Besoldungsstufen zwischen den Schularten herausgefordert hätte. Und dies lag nicht im Interesse der damaligen Bildungspolitik (Bohnenkamp 1966, S. 371). Betrachtet man rückblickend die Entwicklungen der Schülerzahlen an den Hauptschulen, so zeigt sich, dass die früheren Sorgen durchaus berechtigt waren, auch wenn sich die Lage erst zur Jahrtausendwende deutlich verschärft hat. So existierten in Nordrhein-Westfalen
3.4 Schulpolitische Herausforderungen im Bereich der Hauptschulen
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von ursprünglich 1140 Hauptschulen im Schuljahr 2005/2006 nur noch 730, wovon 499 nicht über die geforderte Mindestschülerzahl in Klasse 5 verfügten. Zwar sind die Zahlen nicht uneingeschränkt für alle Bundesländer repräsentativ, sie belegen aber einen Trend, der auch für die baden-württembergischen Hauptschulen gilt. Von der Einführung der Hauptschule im Jahr 1970/71 bis zum Schuljahr 2009/2010 ist die Schulbesuchsquote der Hauptschule für Klasse 7 von ursprünglichen 54 % kontinuierlich auf 25 % gefallen, wobei sich ein entgegengesetzter Trend im Bereich der Gymnasien mit 40 % eines Jahrgangs und 34 % bei den Realschulen erkennen lässt (Zenke 2007, S. 24; Bargel 2011). Dabei beschränkt sich der Schülerrückgang nicht nur auf Hauptschulen in sozialen Brennpunkten, sondern auch auf Standorte, deren Rahmenbedingungen als günstig gelten. Günstige Rahmenbedingungen sind dann gegeben, wenn die Hauptschule die einzige weiterführende Schule am Ort ist und die nächstgelegene Realschule bzw. das Gymnasium im Verhältnis weit entfernt sind. Zudem sollte sich im erreichbaren Umfeld keine Gesamtschule befinden und der Migrantenanteil im entsprechenden Schulbezirk möglichst gering sein (Rösner 2007, S. 22). Diese Schwierigkeiten rund um die Hauptschule haben somit auch einen klaren Effekt auf das Schulwahlverhalten der Eltern (siehe auch Abschnitt 3.3.4) die immer häufiger versuchen, einen Hauptschulbesuch für das eigene Kind abzuwenden, was zu rückläufigen Schülerzahlen führt. Diese Strategie kann in Bezug auf die zuvor beschriebene Verwertbarkeit eines Hauptschulabschlusses zweifelsfrei als rational betrachtet werden. Schließlich sollten durch einen Schulabschluss neue berufliche Chancen ermöglicht werden (Rösner 2007, S. 28). Das Schulwahlrecht der Eltern, ist wie im vorherigen Kapitel beschrieben, geeignet, um schulischer Fehlselektion entgegenzuwirken und Bildungsgerechtigkeit zu fördern. Auf der Kehrseite führt aber genau dieses Recht zu einer für die Hauptschulen problematischen Verschiebung von Schülerzahlen. Diese Verschiebung der Schülerzahlen resultiert zwangsläufig in einer Homogenisierung der SuS am unteren Rand des Leistungsspektrums. Abhängig vom sozialen Umfeld der Hauptschule kann dies in sogenannten kritischen Schulmilieus zu Situationen führen, in denen Unterricht nicht mehr umsetzbar ist, wie zum Beispiel im Fall der Rütli-Schule in Berlin-Neukölln, deren Lehrkräfte im März 2006 aufgrund von unzumutbaren Unterrichtszuständen einen Hilferuf in Form eines Brandbriefes gesendet hatten. Kritische Schulmilieus werden vor allem dadurch begünstigt, dass andere weiterführenden Schulen verfügbar sind beziehungsweise ausgebaut werden und regional hohe Anteile von Familien mit Migrationshintergrund vorhanden sind. Dabei beziehen sich kritische Milieus vor allem auf die Hauptschulen (sie sind aber auch im Realschulbereich auffindbar) und können dazu führen, dass sich entsprechende Schülerzusammensetzungen
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3 Die Heterogenitätsdebatte im aktuellen Kontext
ergeben, die sich stark negativ auf die Leistungsentwicklung der SuS auswirken (Baumert et al. 2006, S. 171). Entsprechend der Auswertung der P ISA-Ergebnisse im Jahr 2000 bedienten bundesweit rund 16 % der Hauptschulen ein derartiges „kritisches Milieu“, welches einen normalen Unterricht strukturell stark beeinträchtigt. Dabei kann der Anteil dieser Schulen zwischen den Bundesländern stark variieren. Spitzenreiter im Jahr 2000 waren in dieser Kategorie die Länder Bremen (95 %), Saarland (81 %), Hamburg (68 %) und Berlin (60 %). Bayern war in dieser Kategorie überhaupt nicht vertreten und die Länder Baden-Württemberg und Niedersachsen hatten nur einen sehr geringen Anteil von rund 4 % zu verzeichnen. Auffallend hingegen ist der große Anteil von Schulen mit günstigen Rahmenbedingungen in Bayern (68 %) und Baden-Württemberg (61 %) (Baumert et al. 2006, S. 162). Laut der amtlichen Statistik im Jahr 2009/2010 gab es in Baden-Württemberg 1.153 Haupt- und Werkrealschulen, 427 Realschulen, 277 Gymnasien und nur 3 „Schulen der besonderen Art“, wobei es sich um Gesamtschulen handelte (Bargel 2011, S. 19). Diese Struktur dieser Schullandschaft veränderte sich jedoch deutlich, nachdem eine Koalition aus SPD und Grünen im Jahr 2011 die Landesregierung in Baden-Württemberg stellten.
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Die Heterogenitätsdebatte und der Umbau des Schulsystems in BadenWürttemberg
Was die Organisation der schulischen Landschaft betrifft, so ist diese im Schulgesetz von Baden-Württemberg nach § 118 geregelt. Demnach haben in der Regel die Gemeinden in ihrer Funktion als Schulträger (§ 27 SchulG) die Möglichkeit, über das öffentliche Schulangebot in den Kommunen zu bestimmen. Jedoch müssen die Beschlüsse eines Schulträgers (in Bezug auf die Schließung, Einführung oder das Zusammenlegen einer Schule) von entsprechenden Schulaufsichtsbehörden (Schulamt/Regierungspräsidium) angenommen werden, wobei die Schulaufsichtsbehörde wiederum dem Ministerium für Kultus, Jugend und Sport untergeordnet ist (§ 30 SchulG) (Bargel 2011, S. 19). Bereits im Jahre 2007 erfolgte unter Kultusminister Rau ein Versuch, dem Schülerschwund an den Hauptschulen durch aufwertende Maßnahmen entgegenzuwirken. Dies sollte vor allem mit einer Erweiterung der Stundentafel, der Einführung von pädagogischen Assistenten, der Förderung von Basiskompetenzen, einem Testverfahren für Schülerkompetenzen (Profil AC) sowie einer verstärkten Kooperation mit Realschulen und BVJ-Koop-Klassen1 im beruflichen Schulsystem erreicht werden (Landtag von Baden-Württemberg, S. 2). Diese Maßnahmen, die in der Presse auch unter dem Schlagwort „Fitnessprogramm für die Hauptschule“ kommuniziert wurde, sorgten jedoch bei Praktikern an den Hauptschulen für Unmut. In einem offenen Brief an Kultusminister Rau, der von rund 100 Schulleitern unterschrieben wurde, forderten diese die Landesregierung dazu auf, die sinkenden Schülerzahlen als strukturelles Problem zu
1Berufsvorbereitungsjahr
in Kooperation mit möglichen Ausbildungsbetrieben in Form von
Praktika. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Hertrich, Differenzierung im Wirtschaftsunterricht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31167-4_4
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verstehen, das nur durch einen Paradigmenwechsel – weg von einem selektiven dreigliedrigen Schulsystem und hin zu einem längeren gemeinsamen Lernen mit individueller Förderung – gelöst werden könne. Diese Kritik von internen Praktikern des Schulsystems, die so bisher nicht üblich war, spiegelte die unterschiedliche Wahrnehmung zwischen den planenden und den ausführenden Stellen im baden-württembergischen Bildungssystem wider. Zudem wurde damit der Druck auf die 2006 legitimierte Koalition aus CDU und FDP erhöht, die in ihrem Koalitionsvertrag die Verbesserung der Ausbildungsfähigkeit von Hauptschülern und die weitere konsequente Umsetzung des Reformkonzepts „IMPULSE Hauptschule“ aus dem Jahr 2000 festgeschrieben hatte. Zudem sollte durch die damalige Regierungserklärung unter anderem das Berufseinstiegsjahr (BEJ) als ein weiteres Instrument der beruflichen Vorqualifizierung an beruflichen Schulen besiegelt werden. Dabei kann jedoch gerade dieser Ausbau der berufsvorbereitenden Bildungsgänge im beruflichen Schulsystem als Indiz gewertet werden, dass die Konzepte an den Hauptschulen in der Tat nur begrenzt geeignet waren, um eine ausreichende Ausbildungsreife zu vermitteln. Zwar wurde durch derartige Maßnahmen versucht, die Symptome im Bildungssystem zu lindern. In Bezug auf die Beschaffenheit des Schulsystems hielt die damalige Regierung jedoch weiterhin an der Dreigliedrigkeit fest (CDU/FDP 2006, S. 28). Erst gegen Ende der Legislaturperiode reagierte die damalige Landesregierung auf den Schülerschwund an Hauptschulen und etikettierte diese einfach um. So wurden ab dem Schuljahr 2010/2011 aus mindestens zweizügigen Hauptschulen „Werkrealschulen“, die allerdings neben den üblichen Realschulen und dem Gymnasium existieren sollten. Ebenso blieben auch kleine Hauptschulen zur Sicherung der Schulversorgung im ländlichen Raum erhalten. Die Werkrealschule, welche in geringen Zahlen bereits vorhanden war und ebenfalls nur schwach nachgefragt wurde, sollte allen guten Hauptschülern nach dem neunten Schuljahr innerhalb eines weiteren Jahres den mittleren Bildungsabschluss ermöglichen, sofern sie die entsprechenden Leistungen in Form eines festgelegten Versetzungsschnitts von 3,0 über die Fächer Deutsch, Mathe und Englisch erfüllten. Diese Maßnahme wurde als notwendig erachtet, um die SuS vom Etikett der Hauptschule zu befreien und zugleich das Schulsystem auf die prognostizierten demografischen Veränderungen durch größere schulische Einheiten vorzubereiten. Entwicklungen im baden-württembergischen Schulsystem ab dem Jahr 2011 Ein tief greifender struktureller Wandel wurde im baden-württembergischen Bildungssystem erst nach der Landtagswahl im Jahr 2011 möglich, als die Regierung aus CDU und FDP durch die Koalition aus SPD und Grünen abgelöst
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wurde. Das neue Bündnis nutze den Wahlerfolg, um einen nachhaltigen Umbau des Schulsystems zu initiieren. Unter der Überschrift „Bessere Bildung für alle“ formulierte die Regierung im damaligen Koalitionsvertrag Maßnahmen, die neben Veränderungen im Bereich der frühkindlichen Bildung auch eine neue Richtung für das baden-württembergische Schulsystem vorsahen. Hierdurch sollte das Ende der Hauptschule besiegelt und ein innovativer Impuls in Richtung Zweigliedrigkeit vollzogen werden.2 Nach über fünfzigjähriger Dreigliedrigkeit war dies ein großes Reformprojekt, zudem in Baden-Württemberg bis dahin kaum entsprechende Erfahrungswerte vorlagen und das Zusammenlegen von Haupt- und Realschule sowie neue Schulformen, wie die Gemeinschaftsschule, mit erheblichen Unsicherheiten verbunden waren (Bohl und Meissner 2013, S. 10). Neben dem strukturellen Wandel war es ein klares Bekenntnis der rot-grünen Landesregierung, das bisherige selektive System zu verändern, um dadurch Bildungschancen von der sozialen Herkunft zu entkoppeln. „Unser Ziel ist ein sozial gerechtes Schulsystem, in dem nicht die Kinder sich an die Schule anpassen müssen, sondern die Schule an die Kinder angepasst wird. Eine Schule, in der jedes Kind sein persönliches Bildungsziel erreicht, individuell gefördert wird und all seine Talente bestmöglich nutzen kann. Individuelle Förderung, Verschiedenheit als Wert sowie das Prinzip der Chancengerechtigkeit sind die Leitgedanken unserer Bildungspolitik. Wir vertreten dabei ein umfassendes Bildungsverständnis, das Bildung, Erziehung und Betreuung als Einheit begreift. Aufstieg durch Bildung und Leistung soll in Baden-Württemberg gelingen können.“ (SPD/Bündnis 90 die Grünen 2011, S. 5)
Um diese Ansprüche umsetzen zu könnten, strebte die damalige Regierung einen breiten Ausbau von Gemeinschaftsschulen an, die wesentlich zur Lösung der gegebenen Herausforderungen beitragen sollten. Der politische Prozess, der schlussendlich zu einer Genehmigung von mehr Gemeinschaftsschulen führte, basierte deutlich auf der beschriebenen mehrjährigen Diskussion zum Zustand der Hauptschulen.
2Zweigliedrigkeit
im Bereich der regulären allgemeinen Bildung, ohne Sonderschulbereich und Berufsschulwesen.
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4.1 Genehmigung von Gemeinschaftsschulen und neuer Bildungsplan Am 18. April 2012 legte das Landesparlament die gesetzliche Grundlage zur Einführung der Gemeinschaftsschule vor, wodurch zum Schuljahr 2012/2013 vorerst 42 Gemeinschaftsschulen entstanden und die Genehmigung von weiteren 120 geplant wurde. Dabei sollte die Gemeinschaftsschule neben den bisherigen Schulen als weitere Schulart agieren (Kratzmeier 2013, S. 23). Dabei galt die Zusage der Landesregierung, Gemeinschaftsschulmodelle zu genehmigen, sofern entsprechende pädagogische Konzepte vorlagen, die zugleich innovativ und tragfähig waren. Zur Gründung einer Gemeinschaftsschule, die aus einer bereits bestehenden Schule hervorgeht, brauchte es jedoch die Zusage des Schulträgers. In Bezug auf das pädagogische Konzept der Gemeinschaftsschule ließ die Regierung den Praktikern vor Ort freie Hand und vertraute auf einen Bottom-up-Ansatz, der für eine entsprechende Innovationskraft sorgen sollte. Die bildungspolitischen Ziele waren dabei jedoch klar vorgegeben. Eine wesentliche Zielsetzung dieser Schulart war es, der bisher üblichen frühen Selektion entgegenzutreten, indem alle SuS in dieser Schulform gemeinsam bis Klasse 10 lernen sollten. Um dies ermöglichen zu können, mussten derartige Schulen allerdings ein breites Spektrum an Bildungsstandards abdecken, welche sowohl die Bereiche der Hauptschule, Realschule und des Gymnasiums umfassen. Das Einbeziehen des gymnasialen Niveaus soll zukünftig dafür sorgen, dass nach der 10. Klasse ein Anschluss an die reguläre gymnasiale Oberstufe ermöglicht werden kann. Hierbei soll es bei der Wertigkeit keinen Unterschied machen, ob das Abitur an einem allgemeinbildenden Gymnasium, an einem beruflichen Gymnasium oder an einem weiterführenden gymnasialen Zug einer Gemeinschaftsschule erworben wurde (Kratzmeier 2013, S. 25). Ein weiterer Kernaspekt dieses Konzepts sah vor, die Gemeinschaftsschulen derart mit Ressourcen auszustatten, dass eine individuelle Förderung der SuS ermöglicht werden kann. Auch sollten durch eine Bündelung von SuS entsprechende Schulgrößen erreicht werden, die vor allem in ländlichen Gebieten, dem demografischen Rückgang der Schülerzahlen standhalten und einen wohnortnahen Schulplatz mit vielseitigen Abschlüssen bieten konnten. Das übergeordnete pädagogische Konzept der Gemeinschaftsschulen war zudem darauf ausgerichtet, durch den Einsatz von Differenzierung und individueller Förderung eine neuartige, innovative Lehr- und Lernkultur zu schaffen, die den heutigen SuS gerecht wird und einen Beitrag zur Chancengerechtigkeit liefern kann (SPD/ Bündnis 90 die Grünen 2011, S. 6).
4.2 Ansprüche an die Gemeinschaftsschule
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Ein gemeinsamer Bildungsplan sollte zudem die Sekundarstufen I und II auch curricular miteinander verbinden, der jedoch erst im Jahr 2016 implementiert wurde. Dieser war, wie sein Vorgänger aus dem Jahr 2004, kompetenzorientiert ausgerichtet, beinhaltete aber als Innovation eine dreistufige Niveaudifferenzierung, was den Lehrkräften einen Rahmen zur Umsetzung einer Differenzierung zur Verfügung stellte. Eine Grundqualifizierung (G-Niveau) definiert die zu erreichenden Kompetenzen für SuS, die nur einer Art Mindestqualifikation im Sinne eines Hauptschulabschlusses erreichen werden. Ein mittleres Niveau (M-Niveau) vermittelt Kompetenzen auf dem Niveau eines mittleren Bildungsabschlusses und über das erweiterte Niveau (E-Niveau) wird Anschlussfähigkeit an die gymnasiale Sekundarstufe II ermöglicht. Die Implementierung der Gemeinschaftsschulen war somit mit ambitionierten politischen Zielsetzungen und Ansprüchen verbunden, die im folgenden Punkt genauer vorgestellt werden.
4.2 Ansprüche an die Gemeinschaftsschule Die bildungspolitischen Ansprüche an die Gemeinschaftsschule waren angesichts der versprochenen Innovationskraft alles andere als gering, was sich auch im Koalitionsvertrag widerspiegelte (SPD/Bündnis 90 die Grünen 2011, S. 6). Um einen existierenden Schulbetrieb in eine Gemeinschaftsschule überführen zu können, ist die Entwicklung eines pädagogischen Differenzierungskonzepts für die Schule eine zentrale Voraussetzung. Das „Gesetz zur Änderung des Schulgesetzes für Baden-Württemberg und anderer Gesetze“ legt dabei den Schwerpunkt auf die Umsetzung von individueller Förderung, individuellen und kooperativen Lernformen, Aktivitäten zur Förderung der Gemeinschaft, Verzicht auf Klassenwiederholungen, wie sie bisher üblich waren, sowie ein Angebot aller Bildungsstandards von der Hauptschule bis zum Abitur (Landtag Baden-Württemberg 2012, S. 12). Die großen Handlungsfreiräume, welche den Gemeinschaftsschulen bei der Erstellung derartiger pädagogischer Konzepte eingeräumt wurden, waren mit der Absicht verbunden, dass diese im Sinne eines Bottom-up-Ansatzes möglicherweise auch eine Vorbildfunktion für anderen Schularten übernehmen könnten (Kratzmeier 2013, S. 22). Herausfordernd in Bezug auf die Schul- und Unterrichtsstruktur waren die politischen Vorgaben dahingehend, dass innerhalb der
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4 Die Heterogenitätsdebatte und der Umbau des Schulsystems …
Schulen eine Differenzierung nach Schulabschluss oder Leistungsniveau3 untersagt waren (Kratzmeier 2013, S. 29). Vielmehr sollte ein binnendifferenziertes Lernangebot für alle SuS entsprechend ihrer kognitiven, sozialen und körperlichen Fähigkeiten bereitgestellt werden und gemeinsames Lernen von der Grundschulzeit bis zur zehnten Klasse, im Ganztagsbetrieb, ermöglicht werden (Heymann 2013, S. 41). Dass sich ein derart ambitioniertes Vorhaben nicht einfach realisieren lässt, kann an der Gesamtschuldiskussion in Nordrhein-Westfalen ab den 1980er Jahren aufgezeigt werden. Auch dort war geplant, dass alle SuS4 ein verbindliches Pflichtniveau erreichen sollten, das durch ein Additivum ergänzt werden konnte. Obwohl den schwachen SuS sogar mehr Zeit angeboten wurde, scheiterte dieses Vorhaben, da eine klare Abgrenzung zwischen Pflicht- und Wahlinhalt im Schulalltag nicht realisiert werden konnte. Selbst Schulen (z. B. Gesamtschule Fröndenberg), denen es gelang, ihr Raumkonzept an die erforderlichen Differenzierungskonzepte anzupassen, scheiterten schlussendlich an der Differenzierung der Inhalte (Schilmöller 2011, S. 20). Der Legitimationsdruck, der von diesen pädagogischen und organisatorischen Reformmaßnahmen auf die Bildungspolitik ausgeübt wurde, kann in Baden-Württemberg somit als hoch eingeschätzt werden. Dies lässt sich auch dadurch begründen, dass sich das Gemeinschaftsschulvorhaben der damaligen Regierung in einem sehr ausdifferenzierten System neben den anderen Schularten behaupten musste. Die Herausforderung, mit dem Gesamtschulvorhaben einen Erfolg generieren zu müssen, ist auch mit Blick auf die politische Opposition nachvollziehbar. Dieser Erfolgsdruck erhöhte somit auch den Erwartungsdruck auf die Lehrkräfte, da sie schließlich diejenigen sind, die das politische Vorhaben in der Realität umsetzen müssen (Trautmann und Wischer 2013, S. 47). Die genannten Veränderungsmaßnahmen in Baden-Württemberg stellten vor allem die Sekundarstufe I vor neue Herausforderungen. Eine weitere Herausforderung entstand zudem durch die Aufweichung der schulischen Selektionsfunktion. Ein Beispiel hierfür wäre die Abschaffung der „Notenhürde“ beim Übergang in die zehnte Klasse der Werkrealschule. Derartige politisch gewollte Maßnahmen führen dazu, dass die Institution Schule weg von einer staatlich hoheitlichen Institution hin zu einer Art Dienstleistungsorganisation driftet, die sich an ihre Schülerklientel anzupassen hat und möglichst
3Im
Sinne einer Aufteilung der SuS in leistungsstarke und leistungsschwache Klassen. als 90 %.
4Definiert
4.3 Abschließende Bewertung zur Schulreform
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allen SuS individuell gerecht werden soll und dies dadurch vollzieht, dass teilweise die Niveauhürden abgesenkt werden (SPD/Bündnis 90 die Grünen 2011, S. 5).
4.3 Abschließende Bewertung zur Schulreform Wie in den letzten drei Hauptkapiteln dargestellt wurde, basiert der Heterogenitätsdiskurs auf unterschiedlichen Argumentationslinien. Ein wesentlicher Aspekt ist dabei, der im Grundgesetz verankerte Gleichheitsgrundsatz in Artikel 3. Er sieht vor, dass individuelle Unterschiede, wie Geschlecht, Herkunft etc. zu keiner Benachteiligung oder Bevorzugung führen dürfen. Für den Bildungsbereich ergibt sich daraus der Anspruch der Chancengleichheit sowie der Bildungsgerechtigkeit, der laut den PISA-Ergebnissen für das deutsche Bildungssystem noch nicht ausreichend erfüllt ist. Die Verbesserung dieser Chancengleichheit stellt die Politik jedoch vor große Herausforderungen, da sich dieses Ziel nur durch eine Veränderung der etablierten Strukturen im Bildungssystem realisieren lässt. Die dargestellten Ansprüche der Landesregierung ab dem Jahr 2011 waren ein Schritt in diese Richtung, was durch die Ansprüche an die Gemeinschaftsschulen und den gemeinsamen niveaudifferenzierten Bildungsplan deutlich wurde. Auch wenn die Reformen durch den Regierungswechsel im Jahr 2016 teilweise abgeschwächt wurden, wie zum Beispiel durch die Stärkung der Realschulen, sind die Gemeinschaftsschulen und der Bildungsplan auch im Jahr 2019 noch immer ein fester Bestandteil des baden-württembergischen Bildungssystems. Durch beide Maßnahmen wurde der Unterricht im Sekundarbereich I stärker auf eine innere Differenzierung ausgerichtet. Nach der Darstellung der verschiedenen Aspekte und Argumentationslinien im Heterogenitätsdiskurs soll nun der Blick auf die Umsetzungsmöglichkeiten der geforderten Unterrichtskonzepte in Bezug auf das Fach Wirtschaft gelegt werden. Dafür sollen in den nächsten Kapiteln zentrale Begriffe und Herausforderungen im schulpädagogischen Kontext erläutert werden und Differenzierungsansätze verschiedener Fachbereiche verglichen werden, bevor anhand der eigenen Delphi-Befragung gezielt die Chancen und Hürden in einem differenzierten Wirtschaftsunterricht untersucht werden.
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Zentrale Begriffe und Herausforderungen im schulpädagogischen Heterogenitätsdiskurs
In der schulpädagogischen Diskussion haben sich vor allem die Begriffe „Individualisierung“, „Differenzierung“, „Adaptivität“ und „offener Unterricht“ zu Leitbegriffen im Heterogenitätsdiskurs entwickelt (Bohl 2012, S. 41). Die Zielsetzung und der disziplinäre Hintergrund dieser Begriffe lassen sich dabei relativ gut abgrenzen. Transferiert man diese jedoch auf eine konzeptionelle und unterrichtpraktische Ebene, so verwischen die Grenzen zwischen diesen Begriffen (Bohl 2012, S. 41). Vor allem die Begriffe „Individualisierung“ und „Differenzierung“ sind im Heterogenitätsdiskurs von zentraler Bedeutung und suggerieren Lösungen für die gewaltige Aufgabe der Schulen, möglichst allen SuS individuell gerecht zu werden. Gleichzeitig dienen sie als populäre Schlagwörter, die zudem auch häufig synonym verwendet werden. In Verbindung mit praktisch anwendbaren Methoden, wie zum Beispiel beim selbstständigen Arbeiten anhand eines Wochenplans, verschwinden die Grenzen der beiden Ansätze, wodurch sie nicht als eindeutige Lösungskonzepte dienen können (Groeben et al. 2012, S. 10). Bevor eine Verbindung zur praktischen Unterrichtsebene hergestellt wird, sollen diese Leitbegriffe vorab erklärt und voneinander abgegrenzt werden. Hier durch sollen Chancen und problematische Aspekte aufgezeigt werden, die mit diesen Begriffen in Verbindung stehen. Die folgende Grafik (Abbildung 5.1) schafft einen ersten Orientierungsrahmen und veranschaulicht, dass diese Begriffe keine absoluten Zustände beschreiben. Vielmehr können diese als Dimensionen verstanden werden, die in unterschiedlichen Intensitäten ausgeprägt sein können und auch miteinander in Verbindung stehen. In den folgenden Unterkapiteln werden diese Dimensionen und Verbindungen genauer erläutert.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Hertrich, Differenzierung im Wirtschaftsunterricht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31167-4_5
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56
5 Zentrale Begriffe und Herausforderungen im schulpädagogischen …
Abbildung 5.1 Zentrale Begriffe im Heterogenitätsdiskurs. (Eigene Darstellung)
5.1 Individualisierung Von Individualisierung kann dann Lehr-Lernarrangement darauf abzielt,
gesprochen
werden,
wenn
ein
„Schüler/innen durch Aufgabenstellungen und flexible Unterrichtsmethoden solche Lernwege und Lernziele zu ermöglichen, die ihren individuellen Voraussetzungen im Hinblick auf Leistungsvermögen, Interesse usw. entsprechen, sie durch die `Passung` zu optimaler Ausschöpfung ihrer Lernpotentiale motivieren und sie dabei auf ihrem Lernweg unterstützen.“ (Altrichter 2009, S. 344)
Auch Helmke betont in seiner Definition von Individualisierung diese Aspekte, zeigt aber zugleich auch die Nähe zum Begriff der Differenzierung auf: „Mit Individualisierung oder individualisiertem Lernen […] sind Lehr-Lernszenarien gemeint, die Unterschiedlichkeit der Lernvoraussetzungen dadurch Rechnung tragen, dass es eine Vielfalt von Lernangeboten, Lernwegen, Lernmethoden und Lernorten gibt, dass also differenziert wird. Je nachdem auf welcher Ebene die Differenzierung stattfindet -Gruppe- oder Individuum-, spricht
5.1 Individualisierung
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man entweder von Binnendifferenzierung (oder interner Differenzierung) oder von Individualisierung.“ (Helmke 2013, S. 34)
Eine weitere ähnliche Definition, die mit Berufsethos von Lehrern in Verbindung steht, stammt von Groeben et al. und beschreibt stärker das Ziel einer Individualisierung. „Alle sollen in der Schule , mit Freude lernen und individuell bestmögliche Leistungen erreichen können.“ (Groeben et al. 2012, S. 10)
Um jedoch das Ziel der Individualisierung erreichen zu können, braucht es geeignete Maßnahmen.
5.1.1 Mögliche Maßnahmen einer Individualisierung Eine Individualisierung nimmt den einzelnen SuS in den Blick und zielt darauf ab, diesen auf Grundlage ihrer individuellen Lernvoraussetzungen und Interessen ein optimal angepasstes Lernangebot zu bieten. Individualisierende Maßnahmen können dabei auf zwei unterschiedliche Weisen angewendet werden. 1. Individualisierung im Sinne einer optimalen Förderung Möchte man den einzelnen Schüler optimal fördern so müssen auf der didaktischen Handlungsebene die folgenden fünf Aspekte auf diesen abgestimmt werden. Dabei entspricht nur eine konsequente Umsetzung aller Punkte einer Individualisierung im ursprünglichen Sinne. • • • • •
Erfassen der individuellen Lernvoraussetzungen Definieren von angestrebten Kompetenzen Auswahl eines darauf abgestimmten Lernangebots Individuelles Coaching bzw. Betreuung während des Lernprozesses Individualisierte Überprüfung der Ergebnisse
Diese Aufzählung legt nahe, dass bei dieser Form der Individualisierung die Steuerung des Lernprozesses sehr stark von der Lehrkraft ausgehen muss, weshalb man auch von einer lehrseitigen Form der Individualisierung oder geschlossenen Form sprechen würde. Eine individualisierte Förderung zielt somit entweder direkt auf den Ausgleich von Schwächen oder die gezielte Förderung
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5 Zentrale Begriffe und Herausforderungen im schulpädagogischen …
von Stärken ab, wie es zum Beispiel bei hochbegabten SuS der Fall wäre. Eine kritische Überlegung in diesem Zusammenhang ist die Frage, unter welchen Voraussetzungen und in welchem Umfang ein derartiger Anspruch überhaupt erfüllbar ist. Bis zu welchem Grad ist es in einem Klassenverband mit 30 SuS überhaupt möglich, dem Individualisierungsanspruch gerecht zu werden, oder ist dieses Vorgehen vielmehr für die Beschulung von kleineren Gruppen mit Förderbedarf oder Hochbegabung geeignet (Bohl 2012, 44 f.)? 2. Individualisierung als Einbeziehen von individuellen Interessen Eine andere Form der Individualisierung ist dann gegeben, wenn offen gestaltete Lernsettings dem Lerner individuelle Entscheidungsspielräume einräumen. In diesem Zusammenhang wird auch von einer „schülergesteuerten Individualisierung“ gesprochen, wobei ein Teil der Verantwortung für den gelingenden Lernprozess an die einzelnen SuS abgegeben wird. Eine weitere Bezeichnung für ein solches Vorgehen ist der Begriff der „lernseitigen Individualisierung“, die auch immer mit einer offenen Unterrichtsform einhergeht. Ein solches Unterrichtssetting könnte zum Beispiel anhand von Methoden, wie Freiarbeit, Projektarbeit oder auch durch Wochenpläne umgesetzt werden. Es bieten sich aber auch verschiedene Aufgabenformate an, wie sie in Abschnitt 5.4.2 vorgestellt werden.
5.1.2 Hürden und problematische Aspekte im individualisierten Unterricht Hürden bei der Umsetzung von individualisiertem Unterricht ergeben sich sowohl auf der Unterrichtsebene als auch im Bereich der Schulstruktur. Bevor jedoch auf die Schulstruktur genauer eingegangen wird, soll vorab die Unterrichtsebene betrachtet werden. 1. Hürden auf der Unterrichtsebene Konkrete Unterrichtserfahrungen zur Individualisierung liegen bereits seit den 1970er Jahren vor. Damals wurde vor dem didaktischen Hintergrund der Lerntypentheorie (Vester 1975) versucht, möglichst jedem Lerner einen individuellen Lernzugang anbieten zu können. Dies führte zu der Erkenntnis, dass ein zu stark fragmentierter Unterricht für die Lehrkräfte eine hohe Arbeitsbelastung darstellt und unterschiedliche Zugangsarten nicht automatisch zu einem Lernen auf unterschiedlichen Niveaustufen führt.
5.1 Individualisierung
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„One flaw in the 70’s approach was that we tried doing something different for each of the 30-plus students in a single classroom. When each student had a different reading assignment, for example, it didn't take long for teachers to become exhausted. A second flaw was that in order to ´match´ each student's precise entry level, we chopped up instructions into skill fragments, thereby making learning fragmented and largely irrelevant. While it is true that differentiated instruction offers several avenues to learning, it does not assume a separate level for each learner.“ (Tomlinson 2005, S. 2)
Um sich im aktuellen Diskurs bewusst von der Debatte der 1970er Jahre abzugrenzen, verwenden einige Autoren auch den Begriff der „Personalisierung“. Dieser kann jedoch als Synonym zum Individualisierungsbegriff gesehen werden, mit dem Unterschied, dass die individuellen Lernaspekte zusätzlich um kognitive Variablen, wie zum Beispiel Lernstile, Denkstile oder auch psychische Bedürfnisse erweitert wurden (Prashnig 2008, S. 10). Unabhängig von den gewählten Begrifflichkeiten bleibt in Bezug auf das Zitat von Tomlinson eine entscheidende Frage jedoch bestehen. Wie weit kann man Lehr-Lernarrangements individualisieren, damit es bei der Umsetzung für die Lehrkräfte im Rahmen des Leistbaren bleibt? Auch deutsche Autoren habe sich mit dieser Frage auseinandergesetzt und bewerten eine zu starke Fragmentierung des Unterrichts als kritisch. „Zwar ist es richtig, dass alle Schüler/innen auf spezifische Weise verschieden sind und mehr oder weniger unterschiedliche Leistungspotentiale haben. Daraus jedoch den Schluss abzuleiten, dass jedem Schüler sein eigenes Lernpaket geschnürt werden muss, ist ebenso utopisch wie pädagogisch fatal. Utopisch deshalb, weil die schon jetzt hohe Vorbereitungsbelastung der Lehrkräfte nachgerade ins Unermessliche gesteigert werden müsste, wenn man diesen Ansatz hierzulande ernsthaft zu Ende denkt. Konsequente Individualisierung setzt nämlich Unmengen an unterschiedlichen Materialien voraus, die bislang aber weder da sind noch mit vertretbarem Zeit- und Arbeitsaufwand hergestellt werden können. (…) pädagogisch fatal ist die skizzierte Individualisierung insofern, als damit auch der Anspruch auf Integration, Kooperation und gemeinsames Lernen über Gebühr aufgegeben wird. Bildung zielt nicht nur auf individuelle kognitive Potenzförderung, sondern auch und zugleich auf das Erlernen von Sozialkompetenz, Solidarität, Empathie, Mitmenschlichkeit Demokratiekompetenz.“ (Klippert 2008, S. 103)
Auch im Fachbereich Mathematik wird die Auffassung vertreten, dass eine individuelle Förderung nicht nur im Sinne einer individuellen Einzelbetreuung oder durch eine methodische Individualisierung erfolgen kann, sondern dass ein derartiger Lernprozess auch kooperative Lernformen beinhalten kann (Leuders und Prediger 2016, S. 34).
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2. Hürden auf der institutionellen Ebene Nach der Einschätzung von Groeben et al. ist eine Umsetzung von Individualisierungskonzepten alles andere als einfach, da sie zugleich auch mit weitreichenden Veränderungen auf der institutionellen Ebene verbunden ist. „Individualisierung ist ein Oberbegriff für Entwicklungen und Maßnahmen, die auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sind. Das erklärt zugleich, warum es so schwer ist, ein tragfähiges Individualisierungskonzept zu entwickeln: Es verlangt nicht mehr und nicht weniger als eine Umgestaltung der gesamten Schule.“ (Groeben et al. 2012, S. 17)
Welche Ebenen durch die Umsetzung einer Individualisierung betroffen sind, zeigt das folgende Modell. Entscheidend ist hierbei, dass diese Ebenen miteinander in Verbindung stehen und zu einem Gesamtkonzept verzahnt werden müssen. Zu einigen dieser Ebenen liegen den unterschiedlichen Fachdidaktikern bisher noch wenig Erkenntnisse vor, wie zum Beispiel auf der Ebene der Diagnostik. Hingegen handelt es sich bei der Ebene der Aufgabenkonstruktion um einen relativ gut erforschten Bereich (vgl. Abschnitt 5.4.2.).
Abbildung 5.2 Stufen der Individualisierung. (Nach von Groeben und Kaiser 2012, S. 18)
5.2 Differenzierung
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5.1.3 Wirksamkeit von individualisiertem Unterricht Hinsichtlich der Wirksamkeit von individualisiertem Unterricht konnte durch Studien belegt werden, dass Lehrkräfte durch einen individualisierten Unterricht gute, aber auch schlechte Lernergebnisse erzielen können, was ebenfalls mit einem frontalen Unterricht möglich wäre. Entscheidend ist vielmehr, wie das jeweilige Unterrichtskonzept umgesetzt wird (Helmke 2017, S. 259). Helmke fordert daher, dass für eine überschaubare Anzahl an unterschiedlichen Lernszenarien gelingende Methodenvarianten definiert werden sollten. Ebenso konnte gezeigt werden, dass es SuS häufig schwer fällt, diese individualisierten Lernangebote entsprechend zu nutzen. Vor allem für SuS mit Konzentrationsschwäche ist es eine Herausforderung, freie Arbeitsprozesse – im Sinne von offenen Aufgaben – für sich zu strukturieren und zu bearbeiten. Hingegen könnte die Lernzeit effektiver genutzt werden, wenn man diesen SuS strukturiertere Angebote zur Verfügung stellen würde (Lipowsky 1999, 47 f). Ähnlich verhält es sich es sich bei SuS mit niedrigem Intelligenzniveau, aus bildungsfernen Schichten oder mit Ängsten vor Misserfolg. Auch für sie würde ein strukturierter Unterricht mit festen Vorgaben eine Unterstützung darstellen (Altrichter 2009, S. 349).
5.2 Differenzierung Die reform-programmatische Literatur der 1970er Jahre legte den Fokus auf eine neue Lernkultur und verwendete den Begriff der Binnendifferenzierung, um zwischen einer externen Differenzierung und einer Differenzierung auf der Unterrichtsebene zu unterscheiden. Aktuell dient das Konzept als Lösungsansatz zum Umgang mit heterogenen SuS und dem übergeordneten bildungspolitischen Ziel nach mehr Bildungsgerechtigkeit. Ein grundlegender Unterschied zur Individualisierung ist, dass bei einer inneren Differenzierung der Unterricht nicht für den einzelnen SuS, in Abhängigkeit seiner individuellen Voraussetzungen und Interessen konzipiert wird, sondern für kleine Gruppen mit mehreren Lernern. Das Konzept der inneren Differenzierung ist insofern deutlich pragmatischer, weil davon ausgegangen wird, dass sich die individuellen Interessen, Lernzugänge und auch Förderbedarfe der SuS innerhalb einer Klasse überschneiden und die SuS folglich zu kleinen Lerngruppen gebündelt werden können. Das Bilden von geeigneten Lerngruppen kann somit die Lehrkräfte entlasten und zugleich für eine ausreichende Förderung sorgen (Füchter 2015, S. 50). Eine Differenzierung
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ist im Gegensatz zu einer Individualisierung somit weniger zeitaufwendig und dennoch durch den Grad der Adaptivität mit dem Individualisierungskonzept verbunden. Ebenfalls können Schwierigkeiten im Bereich der individuellen Lernstandserhebung aufgrund einer geringeren notwendigen Passung umgangen werden. Sehr fein differenzierter Unterricht würde somit quasi einer Individualisierung entsprechen, wobei eine solche Individualisierung die stärkste Form von Differenzierung darstellt (Bohl 2012, S. 47). Differenzierung bedeutet aber auch eine Abkehr vom Prinzip, dass die Lehrkraft einen Unterricht für alle SuS konzipiert. Für eine gelingende Differenzierung muss die Lehrkraft vielmehr die Fähigkeiten und Bedürfnisse der Klasse richtig einschätzen und aufgrund ihrer Erfahrung Lernmöglichkeiten schaffen, die für mehrere Schülergruppen passend sind. Dass diese Art der Planung von der Lehrkraft proaktiv angestrebt werden muss, und sich deutlich von bisher üblichen Konzepten „ein Unterricht für alle“ unterscheidet, liegt auf der Hand (Tomlinson 2005, S. 3). Den Lehrkräften steht dabei eine Vielzahl von Aspekten zur Auswahl, die bei der Konzeption von differenziertem Unterricht angepasst und genutzt werden können. Zu diesen Aspekten zählen zum Beispiel das Tempo, der Grad der Selbstständigkeit, die Schwierigkeit, die Menge an Hilfestellungen, das Maß an Kooperation und Kommunikation im Lernprozess (Klafki 2007, S. 187). Bei der Gestaltung von differenzierenden Unterrichtssettings sollte jedoch bedacht werden, dass das Niveau beziehungsweise der Grad der kognitiven Aktivierung mit darüber entscheidet, wie effektiv Lernerfolg durch die Differenzierung letztendlich ist. Diesen Anspruch formuliert Hattie wie folgt: „Es kommt darauf an zu verstehen, dass Differenzierung sich mehr auf die Stufen des Lernens bezieht – vom Novizen über den Geübten bis hin zum Experten – statt lediglich unterschiedliche Aktivitäten für unterschiedliche (Gruppen von) Schülerinnen und Schülern anzubieten.“ (Hattie 2015, S. 110)
Für den Lernerfolg ist somit vor allem eine gelingende Passung (Adaptivität) zwischen dem Lernangebot einerseits und den SuS andererseits von zentraler Bedeutung.
5.3 Adaptivität
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5.3 Adaptivität Ebenfalls aus den 1970er Jahren stammt der Begriff der „Adaptivität“. Im Gegensatz zu den zuvor genannten Konzepten „Individualisierung“ und „Differenzierung“ stammt dieser Begriff nicht aus dem Bereich der allgemeinen Didaktik, sondern der Lehr-Lernforschung (Bohl 2012, S. 48). Adaptivität bezeichnet den Grad der Passung zwischen einem Lernangebot und den individuellen Voraussetzungen der Lerner. Die Notwendigkeit eine Adaptivität herzustellen, bezieht sich daher sowohl auf den Begriff der „Individualisierung“ als auch auf die „Differenzierung“. Entscheidend dabei ist, dass die Lernangebote an die jeweiligen Lernstände und Bedürfnisse der SuS angepasst werden. „In der Praxis werden mit Adaptivität alle Strategien angesprochen, die dazu dienen, Lernenden Profile und Anspruchsprofil optimal zu treffen.“ (Leuders und Prediger 2016, S. 10)
Die Lehr-Lernforschung folgt mit dem Begriff der Adaptivität somit einer leicht anderen Logik. (Wischer und Trautmann 2012, S. 28). Wischer und Trautmann bewerten den Begriff der „Adaptivität“ im Vergleich zum Begriff der „inneren Differenzierung“ als den präziseren. Dieser stellt jedoch stärkere Anforderungen an die Unterrichtsgestaltung, da das Erzeugen einer gelingenden Passung die zentrale Zielvorgabe darstellt, was eine klare Strukturierung der Lerninhalte und einer Kontrolle der Lernergebnisse voraussetzt. Hingegen ist der Fokus einer „inneren Differenzierung“ verstärkt in der Offenheit von Lernsituationen und einem selbstgesteuerten Lernen zu sehen, wobei die Lehrkraft mehr eine beratende Funktion einnimmt und weniger aktiv steuert (Wischer und Trautmann 2012, S. 30). Auch Bohl sieht im Begriff der „Adaptivität“ ein Konzept, das darauf ausgelegt ist, die fachlichen Leistungen der SuS zu verbessern, und die Visionen eines gerechteren Lernens nicht zwangsläufig erfüllen muss (Bohl 2012, S. 49). Je nachdem wie fein die Passung des Angebots auf die Bedürfnisse der Lerner abgestimmt wird, ergeben sich unterschiedliche Grade an Adaptivität (Arnold und Richert 2008, S. 29). Sehr ähnlich zur Darstellung in Abbildung 5.1, veranschaulicht die folgende Tabelle die verschiedenen möglichen Ausprägungen von Adaptivität (Tabelle 5.1).
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5 Zentrale Begriffe und Herausforderungen im schulpädagogischen …
Tabelle 5.1 Ausprägungen von Adaptivität Voll adaptiv
Individualisierend
Tandemadaptiv Kleingruppenadaptiv Schwach adaptiv
Keine Differenzierung, sondern einheitliches Angebot für die ganze Lerngruppe
Problematische Aspekte von Adaptivität Beiträge aus der Mathematikdidaktik im Jahr 1992 zeigen, dass die Entwicklung von geeigneten Diagnoseinstrumenten damals in den Anfängen steckte und die Wahrscheinlichkeit von Fehleinschätzungen sowie der praktische Aufwand entsprechende Grenzen setzten (Krippner 1992, S. 50). Zweifelsohne haben sich die Diagnoseinstrumente in allen Fachbereichen seit Krippners Beitrag weiterentwickelt. Die Problematik möglicher Fehleinschätzungen ist jedoch noch immer eine entsprechende Herausforderung. „Wie adaptiv [ein Differenzierungsansatz] ist, hängt jedoch an der Qualität der diagnostischen Urteile, einer in der Umsetzung oft entscheidenden Grenze: Wie treffsicher können Lehrende oder Lernende einschätzen, welchen Lernbedarf sie haben?“ (Leuders und Prediger 2016, S. 14)
Dabei sollte die Relevanz einer gelingenden individuellen Passung nicht unterschätzt werden. Wenn es im Unterricht nicht gelingt, SuS anzusprechen und mitzunehmen, kann dies im schlimmsten Fall zu einer Spirale des Misslingens führen. Dies entspricht einem zentralen strukturellen Problem im differenzierten Unterricht, dass dieser auf Grundlage von Vorgaben geplant wird, die möglicherweise nicht zu den realen Lernständen der Schüler passen und somit keine gelingende Adaptivität hergestellt werden kann (Groeben 2013, S. 13; Groeben et al. 2012). Auch Helmke formuliert diese pädagogische Herausforderung wie folgt: „Passung ist aus meiner Sicht das Schlüsselmerkmal. Es stellt die Grundlage für Konzepte der Differenzierung und Individualisierung dar. Man kann Passung auch als Metaprinzip bezeichnen, denn es handelt sich um ein Gütekriterium, das in weiterem Sinne für alle Lehr-Lern-Prozesse gültig ist. Aus bildungspolitischer Sicht stellt das Gebot der Passung – nicht anderes meint der Umgang mit Heterogenitätdie zentrale Herausforderung dieses Jahrzehnts dar.“ (Helmke 2006, S. 45)
5.3 Adaptivität
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Zudem betont Helmke in diesem Zusammenhang die Wichtigkeit einer empirisch fundierten Evaluation, um mit deren Hilfe funktionierende Maßnahmen ableiten zu können. Auch sollte in den einzelnen Fachgebieten die Frage geklärt werden, welche Methoden dazu geeignet sind, die Heterogenität der SuS zu nutzen und das vorhandene Potenzial auszuschöpfen (Helmke 2006, S. 45). Helmkes Forderung soll daher auch im Rahmen dieser Untersuchung berücksichtigt werden und durch entsprechende Fragestellungen in der Delphi-Studie abgebildet werden. Erkenntnisse aus der ATI-Forschung1 , welche das Ziel hat, gelingenden Kombinationen aus Voraussetzung („Aptitude“) und Unterrichtsmethode („Treatment“) zu identifizieren, zeigen, dass es nicht die eine geeignete Lehrmethode gibt, sondern vielmehr ein konkretes Lehrerhandeln im Vordergrund stehen muss, wodurch situationsspezifisch passende Methoden ausgewählt werden können (Schwarzer und Steinhagen 1975; Bohl 2012). Der Begriff der Adaptivität stellt hinsichtlich der Frage, wie eine Passung zwischen Lernsituation und Lerner erzeugt werden kann, einen Gegenpol zur externen Differenzierung dar. „Adaptiver Unterricht (Adaptive Treatment) bedeutet die Schaffung einer möglichst optimalen Lernwelt für jeden Schüler, während bei der herkömmlichen (externen) Differenzierung die Schüler danach ausgesucht werden, wie sie am besten zu einem vorgegebenen Unterricht (Fixed Treatment) passen.“ (Schwarzer und Steinhagen 1975, S. 15)
Eine solche optimale Lernwelt ist für SuS – wenn überhaupt – nur sehr schwer in einem gleichschrittigen Lehr-Lernprozess erzeugbar, sondern lässt sich vor allem in Lernphasen realisieren, die sich durch einen hohen Grad an Selbststeuerung auszeichnen (Kühberger und Windischbauer 2013, S. 7). Abhängig davon, wer für die gelingende Passung zwischen Material und Schüler zuständig bzw. verantwortlich ist, wird von einer lehrseitigen (geschlossenen) oder schülergesteuerten (offenen) Differenzierung gesprochen. Welche dieser beiden Differenzierungsformen für den Wirtschaftsunterricht geeigneter ist, wird später im Rahmen der eigenen Erhebung genauer untersucht werden. Eine Adaptivität kann dabei anhand vielzähliger, didaktisch-methodischer Stellschrauben erzeugt werden und wird durch eine gewisse Offenheit der Lernsituation begünstigt.
1„aptitude-treatment-interaction“.
66
5 Zentrale Begriffe und Herausforderungen im schulpädagogischen …
5.4 Offener Unterricht Der Begriff „offener Unterricht“ wurde aus dem angloamerikanischen Bereich nach Deutschland überliefert. Reformpädagogische Unterrichtsmodelle aus den 1970er Jahren legitimierten dabei die Idee des offenen Unterrichts, die vor allem im Grundschulbereich zum Einsatz kamen und bis in die 1990er Jahre verstärkt in diesem Kontext diskutiert wurden (Bohl 2012, S. 49). Allgemein wird mit offenem Unterricht die Zielsetzung verbunden, mehr Eigenverantwortung und Selbstbestimmtheit in den Lernprozess zu integrieren, um dadurch die SuS zu mehr Selbstständigkeit im Sinne einer Handlungskompetenz zu führen. Häufig wird in diesem Zusammenhang auch der Begriff „Selbstregulation“ verwendet. Auch dieser Begriff setzt ein Mindestmaß an Entscheidungsspielraum für die SuS voraus. Diese Entscheidungsspielräume können zum Beispiel durch Freiräume bei der Auswahl von Aufgaben oder auch Inhalten zur Verfügung gestellt werden. Für Lehrkräfte, die bisher einen eher geschlossenen Unterrichtsstil pflegten, stellt diese Offenheit sicherlich eine Herausforderung dar und beeinflusst auch die bisher übliche Rollenverteilung im Unterricht. Ebenso verschiebt offener Unterricht den Betreuungsfokus der Lehrkraft weg von einer bisher üblichen Ergebnisorientierung, hin zu einer unterstützenden Funktion, damit die SuS mit ihren individuellen Lernvoraussetzungen anhand unterschiedlicher Lernwege ihren eigenen Lernweg möglichst eigenverantwortlich beschreiten können (Hofmann und Moser 2006, S. 32). Der Begriff „offener Unterricht“ oder synonym auch „offenes Lernen“ mag auf den ersten Blick eindeutig erscheinen. Auf der Ebene der praktischen Umsetzung ist dieser jedoch relativ schwer zu greifen. Dies liegt hauptsächlich daran, dass der Grad der Offenheit einer Lernsituation sehr unterschiedlich konzipiert werden kann. Diese inhaltliche Öffnung stellt aber zugleich ein wesentliches Merkmal dar (Bohl und Kucharz 2010, S. 20). „Offener Unterricht“ ist somit das Gegenteil von einem „gebundenen Unterricht“ oder auch „gelenkten Unterricht“ (Kühberger und Windischbauer 2013, S. 8). Es sollte jedoch angemerkt werden, dass auch offener Unterricht zumindest in seinen groben Grundstrukturen von der Lehrkraft irgendwie gelenkt werden muss. Eine Ausnahme würde lediglich eine komplett freie Konzeption darstellen, in der alle SuS völlig frei und gänzlich nach ihren individuellen Präferenzen lernen. Wird in einem offenen Unterricht eine voll adaptive Differenzierung der Lernumgebung angestrebt, so wäre eine Unterrichtskonzeption gegeben, die Wallrabenstein wie folgt beschreibt:
5.4 Offener Unterricht
67
„Kinder wählen aus einem Angebot von Lernmöglichkeiten in einer Lernlandschaft freier Aktivitäten für sich aus, folgen ihren Lernbedürfnissen und beginnen im Rahmen ihrer Lernbiographie eigene Lernwege.“ (Wallrabenstein und Seifert 1997, S. 95)
Eine derartige Unterrichtskonzeption stellt sicherlich eine Extremform dar, die mit Blick auf die Wirksamkeit von offenen Unterrichtsformen auch kritisch betrachtet werden könnte. Zu den üblicheren methodischen Umsetzungen von offenem Unterricht zählen vielmehr Lernsituationen, welche den SuS einen geordneten und zuvor klar definierten Freiraum bieten. Mögliche Methoden, die dieses Vorgehen unterstützen, wären zum Beispiel das Arbeiten an Projekten, das Stationenlernen, ein Lernzirkel oder das eigenverantwortliche Arbeiten anhand von Arbeitsplänen (Kühberger und Windischbauer 2013, S. 8). Umsetzung und Wirksamkeit von offenem Unterricht Grundsätzlich zeigt sich, dass die Forschungsergebnisse zur Wirksamkeit von offenen, differenzierten Unterrichtsformen aufgrund unterschiedlicher methodologischer Zugänge, Stichproben (z. B. unterschiedliche Klassengrößen) und Operationalisierung relativ uneinheitlich und lückenhaft sind. Bohl liefert einen guten Überblick zu entsprechenden Studien (Bohl 2012, S. 56). Hieraus lassen sich bezüglich der Wirksamkeit dieser Unterrichtsformen drei Aspekte ableiten, die für den Heterogenitätsdiskurs von Bedeutung sind: 1. Höhere fachliche Leistungen lassen sich in einem lehrerzentrierten Unterricht im Sinne einer direkten Instruktion erreichen und weniger über offene Unterrichtssettings. Es gibt jedoch auch einzelne Studien, die keinen Unterschied zwischen den beiden Formen feststellen konnten. Eindeutig ist jedoch, dass offener Unterricht nicht das überlegene Mittel der Wahl darstellt. 2. Eine bessere kognitive bzw. überfachliche Leistung lässt sich laut manchen Studien durch offene Unterrichtssettings erzielen. Jedoch gibt es auch gegensätzliche Ergebnisse, weshalb hier die Forschungslage nicht eindeutig ist. 3. Hingegen lässt sich belegen, dass SuS, die leistungsschwach, sehr gewissenhaft oder konzentrationsschwach sind, mit der eigenständigen Strukturierung von Lernprozessen2 überfordert sind und dafür auch viel Zeit benötigen. Diese SuS brauchen folglich zielgerichtete Hilfestellungen, wenn inhaltlich eine hohe Verstehensintensität erreicht werden soll. Starke SuS sind hingegen von
2Im
Sinne einer Auswahl von geeigneten Aufgaben.
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5 Zentrale Begriffe und Herausforderungen im schulpädagogischen …
Wahlmöglichkeiten weniger negativ beeinflusst bzw. es zeigt sich kein einheitliches Bild (Niggli und Kersten 1999; Lipowsky 1999; Wischer und Trautmann 2012). Diese drei Punkte stellen eine wichtige Argumentationsgrundlage dar, wenn man im Blick behält, dass im Heterogenitätsdiskurs das Erzielen besserer fachlicher Leistungen und das Erzeugen von mehr Bildungsgerechtigkeit zentrale Zielsetzungen darstellen. Sie zeigen auf, dass offener Unterricht nicht selbstverständlich zu besseren Gesamtleistungen führen muss und folglich abgewogen werden sollte, wer unter welchen Voraussetzungen von einem offenen differenzierten Unterricht profitieren kann. Wie bereits in Punkt drei angedeutet, könnte ein zu offener Unterricht auch kontraproduktiv sein und dazu führen, dass die Unterschiede in den Schülerleistungen zum Nachteil von schwachen SuS noch weiter auseinanderklaffen (Niggli und Kersten 1999). Hinsichtlich der praktizierten Umsetzung von offenem Unterricht konnte empirisch belegt werden, dass sich diese Unterrichtsform vor allem im Schulalltag des Primarbereichs gut etabliert hat. Für die weiterführenden Schulen zeigt sich hingegen ein anderes Bild. So wurde anhand von Schülerbeschreibungen dargestellt, dass der Unterricht im Laufe der Schuljahre tendenziell immer weniger an die individuellen Voraussetzungen der SuS angepasst wird (Altrichter 2009, S. 348). Woran das liegt, bleibt unklar. Man könnte jedoch vermuten, dass dies auch mit der Orientierung an Abschlussprüfungen und einem dadurch entstehenden Zeitdruck zu tun haben könnte.
5.4.1 Konsequenzen und Bedingungen für offenen Unterricht Für den Umgang mit Heterogenität im Unterricht stellt sich somit die Frage, bis zu welchem Grad und in welcher Form eine Öffnung des Unterrichts sinnvoll sein kann. Leider ist auch hierzu die Forschungslage nicht eindeutig. Stefanou et al. vergleichen hierzu folgende drei Dimensionen, wie offener Unterricht angebahnt werden kann. • Organisatorische Aspekte (z. B. Bestimmen der Sitzordnung oder Klassenregeln) • Prozedurale Aspekte (z. B. Wahl der Präsentationsform, Arbeitsformen) • Kognitive Aspekte (z. B. unterschiedliche Lösungsansätze, Strategien, Ziele)
5.4 Offener Unterricht
69
Zudem betonen die Autoren ebenfalls die Bedeutung einer kognitiven Aktivierung, die sich bei SuS nicht nur auf das fachliche Erfassen der Inhalte auswirkt, sondern auch vor dem Hintergrund motivationaler Aspekte von Bedeutung ist (Stefanou et al. 2004, 106 ff.). Der Aspekt der „kognitiven Öffnung“ von Unterricht bedeutet jedoch nicht, dass SuS zwangsläufig Inhalte oder zu erreichende Lernziele selbstständig auswählen können. Es geht vielmehr um eine Öffnung auf der Mikroebene, der Aufgabenebene. In Verbindung mit den zuvor beschriebenen Nachteilen von offenen Unterrichtssetting zeigt sich, dass eine Öffnung auf den organisatorischen und prozeduralen Ebenen keine Garantie für das Erzeugen von einem tieferen Verständnis bietet. Im Gegensatz dazu bedeutet eine Öffnung auf der Mikroebene, dass Aufgabenformate kognitiv aktivierend und differenzierend gestaltet werden. Hierbei kann eine Differenzierung auch dahingehend umgesetzt werden, dass die Auswahlmöglichkeiten bzw. der Grad an Komplexität für schwächere SuS reduziert wird, um diese nicht zu überfordern. Nur so kann laut Bohl eine selbstständige oder kooperative kognitive Aktivierung anhand von Aufgaben erfolgreich gelingen (Bohl 2012, S. 58). Der Konzeption von unterschiedlichen Aufgabenformaten kommt somit im offenen Unterricht eine bedeutsame Rolle zu. Um das Potenzial von verschiedenen Aufgabentypen für offen gestalteten Unterricht besser nachvollziehen zu können, sollen diese im folgenden Kapitel näher erläutert werden.
5.4.2 Aufgaben als ein wesentliches Gestaltungselement von offenem Unterricht Wenn im Unterricht eine Differenzierung über die Ebene der Aufgaben umgesetzt werden soll, so besteht eine wesentliche Herausforderung darin, die Aufgaben so zu stellen, dass: 1. sich ihre Sinnhaftigkeit aus dem aktuellen Lernprozess ableitet und ein klarer Zusammenhang hergestellt wird. 2. Unterschiedliche Lernwege und damit verbundene Wahlmöglichkeiten Motivation erzeugen. 3. Alle SuS Aufgaben auf ihrem Niveau bewältigen können und zu einer individuellen guten Leistung gelangen können (Groeben et al. 2012, 45 ff.). Offene Aufgaben verfügen vor allem dann über ein großes Potenzial, wenn SuS dadurch motiviert werden, eigene Lösungsansätze zu generieren und dadurch
70
5 Zentrale Begriffe und Herausforderungen im schulpädagogischen …
ihre prozessbezogenen Fähigkeiten weiterentwickeln (Greefrath 2004, 16 f.). Um das Potenzial einer Aufgabendifferenzierung zu nutzen ist wiederum der Grad der kognitiven Aktivierung entscheidend, der durch eine Reihe verschiedener Kriterien bestimmt werden kann. Hierzu zählen zum Beispiel das fachliche Anspruchsniveau, der Lebensweltbezug, Transfermöglichkeiten und der Grad der Offenheit einer Aufgabe, welcher durch unterschiedliche Lösungswege oder Lösungsergebnisse festgelegt wird (Bohl 2012, S. 59). Soll ein eigenständiges differenziertes Lernen anhand von Aufgaben ermöglicht werden, dann kommt dem Konzept der Selbstkontrolle eine entscheidende Bedeutung zu. Denn nur wenn SuS ihren Lernprozess auch selbst kontrollieren können, wird die Lehrperson teilweise entlastet. Diese könnte sich dadurch zurücknehmen und beispielsweise schwächere SuS gezielt unterstützen. Zum Wesen einer Selbstkontrolle gehört, dass die SuS am Ende eines Lernprozesses ihre Ergebnisse mit einer Musterlösung abgleichen und bewerten können. Dies beinhaltet jedoch auch, dass diese in der Lage sein müssen, die Aufgabe grundsätzlich zu lösen. Wesentliche Gestaltungselemente von Aufgaben Maier et al. habe ein allgemeindidaktisches Kategoriensystem entwickelt, das zur Beurteilung des kognitiven Potenzials von Aufgaben herangezogen werden kann. Dieses Kategoriensystem umfasst insgesamt sieben verschiedene Dimensionen, von denen drei an dieser Stelle vorgestellt werden (Maier et al. 2010, S. 90). 1. Sprachlogische Komplexität Wie sich die sprachliche Gestaltung einer Aufgabe auf das kognitive Anforderungsniveau auswirkt, wurde bereits im Rahmen der COAKTIV-Studie (Kunter et al. 2011) untersucht. Dabei stellte sich heraus, dass das Anforderungsniveau vor allem damit zusammenhängt, wie komplex die Texte an sich und wie deckungsgleich die Textstruktur und die notwendigen Bearbeitungsschritte sind. Eine einfache sprachliche Komplexität ist dann gegeben, wenn nahezu kein Aufgabentext vorhanden ist, sehr einfache Satzkonstruktionen verwendet werden und die Reihenfolge des Inhalts der Bearbeitungsreihenfolge entspricht. Eine mittlere sprachliche Komplexität ist dann gegeben, wenn sich die Satzreihenfolge von der Bearbeitungsreihenfolge unterscheiden kann, Sätze komplexer gestalten werden und die Aufgabe auch irrelevante Informationen beinhalten kann. Eine hohe sprachliche Komplexität entsteht dadurch, dass komplexe Satzgefüge zum Beispiel mit doppelter Verneinung verwendet werden und die inneren logischen
5.4 Offener Unterricht
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Bezüge durch den sprachlichen Aufbau verdeckt werden können. Zudem lässt eine Satzreihenfolge keine Rückschlüsse auf die Bearbeitungsreihenfolge zu (Maier et al. 2010, S. 89). 2. Grad der Offenheit Der Grad der Offenheit einer Aufgabe wird dadurch definiert, inwiefern der Anfangszustand, die Arbeitsphase und der Zielzustand eindeutig bestimmt sind. Die Mathematikdidaktik unterscheidet ausgehend von diesen Kombinationsmöglichkeiten bis zu acht verschiedene Grade an Offenheit, wovon hier drei beschrieben werden sollen. Definierte konvergente Aufgaben verfügen über eine eindeutige Ausgangssituation. Der Lösungsprozess lässt dabei keine Spielräume zu und die Lösung der Aufgabe kann eindeutig als richtig oder falsch bewertet werden. Ein Beispiel hierfür wäre, dass SuS auf Grundlage einer Inventarliste eine Bilanz erstellen sollen. Ein offeneres Aufgabenformat ist dann gegeben, wenn die Ausgangssituation klar definiert ist, jedoch ein variabler Lösungsprozess zu unterschiedlichen Lösungen führen kann. In diesem Fall würde man von einer definierten divergenten Aufgabe sprechen. Noch offener und anspruchsvoller werden Aufgaben dann, wenn die Ausgangssituation nicht klar definiert ist und sich auch der Lösungsprozess variabel gestaltet. Die unklare Ausgangssituation könnte zum Beispiel durch eine Auswahl der Materialien, beziehungsweise der Zugänge zu einer Problemstellung erfolgen, die das erwartete Zielprodukt in groben Zügen definiert. Eine Projektaufgabe wäre ein passendes Beispiel für diesen Aufgabetyp, der in der Literatur auch als ungenau definiert und divergent bezeichnet wird (Maier et al. 2010, S. 88). 3. Repräsentationsform des Wissens Die Fähigkeit, Wissen von einer Repräsentationsform in eine andere zu übertragen, ist eine wichtige Grundvoraussetzung, wenn komplexe Problemstellungen gelöst werden sollen und eine kognitive Entwicklung stattfinden soll. Die Forschungsergebnisse hierzu stammen vor allem aus dem Bereich der kognitiven Psychologie. Um einstufen zu können, inwieweit die Repräsentationsform des Wissens die Komplexität einer Aufgabe verändern kann, sollte darauf geachtet werden, auf welche Art und Weise Informationen in der Aufgabenstellung bereitgestellt werden und in welchem Format die Lösung erfolgen soll. Diese kann ebenfalls auf drei unterschiedlichen Weisen dargestellt werden. Von einer Repräsentationsform wird dann gesprochen, wenn die Lösung in der gleichen Form dargestellt werden soll wie die Information in der Aufgabe. Müssen SuS
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5 Zentrale Begriffe und Herausforderungen im schulpädagogischen …
hingegen unterschiedliche Arten an Informationen kombinieren, um einen Lösungsweg entwickeln zu können, so spricht man von einer integrativen Form. Dies ist der Fall, wenn SuS in der Aufgabe zum Beispiel einen Textteil, ein Diagramm und noch eine Karikatur vorfinden würden, die sie zur Lösung der Aufgaben verwenden müssen. Von einer Transformation wird dann gesprochen, wenn SuS Daten aus einem Text extrahieren und in eine Grafik übertragen müssen. Als Beispiel könnte hier die Auswertung einer Paper-Pencil-Umfrage genannt werden (Maier et al. 2010, 89 f.). Neben dem Grad der kognitiven Aktivierung lässt sich eine Differenzierung über die Aufgabenebenen vor allem dann gut umsetzten, wenn diese bereits Differenzierungsoptionen enthalten. Wie dies konkret ausgestaltet sein kann, soll nun durch eine Vorstellung verschiedener selbstdifferenzierender Aufgabenformate aufgezeigt werden. Selbstdifferenzierende Aufgabenformate Der Begriff „differenzierende Aufgaben“ oder im englischsprachigen Raum auch „differentiated instruction“ beinhaltet deutlich mehr als nur unterschiedliche Arbeitsaufträge. Vielmehr sind damit Aufgaben gemeint, die bereits immanent über Differenzierungsmöglichkeiten verfügen. Die Einsatzmöglichkeiten von selbstdifferenzierenden Aufgaben sind generell vielseitig, da diese unterschiedliche Funktionen erfüllen können. Vor allem der Grad an Offenheit kann dabei stark variieren. Ein Beitrag aus dem englischen Raum von Rawding et al. (2004) zeigt anhand eines Unterrichtsbeispiels aus der Geographie wie mit einem überschaubaren Klassifizierungsschema unterschiedliche Differenzierungen erreicht werden können (Abbildung 5.3). Da dieses Modell inzwischen auch Eingang in deutsche Lehrpläne3 gefunden hat, wo es als Hilfestellung für differenzierte Unterrichtsformate dient, spricht für seine praktische Anwendbarkeit. Das Modell unterscheidet bei seiner Ausführung fünf verschiedene Aufgabentypen (Rawding et al. 2004, S. 19). Wie bereits bei der Offenheit von Aufgaben beschrieben wurde, werden auch in diesem Modell Differenzierungsmöglichkeiten durch die Vielfältigkeit des Materials (stimulus), die Aufgabenstellung (task) und die zu erwartenden Ergebnisse (outcomes) geschaffen.
3Vgl.
Leitfaden zu den Fachanforderungen „Deutsch“, allgemeinbildende Schulen Sek I Schleswig-Holstein.
5.4 Offener Unterricht
73
Abbildung 5.3 Aufgabentypen. (Nach Rawding et al. 2004, S. 19)
Aufgabentyp 1 sieht eine Differenzierung nach dem Ergebnis vor, wobei aber alle SuS das gleiche Material in Verbindung mit der gleichen Aufgabe gestellt bekommen. Als Ergebnis könnten in diesem Fall zum Beispiel unterschiedliche Visualisierungen in Form von `concept maps` entstehen. Dieser Aufgabentyp wird in der deutschsprachigen Literatur auch als „Rampenaufgabe“ oder „Du-kannst-Aufgabe“ bezeichnet. Die Idee dahinter ist, dass eine Rampe ins Thema gebaut werden soll, die jedoch nur so anspruchsvoll sein darf, dass alle SuS diese Rampe bezwingen können. Wie weit SuS dabei in die Thematik vordringen und welches Ergebnis erreicht wird, hängt von den individuellen
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5 Zentrale Begriffe und Herausforderungen im schulpädagogischen …
oraussetzungen ab und bildet den Ausgangspunkt für den weiteren Lernweg V (Groeben et al. 2012, 47 ff.). Aufgabentyp 2 bietet aufgrund von variablen Materialien und Ergebnissen einen sehr großen individuellen Spielraum, da lediglich die Aufgabe für alle SuS gleich gestaltet ist. Dieser Aufgabentyp entspricht zum Beispiel einer klassischen Projektaufgabe, bei der die Themen frei ausgewählt werden können. Innerhalb des einheitlichen Arbeitsauftrags müssen jedoch alle SuS/Gruppen eine schriftliche Ausarbeitung/Präsentation abgeben. Entsprechend verschiedener Themen werden auch die Ergebnisse unterschiedlich ausfallen. Dieser Aufgabentyp kann dabei sehr vielseitig eingesetzt werden. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von sogenannten „Fächeraufgaben“, mit deren Hilfe ein Kernthema aufgefächert werden kann. Konkret bedeutet das, dass Themen über unterschiedliche Zugänge bearbeitet werden, die von den SuS frei gewählt werden können. Dies bietet somit sehr breite Möglichkeiten für eine Differenzierung. Um eine zu starke und gegebenenfalls auch unkontrollierte Auffächerung zu vermeiden, sollte jedoch stets die eigentliche Kernaufgabe im Blick behalten werden. Die Ergebnisse einer Fächeraufgabe können sich dabei durchaus ergänzen oder SuS können eigene kreative Impulse einbringen. Ebenfalls ist dieser Aufgabentyp geeignet, um auf der Ebene des Materialniveaus differenzieren zu können. Die Zielsetzung von Fächeraufgaben ist es somit, den Lernenden ein vielfältiges Angebot an unterschiedlichen Zugängen anzubieten, um die Aneignung und Vertiefung der Inhalte möglichst stark individualisieren zu können. Auch sogenannte Blütenaufgaben entsprechen im Grundsatz diesem zweiten Aufgabentyp. Aufgabentyp 3 geht indessen von einem einheitlichen Material aus, das aber anhand von unterschiedlichen, gestuften Aufgaben bearbeitet wird und somit zu unterschiedlichen Ergebnissen führt. Die Stufen könnten dabei unterschiedlichen Arbeitsaufträgen entsprechen, im Sinne der Taxonomiestufen nach Bloom (Bloom 1974). Andererseits kann sich die Stufung auch dadurch ausdrücken, dass schwächeren SuS zum Beispiel mehr oder weniger Hilfestellungen angeboten werden. Dieses Vorgehen ist in der Literatur auch unter dem englischen Begriff „scaffolding“ = „gestufte Hilfen“ oder auch „Blütenaufgaben“ bekannt (Groeben et al. 2012, 47 ff.). Aufgaben von diesem Typ lassen sich zum Beispiel durch Referate oder Forschungsaufgaben abbilden und können entweder individuell oder in kleinen Gruppen bearbeitet werden. Dabei wäre es auch möglich, leistungsdifferenzierte Gruppen zu bilden. Schwierigkeiten können dann auftreten, wenn Arbeitsaufträge zu umfangreich sind und vor allem schwächere SuS inhaltlich und prozedural überfordert werden. Folglich muss diesen SuS die Möglichkeit geboten werden, auf Hilfestellungen zurückgreifen zu können. In einem herkömmlichen Unterricht würde hier üblicherweise die
5.4 Offener Unterricht
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Lehrkraft konsultiert werden. Im Sinne eines möglichst selbstgesteuerten Unterrichts, käme es hingegen zum Einsatz von gestuften Hilfen, an denen sich die SuS eigenständig entlang hangeln können, sofern sie beim Lösen der Aufgabe Hilfe benötigen. Das zentrale Konstruktionsmerkmal von Aufgaben mit gestuften Hilfen ist, dass leistungsstarke SuS diese auch völlig ohne Hilfestellungen lösen können sollten, sofern das nötige Grundlagenwissen vorhanden ist. Schwächeren SuS sollten die Aufgaben jedoch mit einer geeigneten Hilfestellung lösen können. Für die Konstruktion entsprechender Aufgaben ergeben sich daraus folgende drei Anforderungen: 1. Die Aufgabe muss sich auf ein überschaubares Problem beziehen. Dabei sollte das Problem so komplex sein, dass für seine Lösung unterschiedliche Wissensbausteine miteinander verknüpft werden müssen. 2. Die Offenheit der Aufgaben muss insofern eingeschränkt werden, dass der Erwartungshorizont klar definiert werden kann. 3. Die Herausforderung der Aufgabe darf nicht zu schwer sein. Für alle SuS sollte zumindest der Einstieg in die Aufgabe einfach lösbar sein, die weiteren Aufgabenteile unter Verwendung von strukturiertem Vorwissen und etwas Anstrengung (Stäudel et al. 2007, S. 240). Im Fachbereich Mathematik ist dieser Aufgabentyp häufig mit der Zielsetzung verbunden, dass basierend auf mathematischem Grundlagenwissen ein zunehmend kreativerer Umgang beim Lösen von Problemen eingeübt werden kann. Strukturierte Hilfen können hier an unterschiedlichen Ebenen ansetzen. Als optimal hat sich eine Kombination aus inhaltlichen Hilfen und strategischer Unterstützung herausgestellt. Beide Formen können den SuS sowohl als direkte Information oder in Form von Impulsfragen zur Verfügung gestellt werden. Verwendet man beide Arten im Wechsel, wäre es möglich über Hilfekärtchen quasi einen Lehrer-Schülerdialog abzubilden, auf den die SuS eigenständig zugreifen können (Stäudel et al. 2007, S. 242). Strategische Lernhilfen beziehen sich dabei auf den Lösungsprozess der Aufgabe und können je nach Komplexität der Aufgabe zwischen vier und sieben Hilfen umfassen. Bei allen gestuften Lernhilfen sollte die erste Hilfe die Schüler dazu auffordern, das Problem in eigenen Worten zu beschreiben, um darauf hinzuwirken, dass das Problem kognitiv erfasst und durchdrungen wurde. Während sich die folgenden Hilfestellungen problemspezifisch unterscheiden können, wird in der letzten Hilfe die komplette Lösung des Problems aufgezeigt. Schließlich sollten auch SuS ihren Lösungsansatz kontrollieren können, die das Problem eigenständig lösen konnten.
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Diese Hilfen könnten entweder beim Lehrerpult zur Einsicht vorliegen und den Gruppen mit der Aufgabe ausgehändigt werden. Damit nicht sofort der komplette Lösungsweg ersichtlich ist, bietet es sich an, die strategischen Hinweise und Lösungen so auf ein Blatt zu drucken, dass beim ersten Auffalten nur die strategischen Hilfen sichtbar werden und sich die Lösung erst nach einem weiteren Auffalten zeigt. Dies könnte möglicherweise dazu beitragen, dass die SuS nicht einfach bis zur Lösung durchblättern und dadurch die Spannung der Aufgabe länger erhalten bleibt (Franke-Braun 2008). Entscheidend für den Lernprozess ist auch, dass die Gruppenmitglieder dazu aufgefordert werden ihre Überlegungen zur Aufgabenstellung und zu möglichen Lösungswegen innerhalb der Gruppe zu kommunizieren und zu diskutieren. Auch für diesen Prozess ist die gestufte Darstellung der Hilfestellungen und der Lösung von zentraler Bedeutung. Ein zusammenhängender Lösungstext hätte dabei nicht den gleichen Effekt (Franke-Braun und Stäudel 2009, 35 ff.). Stäudel et al. sehen in dieser Form der Aufgabekonstruktion eine Möglichkeit, die SuS zu aktivieren und zugleich hinreichend komplexe Aufgaben stellen zu können, da so die Leistungsheterogenität zumindest teilweise abgefedert werden kann. Ebenfalls könnte bei der Bearbeitung dieses Aufgabentyps ein einheitlicher Zeitrahmen gesetzt werden, was die Fragmentierung des Unterrichts deutlich reduziert. Ein solcher Zeitrahmen wird dadurch ermöglicht, dass leistungsstarke Gruppen bewusst auf Hilfen verzichten können und folglich mehr Zeit zur Diskussion des Lösungswegs benötigen, während schwächere Gruppen diese Zeit für den Umgang mit den gestuften Hilfestellungen verwenden könnten (Stäudel et al. 2007, S. 251). Aufgabentyp 4 ist eine Art der Differenzierung, bei der eine Aufgabe anhand von unterschiedlichen Materialien oder Vorgehensweisen erschlossen werden kann. Dadurch entstehen auch bei diesem Aufgabentyp unterschiedliche Ergebnisse. Ein Beispiel hierfür wäre eine große Projektarbeit, die arbeitsteilig bearbeitet wird. Die einzelnen Ergebnisse werden abschließend zu einem großen inhaltlichen Ganzen zusammengetragen. Mit Aufgabentyp 5 können die am weitesten auseinanderliegenden Ergebnisse erzeugt werden, was dem höchsten Grad an Individualisierung entspricht. In Bezug auf das Aufgabensetting bedeutet dies, dass anhand von unterschiedlichem Material unterschiedliche Aufgaben bearbeitet werden, wodurch unterschiedliche aufgabenspezifische Ergebnisse entstehen. Dieser Aufgabentyp ist vor allem dann geeignet, wenn gezielt Schwachstellen ausgeglichen werden sollen und verschieden gestaltete Übungsaufgaben zur Verfügung gestellt werden müssen. Entscheidungen zur Konzeption von offenem Unterricht beinhalten neben der Fragestellung, wie Aufgabetypen zielgerichtet eingesetzt werden können, auch immer methodische Überlegungen. Beide Aspekte stehen dabei miteinander
5.4 Offener Unterricht
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in Verbindung und müssen auf die Unterrichtsstruktur abgestimmt werden. Die methodischen und medialen Gestaltungsmöglichkeiten sind dabei generell vielseitig, weisen je nach Fachbereich jedoch auch domänenspezifische Besonderheiten auf. Im folgenden Kapitel sollen unterschiedliche Methoden als ein Gestaltungsmerkmal von offenem Unterricht jedoch nur kurz angesprochen werden. Eine ausführlichere Darstellung erfolgt später in Kapitel 7, wo methodische Differenzierungskonzepte unterschiedlicher Fachbereiche gegenübergestellt werden.
5.4.3 Methoden als Gestaltungsmerkmal von offenem Unterricht Sofern offene Lernsituationen konzipiert werden sollen, stehen Entscheidungen hinsichtlich der Wahl und Gestaltung von Aufgaben auch in engem Zusammenhang mit der Auswahl der Methode und umgekehrt. Als Standard der Unterrichtsplanung gilt in der allgemeinen Didaktik dabei der Grundsatz der Methodenvielfalt, wodurch Unterricht interessanter und motivierender gestaltet werden soll (Bank et al. 2011, S. 10). Entscheidend dabei ist jedoch, dass eine Passung zwischen den Inhalten und den verwendeten Methoden gegeben sein muss. Es wird davon ausgegangen, dass offene Methoden hierfür besonders gut geeignet sind und zudem dem didaktischen Prinzip der Schülerorientierung entsprechen (Scholz 2012, S. 45). Auch andere Autoren verweisen auf die Vielzahl unterschiedlicher Methoden, von denen jedoch einige auf die fachspezifischen Besonderheiten in den verschiedenen Fächern abzielen. Des Weiteren gibt es viele allgemeine Methoden, die in einem fächerübergreifenden Kontext in Verbindung mit einer inneren Differenzierung genannt werden. Zu diesen Methoden zählen zum Beispiel die Freiarbeit, das Stationenlernen oder die Projektarbeit. Es werden aber auch computerorientierte Ansätze wie das Webquest thematisiert (Eisenmann und Grimm 2011b, S. 244). Auch im Bereich der ökonomischen Bildung wird auf eine Vielzahl an klassischen und computergestützten Methoden verwiesen (Arndt 2013b). Es existiert somit ein breites Methodenspektrum, das in der Literatur sowohl allgemein als domänenspezifisch beschrieben wird. Durch die Fülle des Angebots drängt sich Helmkes Forderung, gelingende Methodenvarianten zu definieren (Helmke 2017, S. 259), mehr denn je auf und soll auch Teil der späteren Untersuchung sein. Eine erste Herausforderung besteht jedoch darin, sich für diese Einschätzung auf eine überschaubare Anzahl an Methoden festzulegen, da jeder der in Kapitel 7 analysierten Fachbereiche auf eine Vielzahl geeigneter Methoden verweist.
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In Anbetracht der Vielfältigkeit der SuS bedarf es sicherlich einer gewissen Methodenvielfalt. Es stellt sich aber auch die Frage, ob es überhaupt gelingen kann, eine Art Patentrezept zu formulieren, wann der Einsatz einer bestimmten Methode sinnvoll ist (Rieke und Lau 2010, S. 47). Daher soll es in der folgenden Untersuchung auch nicht darum gehen, ein Patentrezept zu generieren, sondern eine breitere Einschätzung bezüglich der Eignung verschiedener Methoden für das Fach Wirtschaft zu gewinnen. Bei der Auswahl der zu bewertenden Methoden wird später gezielt eine Orientierung an gängigen Unterrichtsmethoden, auch in Anlehnung an andere Fachbereiche erfolgen, die so auch im täglichen Unterricht verwendet werden. Einerseits soll dadurch ein Alltagsbezug hergestellt werden und andererseits liegt die Annahme zugrunde, dass aufgrund des in B aden-Württemberg relativ neuen eigenständigen Fachs Wirtschaft sich viele Lehrkräfte bisher noch nicht mit den fachspezifischen Methoden der ökonomischen Bildung vertraut gemacht haben und daher bei der Konzeption von differenziertem Wirtschaftsunterricht primär auf bekannte Methoden zurückgreifen, die sie dann im Gegenzug auch bewerten können sollten. Die Auswahl der zu bewertenden Methoden wird in Abschnitt 9.2.4 zum Fragebogendesign näher erläutert. Neben Planungsentscheidungen im Bereich der Methoden und Aufgaben ist die Konzeption von differenziertem Unterricht entsprechend dem Modell in Abbildung 5.2 auch stets in ein ganzes System von Variablen eingebunden, die Spannungen erzeugen können (Groeben et al. 2012, S. 18).
5.4.4 Systemische Hürden in offen gestalteten Lernsituationen Offener Unterricht ist in ein Spannungsverhältnis aus vielen unterschiedlichen Faktoren eingebettet, die in den Sekundarbereichen I und II dabei stärker zum Tragen kommen als in den Grundschulen. Ein Aspekt betrifft dabei die Lehrpläne, die entsprechend ausgerichtet werden müssen, um einen entsprechenden curricularen Rahmen bieten zu können. In Baden-Württemberg sorgte 2016 der neu implementierte Bildungsplan mit seinen differenzierten Kompetenzanforderungen für diese wichtige strukturelle Anpassung. Ebenso wesentlich ist eine stringente Anpassung der Anforderungen in den jeweiligen Abschlussprüfungen an offene Unterrichtsformen. Ob und in welchem Umfang es zu einer derartigen Anpassung der Prüfungsformen/-modalitäten kommen wird, ist bisher unklar. Dies wäre jedoch ein wesentlicher Schritt, da offene Lernformen ohne eine entsprechende Anpassung der Prüfungskultur nur für Verunsicherung bei SuS und den Lehrkräften sorgen (Hofmann und Moser
5.4 Offener Unterricht
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2006, S. 14). Vor allem in Abschlussklassen, die sich auf die Abschlussprüfungen vorbereiten, lässt sich aufzeigen, dass die Beliebtheit von offenen Lernformen sinkt, welche jedoch abseits der Prüfungsvorbereitung beliebt waren (Kühberger und Windischbauer 2013, S. 10). Ein weiterer Aspekt betrifft die Frage, wer den Lehrkräften geeignetes Unterrichtsmaterial zur Umsetzung von offenem Unterricht zur Verfügung stellen kann oder ob dieses zeitintensiv selbst entwickelt werden muss. Auch erfordert das Erstellen von derartigen Unterrichtsmaterialien ein hohes Maß an Kreativität, Fachwissen und fachdidaktischer Reflexionsfähigkeit (Kühberger und Windischbauer 2013, S. 11). In der aktuellen Diskussion tauchen zudem auch alte Problemlagen und Forderungen aus dem Diskurs der 1970er Jahre wieder auf4. Diese Forderungen beziehen sich zum Beispiel auf den Bereich des programmierten Lernens. Für dessen Weiterentwicklung empfiehlt Bönsch eine Kombination aus offenen Unterrichtsmethoden und digitalen Medien. Unterschiedliche Lernwege könnten somit zum Beispiel durch unterschiedliche Stationen abgebildet werden. Ein derartig breites Spektrum, das vor allem auch die Verfügbarkeit von digitalen Medien, wie Tablets oder PCs im Klassenzimmer beinhalten würde, wäre hierfür jedoch eine Grundvoraussetzung. „In absehbarer Zeit werden genügend Computerprogramme vorliegen, die den Schüler/Schülerin in differenzierter und kommunikativer Weise durch ein Fach oder eine Unterrichtseinheit führen können bzw. mit Übungsprogrammen Schwächen ausmerzen helfen können. Das Angebot ist heute schon groß.“ (Bönsch 2012, S. 17)
Leider zählt ein derartiges Szenario selbst im Jahr 2019 noch nicht zum breit implementierten Standard und ist, wenn überhaupt, nur rudimentär und für einzelne Themenbereiche verfügbar. Ebenfalls hat sich die Idee von multiplen Lernwegen bisher nicht flächendeckend erfüllt. Die aktuelle Diskussion um sogenannte „Lernjobs“ bildet eine konzeptionelle Grundlage, auf der entsprechende Computerprogramme entwickelt werden könnten. Hierfür müsste aber auch eine solide IT-Infrastruktur an den Schulen vorhanden sein, was vor allem in Sekundarbereich I bisher nicht immer gegeben ist. Hinsichtlich der Sicherung von Lernergebnissen bleibt zudem die Frage offen, ob und wie die unterschiedlichen Lernwege der SuS wieder zusammengeführt werden können.
4Vergleiche Abschnitt 2.3.
80
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5.5 Differenzierung und offener Unterricht als Herausforderung für Lehrkräfte Neben den bisher genannten Aspekten ist das Gelingen von differenziertem Unterricht zudem eng mit dem Handeln der Lehrkräfte verbunden. Das Stufenmodell zur Unterrichtsqualität (Abbildung 5.4) von Pietsch (Pietsch 2010, S. 140) zeigt, dass guter differenzierter Unterricht nicht einfach ad hoc implementiert werden kann, sondern vor allem Grundvoraussetzungen im Bereich der pädagogischen Strukturen, insbesondere der Klassenführung, geschaffen werden müssen. Neben Pietsch bestätigen auch andere Studien, wie zum Beispiel Hattie (2015) oder Helmke und Weinert (2015) diese Einschätzung.
Abbildung 5.4 Stufenmodell. (Nach Pietsch 2010)
Auch Beck (2007) sieht in offenen, differenzierenden Lernsettings eine beachtliche Herausforderung für die Lehrkräfte. Dabei geht Beck jedoch von adaptiveren Lernsettings aus, bei denen das Individuum stärker in den Blick genommen werden muss. Für die Lehrkraft ergibt sich daraus die notwendige Kernkompetenz, dass sie „Unterschiede und Schlüsselmomente in Lehr- Lernprozessen wie Nichtverstehen, Abschweifen oder Störungen sensibel wahrnehmen und mit angemessen didaktischen Maßnahmen […]“ (Beck 2007, S. 199) darauf reagieren muss. Aus den Forderungen von Beck und dem Stufenmodell von Pietsch lässt sich ableiten, dass die Umsetzung der geforderten Unterrichtsformen eine Reihe von professionellen Kompetenzen benötigt. Darüber hinaus wäre zu hinterfragen, ob und in welchem Grad diese Anforderungen in einer Unterrichtssituation mit dem üblichen Klassenteiler überhaupt realisiert werden können (Gruehn 2000, S. 60). Die dafür geforderten Kompetenzen der Lehrkräfte lassen sich in die folgenden drei Bereiche gliedern (Trautmann und Wischer 2011, S. 107).
5.5 Differenzierung und offener Unterricht als Herausforderung …
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1. Die richtige Einstellung zu individuellen SuS und die Bereitschaft diese nicht im Sinne einer Belastung zu verstehen, kann als eine entscheidende Grundvoraussetzung gesehen werden. Ob man Heterogenität hierbei gleich als Chance wahrnehmen muss oder ob es ausreichend wäre, diese neutral, neugierig und offen zu empfinden, wäre zu hinterfragen. Es zeigt sich, dass das Propagieren der richtigen Einstellung häufig mit einem sehr unscharfen Einstellungsbegriff einhergeht und gerne angewendet wird, wenn konkrete, umsetzbare und erfolgversprechende Handlungskonzepte rar sind. Als Konsequenz werden Lehrkräfte dann manchmal auch als Reformhindernis identifiziert (Trautmann und Wischer 2013, S. 49). Helmke sieht in der richtigen Einstellung ebenfalls eine wesentliche Gelingensbedingung und fügt an, dass zudem auch die Haltung in Bezug auf mögliche Veränderungen der Lehrerrolle oder eine grundlegende Bereitschaft zur Selbstreflexion entscheidende Aspekte darstellen (Helmke 2017, S. 255). Dass für eine Veränderung von Unterricht eine gewisse Bereitschaft der Lehrkräfte benötigt wird, ist sicherlich richtig. Die zuvor erwähnte Argumentation, dass Lehrkräfte die Verschiedenheit der SuS einfach als Chance wahrnehmen müssten, wodurch sich viele Probleme quasi von selbst lösen, lässt durchaus Parallelen zur Argumentation in den 1970er Jahren erkennen (Schittko 1984, 186 ff.) 2. Wenn die Heterogenitätsproblematik verstärkt auf der Unterrichtsebene (Mikroebene) verortet wird, ist vor allem die didaktische und methodische Handlungskompetenz der Lehrkräfte entscheidend. Diese bezieht sich auf die Gestaltung differenzierenden oder individualisierenden Lehr-Lernarrangements. Anforderungen, die sich bei der Gestaltung von adaptiven Lernarrangements stellen, sind zum Beispiel die Fähigkeit durch eine entsprechende Klassenführung möglichst viel effektive Lernzeit generieren zu können (Beck 2008, S. 41). 3. Um die jeweiligen methodischen und didaktischen Maßnahmen zielgerichtet an den Lernstand der Differenzierungsgruppe anpassen zu können, ist eine klare diagnostische Kompetenz erforderlich. Hierbei sollte das Vorwissen, die Lerngeschwindigkeit, Verständnishürden, Lernweisen der Schüler möglichst richtig eingeschätzt werden (Beck 2008, S. 48). In Bezug auf die Notwendigkeit einer zunehmenden inneren Differenzierung bzw. Individualisierung geht die Literatur davon aus, dass die Lehrkraft, auf Grundlage von individuellen Kompetenz- und Bedürfnisprofilen ihrer SuS, eine geeignete Förderentscheidung treffen können sollte (Trautmann und Wischer 2013, S. 49).
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5 Zentrale Begriffe und Herausforderungen im schulpädagogischen … „Ohne eine ausgeprägte diagnostische Kompetenz ist eine Lehrperson, die individualisierendes Lernen in der Schulklasse einführen will, nicht handlungsfähig.“ (Helmke 2017, S. 253)
Häufig ist es jedoch so, dass obwohl Lehrkräfte täglich mehr oder weniger unbewusst die Leistung ihrer SuS diagnostizieren, viele vor einer erweiterten systematischen Diagnose zurückschrecken, da sie die Schüler nicht zu sehr kategorisieren wollen (Rieke und Lau 2010, S. 46). Interessant bleibt dabei die Frage, auf welcher konkreten Grundlage Lehrkräfte ihre Einschätzungen zum Lernstand der SuS treffen, obwohl bisher kaum fundierte Diagnoseinstrumente vorliegen. Einen Hinweis hierzu liefert Stolzbacher (2012), der über eine Studie zur individuellen Förderung aufzeigen konnte, dass 99 % der befragten Lehrkräfte auf Klassenarbeitsergebnisse und 95 % auf Beobachtungen im Unterricht zurückgreifen, um entsprechende Erkenntnisse zu gewinnen (Stolzbacher 2012, S. 33). Ein Blick in die Literatur zur Kompetenz von Lehrkräften oder Qualitätskriterien von gutem Unterricht (Helmke 2017) zeigt, dass ein Großteil der eben aufgeführten Aspekte bereits Bestandteil der Lehrerausbildung sind und folglich gefragt werden sollte, ob diese nicht auch unabhängig von der Heterogenitätsdebatte als grundsätzliche Voraussetzungen für den Lehrerberuf gewertet werden müssten (Klieme und Warwas 2011, S. 813). Weitere Quellen (Leuders 2013, S. 179) sehen im individuellen Fördern auf Basis einer soliden Diagnose die Grundlage, um in heterogenen Schülergruppen ein erfolgreiches Lernen ermöglichen zu können und erkennen zugleich die Herausforderungen für die Lehrkräfte an. Neben sämtlichen Forderungen wird in der Literatur jedoch auch darauf hingewiesen, dass sich diese Kompetenzen erst mit langjähriger Berufserfahrung herausbilden (Rieke und Lau 2010, S. 39). Dennoch erweitert der Heterogenitätsdiskurs das ursprüngliche Aufgabenfeld von Lehrkräften deutlich. Vor allem die im Kontext der Gemeinschaftsschulen forcierten bildungspolitischen Maßnahmen dürften einen gewichtigen Anspruch darstellen. So geht es darum, SuS mit unterschiedlicheren Lernvoraussetzungen und familiären Hintergründen gemeinsam zu beschulen, individuell zu fördern und in der Unterrichtssituation zu kontrollieren (Landtag Baden-Württemberg 2012, S. 12). Zudem wird durch die didaktische Fachliteratur – die so auch für die ökonomische Bildung im Bereich der Unterrichtsplanung von Bedeutung ist – das Bereitstellen von differenzierten Lernarrangements als ein Aspekt von Unterrichtsqualität definiert. Diese politischen und wissenschaftlichen Ansprüche, in
5.5 Differenzierung und offener Unterricht als Herausforderung …
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Verbindung mit entsprechenden Appellen an das Pflichtgefühl der Lehrkräfte, derartige Reformschritte zum Wohle der Kinder zwingend umsetzen zu müssen, erhöhen den Druck auf die Lehrkräfte. Dies ist vor allem dann Fall, wenn derartige Forderungen durch eine Vielzahl von Erfolgsgeschichten und positiven Fallbeschreibungen flankiert werden (Wischer und Trautmann 2010, S. 159). Auch sehen Trautmann und Wischer (2011) in der Frage, wie mit Heterogenität umgegangen werden sollte, eine klare Diskrepanz zwischen der schulischen Realität einerseits und den politischen Vorgaben beziehungsweise wissenschaftlichen Ansprüchen andererseits. Die in der Wissenschaft generierten neuen Erkenntnisse basieren häufig auf der Grundlage von immer feiner werdenden Kategorien, kritischen Aspekten oder Handlungsempfehlungen, welche die Komplexität für die täglichen Handlungsentscheidungen im Unterricht erhöhen (Trautmann und Wischer 2011, S. 68). „Verführerisch daran ist, dass man auf konzeptioneller Ebene das Spektrum von Differenzierungsvarianten immer weiter steigern, konkrete Umsetzungsfragen aber getrost der Lehrperson überlassen kann.“ (Wischer und Trautmann 2010, S. 161)
Auch andere Autoren argumentieren in eine ähnliche Richtung und bemerken, dass praktisch verwertbare Handlungsalternativen und das klare Aufzeigen von Stolpersteinen in der Literatur eher eine Ausnahme darstellen. Hingegen könnte genau das zu einer zielgerichteten Qualifikation von professionellen Lehrkräften beitragen (Rieke und Lau 2010, S. 37). Das im Bereich der Mathematikdidaktik entwickelte ZAFE-Modell (Leuders und Prediger 2016, S. 151) stellt eine dieser Ausnahmen dar und kann als ein übergeordneter Orientierungsrahmen zur Konzeption von differenziertem Unterricht verstanden werden. Aufgrund seiner Klarheit und der dadurch gegebenen Struktur soll dieses Modell auch im weiteren Verlauf dieser Arbeit als Orientierungsrahmen dienen sowie als Möglichkeit, die Erkenntnisse dieser Untersuchung an die bisherige Forschung anzuschließen.
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Das ZAFE-Modell als konzeptioneller Orientierungsrahmen
Das im Fachbereich Mathematik entwickelte ZAFE-Modell (Abbildung 6.1) ist ein Planungsmodell für differenzierten Unterricht und kann somit Lehrkräften eine Hilfestellung bei der Konzeption von differenziertem Unterricht anbieten. Zudem soll das Modell auch im weiteren Verlauf dieser Arbeit als Orientierungsrahmen, zum Beispiel für das Forschungs- und Fragebogendesign, verwendet werden. Es besteht dabei aus den vier grundlegenden Entscheidungsdimensionen „Differenzierungsziel“, „Differenzierungsaspekte“, „Differenzierungsform“ und „Differenzierungsebene“, die bei der Planung von differenziertem Unterricht aufeinander abgestimmt werden müssen. Diese vier Dimensionen werden nun vorgestellt und erläutert, bevor sie im nächsten Kapitel als strukturierendes Element für einen Vergleich verschiedener Differenzierungskonzepte aus unterschiedlichen Fachbereichen genutzt werden.
Abbildung 6.1 ZAFE-Modell. (Nach Leuders/Prediger 2016) © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Hertrich, Differenzierung im Wirtschaftsunterricht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31167-4_6
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6 Das ZAFE-Modell als konzeptioneller Orientierungsrahmen
6.1 Differenzierungsziel Die Dimension des Differenzierungsziels stellt die Frage, welches Ziel durch eine innere Differenzierung letztendlich erreicht werden soll. Im Umgang mit heterogenen SuS kann Vielfalt zum Beispiel zugelassen und in einer Unterrichtsstunde aktiv genutzt werden. Dies wäre zum Beispiel dann der Fall, wenn unterschiedliche Vorstellungen und Meinungen in einer bunten Diskussion zusammengeführt und im Unterricht thematisiert werden. Ebenso könnte die Vielfalt der SuS auch dahingehend genutzt werden, um für eine gewisse Problemstellung unterschiedliche Lösungswege entdecken zu lassen. Soll es in der Unterrichtsstunde hingegen darum gehen, vorhandene Defizite einzelner SuS durch eine gezielte Fördermaßnahme auszugleichen, wäre damit eine andere Zielsetzung verbunden. Häufig tritt die Frage, wie eine Leistungsdifferenzierung erreicht werden kann, in vielen Fachbereichen erst mal in den Hintergrund. Vielmehr geht es um grundlegendere Konzepte, wie die vielfältigen SuS im Unterricht überhaupt erreicht und einbezogen werden können (Eisenmann und Grimm 2011b, S. 241). Diese Ansicht legt nahe, dass abhängig von der Schulart und der Art der SuS die Ziele „Vielfalt zulassen/einbeziehen“ beziehungsweise „Vielfalt ausgleichen“ sehr unterschiedlich ausfallen können. Auch sollte in diesem Kontext die Frage gestellt werden, ob es auch Inhalte gibt, bei denen Vielfalt nicht konstruktiv mit einbezogen werden kann und diese mit Blick auf den zu unterrichtenden Inhalt kurzzeitig sogar unterbunden werden muss. Natürlich bringen SuS auch immer Verhaltensweisen mit in den Unterricht, wie zum Beispiel Unpünktlichkeit, die nicht bereichernd sind und ebenfalls unterbunden werden müssen. Diese eher negative Art von Vielfalt unterscheidet sich jedoch insofern, als es sich hier um generelle negative Handlungen und nicht um ein vom Inhalt abhängiges Verhalten handelt.
6.2 Differenzierungsaspekte Die Grundprämisse, überhaupt zu differenzieren, führt zwangsläufig zur Entscheidung, nach welchen Aspekten dies geschehen soll. Gleichschrittiger Unterricht muss dann zugunsten von einem oder auch mehreren Differenzierungsaspekten aufgelöst werden. So wäre bei einer Binnendifferenzierung nach dem Geschlecht denkbar, dass Jungen und Mädchen unterschiedliche Aufgaben bearbeiten oder im Rahmen einer Differenzierung nach Leistung SuS unterschiedliche Aufgaben mit verschiedenen Schwierigkeitsgraden lösen sollen.
6.3 Differenzierungsform
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Zusätzlich könnte auch nach der Bearbeitungszeit etc. differenziert werden. Binnendifferenzierende Unterrichtssettings werden jedoch nicht als Selbstzweck konzipiert, sondern sollen dazu beitragen, schwächere SuS zu fördern, das Leistungsniveau der SuS allgemein zu verbessern, um bei internationalen Leistungsvergleichsstudien wie PISA standhalten zu können. Eine zentrale Frage ist daher weniger, welche Differenzlinien bemüht werden können, um die verschiedenen SuS zu beschreiben, sondern welche Heterogenitätsaspekte einen Einfluss auf die schulische Leistung haben, wie stark diese Effekte sind und ob die Lernleistung durch eine gezielte Differenzierung gesteigert werden kann. So konnte zum Beispiel ein Zusammenhang zwischen den Aspekten Herkunft, Sprache und schulischer Leistung bestätigt werden. Während ein Kind aus einer gebildeten Familie rund 1700 Vorlesestunden erfährt, bevor es in die Schule kommt, sind es bei Kindern aus bildungsfernen Schichten nur 2 %. Dass diese Art der Vorbildung Leistungsunterschiede im Bereich des Wortschatzes erzeugt, die gewaltig sein können und sich wahrscheinlich nie völlig durch Förderunterricht ausgleichen lassen, liegt auf der Hand (Groeben et al. 2012, S. 15). Auch können Lehrkräfte diese Rahmenbedingungen nicht beeinflussen, sondern müssen lernen mit diesen umzugehen.
6.3 Differenzierungsform Die Überlegungen hinsichtlich einer erfolgversprechenden Differenzierungsform für den Wirtschaftsunterricht verlaufen entlang den allgemeinen didaktischen Überlegungen zur Offenheit von Lernsituationen, wie sie bereits in Abschnitt 5.4 erläutert wurden. Das ZAFE-Modell beschränkt sich hierbei auf die Entscheidung, ob eine Differenzierung anhand einer offenen oder einer geschlossenen Form umgesetzt werden soll. Häufig werden synonym auch die Begriffe lehr- und lernseitige Differenzierung verwendet. Letztendlich geht es jedoch immer um die Frage, wer den differenzierten Lernprozess steuert. Konkret: Wer wählt die passenden Aufgaben aus, wer sorgt für eine gelingende Adaptivität und wer trägt dadurch die Verantwortung für einen erfolgreichen Lernprozess? Die generellen Vorteile und Nachteile der beiden Verfahren wurden bereits in den Abschnitten 5.1–5.3 beleuchtet. Konkrete Handlungsempfehlungen für die Anwendung der Differenzierungsformen sind in der Literatur bisher kaum vorhanden. Durch die Delphi-Befragung sollen diesbezüglich für das Fach Wirtschaft entsprechende Einschätzungen erhoben werden.
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6 Das ZAFE-Modell als konzeptioneller Orientierungsrahmen
6.4 Differenzierungsebene Die Entscheidungsoptionen innerhalb dieser Dimension beziehen sich auf die Frage, wie die Differenzierung umgesetzt werden soll. Dabei ist für die Konzeption entsprechender Lernwege vor allem die Mikroebene von zentraler Bedeutung (Groeben et al. 2012, S. 44). Die strukturelle Einbettung der Differenzierung sollte zudem mit Überlegungen bezüglich der Differenzierungsform abgestimmt werden. So könnte eine Differenzierung auf der Ebene der Unterrichtsstruktur in Verbindung mit einer offenen Differenzierungsform umgesetzt werden. Dies wäre zum Beispiel anhand einer Projektstunde mit vielfältigen Wahlmöglichkeiten vorstellbar. Die Ausgestaltung der Unterrichtsstruktur ist aber auch immer mit Überlegungen zu methodischen Differenzierungsmöglichkeiten und geeigneten Aufgabenformaten verbunden, wie sie bereits in Abschnitt 5.4 vorgestellt wurden. In einem nächsten Kapitel sollen die Dimensionen des ZAFE-Modells einen strukturierenden Rahmen bieten, um die in unterschiedlichen Fachbereichen propagierten und diskutierten Differenzierungskonzepte miteinander zu vergleichen.
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Differenzierungskonzepte in verschiedenen Fachbereichen
In der Literatur zu Differenzierungskonzepten findet sich bisher nur eine sehr überschaubare Anzahl an vergleichenden Darstellungen zu fachspezifischen Differenzierungskonzepten. Eine dieser wenigen Darstellungen, die hierzu einen Überblick liefert, stammt von Eisenmann und Grimm (2011a). In ihrer Ausführung wird deutlich, dass bisher nur relativ wenige Fachbereiche über stringente beziehungsweise übergeordnete Differenzierungskonzepte verfügen und stattdessen vereinzelt Schwerpunkte gesetzt werden. Hingegen wird auf einer allgemeinen didaktischen Ebene eine Vielzahl an methodischen Möglichkeiten, Aufgabentypen oder übergeordneten Unterrichtformaten empfohlen, die wiederum von den einzelnen Fachbereichen teilweise aufgegriffen werden (Eisenmann und Grimm 2011a, 62 ff.). Auf welche dieser Möglichkeiten die unterschiedlichen Fachbereiche zurückgreifen und welche Maßnahmen diese zur Umsetzung einer Differenzierung für geeignet halten, soll in diesem Kapitel genauer betrachtet werden. Bei der Auswahl der betrachteten Fachbereiche fand dabei eine Orientierung an den gesellschaftswissenschaftlichen Fächern statt, um eine Vergleichbarkeit zum Fach Wirtschaft zu ermöglichen. Ergänzt wird diese Darstellung durch Erkenntnisse aus dem Fachbereich Mathematik, da dieser über vergleichsweise sehr eindeutige Modelle und Erkenntnisse im Umgang mit Heterogenität verfügt. Die folgende Tabelle soll in Bezug auf die Systematik des ZAFE-Modells einen Überblick über die von den Fachbereichen thematisierten Schwerpunkte liefern und eine vergleichende Einschätzung ermöglichen. Die Dimension „Differenzierungsform“ wird in der Übersicht nicht aufgeführt, weil sich kein Fachbereich mit seinen Ansätzen und Konzepten konkret auf diese Dimension bezieht. Vielmehr bedienen die betrachteten Konzepte vor allem die die Dimensionen „Ziel“, „Aspekte“ und „Ebene“. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Hertrich, Differenzierung im Wirtschaftsunterricht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31167-4_7
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7 Differenzierungskonzepte in verschiedenen Fachbereichen
Tabelle 7.1 Differenzierungskonzepte verschiedener Fachbereiche ZAFEFachbereiche/ Dimension thematisierte Aspekte
GeoGeschichte Politik Mathematik graphie
Ziel
Verschiedene Zugänge zu Inhalten
ja
ja
ja
ja
ja
Ziel
Konzepte zu Förderung schwacher SuS
eher nein
eher nein
eher nein
ja
eher nein
Aspekte
Schülervorstellungen
ja
ja
ja
ja
ja
Aspekte
Schülerinteresse
ja
nein
nein
ja
wenig
Aspekte
Sprachliche Differenzierung
ja
ja
ja
ja
ja
Ebene
Differenzierende ja Methoden/Medien
ja
ja
ja
ja
Ebene
(Selbst) differenzierende Aufgaben
ja
ja
eher nein
ja
eher nein
nein
ja, ZAFE
ja, mit Blick auf "diversity"
nein
ja
nein
Wirtschaft
nein, nein Übergeordnete Differenzierungs- spärlich konzepte Differenzierung bzgl. Tiefenstruktur
nein
nein
7.1 Gesellschaftswissenschaftliche Fachbereiche 7.1.1 Fachbereich Geographie Für den Fachbereich Geographie bemerkte Flath, dass es nur sehr wenige aktuelle fachdidaktische Beiträge mit neuartigen Konzepten zum Umgang mit Heterogenität, Differenzierung oder Individualisierung gibt und lieferte für den Fachbereich Geographie eine Übersicht mit relevanten Aspekten, die mit Blick auf eine Binnendifferenzierung untersucht und bearbeitet werden sollten (Flath 2006, S. 62 ff.). Es ist jedoch anzumerken, dass sich der Fachbereich seit Flaths Beitrag im Jahr 2006 durchaus auch entwickelt hat, wie auch aus den weiteren Ausführungen und der Übersicht in Tabelle 7.1 ersichtlich wird.
7.1 Gesellschaftswissenschaftliche Fachbereiche
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Im Bereich der individuellen Lernvoraussetzungen sind für den Fachbereich vor allem die Erkenntnisse zu Schülervorstellungen (Reinfried und Schuler 2009) oder zu Schülerinteressen (Hemmer 2010) von Bedeutung. Dieser Forschungsbereich soll den Lehrkräften Informationen liefern, die für die Konzeption und Umsetzung von differenzierendem Unterricht genutzt werden können (Höhnle 2011, S. 160). Obwohl die Geographiedidaktik bereits viele Erkenntnisse zu unterschiedlichen heterogenen Lernvoraussetzungen gewinnen konnte, waren die daraus abgeleiteten Unterrichtskonzeptionen im Jahr 2011 noch eher rudimentär. „Fachspezifische Modelle und Leitprinzipien zur Differenzierung im Geographieunterricht lassen sich kaum finden. Good-Practise Beispiele sind in der Literatur spärlich gesät und die experimentell-empirische Überprüfung ihrer Wirksamkeit steht noch aus.“ (Höhnle 2011, S. 162)
Zwar kamen über die Jahre neue Erkenntnisse hinzu, dennoch kann auch aktuell nicht von einer üppigen Auswahl an Good-Practice-Beispielen gesprochen werden. Sehr wohl finden sich aber inzwischen in der Literatur Erläuterungen zu allgemeinen Sozialformen, Methoden und Medien, die sich für eine Differenzierung im Geographieunterricht eignen. Zudem werden in diesem Kontext auch fachspezifischere methodische Aspekte genannt, wie zum Beispiel der Einsatz von Satelliten- und Luftbildern, die so wahrscheinlich nur im Fach Geographie verwendet werden können (Wüthrich 2013, S. 161). Im Bereich der differenzierenden Methoden greift das Fach mit Blick auf die Gestaltung der Arbeitsphasen auf eher klassische Methoden wie Wochenplanunterricht, Projektarbeit, Gruppenarbeit oder Werkstattunterricht zurück. Es finden sich in der Literatur aber auch Ansätze zu „E-Learning“, „Blended Learning“ oder „Selbstorganisiertes Lernen“, die eine stärkere Orientierung an den digitalen Möglichkeiten aufweisen (Wüthrich 2013, 170 f.). Es steht dem Fachbereich generell eine Fülle von methodischen und medialen Möglichkeiten zur Verfügung, mit deren Hilfe unterschiedliche Zugänge für die SuS gestaltet werden können. Mit Blick auf den Heterogenitätsdiskurs wird der Begriff „Binnendifferenzierung“ auch im Fachbereich Geographie häufig verwendet, um vielfältige Umsetzungsmöglichkeiten anbieten zu können, ohne diese mit Blick auf ihre Wirksamkeit genauer charakterisieren zu müssen. Auch finden sich in der Literatur eher banale Ratschläge, wie zum Beispiel die Darstellung, dass es sich mit aufgeweckten Klassen anbietet, im Unterricht zu diskutieren oder Rollenspiele durchzuführen, im Gegensatz zu ruhigeren Klassen. Auch wenn dies nicht bedeuten soll, dass man ruhigere Klassen vor Diskussionen o. ä. grundsätzlich verschonen sollte (Wüthrich 2013, S. 80).
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7 Differenzierungskonzepte in verschiedenen Fachbereichen
Neben den Möglichkeiten auf der methodischen Ebene setzt der Fachbereich bei der Umsetzung von differenziertem Unterricht auf unterschiedliche Aufgabenformate (Wüthrich 2013, 81 f.). Dabei greift die Geographiedidaktik auf die in der Literatur dargestellten Aufgabenformate1 zurück. Ebenfalls gewinnt die Förderung von sprachlichen Kompetenzen vermehrt an Bedeutung, die traditionell im Geographieunterricht einen eher geringeren Stellenwert einnahm. Dies zeigt sich unter anderem daran, dass „Kommunikation“ als ein Kompetenzbereich im nationalen Bildungsstandard definiert wurde, auch wenn dieser keinen verbindlichen Charakter besitzt (Budke und Weiss 2014, S. 113). Aber auch in den einschlägigen Lehrplänen sind kommunikative Kompetenzen mit verbindlichem Charakter ausgewiesen. Dies betrifft zum Beispiel die Informationsaufnahme generell, den Erwerb eines Fachwortschatzes, um gesellschaftliche Diskurse zu entschlüsseln oder auch Diskussionen führen zu können (Budke und Weiss 2014, 114 f.). Studien zeigten jedoch, dass selbst „Leistungskursschülerinnen- und Schüler Defizite in der geographischen Argumentation haben, die vermutlich durch eine nicht ausreichende Förderung im Geographieunterricht erklärt werden können. Möchte man die Geographie sprachsensibel unterrichten, müssen Situationen geschaffen werden, in denen die Schülerinnen und Schüler ihre fachbezogene Sprachkompetenz schulen können.“ (Budke und Weiss 2014, S. 131)
Diese Untersuchungen auf der gymnasialen Ebene lassen nur erahnen, wie es um die fachbezogene Sprachkompetenz in heterogene Klassen des Sekundarbereichs I stehen könnte. Um diesen Defiziten entgegenzuwirken, wurden bereits entsprechende Hilfestellungen im Sinne von konkreten Unterrichtskonzepten2 entwickelt. Als weiterer Orientierungsaspekt im Umgang mit Heterogenität dient für die Geographiedidaktik das Konzept der Lernstile, welches im englischsprachigen Raum auch unter dem Begriff „learning styles“ populär wurde und eine längere Tradition aufweist. So entwarf David Kolb bereits 1985 ein Modell, mit dem er vier verschiedene Lernstile mit unterschiedlichen Studiengängen in Verbindung setzte (Willcoxson und Prosser 1996, S. 249). Dieses Modell ist auch unter der Bezeichnung „Kolb’s Learning Style Inventory“ bekannt und wurde über die
1Vgl. Abschnitt 5.4.2. 2Zum
Beispiel „Praxishandbuch Sprachbildung Geographie“ (Oleschko et al. 2016).
7.1 Gesellschaftswissenschaftliche Fachbereiche
93
Jahre permanent erweitert, wobei die letzte Anpassung aus dem Jahr 2013 stammt (Kolb und Kolb 2013). Umstritten ist jedoch die Frage, ob die Kenntnisse zu „learning styles“ und deren Anwendung im Lernprozess tatsächlich zu einem besseren Lernerfolg führen oder ob es sich hierbei um ein Konzept handelt, das sich vor allem von Lernmittelanbietern gut als absatzfördernder Marketingbegriff nutzen lässt (Pashler et al. 2009, S. 106). Auf der wissenschaftlichen Ebene findet man hierzu sowohl positive als auch negative Argumente. So wird einerseits die These vertreten, dass SuS im Prinzip fast alles lernen können, sofern im Lernprozess Methoden verwendet werden, die zum individuellen „learning style“ der SuS passen (Dunn Rita 1990, S. 15). Auf den Lernprozess bezogen würde eine Differenzierung nach dem Lernstil bedeuten, dass jedem Kind ein möglichst individueller Zugang zu Inhalten ermöglicht werden müsste, um so einen effektiveren Lernfortschritt zu ermöglichen. Pashler et al. zeigen andererseits durch einen Vergleich von empirischen Studien, dass ein solcher Effekt, falls überhaupt vorhanden, nur sehr gering ausfällt (Pashler et al. 2009, 108 ff.). Auch wenn dieser erhoffte Effekt im Sinne einer individuellen Förderung durch die Anwendung von „learning styles“ kritisch hinterfragt werden muss, so könnte jedoch auch argumentiert werden, dass unterschiedliche Zugänge zu Inhalten vor dem Hintergrund des Differenzierungsziels „Vielfalt nutzen“ durchaus sinnvoll sein können (Leuders und Prediger 2016, S. 48). Auch andere Autoren verstehen Binnendifferenzierung nicht primär als eine Leistungsdifferenzierung, sondern als das Ermöglichen von unterschiedlichen kognitiven Zugängen zu Inhalten, wobei es das Hauptziel ist, dem Lernen vielseitige Möglichkeiten der Informationsverarbeitung anzubieten. Grave-Rendes (2002) klassifizierten hierzu vier Lernstile, die von Uhlenwinkel auf das Fach Geographie angewendet wurden (Grave-Rendes 2002, S. 14). Verbal-sprachliche Lerner sind sehr gut im Verarbeiten von Informationen, wenn sie diese Informationen durch Lesen oder Schreiben erfassen, oder diese Informationen in Form einer Erklärung an andere weitergeben können. Für das Fach Geographie bedeutet dies, dass verbal-sprachliche Lerner sehr gut darin sind, Namen von Begriffen und Fakten aufzunehmen, es aber mit Bildern und Diagrammen weniger leicht haben. Außer sie können diese Inhalte wiederum verbalisieren. Logisch-mathematische Lerner setzen bei der kognitiven Erfassung von Informationen vor allem auf logische Beziehungen und Muster, die sie gerne selbst herausfinden. Als Unterrichtsmethode bietet sich daher für diesen Lernstil das Arbeiten mit Flussdiagrammen, Mindmaps oder auch Concept-Maps an. Derartige Lerner sind folglich beim logischen Denken und Argumentieren sehr stark und verfügen über eine hohe Affinität zu Zahlen.
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7 Differenzierungskonzepte in verschiedenen Fachbereichen
Die gleichen Methoden werden auch von visuell-räumlichen Lernern präferiert, da diese kreativ sind und kognitiv am besten bunte Visualisierungen verarbeiten können. Weitere geeignete Methoden wären Puzzles, Kartenlesen, Filme oder das Lernen anhand von Bildern. Diese Lerner haben ein gutes Vorstellungsvermögen und räumliche Orientierung. Im Gegensatz zu den verbal-sprachlichen Lernern haben sie jedoch häufiger Probleme mit Texten oder logisch-mathematischen Aufgaben. Der vierte Lernstil ist dagegen eher köperzentriert, weshalb auch vom physisch-kinästhetischen Lerner gesprochen wird. Dieser braucht Bewegung, redet gerne und lernt am besten durch tatsächliches Handeln und Anfassen. Daher sind sämtliche handlungsorientierte Methoden, wie zum Beispiel das Rollenspiel aber auch Strukturlegetechnik oder das Darstellen von Sachverhalten in Form von Modellen, für diesen Lerntyp gut geeignet (Uhlenwinkel 2008, 5 f.). Wie bereits erwähnt, dient die Lernstiltheorie der Geographiedidaktik als eine Art normativer Orientierungsrahmen für eine Binnendifferenzierung und das vor allem mit Blick auf den Einsatz unterschiedlicher Methoden. Sie bietet jedoch bisher kaum Hilfestellung, wenn es darum geht, die Unterrichtsdramaturgie dementsprechend zu gestalten. Auch auf die Frage, wie eine Diagnose dieser Lernstile erfolgen und in den Unterricht eingebettet werden kann, liefert die Literatur leider keine konkreten Hinweise (Uhlenwinkel 2008, S. 6). Ein weiterer problematischer Aspekt bei der Konzeption von binnendifferenziertem Unterricht wird vor allem in der zeitintensiven Vorbereitung gesehen und in der Frage, wie Aufgaben auf unterschiedlichen Kompetenzniveaus schlussendlich in eine vergleichbare Bewertung überführt werden können. Zudem wird darauf verwiesen, dass niveaudifferenzierter Unterricht in Grundschulen einfacher umsetzbar ist als an Gymnasien. Begründet wird dies durch die Abiturprüfung, in der das zu erreichende Mindestniveau, das alle SuS individuell erreichen müssen, extern vorgegeben wird (Wüthrich 2013, S. 81). Ein vergleichbarer Erkenntnisstand zeigt sich für die Fachbereiche Geschichte und Politik, wobei aber jeder Fachbereich auch über eigene, domänenspezifische Schwerpunkte verfügt.
7.1.2 Fachbereich Geschichte Auch für die Geschichtsdidaktik stellt die Verschiedenheit der SuS eine Herausforderung dar. Daher sind für den Fachbereich vor allem Erkenntnisse in der Dimension „Differenzierungsaspekte“ von Bedeutung und die Geschichtsdidaktik
7.1 Gesellschaftswissenschaftliche Fachbereiche
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konnte bereits erste Erkenntnisse zum Einfluss der Aspekte Herkunft, Geschlecht und Alter auf den Lernprozess erlangen. Die Herkunft bzw. Migrationshintergrund der SuS stellen für das historische Lernen einen relativ komplexen Aspekt dar. Dies liegt daran, dass der kollektive gesellschaftlich vorhandene Migrationshintergrund im Sinne einer „Fragmentierung bzw. Pluralisierung der Erinnerung in der Einwanderungsgesellschaft im Zuge von Migration und Globalisierung für das historische Lernen im Geschichtsunterricht [eine] hohe Relevanz [besitzt]“ (Bühl-Gramer 2011, S. 192). Zudem ist der Migrationshintergrund selbst eine sehr heterogene Kategorie, weil die Personen, die sich dahinter verbergen, ihre Heimat aus den unterschiedlichsten Gründen und mit verschiedenen Erwartungen und Hoffnungen hinsichtlich der aufnehmenden Gesellschaft verlassen haben (Borries 2008, S. 36). Auch für die Differenzlinie „Geschlecht“ sind Unterschiede im Geschichtsbewusstsein und historischem Denken erkennbar. Diese lassen sich vor allem auf unterschiedliche Sozialisationserfahrungen zurückführen, auf deren Basis unterschiedliche Präkonzepte und Erkenntnisinteressen entstehen, die sich wiederum auf das Geschichtsbewusstsein auswirken (Barricelli 2004, S. 103). Ein weiterer wichtiger Aspekt in diesem Zusammenhang ist das „Vorwissen“, das im Fach Geschichte durch eine Vielzahl von medialen Möglichkeiten erzeugt werden kann. Hierzu zählen vor allem Medien, wie zum Beispiel Spielfilme, Dokumentationen, Comics, Kinderbücher aber auch Computerspiele, die von Jugendlichen in der Freizeit häufig genutzt werden. Aber auch durch real erlebbare Situationen, wie Ritterspiele oder mittelalterliche Märkte kann das Geschichtsbewusstsein von Jugendlichen nachhaltig geprägt werden (Bühl-Gramer 2011, S. 193). Es sollte jedoch angemerkt werden, dass dieses Geschichtsbewusstsein nie durch Primärerfahrungen gebildet wird, sondern immer eine Form der Rekonstruktion darstellt (Adamski 2017, S. 28). So konnte in englischen Studien gezeigt werden, dass sich Vorwissen bzw. der Lernstand von SuS auch innerhalb eines Altersbereichs sehr stark unterscheiden kann, ebenso wie das Lerntempo. Daher kommen Lee und Asby (2000) zu der Auffassung, dass die Differenzlinie „Alter“ im Geschichtsunterricht eine eher untergeordnete Rolle spielt, was sich auch im Bereich der Schülervorstellungen zeigt (Lee und Ashby 2000, S. 212). Im Gegensatz zu den Ergebnissen im Bereich der Differenzierungsaspekte sind die Erkenntnisse bezüglich geeigneter Differenzierungsformen bisher eher schwach ausgeprägt. Während im Jahre 2011 Autoren noch darauf verwiesen, dass der Methodenwechsel inzwischen im täglichen Geschichtsunterricht angekommen sei, galt für die Differenzierungsthematik das Gegenteil.
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7 Differenzierungskonzepte in verschiedenen Fachbereichen „Auch in der geschichtsdidaktischen Forschung ist Differenzierung noch kein zentrales Thema und rückt langsam in den Fokus der fachdidaktischen Diskussion.“ (Bühl-Gramer 2011, S. 194)
Wie aus den genannten Beiträgen ersichtlich wird, steht die Thematik inzwischen im Fachbereich Geschichte durchaus im Fokus und wird kontinuierlich bearbeitet. So werden inzwischen auch potenzielle Möglichkeiten für einen differenzierten Geschichtsunterricht in einem aufgabenzentrierten, offen gestalteten Unterricht gesehen. Für die Umsetzung wird dabei auf methodische Möglichkeiten, wie zum Beispiel das Stationenlernen, die Planarbeit oder das Gruppenpuzzle, verwiesen (Günther-Arndt 2012). Die Literatur zu binnendifferenziertem Geschichtsunterricht lässt zudem erkennen, dass die Geschichtsdidaktik nicht auf eine starke Fragmentierung der Unterrichtsabläufe setzt, sondern vielmehr auf eine Binnendifferenzierung im Sinne eines gelenkten freien Arbeitens. Das bedeutet, dass die SuS zwar möglichst selbstständig Geschichte erlernen sollen, aber dies durch eine klar vorgegebene Rahmenstruktur gesteuert wird, wie zum Beispiel einer Gruppenarbeit. Diese Methode ist beispielsweise durch die Lehrkraft gut kontrollierbar, was auch für die Sicherung der Ergebnisse wichtig ist. Dennoch wird den SuS gleichzeitig ein ausreichender Freiraum geboten, um unterschiedliche Themen auf unterschiedlichen Niveaustufen, mit selbst gewählten Medien, in einem unterschiedlichen Tempo und einer unterschiedlichen Sozialform bearbeiten zu können (Adamski 2017, S. 37). Im Rahmen einer solchen strukturierten Differenzierung verweist auch die geschichtsdidaktische Literatur auf die Verwendung von differenzierten Aufgaben. Ebenfalls wird eine Differenzierung über den zeitlichen Umfang und über den Grad an Autonomie bei der Bearbeitung angesprochen (Adamski 2017, 45 ff.). Differenzierte Zugänge können aber auch durch unterschiedliche Materialien generiert werden. Als wesentliche Grundlage für den Geschichtsunterricht galt früher das Arbeiten mit Quellen, was jedoch in der neueren Geschichtsdidaktik durch eine breite Auswahl an verschiedenen Medien, wie zum Beispiel Schaubildern, Statistiken, Bildern, Texten etc., im Sinne einer Materialdifferenzierung erweitert wurde. „Ein Geschichtsunterricht aus dem Blickwinkel der Materialdifferenzierung stellt die Frage, wie es gelingen kann, angesichts von Vielfalt, Komplexitätsgrad, Zugängen oder Motivation ertragreiches historisches Lernen zu ermöglichen, bzw. welche Hürden dabei abgebaut werden müssen.“ (Adamski 2017, 80 ff.)
7.1 Gesellschaftswissenschaftliche Fachbereiche
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Eine Hürde bei einem materialdifferenzierten Geschichtsunterricht besteht jedoch darin, dass schwächere SuS trotz unterschiedlicher Materialien häufig unterschiedlich ausgeprägte Hilfestellungen benötigen. Dieser Anforderung versucht die Geschichtsdidaktik u. a. durch das Konzept einer Starthilfe zu Beginn einer Aufgabe und weiteren gestuften Hilfen, während des Arbeitsprozesses, gerecht zu werden.
7.1.3 Fachbereich Politik Der Fachbereich Politik betont im Umgang mit Heterogenität vor allem zwei Ansatzpunkte. Einer dieser Punkte bezieht sich auf das Anerkennen und Einbeziehen von Unterschieden in konkreten Unterrichtssituationen. Die dafür vorgesehenen Konzepte sind quasi identisch zu anderen Fachbereichen: „Subjekt-, Adressaten-, Schülerorientierung, Anknüpfen an Interessen, Lebenswelten und Erfahrungen.“ (Achour 2015, S. 5)
Versucht man diese Konzepte in konkrete Differenzierungsmöglichkeiten auf der Unterrichtsebene zu überführen, so ergibt sich eine Vielzahl von Möglichkeiten. Diese sind über die Ebene der Ziele, der Inhalte, der Methoden, der Medien oder anhand von verschiedenen Sozialformen nutzbar. Diese vielzähligen Möglichkeiten können dabei im Politikunterricht, aber auch in anderen sozialwissenschaftlichen Fächern, angewendet werden (Füchter 2015, 46 ff.). Ebenso betont Achour (2015), dass es der Politikdidaktik im Umgang mit heterogenen SuS nicht um eine Defizitorientierung geht, sondern alle SuS im Sinne eines lernenden Subjekts aktiv in die Unterrichtsgestaltung einbezogen werden sollen. Dies könnte zum Beispiel durch die Auswahl von Themen ermöglicht werden (Achour 2015, 5 f.). Auch im Fachbereich Politik wurden in den letzten Jahren Schülervorstellungen zu unterschiedlichen Phänomenen erforscht, um daraus Erkenntnisse für den Unterricht und den Umgang mit heterogenen SuS ableiten zu können. Derartige Untersuchungen wurden zu vielen relevanten politischen Fachkonzepten durchgeführt. Zum Beispiel zum Demokratieverständnis (Heidemeyer und Lange 2010), zur Integration im Bürgerbewusstsein von SuS (Lutter 2011), zur Vorstellung von Mitbestimmung in einer multikulturellen Gesellschaft (Stöter 2011), zum Konzept der sozialen Gerechtigkeit (Lenk 2011), zu Konfliktvorstellungen (Görs 2011) oder zu Denkweisen des Rechtsextremismus (Fischer 2011). Dabei betreffen einige dieser Untersuchungen auch die Schnittstelle zur
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7 Differenzierungskonzepte in verschiedenen Fachbereichen
ökonomischen Bildung. Hierbei handelt es sich vor allem um klassische wirtschaftspolitische Themenfelder, wie zum Beispiel Untersuchungen zu Arbeitsmarktvorstellungen von SuS (Böhmer und Cebulla 2011). Parallelen zum Fach Wirtschaft sind zudem durch den Themenbereich der Sozialen Marktwirtschaft gegeben, den die Politikdidaktik ebenfalls als ein wichtiges Lernfeld beschreibt (Haarmann 2011). Der zweite Ansatzpunkt stellt hingegen eine domänenspezifische Besonderheit dar. Dieser setzt dabei nicht die SuS in den Mittelpunkt des Lernprozesses, sondern das eigentliche Ziel des Unterrichts: eine heterogene, demokratische Gesellschaft. Da diese real existiert und durch einen hohen Grad an Pluralismus geprägt ist, muss es ein zentrales Ziel des Politikunterrichts sein, die SuS auf diese Pluralität in Verbindung mit demokratischen Werten einer Demokratie vorzubereiten. Zu diesen demokratischen Werten gehören unter anderem Aspekte wie Meinungs- oder Interessenvielfalt, das Anerkennen unterschiedlicher Lebensstile, Empathie und die für politische Diskussion zwingend notwendige Fähigkeit, andere Perspektiven übernehmen oder zumindest nachvollziehen zu können (Achour 2015, S. 5). Die Politikdidaktik thematisiert vor dem Hintergrund dieser anspruchsvollen Lernziele auch die besondere Bedeutung einer entsprechenden Sprachkompetenz. Es wird davon ausgegangen, dass unterschiedliche Fachbereiche verschiedene Anforderungen an die Sprachkompetenz der SuS stellen, die nicht allein im Fach Deutsch vermittelt werden können. Politische Inhalte werden jedoch fast ausschließlich über die Sprache vermittelt und auch politische Diskussionen und Bewertungen setzen eine fachliche Sprachkompetenz zur Bewältigung entsprechender Lernsituationen voraus. „Politische Handlungskompetenz ist in einem großen Rahmen kommunikative Kompetenz: argumentieren, diskutieren, Entscheidungen verhandeln. Die Methodenkompetenz als Ganzes erfordert eine hohe Sprachkompetenz: Karikaturen interpretieren, Quellen auswerten und interpretieren, Schaubilder und Grafiken beschreiben, Umfragen durchführen, Podiumsdiskussionen führen, Lernprodukte gestalten, etc.“ (Sieberkrob und Achour 2015, S. 21)
Daraus leiten sich auch für den Politikunterricht sprachliche Herausforderungen ab, denn auch dieser ist von der Problematik betroffen, dass Kinder mit Migrationshintergrund oder aus anderen benachteiligten sozialen Schichten, die entsprechenden Sprachkenntnisse nicht selbstverständlich mit in den Unterricht bringen (Oleschko 2014, S. 137). Für das Fach Politik ergibt sich daraus, dass einerseits die sprachlichen Anforderungen an den Politikunterricht expliziert, und gleichzeitig Konzepte für
7.2 Naturwissenschaftlicher Fachbereich (Mathematik)
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einen sprachbildenden Politikunterricht entwickelt werden müssen. Konkret könnte man darunter beispielsweise Lesestrategien oder den gezielten Aufbau eines fachspezifischen Wortschatzes verstehen (Sieberkrob und Achour 2015, S. 19).
7.2 Naturwissenschaftlicher Fachbereich (Mathematik) Auch der Fachbereich Mathematik verfügt über Erkenntnisse in den bisher beschriebenen Bereichen. So wurden bereits Schülervorstellungen zu den unterschiedlichsten mathematischen Phänomenen erhoben, wie zum Beispiel zu „unendlichen Prozessen“ (Marx 2006). Ebenfalls sind Forschungsergebnisse zur Heterogenität und Variabilität von Schülerinteressen mit Bezug zu mathematischen Inhalten vorhanden (Keller et al. 2015). Das in der Literatur dargestellte Methodenspektrum ist dabei überraschenderweise genau so ausgeprägt, wie in den betrachteten gesellschaftswissenschaftlichen Fachbereichen. So bezieht sich auch die Mathematikdidaktik auf weitverbreitete Methoden, wie zum Beispiel die Projektarbeit, die Gruppenarbeit, das Lerntagebuch oder das Stationenlernen etc. Sie werden aber auch durch unbekanntere fachspezifische Methoden, wie zum Beispiel das „Mathepanini“ ergänzt (Barzel et al. 2018). Die unterschiedlichen Methoden werden dabei unter dem Aspekt der Methodenvielfalt vorgestellt und werden nicht explizit auf ihre Eignung in differenzierten Unterrichtssettings getestet. Anhand von Erfahrungen aus Lehrerfortbildungen folgerten Bruder und Reibold im Jahr 2011, dass real so gut wie keine innere Differenzierung im Mathematikunterricht stattfindet. Eine Ursache hierfür sahen sie darin, dass „alle Methoden und Strategien der Binnendifferenzierung einen gewissen Mehraufwand in der Unterrichtsplanung bzw. Materialbereitstellung erfordern. Dies ist selbst für sehr engagierte Lehrer nicht beliebig leistbar“ (Bruder und Reibold 2011, S. 120). Dieser Aspekt dürfte so wahrscheinlich für alle Fachbereiche zutreffen und deckt sich zudem mit Erfahrungen aus den 1970er Jahren, wodurch es sich sehr wahrscheinlich um ein fächerübergreifendes Problem zu handeln scheint. Da die Mathematik im Fächerkanon eine starke Position vertritt, ist der Fachbereich auch bei groß angelegten Leistungsvergleichsstudien wie PISA, TIMMS oder dem IQB-Ländervergleich vertreten (Leuders und Prediger 2016, S. 36). Gerade auch mithilfe derartiger Studien konnte die Mathematikdidaktik bereits eine Vielzahl an Erkenntnissen hinsichtlich der Leistungsunterschiede innerhalb verschiedener Lerngruppen gewinnen. Neben den Leistungsunterschieden in verschiedenen Schulformen zeigt sich auch eine deutliche Leistungsstreuung
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7 Differenzierungskonzepte in verschiedenen Fachbereichen
innerhalb der Klassen unterschiedlicher Schularten (Lehman 2010, S. 62). Eine zu große Leistungsstreuung innerhalb einer Klasse kann jedoch die Grenzen einer sinnvollen externen Differenzierung aufzeigen und stellt die Lehrkräfte vor große didaktische Herausforderungen. Um diesen Herausforderungen aktiv begegnen zu können, verfügt der Fachbereich Mathematik im Vergleich zu anderen Fachbereichen bereits über ein detailliertes Wissen zur Qualität von Aufgaben, das für eine gezielte Differenzierung genutzt werden kann. Jedoch liegen ebenso empirische Erkenntnisse vor, wonach das Potenzial von differenzierenden Aufgaben durch die Lehrkräfte häufig nicht ausgeschöpft wird, weil diese den SuS zu schnell Hilfestellungen anbieten (Stein et al. 2016, 460 ff). Ein Qualitätsmerkmal von derartigen Aufgaben wird dabei im Differenzierungspotenzial gesehen, welches sich aus den individuellen Möglichkeiten ergibt, wie eine Aufgabe bearbeitet werden kann (Büchter und Leuders 2016). Dieses Potenzial sollte aber dahingehend ausgeschöpft werden, dass sich die SuS möglichst aktiv mit den Lerninhalten auseinandersetzen und das auf einem Schwierigkeitsniveau, das weder zu leicht noch zu schwer ist. In diesem Zusammenhang wird auch von einer „kognitiven Aktivierung“ gesprochen. Für den Fachbereich Mathematik ist eine kognitive Aktivierung dann gegeben, wenn Lernende dabei unterstützt werden, „geeignete Vorstellungen (mentale Modelle aufzubauen“ und dabei implizite Vorstellungen an passender Stelle zu explizieren und umzustrukturieren. Solche Unterstützung kann im Angebot situationeller oder ikonischer Repräsentationen für die aufzubauenden Vorstellungen bestehen oder darin, dass bestehende Vorstellungen explizit aufgegriffen und reflektiert werden.“ und „Lernende werden beim Aufbau prozessbezogener Kompetenzen unterstützt […].“ (Leuders und Föckler 2016, S. 215)
Bei Untersuchungen zur Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg – WissGem – (Bohl und Wacker 2016) wurde die praktische Umsetzung der politischen Zielsetzung in unterschiedlichen Bereichen untersucht, wodurch auch der Fachbereich Mathematik Erkenntnisse zum Umgang mit unterschiedlichen Aufgabenformaten gewinnen konnte. So zeigten die verwendeten Aufgabenstellungen im Fach Mathematik, dass bei der Mehrzahl der untersuchten Schulen eine eindeutige Tendenz zu eher geschlossenen bzw. technischen Aufgaben gegeben ist. Das Potenzial einer kognitiven Aktivierung ist bei derartigen Aufgaben jedoch eher gering, da diese Aufgabentypen auf kleinschrittige Lösungswege setzen. Auch verwendeten die Schulen Aufgabensammlungen, die bis auf wenige Ausnahmen auf einer sehr oberflächlichen Differenzierungsebene ansetzen und häufig nur
7.3 Fachbereich Wirtschaft
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über die Aspekte „Zeit“ oder „Schwierigkeit“ differenzieren (Leuders und Föckler 2016, 125 f.). In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wie es gelingen kann, dass bei einer Verwendung von kognitiv aktivierenden Aufgaben auch schwache SuS damit arbeiten können, ohne überfordert oder frustriert zu werden (Stäudel et al. 2007, S. 238). Neben vielfältigen Erkenntnissen zur Qualität von Aufgaben und deren Anwendungsmöglichkeiten in differenzierenden Unterrichtssettings verfügt der Fachbereich Mathematik mit dem ZAFE-Modell, im Vergleich zu den anderen betrachteten Fächern, bereits über einen systematischen übergeordneten Orientierungsrahmen zur Planung von binnendifferenziertem Unterricht.
7.3 Fachbereich Wirtschaft Analog zu den betrachteten gesellschaftswissenschaftlichen Fachbereichen ist auch für den Fachbereich Wirtschaft eine sehr ähnliche Entwicklung im Umgang Heterogenität erkennbar. War im Jahre 2011 der Heterogenitätsdiskurs aus wirtschaftsdidaktischer Perspektive noch weitgehend „unterbelichtet“ (Bank et al. 2011, S. 3), so zeigt sich bis zum Jahr 2019 durchaus ein Zuwachs an entsprechenden Beiträgen. Durch die Übersichtstabelle zu Beginn des Kapitels wird deutlich, dass viele der genannten Fachbereiche im Umgang mit Heterogenität auf die Erforschung ähnlicher Themengebiete oder Konzepte setzen. Warum sich gerade für diese Bereiche eine Art fächerübergreifender Forschungstrends herausgebildet haben, bleibt hingegen unklar. Einer dieser Forschungstrends betrifft die Untersuchung von Schülervorstellungen, die in allen genannten Fachbereichen sehr gut dokumentiert sind. Auch für das Fach Wirtschaft stellen Schülervorstellungen einen wichtigen Ausgangspunkt zur Gestaltung von kognitiv aktivierenden Lernsituationen dar (Kirchner 2015, 105 ff.) und wurden bisher für die unterschiedlichsten Themengebiete untersucht. Hierzu zählen zum Beispiel der Stromhandel (Friebel et al. 2016), Lohnunterschiede (Birke, Franziska und Seeber, Günther 2012) oder die Lohn- und Preisbildung (Birke und Seeber 2011b). Wie bereits bei den Ausführungen zum Fach Politik dargestellt wurde, gibt es durchaus inhaltliche Überschneidungen zwischen den beiden Fachbereichen, die häufig in wirtschaftspolitischen oder ordnungspolitischen Themenfeldern liegen. So untersuchten zum Beispiel Birke, Kaiser und Lutter Schülerkonzepte zu ordnungspolitischen Phänomenen. Konkret ging es dabei um die Frage, wie es SuS beurteilen, wenn der Staat in den Marktmechanismus
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7 Differenzierungskonzepte in verschiedenen Fachbereichen
eingreift, um U nternehmenspleiten zu verhindern (Birke et al. 2015, S. 96). Phänomenografische Studien zu ökonomischen oder ordnungspolitischen Fachkonzepten sind dabei nicht nur auf deutsche Beiträge beschränkt. So liegen zu den genannten Forschungsbereichen auch Untersuchungen aus dem englischsprachigen Raum vor: zu ordnungspolitischen Einstellungen beispielsweise von Ignell et al. 2017) oder Preisen/Preisbildung, zum Beispiel von Collett-Schmitt et al. (2015). Die vorgestellten Ansätze, wie zum Beispiel die Erforschung von Schülervorstellungen, werden in der wirtschaftsdidaktischen Literatur im Differenzierungskontext meist in Verbindung mit der Zielsetzung angeführt, dass Lernsituationen den verschiedenen SuS einen maximalen Grad an kognitiver Aktivierung bieten sollten. Ebenso finden sich in der wirtschaftsdidaktischen Literatur zahlreiche methodische und mediale Möglichkeiten, um unterschiedliche Zugänge zu entsprechenden Inhalten gestalten zu können. Diese werden auch im Folgenden näher erläutert. Bezieht man diese Möglichkeiten auf die ZAFE-Dimension „Differenzierungsziel“, so spricht dies dafür, dass die in der Literatur dargestellten Differenzierungsmöglichkeiten überwiegend dem Differenzierungsziel „Vielfalt zulassen/einbeziehen“ entsprechen. Strukturierte Förderkonzepte für schwächere SuS, wie sie zum Beispiel dem Fachbereich Mathematik zur Verfügung stehen und auf das Ziel „Vielfalt ausgleichen“ ausgerichtet sind, existieren für das Fach Wirtschaft, wenn überhaupt, nur rudimentär. Der Einfluss unterschiedlicher Heterogenitätsaspekte auf die Leistung im Fach Wirtschaft Im Fach Wirtschaft ebenfalls gut erforscht ist der Einfluss verschiedener Differenzlinien auf den Lernerfolg. So zeigen bisherige Forschungsergebnisse, dass sich zwischen dem Aspekt „Herkunft“ im Sinne eines sozioökonomischen Status und der Leistung, für das Fach Wirtschaft ein klarer empirischer Zusammenhang nachweisen lässt (Seeber und Remmele 2009, S. 31). Dieser Zusammenhang kann sich zum Beispiel dadurch ausdrücken, dass Kinder durch das Elternhaus hinsichtlich ihres Fachwortschatzes geprägt werden. So zeigte sich, dass Kinder aus der Mittelschicht stärker durch Bankenvokabular geprägt sind als Kinder aus Arbeiterfamilien (Roland-Lévy 2002). Ebenso konnte schon länger aufgezeigt werden, dass der sozioökonomische Hintergrund die Einstellungen von Jugendlichen zu bestimmten Sachverhalten, wie zum Beispiel dem Sparverhalten oder sogar ihr Handeln in ökonomischen Situationen beeinflussen kann (Lea et al. 1987). Ob und wie sich diese Aspekte durch ökonomische Kompetenztests belegen lassen, steht ebenfalls im Forschungsfokus des Fachbereichs. Dabei hat die Entwicklung von Tests zur Messung von ökonomischen
7.3 Fachbereich Wirtschaft
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Kompetenzen eine längere Tradition. So wurde bereits 1998 mit dem deutschen WBT (Wirtschaftskundlicher Bildungstest3) ein Anlauf genommen, um das ökonomische Wissen von SuS zu testen. Die inhaltlichen Schwerpunkte lagen dabei auf ökonomischem Grundlagenwissen, wie zum Beispiel dem Verständnis für ökonomische Sachverhalte, auf Grundlagen der Mikro- und Makroökonomie sowie im Bereich internationaler Beziehungen (Dubs et al. 1998). Aber auch in den USA wird das ökonomische Wissen von High-School-Schülern regelmäßig durch unterschiedliche standardisierte Tests überprüft. Aus dieser Testreihe wurde vor allem der „Test of Economic Literacy“ (TEL) international bekannt. Beide Tests setzen dabei auf die Verwendung von M ultiple-Choice-Aufgaben, ohne die entsprechend große Stichproben nur schwer realisiert werden könnten. Versucht man mit Blick auf den Differenzierungsaspekt „Herkunft“ eine klare Verbindung zwischen dem sozioökonomischen Hintergrund und der Leistung im Sinne guter Testergebnisse, aufzuzeigen, so sind die Ergebnisse verschiedener Studien uneinheitlich und ergeben kein klares Bild (Birke und Seeber 2011a, S. 57). Anders ist es hingegen beim Aspekt „Geschlecht“. Empirische Erkenntnisse zeigen einen klaren Zusammenhang zwischen dem Ergebnis in wirtschaftlichen Leistungstests (z. B. WTB/TEL) und dem Geschlecht. Weibliche Testpersonen schnitten dabei regelmäßig schlechter ab als männliche, was analog für unterschiedliche Länder aufgezeigt werden konnte (Birke und Seeber 2011a, S. 57). Worauf das schlechtere Abschneiden von Mädchen bei derartigen Leistungstests zurückgeführt werden kann, ist jedoch nicht einfach zu beantworten. Ein Erklärungsansatz besteht darin, dass sich die Vorgehensweise von Jungen und Mädchen bei der Beantwortung derartiger Tests grundlegend unterscheidet. So zeigen Davies et al. (2005), dass Jungen im Gegensatz zu Mädchen bei ihrem Antwortverhalten kühner und mit mehr Selbstvertrauen vorgehen, indem sie häufiger fachliche Antwortalternativen wählen und auf die neutrale Alternative „ich weiß es nicht“ verzichten, sofern diese zur Auswahl steht. Mädchen wählen diese hingegen deutlich häufiger als Jungen, wenn es um Verständnisfragen geht. Dieses kühne Vorgehen von Jungen kann sich im Testergebnis positiv auswirken und sorgt für eine genderspezifische Diskrepanz in den Testergebnissen. Beziehen sich die Testfragen hingegen eher auf deklaratives Wissen und fehlt die „ich weiß es nicht“ – Antwortalternative, fallen die Unterschiede hingegen deutlich geringer aus.
3Dieser
system.
entspricht einer Adaption des amerikanischen TEL-Tests an das deutsche Bildungs-
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7 Differenzierungskonzepte in verschiedenen Fachbereichen
„Females were more likely to opt for the indefinite option in questions on understanding but not on questions on declarative knowledge or personal expectations. Males were more likely than females to select a correct option and more likely to select an incorrect option. Males were bolder in their replies than females to these specific questions, a result that complements the findings of boldness in more general academic writing. We found few gender differences when questions requested declarative knowledge and all options were definite, but consistent gender differences when questions sought understanding and an indefinite option was offered.“ (Davies et al. 2005, S. 43)
Andere Autoren sehen hingegen im Antworttypus oder den geforderten mathematischen Fähigkeiten keine hinreichende Erklärung für die Unterschiede (Hirschfeld et al. 1995, S. 15). Stattdessen wird der Unterschied darin gesehen, dass vielmehr geschlechterspezifische Unterschiede hinsichtlich der Einstellung zu ökonomischen Sachverhalten eine Erklärung liefern könnten. Während Jungen eine eher positive Grundeinstellung zu ökonomischen Sachverhalten haben, zeigte sich bei Abiturientinnen eher ein klares Desinteresse bis hin zu Aversionen gegenüber wirtschaftlichen Themen (Würth et al. 2001, S. 138). Der ECOS-Test (Economic Cometencies Study) ist ebenfalls ein Test zur Messung von ökonomischen Kompetenzen (economic literacy), der seit 2009 erhoben wird (Macha und Schuhen 2013). Durch ECOS sollen ökonomische Kompetenzen nicht wie in etablierten Tests (z. B. WTB/TEL) üblich, curriculumbasiert getestet werden, sondern auf Grundlage von ökonomischen Alltagssituationen. Den Ausgangspunkt hierfür bildete das „Siegener Kompetenzmodell zur ökonomischen Kompetenz“ (Macha und Schuhen 2011, S. 37). Die Ergebnisse zeigten, dass sich ein einseitiger Gendereffekt, wie er bei den anderen Testverfahren auftrat, durch den ECOS-Test nicht nachweisen ließ. Im Gegenteil, in allen vier Fragedimensionen schnitten Mädchen besser ab als Jungen (Macha und Schuhen 2013, S. 147). Ein Grund hierfür könnte in der Abkehr von den üblichen Multiple-Choice-Fragen und der Verwendung variablerer Aufgabenformate gesehen werden. Ebenfalls sehen die Autoren der Studie durch die angestrebte Lebensweltorientierung in den Testfragen einen weiteren wesentlichen Unterschied zu TEL und WTB (Macha und Schuhen 2013, S. 149). Die in ECOS verwendeten Testfragen werden von anderer Seite jedoch auch skeptisch betrachtet, da auch die Möglichkeit bestehen könnte, dass die Fragen männliche Testteilnehmer benachteiligen, was eine Erklärung für die abweichenden Ergebnisse sein könnte. Jedoch wurden die Fragen diesbezüglich bisher nicht getestet (Seeber et al. 2018, S. 53). Die aktuellste deutsche Studie zur Messung von ökonomischen Kompetenzen ist die WIKOBW-Studie (Seeber et al. 2018). Im Jahr 2016 wurden in einer
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Erhebungsrunde die ökonomischen Kompetenzen von 2333 SuS der Klassenstufen 9–11 an allgemeinbildenden Schulen in Baden-Württemberg getestet. Eine Langzeiterhebung für die Klassenstufen 7–10 findet aktuell im Zeitraum zwischen 2017–2021 statt. Die Ergebnisse der ersten Erhebungsrunde wurden vor dem Hintergrund der Schulart, der Klassenstufe, des Alters, der soziodemografischen und sozioökonomischen Merkmale, sowie dem Erfahrungshintergrund und der Einstellung zu ökonomischen Sachverhalten ausgewertet. Auch die WIKOBW-Studie konnte mit Blick auf das Geschlecht einen „Gender Gap“ bestätigen. Mädchen schnitten im Durchschnitt um 25 Punkte schlechter ab als Jungen (Seeber et al. 2018, S. 121). Dieses Ergebnis war so nicht vorhersehbar, da neben Multiple-Choice-Aufgaben auch gezielt halb offene und offene Frageitems eingesetzt wurden und mittels einer DIF-Analyse diskriminierende Frageitems aus der Analyse ausgeschlossen wurden (Seeber et al. 2018, S. 55). Somit konnte die WIKOBW-Studie den bekannten „Gender Gap“ trotz einer sensiblen Aufgabengestaltung bestätigen. Dieser zeichnete sich vor allem dadurch aus, dass Jungen deutlich häufiger in den höheren Kompetenzstufen vertreten waren als Mädchen. In den niederen Kompetenzstufen wurden hingegen keine nennenswerten Unterschiede gefunden (Seeber et al. 2018, S. 122). Ein ähnlicher Effekt konnte zudem für den Aspekt „Migrationshintergrund“ festgestellt werden, über den rund 30 % der befragten SuS verfügten. Über alle Schularten hinweg zeigte sich, dass SuS signifikant schlechter abschnitten, sofern mindestens ein Elternteil im Ausland geboren wurde. Erwartungsgemäß erreichten SuS mit Deutsch als Muttersprache die höchsten Anteile in den oberen Kompetenzstufen, gefolgt von SuS die bilingual aufwuchsen. Am schwächsten schnitten SuS ab, bei denen im Elternhaus kein Deutsch gesprochen wird (Seeber et al. 2018, 123 f.). Neben derartigen Kompetenztests existieren im Bereich der ökonomischen Bildung auch Forschungen zur Frage, wie SuS durch die Berücksichtigung von Genderaspekten im Bereich der beruflichen Bildung profitieren können. Dabei soll es jedoch nicht die Zielsetzung sein, beispielsweise geschlechterspezifische Arbeitsblätter zu konzipieren. Vielmehr geht es um eine „Sensibilisierung für die Rekonstruktionsprozesse von Geschlechterverhältnissen im Rahmen der Berufsbildung, welche auch Einfluss auf den Arbeitsmarkt und damit zukünftige Beschäftigungsverhältnisse nach der Ausbildung haben“ (Ebbers 2012, S. 418). Für die konkrete Lehr-Lernsituation bedeutet dies, die SuS damit zu konfrontieren, dass der Arbeitsmarkt gewisse geschlechterbedingte Ungleichheiten beinhaltet und sich die SuS folglich mit derartigen genderspezifischen Berufsfragen auseinandersetzen. Hierdurch wird beabsichtigt, dass SuS diese Muster schon vor der eigentlichen Berufswahl erkennen können und so eine
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entsprechende Handlungskompetenz, im Sinne einer Entscheidungskompetenz, erlangen. Eventuell könnte dadurch ein Beitrag geleistet werden, um den etablierten Strukturen im personenbezogenen Dienstleistungsbereich entgegenzuwirken, der aktuell einen Frauenanteil von rund 80 % aufweist. Vor allem auch, weil diese Berufe meist mit einer geringen Wertschätzung und einem geringen Einkommen einhergehen, wären diese Effekte wünschenswert (Ebbers 2012, 420 ff.). Zur Frage, ob und wie stark das Fach Wirtschaft im Vergleich zu den bereits genannten Fächern von sprachlichen Defiziten der SuS betroffen ist, finden sich in der Literatur so gut wie keine eindeutigen domänenspezifischen Beiträge. Auch ist das Fach Wirtschaft in Sammelbänden zu sprachsensiblem Unterricht, wie zum Beispiel von Michalak (2014a), bisher nicht vertreten. Jedoch tauchen wirtschaftliche Bezüge in Beiträgen auf, die sprachsensiblen Unterricht aus einer eher allgemeineren Perspektive betrachten. So beziehen sich Emmermann und Fastenrath (2018) durchaus auch auf wirtschaftliche Themen, wie zum Beispiel das Schreiben eines Angebots oder das Telefonat mit einem Lieferanten (Emmermann und Fastenrath 2018, 91 ff.). Ebenfalls konnten für das Fach Wirtschaft keine signifikanten Forschungsergebnisse zum Differenzierungsaspekt Schülerinteresse aufgefunden werden, wie diese zum Beispiel im Fachbereich Geographie oder im naturwissenschaftlichen Bereich vorhanden sind. Ein Grund hierfür könnte darin liegen, dass der naturwissenschaftliche Bereich deutlich stärker mit Nachwuchsproblemen zu kämpfen hat und sich dementsprechend mit dieser Thematik stärker auseinandersetzen muss um die SuS ansprechen zu können (Macha und Schuhen 2013, S. 141). Methoden, Medien und Aufgaben. Verschiedene Aspekte der Differenzierungsebene Die Dimension „Differenzierungsebene“ kann ebenfalls als ein Bereich angesehen werden, in dem die Literaturlage zwischenzeitlich deutlich besser ausgeprägt ist und relativ viele Beiträge im Bereich der methodischen Zugänge, der Medien und der Aufgabengestaltungen existieren. Eine übersichtliche Darstellung zu verschiedenen Medien, die für den Wirtschaftsunterricht geeignet sind, findet sich bei (Arndt 2017). Anhand dieser medialen Möglichkeiten in Kombination mit entsprechenden Methoden, kann auch im Fach Wirtschaft eine Vielzahl an unterschiedlichen Lernzugängen generieren werden. In der vorhandenen Literatur werden die medialen und methodischen Möglichkeiten jedoch eher unter dem Anspruch der methodischen
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Vielfalt dargestellt, weshalb diese häufig nicht auf ihre Eignung für eine Differenzierung überprüft und kategorisiert werden4 , wie dies zum Beispiel von Helmke gefordert wurde (Helmke 2006, S. 45). Bank, Ebbers und Fischer weisen hingegen darauf hin, dass es im Sinn einer lerntheoretischen Didaktik auch für die Wirtschaftsdidaktik schon immer das Ziel war, Unterricht vielseitig und abwechslungsreich zu konzipieren, um auch innerhalb von extern differenzierten Lerngruppen der Unterschiedlichkeit der SuS gerecht werden zu können (Bank et al. 2011, S. 10). Dieses Methodenrepertoire lässt einerseits eine starke Ähnlichkeit zum Fachbereich Politik erkennen, umfasst aber andererseits auch fachspezifische methodische Besonderheiten. Ein Überblick hierzu findet sich bei Arndt (2019) oder Retzmann (2011). Dass sich derartige Makromethoden durchaus für eine Differenzierung eignen können, wird in einem Beitrag von Arndt und Wierer dargestellt (Arndt und Wierer 2011, 211 ff.). Dabei skizzieren sie diese sieben sogenannten Makromethoden mit einem kurzen Bezug, warum diese für eine Differenzierung geeignet sind. Die Erläuterungen argumentieren in eine ähnliche Richtung. „Viele dieser aufgeführten Methoden erlauben einen weitgehend selbstständigen Lernprozess, sodass die Lehrkraft einzelne Schülergruppen bei Bedarf stärker unterstützen kann. Außerdem findet sich häufig die Sozialform der Gruppenarbeit, innerhalb derer die Schüler entsprechend ihren Interessen und Lernvoraussetzungen arbeitsteilig vorgehen können.“ (Arndt und Wierer 2011, S. 6)
Welche Medien für einen differenzierten Wirtschaftsunterricht geeignet sind, wird in der Literatur jedoch relativ unscharf und auf einer allgemeinen Ebene diskutiert, wie zum Beispiel die Darstellung, dass man mit digitalen Medien besser differenzieren oder individualisieren kann und diese generell geeignet seien, um Lernprozesse zu unterstützen (Arndt und Wierer 2011, S. 209). Obwohl unterschiedliche Methoden und Medien in der ökonomischen Bildung nur bedingt vor einem Differenzierungskontext diskutiert werden, lassen sich hingegen bei der Suche nach Möglichkeiten für eine optimale kognitive Aktivierung durchaus Parallelen zum Fachbereich Mathematik (Leuders und Föckler 2016) erkennen. So beschreibt zum Beispiel Arndt für die ökonomische Bildung unterschiedliche Möglichkeiten für eine kognitive Aktivierung, die in einem Sammelband zusammengefasst wurden (Arndt 2015). Die Beiträge reichen dabei von einer begrifflichen Klärung, über Schülervorstellungen bis hin zur Darstellung von
4Eine Ausnahme
stellen zum Beispiel Arndt und Wierer (2011) dar.
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domänenspezifischen Makromethoden, wie z. B. einer Schülerfirma oder auch Kinderspielstätten. Trotz der grundlegenden Bedeutsamkeit einer kognitiven Aktivierung für die ökonomische Bildung und andere Fachbereiche, soll in dieser Arbeit der Fokus vor allem auf die Frage gelegt werden, welche der vielen methodischen Möglichkeiten sich in einem differenzierten Wirtschaftsunterricht möglichst leicht anwendbar und gewinnbringend umsetzen lassen. Neben der Auswahl von geeigneten Methoden und Medien kommt bei der Gestaltung eines differenzierten (Wirtschafts-) Unterrichts auch der Konzeption von Aufgaben eine bedeutsame Rolle zu. „Unterricht ohne Aufgaben ist nicht denkbar, sind sie doch die vom Lehrer meist genutzte Lehrmethode.“ (Schabram 2007, S. 8)
Dieses Zitat verdeutlicht die bedeutsame Rolle von Aufgaben für das Fach Wirtschaft und darüber hinaus. Dies liegt daran, dass jegliche Instruktion im Unterricht an eine Aufgabe gekoppelt ist und Unterricht grundlegend darauf abzielt, den SuS das Lösen von unterschiedlichen Aufgaben im Unterricht beizubringen, um sie somit optimal auf das Lösen von Klassenarbeiten oder Abschlussprüfungen vorzubereiten. In dieser unterschiedlichen Zielsetzung sind auch die Begriffe „Lernaufgabe“ und „Leistungsaufgabe“ begründet. Während Lernaufgaben im täglichen Unterricht verwendet werden, sind Leistungsaufgaben vor allem bei Leistungsüberprüfungen üblich. Vor dem Hintergrund einer etablierten Kompetenzorientierung in den Lehrplänen ist die Wirtschaftsdidaktik dadurch herausgefordert, Anforderungssituationen konstruieren zu müssen, die eine Aktivierung und Förderung von fachspezifischen Kompetenzen unterstützen (Weyland und Schuhen 2015, S. 158). Die allgemein wichtige Bedeutung von Aufgaben gilt dabei auch dem Fach Wirtschaft (Arndt 2013a, 193 f.). Im Jahr 2011 fand in Nordrhein-Westfalen eine Untersuchung zur Analyse von Schulbüchern und Abschlussprüfungen im Bereich Wirtschaft statt. Dabei zeigte sich, dass die untersuchten Lehr- und Leistungsaufgaben den Anspruch einer kognitiven Aktivierung kaum erfüllten. So bescheinigten Hofmann et al. den vorhandenen Aufgaben zur sozialen Marktwirtschaft in zwölf eingeführten Schulbüchern ein schlechtes Urteil. Eine Qualitätsanalyse zeigte zudem, dass keines der Bücher auf problemorientierte und kognitiv aktivierende Aufgaben mit einem klaren ökonomischen Fachbezug setzte. Vielmehr orientierten sich die Aufgaben durchgehend an niedrigen Taxonomiestufen und verlangten zum Beispiel die Zusammenfassung eines Textes oder die Reproduktion von Wissen (Hofmann et al. 2011, 33 f.). Ein ähnliches Bild zeigte sich auch im Bereich der Leistungsaufgaben. Hierfür untersuchten Kirchner und Loerwald Abituraufgaben aus neun
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verschiedenen Bundesländern im Zeitraum von 2007–2011. Hierfür wurden im Rahmen einer explorativen Studie alle Aufgaben erfasst, die einen inhaltlichen Bezug zur Ökonomie aufwiesen, auch wenn dieser noch so klein war (Kirchner und Loerwald 2015, S. 71). Durch die Analyse der Aufgaben zeigt sich, dass eine grundlegende Materialvielfalt im Sinne einer Verwendung von Texten, Grafiken, Karikaturen etc. existierte. Diese wurde jedoch vor allem in den Bundesländern nicht ausgeschöpft, wo Wirtschaft als Teil eines Fächerverbundes unterrichtet wurde. So wiesen zum Beispiel Aufgaben im Fächerverbund Politik und Wirtschaft nur eine sehr schmale Variationsbreite auf und die Aufgaben im Fach Soziologie (Nordrhein-Westfalen) verwendeten fast ausschließlich Aufgaben, die eine Reproduktion eines Textes oder dessen Analyse einforderten (Kirchner und Loerwald 2015, S. 74). Kirchner und Loerwald gehen davon aus, dass sich ein unterkomplexes Anforderungsniveau in den Abituraufgaben auch auf die Unterrichtsgestaltung auswirkt. „Wenn im Abitur nur Textanalyse eingefordert wird, dann wird dies auch die von vielen bevorzugte Arbeitsform im Unterricht sein, sofern die Lehrkraft ihre Kurse bestmöglich auf das bevorstehende Abitur vorbereiten will.“ (Kirchner und Loerwald 2015, S. 74)
Eine fachdidaktische Analyse von Aufgaben im Wirtschaftsunterricht von Arndt zeigt, dass im Fach Wirtschaft die Dimension „Offenheit“ eine gut anwendbare Kategorie ist und auch der „Lebensweltbezug“ eine entscheidende Rolle spielt. Der Aspekt der sprachlogischen Komplexität sollte zudem sowohl bei der Aufgabenstellung als auch mit Blick auf das zu bearbeitende Material eine wesentlichere Rolle einnehmen (Arndt 2013a, 202 f.) Auch andere Autoren sehen aus einer domänenspezifischen Perspektive in den Aspekten „kognitive Aktivierung“, „Domänenspezifität“ und „Authentizität“ sowie „Offenheit“ und „Umsetzbarkeit“ zentrale Merkmale von guten Aufgaben (Weyland und Stommel 2016, S. 54). Diese Aspekte und Voraussetzungen für eine kognitive Aktivierung werden so oder so ähnlich auch von anderen Fachbereichen thematisiert (vgl. Bohl et al. 2013). Für das Fach Wirtschaft zeigt sich, dass zwar durchaus ein Diskurs zu guten Aufgaben gegeben ist, jedoch die Frage, welche Funktionen Aufgaben in einem differenzierten Wirtschaftsunterricht übernehmen können (vgl. Abschnitt 5.4.2), bisher noch wenig Beachtung gefunden hat. Übergeordnetes Planungsmodell Für das Fach Wirtschaft wurde bisher kein konkretes Planungsmodell für differenzierten Wirtschaftsunterricht entwickelt, das mit dem ZAFE-Modell
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7 Differenzierungskonzepte in verschiedenen Fachbereichen
vergleichbar wäre. Es existieren aus wirtschaftsdidaktischer Perspektive aber durchaus Überlegungen, wie mit Vielfalt im Wirtschaftsunterricht umgegangen und gearbeitet werden kann. So unterscheiden zum Beispiel Bank, Ebbers und Fischer zwischen einer Objekt- und einer Subjektorientierung im Umgang mit Heterogenität, die bei der Gestaltung von Lernprozessen aufeinander abgestimmt werden müssen und gleichwohl unterschiedliche Zugänge bieten (Bank et al. 2011, S. 8). Die Wirtschaftsdidaktik verfügt jedoch über ein Modell, das dazu beitragen kann, Diversität als ein Unterrichtsprinzip in der ökonomischen Bildung für die SuS greifbar zu machen (Ebbers 2015, S. 122). Das Modell setzt dabei auf subjektorientierte Konzepte, wie „Gender“, „Intersektionalität“, „Diversitymanagement“, „Interkulturalität“ in Verbindung mit sozialwissenschaftlichen Bereichen wie Wirtschaft, Soziologie oder Politikwissenschaften. Die Kernidee des Modells ist, dass die SuS im schulischen Lernprozess zuerst für die in der Klasse existierenden Unterschiede mithilfe der genannten subjektorientierten Konzepte sensibilisiert werden sollen. Eine derartige Sensibilisierung kann jedoch nur gelingen, wenn zugleich eine Verbindung zu den sozialwissenschaftlichen Fächern hergestellt wird (Ebbers 2015, 118 f.). Die SuS sollen so mit einem Instrument ausgestattet werden, das ihnen hilft, ihren eigenen Lebensraum zu reflektieren und sich der darin vorhandenen Verschiedenheit bewusst zu werden. Die dadurch entstandene Erkenntnis kann wiederum in Unterrichtssituationen zum Beispiel in Form von Diskussionen genutzt werden oder kann dazu beitragen, sich in einer zunehmend globalisierten Welt zurechtzufinden (Ebbers 2015, 121 f.). Für die Planung und Umsetzung von Unterricht könnte das Diversity-Modell von Ebbers durchaus dazu beitragen, die Konzeption von multiperspektivischem Unterricht durch ein entsprechendes Raster zu erleichtern und somit auch die Vielfalt der SuS im Unterricht besser nutzen zu können.
7.4 Fazit zum Vergleich der verschiedenen Fachbereiche Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass in den verschiedenen dargestellten Fachbereichen im Zeitraum ab ca. 2011 durchaus eine verstärkte Auseinandersetzung mit verschiedenen Aspekten im Differenzierungskontext stattgefunden hat, die sich auch in Bezug auf eine praktische Unterrichtsebene setzen lässt. Damit werden diese Aspekte (z. B. der Einsatz von selbstdifferenzierenden
7.4 Fazit zum Vergleich der verschiedenen Fachbereiche
111
ufgaben im Unterricht oder eine sprachliche Differenzierung), auch der A Forderung von Bohl und Meissner gerecht, wonach der Erfolg im Umgang mit Heterogenität maßgeblich von der tatsächlich umsetzbaren Qualität dieser Maßnahmen abhängt (Bohl und Meissner 2013, S. 13). Die vergleichende Darstellung der unterschiedlichen Differenzierungskonzepte aus den Fachbereichen (Tabelle 7.1: Differenzierungskonzepte verschiedener Fachbereiche) zeigte, dass sich in den letzten Jahren durchaus Forschungstrends herausgebildet haben, welche auch in Unterrichtskonzepte überführt werden könnten, womit der Weg in die tägliche Unterrichtspraxis geebnet wäre. Hierzu zählen zum Beispiel die genannten Untersuchungen zu Schülervorstellungen, unterschiedliche methodische und mediale Zugänge zu Inhalten oder auch die Suche nach Problemlösungen für fachbereichsübergreifende Problemaspekte, wie zum Beispiel die sinkende Sprachkompetenz der SuS. Hingegen gibt es aber auch eine Reihe von Themenfeldern, die von den Fachbereichen sehr uneinheitlich bearbeitet wurden. So waren vor allem im Fachbereich Geographie Beiträge zur methodischen Differenzierung anhand von Lernstilen auffindbar, auf die sich andere Fachbereiche nicht bezogen. Dies bedeutet nicht, dass andere Fachbereiche diese Bereiche grundsätzlich nicht erforschen. Vielmehr lässt sich daraus ableiten, dass zum Beispiel Lernstile in den jeweiligen Fachbereichen im Kontext aktueller Differenzierungskonzepte kein relevantes Konzept zu sein scheint. Der Fachbereich Mathematik ist sich der Lernstilthematik durchaus bewusst, verweist aber z. B. nur kurz auf die Ergebnisse von Pashler (Pashler et al. 2009), wonach ein positiver Effekt auf die Leistung nicht eindeutig nachgewiesen werden konnte. Zudem verfügt der Fachbereich Mathematik mit dem ZAFE-Modell über ein konkretes Planungsinstrument für differenzierten Unterricht, an dem sich Lehrkräfte bei der Konzeption von differenziertem Unterricht orientieren können. Ebenfalls zeigte sich mit Blick auf die vier ZAFE-Dimensionen, dass durchaus noch Forschungslücken für die Wirtschaftsdidaktik vorhanden sind. So sind sich zwar alle Fachbereiche einig, dass differenziert werden soll, die unterschiedlichen möglichen Zielsetzungen einer Differenzierung, wie sie zum Beispiel das ZAFE-Modell vorschlägt, werden jedoch in keinem der Fachbereiche thematisiert (mit Ausnahme von Mathematik). Ähnliches lässt sich auch für weitere Z AFE-Dimensionen feststellen. So könnte durchaus noch stärker dahingehend geforscht werden, welche der vielen Differenzierungsaspekte tatsächlich Einfluss auf die Leistungsunterschiede nehmen oder welche der dargestellten methodischen/medialen Differenzierungsmöglichkeiten generell oder in bestimmten Situationen geeignet sind.
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7 Differenzierungskonzepte in verschiedenen Fachbereichen
Ebenfalls war in keinem der gesellschaftswissenschaftlichen Fachbereiche eine Diskussion zu geeigneten Differenzierungsformen5 auffindbar. Die vergleichende Darstellung der Fachbereiche in diesem Kapitel soll in Verbindung mit dem ZAFE-Modell als Grundlage dienen, um sich aus der wirtschaftsdidaktischen Perspektive den erwähnten Forschungslücken und anderen offenen Fragen zu nähern. Methodisch soll dieses Vorhaben mittels einer qualitativ ausgerichteten Delphi-Experten-Befragung umgesetzt werden. Bevor in Kapitel 9 das Forschungsdesign erläutert wird, soll nun das Instrument der Delphi-Studie mit seinen möglichen Ausrichtungen vorgestellt werden.
5Sollte
eher über eine offene und geschlossene Unterrichtsform differenziert werden?
8
Die Delphi-Studie als Instrument der empirischen Sozialforschung
Die Delphi-Befragung wurde in den 1950er Jahren als Prognoseinstrument in den USA entwickelt und wurde vor allem für militärische Vorhersagen während des Kalten Krieges genutzt. Inzwischen ist die Delphi-Studie in vielen Bereichen als Forschungsmethode etabliert und kann mit unterschiedlichen Zielsetzungen durchgeführt werden (Vollstädt 2003, S. 44). Sie lässt sich dabei als ein sehr vielseitig einsetzbares Instrument der empirischen Sozialforschung skizzieren.
8.1 Übliches Vorgehen bei Delphi-Studien Wesentlich an einer Delphi-Studie ist, dass Experten über mehrere Interviewrunden qualitative Aussagen oder quantifizierbare Einschätzungen zu Kriterien eines Problems abgeben. Häufig werden diese Kriterien vorab in einer ersten Befragungsrunde erhoben. Dabei unterscheidet sich die Delphi-Studie im Vergleich zu klassischen Experteninterviews oder Gruppendiskussionen vor allem durch ihre mehrstufige Vorgehensweise und die Anonymität. Die erste Befragungsrunde kann dabei abhängig vom Forschungsdesign unterschiedlich gestaltet werden. Sofern erst noch Kriterien für eine Bewertung generiert werden müssen, ist die erste Runde meist durch offene Fragen gekennzeichnet. Die Erhebung kann entweder durch eine verbale Befragung erfolgen, die danach transkribiert werden muss, oder gleich in schriftlicher Form erhoben werden. Offen gehaltene, verbale Interviews könnten zum Beispiel sehr gut epistemologische Einstellungen von Experten erfassen (Häder 2014, 59 ff.). Häufig stehen diese bei Delphi-Befragungen jedoch nicht im Mittelpunkt, da
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Hertrich, Differenzierung im Wirtschaftsunterricht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31167-4_8
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114
8 Die Delphi-Studie als Instrument der empirischen Sozialforschung
das Erkenntnisinteresse vielmehr auf ein fundiertes und reflektiertes Expertenwissen abzielt. Unabhängig von der Erhebungsart erfolgt danach eine Analyse der gewonnenen Daten. Sofern die Studie qualitativ angelegt ist, könnte dies beispielsweise durch eine qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring (Mayring 2015) geschehen. Dabei ist es möglich, Antworten entweder einem theoriegeleiteten Kategoriensystem zuzuordnen (deduktive Kategorienbildung) oder ein eigenes Kategoriensystem aus dem Antwortmaterial abzuleiten (induktives Vorgehen), wobei es durch ein induktives Vorgehen meist einfacher ist, alle Antworten nach entsprechenden Kategorien zu gruppieren (Lohmann 2005, S. 25). Auf Grundlage der in der ersten Befragungsrunde gewonnenen Antworten wird für die zweite Befragungsrunde ein weiterer Fragebogen generiert. Hierfür werden aus den Antworten der ersten Erhebung entweder Thesen gebildet, die von den Experten beurteilt werden müssen, Aussagen präzisiert oder andere Einschätzungen vorgenommen. Abhängig von der Zielsetzung der Studie könnten aber auch die Ergebnisse der zweiten Befragungsrunde durch eine weitere dritte Befragungsrunde erneut präzisiert werden. Die Anzahl der Befragungsrunden hängt dabei wesentlich vom Forschungsdesign ab. Die Delphi-Studie ist daher je nach Zielsetzung sehr vielseitig einsetzbar, weshalb an dieser Stelle einige unterschiedliche Einsatzmöglichkeiten vorgestellt werden sollen.
8.2 Arten von Delphi-Studien Häder beschreibt vier unterschiedliche Zielrichtungen einer Delphi-Befragung und beabsichtigt damit, das häufig relativ frei verwendete Verfahren in strukturiertere Bahnen zu lenken. Diese Typenbeschreibung soll den Anwender dazu anhalten, vorab die Zielsetzung seiner Erhebung zu präzisieren und sich beim Vorgehen an den unterschiedlichen Formaten orientieren zu können. Die folgende Darstellung beschreibt vier mögliche Ausrichtungen einer Delphi-Befragung (Häder 2014, 30 ff.). Delphi-Befragungen vom Typ 1 haben das Ziel, möglichst viele Ideen und Problemlösungsvorschläge zu generieren und werden rein qualitativ durchgeführt. Dies setzt voraus, dass die Erhebung anhand von möglichst offenen und unstrukturierten Fragen erfolgt, um dadurch kreative Freiräume zu ermöglichen und diese nutzen zu können. Delphi-Befragungen vom Typ 2 sind ein geeignetes Verfahren, wenn in Bezug auf einen unsicheren Sachverhalt eine Zukunftsvorhersage getroffen werden soll. Als Beispiel kann hier die Abschätzung von bestimmten Preisentwicklungen genannt werden. Die Vorhersage kann später mit dem real eingetretenen Wert
8.2 Arten von Delphi-Studien
115
abgeglichen werden und die Vorhersagegenauigkeit bestimmt werden. Bei dieser Form der Delphi-Studie werden auf Grundlage einer ersten Befragungsrunde, die gegebenenfalls für Operationalisierung genutzt werden kann, mehrere Runden bis zu einem definierten Abbruchkriterium erhoben und ausgewertet. Soll es darum gehen, qualifizierte Meinungen und Ansichten einer Expertengruppe zu einem unklaren Sachverhalt zu ermitteln, sollte die Delphi-Studie vom Typ 3 verwendet werden. Der Unterschied zu Typ 2 liegt darin, dass nicht nur Experteneinschätzungen erhoben werden, sondern diese auch in einem zweiten Schritt qualifiziert werden. Durch diese Qualifizierung der Ergebnisse ist es möglich, breitere Erkenntnisse zu gewinnen, auf deren Grundlage möglicherweise Interventionen abgeleitet werden könnten. Dieser Typ kann auch als Mischform aus einem qualitativen und einem quantitativen Vorgehen umgesetzt werden. Während die erste Befragungsrunde dabei bewusst offen gestaltet wird, um möglichst viele Aspekte und Einschätzungen sammeln zu können, werden ab der zweite Befragungsrunde die bisherigen Aussagen durch quantifizierbare Einschätzungen untermauert oder qualitativ begründet (Häder 2014, S. 34). Delphi-Befragungen können auch herangezogen werden, um einen Konsens unter Experten zu einem unklaren, zukunftsbedeutsamen Thema zu erzeugen beziehungsweise vorhandene Konsensbereiche auszuloten. Häder spricht in diesem Zusammenhang von Typ 4. Dieser ist vergleichsweise stark quantitativ ausgelegt und ermöglicht ausschließlich standardisierte Bewertungen. Die Befragungsrunden werden dabei so lange durchgeführt, bis sich die Streuung der Antworten in einem gewünschten Zielbereich befinden (Häder 2014, 35 f.).
9
Qualitative Untersuchung zur Differenzierung im Fach Wirtschaft
Die verschiedenen Diskussionslinien und Konzepte im Heterogenitätsdiskurs sorgen für vielerlei Forderungen, was Schulen und ihre Lehrkräfte diesbezüglich umsetzen und beachten sollten. Entscheidend für eine erfolgreiche Umsetzung der politischen Zielsetzungen (z. B. einer verstärkten Binnendifferenzierung) ist jedoch die Frage, wie gut die einzelnen Schulen die entsprechenden Maßnahmen in der Praxis umsetzen können. „Ein kompetenter Umgang mit Heterogenität erfordert daher nicht nur individualisierende Konzepte und Maßnahmen, wie Kompetenzpläne, Entwicklungsberichte oder regionale Schulentwicklungspläne, sondern basiert voraussetzungsreich auf der realisierten bzw. realisierbaren Qualität dieser Maßnahmen.“ (Bohl und Meissner 2013, S. 13)
Glaubt man diesbezüglich der Einschätzung von Helmke, so ist es um Qualität der realisierten Maßnahmen nicht sonderlich gut bestellt, da festzustellen war, dass in regulären Unterrichtskonzepten, eine innere Differenzierung und individuelle Lernmöglichkeiten eher eine Ausnahme darstellen. Obwohl zugleich davon ausgegangen werden kann, dass Lehrkräfte ihre SuS möglichst optimal fördern wollen (Helmke 2017, S. 255). Diese Diskrepanz verleitet dazu nachzuhaken, worin die Hürden bestehen, dass differenzierende Unterrichtskonzepte nicht stärker im Unterricht eingesetzt werden.
Elektronisches Zusatzmaterial Die elektronische Version dieses Kapitels enthält Zusatzmaterial, das berechtigten Benutzern zur Verfügung steht. https://doi.org/10.1007/978-3-658-31167-4_9 © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Hertrich, Differenzierung im Wirtschaftsunterricht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31167-4_9
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9 Qualitative Untersuchung zur Differenzierung im Fach Wirtschaft
Die folgende Untersuchung möchte daher ausloten, welche Möglichkeiten im Fach Wirtschaft für differenzierte Unterrichtsformen geben sind und ob sich diese zu anderen Fachbereichen unterscheiden. Ebenfalls ist damit die Frage verbunden, welche Aspekte einer erfolgreichen Differenzierung entgegenstehen. Der Diagnose von Trautmann und Wischer folgend, dass die Heterogenitätsdiskussion zu stark auf einer system- und unterrichtstheoretischen Ebene geführt wird und Einschätzungen aus der Praxis wenig Gehör finden (Trautmann und Wischer 2013, S. 48), sollen im Rahmen dieser Delphi-Studie vor allem Experten mit einem klaren Bezug zur unterrichtspraktischen Ebenen zu Wort kommen.
9.1 Übergeordnete Forschungsfragen Die übergeordnete Forschungsfrage nach den Chancen und Hürden im differenzierten Wirtschaftsunterricht umfasst folgende Bereiche: 1. Wie geeignet ist das Fach Wirtschaft, um die vorhandene Heterogenität der SuS nutzen zu können? 2. Welche Heterogenitätsaspekte haben Einfluss auf den Wirtschaftsunterricht? 3. Welche didaktischen Maßnahmen lassen sich in einem differenzierten Wirtschaftsunterricht erfolgreich umsetzen? 4. Lassen sich im Umgang mit Heterogenität und der Verwendung von Differenzierungskonzepten Parallelen oder Unterschiede zu anderen Fächern erkennen? 5. Welche zukünftige Entwicklung prognostizieren die Experten für einen differenzierten Wirtschaftsunterricht?
9.2 Forschungsdesign Diese Forschungsfragen sollten methodisch anhand einer qualitativen Delphi-Befragung beantwortet werden. Im Folgenden wird der entsprechende Delphi-Typ für das angestrebte Forschungsdesign vorgestellt, woraus sich auch die Eignung der Methode für das Forschungsvorhaben begründet. Generell bietet das Instrument der Delphi-Befragung ausreichend methodische Möglichkeiten, um mithilfe von Experten Einschätzungen zu den Chancen und
9.2 Forschungsdesign
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Tabelle 9.1 Übersicht zum Forschungsdesign Forschungsansatz • Qualitativ und Erhebungsmethode • Delphi-Studie (Typ 3). Expertenbefragung über zwei Runden; • Onlinefragebogen (problemorientiert) • Stichproben: Delphi 1 N = 33/Delphi 2, N = 24 Auswertungsmethode:
Induktive Kategorienbildung nach Mayring (Mayring 2015)
Zeitlicher Ablauf der Untersuchung
• Erstellung Fragebogen Delphi 1 und Pretest (2/2017) • Erhebung Delphi 1 und Auswertung (ab 6/2017) • Erstellung Fragebogen Delphi 2 und Pretest (3/2018) • Erhebung Delphi 2 und Auswertung (ab 7/2018)
Hürden in einem differenzierten Wirtschaftsunterricht gewinnen zu können. Um für die Zielsetzung des vorliegenden Forschungsvorhabens Erkenntnisse zu einem relativ diffusen und für das Fach Wirtschaft bisher wenig erforschten Bereich zu gewinnen, soll die Delphi-Studie vom Typ 3 verwendet werden (Häder 2014, S. 34). Wesentliche Planungsaspekte zur Stichprobe, zur Erhebung und zur Auswertung werden nun im nächsten Unterkapitel vorgestellt (Tabelle 9.1).
9.2.1 Experten und Stichprobengröße Delphi-Studien, die auf eine Prognose abzielen, erheben die Einschätzungen üblicherweise mithilfe eines möglichst breiten und vielfältigen Expertenkreises. Um eine erfolgversprechende Auswahl an Experten sicherstellen zu können, ist bei derartigen Delphi-Studien eine Reihe an Vorüberlegungen notwendig (Häder 2014, S. 98). Für diese Studie waren dabei die folgenden beiden Aspekte von besonderer Bedeutung: • Damit die in der Delphi-Studie gewonnenen Erkenntnisse später auch in der Praxis umgesetzt werden können, sollten die Experten über genügend Einfluss und Praxiskontakt verfügen (Duffield 1993, S. 228). • Es sollte vorab überlegt werden, wie viele Typen von Experten für die Erörterung einer Problemlösung notwendig sind. In Bezug auf die Stichprobengröße sollte diese Anzahl verfünffacht werden, wobei jeder Expertentyp mindestens dreimal vertreten sein sollte (Novakowski und Wellar 2009, S. 1490).
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9 Qualitative Untersuchung zur Differenzierung im Fach Wirtschaft
Unter Beachtung dieser beiden Anforderungen erscheinen die drei Expertentypen „Wirtschaftsdidaktiker an einer Hochschule“, „Fachleiter für Wirtschaft an einem staatlichen Seminar für Lehrerbildung“ und „Lehrkraft für das Fach Wirtschaft“ geeignet und sinnvoll. Zwischen den Tätigkeitsbereichen der Experten können jedoch auch Überschneidungen auftreten, wie zum Beispiel bei Fachleitern an den Seminaren, die meist auch über eine gewisse Unterrichtsverpflichtung an einer Schule verfügen. Gleiches gilt auch für Lehrkräfte, die an eine Hochschule abgeordnet sind. In Bezug auf eine systemische Problemlösung müssten streng genommen auch politische Entscheidungsträger, zum Beispiel aus dem Kulturministerium, mitberücksichtigt werden. Diese sollen aber aufgrund ihrer Distanz zur praktischen Unterrichtsebene nicht in die Befragung einbezogen werden. Nach Novakowski und Wellar (2009) wäre somit eine Stichprobengröße von mindestens 15 Experten notwendig. Delphi-Studien können grundsätzlich abhängig von ihrer Zielsetzung mit unterschiedlichen Expertenzahlen durchgeführt werden. So fordert Murry (1995) eine Stichprobengröße von mindestens 10 Experten. Diese kann jedoch nach oben offen sein, was sich bei reinen Zukunftsprognosen positiv auf die Vorhersagegenauigkeit auswirken kann (Murry, JR 1995, S. 428). Neben den üblichen soziodemografischen Merkmalen (Kelle und Kluge 2010, S. 21) sind für diese Erhebung vor allem die Tätigkeitsbereiche der Experten von Bedeutung, ebenso wie die Schulart, in der sie unterrichten. Auch könnte man dahingehend argumentieren, dass eine Unterscheidung hinsichtlich der Berufserfahrung bei dieser Erhebung vernachlässigt werden kann, da alle Experten, die an einer Hochschule oder einem staatlichen Seminar lehren, zwangsläufig über eine mehrjährige Berufserfahrung verfügen. Auch im Bereich der Lehrkräfte sollen bewusst Personen mit mehrjähriger Berufserfahrung ausgewählt werden, da ein Novize in der Regel nicht über ein Expertenwissen verfügt. Von Bedeutung ist dabei die Frage, wie viele der Experten sich in den letzten Jahren zum Thema Differenzierung fortgebildet haben oder selbst eine Fortbildung in diesem Bereich geleitet haben. Der räumliche Schwerpunkt der Erhebung liegt auf Baden-Württemberg, da unter anderem auch Einschätzungen aus dem Bereich der Gemeinschaftsschulen einbezogen werden sollen. Für ein vielfältiges Meinungsbild werden auch Einschätzungen aus anderen Schularten und Bundesländern mit einbezogen. Da die Experten im Bereich der Hochschulen deutschlandweit tätig sind, wäre es zudem nicht möglich gewesen, die Erhebung nur auf Baden-Württemberg zu beschränken.
9.2 Forschungsdesign
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9.2.2 Erhebung der Delphi-Studie „Für die Erhebung ist in der Regel ein Fragebogen zu entwickeln, der den Experten postalisch – oder online – zugestellt wird. Das Design dieses Bogens stellt einen weiteren wesentlichen Faktor für den Erfolg der Delphibefragung dar.“ (Häder 2014, S. 91)
Die Entscheidung, ob die Fragebögen den Experten besser postalisch oder online zugestellt werden sollten, stammt aus der Zeit um die Jahrtausendwende, als das Internet tatsächlich noch eine relativ neue Technologie war. Bis zum Zeitpunkt der Erhebung im Jahre 2017, haben sich jedoch fast alle der in der Literatur genannten Schwachstellen einer Onlineerhebung, wie zum Beispiel das Zugangsproblem zu einem im Internet platzierten Fragebogen aufgelöst. Ebenso war es früher technisch deutlich anspruchsvoller sicherzustellen, dass jeder Experte den Onlinefragebogen nur einmal beantworten kann (vgl. Häder 2014, S. 177). Durch die zwischenzeitlich sehr guten und technisch ausgereiften Onlinebefragungsplattformen1 haben sich derartige Probleme erübrigt. Ein kritischer Punkt bleibt jedoch im Aspekt der notwendigen Anonymität bestehen. Da Onlinefragebögen nicht willkürlich verteilt, sondern gezielt an die Experten versendet werden, sind diese bei der Erhebung bekannt. Auch muss für die Versendung des zweiten Fragebogens erneut auf die Emailadresse der Experten zurückgegriffen werden. Dennoch ist vor allem die Anonymität im Rahmen der Datenanalyse ein sehr wesentlicher Aspekt, der so den Experten auch zugesichert wurde. Die Rücklaufquote ist bei allen Umfragen für den Forscher ein äußerst „spannender“ Aspekt. Um den Rücklauf bei Onlineumfragen zu steigern, bieten sich beispielsweise gezielte Erinnerungsmails an (Stefer 2012, S. 160). Aufgrund der zeitintensiven Bearbeitung des Delphi-2-Fragebogens, sollen als Incentive Amazon-Gutscheine für vollständig ausgefüllte Fragebögen an die Experten vergeben werden. In der Summe sind die Nachteile einer Onlinebefragung somit überschaubar und die Vorteile überwiegen deutlich. Diese Vorteile können unter anderem darin gesehen werden, dass Druckkosten, Versand und Rückporto entfallen und die erhobenen Daten gleich in digitaler Form vorliegen. Ebenso könnten im Fragebogen leicht Filter eingebaut oder Fragen rotiert werden, wovon in dieser Studie jedoch kein Gebrauch gemacht wurde (Stefer 2012, 158 f.).
1Für
diese Erhebung wurde der Anbieter „Limesurvey“ verwendet.
122
9 Qualitative Untersuchung zur Differenzierung im Fach Wirtschaft
Mit Blick auf die Prozessorientierung nach Witzel (2000) ist eine Onlinebefragung vor allem deshalb sinnvoll, um räumliche und zeitliche Beschränkungen überbrücken zu können, da die zu befragenden Experten räumlich sehr verstreut sind, was vor allem auf die Gruppe der Wirtschaftsdidaktiker und der Fachleiter an den Seminaren zutrifft. Die angepeilte Stichprobengröße von ca. 25 Experten (oder mehr), hätte sich daher in Anbetracht der zur Verfügung stehenden Ressourcen über klassische Interviews nicht realisieren lassen. Ebenso wurde davon ausgegangen, dass die Beteiligungsbereitschaft bei einer Onlinebefragung aufgrund der zeitlichen Flexibilität höher ausfällt als bei Interviews. Zudem sichert ein Onlinefragebogen die Standardisierung der Befragung ab, ohne dadurch Einbußen in der Qualität der Antworten erwarten zu müssen. Ein weiterer Vorteil dieser Vorgehensweise ist, dass Frageformate mit unterschiedlicher Offenheit eingesetzt werden können und die Antworten direkt, ohne jegliche Transkription, direkt analysiert werden können. „Onlinefragebögen [bieten sich] somit in besonderer Weise für die grundlegende und planvolle Kombination von standardisierten und offenen Fragen an- ein entscheidender Vorteil bei der Evaluation komplexer Gegenstände.“ (Stefer 2012, S. 159)
Aufgrund der qualitativen Ausrichtung der Studie ähnelt das gewählte Fragebogendesign bzw. die Art der Fragen (vor allem in der zweiten Befragungsrunde) denen eines Interviewleitfadens, wie er auch häufig für problemzentrierte Interviews verwendet wird. Dies lässt sich vor allem durch das ähnliche Erkenntnisinteresse begründen. Auch das problemzentrierte Interview gilt als ein geeignetes Instrument, wenn es um die Befragung von Experten geht (Witzel und Reiter 2012, S. 33). Hierbei soll das wissenschaftliche Wissen „prior knowledge“ mit dem Praxiswissen der Experten „practical knowledge“ vor dem Hintergrund des Forschungsproblems ausgetauscht und bewertet werden (Witzel und Reiter 2012, S. 18). Ein derartiges Vorgehen ist somit auch mit dem Konzept einer Delphi-Befragung von Typ 3 vereinbar, wobei qualifizierte Meinungen und Ansichten von Experten zu einem unklaren Sachverhalt erforscht werden. Der unklare Sachverhalt, konkret die Chancen und Hürden in einem differenzierten Wirtschaftsunterricht, bietet somit eine ausreichende Problemzentrierung, die neben der Gegenstandsorientierung und der Prozessorientierung ein wesentliches Merkmal eines problemzentrierten Fragebogens darstellt. Gegenstandsorientierung und Prozessorientierung bedeuten dabei, dass der Fragebogen flexibel an den Forschungsgegenstand angepasst werden kann, was zugleich auch für das Befragungsdesign und den Erhebungsprozess gilt (Witzel 2000).
9.2 Forschungsdesign
123
Aufgrund der Zielsetzung, dass von den Experten qualifizierte Meinungen zu einem bisher im Bereich der ökonomischen Bildung wenig erforschten Bereich erhoben werden sollen, scheint eine problemzentrierte Ausrichtung des Fragebogens als geeignet. Mit Blick auf die Problemstellung ist es wichtig, dass für die Befragung relevante Aspekte vorab theoriegeleitet identifiziert und gezielt im Fragebogen abgebildet werden. Hierdurch soll sichergestellt werden, dass durch die Fragen ein zielgerichteter systematischer Rahmen aufgespannt wird, in dem die Experten ihre Einschätzung verorten können (Witzel und Reiter 2012, S. 24). Die Sozialforschung spricht hierbei von sogenannten Programmfragen, die direkt auf das Erkenntnisinteresse abzielen und auch Begründungen einfordern, indem sie Fragewörter wie zum Beispiel „Warum“, „Würden-Siewenn“, „Was-wäre-wenn“ verwenden (Petersen 2014, S. 49). Hierbei kann es sich als herausfordernd erweisen, den immanenten Theorieaspekt der Frage so zu formulieren oder diesen in Form einer Vignette entsprechend abzubilden, dass der Sachverhalt für die Experten (vor allem die Gruppe der Lehrkräfte) greifbar wird (Petersen 2014, S. 53). Bei der Konzeption der Fragen zeigte sich, dass sich die Bandbreite der zu erwartenden Antworten in einem überschaubaren Spektrum befanden, zumal Einschätzungen zu einer relativ klar definierten Problemlage erhoben werden sollten. Geschlossene Fragen, wie sie jedoch nur in der ersten Befragungsrunde angewendet werden, verwendeten Fragebogenitems mit einer sechsstufigen Antwortskala. Dies entspricht einer Orientierung am Skalierungsmodell von Likert (Kallus 2010, S. 73). Vor der eigentlichen Erhebung der beiden Delphi-Runden sollen die Fragen durch einen Pretest auf ihre Verständlichkeit überprüft werden, wie es dem Grundsatz sozialwissenschaftlicher Studien entspricht (Häder 2014, S. 144).
9.2.3 Erläuterung zur Auswertung der Daten Nach Häder (2014) werden bei qualitativ angelegten Delphi-Studien die erhobenen Daten üblicherweise mittels einer Inhaltsanalyse ausgewertet (Häder 2014, S. 123). Die qualitative Inhaltsanalyse ist dabei eine klassische Methode der empirischen Sozialforschung, zu deren bekanntesten Vertretern Mayring zählt. Die Inhaltsanalyse kommt vor allem dann zur Anwendung, wenn Primärtexte oder transkribierte Interviews kategoriengeleitet analysiert werden sollen. Da die Experten direkt über das Internet befragt werden, kann auf eine Transkription verzichtet werden und die Daten können direkt als Primärtext analysiert werden. Entscheidender ist unabhängig von der ursprünglichen
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9 Qualitative Untersuchung zur Differenzierung im Fach Wirtschaft
Form der Daten jedoch, dass der daraus abgeleitete Text vor einem spezifischen theoretischen Hintergrund und in Verbindung mit einer klaren Fragestellung analysiert wird (Mayring 2015, S. 13). Das dabei vorgesehene regelgeleitete und systematische Vorgehen einer qualitativen Inhaltsanalyse ermöglicht somit auch Analysen im Grenzbereich von quantitativen und qualitativen Methoden und kann für integrative „Mixed-Methods“-Designs verwendet werden (Mayring 2015, S. 8). Aufgrund der vielseitigen Einsetzbarkeit kann die qualitative Inhaltsanalyse nicht als ein Standardinstrument gesehen werden. Vielmehr muss diese an den konkreten Untersuchungsgegenstand und das vorhandene Material angepasst werden (Mayring 2015, S. 49). Eine klare Einschränkung in der Eignung sieht Mayring jedoch für sehr stark explorative Studien. Aufgrund der zur Verfügung stehenden Informationen aus anderen Fachbereichen, sowie der Orientierung am ZAFE-Modell, dürfte diese Einschränkung bei der vorliegenden Untersuchung jedoch nicht gegeben sein. Die Daten der beiden Delphi-Befragungen werden durch das Bilden von induktiven Kategorien ausgewertet, was ein wesentliches Element der qualitativen Inhaltsanalyse darstellt. Die erste Delphi-Runde enthält dabei auch eine Reihe von skalierten Fragen, deren Antworten deskriptiv ausgewertet werden. Bevor aus den Textteilen („Codes“) induktive Kategorien gebildet werden können, müssen die Antworten vorab entsprechend codiert werden. Das Codieren erfordert vor allem eine rekursive Textarbeit. Diese kann je nach Daten sehr zeitintensiv sein und stellt bei einer qualitativen Inhaltsangabe einen wesentlichen Aufgabenbereich dar. Kuckartz beschreibt diese Aufgabe als ein „Aufräumen von Zimmern“ (Kuckartz 2010, S. 201). Wie in einem Zimmer Gegenstände meist einen festen Platz haben, so erfolgt auch das Codieren nach festen Regeln, um ein standardisiertes „Aufräumen“ gewährleisten zu können. Die Aussagen der Experten werden somit in Form von Codes zu Kategorien verdichtet, was von der Systematik her dem „Aufräumen“ entspricht, wie es Kuckartz beschreibt. Dennoch kann das Bewerten und Klassifizieren von Textteilen auch als eine Art Interpretationsleistung gesehen werden (Kuckartz 2010, S. 58). Wie viel Interpretationsleistung notwendig ist, hängt von der Qualität der Aussagen ab. Aus den Codes entsteht dann als Ergebnis ein Kategoriensystem, auf dessen Grundlage die Ergebnisse diskutiert oder auch anhand der Empirie überprüft werden können. Im Gegensatz zum narrativen Interview oder sehr offenen problemzentrierten Interviews, wo die Antworten der Experten in sehr unterschiedliche Richtungen abdriften können, gestaltete sich das Aufräumen der erhobenen Delphi-Antworten als einigermaßen übersichtlich. Dies lag vor allem daran, dass durch die nicht
9.2 Forschungsdesign
125
zu offen gestalteten Fragen die Anzahl an möglichen Kategorien beschränkt blieb. Oder um im Bilde von Kuckartz zu bleiben: In jedem Zimmer gab es jeweils nur eine übersichtliche Anzahl an verschiedenem Spielzeugtypen, die an ihren Platz geräumt werden mussten. Dies erleichterte die Codierung immens, da auch die Aussagen der Experten in beiden Befragungsrunden sehr sachlich und direkt waren, wodurch auf eine ausschweifende Interpretationsleistung verzichtet werden konnte. Aufgrund der schriftlichen Erhebung über einen Online-Fragebogen konnten die Ergebnisse der beiden Befragungsrunden ohne Transkription direkt codiert werden. Die Codierung wurde mit einem PaperPencil-Verfahren durchgeführt und für beide Befragungsrunden durch eine zweite Coderin überprüft. Aufgrund der überschaubaren Anzahl an Antwortkategorien, wie man sie bei allen offenen Fragen vorfand, und der nahezu identischen Übereinstimmung zwischen den beiden Codierungen, wurde die Zweitkodierung nach jeweils 4 Fragebögen abgebrochen, sodass generell eine sehr hohe Übereinstimmung erwartet werden konnte. Lediglich bei einigen wenigen Fragen waren leichte Unterschiede erkennbar, die sich vor allem durch den nichtfachlichen Hintergrund der zweiten Coderin erklären ließen. Auf die Berechnung der Abweichung auf Grundlage von MAXQDA, wie es zum Beispiel bei Kirchner (2016) umgesetzt wurde (Kirchner 2016, 202 f.), ist aufgrund der klaren Antworten in Verbindung mit den sehr eingeschränkten Antwortalternativen und der eindeutigen Übereinstimmung der Codierungen verzichtet worden.
9.2.4 Fragebogendesign der ersten Delphi-Runde Bei der Konzeption des Delphi 1-Fragebogens wurde als strukturierendes Element ebenfalls auf die ZAFE-Systematik (Leuders und Prediger 2016, S. 151) zurückgegriffen, um die in Abschnitt 9.1 aufgeworfenen Forschungsfragen zu beantworten. Ebenso sollte durch diese Vorgehensweise ein logischer Anschluss an den Theorieteil der Arbeit hergestellt werden. In diesem Kapitel sollen nun die Überlegungen zur Konzeption des Fragebogens2 der ersten Delphi-Runde erläutert werden. Konkret gliedert sich der Fragebogen in insgesamt sieben Fragenbereiche (A-G), die sich in drei Inhaltsgruppen gliedern lassen.
2Der
Fragebogen kann im Anhang eingesehen werden.
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9 Qualitative Untersuchung zur Differenzierung im Fach Wirtschaft
1. Persönliche Angaben und Wahrnehmung von Heterogenität (Teil A + B) In diesem ersten Fragenbereich wurden vorab persönliche Angaben und Informationen zur Stichprobe erfasst. Um die Experten auch für eine zweite Befragungsrunde kontaktieren zu können, war es notenwendig, ebenfalls deren Kontaktemailadresse zu erfassen. Wie bereits in Abschnitt 9.2.2 erläutert wurde, verletzt dies im Prinzip den Grundsatz einer gänzlich anonymen Datenerhebung, war aber aufgrund des Forschungsdesigns notwendig. Diese beiden ersten Fragen zu Name und Emailadresse stellten jedoch nur für sehr wenige der befragten Personen ein Problem dar. Die Fragen B1 bis B4 bezogen sich jeweils auf den Tätigkeitsbereich der Experten. Hierzu wurde u. a. erhoben, ob diese an einer Hochschule, einem Seminar für Lehrerbildung oder einer Schule tätig sind, sowie die Schulart, in der sie gegebenenfalls unterrichten. Ebenfalls sollte in Erfahrung gebracht werden, ob die Experten in den letzten zwei Jahren an einer einschlägigen Fortbildung teilgenommen oder eine Fortbildung geleitet haben. Mit den Fragen B5–B8 erfolgte ein fließender Übergang zur Heterogenitätsthematik, wobei diese ersten Fragen primär „das Eis brechen“ und einen Einstieg in die Thematik ermöglichen sollten. Dies geschah zum Beispiel dadurch, dass die Experten die Ausprägung ihrer heterogensten Klasse auf einer sechsstufigen Likert-Skala bewerten sollten. Ebenfalls wurde eine Einschätzung zur zukünftigen Bedeutung von differenziertem Unterricht und differenziertem Wirtschaftsunterricht entsprechend erhoben. Daran schloss sich Frage (B8) an, durch die erhoben werden sollte, ob differenzierter Unterricht im Fach Wirtschaft anders ausgeprägt ist als in anderen Fächern. Ein derartiges Einschätzen oder Bewerten von Sachverhalten kann als typisches Vorgehen bei Delphi-Studien verstanden werden. 2. Fragen mit Bezug auf die Dimensionen des ZAFE-Modells Dieser Bereich des Fragebogens bildet inhaltlich den explorativen Kern der ersten Befragungsrunde und umfasst die Teile C-F. Dabei ist anzumerken, dass die Reihenfolge der Fragen nicht der ZAFE-Systematik entsprach. Vielmehr wurden die Fragen so angeordnet, dass sich für die Teilnehmer eine einfache, logische und somit gut zu beantwortende Reihenfolge ergab. So wurden beispielsweise Fragen zur Dimension „Differenzierungsaspekte“ bewusst vor die Dimension „Differenzierungsziel“ gestellt. Mit der ersten Frage in diesem Bereich wurde beabsichtigt, durch eine einfache Bewertungsfrage den Experten einen leichteren Einstieg in den Fragenkomplex zu ermöglichen. Konkret zielte die Frage (C1) darauf ab, wie die Experten den Einfluss unterschiedlicher Aspekte auf die Leistungsunterschiede im Fach Wirtschaft bewerten.
9.2 Forschungsdesign
127
Die zu bewertenden Heterogenitätsaspekte wurden dabei aus der einschlägigen Literatur abgeleitet (Klafki 2007, S. 187 und Krüger-Potratz 2011, S. 197). Diese Frage ist insofern von Bedeutung, da die Lehrkraft auf der praktischen Ebene entscheiden muss, nach welchen Aspekten gleichschrittiger Unterricht aufgelöst werden soll, um eine Differenzierung zu ermöglichen. Ebenfalls sollte ein Abgleich mit den bisher bekannten Forschungsergebnissen zu den Aspekten „Herkunft“, „Geschlecht“ und „Vorwissen“ erfolgen. Ein angeschlossenes Freitextfeld (Frage C2) bot die Möglichkeit noch weitere Aspekte zu nennen, die einen hohen Einfluss auf die Leistungsunterschiede im Fach Wirtschaft haben und bei der vorherigen Frage nicht zur Auswahl standen. Der zweite Fragenbereich (Teil D) bezog sich auf die Dimension des „Differenzierungsziels“. Die Aussagen wurden dabei mithilfe von zwei Freitextfeldern erhoben, wodurch den Experten komplexere Einschätzungen entlockt werden sollten. Dabei ist es bei Onlinebefragungen im Vergleich zu klassischen Interviews generell eine Herausforderung, die Fragen so ansprechend und zugleich präzise zu stellen, dass diese von den Experten auch ohne weitere Impulsfragen beantwortet werden können. Als Hilfestellung wurde einigen Fragen3 ein Szenario vorangestellt, wodurch es den Experten erleichtert werden sollte, sich in die Situation hineinzuversetzen. Dies geschah mit der Absicht, somit möglichst gehaltvolle Antworten generieren zu können. Bei der Erstellung derartiger Vignetten wurde überwiegend auf die Techniken des Konfrontierens und Kontrastierens gesetzt (Witzel und Reiter 2012, S. 170). So wurde zum Beispiel für Frage D1 die folgende Vignette konstruiert: „Der Umgang mit der Vielfalt von Schülern kann von Fach zu Fach deutlich variieren. In Fächern wie Kunst oder Religion kann Vielfalt bereichernd wirken und ist folglich erwünscht oder wird sogar gefördert. Andere Fächer, zum Beispiel Physik, haben deutlich weniger Spielraum, um Vielfalt mit in den Unterricht einzubeziehen und müssen diese eventuell sogar übergehen.“
Zielsetzung dieser Frage (D1) war es, dass die Experten vor diesem Hintergrund den Spielraum für das Einbeziehen von Vielfalt für das Fach Wirtschaft einschätzen sollten. In Verbindung damit stand auch die folgende Frage (D2). Hier sollten die Experten möglichst konkrete Möglichkeiten nennen, wo die Vielfalt der SuS konkret genutzt werden kann und wo nicht.
3Fragen
C1, D1, E1, F1.
128
9 Qualitative Untersuchung zur Differenzierung im Fach Wirtschaft
Der fünfte Fragenbereich (E) bezog sich wieder auf den Bereich der Heterogenitätsaspekte. Ausgangspunkt für die damit in Verbindung stehenden Fragen war eine Vignette, welche die Experten dazu aufforderte sich vorzustellen, dass Wirtschaftsunterricht laut politischer Vorgabe nur noch differenziert stattfinden kann und man daher eine Unterrichtseinheit für seine heterogenste Klasse vorbereiten müsse. Im Gegensatz zur Frage C1 ging es bei dieser Frage nicht um die Verbindung zwischen einem Heterogenitätsaspekt und der Leistung im Fach Wirtschaft. Stattdessen sollte eine Einschätzung gewonnen werden, welche der vielen möglichen Heterogenitätsaspekte in den Klassen auftreten und den Unterricht tatsächlich beeinflussen (Frage E1). Dabei leitet sich diese Frage aus einer entsprechenden Forderung aus der Literatur ab (Trautmann und Wischer 2011, S. 65). Um aus den Antworten später möglichst konkrete Handlungsempfehlungen entwickeln zu können, wurde in der darauffolgenden Frage (E2) über ein Freitextfeld erhoben, wie die Experten diesen Aspekten im Unterricht begegnen. Diese beiden Fragen waren dabei vor allem für Experten aus dem schulischen Bereich und den Seminaren vorgesehen, die mit alltäglichen Unterrichtssituationen vertraut sind. In Teil F wurden sowohl Fragen zur „Differenzierungsform“ als auch zur „Differenzierungsebene“ gestellt. Immer wenn gleichschrittiger Unterricht aufgelöst wird, muss entschieden werden, in welcher Form dies geschehen soll. Bezüglich der Differenzierungsform wurden durch die Fragen F1 und F2 Einschätzungen der Experten dahingehend erhoben, ob für eine Differenzierung im Wirtschaftsunterricht eine offene oder geschlossene Differenzierungsform besser geeignet ist. Der theoretische Hintergrund zu diesen beiden Formen wurde bereits in den Abschnitt 5.1 und 5.3 dargelegt. Im Anschluss an diese Fragen schwenkte der Fokus zur Dimension „Differenzierungsebene“. Als einziger Aspekt wurden in dieser Dimension unterschiedliche Methoden hinsichtlich ihrer Eignung für einen differenzierten Wirtschaftsunterricht auf einer sechsstufigen Skala bewertet. Die Methode, die im Rahmen von Frage F3 bewertet werden sollte, wurde aus der Literatur der verschiedenen Fachbereiche abgeleitet: Wirtschaft (Arndt 2013b); Geographie (Wüthrich 2013), Politik (Sieberkrob und Achour 2015), Geschichte (Bühl-Gramer 2011), Mathematik (Barzel et al. 2018) sowie aus allgemeineren didaktischen Ausführungen (Scholz 2012, 45 ff.). Hierdurch entstand eine Mischung aus Methoden, die als Standardmethoden gelten und in den meisten der untersuchten Fachbereiche angesprochen wurden (z. B. Freiarbeit, Gruppenarbeit etc.) und „neuartigeren“ Methoden, wie zum Beispiel dem „Webquest“ oder
9.2 Forschungsdesign
129
„flipped classroom“. Eine daran angeschlossene Frage bot die Möglichkeit, über ein Freitextfeld noch weitere geeignete Methoden zu ergänzen. 3. Ausblick Der dritte und letzte Fragenbereich umfasste weiterführende Fragen, die nicht in Verbindung zu den ZAFE-Dimensionen standen. Wie in Abschnitt 5.5 erläutert wurde, werden Lehrkräfte durch differenzierte und offene Unterrichtsformen mit zahlreichen Herausforderungen konfrontiert. Anhand der Fragen G1 und G2 wurde über eine Bewertungsskala daher eine Selbsteinschätzung der Experten hinsichtlich ihrer Planungs- und Umsetzung von differenziertem Wirtschaftsunterricht erhoben. Dabei erfassten die Fragen die Selbsteinschätzung zur Planungs- und Umsetzungskompetenz sowohl in Bezug auf eine einzelne Unterrichtsstunde, die geplant und umgesetzt werden muss, als auch auf eine ganze Unterrichtseinheit von ca. 8 Unterrichtsstunden. Die Fragen G3 und G4 beinhalteten insofern eine vorausschauende Perspektive, da sie über Freitextfelder erfassten, welche Hürden nach Meinungen der Experten noch aus dem Weg geräumt werden müssten, damit ein differenzierter Wirtschaftsunterricht auf einer breiten Ebene erfolgreich gelingen kann. Die Frage wurde dabei vor dem theoretischen Hintergrund aus Abschnitt 2.3 konzipiert und soll herausfinden, ob und wie sich die Hürden hinsichtlich einer Umsetzung von differenziertem Unterricht im Vergleich zum Diskurs der 1970er Jahre verändert haben. Auch die letzte Frage der ersten Befragungsrunde ist zukunftsorientiert ausgerichtet und erfasste in Anlehnung an Frage B7, bei der die zukünftige Bedeutung eines differenzierten Wirtschaftsunterrichts über eine Skala eingeschätzt wurde, über ein Textfeld die Einschätzungen der Experten dahingehend, wie die Heterogenität der SuS den Wirtschaftsunterricht in den nächsten fünf Jahren4 verändern wird.
4Ab
2017.
Ergebnisse der ersten Delphi-Runde
10
Für die erste Befragungsrunde im Sommer 2017 wurden insgesamt 52 potenzielle Experten mit Bezug zur Wirtschaftsdidaktik aus dem Hochschulbereich, den Seminaren für Lehrerbildung sowie aus unterschiedlichen Schularten per Email angeschrieben, mit der Bitte, sich an der Erhebung zu beteiligen. Aufgrund des in Baden-Württemberg erst zum Schuljahr 2016–2017 neu eingeführten Schulfachs „Wirtschaft, Berufs- und Studienorientierung“ (WBS) war bereits im Vorfeld absehbar, dass sich die praktischen Erfahrungen und Konzepte eines differenzieren Wirtschaftsunterrichts bei den Experten (vor allem aus dem Sekundarbereich I) bis zum Zeitpunkt der ersten Befragungsrunde noch nicht erschöpfend entwickeln konnten. Vor diesem Hintergrund wurden in das Sample auch gezielt Experten aus kaufmännischen Schulen mit aufgenommen, um noch weitere Erfahrungen und inhaltliche Aspekte in die Studie einbinden zu können. Zudem wurde die Auswahl der Experten nicht gänzlich auf Baden-Württemberg beschränkt, sondern u. a. auch Stimmen aus Bayern miteinbezogen, da dort das Fach „Wirtschaft und Recht“ über eine deutlich längere Tradition verfügt. Von den 52 angeschriebenen Experten beteiligten sich in der ersten Befragungsrunde insgesamt 31 Personen mit einem komplett ausgefüllten Fragebogen. Die erreichte Stichprobengröße liegt somit weit über dem geforderten Minimum von 15 Antworten (Novakowski und Wellar 2009, S. 14). Bei den Experten zeigte sich in Bezug auf die Befragung oder die Thematik teilweise eine
Elektronisches Zusatzmaterial Die elektronische Version dieses Kapitels enthält Zusatzmaterial, das berechtigten Benutzern zur Verfügung steht. https://doi.org/10.1007/978-3-658-31167-4_10 © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Hertrich, Differenzierung im Wirtschaftsunterricht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31167-4_10
131
132
10 Ergebnisse der ersten Delphi-Runde
gewisse Unsicherheit. So waren zum Beispiel zwei Personen trotz der Zusicherung von Anonymität nicht bereit, im Fragebogen eine Kontaktemailadresse zu nennen. Diese wäre jedoch zur Erhebung der zweiten Befragungsrunde durchaus hilfreich gewesen. Dieses Verhalten entsprach der zuvor erwähnten Problematik bei der Erhebung von Onlinebefragungen, dass üblicherweise der Link zur Umfrage per Email versendet wird und somit im Erhebungsprozess keine einhundertprozentige Anonymität gegeben ist. Mit Blick auf die Auswertung der Daten wurden die Anonymitätsanforderungen jedoch klar eingehalten und den wissenschaftlichen Standards entsprochen (Stefer 2012, S. 160). Zwei weitere Personen äußerten sogar grundsätzliche Bedenken, sich an der Befragung zu beteiligen. Woraus sich die Skepsis der Experten ableitete, konnte leider nicht in Erfahrung gebracht werden.
Abbildung 10.1 Anzahl der Experten in den unterschiedlichen Tätigkeitsbereichen. (Eigene Darstellung)
Von den insgesamt 31 befragten Personen waren 20 männlich, neun weiblich und zwei nicht weiter bestimmbar. Zehn der Experten waren dabei nicht nur in einem Bereich tätig, sondern führten doppelte Funktionen aus, wie zum Beispiel als abgeordnete Lehrkraft an einer Hochschule oder als Fachleiter an
10 Ergebnisse der ersten Delphi-Runde
133
einem Seminar. In der Gruppe der Lehrkräfte waren drei Personen nebenbei als (Schulbuch-)Autoren tätig. Im Bereich der Hochschule gehört das Publizieren hingegen zum Tagesgeschäft, was somit auf alle 11 Experten aus diesem Bereich zutraf. Bei der weiteren Auswertung der Stichprobe wurden die Experten nur dann einer Schulart zugeordnet, wenn sie auch tatsächlich in dieser Schulart unterrichten, wie es zum Beispiel bei abgeordneten Lehrkräften oder Experten von den staatlichen Seminaren der Fall ist. Dieses Vorgehen war unter anderem bei Frage B5 sinnvoll, wo die Experten ihre heterogenste Klasse auf einer Skala verorten sollten. Experten aus dem Hochschulbereich konnten hierzu keine Aussagen treffen, da sie nicht regelmäßig an einer Schule unterrichten. Zudem kann sich der Zuständigkeitsbereich von Experten aus den Hochschulen, abhängig vom jeweiligen Bundesland, auf mehrere Schularten beziehen, sodass eine Zuordnung nicht mehrals ein unscharfes Bild ergeben hätte und somit darauf verzichtet wurde. Entsprechend Abbildung 10.1 war die Stichprobe im Bereich der Lehrkräfte und der Fachdidaktiker relativ ausgeglichen. Im Verhältnis waren jedoch nur wenige Fachleiter aus den Seminaren vertreten, was sich zum Teil dadurch erklären lässt, dass die Emailadressen von Fachleitern nicht auf den Homepages der Seminare eingesehen werden können und Anfragen über die Sekretariate leider häufig unbeantwortet blieben. Der Pretest zur ersten Befragungsrunde zeigte, dass Lehrkräfte nicht per se als Experten gewertet werden können, da sich ein Teil der Befragten aufgrund mangelnder Erfahrung mit Differenzierung nicht zur Thematik äußern konnte. Bei der Auswahl der Experten aus dem schulischen Bereich wurde folglich darauf geachtet, dass diese schon entsprechende Erfahrungen mit Differenzierungskonzepten sammeln konnten. So hatten zwei Drittel der befragten Lehrkräfte bereits an einer Fortbildung zum Thema „Differenzierung im Unterricht“ o. ä. teilgenommen und vier Experten hatten eine entsprechende Fortbildung selbst geleitet. Aus dem Realschulbereich waren drei Personen an ein Seminar abgeordnet und aus dem Bereich der kaufmännischen Schulen eine Person. Hingegen zeigte sich bei den Abordnungen an eine Hochschule ein umgekehrtes Verhältnis. Hier kamen zwei Experten aus einer kaufmännischen Schule, eine Person aus dem Realschulbereich und eine Person war von einem „international College“ abgeordnet, was einem Gymnasium bzw. Wirtschaftsgymnasium entsprechen würde.
134
10 Ergebnisse der ersten Delphi-Runde
Ordnet man die unterrichtenden Experten den Schularten zu, so ergib sich nach Abbildung 10.2 die folgende Verteilung:
Abbildung 10.2 Zuordnung der Experten zu den Schularten. (Eigene Darstellung)
Es zeigte sich, dass der Bereich der Realschulen mit knapp 50 % relativ stark vertreten war, was ebenfalls für den Bereich der kaufmännischen Schulen mit 35 % zutrifft. Leider waren die Gemeinschaftsschulen in dieser ersten Stichprobe mit nur 6 % etwas unterrepräsentiert. Da die erste Befragungsrunde das Ziel verfolgte, sich der Problemstellung aus einer breiteren Perspektive zu nähern und die daraus entstandenen Argumente und Einschätzungen erst in einer weiteren Befragungsrunde zu validieren, war dieser relativ geringe Anteil im Bereich der Gemeinschaftsschulen nicht problematisch. Dieser Anteil sollte jedoch in der zweiten Befragungsrunde deutlich gesteigert werden. Zwar wurden über den Fragebogen auch die Klassenstufen erhoben, in denen die Lehrkräfte unterrichteten, dabei war es allerdings nicht möglich, aus den Antworten ein gewinnbringendes Bild abzuleiten, da es zu großen Überschneidungen innerhalb und zwischen den Schulformen kam. Zusammenfassung und Ausblick zur Stichprobe Allgemein lässt sich das Antwortverhalten der Experten als unauffällig beschreiben. Lediglich sehr wenige Ausnahmefälle hatten trotz der Zusicherung von Anonymität Bedenken sich zu den Fragen generell zu äußern oder gaben keine Informationen zum Tätigkeitsbereich oder eine Kontaktemailadresse an.
10.1 Ergebnisse zur Wahrnehmung von Heterogenität
135
Dies wäre allerdings zur Erhebung der zweiten Delphi-Runde durchaus hilfreich gewesen. Woher diese Bedenken stammen, konnte bisher nicht herausgefunden werden. Es liegt jedoch die Vermutung nahe, dass diese Personen (alle aus dem Seminar und Hochschulbereich) eventuell befürchteten, sich in einem Diskurs falsch zu äußern, der politisch sehr aufgeladen und auch mit hohen Erwartungen verbunden ist oder der im schlimmsten Fall sogar Widerstände erzeugt. Ob diese Vermutung zutrifft, wurde in der zweiten Delphi-Runde genauer untersucht.
10.1 Ergebnisse zur Wahrnehmung von Heterogenität Die Fragen B5 bis B8 hatten das Ziel, den Experten einen leichten Einstieg in die Thematik zu ermöglichen. So sollten diese in Frage B5 ihre Klasse bezüglich der darin vorhandenen Heterogenität und Homogenität auf einer sechsstufigen Skala1 einschätzen. Wie schätzen Sie Ihre Klasse ein? (B5) • Wie schätzen Sie Ihre heterogenste Klasse ein? • Wie schätzen Sie Ihre homogenste Klasse ein?
Aufgrund der geringen Anzahl an Experten aus dem gymnasialen Bereich und den Gemeinschaftsschulen heben sich diese beiden Schularten in der Grafik deutlich von den anderen ab. Der hohe Prozentwert sollte vor diesem Hintergrund vorsichtig interpretiert werden, dennoch lässt sich aber aus dem Ergebnis eine Tendenz ableiten. Zudem soll noch einmal erwähnt werden, dass diese Fragen nur gut von Personen mit einem klaren Bezug zum Unterrichtsalltag beantwortet werden konnten und sich Experten aus dem Hochschulbereich zu diesen Fragen
11 = Die
Schüler/-innen haben kulturell eine nahezu identische Sozialisation erfahren. In den Bereichen Leistung und Sprache lassen sich verschwindend geringe Unterschiede feststellen. Der Unterricht kann problemlos für die ganze Klasse einheitlich konzipiert werden. 6 = Die Schüler/-innen unterscheiden sich extrem in Bezug auf ihre kulturelle Sozialisation. Es gibt überwiegend sehr große sprachliche Hürden und extreme Leistungsunterschiede. Sinnvoller gleichschrittiger Unterricht ist daher nicht möglich.
136
10 Ergebnisse der ersten Delphi-Runde
mehrheitlich nicht äußerten. Aus diesem Grund ist diese Expertengruppe auch in der folgenden Darstellung nicht vertreten (Abbildung 10.3).
Abbildung 10.3 Einschätzung von Heterogenität nach Schulart. (Eigene Darstellung)
Für den Realschulbereich ist ein durchmischtes Bild erkennbar, wobei die Kategorien 5 und 6 mit insgesamt 51 % deutlich häufiger gewählt wurden als die Kategorien 1 und 2 mit insgesamt 38 %. Der gymnasiale Bereich war mit seinen 100 % in Kategorie 1 überproportional vertreten, ebenso wie die Gemeinschaftsschule in Kategorie 5. Zwar sind die beiden Werte aufgrund der geringen Expertenzahl im Verhältnis zu den Realschulen und kaufmännischen Schulen sehr hoch, man kann jedoch davon ausgehen, dass die jeweilige Kategorie an sich zutreffend gewählt wurde. Auch Experten mit einer Unterrichtstätigkeit an einer kaufmännischen Schule schätzten ihre heterogenste Klasse ähnlich ein, wie die Experten aus dem Realschulbereich. Jedoch waren die kaufmännischen Schulen in Kategorie 1 nicht vertreten, dafür aber deutlich stärker in Kategorie 4 mit 22 %. Fasst man für die Experten aus den kaufmännischen Schulen die Werte der Kategorien 1 und 2 mit insgesamt 11 % zusammen, und die Kategorien 5 und 6 mit 55 %, so entsteht der Eindruck, dass Klassen an dieser Schulart einen ziemlich hohen Grad an Heterogenität aufweisen2.
2Altrichter konnte dies auch für kaufmännische Klassen in Österreich zeigen (Altrichter 2009).
10.1 Ergebnisse zur Wahrnehmung von Heterogenität
137
Leider wird an dieser Stelle wegen der geringen Zahl von Experten an den Gemeinschaftsschulen kein aussagekräftiger Vergleich mit dieser Schulart möglich. Bei der Gegenfrage, wie die Experten ihre homogenste Klasse einschätzen, zeigte sich ein einheitlicheres Bild, wobei die gleichen Antwortkategorien verwendet wurden3 (Abbildung 10.4). Aus dem Bereich der Gemeinschaftsschulen wurde leider keine Stimme abgegeben. Die Anteile aus den Realschulen verschoben sich zugunsten der Kategorien 1, 2 und 3. Dies trifft auch für den Bereich der kaufmännischen Schulen zu. Diese sind jedoch auch mit einem relativ hohen Anteil von 33 % in Kategorie 4 vertreten und die erste Kategorie ist mit nur 11 % relativ schwach ausgeprägt. Bei Einschätzung aus dem gymnasialen Bereich lässt sich zur vorherigen Frage keine Veränderung feststellen.
Abbildung 10.4 Einschätzung von Homogenität nach Schulart. (Eigene Darstellung)
Auch die Einschätzungen aus dem Realschulbereich legen nahe, dass es dort nicht nur sehr heterogene, sondern auch homogene Klassen gibt. Wie stark die Bewertungen aus dem kaufmännischen Bereich dahingehend interpretiert werden
31 = Die
Schüler/-innen haben kulturell eine nahezu identische Sozialisation erfahren. In den Bereichen Leistung und Sprache lassen sich verschwindend geringe Unterschiede feststellen. Der Unterricht kann problemlos für die ganze Klasse einheitlich konzipiert werden. 6 = Die Schüler/-innen unterscheiden sich extrem in Bezug auf ihre kulturelle Sozialisation. Es gibt überwiegend sehr große sprachliche Hürden und extreme Leistungsunterschiede. Sinnvoller gleichschrittiger Unterricht ist daher nicht möglich.
138
10 Ergebnisse der ersten Delphi-Runde
können, dass selbst die homogensten Klassen immer noch ziemlich heterogen sind bleibt fraglich. Die Aussagen deuten dies zumindest an. An die Bewertungen zur Wahrnehmung von Heterogenität und Homogenität im Schulalltag schlossen sich die folgenden Fragen zur zukünftigen Bedeutung von differenziertem Untericht an.
Wie bewerten Sie die zukünftige Bedeutung von differenziertem Unterricht? (B6) Wie bewerten Sie die zukünftige Bedeutung von differenziertem Unterricht für das Fach Wirtschaft? (B7)
Insgesamt ist bei den Bewertungen4 eine eindeutige Tendenz erkennbar (Abbildung 10.5). Insgesamt 80 % der Experten wählten die Kategorien 4 und höher und schätzten somit die zukünftige Bedeutung von differenziertem Unterricht als hoch ein. Die erste Kategorie wurde hingegen nie gewählt.
Abbildung 10.5 Zukünftige Bedeutung von differenziertem Unterricht. (Eigene Darstellung)
41 = Differenzierter
Unterricht wird in der Praxis überhaupt nicht an Bedeutung gewinnen. 6 = Differenzierung wird sich als Leitprinzip der Unterrichtsplanung tatsächlich durchsetzen.
10.1 Ergebnisse zur Wahrnehmung von Heterogenität
139
Am höchsten schätzte die Gruppe der Lehrkräfte die zukünftige Bedeutung ein, indem 50 % dieser die beiden höchsten Kategorien wählten. Auch die Experten mit Hochschulbezug verorten den Stellenwert von differenziertem Unterricht, bis auf eine Ausnahme, in der oberen Hälfte der Skala. Eine geringere Bedeutung wurde über die Kategorien 2 und 3 abgebildet, jedoch nur mit einem eher geringen Anteil von 20 %. Aber auch in diesen Kategorien waren alle drei Expertengruppen vertreten. In Bezug auf die vorangegangene Frage zeigt sich bei der Hälfte der Lehrkräfte eine deutliche Verbindung zwischen der Wahrnehmung von Heterogenität im Unterricht und deren zukünftiger Bedeutung. Experten, welche die Heterogenität auf den beiden höchsten Kategorien wahrnehmen, schätzten die zukünftige Bedeutung auch entsprechend hoch ein. Es zeigt sich aber auch der umgekehrte Fall. Ein Experte aus dem Seminar, der seine Klasse als relativ homogen einschätzte, erwartete zugleich eine geringe zukünftige Bedeutung von differenziertem Unterricht. Man könnte daher annehmen, dass die Einschätzung der zukünftigen Bedeutung eng mit der bisherigen persönlichen Erfahrung im Unterricht in Verbindung steht. Dieses Bild lässt sich jedoch nicht generell bestätigen, da auch Aussagen von Experten vorliegen, welche die Heterogenität als gering wahrnehmen, aber differenziertem Unterricht dennoch eine hohe zukünftige Bedeutung beimessen und umgekehrt. Neben der allgemeinen zukünftigen Bedeutung von differenziertem Unterricht wurde in Frage B7 ein expliziter Bezug zum Wirtschaftsunterricht formuliert. Die Unterschiede in den Bewertungen5 fielen dabei gering aus. Dennoch war eine Verschiebung hin zu den mittleren Kategorien erkennbar (Abbildung. 10.6).
51 = Eine
Differenzierung im Fach Wirtschaft wird sich deutlich von anderen Fächern unterscheiden. 6 = Eine Differenzierung im Fach Wirtschaft wird sich gar nicht von anderen Fächern unterscheiden.
140
10 Ergebnisse der ersten Delphi-Runde
Abbildung 10.6 Zukünftige Bedeutung von differenziertem Wirtschaftsunterricht. (Eigene Darstellung)
Kategorie 6 verliert dabei sechs Prozentpunkte, während der mittlere Bereich, vor allem Kategorie 3, um 20 Prozentpunkte deutlich zulegen kann. Leider war die Frage nicht darauf ausgelegt, ermitteln zu können, worin die Gründe für diese Verschiebung liegen könnten. Dieses Ergebnis sollte vor allem mit Blick auf die weiteren Fragen im Hinterkopf behalten werden, in denen die Möglichkeiten und Grenzen für eine Differenzierung im Fach Wirtschaft genauer ausgelotet wurden. Ebenfalls stehen die Einschätzungen zu dieser Frage in einem engen Zusammenhang zu den Abschlussfragen (G3 und G4), in denen eine Reihe von Umsetzungshürden thematisiert werden, die später detailliert vorgestellt werden.
Wird differenzierter Unterricht im Fach Wirtschaft anders ausgeprägt sein als in anderen Fächern? (B8)
Die Einschätzungen der Experten zu dieser Frage wurden ebenfalls über eine sechsstufige Skala6 erhoben und in Abbildung 10.7 dargestellt.
61 = „überhaupt
keine andere Ausprägung“ 6 = „sehr klare andere Ausprägung“
10.1 Ergebnisse zur Wahrnehmung von Heterogenität
141
Abbildung 10.7 Ausprägung von Differenzierung im Fach Wirtschaft. (Eigene Darstellung)
Die Verteilung der Antworten über alle Expertengruppen weist deutlich darauf hin, dass nur ein relativ geringer Anteil (6 % in Kategorie 1) davon ausgeht, dass sich eine Differenzierung im Fach Wirtschaft in ihrer Ausprägung überhaupt nicht von anderen Fächern unterscheidet. Ebenfalls gering fielen die Bewertungen in Kategorie 2 aus. Hingegen deutlich stärker wurden die mittleren Kategorien mit jeweils 27 % bewertet. Die Kategorien 5 und 6 wurden mit jeweils 17 % ebenfalls häufig gewählt. Versucht man, die Kategorien logisch zu bündeln, so ließe sich argumentieren, dass nur ein recht geringer Anteil keinen Unterschied einer Differenzierung in anderen Fächern erwarten würde, aber über 50 % der Experten ihre Stimme in einem mittleren Bereich verorten, was einerseits einem „sowohl als auch“ entsprechen könnte oder ggf. als Enthaltung interpretiert werden könnte. Gut ein Drittel (34 %) der befragten Experten war durch die Wahl der Kategorien 5 und 6 hingegen der Ansicht, dass sich die Ausprägung einer Differenzierung im Fach Wirtschaft sehr deutlich von anderen Fächern unterscheidet und somit auch Besonderheiten für das Fach Wirtsc haft gegeben sein müssen. Zusammenfassung und Ausblick zur Wahrnehmung von Heterogenität und zur Bedeutung von differenziertem Unterricht Die Einschätzungen der Experten zur zukünftigen Bedeutung von differenziertem Unterricht (ebenso wie differenziertem Wirtschaftsunterricht) waren eindeutig. Zu klären bleibt hingegen, wodurch sich diese Einschätzungen begründen lassen.
142
10 Ergebnisse der ersten Delphi-Runde
Entsprechen die Aussagen der Experten eventuell nur einem aktuellen bildungspolitischen Trend oder welche konkreten Aspekte sprechen für eine zukünftige Notwendigkeit, mehr Differenzierung im Wirtschaftsunterricht zu implementieren? Diese Fragen sollen somit in der zweiten Befragungsrunde erneut aufgegriffen und präzisiert werden. Ebenfalls ließ sich bei der Bewertung der Ausprägung von differenziertem Unterricht ein klarer Trend erkennen. Dabei vertrat die Mehrheit der Experten die Ansicht, dass sich die Ausprägung einer Differenzierung im Fach Wirtschaft von anderen Fächern unterscheidet. Vor dem Hintergrund der in Kapitel 7 dargestellten Übersicht zu Differenzierungskonzepten erscheint die Einschätzung der Experten überraschend, zumal der Überblick zeigte, dass alle genannten Fachbereiche mehr oder weniger die gleichen Themengebiete beforschen. Auch bezieht sich die domänenspezifische Literatur zu Differenzierungskonzepten sehr häufig auf die gleichen Methoden und verweist auf ähnliche Aspekte. Somit lässt sich die Einschätzung der Experten weder schnell noch einfach erklären. Wodurch sich diese Unterschiede ergeben und wie diese andere Ausprägung konkret aussieht, muss somit in der zweiten Befragungsrunde genauer analysiert werden. Damit ist auch die Fragestellung verbunden, welche Konsequenzen sich daraus für den Wirtschaftsunterricht ableiten lassen, sofern sich die Einschätzung in der zweiten Befragungsrunde bestätigen. Nach der Darstellung der Ergebnisse des ersten Fragebereichs beginnt nun die Auswertung der Fragen mit einem Bezug zu den Dimensionen des ZAFE-Modells.
10.2 Erste Einschätzungen zur Dimension „Differenzierungsziel“ Übersicht „Der Umgang mit der Vielfalt von Schülern kann von Fach zu Fach deutlich variieren. In Fächern wie Kunst oder Religion kann Vielfalt bereichernd wirken und ist folglich erwünscht oder wird sogar gefördert. Andere Fächer, zum Beispiel Physik, haben deutlich weniger Spielraum, um Vielfalt mit in den Unterricht einzubeziehen und müssen diese eventuell sogar übergehen.“
10.2 Erste Einschätzungen zur Dimension „Differenzierungsziel“
143
Wie schätzen Sie vor diesem Hintergrund das Fach Wirtschaft ein? (D1) Wo sehen Sie Möglichkeiten, die Vielfalt der Schüler zu nutzen, und wo nicht? (D2)
Wenn Vielfalt entsprechend der ersten ZAFE-Dimension zugelassen oder sogar explizit genutzt werden soll, stellt sich somit die Frage, ob und an welchen Stellen das Fach Wirtschaft Möglichkeiten bietet, um Vielfalt bereichernd einbeziehen zu können. Bei der Auswertung dieser beiden Fragen, die anhand von Freitextantwort beantwortet wurden, zeigte sich, dass diese Fragen häufig nicht klar voneinander getrennt wurden und die Experten diese zueinander in Bezug setzten.7 Dennoch war es möglich, für die erste Frage die Antworten entsprechend auszuzählen, um eine Häufigkeitsverteilung der Antworten zu erstellen. Für Frage D1 konnten insgesamt 26 Einschätzungen gewonnen werden. Wie Abbildung 10.8 zeigt, verortete eine klare Mehrheit der Experten das Fach Wirtschaft zwischen den beiden Polen Physik und Kunst.
Abbildung 10.8 Eignung des Fachs Wirtschaft zum Einbeziehen von Vielfalt. (Eigene Darstellung)
7Eine
Antwortskala wäre somit für eine Verortung des Fachs im Sinne der ersten Frage eventuell zielführender gewesen.
144
10 Ergebnisse der ersten Delphi-Runde
Da sich die Antworten der Experten in Bezug auf die beiden Fragen vermischten, sollen diese auch im Rahmen der weiteren Auswertung im Zusammenhang betrachtet werden. Aus den Antworten konnten somit drei Hauptkategorien gebildet werden, wobei sich die Kategorien A und C stärker auf die erste Frage beziehen und Kategorie B verstärkt Möglichkeiten aufzeigt, an welchen Stellen die Vielfalt der SuS laut Experten im Wirtschaftsunterricht genutzt werden kann. Die ebenfalls vorhandenen Grenzen wurden durch die Unterkategorien B1 bis B2 abgebildet. Eine eindeutige Darstellung der Antwortverteilungen, vor allem in Hauptkategorie B, wurde dadurch erschwert, dass die Experten häufig nicht klar in eine Richtung argumentierten, sondern sowohl Möglichkeiten als auch Grenzen aufzeigten. Um die Kategorien B und C klar voneinander abzugrenzen, beinhalten die Antworten in Kategorie C eindeutig skeptische Aussagen, die häufig über limitierende Rahmenbedingungen begründet wurden (Tabelle 10.1). Tabelle 10.1 Antwortkategorien und Möglichkeiten, Vielfalt einzubeziehen Kategorie
Bezeichnung
A
Allgemeine positive Einschätzung für das Einbeziehen von Vielfalt 23 %
Anzahl
B
Wirtschaft befindet sich zwischen den Polen Physik und Kunst • Thematische Möglichkeiten • Grenzen • Möglichkeiten für unterschiedliche Zugänge zu Inhalten
58 % 14 6 12
C
Skeptische Äußerungen und limitierende Rahmenbedingungen
11 %a
aDie Art der Auszählung wurde in dieser Tabelle bewusst vermischt. Die Prozentsätze bei den Hauptkategorien beziehen sich dabei auf die Auswertung in Abbildung 10.8. Die Unterkategorien wurden hingegen absolut dargestellt.
Antwortkategorie A: Positive Einschätzung für das Einbeziehen von Vielfalt In Bezug auf beide Fragestellungen sprachen sich 23 % der Experten dafür aus, dass das Fach Wirtschaft grundsätzlich Möglichkeiten bietet, um Vielfalt im Wirtschaftsunterricht einbeziehen und nutzen zu können. Dies wird zum Beispiel durch die folgende Aussage deutlich: „Ich sehe für das Fach Wirtschaft großes Potenzial für den Umgang/das produktive Einbeziehen von Vielfalt.“ (P13)
Auch wurde Vielfalt in 23 % der Aussagen grundsätzlich positiv bewertet, die demnach im Wirtschaftsunterricht auf unterschiedliche Weise einbezogen und genutzt werden kann.
10.2 Erste Einschätzungen zur Dimension „Differenzierungsziel“
145
„Ich denke, dass Vielfalt in allen Fächern eine Bereicherung sein kann. Im Fach Wirtschaft finde ich sie explizit wünschenswert. Kontroversen, verschiedene Meinungen, Diskussionen etc. sind wichtige Aspekte im Wirtschaftsunterricht.“ (P31)
Hinter dieser beschriebenen, explizit erwünschten Vielfalt im Sinne von Kontroversen und verschiedenen Meinungen verbirgt sich der Grundsatz des „Beutelsbacher Konsens“, der ursprünglich im Bereich der Politikdidaktik zu verorten ist. 1976 wurden auf einer politikdidaktischen Konferenz grundlegende fachliche Prinzipien beschlossen, die als Grundlage für die pädagogische Praxis dienen sollten. Diese vereinbarten Prinzipien, die unter dem Begriff `Beutelsbacher Konsens` zusammengefasst wurden, beinhalten u. a. das „Überwältigungsverbot“, das „Kontroversitätsgebot“ sowie die „Schülerorientierung“. Während die SuS durch das Überwältigungsverbot vor Indoktrination geschützt werden sollen, fordert das Kontroversitätsgebot, „dass alles, was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, auch im Unterricht kontrovers erscheinen soll“ (Loerwald 2017, S. 62). Wie sehr SuS der Sekundarstufe I tatsächlich mit kontroversen wissenschaftlichen Diskussionen in Berührung kommen, konnte jedoch hinterfragt werden. Einfacher scheint es hingegen, unterschiedliche Meinungen, Werte und Interessen aus der politischen Diskussion auf Unterrichtsebene einfließen zu lassen. Auf Grundlage dieser unterschiedlichen Positionen sollen die SuS somit in die Lage versetzt werden, sich eine eigene Meinung bilden zu können (Wehling 1977, S. 179). Die im Beutelsbacher Konsens vereinbarten Prinzipien gelten unterdessen nicht nur für die Politikdidaktik, sondern wurden auch von der ökonomischen Bildung übernommen. Eine Darstellung zum Kontroversitätsgebot als konzeptionelle Grundlage im Wirtschaftsunterricht findet sich zum Beispiel bei Loerwald (2012). Das Zitat zeigt aber auch, dass durchaus mehrere Möglichkeiten vorhanden sind, wie die Vielfalt der SuS im Wirtschaftsunterricht einbezogen werden kann. Die von der Person genannten Aspekte sind dabei vor allem im Bereich der Meinungsebene bzw. Diskussionsebene einzuordnen. Dass sich die Experten mit ihren Antworten so klar auf die Aspekte Meinungsvielfalt und Kontroversen bezogen,8 könnte zudem daran liegen, dass wirtschaftliche Inhalte in Baden-Württemberg bisher im Fächerverbund mit Politik und Geographie unterrichtet wurden und einige Experten wahrscheinlich auch entsprechend politikdidaktisch geprägt sind.
8Dies
zeigte sich auch in den Ergebnissen der zweiten Befragungsrunde Abschnitt 11.2.
146
10 Ergebnisse der ersten Delphi-Runde
„Für das Fach Wirtschaft kann Vielfalt bereichernd wirken. Im Sinne des Beutelsbacher Konsenses ist es Anspruch des Fachs Wirtschaft, verschiedene Erklärungswege für wirtschaftspolitische Fragestellungen zuzulassen. In diesem Sinne kann Vielfalt zu einer größeren Pluralität der Meinungen führen, die dann auch in Diskussionen entsprechend eingebracht und ausgewertet werden können.“ (P4)
Die in den letzten beiden Zitaten angesprochenen Punkte „Kontroversität“ und „verschiedene Erklärungswege“ beziehen sich dabei nicht nur auf das Berücksichtigen verschiedener Meinungen, sondern auch darauf, dass Themen, die in der Gesellschaft, Politik und Wissenschaft kontrovers diskutiert werden, so auch im Wirtschaftsunterricht abgebildet werden müssen (Kontroversitätsgebot). Das folgende Zitat nennt zudem zwei weitere Möglichkeiten, wie Vielfalt im Wirtschaftsunterricht einbezogen werden könnte. „Diversität kann bezogen auf bestimmte Problemstellungen relativ bedeutsam sein (z. B. finanzielle Allgemeinbildung, emotional tangierte Phänomene, wie z. B. Arbeitslosigkeit) und sollte daher auch berücksichtigt und nicht übergangen werden. Beispielsweise sind unterschiedliche Interessen und unterschiedliche Vorstellungen der SuS aufzugreifen. Sicherlich sind manche Heterogenitätskategorien für den Wirtschaftsunterricht bedeutsamer als andere.“ (P5)
Dabei dürfte der Aspekt der verschiedenen Schülerinteressen vor allem die motivationale Ebene betreffen. Die unterschiedlichen Interessen der SuS könnten einerseits beispielsweise über die zuvor beschriebene, vielschichtige Meinungsebene angesprochen werden. Andererseits lassen sich unterschiedliche Interessen im Fach Wirtschaft auch über die Sachebene bedienen, wobei vor allem dem Aspekt der „Multiperspektivität“ eine wichtige Rolle zukommt. Multiperspektivität bedeutet, dass Lerngegenstände aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet und erschlossen werden können und sich die SuS folglich interessengeleitet mit diesen Perspektiven auseinandersetzen könnten. Die Sachebene steht dabei ebenfalls in Verbindung mit dem Aspekt der „Schülervorstellungen“, der vor allem von Experten aus dem Hochschulbereich genannt wurde. Demnach kann Vielfalt im Wirtschaftsunterricht dadurch einbezogen und genutzt werden, dass die SuS anfangs über sehr unterschiedliche Vorstellungen zu Fachkonzepten verfügen können, die somit im Unterricht aufgegriffen und thematisiert werden können. Diese vielfältigen Schülervorstellungen müssen durch den Unterricht jedoch an die tatsächlichen Fachkonzepte angepasst werden, wodurch eventuell auch falsche Vorstellungen im
10.2 Erste Einschätzungen zur Dimension „Differenzierungsziel“
147
Unterricht thematisiert und in die richtigen Bahnen gelenkt werden müssen. Dass Untersuchungen zu Schülervorstellungen in den gesellschaftswissenschaftlichen Fächern bereits ausgiebig erforscht wurden, zeigte der Vergleich der verschiedenen Fachbereiche in Kapitel 7. Die folgende Aussage aus dem Hochschulbereich verdeutlicht, dass selbst im Jahr 2017 durchaus noch Entwicklungspotenzial für differenzierende Unterrichtskonzepte im Fach Wirtschaft vorhanden zu sein scheint. „Nach meinem Eindruck haben wir uns in der ökonomischen Bildung mit Heterogenität und entsprechender Differenzierung im Wirtschaftsunterricht noch viel zu wenig befasst. Vielfalt muss und sollte auch im Wirtschaftsunterricht stärker berücksichtigt werden. Hier liegt auch Potenzial zur Unterrichtsentwicklung.“ (P9)
Dieses Potenzial kann jedoch nur gehoben werden, wenn sich die Lehrkräfte darauf einlassen, ihren Unterricht entsprechend zu gestalten, wie diese Aussage aus dem schulischen Bereich zeigt. „Vielfalt kann Unterricht deutlich bereichern, wenn ich mich als Lehrer darauf einstelle und meinen Unterricht derart ausgestalte, diese Unterschiede nutzbar zu machen.“ (P12)
Durch das Zitat wird zudem deutlich, dass die Antworten der Experten teilweise mehrere Antwortkategorien zugleich bedienten. So steht der erste Teil dieser Aussage klar für „Antwortkategorie A“ während der zweite Teil ebenfalls als limitierender Faktor gesehen werden könnte. Derartige Aussagen, die in beide Richtungen argumentieren, finden sich verstärkt in der folgend „Antwortkategorie B“ wieder, die mit insgesamt 58 % relativ stark ausgeprägt ist. Antwortkategorie B: Wirtschaft befindet sich zwischen den Polen Physik und Kunst Diese Kategorie ist vor allem dadurch gekennzeichnet, dass die Experten das Fach Wirtschaft in der Mitte der Extrempole Physik und Kunst verorteten. Das bedeutet, dass die Experten einerseits klare Möglichkeiten sehen, um Vielfalt zuzulassen, aber andererseits auch Grenzen aufzeigen, was durch das folgende Beispiel verdeutlich werden kann. „Vielfalt kann genutzt werden, wenn projektorientiert gearbeitet wird (z. B. Schülerwettbewerbe); Vielfalt kann hinderlich sein, wenn die Vermittlung von Grundwissen im Vordergrund steht (z. B. Zertifikatskurse).“ (P8)
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10 Ergebnisse der ersten Delphi-Runde
Generell zeigten die Antworten, dass die Experten, die sich in „Kategorie B“ äußerten, häufig Pro- und Kontra-Argumente in ihrer Antwort aufführten, aber mehrheitlich eine positive Einstellung zur Nutzung von Vielfalt im Wirtschaftsunterricht erkennbar war. Die Aussagen unterschieden sich jedoch in der Ausprägung dieser positiven Einschätzungen. Vor allem Antworten aus dem Bereich der kaufmännischen Schulen, in denen das Fach Wirtschaft durch die Unterbereiche Betriebswirtschaft, Volkswirtschaft, Steuerung- und Kontrolle, Geschäftsprozesse etc. fachlich vertieft unterrichtet wird und somit auch andere Anforderungen an die Lerner gestellt werden, unterschieden sich teilweise deutlich von Aussagen aus dem Sekundarbereich I. Vor allem die fachliche Vertiefung, die häufig auch mit mathematischen Kenntnissen in Verbindung steht, kann als Argument gewertet werden, dass zum Teil begrenztere Freiräume für das Zulassen oder Einbeziehen von Vielfalt gesehen wurden als in der Sekundarstufe I. In diesem Absatz werden Antworten der Unterkategorie „Thematische Möglichkeiten“ dargestellt, in der die Experten entsprechende thematische Möglichkeiten für das Einbeziehen von Vielfalt aufführten. Eine detaillierte Darstellung oder Begründung, warum einzelne Inhalte besonders geeignet sein sollen, blieben die Experten jedoch meist schuldig. „[…] bei Wirtschaftssystemen, sehr gut bestimmt auch bei den gesetzlichen Grundlagen/Verbraucherrechten bis hin zur Unternehmensgründung/-formen.“ (P24) oder „Volkswirtschaftliche Lerninhalte können unter bestimmten Umständen die Heterogenität der Lerngruppe bereichernd aufgreifen. Zum Beispiel können Erfahrungen von SuS aus anderen Kulturkreisen genutzt werden, Vorwissen kann in Gruppenarbeiten integriert werden etc.“ (P25). Ebenfalls als geeignet wurden Themenbereiche bewertet, die generell eine gewisse Problemorientierung mit sich bringen. „Nutzungsmöglichkeiten da, wo es um "Problemlösung" geht (z. B. Umgang mit/ Lösung von Marktversagen oder sozialen Dilemmata => hier können kreative, sozial-kooperative, analytische Ideen zu unterschiedlichen, aber jeweils effektiven Lösungen führen und sich gut ergänzen) und um unterschiedliche Ausgestaltung von Wirtschaftssystemen (Rolle des Staates, Bedeutung von Institutionen => hier lässt sich von den Herkunftsstaaten ausländischer SuS Verschiedenes lernen).“ (P13)
Eine weitere Möglichkeit, um Vielfalt im Unterricht einzubeziehen, wurde darin gesehen, Sachverhalte multiperspektivisch betrachten und somit entsprechend bewerten zu können. „Themen könnten und sollten mehrperspektivisch betrachtet werden. Die unterschiedlichen Perspektiven und Interessen der SuS sind ein möglicher Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit ökonomischen Themen.“ (P9)
10.2 Erste Einschätzungen zur Dimension „Differenzierungsziel“
149
Die bei wirtschaftlichen Inhalten häufig vorhandene Multiperspektivität kann somit auf einer inhaltlichen Ebene unterschiedliche Differenzierungsmöglichkeiten bieten und wie bereits beschrieben auch mit Blick auf unterschiedliche Schülerinteressen für eine Differenzierung genutzt werden. In der zweiten Unterkategorie „Grenzen“ wurden Aussagen der Experten gebündelt, die thematische Begrenzung für das Zulassen oder Einbeziehen von Vielfalt aufzeigen. Dies ist nach Einschätzungen der Experten dann gegeben, wenn es im Unterricht um die Vermittlung von Faktenwissen, Grundlagenwissen oder einem Grundverständnis von bestimmten Zusammenhängen geht. Gleiches gilt auch für Bereiche, die als relativ starr beziehungsweise strikt geregelt angesehen werden können, wie zum Beispiel die Themenbereiche „Bilanzierung“ oder „Jahresabschluss“ im Fach Rechnungswesen. „Klare Regeln in den Wirtschaftsfächern sprechen gegen eine nötige Vielfalt“ (P19). Ähnliches wurde für Inhalte der Mikroökonomie, beispielsweise für das Thema „Preisbildung“ geäußert, was vor allem in dem Bereich der Sekundarstufe II vertieft unterrichtet wird. Auch wurden Themenbereiche, die ein modellhaftes Denken oder das Nachvollziehen von Modellen voraussetzen, als ungeeignet beschrieben, um Vielfalt einbeziehen zu können. Ähnlich wie in der Buchführung ist beim Arbeiten mit Modellen der Rahmen bereits vordefiniert und schränkt somit die Spielräume für eine Differenzierung ein. Anders würde es sich laut den Experten verhalten, wenn sich die Lernenden einem Sachverhalt nähern würden, in dem sie zum Beispiel eigene Modelle entwickeln. Neben derartigen Themenbereichen, die keine Spielräume für eine inhaltliche Flexibilität aufweisen, verwiesen die Experten auch auf Inhaltsbereiche, bei denen zu heterogene Schülerleistungen einen problematischen Aspekt dargestellt und nicht als Bereicherung verstanden werden kann. „Betriebswirtschaftliche Lerninhalte (z. B. Rechnungswesen, Buchhaltung, Kostenund Leistungsrechnung etc.) profitieren m. E. wenig von heterogenen Lerngruppen. Defizite im Bereich mathematischer Kompetenzen oder kognitiver Fähigkeiten können nur schwer aufgefangen werden und bedeuten eher eine Belastung für die Lerngruppe!“ (P25)
Die letzte Unterkategorie „Möglichkeiten für unterschiedliche Zugänge zu Inhalten“ kann in Verbindung zu den Darstellungen in Kapitel 7 gesetzt werden. So betrachten die unterschiedlichen Fachbereiche die Umsetzung einer Methodenvielfalt und den Einsatz verschiedener Medien im Unterricht als eine Möglichkeit, um eine Differenzierung umzusetzen. Zielsetzung dieser Methodenvielfalt ist es, den SuS möglichst vielseitige und interessante Zugänge zu den
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10 Ergebnisse der ersten Delphi-Runde
verschiedensten Inhalten bieten zu können, um dadurch eine möglichst große Anzahl an SuS, im Sinne einer kognitiven Aktivierung, ansprechen zu können. Diese Zugänge könnten sich beispielsweise durch die Aktionsform bzw. Sozialform unterscheiden, durch die Verwendung von unterschiedlichen Medien variiert werden oder auch auf unterschiedliche Lernstile hin ausgerichtet sein (vgl. Abschnitt 7.1.1). Die Darstellungen zur vorhandenen Literatur zeigten bereits, dass für das Fach Wirtschaft im Prinzip eine große aus Auswahl an Methoden und Medien zur Verfügung steht, um unterschiedliche Zugänge zu Inhalten konstruieren zu können. Jedoch ist damit auch die Fragestellung verbunden, welche Arten von verschiedenen Zugängen für die wirtschaftlichen Inhalte überhaupt geeignet sind. In dieser Unterkategorie wurden daher Antworten der Experten gebündelt, die eine Einschätzung dazu liefern. Demnach sind vor allem Themenbereiche geeignet, „wo die Wirtschaftswissenschaft verschiedene Arten der Darstellung eines Sachverhaltes hat (Grafische Darstellung – numerische/formale Darstellung – verbale Darstellung), da hier SuS durch ihre jeweils "starke Seite" angesprochen werden können.“ (P13)
Beispiele für konkrete Themen wurden von den Experten dabei leider nicht genannt. Hingegen bescheinigten die folgenden Aussagen vor allem offenen und kooperativen Lernformen ein entsprechendes Potenzial für den Einsatz im Wirtschaftsunterricht. „In projektorientiertem Unterricht oder anderen offenen Lernformen sehe ich gute Gelegenheiten, dass sich Schülerinnen und Schüler entsprechend ihrer eigenen und individuellen Heterogenität gezielt und nachhaltig einbringen.“ (P12)
Ebenso wurden in diesem Kontext auch die Realbegegnung, die Lernlandschaft und die Gruppenarbeiten genannt. Letztere bietet den SuS laut den Experten eine gute Möglichkeit, um Standpunkte zu bestimmten Inhalten gemeinsam zu entwickeln. Auch stellte für die Experten eine gelingende Abstimmung von inhaltlichen Differenzierungsmöglichkeiten und eine geeignete methodische Umsetzung einen wesentlichen Aspekt dar. Denn „[…] kreative, sozial-kooperative, analytische Ideen […]“ (P13) müssen in welcher Form auch immer methodisch und medial genutzt, weiterbearbeitet oder auch präsentiert werden. In diesem Kontext wurde die Methode „Diskussion“ als relativ leicht umsetzbar eingeschätzt, die allerdings auf eine gewisse Meinungsvielfalt beziehungsweise thematische Multiperspektivität angewiesen ist.
10.2 Erste Einschätzungen zur Dimension „Differenzierungsziel“
151
„Vielfalt ist notwendig bei Diskussionen, bei der Bewertung von aktuellen Ereignissen in „WBS“ Sek I Ba-Wü […].“ (P31)
In diesem Sinne könnten einerseits moderierte Diskussionen eine Möglichkeit bieten, um vielfältigen Meinungen im Klassenzimmer einen Raum zu geben und diese mit einzubeziehen. Andererseits könnte aber auch schon die alleinige Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Problemlagen und möglichen Lösungsansätzen zu einer Erweiterung der Handlungskompetenz führen. Diese Problemlagen müssten den SuS jedoch anhand von gut aufbereiteten Unterrichtsmaterialien dargelegt werden. „Angegebene Problemstellungen sollen die Schüler durch Infos und Materialien lösen können – vielfältige Wege erkennen, um ein Problem zu lösen. Dann werden die Schüler kompetent.“ (P19)
Die drei Unterkategorien zeigten somit diverse Möglichkeiten auf, wie die Vielfalt der SuS über die thematische und die methodisch-mediale Ebene im Wirtschaftsunterricht genutzt und einbezogen werden könnte. Diesen positiven Äußerungen steht aber auch eine Reihe von kritischen Anmerkungen gegenüber, wonach die Experten keine großen Spielräume sehen, um Vielfalt einbeziehen zu können, oder diese durch gegebene Rahmenbedingungen eingeengt werden. Derartige Argumente werden nun in Kategorie C genauer vorgestellt. Antwortkategorie C: Skeptische Äußerungen und limitierende Rahmenbedingungen Die folgenden Einschätzungen zeigen eine andere Argumentationsrichtung. Demnach brauchen Fächer wie Kunst oder Religion, die viele Freiräume bieten, auch entsprechend vielseitige SuS, welche diese Freiräume auch ausfüllen und ausnutzen können. Im Fach Wirtschaft scheint dies, entsprechend dem folgenden Zitat jedoch nicht der Fall zu sein. „Klare Regeln in den Wirtschaftsfächern sprechen gegen eine nötige Vielfalt“ (P19). Dieser Blickwinkel mag zwar auch eine interessante Fragestellung darstellen, steht aber eher im Gegensatz zur üblichen Diskussion im Heterogenitätsdiskurs. Nämlich, wie man den unterschiedlichen SuS durch einen differenzierten Unterricht gerecht werden kann. Vielfalt könnte im Unterricht aber auch bewusst unterbunden werden, wenn dieser so linear konzipiert würde, dass kein Raum für individuelle Spielräume gegeben ist. „In zu engem, linearem, streng getaktetem Unterricht sehe ich persönlich eher Hemmnisse […]“ (P12). Dennoch können die Möglichkeiten zum Einbeziehen von Vielfalt von Fach zu Fach durchaus variieren, da manche
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10 Ergebnisse der ersten Delphi-Runde
Fächer sicherlich stärker auf Diskussionen und einen vielfältigen Meinungsaustausch angewiesen sind als andere. Stellt man zudem die Expertenaussage P19 den dargestellten Einschätzungen aus Kategorie A und B gegenüber, so ist die Auffassung der „klaren Regeln“ durchaus als relativ zu bewerten. Weitere Expertenmeinungen zu hinderlichen Rahmenbedingen werden aus Gründen der Übersichtlichkeit erst in Abschnitt 10.6 im Rahmen der weiterführenden Fragen ausführlicher thematisiert. Fazit und Weiterführung zur Dimension „Differenzierungsziel“ Wie die dargestellten Ergebnisse zeigen, fallen die Einschätzungen der Experten zur Frage, ob Vielfalt im Wirtschaftsunterricht einbezogen werden kann, grundsätzlich positiv aus. Sofern es dem Unterrichtsziel entspricht, Vielfalt mit in den Unterricht einbeziehen zu wollen, verfügt das Fach Wirtschaft laut den Aussagen der Experten über ein entsprechendes Potenzial. Die Experten argumentierten bei dieser Frage jedoch in unterschiedliche Richtungen, wie Vielfalt in den Wirtschaftsunterricht einbezogen werden kann. „Themen könnten und sollten mehrperspektivisch betrachtet werden. Die unterschiedlichen Perspektiven und Interessen der SuS sind ein möglicher Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit ökonomischen Themen.“ (P9)
Diese Äußerung aus dem Hochschulbereich bezieht sich dabei stärker auf eine Sachebene, die aufgrund der vorhandenen Multiperspektivität vielseitige Möglichkeiten bietet um sich ökonomische Inhalte zu erschließen. Welches Potenzial diese Multiperspektivität für Bildungsprozesse genau bietet, ist eine Frage, mit der sich viele Fachbereiche auseinandersetzen (Loerwald 2008, S. 233). Dabei kann unter Multiperspektivität verstanden werden, dass Lerngegenstände auf einer sachlichen Ebene aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden. Für sozialwissenschaftliche Lernprozesse und somit auch die Wirtschaftsdidaktik können diese unterschiedlichen Perspektiven aus drei Bereichen abgeleitet werden: • Ein soziales Phänomen kann aus verschiedenen wissenschaftlichen Positionen heraus analysiert werden. • Ein soziales Phänomen erfordert die Berücksichtigung, individueller Meinungen sowie akteursspezifischer Restriktionen. • Soziale Phänomene können auf der Sachebene aus einer individuellen und einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive erörtert werden (Loerwald 2008, 234 f.). Unterschiedliche praxisnahe Beispiele, wie sich die Perspektiven zwischen einem individuellen Blickwinkel und einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive
10.2 Erste Einschätzungen zur Dimension „Differenzierungsziel“
153
u nterscheiden können wurden für die ökonomische Bildung bereits exemplarisch herausgearbeitet (Loerwald 2017, 64 f.). Diese unterschiedlichen Perspektiven werden von Loerwald zum Beispiel vor dem Hintergrund der Umweltschutzproblematik aufgezeigt. So existiert in diesem Bereich einerseits die Perspektive der individuellen Konsumenten, die sich z. B. gerne Kreuzfahrten, Handys und Kleidung gönnen. Andererseits führen diese aggregierten Handlungen der individuellen Akteure auch zu gesellschaftlichen Problemen, wie einer starken Umweltverschmutzung, was im Sinne einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive ebenfalls berücksichtigt und aufgezeigt werden sollte (Loerwald 2017, S. 65). Ebenso kann eine Sache für verschiedene Akteure eine unterschiedliche Bedeutung darstellen, was am Beispiel von Lohnerhöhungen aufgezeigt werden kann. So bedeuten Lohnerhöhungen für Konsumenten mehr Einkommen und eine Nutzensteigerung. Für die Unternehmer stellen Lohnerhöhungen hingegen einen Kostenfaktor dar, und für den Staat sind die Lohnnebenkosten eine Steuereinnahme (Loerwald 2008, S. 236). Im Unterricht bieten diesen verschiedenen Perspektiven laut den Experten vielseitige Möglichkeiten, um differenzierende Lernsituationen, zum Beispiel im Sinne von Fallszenarien, konzipieren zu können. Sofern man zwischen den Perspektiven wechselt und vor allem gegensätzliche Perspektiven thematisiert, so gelangt man auf eine Meinungs- beziehungsweise Diskussionsebene. Die Möglichkeiten, wie die Vielfalt der SuS hier genutzt werden kann, wurde von den Experten ebenfalls thematisiert. „Ich denke, dass Vielfalt in allen Fächern eine Bereicherung sein kann. Im Fach Wirtschaft finde ich sie explizit wünschenswert. Kontroversen, verschiedene Meinungen, Diskussionen etc. sind wichtige Aspekte im Wirtschaftsunterricht.“ (P31)
In Anlehnung an dieses Zitat sollen vor allem die Möglichkeiten „verschiedene Meinungen/Diskussionen“ und „Kontroversen“ noch präzisiert und unterschieden werden. Wenn verschiedene individuelle Schülermeinungen im Unterricht einbezogen werden, so bietet dies in erster Linie eine Möglichkeit, um die SuS am Unterricht aktiv beteiligen zu können. Auf Grundlage dieser Meinungen können jedoch auch Diskussionen angeregt werden, die je nach Schulart und Klassenstufe mehr oder weniger sachlich geführt werden können. Der Begriff „Kontroversen“ bezieht sich hingegen stärker darauf, dass die in Gesellschaft, Wissenschaft und Politik kontrovers geführten Diskussionen so auch im Unterricht nachgezeichnet werden könnten. Eine solche Auseinandersetzung mit kontroversen Themen, würde sich dabei deutlich stärker an Meinungen im Sinne von sachlichen Argumenten orientieren. Ein Beispiel für eine solche Kontroverse könnte die Fragestellung sein, ob ein bedingungsloses
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10 Ergebnisse der ersten Delphi-Runde
Grundeinkommen eingeführt werden sollte. Um diese Debatte nachzuzeichnen, müssten ökonomische, politische, gesellschaftliche, aber beispielsweise auch verhaltenspsychologische Argumente gegeneinander abgewogen werden. In einer Auseinandersetzung mit Kontroversen ist es somit vor allem das Ziel, sich mit den verschiedenen Argumenten auseinanderzusetzen, um sich ein mündiges Urteil bilden zu können und nicht das Problem an sich zu lösen. Dies müsste bei Kontroversen meist auf einer politischen Ebene geschehen. Eine Auseinandersetzung mit derartigen Kontroversen kann in der Sekundarstufe I jedoch nur ansatzweise erfolgen. Die folgende Grafik (Abbildung 10.9) soll die eben erläuterten Aspekte zusammenfassen und veranschaulichen.
Abbildung 10.9 Beschreibung von Sachebene und Meinungsebene. (Nach Loerwald 2017)
Offen bleibt hingegen, ob die von den Experten beschriebene Meinungsebene oder die Sachebene geeigneter ist, um Vielfalt im Wirtschaftsunterricht einbeziehen und nutzen zu können. Dieser Gedankengang soll in die zweite
10.3 Erste Einschätzungen zur Dimension „Differenzierungsaspekte“
155
Befragungsrunde überführt und in diesem Rahmen genauer untersucht werden, wobei bewusst an den Begriffen „Meinungsebene“ und „Sachebene“ im Sinne der genannten Antworten aus der ersten Befragungsrunde festgehalten wurde. Hierfür wurde für den zweiten Fragebogen der Sachverhalt in Form eine These formuliert mit der Zielsetzung, dass die Experten ihre Einschätzungen möglichst anhand von konkreten Inhalten begründen. „Eine klare Mehrheit der Expertinnen und Experten bescheinigte dem Fach Wirtschaft im Vergleich zum Fach Physik ein großes Potenzial, um Vielfalt in den Unterricht einbeziehen zu können. Die Einschätzung der Experten, wie dies realisiert werden kann, ging dabei in unterschiedliche Richtungen: Unklar ist, ob dies – eher – für die wirtschaftliche Sachebene gilt, in dem Sinne, dass wirtschaftliche Inhalte Möglichkeiten für unterschiedliche Erklärungswege/Zugänge bieten, oder für die Meinungsebene auf der sich wirtschaftliche Inhalte für kontroverse Diskussionen eignen.“
Ebenso führten die Aussagen der Experten zu den vorhandenen thematischen Hürden zu einem weiteren Präzisierungsbedarf, wofür die folgende Vignette konstruiert wurde: „Die Expertinnen und Experten nannten auch Grenzen für das Einbeziehen von Vielfalt. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn es sich um die Vermittlung von Grundlagenwissen handelt oder um Themenbereiche wie Rechnungswesen, Kosten- und Leistungsrechnung oder Mikroökonomie in der Sekundarstufe II, die sehr starr und regelgeleitet sind. Andererseits wurden Themen wie „rechtliche Grundlagen“ oder „Verbraucherrechte“, als geeignet eingeschätzt, denen aber ebenfalls eine klare rechtliche Regelung zugrunde liegt.“
Diese zusammenfassende Darstellung der Ergebnisse aus der ersten Befragungsrunde führt somit auch zur Folgefrage, ob Vielfalt nicht auch in den als starr beschriebenen Bereichen, wie dem Rechnungswesen etc., einbezogen werden kann.
10.3 Erste Einschätzungen zur Dimension „Differenzierungsaspekte“ Zur Untersuchung der Differenzierungsaspekte waren vor allem zwei Perspektiven von Interesse. Einerseits sollte untersucht werden, welche der in der Literatur genannten Heterogenitätsaspekte laut den befragten Experten einen Einfluss auf die Leistung im Fach Wirtschaft haben (Fragen C1 + C2). Anderseits
156
10 Ergebnisse der ersten Delphi-Runde
stellte sich aus einer praxisnahen Perspektive die Frage, welche dieser Heterogenitätsaspekte den täglichen Unterricht tatsächlich beeinflussen und wie die Lehrkräfte darauf reagieren (Fragen E1 + E2).
Die allgemeine didaktische Forschung hat eine Vielzahl von Heterogenitätsaspekten identifiziert, die sich auf die Leistung von Schülern auswirken. Wie bewerten Sie den Einfluss der folgenden Heterogenitätsaspekte auf die Leistungsunterschiede im Fach Wirtschaft? (C1)
Bei dieser Frage erfolgte die Bewertung der Experten über eine sechsstufige Skala9. Um den Einfluss der Heterogenitätsaspekte auf die Leistungsunterschiede mithilfe eines Rankings darstellen zu können, wurden die Bewertungen in jeder Kategorie gewichtet und aus den gewichteten Bewertungen jeweils ein Gesamtwert gebildet. Tabelle 10.2 zeigt einen Überblick über diese gewichtete Stimmenverteilung. Tabelle 10.2 Gewichtete Bewertung von Differenzierungsaspekten und Leistung Geschlecht Alter Vor- Her- Kogn. Koope Problemwissen kunft Grundration lösen fähigkeiten
Tempo Organi sation
1
11
2
2
18
3
3
18
15
4
16
5
15
6
6
Summe: 84
4
0
0
0
0
1
6
12
0
21
9
12
12
6
18
3
27
15
12
15
44
20
32
40
48
16
24
44
40
60
20
60
5
55
50
30
18
54
18
42
12
48
42
24
122
146
104
145
113
143
140
126
Auf Grundlage der ermittelten Gesamtwerte wurde für diesen Heterogenitätsaspekt ein Ranking erstellt, welches in Abbildung 10.10 dargestellt ist. Hierzu sollte erwähnt werden, dass es leichte Abweichungen bei der Gesamtanzahl der Stimmen gab. So wurden für die Aspekte „Alter“, “Vorwissen“ und „kognitive 91 = Keinen
großen Einfluss auf die Leistung. 6= Sehr großen Einfluss auf die Leistung.
10.3 Erste Einschätzungen zur Dimension „Differenzierungsaspekte“
157
Grundfähigkeiten“ jeweils nur 30 Gesamtstimmen abgegeben und für den Aspekt „Herkunft“ 29. Alle anderen Aspekte kamen auf die maximale Anzahl von 31 Stimmen. Das Ranking wurde trotz dieser kleinen Abweichung regulär auf Grundlage der vorhandenen Daten erstellt. Den größten Einfluss auf die Leistungsunterschiede im Fach Wirtschaft haben demnach die Aspekte „Vorwissen“ und „kognitive Grundfähigkeiten“ während der geringste Einfluss den beiden Aspekten „Geschlecht“ und „Herkunft“ bescheinigt wurde. Diese vier Aspekte an den beiden Randbereichen sollen im Folgenden genauer dargestellt und erläutert werden, da sie auch mit Blick auf die domänenspezifischen Diskussionen von Interesse sind.
Abbildung 10.10 Ranking Heterogenitätsaspekte und Leistung. (Eigene Darstellung)
Bei der aspektbezogenen Darstellung der Ergebnisse in Abbildung 10.11 zeigt sich, dass die als einflussreich eingestuften Aspekte deutlich weniger gestreut sind als Aspekte am unteren Ende des Rankings. Während beim Aspekt „Geschlecht“ die erste Kategorie eindeutig am stärksten gewichtet wurde und die Verteilungen danach langsam abnehmen, liegt der Schwerpunkt beim Aspekt „Herkunft“ überwiegend auf den mittleren Kategorien 3 und 4. Alle anderen Kategorien wurden mit jeweils rund vier Stimmen nahezu gleich bewertet. Die Bewertungen für den Aspekt „kognitive Fähigkeiten“ sind überwiegend in den Kategorien 4 bis 6 verortet und sind weniger gestreut als beim Aspekt „Vorwissen“ wo sich die Bewertungen mit vier Stimmen auch auf die Kategorien 2 und 3 erstrecke.
158
10 Ergebnisse der ersten Delphi-Runde
Abbildung 10.11 Verteilungen innerhalb der Heterogenitätsaspekte. (Eigene Darstellung)
Interpretation „Herkunft“: Ein Grund für die relativ gleichmäßige Verteilung könnte sein, dass der Begriff an sich sehr breit gefasst ist und von sprachlichen Hürden, dem vorhandenen Wertekanon bis hin zum sozioökonomischen Hintergrund des Elternhauses reichen kann. Setzt man die Aussagen der ersten DelphiRunde in den Kontext der wirtschaftsdidaktischen Forschung, so zeigt sich für den Aspekt „Herkunft“ im Sinne eines sozioökonomischen Status durchaus eine Übereinstimmung mit der Literatur. Wie in Abschnitt 7.3 bereits erläutert wurde, lässt sich empirisch kein klarer Zusammenhang zwischen dem sozioökonomischen Status und der Leistung nachweisen (Seeber und Remmele 2009, S. 31). Der Aspekt „Herkunft“ kann jedoch auch weiter gefasst werden und zum Beispiel auch die Sprachkompetenz der SuS beinhalten, was sich klar auf die fachliche Leistung auswirken kann. Dass es um die Sprachkompetenz der SuS nicht sonderlich gut bestellt ist, lässt sich u. a. auch anhand der Überlegungen in den unterschiedlichen Fachbereichen zu einem stärkeren sprachsensiblen Unterricht aufzeigen. Interpretation „Geschlecht“: Anders verhält es hingegen beim Aspekt „Geschlecht“. Mit nur 84 Punkten belegte dieser Aspekt im Ranking mit Abstand den letzten Platz, wodurch ihm die Experten einen nur sehr geringen Einfluss auf die Leistung im Fach Wirtschaft attestierten. Dies ist insofern eine interessante Aussage, weil sie im Gegensatz zu den bisherigen beschriebenen empirischen Erkenntnissen (vgl. Abschnitt 7.4) steht. Entsprechend den Forschungsergebnissen aus dem Bereich der ökonomischen Bildung zeigten diverse domänenspezifische Kompetenztests einen „Gender Gap“, wonach Jungen bei derartigen Kompetenztests deutlich besser abschneiden, als Mädchen (Birke und Seeber 2011a, S. 57). Dies gilt sowohl für ältere Tests, wie den „Wirtschaftlichen Bildungstest“ (Dubs et al. 1998) als auch für die aktuellste Studie zur Messung von ökonomischer Kompetenz, der „WIKO-Studie“ (Seeber et al. 2018). Die „ECOS-Studie“
10.3 Erste Einschätzungen zur Dimension „Differenzierungsaspekte“
159
(Macha und Schuhen 2013) versuchte im Rahmen ihrer Kompetenzmessung diesen „Gender Gap“ durch andere Frageformate zu beheben, was auch gelang. Jedoch konnte dieses Ergebnis durch die darauffolgende „WIKO-Studie“ nicht repliziert werden, im Gegenteil. Somit wird auch an dieser Stelle von der Existenz eines „Gender Gap“ ausgegangen, womit die Aussagen der Experten aus dieser Befragungsrunde im Widerspruch zur Literatur stehen. Die folgende Abbildung 10.12 veranschaulicht die Zuordnung der Expertengruppen zu den Bewertungen. Hierdurch wird deutlich, dass hauptsächlich die Gruppe der Lehrkräfte mit 90 % in den Kategorien 1 und 2 dem Aspekt „Geschlecht“ einen sehr geringen Einfluss bescheinigte. Eine ähnliche Bewertung lässt sich für die Gruppe der abgeordneten Lehrkräfte aufzeigen, wobei sich in dieser Kohorte nur drei der vier Personen dazu äußerten. Für die Experten aus dem Hochschulbereich zeigt sich ein geteiltes Bild. Einerseits sind diese mit 40 % in Kategorie 1 deutlich vertreten, andererseits aber ebenso stark in Kategorie 4 und mit 10 % in Kategorie 6. Die Fachleiter aus den Seminaren bewerten den Einfluss des Geschlechts mit insgesamt 83 % in den Kategorien 3 und höher am stärksten. Interessant ist daher, wodurch sich diese unterschiedlichen Einschätzungen der Expertengruppen begründen. So könnte man zum Beispiel annehmen, dass die Lehrkräfte im Unterricht einen weitläufigeren Eindruck von den SuS gewinnen können und sich Mädchen dabei positiv hervorheben können. Erstaunlich ist zudem, dass im Bereich der Hochschulen die Bewertungen relativ weit auseinanderfallen.
Abbildung 10.12 Einfluss von Geschlecht auf Leistung nach Expertengruppen. (Eigene Darstellung)
160
10 Ergebnisse der ersten Delphi-Runde
Woran das liegen könnte, bleibt hingegen Spekulation. Eventuell kann es darauf zurückgeführt werden, wie gut die Personen mit der aktuellen Literatur in diesem Bereich vertraut sind oder eine eher persönliche Einschätzung abgaben. Die Ergebnisse legen somit nahe, die Heterogenitätsaspekte in der zweiten Befragungsrunde dahingehend genauer zu untersuchen. Interpretation Vorwissen: Die Einschätzungen der Experten hinsichtlich der Bedeutung von Vorwissen für die Leistung im Fach Wirtschaft deckten sich mit den Erkenntnissen aus der Literatur. Wie aus der Übersichtstabelle zu den Forschungsständen der verschiedenen Fachbereiche deutlich wurde, wird der Aspekt „Vorwissen“ beispielsweise durch die Forschungen zu Schülervorstellungen in den verschiedenen Fachbereichen bearbeitet. Das Vorwissen ist zudem ein wesentlicher Aspekt, der auch im Rahmen von Lernstandsdiagnosen mit erhoben werden sollte (Beck 2008, S. 48) oder auch in Form von Gruppenarbeiten produktiv zum Nutzen der Mitschüler eingebracht werden kann, wie eine Expertenaussage deutlich macht. „[…] Vorwissen kann in Gruppenarbeiten integriert werden etc.“ (P25). Mit Blick auf das Vorwissen stellt sich daher die Frage, welche Art von Vorwissen für das Fach Wirtschaft von Bedeutung ist und auf welchen Wegen die SuS dieses Vorwissen erlangen können. Diese Fragen sollen u. a. in der zweiten Befragungsrunde erneut thematisiert werden. Interpretation kognitiver Grundfähigkeiten: Für den Aspekt „kognitive Grundfähigkeiten“ gestaltet sich eine Interpretation insofern schwierig, da es sich um einen sehr breiten Begriff handelt und aus der Skalenbewertung nicht ersichtlich wurde, was die Experten genau in diesen Begriff hineininterpretieren. Da die zu bewertenden Heterogenitätsaspekte direkt aus der Literatur übernommen wurden, war abzusehen, dass bei dieser Fragestellung noch ein weiteres Freitextfeld benötigt wird, in dem die Experten Ergänzungen oder Präzisierungen vornehmen können.
Möchten Sie noch weitere Aspekte nennen, die einen hohen Einfluss auf die Leistungsunterschiede im Fach Wirtschaft haben? (C2)
10.3 Erste Einschätzungen zur Dimension „Differenzierungsaspekte“
161
Das Freitextfeld wurde von insgesamt 16 Experten genutzt, um ihre Antworten hinsichtlich der bewerteten Aspekte zu präzisieren. Aus den Antworten ließen sich die folgenden Kategorien bilden, die in Tabelle 10.3 dargestellt sind. Tabelle 10.3 Antwortkategorien: Präzisierung zu den Differenzierungsaspekten Kategorie
Bezeichnung
Anzahl
A
Präzisierung „kognitive Grundfähigkeiten“
2
B
Präzisierung „Herkunft“
5
C
Präzisierung „Vorwissen“
D
• Sprachkompetenz • Alter
4 2
Weitere Aspekte
3
Antwortkategorie A: Präzisierung „kognitive Grundfähigkeiten“ Zwei der Experten mit Hochschulbezug nutzten das Freitextfeld, um dem Begriff der kognitiven Grundfähigkeiten einzugrenzen und dessen Bedeutung zu unterstreichen. Demnach wurde der Begriff gleichgesetzt mit mathematischen Grundfähigkeiten, die auch im Wirtschaftsunterricht wichtig sind. „Mathematik ist als kognitive Grundfähigkeit hervorzuheben, da auch für die schulische Umsetzung von Wirtschaft mathematisches Vorstellungsvermögen unterstützend wirkt.“ (P4)
Feiner aufgegliedert, würde dieser Begriff auch einem analytischen Verständnis und der Fähigkeit zum Abstrahieren entsprechen. „Fähigkeiten und Vorwissen speziell im Bereich Mathematik, analytisches Verständnis und Abstraktionsvermögen allgemein.“ (P28)
Dies sind insofern interessante Aussagen, da offenbleibt, ob mathematische Grundfähigkeiten in allen Schularten als eine wichtige Grundvoraussetzung angesehen werden können oder ob es dabei auch Einschränkungen gibt. Ebenso führt dieser Gedanke zur Frage, ob sich die mathematische Komplexität im Wirtschaftsunterricht für SuS mit entsprechenden Schwächen gegebenenfalls auch reduzieren ließe.
162
10 Ergebnisse der ersten Delphi-Runde
Antwortkategorie B: Präzisierung „Herkunft“ Auf den Aspekt „Herkunft“ wurde fünf Mal genauer eingegangen, wobei vier Anmerkungen dem Hochschulbereich und jeweils eine dem Bereich der Lehrkräfte und dem Seminar zugeordnet werden konnte. Eine Anmerkung aus dem schulischen Bereich stellte fest, dass „Herkunft“ ein unpräziser Begriff ist. „Sozioökonomischer Status der Eltern (es ist unklar, was mit "Herkunft" [ethnisch, sozial …?] gemeint ist).“ (P31)
Auch alle weiteren Anmerkungen zielten in die gleiche Richtung und bezogen den Aspekt „Herkunft“ vor allem auf den sozioökonomischen Status des Elternhauses, der sich somit auch auf die schulische Leistung der Kinder auswirken kann. Hierzu nannten die Experten die Hilfestellung, die ein Kind durch das Elternhaus bekommt. „Unterstützung im Elternhaus, individuelle (intrinsische) Motivation“ (P23). Diese ist somit auch abhängig vom Bildungsstand des Elternhauses. „Bildungsaffinität des Elternhauses“ (P10). Je nach Elternhaus sind laut den Experten, neben fachlichen Grundkenntnissen, damit vor allem auch unterschiedliche Vorerfahrungen und Wahrnehmungen verbunden, die dann auch im Unterricht zum Tragen kommen können. „Sozioökonomische Herkunft, also die Frage, aus welchem beruflichen, finanziellem, familiären Umfeld die Kinder kommen, bspw. aus Handwerker-Familien, aus Akademiker-Elternhäusern, von alleinerziehenden Eltern – ökonomische Fragestellungen treffen hier bei den Schülerinnen und Schülern auf höchst unterschiedliche Wahrnehmungen.“ (P16)
Dies kann sich wiederum auch durch „unterschiedliche ökonomische Vorerfahrungen“ (P21) ausdrücken. Der Aspekt der Herkunft wäre demnach eng mit dem Aspekt „Vorwissen“ verknüpft. Antwortkategorie C: Präzisierung „Vorwissen“ Die Anmerkungen zum „Vorwissen“ betonten vor allem notwendige Grundlagen aus anderen Fächern, um gute Leistungen im Fach Wirtschaft erzielen zu können. Hierbei kam es im mathematischen Bereich auch zu Überschneidungen mit dem Aspekt „Kognitive Grundfähigkeiten“. Aber auch die Sprachkompetenz wurde mit vier Nennungen als ein für das Fach Wirtschaft wesentliches Vorwissen beschrieben. Konkret wurde hierzu der Punkt „Sprachkenntnisse (der Unterrichtssprache)“ (P13) genannt, worunter sich die „sprachlichen Fähigkeiten, sowohl Leseverständnis als auch Ausdrucksweise bei schriftlichen Aufgaben“ (P24) subsumieren lassen. Die Aussage von P13 ist wahrscheinlich auf
10.3 Erste Einschätzungen zur Dimension „Differenzierungsaspekte“
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SuS mit Deutsch als Zweitsprache zu beziehen. Aus der Darstellung der unterschiedlichen Differenzierungskonzepte in Kapitel 7 geht jedoch hervor, dass ein sprachsensibler Unterricht nicht nur für Schüler mit Migrationshintergrund notwendig sein kann (Oleschko 2014). Zwei der Experten setzten in dieser Kategorie das Alter in Bezug zum Vorwissen. So wurde zum Beispiel angeführt, dass ältere SuS, die schon mehr Arbeitserfahrung sammeln konnten, einen anderen Zugang zu wirtschaftlichen Themen haben und sich somit auch anders mit diesen identifizieren können. „Insbesondere Schüler*innen mit berufspraktischen und lebensweltlichen Erfahrungen können sich besser mit volks- und betriebswirtschaftlichen Lerninhalten identifizieren.“ (P25)
Ebenfalls wird im Alter ein Aspekt gesehen, der sich auf die Art des Medienkonsums auswirkt und somit auch indirekt das Vorwissen der SuS beeinflussen kann. „Der Medienkonsum könnte eine Rolle spielen, bspw. ob Netzwerke wie soziale Medien als "Nachrichteninformationsdienst" betrachtet werden oder ob durch die SuS selbst Informationsplattformen (Spiegel, Süddeutsche, Handelsblatt etc.) herangezogen werden. Hier könnte evtl. ein Zusammenhang zu anderen Aspekten wie Alter oder Herkunft eine Rolle spielen.“ (P24)
Der Zusammenhang zwischen dem Alter und der Lernleistung deckt sich auch mit der Literatur. Im Bereich der ökonomischen Bildung wird dabei zwischen Erwachsenen und Kindern-Jugendlichen differenziert. Für den Bereich der Erwachsenen wird davon ausgegangen, dass das ökonomische Wissen mit dem Alter zunimmt und in der Altersspanne zwischen 36 und 50 Jahren ein Maximum erreicht (Fonseca et al. 2012, S. 95). Auch für Jugendliche geht man grundsätzlich von einer Zunahme der ökonomischen Fähigkeiten mit steigendem Lebensalter aus. Diese Entwicklung vollzieht sich jedoch in Stufen, wobei es im Forschungsinteresse der ökonomischen Bildung liegt, diese Entwicklungsstufen möglichst genau zu identifizieren. Seeber et al. liefern einen guten Überblick über die verschiedenen Forschungsansätze in diesem Bereich (Seeber et al. 2018, 46 f.). Antwortkategorie D: Weitere Aspekte In dieser Kategorie werden Meinungen dargestellt, die nicht den bisherigen drei Kategorien zugeordnet werden konnten. Hierbei handelt es sich vor allem um weitere Aspekte, die sich auf die Leistung im Fach Wirtschaft auswirken können.
164
10 Ergebnisse der ersten Delphi-Runde
Diese wurden dabei meist nur genannt und nicht weiter ausgeführt. Hierzu zählen zum Beispiel die „Wahl der Sekundarschule bzw. Ausbildungseinrichtung“ (P11) oder „wie realistisch die Lehrkraft den Stoff vermittelt“ (P18). Zusätzlich zu diesen Aspekten, die man eher als Entscheidung oder extern vorgegebene Variable verstehen könnte, wurden weitere Aspekte genannt: „Lernbereitschaft, Motivation/Leistungsbereitschaft, Selbstregulation, Selbstständigkeit, Interesse am Fach/Neigung, Beherrschen von grundlegenden Rechentechniken (z. B. Prozentrechnung), Zeitmanagement, Konzentrationsfähigkeit, Interesse an wirtschaftlichen Zusammenhängen.“ (P20)
Nachdem die letzten beiden Fragen die Verbindung zwischen unterschiedlichen Heterogenitätsaspekten und der Leistung im Fach im Blick hatten, soll es bei der folgenden Frage darum gehen, welche dieser Aspekte der Unterricht beeinflussen. Übersicht „Stellen Sie sich vor, ein Erlass des Kultusministeriums fordert, dass Wirtschaftsunterricht zukünftig klar differenziert stattfinden muss. Sie bereiten gerade eine Unterrichtseinheit für Ihre heterogenste Klasse vor.“ Welche Aspekte von Heterogenität treten in Ihrer Klasse auf? Welche davon beeinflussen Ihren Unterricht? (E1)
Im Gegensatz zu den beiden vorangegangenen Fragen, zielt diese nicht primär auf die Verbindung zwischen den verschiedenen Heterogenitätsaspekten und der Leistung, sondern fragt, welche dieser vielen möglichen Heterogenitätsaspekte den täglichen Unterricht tatsächlich beeinflussen. Auf diese Aspekte müssen die Lehrkräfte im Rahmen des Unterrichtsgeschehens dann auch tatsächlich reagieren. Die folgende Frage (E2) führt diesen Gedanken fort und untersucht, wie die Experten diesen Aspekten begegnen und darauf reagieren. Zu Frage E1 äußerten sich insgesamt 22 der Experten, wovon 18 Antworten im Sinne der Frage verwertbar waren. Aufgrund der relativ vielen Experten aus dem schulischen Bereich haben die Antworten einen eher alltäglichen bzw. pragmatischen Blickwinkel. Zudem konnte diese Frage, ähnlich zur Frage B5 „Wahrnehmung von Heterogenität“, nur von Experten beantwortet werden, die auch täglich eine Klasse unterrichten, wie die folgende Äußerung aus dem Hochschulbereich zeigte. „Diese Frage ist hypothetisch, da ich selbst im Moment nicht
10.3 Erste Einschätzungen zur Dimension „Differenzierungsaspekte“
165
an einer Schule unterrichte“ (P2). Somit ist es nicht verwunderlich, dass sich die Mehrheit der Experten aus dem Hochschulbereich zu dieser Frage nicht äußerte. Einige wenige führten hingegen mögliche Aspekte im Sinne einer Einschätzung an. Hierzu zählten zum Beispiel: „Geschlecht, sozioökonomischer Hintergrund, Lernschwächen, Hochbegabung, verschiedene Interessen, unterschiedliche Lerntypen, unterschiedliches Vorwissen, Migrationshintergrund, Lerntempo.“ (P9)
Die Einschätzungen aus dem Bereich der Lehrkräfte und der Seminare sind im Vergleich hierzu deutlich enger gefasst. Aspekte wie „Geschlecht“, „Hochbegabung“, „Lernschwächen“ oder „Lerntypen“ scheinen in deren Wahrnehmung das tägliche Unterrichtsgeschehen nicht stark zu beeinflussen. Durch die Auszählungen der Antworten konnte ein Ranking für die verschiedenen Aspekte gebildet werden, das in Abbildung 10.13 dargestellt ist.
Abbildung 10.13 Heterogenitätsaspekte, die den Unterricht beeinflussen. (Eigene Darstellung)
Die Experten nannten dabei teilweise mehrere Aspekte. Auch bei dieser Bewertung kommt dem Aspekt „Vorwissen“ die größte Bedeutung zu. Hingegen nannten die Experten bei dieser Frage auf Platz zwei und drei Aspekte wie „Lernbereitschaft“ und „Sprache“. Erstaunlich ist hingegen, wie schlecht die Aspekte
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10 Ergebnisse der ersten Delphi-Runde
„Sozialkompetenz“ und „analytische Fähigkeiten“ im Vergleich zum Ranking in Abbildung 10.10 abschnitten. Der Aspekt „Vorwissen/Leistungsstand“ wurde überwiegend von Experten aus dem Bereich der beruflichen Schulen und dem gymnasialen Bereich genannt und bezieht sich auf Grundlagenwissen, das beim Eintritt in die entsprechende Schulart vorhanden sein sollte. Dass das Vorwissen beim Übergang in eine höhere Schulart aufgrund von qualitativen Unterschieden in den Zubringerschulen deutlichere Unterschiede aufweisen kann, erscheint plausibel. „Unterschiedliche Vorbildung – Das mathematische Grundwissen ist stark abhängig von der vorher besuchten Schule.“ (P27)
Der Aspekt „Sprache“ ist laut den Nennungen sowohl im Realschulbereich als auch im kaufmännischen Bereich ein bedeutsamer Aspekt, der den Unterricht beeinflusst. Dies zeigte sich nicht nur durch die Anzahl der Nennungen, sondern auch durch die Argumentation, wonach es sich nicht nur um ein „Deutsch-als Zweitsprache-Problem“ handelt. Ebenso haben die Lehrkräfte im Wirtschaftsunterricht auch mit einem Mangel an grundlegender Lesekompetenz und Ausdrucksvermögen zu kämpfen. Der Aspekt „analytische Fähigkeiten“ wurde überwiegend von Experten aus den kaufmännischen Schulen genannt. Damit wurde vor allem ein unterschiedlicher Kenntnisstand bei mathematischen/analytischen Grundlagen angesprochen, der in dieser Schulart zur Lösung von betriebswirtschaftlichen Aufgaben vorhanden sein sollte und somit den Unterricht beeinflussen kann. Entsprechend der Argumentation, wie dieser Aspekt eingebracht wurde, entspräche dieser somit eigentlich eher dem Aspekt „Vorwissen“ als dem Aspekt „analytische Fähigkeiten“. Zielsetzung für diese drei Aspekte müsste es somit sein, diese anhand des Zieles „Vielfalt ausgleichen“ zu verbinden und entsprechende Fördermaßnahmen zu entwickeln und implementieren, um ihren Einfluss, sofern sich diese im Unterricht hinderlich auswirken, abzuschwächen. Die Nennungen zum Aspekt „Sozialkompetenz“ stammten ausschließlich aus dem Bereich der Realschulen. Experten aus den anderen Schularten nannten diesen Aspekt hingegen nicht. Im gymnasialen Bereich wäre es gegebenenfalls vorstellbar, dass die Klassenzusammensetzungen diesbezüglich auf einem hohen Niveau relativ homogen sind. Dass der Aspekt aber auch von den Experten aus den kaufmännischen Schulen nicht genannt wurde, ist hingegen erstaunlich. Verbunden mit der Frage nach den Heterogenitätsaspekten, die den täglichen Unterricht beeinflussen, war die Suche nach entsprechenden Handlungsempfehlungen.
10.3 Erste Einschätzungen zur Dimension „Differenzierungsaspekte“
167
Wie begegnen Sie diesen Aspekten? (E2)
Zu dieser Frage äußerten sich 18 Experten und nannten einer Reihe von Maßnahmen, die sie in ihrem Wirtschaftsunterricht anwenden, um auf die Heterogenität der SuS zu reagieren. Eine Übersicht über die Nennungen zeigt die folgende (Abbildung 10.14).
Abbildung 10.14 Im Unterricht angewendete Maßnahmen, um auf Heterogenität zu reagieren. (Eigene Darstellung)
Hierzu sollte angemerkt werden, dass dieses Ranking durchaus in Zusammenhang zur vorherigen Frage E1 gesehen werden sollte. Es zeigt sich, dass die Experten viele verschiedene Wege nannten, um im Unterricht auf die vorhandenen Heterogenitätsaspekte der Schüler zur reagieren.
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10 Ergebnisse der ersten Delphi-Runde
Dabei haben alle Handlungsalternativen durchaus ihre Berechtigung. Auffällig ist der hohe Anteil an Nennungen im Bereich der „differenzierenden Aufgaben“ sowie dem „gezielten Üben“. Der Punkt „differenzierende Aufgaben“ wurde dabei mit unterschiedlichen Zielrichtungen genannt. Einerseits wurden damit Aufgaben angesprochen, die unterschiedliche Lernniveaus bedienen, „unterschiedliche Arbeitsblätter mit unterschiedlichem Lernniveau […]“ (P14). Anderseits können differenzierende Aufgaben auch im Sinne einer Projektarbeit verstanden werden, bei der die SuS ein Thema interessengeleitet aussuchen können. Auch wurden „gezielten Übungsphasen“ mit drei Nennungen eher häufig genannt. Als wichtiges Element in diesen Übungsphasen und darüber hinaus sehen die Experten dabei einen ausreichenden zeitlichen Rahmen, der den SuS zur Verfügung stehen sollte. „Mit ausreichend Unterrichtszeit lassen sich o.g. Heterogenitätsaspekte nutzen (Wiederholung, Binnendifferenzierung im Unterricht, Lerngruppen, Experten-Teams etc.).“ (P25)
In diesen Übungsphasen spielen auch gezielte Fragerunden eine wichtige Rolle, die in weiterführenden Schulen ggf. auch dazu genutzt werden könnten, um ältere Unterrichtsinhalte aufzuarbeiten. „Wiederholung von Realschulstoff, damit in Kursstufe 1 und 2 alle wenigstens eine Chance haben, mitzukommen.“ (P27)
Fazit und Weiterführung zur Dimension „Differenzierungsaspekte“ Vor allem die Ergebnisse zu den Aspekten „Geschlecht“, „Herkunft“, „Vorwissen“ und „kognitive Grundfähigkeiten“ werfen weitere Fragen auf, die durch die folgende Befragungsrunde präzisiert werden sollen. In Bezug auf das Geschlecht stellt sich die Frage, warum das Empfinden der Experten im Gegensatz zu wissenschaftlichen Studien steht, in denen Mädchen bei wirtschaftlichen Leistungstests schlechter abschneiden als Jungen. Ebenso wurde beim Aspekt „Herkunft“ sehr stark über die sprachlichen Kompetenzen und den sozioökonomischen Hintergrund argumentiert. Hieraus leitet sich die Fragestellung ab, in welchem Kontext sprachliche Hürden den Wirtschaftsunterricht besonders beeinflussen und welche konkreten sozio-ökonomischen Aspekte hierbei als bedeutsam eingeschätzt werden. Ähnliches gilt auch für das Vorwissen, dem ein großer Einfluss auf die Leistung im Fach Wirtschaft bescheinigt wurde. Jedoch wurde die Art des benötigten Vorwissens noch nicht genauer definiert oder beschrieben, wie dieses erworben werden kann. Zwischen schwachen mathematischen F ähigkeiten
10.4 Erste Einschätzungen zur Dimension „Differenzierungsform“
169
und einer schlechten Leistung im Fach Wirtschaft wurde von den Experten ebenfalls ein Zusammenhang gesehen. Hiervon wurde die eher provokante Frage abgeleitet, ob es nicht einfach möglich sei, das Fach Wirtschaft von mathematischen Inhalten zu entkoppeln.
10.4 Erste Einschätzungen zur Dimension „Differenzierungsform“ Übersicht „In Bezug auf die Form der Differenzierung gibt es an manchen Schulen Arbeitsgruppen, die sehr stark auf eine offene Form der Differenzierung setzen. Es wird in diesem Zusammenhang auch von einer „Wahldifferenzierung“ gesprochen. Hier können Schüler aus einem bereitgestellten Set von Aufgabenfeldern das Niveau und eventuell auch die Zugänge zum Thema frei wählen und sind somit auch zu einem Teil für die richtige Passung verantwortlich. In geschlossenen Differenzierungsformaten steuert die Lehrkraft die Angemessenheit der Lernangebote und muss versuchen, für jeden Schüler eine möglichst gute Passung zu erreichen.“ Wie beurteilen Sie die Umsetzbarkeit von offenen und geschlossenen Differenzierungsformen im Wirtschaftsunterricht? (F1) Sehen Sie in Bezug auf das Fach Wirtschaft Situationen, in denen sich eine dieser Formen besonders gut eignet oder besser nicht verwendet werden sollte? (F2) (Sie können bei dieser Frage auch auf einzelne wirtschaftliche Inhalte oder ganze Themengebiete eingehen. Bitte mit kurzem Bezug zur Klassenstufe /Lehrplan.)
Während die erste Frage verstärkt auf den Aspekt der Umsetzbarkeit im Wirtschaftsunterricht abzielte, sollte durch die zweite Frage eine Präferenz der Experten, optimalerweise mit inhaltlichen Bezügen, herausgearbeitet werden. Hierdurch sollten in der ersten Delphi-Runde vor allem Erkenntnisse zur Eignung der beiden Differenzierungsformen gewonnen werden. Leider fielen die Antworten zur zweiten Frage nicht wie geplant aus. Vielmehr vermischten sich die Antworten der beiden Fragen und viele Experten verwiesen bei der zweiten Frage auf ihre Aussage zur ersten Frage.
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10 Ergebnisse der ersten Delphi-Runde
Dies erschwert eine trennscharfe Auswertung und hätte dazu geführt, dass sich die Antwortkategorien gedoppelt hätten. Aus diesem Grund wurden die beiden Fragen bei der Auswertung als Fragenkomplex ausgewertet, wobei die gebildeten Kategorien teilweise wieder den einzelnen Fragen zugeordnet werden können. Insgesamt äußerten sich fünf Personen weder zur ersten noch zur zweiten Frage, weshalb von insgesamt 26 Antworten ausgegangen wurde, aus denen sich die folgenden fünf Kategorien ableiten ließen (Tabelle 10.4). Tabelle 10.4 Antwortkategorien: Differenzierungsform
Eignung
einer
offenen
oder
geschlossenen
Kategorie
Bezeichnung
Anzahl
A
Keine Präferenz, beide Formen geeignet.
15
B
Differenzierungsform ist abhängig von der Klassensituation.
6
C
Offene Differenzierungsform • Für eine offene Differenzierung • Geeignete Themengebiete für eine offene Differenzierung • Problemaspekte einer offenen Differenzierung
D
E
3 4 5
Geschlossene Differenzierung • Pro eine geschlossene Differenzierung • Geeignete Themengebiete für eine geschlossene Differenzierung • Problemaspekte einer offenen Differenzierung
1 1 2
Diverse hinderliche Aspekte
8
Antwortkategorie A: Keine Präferenz, beide Formen geeignet In Bezug auf die zweite Frage waren 15 der Experten der Auffassung, dass grundsätzlich sowohl eine offene als auch eine geschlossen Differenzierungsform für den Wirtschaftsunterricht geeignet sind. „Offene und geschlossene Differenzierungsformen sind im Wirtschaft- und Recht-Unterricht einsetzbar“ (P2) beziehungsweise „Es sind beide möglich“ (P6). Dass beide Differenzierungsformen mit Blick auf die Umsetzung mit einem gewissen Anspruch verbunden sind, wird durch das folgende Zitat deutlich. „Beide Differenzierungsformen sind unverzichtbar und zugleich sehr anspruchsvoll […]“ (P8). Unabhängig von der Differenzierungsform bewerteten zwei der Experten den Themenbereich „Rechnungswesen“ als geeignet, um eine Differenzierung anhand der einen oder der anderen Form umzusetzen.
10.4 Erste Einschätzungen zur Dimension „Differenzierungsform“
171
„Aber in Rechtsgebieten insbesondere Vertragsrecht (aber auch Familienrecht) sicher durch diverse Aufgabenstellungen und Falllösungen große Differenzierung möglich.“ (P18)
Diese Aussage deckt sich mit den vorherigen Einschätzungen zu potenziell geeigneten Inhaltsbereichen anhand derer eine Vielfalt im Wirtschaftsunterricht einbezogen und genutzt werden kann. Wie die nächsten Kategorien aufzeigen, kann die Differenzierungsform jedoch nicht willkürlich gewählt werden, sondern muss an die gegebenen Rahmenbedingungen, wie zum Beispiel die Klassensituation, angepasst werden. Antwortkategorie B: Differenzierungsform ist abhängig von der Klassensituation Die fünf Einschätzungen, die in dieser Kategorie gebündelt wurden, präferierten ebenfalls keine der beiden Differenzierungsformen. Vielmehr argumentierten die Experten, dass die Wahl der Differenzierungsform vor allem aktiv von der Lehrkraft an die SuS und die Klassensituation angepasst werden sollte. „Kommt aufs Thema, auf die Lernziele und auf die SuS an, würde ich sagen. Im Prinzip kann ich mir für beide Arten passende Situationen vorstellen. Bei von SuS selbst gewählten Niveaus muss die Lehrperson immer mal überprüfen, ob das so ungefähr passt und sonst ggf. doch steuernd eingreifen.“ (P13)
Je nach Klassenzusammensetzung und Erfahrung der SuS mit dem eigenverantwortlichen Steuern von Lernprozessen (siehe auch Kategorie C), kann die Lehrkraft der Klasse somit mehr oder weniger große Entscheidungsspielräume anbieten. „Das hängt sicher individuell mit der jeweiligen Klassensituation zusammen. Allgemeingültige Aussagen halte ich gerade für diesen Bereich für problematisch, weil sie eine Simplifizierung darstellen können.“ (P29)
Nur ein Experte aus dem schulischen Bereich ist diesbezüglich skeptisch und bezweifelt, dass SuS nur sehr bedingt in der Lage sind, eigenverantwortlich zu arbeiten, ohne dass die Lehrkraft korrigierend eingreifen muss. „Ich denke, dass die eigenverantwortliche Arbeit von Schülern nur äußerst selten taugt. In den meisten Fällen muss man alles nacharbeiten.“ (P27)
Dennoch gab es aber auch Experten, die sich zielgerichteter zu einer der beiden Differenzierungsformen äußerten. Ihre Einschätzungen werden in den folgenden zwei Kategorien dargestellt.
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10 Ergebnisse der ersten Delphi-Runde
Antwortkategorie C: Offene Differenzierungsform Eine klare Präferenz für eine offene Differenzierung äußerten insgesamt drei Experten. Diese wurde zum Teil über eine neue Schülergeneration in Verbindung mit anderen Unterrichtsformen begründet. „Die neue Schülergeneration benötigt auf jeden Fall offene Lernformen und SOL“ (P20). Ein anderer Experte aus dem schulischen Bereich empfand dies ähnlich und sieht in einer offenen Differenzierungsform einen geeigneten Ansatz, mit dem SuS individuell gut gefördert werden können. „Eine offene Differenzierung nach einer bewerteten Eingangsphase (Vorselektion mit Beratung durch Lehrer*in) halte ich für angemessen, um schwächere und stärkere Schüler*innen angemessen zu fördern.“ (P25)
Vier der Experten nannten Themenbereiche, die nach ihrer Einschätzung für eine offene Differenzierungsform geeignet sind. Alle Experten argumentieren dahingehend, dass eine offene Differenzierung vor allem in Kombination mit lehrplanbasierten Wahlangeboten gut umzusetzen sei. „Offene Formen, z. B. bei lehrplanbasierten Wahlangeboten“ (P11). Zudem wurde auch eine Verknüpfung mit der Projektmethode als geeignet bewertet, da diese die benötigte Offenheit bieten könnte. „[…] Hier bin ich wieder im Projektunterricht angekommen, da kann ich die Aufgaben so stellen, dass die Kinder sowieso individuell entscheiden, wie sie die Aufgaben bearbeiten und welche Strategien sie zum Einsatz bringen.“ (P12)
Klare Inhalte wurden von den Experten, mit Ausnahme dieses letzten Zitats, leider nicht genannt. Durch die Offenheit der Differenzierungsform in Verbindung mit Wahlthemen oder der Projektmethode, liegt der Vorteil vor allem in einer interessengeleiteten Auswahl von Themen durch die SuS selbst. Dieses Vorgehen wäre laut der folgenden Einschätzung z. B. mit einem inhaltlichen Bezug zu Konsumentscheidungen möglich. „Offene Form geeignet: z. B. wenn SuS interessengeleitet aus mehreren exemplarischen Sachverhalten oder Aufgaben auswählen können (Bsp.: Konsumentscheidung – die eine erarbeitet sich das Thema am Bsp. Handy, der andere am Bsp. Moped; oder ähnlich zu Berufen).“ (P13)
Wann SuS eine solche Wahlfreiheit im Unterricht eingeräumt werden sollte, wird nicht eindeutig geklärt. Analog zu den vorherigen Einschätzungen, wie die Vielfalt der SuS im Unterricht genutzt werden kann, gibt es auch bei dieser Frage die
10.4 Erste Einschätzungen zur Dimension „Differenzierungsform“
173
Auffassung, dass offene Lernsituationen besser für Übungsphasen geeignet sind und nicht für die Vermittlung von Grundlagenwissen. „Eine Umsetzung ist jeweils nur am Ende eines Großkapitels im Unterricht möglich, da Differenzierung immer zu einer Spreizung der fachlichen Diversität führt. Der Beginn einer Unterrichtssequenz wird daher idealerweise lehrerzentriert ablaufen. Erst im Zuge der Zunahme von Kompetenzen können offene Unterrichtsformen der Heterogenität Rechnung tragen. Ich würde daher auch immer erst zum Ende der Sequenz, wenn es um den Abschluss eines Kapitels geht, eine Wahldifferenzierung befürworten.“ (P16)
Dennoch scheint aber die Wahl der Differenzierungsform durchaus auch inhaltsabhängig zu sein. „Wie gesagt, die Themen geben den Spielraum vor: Ein offenes Thema, das unterschiedlich tief oder kreativ (Marketing, Unternehmensgründung) bearbeitet werden kann, ist natürlich eine Steilvorlage für offene Diff. Anders herum kann natürlich bei Grundlagen (Buchungsregeln, rechtliche Grundlagen).“ (P24)
Die Verwendung einer offenen Differenzierungsform ist aber zugleich auch mit problematischen Aspekten verbunden, wozu sich fünf Experten äußerten. Eine wesentliche Hürde wurde darin gesehen, dass die SuS für diese offene Form bereits in der Lage sein sollten, ihren eigenen Lernstand realistisch einschätzen zu können, um selber für eine gelingende Adaptivität sorgen zu können. „Um eine offene Differenzierung zu praktizieren, müssen die Schüler ihre Defizite sehr gut kennen und sich selbst gut einschätzen lernen. Als Lehrer muss man ständig schwere Aufgaben von leichten Aufgaben für die Schüler ersichtlich machen.“ (P19)
Dies birgt jedoch die Gefahr, dass schwächere SuS zu entsprechenden Vermeidungsstrategien neigen und zu leichte Aufgaben auswählen könnten. „Bei der offenen Differenzierung kann sich evtl. der schwächere, unmotivierte Schüler verstecken bzw. ist vielleicht nicht in der Lage, selbstständig etwas hinzubekommen. Das fällt u. U. bei der geschlossenen Differenzierung leichter. Arbeitsaufwand steigt bei der offenen Diff. enorm, Erfolg nicht berechenbar.“ (P23)
Auch könnte die große Offenheit für „viele leistungsschwache Schüler eine Überforderung dar[stellen]“ (P8). Dass SuS durch selbstständiges Arbeiten gute und verwertbare Ergebnisse erzeugen können, wurde zudem von mehreren Experten hinterfragt.
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„Ich denke, dass die eigenverantwortliche Arbeit von Schülern nur äußerst selten taugt. In den meisten Fällen muss man alles nacharbeiten.“ (P27)
Eine Begründung hierfür sehen die Experten in der häufig nicht vorhandenen Fähigkeit (beziehungsweise der Bereitschaft) der SuS, sich in offenen Lernsituationen eigenständig zu organisieren und eigenmotiviert und diszipliniert zu arbeiten. „Offene Differenzierung eignet sich insbesondere für Lernende, die selbstorganisiert lernen können (im Sinne von Fähigkeit und Bereitschaft zur Selbstorganisation). Insofern wird es für eine Vielzahl an gymnasialen Klassen ein möglicher Weg sein, die offene Differenzierung umzusetzen. Damit verbunden ist die Hoffnung, dass Lernende mit großem Interesse schneller vorankommen, während Lernende mit geringerem Interesse resp. geringeren Fähigkeiten mehr Lernzeit aufwenden können und in der Folge die Thematik tiefer verstehen. In Klassen, in denen die Voraussetzung des selbstgesteuerten Lernens nicht gegeben ist, ist eher eine geschlossene Differenzierung gefordert, da die Schüler/-innen sonst mit der Wahl der eigenen Lernaufgaben überfordert sind.“ (P4)
Diese Einschätzung deckt sich zudem mit der Literaturlage (Bohl 2012, S. 58). Wie stark die Fähigkeiten und Bereitschaft im Bereich der Selbstorganisation in den verschiedenen Schularten jenseits des Gymnasiums ausgeprägt sind, wäre in diesem Zusammenhang zu überprüfen. Andere Experten sprachen sich durchaus für die Möglichkeiten aus, diese Differenzierungsform einzusetzen, sofern diese mit den SuS entsprechend trainiert wird. Antwortkategorie D: Geschlossene Differenzierungsform Die Anzahl der Aussagen zu einer geschlossenen Differenzierungsform war im Vergleich zur offenen Differenzierung deutlich geringer. So präferierte nur eine Person die geschlossene Differenzierungsform und begründete dies mit einer einfacheren Umsetzbarkeit. „Geschlossene Differenzierungsformen dürften i. d. R. leichter umsetzbar sein“ (P11). Woraus sich diese einfache Umsetzbarkeit ergibt, wurde jedoch nicht näher erläutert. Auch wurde für diese Differenzierungsform kein geeignetes Themengebiet genannt, sondern lediglich darauf verwiesen, dass sich ein eher lehrgangsförmiger Unterricht damit gut umsetzen lässt. Als problematischer Aspekt wurde hingegen anderweitig der hohe Arbeitsaufwand für die Lehrkraft beschrieben. „Die geschlossene Form führt den Lehrer langfristig an seine Leistungsgrenze“ (P8). Ebenso sah ein Experte in der geschlossenen Differenzierung eine große Nähe zum klassischen Unterricht.
10.4 Erste Einschätzungen zur Dimension „Differenzierungsform“
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„Bei der geschlossenen Variante stehen trotz Differenzierung meist dieselben Lernziele am Ende. Dies entspricht natürlich in großen Teilen dem "klassischen Unterricht", in dem Arbeitsaufträge formuliert werden, nur jetzt eben auf unterschiedlichen Niveaus. Dies wird (für den Anfang) natürlich einfacher im bestehenden Klassenraum durchzuführen sein.“ (P24)
Neben den bisher genannten skeptischen Anmerkungen führten die Experten noch weitere hinderliche Aspekte an, die jedoch nicht in einem konkreten Bezug zu einer der beiden Differenzierungsformen genannt wurden und sich auf beide Differenzierungsformen beziehen oder externe Vorgaben ansprechen. Diese Punkte wurden in Kategorie E gebündelt. Antwortkategorie E: Diverse hinderliche Aspekte In dieser Kategorie äußerten sich acht Personen, wobei sich die genannten Aspekte in drei Bereiche gruppieren ließen. Mit sechs Nennungen am häufigsten genannt wurde der Aspekt, dass die Vorbereitung derartiger Differenzierungsformate sehr zeitintensiv sei. „Durch das enge Zeitbudget begrenzt“ (P11). Die Befürchtungen diesbezüglich gingen teilweise so weit, dass sogar eine allgemeine Umsetzbarkeit dieser Formen angezweifelt wurde. „Sowohl offene als auch geschlossene Differenzierungsformen erfordern einen enormen Vorbereitungsaufwand, der in der Praxis nicht flächendeckend umsetzbar ist.“ (P 22)
Der Hauptaspekt dieser zeitintensiven Vorbereitung wurde dabei vor allem in der Konzeption von gutem Unterrichtsmaterial gesehen, welches für derartige Differenzierungsformen zwingend erforderlich ist. „[…] Die Qualität der Materialien ist entscheidend, außerdem wie stark einzelne Schüler begleitet werden müssen.“ (P1)
Dieser Anspruch, zeitintensiv gutes Material erstellen zu müssen, wurde dabei von den Experten als kaum realisierbar dargestellt. „Mit einem vollen Deputat unterrichte ich in derzeit 5 verschiedenen Bildungsgängen 3 Fächer (BWL, VWL, Spanisch). Meine Kapazitäten im Hinblick auf differenzierte Unterrichtsmaterialien, die ein offenes Arbeiten erlauben, sind da sehr begrenzt.“ (P27)
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Oder: „[…] setzt allerdings voraus, dass Materialien vorhanden sind, da ich nicht für jede Stunde etwas entwickeln kann, erst recht nicht, wenn das Spektrum breit ist“ (P12). Laut der Ansicht von zwei Experten könnte diese Herausforderung nur angegangen werden, wenn die Lehrkräfte dazu hinreichend qualifiziert werden und beginnen würden, die geforderten Konzepte und Materialien nicht mehr als Einzelkämpfer, sondern im Team zu konzipieren. „Die Umsetzung der Themen- und Aufgabenfelder bzw. der Lernfelder erfordert die Teamarbeit der Kollegen, um eine umfassende Differenzierung durchführen zu können. Ohne diese scheitern alle Versuche der Umsetzung!!!“ (P10)
Als weitere Hürde wurden von einer Person aus dem schulischen Bereich die räumlichen Rahmenbedingungen thematisiert, die selbst im Jahr 2017 noch nicht zufriedenstellend zu sein scheinen. Wenn SuS frei und mit Wahlmöglichkeiten lernen sollen, so müssten die klassischen Klassenzimmer in entsprechende Lernräume umgewandelt werden. „Die Frage ist stark mit dem Thema "Classroom-Management" verknüpft. Für den offenen Unterricht werden Einzel- und Gruppentische sowie Internetzugang für Recherche und Materialschränke benötigt, sodass sich die SuS selbst versorgen können. Die räumlichen Gegebenheiten und auch der Lehrkräfteeinsatz (Teamteaching) geben hier den Engpass vor.“ (P24)
Fazit und Weiterführung zur Dimension „Differenzierungsform“ Viele der genannten problematischen Aspekte, wie zum Beispiel die zeitintensive Vorbereitung, die mögliche Überforderung von schwachen SuS mit zu offenen Differenzierungsformen etc. decken sich mit den Erkenntnissen aus der didaktischen Literatur, wie sie auch im fachlichen Teil (z. B. Abschnitt 5.4) angesprochen wurden. Auffallend ist, dass die Experten die Kategorien „offene“ und „geschlossene“ Differenzierung als relativ getrennt voneinander betrachteten. Dabei könnte auch eine geschlossene Differenzierungsform zu unterschiedlichen Ergebnissen führen, da nur die Verantwortung für eine gelingende Passung (Adaptivität) auf die Lehrkraft übergeht. Auch das Verständnis von offenen Lernformen variiert zwischen den Experten und reichte von der Situation, in der sich die SuS „nur“ ihre Übungsaufgaben selbst aussuchen bis hin zu einem eventuell projekthaften Unterricht, in dem eine gewisse räumliche und mediale Grundausstattung vorhanden sein sollte, mit deren Hilfe sich die SuS neues Wissen eigenständig aneignen können. Die Möglichkeit, dass eine offene Differenzierungsform anhand von unterschied-
10.5 Erste Einschätzungen zur Dimension „Differenzierungsebene“
177
lichen Aufgabenformaten innerhalb eines klar strukturierten Unterrichtssettings umgesetzt werden könnte, wurde vom keinem der Experten explizit erwähnt. Auf die Frage, ob für das Fach Wirtschaft eine offene oder geschlossene Differenzierungsform geeigneter wäre, beschrieben die Experten eher allgemeine Vor- und Nachteile der beiden Differenzierungsformen. Offen blieb hingegen, ob es nicht doch fachspezifische Aspekte gibt, die bei der Wahl der Differenzierungsform entscheidend sein könnten. Ebenso existiert laut den Aussagen der Experten bei der Wahl der Differenzierungsform eine Art Entscheidungskonflikt. Schwächere Schüler sind häufig mit zu offenen Unterrichtsformaten mit entsprechenden Wahlfreiheiten überfordert und Lehrkräfte können durch die Planung von geschlossenen Differenzierungsformaten leicht an ihre Grenzen stoßen. Um jedoch erfolgreiche Differenzierungskonzepte generieren zu können, müsste dieser Konflikt irgendwie aufgelöst werden. Die zweite Befragungsrunde soll daher dazu verwendet werden, um weitere Expertenmeinungen dahingehend zu erheben und die Aussagen zu konkretisieren. In diesem Kontext wurde daher im zweiten Fragebogen auch die Option zur Bewertung vorgeschlagen, dass eine Differenzierung innerhalb einer einheitlichen Unterrichtsstruktur aber mithilfe von differenzierenden Aufgaben umgesetzt werden könnte. Diese Möglichkeit wurde bereits in Abschnitt 5.4.2 theoriegeleitet vorgestellt. Die Wahl der Differenzierungsform ist dabei eng mit entsprechenden Entscheidungen auf der Differenzierungsebene verbunden, zu der nun die Ergebnisse der ersten Befragungsrunde vorgestellt werden.
10.5 Erste Einschätzungen zur Dimension „Differenzierungsebene“ Bitte bewerten Sie die Eignung der folgenden Methoden für eine Differenzierung im Wirtschaftsunterricht? (F3) Möchten Sie noch weitere geeignete Methoden ergänzen? (F4)
Diese beiden Fragen mit Bezug auf die Dimension „Differenzierungsebene“ beschränkten sich entsprechend dem Forschungsdesign in der ersten Delphi-Runde auf den Bereich der Unterrichtsmethoden. Zielsetzung war es dabei, eine Bewertung unterschiedlicher Methoden bezüglich ihrer Eignung für eine Differenzierung im Wirtschaftsunterricht zu erheben, was im Kern der
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10 Ergebnisse der ersten Delphi-Runde
Forderung von Helmke entspricht (Helmke 2006, S. 45). Die zu bewertenden Methoden wurde dabei aus der einschlägigen Literatur der unterschiedlichen Fachbereiche abgeleitet, wo sie auch teilweise in einem Differenzierungskontext dargestellt wurden. Eine ausführliche Darstellung dieser Methoden erfolgte bereits in Kapitel 7 (vgl. z. B. Arndt 2015, 2013b; Wüthrich 2013). Hierbei wurden bewusst Methoden ausgewählt, die man zum Standardrepertoire im täglichen Unterricht zählen kann. Dies erschien deshalb sinnvoll, weil es sich beim Fach Wirtschaft in Baden-Württemberg um ein relativ neues Fach handelt und man nicht davon ausgehen konnte, dass auch „exotischere“ oder domänenspezifischere Methoden bereits den Weg in die Klassenzimmer gefunden haben. Dass die Auswahl der Methoden mit Blick auf die Aussagefähigkeit der Experten recht gut getroffen wurde, zeigt sich dadurch, dass nur wenige der zu bewertenden Methoden als unbekannt eingestuft wurden, wie Abbildung 10.15 zeigt. Allgemein bewerteten die Experten die Eignung der Methoden auf einer vierstufigen Skala von „sehr geeignet“ bis „unbekannt“.
Abbildung 10.15 Eignung von Methoden zur Differenzierung im Fach Wirtschaftsunterricht. (Eigene Darstellung)
Das Ergebnis zeigte ein relativ durchmischtes Bild. Die Methoden „Webquest“ und „flipped classroom“ waren dabei überwiegend bei Experten mit Schulbezug unbekannt. Durch die Bewertungen zeigte sich zudem, dass die Eignung der Methode „Projekt“ mit einem relativ hohen Anteil nur in einem mittleren
10.5 Erste Einschätzungen zur Dimension „Differenzierungsebene“
179
Bereich bewertet wurde, obwohl diese Methode mit Blick auf eine Verwendung einer offenen Differenzierungsform bereits mehrfach eindeutig als geeignet beschrieben wurde. Leider ging aus der Bewertung nicht hervor, warum 13 Experten diese Methode nur in einem mittleren Bereich verorteten. Ähnliches gilt für die Methode „Gruppenpuzzle“, bei der die Meinungen der Experten am weitesten gestreut waren. Am geeignetsten wurden hingegen Methoden bewertet, die möglichst individuell auf die Lerner ausgerichtet werden können, wie zum Beispiel die Methoden „Freiarbeit“, „Einzelarbeit“ oder der „Lernzirkel“. Nimmt man die Bewertungen der Experten, ohne die Kategorie „Unbekannt“ und gewichtet diese entsprechend ihrer Eignung10, so lässt sich über die gewichteten Bewertungen ein Ranking der Methoden erstellen, das Abbildung 10.16 dargestellt ist. Hierdurch zeigt sich, dass die Bewertungen sehr eng beieinanderliegen, vor allem im oberen Bereich auf den Plätzen 1 bis 4, und die Unterschiede eher marginal sind. Demnach würden die „Freiarbeit“, die „Einzelarbeit“ und die „Gruppenarbeit“ laut den Experten die geeignetsten Methoden für eine Differenzierung im Wirtschaftsunterricht darstellen. Hingegen belegten das „Webquest“ und die Methode „flipped classroom“ mit jeweils nur 66 Punkten den letzten Platz.
Abbildung 10.16 Ranking der Methoden. (Eigene Darstellung)
10Ungeeignet*1,
mittel*2, sehr geeignet*3.
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10 Ergebnisse der ersten Delphi-Runde
In Verbindung mit Abbildung 10.15 könnte man das schlechte Abschneiden dieser beiden Methoden dahingehend interpretieren, dass diese einem relativ hohen Anteil an Experten nicht bekannt waren und man folglich spekulieren könnte, dass sie generell im täglichen Unterricht nicht sehr häufig eingesetzt werden, wodurch insgesamt weniger Erfahrungswerte zur Verfügung gegeben sind.
Möchten Sie noch weitere geeignete Methoden ergänzen? (F4)
Lediglich sechs Personen nutzen das Freitextfeld, um weitere Methoden zu nennen oder Anmerkungen zu machen. Als weitere Methoden wurde kommentarlos die „Schülerfirma“ genannt, bei der es sich um eine Makromethode im Methodenrepertoire der ökonomischen Bildung handelt. Ebenso wurden das „Portfolio“, die „Fishbowl“ und das „Mystery“ ohne weitere Erläuterungen hinzugefügt. Ein Experte aus dem schulischen Bereich merkte an, dass auch stets ein Wechsel zwischen individuellen und kooperativen Methoden stattfinden sollte und entsprechende Grundregeln und Arbeitsweisen mit den SuS eingeübt werden müssten. „Der Wechsel zwischen individuellen und kooperativen Methoden ist wichtig: Die obigen Methoden sollten im Wechsel eingesetzt werden. Erst wenn die Grundregeln bekannt sind, können bspw. ein hohes Maß an Selbstständigkeit erfordernde Methoden genutzt werden (Gruppenpuzzle, Projektarbeit).“ (P24)
Fazit und Weiterführung zur Dimension „Differenzierungsebene“ Auch die Ergebnisse zur Differenzierungsebene legen eine solide Basis an Erkenntnissen. So zeigte sich, dass viele der zu bewertenden Methoden, die aus der wirtschaftsdidaktischen Fachliteratur abgeleitet wurden, von den Experten für eine Differenzierung als geeignet eingeschätzt wurden. Auch könnte das erstellte Ranking für die Wirtschaftsdidaktik als ein erster Orientierungsrahmen dienen. Jedoch handelte es sich bei den meisten der zu bewertenden Methoden eher um domänenunspezifische Methoden, da viele von ihnen (z. B. Freiarbeit, Gruppenpuzzle etc.) auch von anderen Fachbereichen verwendet werden. Dennoch lassen sich daraus Hinweise für einen differenzierten Wirtschaftsunterricht ableiten.
10.6 Weiterführende Fragestellungen
181
Die Ergebnisse hinterlassen aber auch offene Fragen, die in der folgenden Befragungsrunde noch weiter präzisiert werden sollten. Durch die häufig genannte Eignung der „Projektmethode“ vor allem bei den Ergebnissen zur Dimension „Differenzierungsziel“ und „Differenzierungsform““ und einer nur mittleren Eignung innerhalb der Dimension „Differenzierungsebene“ drängt sich die Frage nach einer Begründung für diese Einschätzung auf. Hierbei sollen vor allem die begrenzenden Aspekte bei der Verwendung der Projektmethode untersucht werden. Ebenfalls soll in der zweiten Befragungsrunde die Eignung der Methoden „Gruppenarbeit“, „Lernzirkel“, und „Freiarbeit“ für eine Differenzierung im Wirtschaftsunterricht durch ein Freitextfeld genauer begründet werden. Ebenfalls sollte hinterfragt werden, warum das Gruppenpuzzle trotz seiner Ähnlichkeit mit den anderen genannten Methoden von den Experten deutlich schlechter bewertet wurde. Aus den Antworten der Experten wurde auch nicht ersichtlich, ob sie diese Methoden entsprechend ihrer eigenen Präferenz bewerteten oder ob sie ihre Einschätzung bewusst auf eine Differenzierung bezogen. Daher sollen die Ergebnisse in der nächsten Befragungsrunde entsprechend verifiziert und präzisiert werden.
10.6 Weiterführende Fragestellungen In diesem Kapitel werden weiterführende Fragen vorgestellt, die nicht in direkter Verbindung zu den ZAFE-Dimensionen stehen. Hierzu zählen unter anderem Fragen zur Selbsteinschätzung der Planungs- und Durchführungskompetenz von differenziertem Wirtschaftsunterricht. Hürden, die für eine breite Umsetzung noch aus dem Weg geräumt werden müssten, sollten identifiziert werden. Auch wurden die Experten gebeten, eine zukunftsorientierte Einschätzung vorzunehmen, wie sich die Heterogenität der SuS zukünftig auf den Wirtschaftsunterricht auswirken könnte (Abbildung 10.17). Angenommen Sie müssten eine Stunde differenzierten Wirtschaftsunterricht planen und durchführen. Wie würden Sie sich einschätzen? (G1)
182
10 Ergebnisse der ersten Delphi-Runde
Abbildung 10.17 Selbsteinschätzung der „Differenzierte Stunde“. (Eigene Darstellung)
Planungs-
und
Umsetzungskompetenz
Zu dieser Frage antworteten insgesamt 22 Experten und schätzten auf einer sechsstufigen Skala11 ihre Fähigkeiten ein, eine differenzierte Unterrichtsstunde zu planen beziehungsweise umzusetzen. Sowohl bei dieser als auch bei der nächsten Frage entsprachen diese 22 Stimmen folgenden prozentualen Anteilen innerhalb der Expertengruppen: Hochschule 57 %, Schule 82 % und Seminar 83 %. Die Selbsteinschätzungen zur Planung und Umsetzung einer differenzierten Unterrichtsstunde zeigen, dass in Kategorie 6 ein stabiler Anteil von 36 % aus dem Bereich der Hochschule und von 10 % aus dem Bereich der Lehrkräfte
111 = Die
Planung/Umsetzung würde mich vor ein sehr großes Problem stellen, das ich kaum lösen könnte. 6 = Die Planung/Umsetzung wäre überhaupt kein Problem. Ich wüsste, was zu tun ist, und könnte das Erforderliche problemlos durchführen.
10.6 Weiterführende Fragestellungen
183
v orhanden ist, die sich sowohl bei der Planung als auch bei der Umsetzung einer differenzierten Unterrichtsstunde eine entsprechend gute Kompetenz attestieren. Ebenso wurden die Kategorien 1 und 2 weder bei der Planung noch bei der Umsetzung gewählt. In den Kategorien 3 bis 5 verschoben sich hingegen die Anteile zwischen der Planungs- und Umsetzungskompetenz. Auffällig ist, dass sich die Gruppe der Lehrkräfte eine um 28 Prozentpunkte höhere Umsetzungskompetenz in Kategorie 5, im Vergleich zur Planungskompetenz, bescheinigte. Bei den Experten aus dem Seminar und den Hochschulen lässt sich dabei eine gegenläufige Selbsteinschätzung feststellen. Diese Gruppen fühlten sich bei der Planung einer differenzierten Unterrichtsstunde deutlich souveräner und schätzten sich in Bezug auf ihre Umsetzungskompetenz zurückhaltender ein. Bezieht man die Frage der Planungs- und Umsetzungskompetenz auf eine ganze Unterrichtseinheit, so lässt sich nur eine geringfügige Änderung in der Selbsteinschätzung erkennen.
Angenommen Sie müssten eine Unterrichtseinheit (ca. 8 Stunden) differenzierten Wirtschaftsunterricht planen und durchführen. Wie würden Sie sich einschätzen? (G2)
Auch zu dieser Frage äußerten sich 22 der Experten. Die Skalierung der Antworten ist dabei identisch mit der vorangegangenen Frage. Vergleicht man die Ergebnisse der Fragen G1 und G2 so fällt auf, dass diesmal auch die zweite Kategorie gewählt wurde. Ebenfalls existierte bei den Experten aus dem Hochschulbereich ein gleichgebliebener Anteil von 36 %, der in Kategorie 6 sowohl hinsichtlich der Planungskompetenz als auch bei der Umsetzungskompetenz vorhanden war. Außerhalb dieser Gruppen kam es jedoch ebenfalls zu Verschiebungen zwischen der Einschätzung der eigenen Planungs- und Umsetzungskompetenz. Dabei vollzogen sich diese Verschiebungen nach einer leicht anderen Logik als bei Frage G1. Ausgangspunkt bei dieser Frage ist, dass alle drei Expertengruppen bei den Einschätzungen zur Planungskompetenz auch in Kategorie zwei vertreten waren (Abbildung 10.18).
184
10 Ergebnisse der ersten Delphi-Runde
Abbildung 10.18 Selbsteinschätzung der Planungs- und Umsetzungskompetenz für eine differenzierte Unterrichtseinheit. (Eigene Darstellung)
Während sich bei Frage G1 die Anteile aus dem Seminarbereich bei der Umsetzungskompetenz (im Vergleich zur Planungskompetenz) aus Kategorie 5 auf die niedrigeren Kategorien 3 und 4 verschoben hatten12, fand bei dieser Frage bezüglich der Umsetzungskompetenz eine Verschiebung von Kategorie 2 auf die höhere Kategorie 3 statt. Das gleiche Bild zeigte sich auch für die Gruppe der Lehrkräfte. Während sich diese bei der Planungskompetenz relativ schlecht einschätzten13, verschob sich diese Einschätzung bei der Umsetzungskompetenz dahingehend, dass die Kategorien 2 und 3 überhaupt nicht mehr gewählt wurden. Im Bereich der Hochschule blieb bei der Planungskompetenz hingegen ein Anteil von 7 % in Kategorie 2 erhalten und bei der Umsetzungskompetenz waren keine Anteile in Kategorie 5 vorhanden, dafür aber 14 % in Kategorie 4. Allgemein lässt sich im Vergleich mit Frage G1 feststellen, dass die Experten ihre Planungskompetenz bezüglich einer differenzierten Unterrichtseinheit eindeutig schlechter einschätzen beziehungsweise die Planung einer differenzierten Unterrichtseinheit anspruchsvoller zu sein scheint. Während bei den schulischen Experten bei der Umsetzungskompetenz in Frage G1 eher eine Anhäufung in Kategorie 5 zu beobachten war, findet sich diese bei Frage G2 eher im Bereich der Kategorie 4 wieder. Warum der Anteil der Experten aus dem schulischen 12Eine
konkrete Beschreibung, in welche Kategorie sich die Anteile verschoben haben, ist leider nicht möglich. 139 % in Kategorie 2 und 18 % in Kategorie 3.
10.6 Weiterführende Fragestellungen
185
Bereich in Kategorie 6 sogar zunehmen konnte, lässt sich logisch nur schwer erklären. Die Ergebnisse bei Frage G1 zeigen, dass durch die Selbsteinschätzungen in den Kategorien 3 und höher durchaus eine gute Planungs- und Umsetzungskompetenz vorhanden sein sollte, auch wenn sich diese Frage nur auf die Planung und Realisierung von einer Unterrichtsstunde bezog. Hierzu könnte man argumentieren, dass Unterrichtsstunden im schulischen Alltag wahrscheinlich häufig als Einzelstunden geplant sowie umgesetzt und erst im Nachhinein miteinander verkettet werden. Dass sich die Fachleiter aus den Seminaren (und einige Experten aus den Hochschulen) bei der Umsetzungskompetenz zurückhaltender einschätzten, erscheint vor dem Hintergrund plausibel, dass sie über eine geringere tägliche Unterrichtspraxis und möglicherweise über weniger Unterrichtsroutine verfügen. Dennoch dürften auch sie sicherlich mit unterschiedlichen Differenzierungsansätzen vertraut sein, wodurch sie sich hinsichtlich ihrer Planungskompetenz souverän einschätzten. Für die Gruppe der Lehrkräfte ist der tägliche Umgang mit den SuS hingegen Routine, was die höhere Einschätzung im Bereich der Umsetzungskompetenz erklären könnte, im Gegensatz zur Auseinandersetzung mit theoretischen Differenzierungskonzepten, die jedoch für die Planung von differenziertem Wirtschaftsunterricht benötigt werden.
Welche Hürden müssen beseitigt werden, damit ein differenzierter Wirtschaftsunterricht gelingen kann? (G3)
Die 23 Einschätzungen der Experten zeigen deutlich, dass die Hürden einer gelingenden Umsetzung nicht nur bei den SuS zu verorten sind. Nur eine Expertenaussage griff bei dieser Frage die Aspekte „mangelnde Selbsteinschätzungskompetenz“ oder „keine Selbstorganisation“ der SuS erneut auf. Vielmehr fand eine Fokussierung auf unterschiedliche Rahmenbedingungen statt, die in den folgenden Kategorien, in Tabelle 10.5, abgebildet werden. Tabelle 10.5 Antwortkategorien Umsetzungshürden Kategorie
Bezeichnung
Anzahl
A
Fehlendes Material/benötigte Fortbildungen
7
C
Organisatorische Rahmenbedingungen
D
• Klassengröße, Stoffdichte und Zeit • räumliche Ausstattung
9 4
Mangelnder Kooperationswille
3
186
10 Ergebnisse der ersten Delphi-Runde
Antwortkategorie A: Fehlendes Material/benötigte Fortbildungen Die Argumentationsmuster in dieser Kategorie lassen durchaus Parallelen zur Differenzierungsform erkennen. Ein Hauptargument ist dabei, dass vor allem der Arbeitsaufwand zur Erstellung entsprechender Lernsituationen und Arbeitsmaterialien enorm ist, was einer einfachen, breiten und schnellen Implementation entgegensteht. „Arbeitsmaterialien müssen sehr passend sein, Arbeitsanweisungen für die Schüler müssen kurz, knapp und verständlich wirken.“ (P19)
Da die Erstellung von geeignetem Material jedoch nicht trivial ist, bräuchte es zudem gute Fortbildungen und „das Bewusstsein [der Lehrkräfte] müsste mit attraktiven Beispielen geschärft werden.“ (P1). Zudem scheint auch Unterrichtsmaterial im Umlauf zu sein, das nur bedingt geeignet ist und folglich nicht mehr zum Einsatz kommen sollte. „Ungeeignete Materialien identifizieren und eliminieren.“ (P29). Ein anderer Experte aus dem schulischen Bereich sah dies so ähnlich und begründete ein Scheitern aufgrund von „fehlenden und erprobten Materialien für die Lehrerinnen und Lehrer.“ (P12). Aus den Ergebnissen lässt sich klar ableiten, dass in der Forderung der Experten nach geeignetem, erprobtem und differenzierendem Unterrichtsmaterial eine zentrale Gelingensbedingung gesehen werden kann. Jedoch formulierten die Experten noch weitere Hürden jenseits der Materialerstellung, die u. a. im Bereich der organisatorischen Rahmenbedingungen verortet werden können. Antwortkategorie B: Organisatorische Rahmenbedingungen Die aufgeführten Aspekte dieser Kategorie lassen sich in drei Unterbereiche gliedern. Neun Einschätzungen bezogen sich dabei klar auf die Bereiche: Klassengröße, Stoffdichte und Zeit bzw. Notendruck. Dabei stammte die Forderung nach kleineren Klassengrößen in heterogenen Klassen ausschließlich aus der Gruppe der Lehrkräfte. „Reduzierung der Teilnehmerdichte. Weniger SuS in besonders heterogenen Klassen“ (P24). Häufig wurde in diesem Zusammenhang auch die Forderung nach mehr Lehrerteams bzw. einer Aufstockung der Lehrerressourcen gestellt, wie die folgende Aussage zeigt: „Weniger Regelstunden und/oder Arbeiten im Lehrerteam. In meinen Klassen sitzen bis zu 34 SuS […]. Ich habe wohl gelernt, wie differenzierter Unterricht auszusehen hat, umsetzen unter den tatsächlichen, alltäglichen Parametern lässt sich das aber nicht.“ (P27)
10.6 Weiterführende Fragestellungen
187
Ein weiterer Aspekt betrifft die Rahmenvorgaben hinsichtlich der verfügbaren Zeit und Ansprüche vonseiten der Lehrpläne. Die damit verbundenen Prüfungsanforderungen erhöhen anscheinend diesen Druck. Dieser Aspekt wurde dabei überwiegend aus dem Bereich der kaufmännischen Schulen geäußert, zumal es in der Sekundarstufe II vor allem um eine gezielte Vorbereitung auf die Hochschulreifeprüfung und das Abitur geht. Zeitintensive Differenzierung und eine notwendige effiziente Prüfungsvorbereitung scheinen hier in einem Widerspruch zu stehen. „Zeitdruck in Kombi mit Notendruck und den verbindlich vorgeschriebenen Unterrichtsinhalten […] und all dies bei Klassenstärken um 30 Schüler.“ (P18) oder „Ich denke mit zunehmendem angestrebtem Bildungsabschluss (BFW, BK, WG) wird der Einfluss der Vielfalt abnehmen, da auch die Lehrpläne weniger Spielraum durch den vorgegebenen Stoffumfang bieten.“ (P24)
Aber auch die zeitintensive Materialerstellung, wie sie in Kategorie A dargestellt wurde, ist mit Blick auf Vergütungsfragen interessant. So wurde aus dem schulischen Bereich das Argument angeführt, dass eine derartige zeitintensive Vorbereitung für eine Lehrkraft nicht sonderlich attraktiv ist, da dieser zusätzliche Vorbereitungsaufwand im direkten Sinne nicht zusätzlich vergütet würde. „Man muss ja im Prinzip mehrere Unterrichte vorbereiten. Wenn ich also drei Deputatsstunden für eine Stunde Unterricht bekäme, ließe sich schon was machen.“ (P20)
Diese letzte Aussage zeigt, dass es eventuell schon möglich wäre, in den Schulen entsprechende Lernsituationen ausarbeiten zu lassen. Dieser zusätzliche Aufwand müsste jedoch in irgendeiner Form berücksichtigt werden und entsprechende Anreize müssten gesetzt werden. Entsprechend den Ergebnissen zur Selbsteinschätzung (Fragen G1 und G2) fühlen sich die Lehrkräfte im Prinzip ausreichend kompetent, um differenzierten Wirtschaftsunterricht zu planen und auch durchzuführen. Wenn der zusätzlich entstehende, aber nicht vergütete Arbeitsaufwand tatsächlich ein relevantes Argument darstellt, wäre zu überlegen, auf welche Art und Weise derartiges Material durch externe Stellen (z. B. das Landesamt für Schulentwicklung, die Seminare, Hochschulen etc.) entwickelt und zur Verfügung gestellt werden könnte. Im Gegensatz dazu schätzte ein Experte aus dem Hochschulbereich die Kompetenz der Lehrkräfte diesbezüglich als nicht ausreichend
188
10 Ergebnisse der ersten Delphi-Runde
ein14, was, sofern dies tatsächlich zuträfe, ebenfalls dafür sprechen würde, die Entwicklung derartiger Materialien an übergeordnete Stellen zu übertragen. Die weiteren in dieser Kategorie genannten vier Einschätzungen bezogen sich auf die räumliche Ausstattung der Klassenzimmer oder auch die Medienausstattung. Hierbei fällt auf, dass die Argumente ebenfalls sehr ähnlich denen sind, wie sie auch bei den problematischen Aspekten einer offenen Differenzierung genannt wurden. „Räumliche Voraussetzungen für differenzierten Wirtschaftsunterricht fehlen, bisher gibt es kaum geeignetes Material für die Oberstufe, keine Aufbewahrungsmöglichkeit für das Material bzw. unzureichende technische Ausstattung der Räume.“ (P28)
Diese Aussage fasst dabei die angesprochenen Aspekte noch einmal gut zusammen. Ein weiterer Punkt bezog sich auf die organisatorischen Rahmenbedingungen in Bezug auf die Fehlzeiten der SuS und kann dem schulischen Bereich zugeordnet werden. So wurde argumentiert, dass für eine gelingende Ausbildung mithilfe von differenziertem Wirtschaftsunterricht auch die Anwesenheit der SuS erforderlich ist. Dies scheint aber häufig vor allem bei schwächeren SuS nicht selbstverständlich der Falls zu sein. Die rechtlichen Möglichkeiten der Schulen sind dahingehend vor allem bei minderjährigen, schulpflichtigen SuS begrenzt. „Probleme mit Fehlzeiten der Schüler, insbesondere der schwachen Schüler muss reduziert werden.“ (P14)
Antwortkategorie C: Mangelnder Kooperationswille Als letzte Hürde wurde der mangelnde Wille zur Kooperation unter den Lehrkräften genannt. Dieser Aspekt wurde von den Experten immer wieder als eine wichtige Voraussetzung für einen gelingenden differenzierten Wirtschaftsunterricht genannt. Die Frage ist jedoch, ob und wie stark der Wille zur Kooperation in den Schulen vorhanden ist, um die zusätzlich entstehende Arbeitsbelastung bewältigen zu können. Drei der Experten sehen diese notwendige Voraussetzung eher als nicht gegeben an: „Wie schon gesagt, an den Lehrern, die nicht bereit sind im Team diese Formen umzusetzen!“ (P10). Wie groß die Notwendigkeit tatsächlich ist, alle diese Hürden aus dem Weg räumen zu müssen, wird auch davon
14„Fehlende
Kompetenzen bei den Lehrpersonen“ (P9).
10.6 Weiterführende Fragestellungen
189
abhängen, wie sehr die Heterogenität der SuS in den kommenden Jahren den Wirtschaftsunterricht beeinflussen wird. Eine zukunftsorientierte Einschätzung hierzu wurde in der letzten Frage erhoben. Wie wird die Heterogenität der Schüler den Wirtschaftsunterricht in den nächsten 5 Jahren beeinflussen? (G4) Die Zukunftsprognose der Experten zeigte ein uneinheitliches Bild und fand argumentativ auf unterschiedlichen Ebenen statt. Aus den insgesamt 21 Antworten ließen sich vier Hauptkategorien bilden (Tabelle 10.6).
Tabelle 10.6 Antwortkategorien: zukünftige Auswirkung von Heterogenität auf den Unterricht Kategorie
Bezeichnung
A
Kaum eine Veränderung des Unterrichts • Heterogenität wird nicht überall deutlich zunehmen. • Rahmenbedingungen werden nicht angepasst. • Es gibt andere gravierendere Veränderungen.
B
Anzahl 8 1 1
Veränderung des Unterrichts • Heterogenität wird zunehmen. •Auswirkungen auf den Wirtschaftsunterricht
6 5
AntwortStopkategorie A: Kaum eine Veränderung des Unterrichts Insgesamt acht Experten schätzten die zukünftigen Veränderungen im Wirtschaftsunterricht durch heterogene SuS als nicht existent beziehungsweise sehr gering ein. „Gar nicht.“ (P7), wie es ein Experte aus dem schulischen Bereich auf den Punkt brachte. Andere Experten fanden eine Prognose deshalb schwierig, weil sie davon ausgehen, dass sich die Heterogenität der Klassen regional und schulartenspezifisch unterschiedlich entwickeln wird. „Dazu eine Prognose zu treffen ist schwierig, ich denke, an Realschulen und Gymnasien wird sich kaum etwas ändern; eine Ausnahme bilden die innenstadtnahen Gymnasien, in denen sich der Migrantenanteil vermutlich erhöhen wird.“ (P16)
190
10 Ergebnisse der ersten Delphi-Runde
Oder, wie es von einer anderen Person formuliert wurde: „Regional sehr unterschiedlich! Hier in der Kleinstadt wird am Gymnasium so viel nicht passieren. An der Hauptschule sieht es schon ganz anders aus.“ (P12)
Ein weiterer Experte bezog sich dabei auf die vorherige Frage zu den Hürden, die aus dem Weg geräumt werden müssten, und argumentierte, dass dies für den Wirtschaftsunterricht ein Problem darstellen könnte, da sich dieser an die SuS anpassen müsste, dies aber aufgrund der starren Rahmenbedingungen wahrscheinlich nur bedingt gelingen könnte. „Solange die o.g. Rahmenstrukturen sich nicht ändern, wird der Wirtschaftsunterricht in der bisherigen Form immer schwieriger durch die zunehmende Heterogenität.“ (P24)
Aus dem Hochschulbereich wurden die Auswirkungen, die sich durch heterogene SuS ergeben werden im Verhältnis zu größeren Reformen, wie zum Beispiel der Einführung des Faches „Wirtschaft, Berufs- und Studienorientierung“ (WBS), eher als gering eingestuft. „Vernachlässigbar wenig gegenüber den Änderungen, die durch die Einführung des Fachs WBS stattfinden.“ (P6)
Aus den Antworten der ersten beiden Kategorien geht jedoch nicht klar hervor, wie rasch sich ein Wandel vollziehen könnte, sofern es diesen überhaupt geben wird. Hierzu äußerte sich lediglich eine Person aus dem Bereich der Seminare dahingehend, dass es sich wahrscheinlich um einen eher schleichenden Prozess handeln wird. „Keine gravierenden Veränderungen, eher schleichend oder eher nach einer gewissen Zeit wahrnehmbar. Schüler werden schätzungsweise noch unkonzentrierter, aber nicht doofer.“ (P19)
Antwortkategorie B: Veränderung des Unterrichts Sechs der Experten glauben, dass die Klassenzusammensetzungen im Laufe der kommenden 5 Jahre spürbar heterogener werden: „Die Heterogenität wird sicherlich ansteigen […].“ (P4). Dies gilt auch für den Bereich der kaufmännischen Schulen, die zukünftig deutlich mehr SuS aus Gemeinschaftsschulen aufnehmen werden, was schon allein durch die gestiegene Anzahl an Gemeinschaftsschulen plausibel erscheint.
10.6 Weiterführende Fragestellungen
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„Heterogenität wird eher zunehmen, aufgrund der Schüler/innen, die jetzt von den Gemeinschaftsschulen kommen und der zu integrierenden Flüchtlinge. Zudem spielt Inklusion eine immer größere Rolle, was die Heterogenität noch mal auf eine ganz neue Stufe bringen wird“. (P22)
Auch zwei weitere Experten nannten den Aspekt „Flüchtlinge“ als eine Begründung für eine tendenziell zunehmende Heterogenität. Als drittes Argument wurden aus dem Bereich der Hochschule ergänzend die unterschiedlichen Kenntnisse bei der Fachsprache genannt, die zukünftig den Heterogenitätsgrad beeinflussen werden. Die prognostizierte Zunahme an Heterogenität würde somit auch die Lehrkräfte vor neue Herausforderungen stellen und auch Veränderungen für den Wirtschaftsunterricht mit sich bringen. „Die "breite Mitte", die man sonst erreicht, wird schrumpfen. D. h., der Unterricht muss sich dahingehend verändern, differenzierte Inhalte anzubieten.“ (P24)
Dies bedeutet aber zudem auch, dass es schwieriger sein wird, Unterrichtsziele zu erreichen. So wird aber die Heterogenität „[…] die Bedeutung der Individualisierung und Differenzierung weiter unterstreichen“ (P29). Ebenso wird „eine weitere Differenzierung des schulischen Angebots in stärkere und schwächere Lerngruppen (z. B. durch Schularten/durch Kursdifferenzierung) m. E. unter den aktuellen Umständen unausweichlich“ (P 25). Wie die SuS dann mit derartigen differenzierten Angeboten umgehen werden, muss abgewartet werden. Ein Experte aus der Hochschule geht davon aus, dass sich dieser Wandel für die SuS immer weniger gravierend auswirken wird, da die SuS zunehmend frühzeitig an entsprechende Unterrichtsformen gewöhnt werden. „[…] Gleichzeitig werden die Schüler/-innen aber auch stärker gewöhnt sein, in heterogenen Lerngruppen zu arbeiten, da sie dies bereits in der Grundschule beginnen einzuüben. Wesentlich ist, dass Heterogenität nicht als Hindernis empfunden wird, sondern als Ressource.“ (P4)
Fazit und Ausblick „Weiterführende Fragen“ Die Einschätzungen der Experten in diesem Fragebereich waren vor allem dahingehend interessant, dass sich der Kreis der Lehrkräfte bei der Umsetzungskompetenz tendenziell souveräner einschätzte als bei der Planungskompetenz. Dies unterstreicht somit die bei Frage G3 (Hürden für differenzierten Unterricht)
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10 Ergebnisse der ersten Delphi-Runde
genannte Forderung, dass neben der Bereitstellung von gutem Material, das Bewusstsein der Lehrkräfte auch anhand von guten Beispielen geschärft werden sollte. Die genannten Umsetzungshürden zeichnen dabei ein klares Bild vor den Problemlagen, die für eine erfolgreiche Umsetzung angegangen werden müssten. Ob und wie stark sich die Heterogenität im Klassenzimmer verändern wird, kann bisher nicht klar benannt werden und wird wahrscheinlich zudem stark von regionalen Gegebenheiten beeinflusst werden. Dennoch zeigten die Fragen B6 und B7, dass die Mehrheit der befragten Experten davon ausgeht, dass die zukünftige Bedeutung von differenziertem Wirtschaftsunterricht zunehmen wird. Aus dieser Einschätzung einerseits und den in Frage G3 beschriebenen Hürden lässt sich somit ein Konflikt zeichnen. Die Frage ob und wie dieser Konflikt gelöst werden kann, soll in der zweiten Befragungsrunde näher untersucht werden. Das folgende Kapitel greift die Zusammenfassungen der Ergebnisse aus der ersten Befragungsrunde teilweise auf und erläutert, wie daraus das Fragebogendesign der zweiten Befragungsrunde abgeleitet wurde. Im Anschluss daran werden die Ergebnisse der zweiten Befragungsrunde vorgestellt und diskutiert.
10.7 Fragebogendesign der zweiten Delphi-Runde Das Fragebogendesign der zweiten Delphi-Runde wurde sehr ähnlich zum Fragebogen der ersten konzipiert. So wurde auch in der zweiten Befragungsrunde an der strukturierenden Logik des ZAFE-Modells festgehalten. Durch die weiterführenden Überlegungen, welche aus den Ergebnissen der ersten Befragungsrunde abgeleitet wurden, sollen im Weiteren bestimmte Sachverhalte validiert und weiter konkretisiert werden. Hierfür wurden bis auf zwei Ausnahmen ausschließlich Freitextantworten verwendet, was zugleich den qualitativen Charakter der Erhebung unterstreicht. Der Fragebogen besteht dabei aus sechs Fragebereichen (A–F), wobei die Bereiche in der zweiten Befragungsrunde auch der Reihenfolge der ZAFE-Dimensionen entsprechen. Hinsichtlich des Fragebogendesigns soll an dieser Stelle jedoch nur die Struktur der Fragenbereiche sowie die Zielrichtung der Fragen vorgestellt werden. Der präzise Wortlaut der konstruierten Vignetten und der angeschlossenen Fragen wurde jeweils bei der Vorstellung der Ergebnisse vorangestellt. Zudem ist der Fragebogen für ein besseres Verständnis im Anhang einsehbar.
10.7 Fragebogendesign der zweiten Delphi-Runde
193
Teil A: „Tätigkeitsbereiche“ besteht dabei nur aus zwei Fragen, welche die Tätigkeitsbereiche und die Schulart der Experten erfassen sollen und zur Beschreibung der Stichprobe notwendig sind. Teil B: „Welche Möglichkeiten bietet das Fach Wirtschaft, um Vielfalt zuzulassen?“ bezieht sich auf die Dimension „Differenzierungsziel“ und umfasst vier Fragen. Dabei thematisieren die Fragen B1 bis B4 die aus der ersten Befragungsrunde abgeleiteten Thesen, die vor allem Möglichkeiten präzisieren sollen, wie die Vielfalt der SuS im Wirtschaftsunterricht einbezogen und genutzt werden kann. Von Interesse ist es, dabei herauszufinden, ob dies eher auf einer wirtschaftlichen Sachebene im Sinne von multiperspektivischen Inhalten oder über die Meinungsebene bzw. Diskussionsebene, anhand von kontroversen Diskussionen eingebracht werden können. In Verbindung mit den Möglichkeiten, wie man Vielfalt im Wirtschaftsunterricht einbeziehen kann, nannten die Experten in der ersten Runde auch verschiedene Grenzen. Zum Beispiel bei Inhalten oder Themenbereichen die als sehr regelgeleitet bewertet wurden, wie im Fach Rechnungswesen. Andererseits wurden im Bereich der rechtlichen Grundlagen, entsprechende Möglichkeiten gesehen, obwohl auch Gesetze Teile eines regelgeleiteten Systems sind. Dieser Widerspruch soll in Bezug auf die Dimension „Differenzierungsziel“ in der zweiten Befragungsrunde konkretisiert werden. Frage B4 bezieht sich zwar auch auf den Aspekt, wie Vielfalt im Fach Wirtschaft einbezogen werden kann, jedoch mit einer leicht anderen Zielrichtung. In dieser Frage sollen die Experten Möglichkeiten für unterschiedliche Zugänge bewerten. Auch Teil C: „Welche Differenzierungsaspekte sind im Fach Wirtschaft entscheidend?“ umfasst vier Fragen und nimmt erneut die Dimension der „Differenzierungsaspekte“ in den Blick. Hierzu nahmen die Experten bereits in der ersten Befragungsrunde eine Bewertung vor, deren Auswertung diesbezüglich weitere Fragen aufwarf. So soll beispielsweise durch Frage C1 herausgearbeitet werden, warum die Experten in Delphi 1 den Einfluss des Geschlechts auf die Leistung im Fach Wirtschaft überwiegend gering einschätzten, obwohl dies im Widerspruch zum Stand der Forschung steht. Frage C2 konkretisiert indessen, auf welche Art und in welchen Kontext sprachliche Hürden den Wirtschaftsunterricht beeinflussen können und welche konkreten sozioökonomischen Aspekte hierbei von Bedeutung sind. Ebenfalls wurde in Delphi 1 der Aspekt „Vorwissen“ als bedeutsam eingestuft, jedoch ohne dass es möglich war, diese Aussagen zu konkretisieren. Dies wird durch Frage C3 nachgeholt, anhand der die Experten erläutern sollen, welches Vorwissen sich im Fach Wirtschaft auf die Leistung auswirken kann und wo bzw. wie die SuS dieses Vorwissen erwerben können. Da es
194
10 Ergebnisse der ersten Delphi-Runde
entsprechend den dargestellten Delphi 1-Ergebnissen den Anschein hatte, dass die mathematischen Grundfähigkeiten15 der SuS häufig nicht ausreichend genug ausgeprägt sind, um eine gute Leistung im Fach Wirtschaft erzielen zu können, leitet sich daraus die Frage ab, ob es nicht möglich wäre, die Leistungen im Fach Wirtschaft von mathematischen Kenntnissen unabhängiger zu gestalten (C4). Teil D: „Welche Differenzierungsformen sind für das Fach Wirtschaft geeignet?“ bezieht sich mit den Fragen D1 bis D3 auf die Dimension „Differenzierungsform“. Im Rahmen der Auswertungen der ersten Befragungsrunde zeigte sich für diese Dimension, dass die Experten in ihren Freitextantworten stärker die allgemeinen Vor- und Nachteile einer offenen oder geschlossenen Differenzierungsform beschrieben und der eigentlichen Frage, welche der beiden für eine Differenzierung im Fach Wirtschaft besser geeignet ist, auswichen. Daraus leitet sich die Hypothese ab, dass Überlegungen bezüglich der Differenzierungsform grundsätzlich eher fachübergreifend getroffen werden sollten, da es zu wenige fachspezifische Punkte gibt, an denen eine solche Entscheidung festgemacht werden kann (D1). Ebenso werden mit Frage D2 problematische Aspekte der beiden Differenzierungsformen erneut aufgegriffen, wie sie bereits in Kapitel 5 theoriegeleitet erläutert wurden und so auch in den Antworten der ersten Delphi-Runde zu finden waren. Konkret besteht die Problematik, dass eine geschlossene Differenzierungsform die Lehrkräfte durchaus an organisatorische Grenzen bringen kann, da sie den Lernern das für sie passende Material zuweisen müssen. Andererseits kann eine offene Differenzierungsform zwar die Lehrkräfte etwas entlasten, aber vor allem schwächere SuS sind mit der eigenständigen Auswahl von geeignetem Material häufig überfordert. Durch Frage D2 sollen sich die Experten mit diesem Konflikt auseinandersetzen und einen Lösungsvorschlag nennen. Frage D3 bildet dabei bereits eine Überleitung zur Dimension „Differenzierungsebene“. Hier wird Experten als Lösungsansatz eine relativ einheitliche Unterrichtsstruktur vorgeschlagen, auf deren Grundlage eine Differenzierung mithilfe von selbstdifferenzierenden Aufgaben umgesetzt werden könnte. Die Experten sollen dabei die Eignung dieses Vorschlags für das Fach Wirtschaft bewerten. Teil E: „Überlegungen zur Differenzierungsebene mit Blick auf geeignete Methoden“ rückt noch einmal die Methoden ins Zentrum und hat das Ziel, offene Fragen, die bei der Bewertung der Methoden in Delphi 1 aufgetreten sind, zu klären. Das Ziel ist es dabei herauszufinden, ob die Experten in der
15Diese
sumiert.
wurden von den Experten unter dem Aspekt „kognitive Grundfähigkeiten“ sub-
10.7 Fragebogendesign der zweiten Delphi-Runde
195
ersten Befragungsrunde ihre allgemeinen methodischen Präferenzen angegeben hatten oder ob es sich um eine bewusste Bewertung mit einem Differenzierungsbezug handelte. Dabei beziehen sich die Fragen E1 bis E4 auf unterschiedliche Methoden, wie zum Beispiel „Projekt“, „Gruppenarbeit“, „Freiarbeit“, „Lernzirkel“ und das „Gruppenpuzzle“. Frage E4 zielt darauf ab, die Bewertungen der ersten Befragung noch einmal durch die Experten validieren oder gegebenenfalls korrigieren zu lassen. Der letzte Fragenbereich, Teil F: „Unterschiede zu anderen Fächern und Ausblick“, bezieht sich auf verschiedene Delphi 1-Fragen jenseits der ZAFEDimensionen. Hier nahmen die Experten zum Beispiel über eine sechsstufige Skala die Bewertung vor, ob sich eine Differenzierung im Fach Wirtschaft in seiner Ausprägung von anderen Fächern unterscheidet16. Die Skalenbewertung führte zwar durchaus zu Ergebnissen, diese warfen aber zugleich auch weitere Fragen auf, die nun beantwortet werden sollen. So geht es in Frage F1 darum, die Unterschiede in der Ausprägung zu definieren, sofern die Experten dieser Aussage weiterhin zustimmen beziehungsweise herauszufinden, welche Aspekte in einem differenzierten Wirtschaftsunterricht als fachunabhängig angesehen werden können. Die Fragen F2 und F3 greifen die Bedenken einiger weniger Experten im Rahmen von Delphi 1 auf, die sich nicht zu den Fragen äußern wollten, beziehungsweise keine Kontaktemailadresse hinterlassen haben. Die These bezüglich dieses Verhaltens ist, dass es sich beim Heterogenitätsdiskurs um einen teilweise emotional aufgeladenen Diskurs handelt, der zugleich auch mit hohen Erwartungen und vagen Konzepten verbunden ist. Dies führt dazu, dass manche Personen Bedenken hatten, sich diesbezüglich zu äußern. Die letzte Frage der zweiten Delphi-Runde (F4) zeichnet auf Grundlage von Antworten der ersten Befragungsrunde den Konflikt nach, dass 60 % der Experten der Ansicht waren, dass differenzierter Unterricht zukünftig an Bedeutung gewinnen wird, aber andererseits eine Reihe von persönlichen und strukturellen Hürden existieren, die für eine erfolgreiche Differenzierung im Wirtschaftsunterricht aus dem Weg geräumt werden müssten.
16Frage
B8 im Delphi 1-Fragebogen.
Präzisierungen und Auswertung der zweiten Delphi-Runde
11
11.1 Analyse der Stichprobe Die zweite Delphi-Runde wurde im Juli und August 2018 erhoben. Obwohl der Zeitraum ungefähr dem der ersten Erhebungsrunde entsprach, verlief der Rücklauf deutlich gehemmter. Für die zweite Befragungsrunde wurden alle Experten aus der ersten Befragung angeschrieben und der Expertenkreis zudem erweitert. Dennoch erwies sich der Rücklauf als schleppend. Von den rund 60 angeschriebenen Personen beantworteten 25 Experten den Fragebogen komplett oder mit nur sehr geringfügigen Lücken, sodass dieser verwendet werden konnten. Die vergleichsweise hohe Abbruchquote in der zweiten Befragungsrunde kann wahrscheinlich auf das Fragebogendesign zurückgeführt werden. Bis auf sehr wenige Ausnahmen setzte der Fragebogen ausschließlich auf Freitextantworten. Im Vergleich dazu verwendete die erste Befragungsrunde deutlich mehr skalierte Antwortmöglichkeiten, die deutlich einfacher und schneller beantwortet werden konnten. Rückmeldungen aus dem Pretest der zweiten Delphi-Runde zeigten, dass die Fragen als gut verständlich, aber auch anspruchsvoll eingeschätzt wurden, da sie ein aktives und zeitintensives Nachdenken voraussetzten. Dies hinderte
Elektronisches Zusatzmaterial Die elektronische Version dieses Kapitels enthält Zusatzmaterial, das berechtigten Benutzern zur Verfügung steht. https://doi.org/10.1007/978-3-658-31167-4_11 © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Hertrich, Differenzierung im Wirtschaftsunterricht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31167-4_11
197
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11 Präzisierungen und Auswertung der zweiten Delphi-Runde
öglicherweise einige der Experten daran, den Fragebogen komplett zu m bearbeiten. Andererseits sollten bei einer Expertenbefragung im Rahmen eines Forschungsprojekts auch keine zu trivialen Fragen gestellt werden. Insgesamt erfüllte auch diese Stichprobengröße deutlich die Mindestanforderung von 15 Personen (Novakowski und Wellar 2009, S. 14). Der Vergleich der Tätigkeitsbereiche in Abbildung 11.1 zeigt, dass der Anteil der Experten aus dem schulischen Bereich in der zweiten Befragungsrunde zugenommen hat, während die Anteile der anderen Tätigkeitsbereiche zurückgingen. Abbildung 11.2 zeigt die Anzahl der Experten je Tätigkeitbereich in absoluten Zahlen.
Abbildung 11.1 Tätigkeitsbereich der Experten im Vergleich. (Eigene Darstellung)
11.1 Analyse der Stichprobe
199
Abbildung 11.2 Anzahl der Experten je Tätigkeitsbereich (Delphi 2). (Eigene Darstellung)
Verteilung der Zuständigkeiten nach Schularten innerhalb der Stichprobe Abbildung 11.3 veranschaulicht die Zuständigkeiten der Experten in Bezug auf die verschiedenen Schularten. Für eine übersichtlichere Darstellung wurden Doppelfunktionen der Experten, wie zum Beispiel Schule und Seminar oder Abordnungen von einer Schule an eine Hochschule, in der jeweils „höheren“ Kategorie gewertet. Dies wurde auch bei der Auswertung der ersten Befragungsrunde so umgesetzt.
Abbildung 11.3 Zuständigkeit der Experten nach Schulart (Delphi 2). (Eigene Darstellung)
200
11 Präzisierungen und Auswertung der zweiten Delphi-Runde
Da die Gemeinschaftsschulen in Baden-Württemberg aufgrund der gesetzlichen Vorgaben am stärksten zur Umsetzung von differenziertem Unterricht verpflichtet sind und somit in den letzten Jahren auch die meisten Erfahrungen sammeln konnten, wurde ihr Anteil in dieser Stichprobe deutlich erhöht (Abbildung 11.4). Dies war beabsichtigt, da in Delphi 2 die Einschätzungen der ersten Befragungsrunde1 validiert und präzisiert werden sollten, wofür vor allem auch die Einschätzungen aus den Gemeinschaftsschulen von Bedeutung sind. Hingegen reduzierten sich die Anteile aus den Realschulen, den Werkrealschulen sowie den kaufmännischen Schulen. Unklar blieb hingegen, warum in der zweiten Befragungsrunde ein relativ hoher Anteil von 10 % der Experten den Tätigkeitsbereich nicht benennen wollte.
Abbildung 11.4 Anteile der Experten nach Schularten im Vergleich. (Eigene Darstellung)
11.2 Zweite Einschätzung zur Dimension „Differenzierungsziel“ Übersicht Eine klare Mehrheit der Expertinnen und Experten bescheinigte dem Fach Wirtschaft im Vergleich zum Fach Physik ein großes Potenzial, um Vielfalt
1Die zu einem größeren Teil auf Einschätzungen der Realschulen/ Werkrealschulen und den kaufmännischen Schulen basierten.
11.2 Zweite Einschätzung zur Dimension „Differenzierungsziel“
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in den Unterricht einbeziehen zu können. Die Einschätzung der Experten, wie dies realisiert werden kann, ging dabei in unterschiedliche Richtungen: Unklar ist, ob dies eher für die wirtschaftliche Sachebene gilt, in dem Sinne, dass wirtschaftliche Inhalte vielseitige Möglichkeiten für unterschiedliche Erklärungswege/Zugänge bieten oder für die Meinungsebene, auf der sich wirtschaftliche Inhalte für kontroverse Diskussionen eignen. Wie ist Ihre Meinung? Bitte begründen Sie Ihre Einschätzung anhand konkreter Inhalte. (B1)
Zu dieser Frage äußerten sich insgesamt 20 der 25 befragten Experten. Bei der Auswertung zeigte sich, dass die Vignette nicht optimal formuliert war, weil dadurch die Sachebene unweigerlich in Zusammenhang mit unterschiedlichen Erklärungswegen/Zugängen gesetzt wurde. Auf der Sachebene kann Vielfalt sehr gut über die vorhandene Multiperspektivität der Inhalte einbezogen werden. Dieser Aspekt könnte somit indirekt in den Hintergrund gerückt worden sein. Dennoch bezogen sich die Experten auch auf den Aspekt der „Multiperspektivität“, wie es in Antwortkategorie B genauer ausgeführt wird. Einen Überblick, welche der beiden Ebenen von den Experten als geeigneter eingeschätzt wurde, zeigt Abbildung 11.5 mit den entsprechenden Antwortkategorien.
Abbildung 11.5 Ebenen zur Einbeziehung von Vielfalt. (Eigene Darstellung)
202
11 Präzisierungen und Auswertung der zweiten Delphi-Runde
Antwortkategorie A: Nutzen von Vielfalt über die Sachebene (Multiperspektivität)25 % der Experten äußerten sich dahingehend, dass das Fach Wirtschaft auf der Sachebene viele Möglichkeiten bietet, um Inhalte anhand von unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten. „Vielfalt gilt für die Auseinandersetzung mit Wirtschaft auf ganz unterschiedliche Weise und betrifft v. a. verschiedene Perspektiven in Form von Betrachtungsebenen, Theorien, Inhalten oder Positionen etc. Wir haben es mit einem gesellschaftlichen Sachbereich zu tun, der Mehrperspektivität bedingt.“ (P1)
Der Begriff „Multiperspektivität2 bedeutet dabei, dass Lerngegenstände auf einer sachlichen Ebene aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet und erschlossen werden können. Dass derartige unterschiedliche Perspektiven auch im Rahmen der Curriculumentwicklung berücksichtigt werden, zeigen Initiativen aus BadenWürttemberg. „Die Bildungspläne für das Fach WBS regen eine multiperspektivische Auseinandersetzung mit individuellen und gesellschaftlichen Handlungsoptionen an.“ (Birke 2017, S. 52)
Die durch den Bildungsplan angeregte Multiperspektivität könnte somit beispielsweise genutzt werden, um unterschiedliche, differenzierende Fallszenarien zu konstruieren, anhand derer die unterschiedlichen Sichtweisen und die damit verbundenen Argumentationsstränge wirtschaftlicher Akteure3 erarbeitet werden. Diese vorhandene Multiperspektivität auf der Sachebene stellt somit einen wesentlichen Aspekt dar. Sie kann jedoch nicht nur für unterschiedliche Zugänge genutzt werden, sondern ermöglicht auch innerhalb eines Themas einen Perspektivenwechsel. Je nach Themenbereich können die Perspektiven dabei in unterschiedlichen Beziehungen (kontrovers, konträr, substitutiv etc.) zueinander stehen (Loerwald 2017, S. 62). Vor allem bei der Auseinandersetzung mit mehreren gegensätzlichen Perspektiven können die entsprechenden Argumente im Sinne von kontroversen Diskussionen verwendet werden. Kontroverse Diskussionen können dabei nicht nur auf Grundlage verschiedener Perspektiven
2Für
eine detailliertere Erläuterung zum Begriff der Multiperspektivität, siehe Abschnitt 10.2 (S. 138 f.). 3Z. B. Konsumenten, Unternehmer, Politiker.
11.2 Zweite Einschätzung zur Dimension „Differenzierungsziel“
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zu einem Sachverhalt stattfinden, sondern auch über die Sache an sich. Die Beurteilung seriöser wissenschaftlicher Kontroversen kann im Wirtschaftsunterricht der Sekundarstufe 1 altersbedingt zwar nur ansatzweise Berücksichtigung finden, dennoch wurde dieser Aspekt von einer Mehrheit der Experten genannt. Antwortkategorie B: Nutzen von Vielfalt über die Meinungsebene (Kontroversität) In rund 60 % der Antworten bezogen sich die Experten auf den Aspekt der „Meinungsebene“4 und argumentierten auch in Delphi 2, dass diese sehr gut geeignet sei, um Vielfalt im Wirtschaftsunterricht einbeziehen und nutzen zu können. Dies wurde für die Meinungsebene vor allem dadurch begründet, dass wirtschaftliche Themen gute Anknüpfungspunkte für kontroverse Diskussionen bieten. Diese Möglichkeit wurde dabei auch im kaufmännischen Sekundarbereich II gesehen. „Kontrovers diskutieren kann man definitiv im Wirtschaftsunterricht, besonders natürlich in VWL. Ob das jetzt Streiks/Tarifverträge betrifft oder die geldpolitische Entscheidung der EZB oder aber auch in BWL, wenn es um Personaleinstellung, Zeugnissprache, Annahme eines Auftrags oder so geht.“ (P21)
Ein Experte aus dem Hochschulbereich merkte dazu an, dass kontroverse Aspekte im Wirtschaftsunterricht nicht nur einbezogen werden können, sondern sogar bewusst einbezogen werden sollten. „Unterschiedliche Perspektiven sind möglich, kontroverse Diskussionen erwünscht (Beutelsbacher Konsens).“ (P22)
Das Argument der Experten, dass die Betrachtung von kontroversen Meinungen zu Sachverhalten in Verbindung mit entsprechenden Diskussionen eine wesentliche Zielsetzung im Wirtschaftsunterricht sei, ist dabei identisch zur Argumentation in der ersten Befragungsrunde. Dies zeigt sich auch durch den expliziten Bezug auf den Beutelsbacher Konsens, dessen Zielsetzung und Hintergrund bereits in Abschnitt 10.2 genauer beschrieben wurde. Die genannten Inhaltsbereiche, die sich laut den Experten für kontroverse Diskussionen eignen, waren dabei so weitläufig, dass sie nicht zu einem aussagekräftigen Raster verdichtet werden konnten. Die Ergebnisse der zweiten Befragungsrunde lieferten
4Konkret
Meinungs- bzw. Diskussionsebene vgl. Abbildung 10.9 & 11.6.
204
11 Präzisierungen und Auswertung der zweiten Delphi-Runde
jedoch insofern weitere Impulse, da die Experten die Sach- und Meinungsebene miteinander in Verbindung setzten. Verbindung zwischen der Sachebene und der Meinungsebene Die Verbindung der beiden Ebenen wurde durch die Einschätzungen der Experten thematisiert, sie ließ jedoch kein einheitliches Bild zur Verbindung der Sach- und die Meinungsebene erkennen. Die Argumentationslinien verliefen vielmehr in beide Richtungen. So wurde einerseits beschrieben, dass unterschiedliche Zugänge im Sinne von unterschiedlichen Perspektiven auf der Sachebene notwendig sind, um sich ein Thema sachlich ausgiebig erschließen zu können, wodurch überhaupt erst die Wissensgrundlage für einen Perspektivenwechsel und kontroverse Diskussionen gelegt werden kann. „Es ist zunächst die Sachebene wichtig, um daran anschließend oder auch zeitgleich eine fundierte Diskussion stattfinden lassen zu können. Außerdem ist die Sachebene wichtig, damit wir realitätsnahe und mündige Bürger erhalten. Es kann nur jemand gut diskutieren, der sich zuvor eine gute, fundierte und objektive Meinung bilden konnte. Dazu ist letztlich die Schule da. Bildung als eine Anleitung, im wirtschaftlichen Dschungel zurechtzukommen.“ (P9)
Am zuvor genannten Beispiel zu Lohnerhöhungen könnten so beispielsweise die unterschiedlichen Perspektiven auf einer Sachebene erarbeitet werden und danach durch eine Gegenüberstellung dieser Perspektiven eine entsprechende Diskussionsfrage aufgeworfen werden (z. B. „Sollen die Löhne erhöht werden?“). Andererseits wurde aber auch die Möglichkeit gesehen, den entgegengesetzten Weg zu wählen, bei dem sich die SuS zuerst anhand von geleiteteten Diskussionen mit unterschiedlichen Meinungen/Aspekten zu einem Sachverhalt auseinandersetzen. Erst im Anschluss daran können die durch die Diskussion gewonnenen Erkenntnisse auf eine Sachebene, im Sinne einer konkreten Handlungssituation, überführt werden. „Hier können durch (geleitete) Diskussionen Kriterien, die den Schülern wichtig erscheinen, identifiziert und über ihre Gewichtung entschieden werden. Nach einem Zugang über die Meinungsebene kann bspw. durch die Einnahme einer unternehmerischen Sichtweise zur Sachebene übergeführt werden. “Vielfalt” spiegelt sich dann in den unternehmerischen Entscheidungen wider […].“ (P14)
Auch wenn für den Unterricht beide Richtungen als geeignet genannt wurden, so ist der Ausgangpunkt für beide Vorgehensweisen in der grundsätzlichen Multiperspektivität der wirtschaftlichen Inhalte zu sehen. Sie ermöglicht es, Inhalte aus
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205
unterschiedlichen Blickwinkeln zu beleuchten, wie es zum Beispiel (Loerwald 2017) beschreibt. Abbildung 11.6 veranschaulicht die genannten Zusammenhänge zwischen der wirtschaftlichen Meinungsebene und der wirtschaftlichen Sachebene.
Abbildung 11.6 Verhältnis von wirtschaftlicher Sachebene und wirtschaftlicher Meinungsebene. (Nach Loerwald 2017)
Antwortkategorie C: Methodische und mediale Möglichkeiten (Sach- und Meinungsebene) Weitere 13 % der Experten bezogen sich darauf, wie die Möglichkeiten, um Vielfalt zu nutzen, durch methodische und mediale Möglichkeiten abgebildet werde können. Aufgrund der in der Vignette formulierten Fragestellung wurden diese auch häufig in Verbindung zur Sachebene gesetzt. An dieser Stelle sollen die Argumente der Experten vorgestellt werden, die sich auf verschiedene Methoden bezogen, mit deren Hilfe unterschiedliche Zugänge zu Inhalten konstruiert werden könnten. Eine detailliertere Bewertung
206
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verschiedener Methoden hinsichtlich ihres Differenzierungspotenzials für den Wirtschaftsunterricht wird jedoch erst später in Abschnitt 11.5 vorgestellt. Ein mehrfach genanntes Argument, warum das Einbeziehen von Vielfalt im Fach Wirtschaft auf der Sachebene gut realisiert werden könnte, steht in direktem Zusammenhang mit der zuvor beschriebenen Multiperspektivität. Wenn gesellschaftswissenschaftliche Inhalte mehrere Perspektiven zu einem Sachverhalt bieten und diese zugleich im Unterricht ausgeschöpft werden sollen, so könnte eine gewisse methodische Vielfalt dazu genutzt werden, um diese verschiedenen Perspektiven auch gut abbilden zu können. „Zunächst besteht im Wirtschaftsunterricht die Möglichkeit, sich gleichen Inhalten aus Sicht verschiedener ökonomischer Akteure zu nähern, was nicht nur Vielfalt ermöglicht, sondern systemisches Denken nachhaltig fördern kann. Zudem können gleiche Inhalte natürlich methodisch abwechslungsreich dargelegt werden. So können beispielsweise Betrachtungen zur Preisbildung durch Angebot und Nachfrage experimentell, schematisch usw. dargelegt werden […].“ (P7)
Genau diese Vielfalt an methodischen Zugängen ist laut den Experten für den Wirtschaftsunterricht vorhanden. Als besonders geeignet wurden dabei Methoden gesehen, mit deren Hilfe sich die Perspektiven der verschiedenen Akteure möglichst getreu simulieren oder anderweitig darstellen lassen. Diese differenzierte Auseinandersetzung mit den multiplen Perspektiven stellt dabei einen wesentlichen Aspekt im Lernprozess der SuS dar. „Der Zugang zu wirtschaftlichen Inhalten kann oft simulativ oder in Form einer Realbegegnung erfolgen. Hier bieten sich viele Möglichkeiten, unterschiedlich vorhandene Kompetenzen einzubringen, zu fördern bzw. weiterzuentwickeln. In Planspielen kann dies z. B. durch unterschiedliche Aufgabenverteilung innerhalb der Spielgruppen erfolgen, bei Rollenspielen durch die Zuweisung der Spielerrolle od. der Beobachterrolle. Im projektorientierten Unterricht bieten sich Möglichkeiten in allen Phasen, z. B. auch im Rahmen der Projektpräsentation.“ (P19)
Zudem könnten diese Perspektiven durch den Einsatz entsprechender Medien gestützt werden. Aufgrund der Nähe zu echten Geschäftsvorfällen bieten sich im kaufmännischen Bereich diverse mediale Möglichkeiten an. So könnten zum Beispiel über Rechnungen, allgemeine Geschäftsbedingungen, Handelsregisterauszüge etc. realitätsnahe, differenzierte Zugänge zur Sachebene konstruiert werden. Neben den Chancen sollten mit der zweiten Frage auch die in der ersten Befragungsrunde genannten Grenzen genauer untersucht werden.
11.2 Zweite Einschätzung zur Dimension „Differenzierungsziel“
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Übersicht Die Expertinnen und Experten nannten auch Grenzen für das Einbeziehen von Vielfalt. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn es sich um die Vermittlung von Grundlagenwissen handelt oder um Themenbereiche wie Rechnungswesen, Kosten- und Leistungsrechnung oder Mikroökonomie in der Sekundarstufe II, die sehr starr und regelgeleitet sind. Andererseits wurden Themen wie „rechtliche Grundlagen“ oder „Verbraucherrechte“ als geeignet eingeschätzt, denen aber ebenfalls eine klare rechtliche Regelung zugrunde liegt. Warum ist das so? Bitte helfen Sie, diesen Widerspruch zu verstehen. (B2)
Insgesamt gaben zu dieser These 22 der Experten eine Einschätzung ab und versuchten den Widerspruch zu erläutern. Dies geschah meist sehr konkret und ausführlich. Lediglich eine Aussage bezog sich nicht auf die eigentliche Fragestellung. Aus den Antworten der Experten konnten drei verschiedene Argumentationslinien herausgearbeitet werden, deren Verteilung in Abbildung 11.7 ersichtlich ist.
Abbildung 11.7 Unterschiede in der Regelgeleitetheit. (Eigene Darstellung)
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11 Präzisierungen und Auswertung der zweiten Delphi-Runde
Antwortkategorie A: Rechnungswesen als reglementiertes Zahlenkonstrukt 25 % der Experten argumentierten bei dieser Fragestellung dahingehend, dass es sich beim Fach Rechnungswesen5 um Inhaltsbereiche handelt, die auf eindeutigen Regeln und Techniken basiert, welche es zu erlernen und anzuwenden gilt. Diese Techniken bieten zudem kaum Spielraum auf der Meinungsebene. „Meiner Meinung nach sind lediglich ReWe [Rechnungswesen] und KLR [Kostenund Leistungsrechnung] schwer zu diskutieren, da es sich eher um Techniken handelt. Mikroökonomie würde ich als durchaus diskutabel ansehen.“ (P11)
Erschwerend kommt hinzu, dass diese Techniken im Alltag nur einen relativ eingeschränkten und spezialisierten Kreis an Personen betreffen, wodurch die in der ersten Frage angedeutete Alltagsbezogenheit und Multiperspektivität ggf. nur begrenzt nutzbar wäre. „Rechnungswesen und KLR sind stark reglementierte Zahlenkonstrukte, die sich in ihrer Anwendung im Alltag nur auf einen bestimmten Personenkreis, der bspw. beruflich damit zu tun hat, beschränken. Idealerweise schaffen es Lernende, noch den Sinn und Zweck dahinter zu verstehen, warum wirtschaftliche Vorgänge dokumentiert werden müssen bzw. warum dies für verschiedene Personenkreise (Eigentümer, Gläubiger, Staat) neben der Notwendigkeit auch vorteilhaft ist.“ (P14)
Diese Vorgänge sind laut den Experten dabei für die SuS häufig abstrakt und zudem durch eine starre, logische und mathematische Vorgehensweise geprägt. Aufgrund dieser Charakteristik kann dieser wirtschaftliche Themenbereich weniger pluralistisch erschlossen werden, sondern setzt ein höheres Maß an Disziplin und „Pauken“ voraus. „Bei Rechnungswesen und KLR gibt es klare Regeln, die nicht ausgelegt werden können. Es wird gerechnet und gebucht, es gibt eine richtige Lösung.“ (P24). Oder wie es ein anderer Experte formuliert: „Buchungssätze sind eben so, und da hilft es nicht, wenn ich da groß vielfältig herangehe. Da sind Fakten da, die zu lernen sind, systematisch.“ (P9)
Auf der Sachebene scheinen aber durchaus unterschiedliche Zugänge zu diesen regelgeleiteten Techniken möglich. Diese werden in der folgenden Kategorie C: „Einbeziehen von Vielfalt ist generell möglich“, vorgestellt. Zudem grenzten die
5Und
auch Kostenrechnung.
11.2 Zweite Einschätzung zur Dimension „Differenzierungsziel“
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Experten die Inhalte der Mikroökonomie bewusst von der Buchführung ab. Die grundlegenden Unterschiede wurden darin gesehen, dass die Mikroökonomie zwar durchaus mathematische Inhalte umfasst, bei denen etwas berechnet werden muss, aber das Fach zudem versucht, das allgemeine (nicht nur wirtschaftliche) Handeln von Menschen zu erklären. Hierdurch sind auch viele Inhaltsbereiche gegeben, die nicht mathematisch, sondern verbal erschlossen werden können und somit breitere Spielräume für den Umgang mit Vielfalt bieten. Als konkrete Beispiele wurden die Themen „Bedürfnisse“ und „Nutzen“ genannt. Ebenfalls sehen die Experten Möglichkeiten, unterschiedliche Zugänge in Verbindung mit aktuellen Themen zu generieren. „Inhaltliche Vielfalt von Positionen ist bei Standard-Themen, z. B. Mikroökonomie und Preisbildung, geringer – hier kann aber methodische Vielfalt weiterhelfen (z. B. Fallstudien, Experimente) und Aktualität (Diskussion um Mietpreisbremse oder Mindestlöhne) wiederum zu Vielfalt führen.“ (P22)
Entsprechend der aus Delphi 1 konstruierten Thesen, nannten die Experten auch Gegenargumente, warum rechtliche Themenbereiche, trotz einer gewissen Regelgeleitetheit, als geeignet angesehen werden könnten, um die Vielfalt der SuS zu nutzen. Diese Argumente werden nun in Kategorie B vorgestellt. Antwortkategorie B. Eignung der rechtlichen Themen durch Spielräume und einen klaren Alltagsbezug Ein wesentlicher Unterschied zwischen einer eher mathematischen und rechtlichen Regulierung besteht laut den Umfrageergebnissen darin, dass rechtliche Themengebiete zwar durch Paragrafen und Normen definiert werden, aber zugleich auch Spielräume für Veränderung gegeben sind. So könnten zum Beispiel alte Gesetze durch einen neuen Zeitgeist in Frage gestellt und an die Gesellschaft angepasst werden. Hierdurch unterscheiden sich diese rechtlichen Normen deutlich von beständigen Naturgesetzen, auf denen die Naturwissenschaften und somit auch die Mathematik basieren. Ebenso sind bei der Anwendung dieser rechtlichen Normen, im Gegensatz zu Naturgesetzen, auch immer gewisse Interpretationsspielräume gegeben. „Nach meiner Einschätzung geht es bei den rechtlichen Grundlagen zunächst natürlich um Normen und deren Inhalt. Die Anwendung dieser Normen auf konkrete Fälle lässt jedoch Spielräume offen, da es vom Abstrakten zum Konkreten geht. Das Vorhandensein dieser Spielräume offenbart sich auch in den verschiedenen Möglichkeiten, wie etwa Gerichtsurteile, die von verschiedenen Personen nachvollzogen werden können oder eben nicht oder nur z. T.“ (P19)
210
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In diesem Sinne beschäftigen sich täglich Anwälte und Richter auf einer Sachebene mit der Frage, ob in einem bestimmten Fall eine Rechtsnorm angewendet werden kann, wie bestimmte Sachverhalte auszulegen sind und welche rechtlichen Folgen ein Angeklagter zu erwarten hat. Diese Abwägung basiert dabei nicht auf einer willkürlichen Meinung. Im Gegenteil, alle getroffenen Entscheidungen müssen anhand einer sachlichen Begründung und auf Grundlage rechtlicher Normen und Gesetze, für alle Beteiligten nachvollziehbar sein. „Bei den rechtlichen Grundlagen gilt es die Gesetze auszulegen und auf einen Fall anzuwenden. Dies ist wesentlich flexibler als mathematische Regeln. Es gibt zwar klare Schemata, nach denen ein Fall zu prüfen ist, bspw. beim Lieferungsverzug, die Auslegung des Gesetzes, sowie die Fälle lassen viele Möglichkeiten für Spielräume und individuelle Gestaltungsmöglichkeiten zu.“ (P24)
Neben der Bewertung von rechtlichen Situationen auf der Sachebene, wie sie von den Experten genannt wurde, könnte man diese Bewertungsspielräume auch noch dahingehend weiterführen, dass zugleich auch eine Auslegung derartiger Situationen über die Meinungsebene stattfindet. Dies wäre zum Beispiel dann der Fall, wenn eine Situation nicht nur vor dem rechtlichen Hintergrund bewertet wird, sondern vor allem subjektive Vorstellungen von Gerechtigkeit hinzugezogen werden. Eine derartige Diskussion, die gesellschaftlich nicht unproblematisch sein kann, lässt sich zum Beispiel anhand der Flüchtlingswelle im Jahr 2015 aufzeigen. Einerseits existieren im Asylrecht klare Regeln, wann eine Person Anspruch auf ein Bleiberecht hat und wann diese wieder ausgewiesen werden muss. Andererseits zeigte sich in der Gesellschaft ein hohes Maß an Solidarität mit Flüchtlingen, das Bürger dazu veranlasste, sich gegen die Abschiebung von Flüchtlingen einzusetzen. Ein solches Engagement mag aus den unterschiedlichsten Beweggründen entstanden sein, aber führt dazu, dass die politisch vereinbarten Normen und deren bürokratische Umsetzung auf einer sachlichen Ebene teilweise sogar grundsätzlich in Kritik gerieten. Derartige Möglichkeiten auf der Sach- und Meinungsebene könnten somit (didaktisch reduziert) auch im Wirtschaftsunterricht eingesetzt werden und begründen grundsätzlich die Aussagen der Experten aus der ersten Befragungsrunde. Mit Blick auf die unterschiedlichen rechtlichen Themenbereiche der Sekundarstufe I und II wurde beispielsweise der Bereich „Verbraucherrechte“ von 46 % der Experten als geeignet eingestuft, um Vielfalt einbeziehen zu können. Hierbei ließen sich keine Unterschiede zwischen den Expertengruppen erkennen. Die Eignung dieses Themenbereichs begründeten die Experten mit
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der vorhandenen Nähe zum Alltag der SuS, die bereits in den höheren Klassenstufen der Sekundarstufe I als (eigenständige) Konsumenten auftreten. Durch dieses aktive Agieren der Jugendlichen, zum Beispiel durch Internetkäufe in Verbindung mit einer größeren Offenheit gegenüber elektronischen Zahlungsmethoden, prägen sie auch teilweise neue, auf dieses Verhalten ausgelegte rechtliche Anpassungen mit. „Eine Begründung, warum rechtliche Grundlagen (inkl. Verbraucherrechte) wieder mehr durch Vielfalt aufleben können, sehe ich im Alltagsbezug. Unser Rechtssystem ist in den letzten Jahrzehnten durch die Herausforderungen der sich wandelnden Gesellschaft gewachsen (z. B. “Fernabsatz” bzw. Internetkauf). Hier sind SuS nicht einfach nur Empfänger eines theoretischen Konstrukts, sondern sie sind Akteure auf diesem Feld.“ (P14)
Durch das Agieren als Konsumenten werden rechtliche Normen, wie zum Beispiel § 114 BGB, der auch als „Taschengeldparagraf“ bekannt ist, somit für die SuS greifbarer, da sie eine Verbindung zu ihrem Alltag erkennen können. „Vermutlich liegt dies an der Rolle “Konsument*in”, die den Schüler*innen erst einmal näher ist, die eine Vielzahl an Anknüpfungen an Lebenssituationen bietet und damit auch Variations- und Differenzierungsmöglichkeiten.“ (P15)
Somit könnten die SuS diese Inhalte als nützlich bewerten und sind möglicherweise auch motivierter, rechtliche Situationen sachlich zu bewerten oder sich auf eine Diskussion einzulassen. „Die Thematik “Verbraucherrechte” ist, da sie einen klaren Alltagsbezug hat, bei den Schülern beliebt, weil sie als nützlich erlebt wird. Die rechtlichen Grundlagen werden unter diesen Bedingungen kaum als Belastung wahrgenommen.“ (P8)
Antwortkategorie C: Einbeziehen von Vielfalt ist generell möglich 27 % der Experten stimmten dem in der Fragestellung aufgeworfenen Konflikt nicht gänzlich zu und argumentierten, dass nach ihrer Einschätzung Vielfalt sowohl im Bereich Rechnungswesen als auch bei rechtlichen Themen genutzt und einbezogen werden kann. Dieses Einbeziehen von Vielfalt ist dabei jedoch mit einem gewissen Arbeitsaufwand verbunden. „Diese Meinung vertrete ich nicht. Vielfalt ist überall möglich, manchmal muss man einfach mehr Zeit dafür investieren.“ (P5)
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Diese Zeit müsste demnach bei starren Themen, wo weniger auf der Meinungsebene gearbeitet und diskutiert werden kann, vor allem in das Erzeugen von differenzierenden methodisch-medialen Zugängen zur Sachebene investiert werden. „Ich denke nicht, dass Rechnungswesen, wenngleich regelgeleitet, die Vielfalt im Unterricht unterbindet. Wenngleich der Inhalt und dessen Struktur fix erscheinen, so sind Methodenentscheidungen und Lernwege induktiv und deduktiv vielseitig einsetzbar.“ (P7)
Die gleiche Argumentation wurde auch für den Bereich „Grundlagenwissen“ verwendet, welcher in der ersten Befragungsrunde ebenfalls als nicht sehr geeignet eingeschätzt wurde. Sehen Sie Möglichkeiten, damit Vielfalt z. B. auch im Rechnungswesen einbezogen werden kann? Wie könnte so etwas aussehen? (B3)
Zu dieser Frage gaben sieben Personen keine bzw. keine verwertbare Einschätzung ab, womit 18 Aussagen ausgewertet werden konnten. Bei den sieben Personen handelte es sich vor allem um Experten aus dem Bereich der Sekundarstufe I und der Gymnasien, welche die Inhalte des Rechnungswesens, im Gegensatz zu den kaufmännischen Schulen, weniger tief- greifend unterrichten. Aus den Antworten konnten dabei zwei Hauptkategorien gebildet werden (Tabelle 11.1). Tabelle 11.1 Antwortkategorien: Vielfalt im Rechnungswesen Kategorie
Bezeichnung
A
Vielfalt kann anhand verschiedener Aspekte einbezogen werden • Durch den Praxisbezug des Fachs und entsprechenden Simulationsmöglichkeiten, • Durch differenzierende Aufgaben.
B
Einbeziehen von Vielfalt ist schwierig.
Anzahl 8 7 3
Antwortkategorie A: Vielfalt kann anhand verschiedener Aspekte einbezogen werden Diese Aussagen wurden dabei häufig von Experten getätigt, die bereits bei der Frage zuvor der Darstellung widersprochen hatten, dass Vielfalt im Rechnungswesen nicht einbezogen werden kann. Die genannten Möglichkeiten, wie Viel-
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falt auch im Rechnungswesen genutzt werden kann, lassen sich dabei in zwei Bereiche gliedern. Acht Experten argumentierten dabei über eine vorhandene Methodenvielfalt, die genutzt werden kann, um unterschiedliche Zugänge zu den Inhalten zu konzipieren. Dabei bezogen die Experten die Methodenvielfalt vor allem auf den Praxisbezug, wodurch echte Dokumente, wie zum Beispiel Rechnungen oder sonstige Belege einbezogen werden können. Das Gleiche gilt für Gastvorträge. „Das habe ich immer gemacht. Zeitungsartikel, Publikationen von Unternehmen, Gastreferate bspw. Wirtschaftsprüfer, Steuerexperten, Banker, Steuerbeamte etc.“ (P5)
Anhand dieser Dokumente ergibt sich die Möglichkeit, die Theorie entsprechend mit der Lebenswelt der SuS zu verknüpfen. „Ja, besonders durch viele Belege, durch Erklären des Sinns für das Unternehmen oder auch für einen Kioskbesitzer, also immer wieder auf die Realität und so gut es geht auf die Lebenswelt der Schüler Bezug nehmen.“ (P21)
Ebenso können Belege dazu beitragen, für die SuS unterschiedliche Szenarien zu simulieren. Unterschiedliche Szenarien werden dabei an kaufmännischen Schulen häufig anhand von Übungsfirmen simuliert, in deren Rahmen SuS handlungsorientiert Geschäftsvorfälle nachahmen und sich dadurch mit den Inhalten des Rechnungswesens auseinandersetzen müssen. Dabei entspricht die Methode einer Übungsfirma auch dem Ansatz einer Entrepreneurship Education. „Vielfalt im Rechnungswesen bezieht sich meines Erachtens insbesondere darauf, welche Szenarien ich Schülerinnen und Schülern zur Verfügung stelle. Nehmen wir den Ansatz einer projektorientierten Entrepreneurship Education. Wenn Schülerinnen und Schüler an eigenen Ideen arbeiten und für individuelle Konzepte/ Geschäftsmodelle das Rechnungswesen simulieren bzw. aufbauen sollen, müssen sie für ihr Szenario auswählen, welche Aspekte des Rechnungswesens erforderlich sind.“ (P7)
Hierbei könnte die Methode der Übungsfirma einerseits genutzt werden, um Inhalte zu vermitteln, und andererseits im Sinne einer anwendungsorientierten, eigenständigen und differenzierten Auseinandersetzung mit den Inhalten. „Ich könnte mir vorstellen den Zugang zu diesen Regelwerken über eine Beispielfirma/Übungsfirma zu erleichtern, der dann sukzessive ausgebaut wird […].“ (P12)
214
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Eine wesentliche Voraussetzung für eine derartige Differenzierung, auf Grundlage von selbstgesteuertem Lernen, wird jedoch in einem soliden Grundlagenwissen gesehen, was von vier der Experten genannt wurde. „Wenn es der Lehrkraft gelingt, grundlegende Wissenselemente zu vermitteln, können sich Lernende selbstgesteuert jene Aspekte von Kontierung, Buchung […] aneignen, die für die eigene Geschäftsidee erforderlich sind. Eine Simulation ausgewählter Geschäftsvorfälle beispielsweise mit einer anderen Gründergruppe macht dann die individuelle und vielseitige Betrachtung des Themas in der Klasse aus.“ (7P)
Eine weitere Möglichkeit, um der Vielfalt der SuS im R echnungswesen-Unterricht gerecht werden zu können, wurde in einer Differenzierung anhand von Aufgaben gesehen. Diese Möglichkeit nannten insgesamt 7 Experten. Die unterschiedlichen Aufgaben könnten dabei unterschiedliche Fälle abbilden, die sich klassisch hinsichtlich des Umfangs und der Komplexität unterscheiden. „Es könnten verschiedene Aufgaben gestellt werden, nach Niveaustufen oder durch unterschiedliche Fallbeispiele, damit sich die jeweilige Gruppe angesprochen fühlt.“ (P16)
Unter den Antworten fanden sich jedoch auch einige kritische Stimmen, die in der folgenden Kategorie dargestellt werden. Antwortkategorie B: Einbeziehen von Vielfalt ist schwierig Im Vergleich zur relativ hohen Anzahl an positiven Einschätzungen in Kategorie A fielen die skeptischen Einschätzungen in dieser Kategorie relativ gering aus. Dennoch wurden die Hürden auch bei dieser Frage, analog zu den Antworten in der ersten Befragungsrunde, auf die starke Regelgeleitetheit des Fachs bezogen. „Egal, in welcher Stufe unterrichtet wird, die Inhalte werden gleich unterrichtet. Es ist ein gegebenes System, das von den Schülern erlernt werden muss. Es sind Inhalte, die gelernt und geübt werden müssen, bis sie verinnerlicht sind.“ (P24)
Genau dieses Verinnerlichen des zugrundeliegenden Systems kann zugleich auch als Voraussetzung gesehen werden, um die Vielfalt entsprechend den Möglichkeiten zu nutzen, wie sie in Kategorie A genannt wurden.
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„Schwierig, da zunächst einmal alle Schüler einen passenden Wissengrundstock benötigen, und dann gäbe es sicherlich gute Gedanken, z. B. für ein Schuljahr eine Firma gründen und das alles durchleben, was ein echter Betrieb auch durchlebt.“ (P9)
Als letztes Argument in diesem Bereich wurden die eingeschränkteren Möglichkeiten zum Einbeziehen von kontroversen Meinungen genannt, was ebenfalls durch die Regelgeleitetheit begründet wurde. „Meinungen kontrovers zu diskutieren geht wenig, ist aber auch möglich. Z. B. wenn es um die Bewertung von Bilanzpositionen geht […].“ (P21)
Übersicht Der AEIOU-Ansatz wird in der Literatur als ein fachunabhängiges Konzept beschrieben, mit dessen Hilfe den vielfältigen Schülern unterschiedliche Zugänge zu Problemstellungen angeboten werden können. „AEIOU“ bezieht sich dabei auf die Anfangsbuchstaben der verschiedenen Zugänge: „Argumentieren“, „Erkunden“, „Imaginieren“ (Vorstellungen entwickeln, Gedanken weiterspinnen), „Ordnen“ und „Urteilen“ (was vorab eine kritische Prüfung/Beurteilung benötigt). Wie bewerten Sie die Eignung dieses Ansatzes für den Wirtschaftsunterricht, um Vielfalt einbeziehen zu können? Bitte begründen Sie Ihre Einschätzung möglichst konkret, wenn möglich mit Beispielen, wie diese Zugänge ggf. im Wirtschaftsunterricht genutzt werden können. (B4)
Das AEIOU-Konzept gehört nicht zu den häufig genannten Konzepten im Heterogenitätsdiskurs; Im Gegenteil. Es handelt sich dabei viel mehr um ein Konzept, nach dem man in der Literatur eher suchen muss und das in der analysierten Literatur der unterschiedlichen Fachbereiche so gut wie keine Erwähnung findet. Dennoch trifft man auf der praktischen Anwendungsebene, zum Beispiel durch einschlägige Fortbildungsfolien mit Bezug auf die Gemeinschaftsschule, auf diesen Ansatz. Der AEIOU-Ansatz kann dabei als ein Leitfaden verstanden werden, um unterschiedliche Zugänge zu generieren. Er kann dabei
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als ein fächerübergreifendes Instrument gesehen werden, weshalb er in die zweite Befragungsrunde aufgenommen wurde. In diesem Rahmen soll seine Eignung für das Fach Wirtschaft genauer analysiert werden. Diese Zugänge unterscheiden sich dabei in ihrer Zielrichtung und der geforderten Arbeitsweise. Während für eine Argumentation Aspekte sachlich analysiert und gegenübergestellt werden müssen, ist beim „Erkunden“ oder „Imaginieren“ vor allem Kreativität gefragt. Das „Erkunden“ ist dabei strukturierter und kann ggf. auf eine Problemlösung hinauslaufen, während beim „Imaginieren“ die SuS stärker eigene Vorstellungen zu einem Sachverhalt entwickeln sollen oder einen bestehenden Gedankengang weiterführen sollen. „Urteilen“ kann als die komplexeste Form gesehen werden, da für ein Urteil Aspekte analysiert und entsprechend geordnet werden müssen, um daraus ein Urteil ableiten zu können. Diese Zugänge bieten daher gleich zwei unterschiedliche Möglichkeiten für eine Differenzierung an. Einerseits kann dabei die Zugangsart an sich variiert werden und andererseits lässt sich damit auch eine Niveaudifferenzierung umsetzen. Bei den Antworten zeigte sich, dass der AEIOU- Ansatz unter den Befragten Experten nur geringfügig bekannt war. Aus den Antworten konnten zwei Hauptkategorien gebildet werden, die in Tabelle 11.2 dargestellt sind. Tabelle 11.2 Antwortkategorien: Bewertung des AEIOU-Ansatzes Kategorie
Bezeichnung
Anzahl
A
Der Ansatz ist nicht bekannt oder keine Äußerung.
11
B
Der Ansatz ist für eine Differenzierung im Fach Wirtschaft geeignet. • Nähe zur Lernzieltaxonomie • Geeignet zur Niveaudifferenzierung • Möglichkeit, unterschiedliche Zugänge zu Inhalten zu schaffen
12 4 1 2
Antwortkategorie A: Ansatz ist nicht bekannt oder keine Äußerung Rund 40 % der Experten gaben an, dass sie den Ansatz nicht kennen oder äußerten sich nicht zu dieser Frage. Dabei handelte es sich um sechs Experten aus dem Bereich Hochschule, drei aus dem Bereich der kaufmännischen Schulen und jeweils um einen Experten aus dem gymnasialen Bereich und der Gemeinschaftsschule. Hingegen kamen ausführliche Einschätzungen überwiegend aus dem schulischen Bereich der Werkrealschulen und der Gemeinschaftsschulen. Dies erscheint logisch, da sich diese Schularten bereits seit mehreren Jahren mit der konkreten Umsetzung von differenziertem Unterricht im Alltag auseinandersetzen mussten.
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Antwortkategorie B: Der Ansatz ist für eine Differenzierung im Fach Wirtschaft geeignet 45 % der Experten schätzten das Konzept für den Wirtschaftsunterricht als geeignet ein. Die Begründungen können dabei in mehrere Unterkategorien unterteilt werden, die inhaltlich weit gestreut waren. Vier der Experten begründeten ihre Einschätzung über die Nähe der AEIOU-Kategorien zur Lernzieltaxonomie und den Bloom´schen Operatoren. „Dennoch spiegelt dieser Ansatz mit Blick auf Lernzieltaxonomien und Leistungsstandards verschiedenster Curricula Lernziele höheren Niveaus wider. Damit sind diese auch für den Wirtschaftsunterricht im Generellen zunächst erstrebenswert.“ (P7)
Ein anderer Experte sieht in dem Ansatz eine Möglichkeit, die AEIOUOperatoren zur Niveaudifferenzierung zu nutzen. „Je nach Leistungsstand der SuS kann der AEIOU- Ansatz genutzt werden. Z. B. können die AEIOU-Verben als Operatoren genutzt werden.“ (P16)
Eine andere Argumentation leitete sich daraus ab, dass dieser Ansatz einen Leitfaden für unterschiedliche Zugänge bieten kann, wobei die Logik der Taxonomiestufen zunächst nebensächlich ist. Ein weiterer Experte war der Auffassung, dass durch AEIOU „alle“ Sinne der Schüler angesprochen werden könnten. Diese Aussage ist insofern kritisch zu bewerten, da die meisten Möglichkeiten eine verbale Leistung verlangen und somit nicht zwangsläufig unterschiedliche Sinne, geschweige denn alle Sinne der SuS angesprochen werden können. Auch müssen bei einem Thema nicht zwangsläufig alle AEIOU-Punkte abgehandelt werden, sondern sind als Hilfestellung für diverse Zugänge zu sehen. Das folgende Beispiel eines Experten aus dem Bereich Seminar zeigt exemplarisch, wie dieses Konzept für das Fach Wirtschaft genutzt werden könnte. „In einer Unterrichtsstunde vielleicht nur punktuell umsetzbar, aber über eine Sequenz sehr gut vorstellbar. Z. B. Aktien: Vermittlung von Faktenwissen, dann Erkunden eines typischen Unternehmens/Bank, Diskussion dort, Imaginieren, für das eigene Leben später einmal verschiedene Informationen über Anlageformen ordnen können und anschließend sich ein Urteil bilden können, was für einen persönlich jetzt sinnvoll ist, aber vielleicht auch aus unternehmerischer Sicht (BwR).“ (P7)
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11 Präzisierungen und Auswertung der zweiten Delphi-Runde
Ein anderer Experte, der keinem Bereich zugeordnet werden konnte, zeigte sich verblüfft durch den Ansatz, da er das darin beschriebene Vorgehen nicht unter dem Begriff kannte, aber diese unterschiedlichen Zugänge zu seinem Standardrepertoire zählen würde. „Also so ganz verstehe ich diese Frage nicht, genau das machen wir doch schon lange im Wirtschaftsunterricht?! Z. B. stellt man eine These auf oder zitiert eine These von jemandem und die Schüler finden Argumente für und gegen diese These. Z. B. könnten Thesen lauten: „Betriebsräte kosten nur Geld, sie motzen nur und erwirtschaften nichts fürs Unternehmen!“ […]. Oder man lässt die Schüler eine Wirtschaftsordnung kreieren oder lässt sie die Gedanken von A. Smith und K. Marx und/oder W. Eucken weiterspinnen. Man kann z. B. Bedürfnisse clustern lassen oder die Begriffe eines Kalkulationsschemas clustern lassen und dann in eine sinnvolle Reihenfolge bringen lassen. Man kann Schüler auch über aktuelle politische Entscheidungen urteilen lassen, z. B. ob die Zuckersteuer in England sinnvoll ist und wir sie auch einführen sollten. Heißt also abschließend, ich halte Wirtschaftsunterricht für sehr geeignet für den AEIOU-Ansatz.“ (P21)
Eine weitere interessante Bewertung aus dem Bereich Hochschule argumentierte dahingehend, dass die AEIOU-Dimensionen keine alternativen Zugänge darstellen, bei denen ein Schüler zum Beispiel den „A“-Zugang wählt und ein anderer den „E“-Zugang. Vielmehr würde es sich auf vier aufeinander aufbauende Schritte handeln, die durchlaufen werden müssten, bis die SuS in der Lage sind, sich ein Urteil bilden zu können. Die unterschiedlichen Zugänge sah die Person eher innerhalb einer Dimension gegeben. Zum Beispiel, dass man einen Sachverhalt auf unterschiedliche Weise erkunden kann oder es den Schülern selbst überlassen bleibt, wonach sie Aspekte eines Sachverhalts ordnen. Als konkretes Beispiel wurden unterschiedliche Konjunkturmaßnahmen zu Wiederbelebung der Wirtschaft genannt, die entweder nach den Kosten, die für den Steuerzahler entstehen, der Dauer bis eine Wirkung eintritt oder nach dem persönlichen Nutzen für die SuS geordnet werden könnten. Diese Begründung stellt dabei ein plausibles Beispiel dar. Sie schließt jedoch auch nicht aus, dass die AEIOU-Dimensionen zur Bearbeitung auf unterschiedliche SuS aufgeteilt und somit ggf. auch nach der Leistung differenziert werden kann. Obwohl der AEIOU-Ansatz auch in der Literatur der anderen Fachbereiche so gut wie nicht auffindbar ist, scheint dieser Ansatz laut den Experten für eine Differenzierung im Fach Wirtschaft durchaus geeignete Möglichkeiten bieten zu können.
11.2 Zweite Einschätzung zur Dimension „Differenzierungsziel“
219
Zusammenfassung der Ergebnisse zur Dimension „Differenzierungsziel“ Die Ergebnisse der zweiten Befragungsrunde präzisierten die Ergebnisse aus Delphi 1 und konnten weitere Anhaltspunkte liefern, wie das Ziel „Vielfalt im Wirtschaftsunterricht einzubeziehen“, umgesetzt werden könnte. So wurde durch die erste Frage (B1) deutlich, dass eine deutliche Mehrheit der Experten ein Einbeziehen von Vielfalt über die Meinungsebene, im Sinne einer Auseinandersetzung mit kontroversen Diskussionen als geeignet einschätzte. Ebenso bieten laut den Aussagen wirtschaftliche Inhalte vielfältige Möglichkeiten, um die unterschiedlichen Meinungen der SuS aufgreifen und nutzen zu können. Ebenso wurde auch die Multiperspektivität der wirtschaftlichen Inhalte von den Experten als wichtiges Merkmal genannt, auf dessen Grundlage vielfältige Zugänge zu Inhalten konstruiert werden könnten. Sowohl die Möglichkeiten auf der Meinungsebene als auch auf Sachebene müssen dabei durch eine entsprechend abgestimmte methodische und mediale Planung untermauert werden. Die von den Experten angesprochene Multiperspektivität der wirtschaftlichen Inhalte steht somit auch im Gegensatz zum Vorwurf aus dem politischen Fachbereich, dass die ökonomische Bildung die Multiperspektivität der Inhalte vernachlässigen würde, wie er vor allem in der Diskussion zur Eigenständigkeit des Fachs Wirtschaft formuliert wird (Lange und Menthe 2011a). Auch konnten die Antworten zur Frage B2 den Unterschied zwischen einer Regelgeleitetheit im Bereich des Rechnungswesens und von einer Regelgeleitetheit im Bereich der rechtlichen Regulierungen herausarbeiten und aufzeigen. So zeigte sich, dass rechtliche Inhalte vielfältige Möglichkeiten bieten, um die Vielfalt der SuS in den Unterricht einbeziehen zu können. Diese Möglichkeiten müssten nun in einem weiteren Schritt dazu genutzt werden, um entsprechendes Unterrichtsmaterial zu entwickeln und zu testen. Zudem konnten durch Frage B 3 die Einschätzungen aus der ersten Befragungsrunde widerlegt werden, dass es sich beim Fach Rechnungswesen um „starre“ Inhalte handelt und ein Einbeziehen von Vielfalt daher nicht möglich sei. Stattdessen konnte in der zweiten Befragungsrunde aufgezeigt werden, dass auch im Fach Rechnungswesen die Vielfalt der SuS auf unterschiedliche Weisen einbezogen werden kann. Hierfür könnte u. a. auch der AEIOU-Ansatz verwendet werden.
220
11 Präzisierungen und Auswertung der zweiten Delphi-Runde
11.3 Zweite Einschätzung zur Dimension „Differenzierungsaspekte“ Um den Einfluss verschiedener Differenzierungsaspekte auf die Leistung im Fach Wirtschaft weiter zu untersuchen wurden anhand der Ergebnisse der ersten Befragungsrunde verschiedene Thesen gebildet. Zudem wurden die Ergebnisse aus Delphi 1 den Experten vorab durch Abbildung 11.8 in Verbindung mit der folgenden Beschreibung vorgestellt, damit sich diese leichter in die Problematik hineinversetzen konnten. „In der ersten Delphi-Runde bewerteten die Expertinnen und Experten verschiedene Unterscheidungsmerkmale hinsichtlich ihrer Auswirkung auf die Leistung im Fach Wirtschaft. Die Grafik zeigt ein Auszug dieser Ergebnisse. Nun soll es darum gehen, diese Einschätzungen zu konkretisieren.“
Abbildung 11.8 Delphi 1-Ergebnisse zur Dimension „Differenzierungsaspekte“. (Eigene Darstellung)
11.3 Zweite Einschätzung zur Dimension „Differenzierungsaspekte“
221
Übersicht Dem Aspekt Geschlecht wurde quasi kein Einfluss auf die Leistung im Fach Wirtschaft bescheinigt. Wissenschaftliche Studien zeigen hingegen, dass Mädchen bei wirtschaftlichen Leistungstests generell schlechter abschneiden als Jungen. Warum ist das so? Bitte helfen Sie, diesen Gegensatz zu verstehen. (C1)
Zu dieser Darstellung äußerten sich 17 Experten mit verwertbaren Einschätzungen, woraus die folgenden vier Kategorien gebildet werden konnten (Tabelle 11.3). Tabelle 11.3 Antwortkategorien Geschlecht und Leistung Kategorie
Bezeichnung
Anzahl
A
Ergebnisse der Studien decken sich nicht mit den Erfahrungen aus dem täglichen Unterricht.
5
B
Die Leistung im Fach Wirtschaft ist von den Interessen der SuS abhängig: • Geringeres Interesse für Wirtschaft und Geld (Sozialisation) • Geringes Interesse aufgrund mathematischer Themenbereiche
4 5
Ergebnisse der Studien sind abhängig vom Testdesign.
4
C
Antwortkategorie A: Ergebnisse der Studien decken sich nicht mit den Erfahrungen aus dem täglichen Unterricht Von den fünf Einschätzungen konnten vier dem Bereich der Schule und eine dem Seminar zugeordnet werden. Durch die Aussagen wurde deutlich, dass die Einschätzungen der Experten auf langjährigen Beobachtungen aus dem täglichen Unterricht basierten. „Das kann ich nicht nachvollziehen und aus meiner unterrichtlichen Tätigkeit von 21 Jahren nicht bestätigen, im Gegenteil, Mädchen schneiden oft besser ab als Jungen.“ (P3)
Die Einschätzungen bezogen sich dabei jedoch nicht nur auf einen objektiven Vergleich von Noten. Vielmehr handelte es sich um eine subjektive Einschätzung auf Grundlage von Unterrichtserfahrungen bei denen viele Aspekte, wie zum
222
11 Präzisierungen und Auswertung der zweiten Delphi-Runde
Beispiel das Benehmen, die Mitarbeit oder auch die Organisationsfähigkeit mit einbezogen wurden. Mädchen scheinen hierbei häufig einen besseren Eindruck hinterlassen zu haben als Jungen. „Mädchen benehmen sich nach meinem Empfinden im Unterricht meistens besser und sind besser organisiert und strebsamer als Jungs. Daher erhält man wahrscheinlich ein anderes Bild, als wenn man sich nur auf die reine Leistungsfähigkeit in einem wirtschaftlichen Test bezieht. Dieses Ergebnis müsste auch konkreter dargestellt werden, da laut Hattie der Zusammenhang zwischen Leistung und Geschlecht auch recht gering ausfällt.“ (P23)
Auch in der folgenden Äußerung deckte sich der Eindruck aus dem Unterricht nicht mit den Ergebnissen der wissenschaftlichen Studien. Jedoch ging die Person davon aus, dass durchaus ein Zusammenhang zwischen dem Interesse für Themen und der Leistung besteht, wie es gleich in Kategorie B ausführlicher dargestellt wird. „Aus meiner Praxis habe ich eher den Eindruck, dass das themen- bzw. interessenabhängig ist. Ich könnte den Eindruck der wissenschaftlichen Studien so nicht bestätigen.“ (P8)
Antwortkategorie B: Die Leistung im Fach Wirtschaft ist von den Interessen der SuS abhängig Mit insgesamt neun Nennungen war diese Kategorie dabei am stärksten vertreten. Im Vergleich zur ersten Kategorie sind in dieser Kategorie auch Einschätzungen aus dem Hochschulbereich enthalten. Bis auf eine Ausnahme gingen alle Einschätzungen davon aus, dass Mädchen ein geringes Interesse für wirtschaftliche Inhalte mitbringen als Jungen und sich daher nicht so gut mit dem Fach identifizieren können. Die Aussagen der anderen Experten, die in dieser Unterkategorie gebündelt wurden, koppelten hingegen das Interesse an wirtschaftlichen Inhalten mit Aspekten der Sozialisation und dem Streben nach gut bezahlten Berufen. „Sozialisationsbedingt geringeres Interesse könnte eine Rolle spielen bei den Mädchen. Jungen sind aus den gleichen Gründen vielleicht eher wirtschaftsaffin. Berufswunsch eines Jungen in der WEG [Wirtschaftsgymnasium]: ‘Ich möchte auf jeden Fall viel Geld verdienen’.“ (P17) „Weil Mädchen dem Fach Wirtschaft weniger Bedeutung zuschreiben. Die Mädchen haben meist nicht das Ziel “Viel Geld zu verdienen” und haben daher andere Interessen im Vordergrund.“ (P16)
11.3 Zweite Einschätzung zur Dimension „Differenzierungsaspekte“
223
Ob dies pauschal so gesehen werden kann, ist natürlich fraglich. Interessant ist in diesem Zusammenhang die folgende Aussage aus dem Hochschulbereich, die hingegen anführte, dass Mädchen ein klares Interesse an kaufmännischen Berufen zeigen. „Das Abschneiden der Mädchen widerspricht sich auch mit deren grundsätzlichem Interesse für kaufmännische Berufe […].“ (P19)
Fünft der Einschätzungen sahen dabei einen Zusammenhang zwischen dem Interesse für wirtschaftliche Themenbereiche und der Mathematiklastigkeit diese Inhalte. „Unter Umständen könnte es mit den Inhalten zusammenhängen, die bei den Leistungstests abgeprüft werden. Bei gesamtwirtschaftlichen Zusammenhängen spielen vielleicht Rechnungen eine Rolle, bei denen sich Mädchen schwerer tun […].“ (P24)
Antwortkategorie C: Ergebnisse der Studien sind abhängig vom Testdesign Die Äußerungen in dieser Kategorie konnten eindeutig dem Hochschulbereich zugeordnet werden. Dies ist insofern plausibel, da man nicht davon ausgehen kann, dass sich Praktiker an Schulen und ggf. den Seminaren mit Testdesigns zur Messung von ökonomischen Kompetenzen auseinandersetzen. So bezog sich eine Antwort auf den ECOS-Kompetenztest und andere auf wissenschaftliche Studien, wonach Mädchen bei Multiple-Choice-Tests generell schlechter abschneiden.6 Ein weiterer Experte verwies hingegen auf den Unterschied zwischen einer Leistung, die im Rahmen einer breit angelegten Kompetenzmessung erhoben wird und dem täglichen Handeln der SuS im Unterricht. „Vermutung: Weil ‘wirtschaftliche Leistungstests’ nur sehr unzureichend erfassen, wie leistungsstark oder -willig die Probanden im Unterricht und auch in schulischen Prüfungskontexten tatsächlich sind. (Interessant wäre in diesem Zusammenhang, ob die Schulnoten im Fach Wirtschaft sich signifikant nach Geschlecht unterscheiden).“ (P25)
Diese Äußerung passt somit auch zu den Anmerkungen der Lehrkräfte in Kategorie A, die anhand ihrer Unterrichtserfahrungen den „Gender Gap“ eben-
6Vgl.
Macha 2011 oder Abschnitt 7.3.
224
11 Präzisierungen und Auswertung der zweiten Delphi-Runde
falls nicht bestätigen konnten. Eine genderspezifische Analyse von Schulnoten im neuen Fach WSB und an Schularten der Sekundarstufe II wäre in diesem Zusammenhang sicherlich ein spannendes weiterführendes Forschungsdesiderat. Fazit: Differenzierungsaspekt Geschlecht Die Antworten zeigen deutlich, dass es keine einheitliche Einschätzung dazu gibt, wie das Geschlecht die Leistung im Fach Wirtschaft beeinflusst. Vor allem die Experten aus den Schulen scheinen durch ihren täglichen Umgang mit den SuS im Vergleich zu wissenschaftlichen Testergebnissen einen anderen Eindruck zu gewinnen. Auch mit Blick auf die Aussage, dass Mädchen bei Multiple Choice generell schlechter abschneiden oder unterschiedliche Tests zu widersprüchlichen Ergebnissen gelangen, wird deutlich, dass diese Frage auf dieser Grundlage noch nicht ausgiebig beantwortet ist und ggf. mit den in dieser Befragung gewonnenen Aspekten weiter untersucht werden sollte. Ebenso stützten sich einige der Experten auf die Hattie-Studie (Hattie 2015), wonach das Geschlecht ebenfalls einen sehr geringen Einfluss auf die schulische Leistung hat. In der Dimension Differenzierungsaspekte wurden zudem das Verhältnis zu dem Aspekt „Herkunft“ und der Leistung im Fach Wirtschaft präziser untersucht und durch die folgende Frage abgebildet.
Übersicht Unter „Herkunft“ argumentierten Experten in der ersten Befragungsrunde vor allem über die Punkte „Sprache“ und „sozio-ökonomischer Hintergrund“, wobei der Punkt „Sprache“ deutlich häufiger genannt wurde. Halten Sie dies für gerechtfertigt? Bitte beschreiben Sie, auf welche Art und in welchem Kontext sprachliche Hürden den Wirtschaftsunterricht beeinflussen und welche sozio-ökonomischen Aspekte Sie in diesem Kontext als bedeutsam einschätzen. (C2)
Insgesamt äußerten sich 20 Experten zu dieser Frage, aus denen die folgenden drei Kategorien gebildet wurden (Tabelle 11.4).
11.3 Zweite Einschätzung zur Dimension „Differenzierungsaspekte“
225
Tabelle 11.4 Antwortkategorien Sprachkompetenz und Leistung Kategorie
Bezeichnung
Anzahl
A
Sprachkompetenz ist im Wirtschaftsunterricht entscheidend.
12
B
Auswirkungen von sprachlichen Hürden im Wirtschaftsunterricht 1. Allgemeine Probleme 2. Rechtliche Themenbereiche 3. Abschlussprüfungen
2 2
C
Migrationshintergrund und Elternhaus als wichtiger sozio-ökonomischer Aspekt
9
7
Antwortkategorie A: Sprachkompetenz ist im Wirtschaftsunterricht entscheidend Insgesamt zwölf Experten aus allen Tätigkeitsbereichen hoben explizit die Bedeutung einer ausgeprägten Sprachkompetenz für das Lernen allgemein und den Wirtschaftsunterricht hervor. „Die Sprache ist der Schlüssel für alle Lerninhalte. Ohne die Sprache können Lerninhalte nicht erschlossen werden.“ (P16) beziehungsweise „Sprache ist der Schlüssel zur Welt, auch zur ökonomischen Bildung“ (P3). Auch weitere Antworten stellten die Bedeutung der Sprachkompetenz für den Wirtschaftsunterricht in den Vordergrund. Sie taten dies jedoch meist indirekt durch Erläuterungen, wie sich sprachliche Hürden entsprechend auf die Leistung auswirken können. Lediglich ein Experte aus dem Hochschulbereich argumentierte entgegengesetzt und merkte an, dass im Wirtschaftsunterricht im Vergleich zu anderen Fächern auch eine geringere Sprachkompetenz ausreichend sein könnte, da Wirtschaftsunterricht häufig mithilfe von Grafen, Tabellen und Rechnungen umgesetzt wird. „Ich würde es umgekehrt sehen: Wirtschaftsunterricht muss weit weniger als andere Fächer über Sprache funktionieren, da wir Grafen, Tabellen, Rechnungen und handlungsorientierte Methoden verwenden können […].“ (P11)
Diese Darstellung mag einerseits richtig sein. Sie ist aber auch skeptisch zu betrachten, wie die folgenden Argumente zeigen. Antwortkategorie B: Auswirkungen von sprachlichen Hürden im Wirtschaftsunterricht Die Einschätzungen zu den Auswirkungen von sprachlichen Hürden im Wirtschaftsunterricht sind mit 14 Nennungen bei insgesamt 20 Antworten stark ausgeprägt. Der größte Anteil der Antworten beschreibt dabei eher allgemeine Probleme, die eine fehlende bzw. schwach ausgeprägte Sprachkompetenz verursachen kann.
226
11 Präzisierungen und Auswertung der zweiten Delphi-Runde
„Sprachliche Hürden tauchen in den letzten Jahren verstärkt auf. Meistens sind es Probleme beim Lesen und Schreiben und vor allem der Wortschatz hinsichtlich der Fachsprache […]. Die Kommunikation verkümmert […], dies betrifft aber auch deutsche Schüler.“ (P23)
Ein anderer Experte aus dem Bereich der kaufmännischen Schule teilte diese Auffassung und beschreibt die Auswirkungen für das Unterrichtsgeschehen. Problematisch könnte es zum Beispiel dann werden, wenn der Wortschatz der SuS nicht ausreichend ausgeprägt ist, um eine einfache Bildbeschreibung vorzunehmen. Zudem fügte er an, dass es sich hierbei nach seiner Einschätzung eher um ein generelles Problem zu handeln scheint. „Allerdings ist auch bei Schülern ohne Migrationshintergrund zu beobachten, dass der Wortschatz nicht sehr ausgeprägt ist und teilweise einfache Bildbeschreibungen an der fehlenden Vielfalt an Wörtern scheitern.“ (P24)
Insgesamt verwiesen vier Experten explizit drauf, dass die kommunikativen Kompetenzen auch bei deutschen SuS häufig schwach ausgeprägt seien. Ein derart niedriges Sprachniveau dürfte auch der zuvor erwähnten Ansicht eines Experten widersprechen, wonach Sprache im Wirtschaftsunterricht aufgrund von numerischen Methoden auch weniger ausgeprägt sein könne. „Selbst, wenn mit differenzierten Zugängen gearbeitet wird (bspw. verbal/grafisch/ mathematisch beim Markt-GG), und vor allem, wenn es um kontroverse Inhalte geht, kommt verbalem Verständnis eine zentrale Bedeutung für das fachliche Verständnis zu.“ (P25)
Ebenso wurde auch der richtige Umgang mit Fachbegriffen als ein wesentlicher Teil der geforderten Sprachkompetenz gesehen. „Zum Fach Wirtschaft gehören Fachbegriffe. Der Umgang mit Fachbegriffen erfordert höhere sprachliche Kompetenz.“ (P13)
Hinzu kommt, dass Fachbegriffe einen wesentlichen Bestandteil des Wirtschaftsunterrichts darstellen (vor allem in der Sekundarstufe II), ohne die bestimmten Inhalte, wie zum Beispiel rechtliche Themenbereiche, nicht zielführend erschlossen werden können. „Oftmals kommt es auf Nuancen an. Bei Verbraucherfragen und Rechte des Käufers sind Formulierungen nicht einfach zu verstehen, ein falsch interpretiertes Wort kann einen Kontext stark verändern.“ (P6)
11.3 Zweite Einschätzung zur Dimension „Differenzierungsaspekte“
227
Eine geringe Sprachkompetenz wirkt sich jedoch nicht nur im Unterricht direkt aus, sondern kann eventuell auch zu schlechteren Ergebnissen bei Abschlussprüfungen führen. Je höher dabei der angestrebte Bildungsabschluss ist, umso mehr werden eine entsprechende Sprachkompetenz und der Umgang mit Fachbegriffen vorausgesetzt. „[…] Bei Abiturprüfungen sind viele textbasierte Aufgaben, bei denen Sprachvermögen natürlich eine Rolle spielt.“ (P3)
Dieses Sprachvermögen ist jedoch nicht immer gegeben. „Teilweise verstehen die Schüler die Prüfungsaufgaben nicht mehr […]. Dies ist durchaus ein Problem, da Wirtschaftslehrer keine Sprachlehrer sind.“ (P 23)
Die Argumente der Experten zeigen, dass eine schlecht ausgeprägte Sprachkompetenz durchaus eine größere Hürde darstellen könne, um eine gute Leistung im Wirtschaftsunterricht erreichen zu können. Dass auch andere Fachbereiche von dieser Problematik betroffen sind, wurde bereits in Kapitel 7 dargestellt. Jedoch sind bisher in der Wirtschaftsdidaktik kaum überzeugende Ansätze bezüglich eines sprachsensiblen Wirtschaftsunterrichts vorhanden. Dies wäre jedoch wünschenswert, da es sich bei der Sprachkompetenz um einen Problemaspekt handelt, der im Vergleich zu einer mangelnden Motivation oder anderen Aspekten des sozioökonomischen Hintergrunds nur schwer ausgeglichen werden kann. „[…] Die Sprache hingegen ist eine größere Barriere, denn trotz Willen können die Lerninhalte nicht verstanden werden.“ (P16)
Jedoch sahen auch viele der Experten gerade im sozio-ökonomischen Hintergrund eine Ursache für eine schwache Sprachkompetenz. Antwortkategorie C: Migrationshintergrund und Elternhaus als wichtiger sozioökonomischer Aspekt In dieser Kategorie wurden Aussagen gebündelt, in denen die Experten die Sprachkompetenz in Verbindung zum sozioökonomischen Hintergrund der Schüler setzten. „Ich denke, der sozioökonomische Hintergrund und die Sprache hängen zusammen. Dass Kinder aus einer Migrantenfamilie häufig auch schlechter Deutsch sprechen als Kinder aus einer deutschen ““Akademiker-Familie”“ scheint logisch.“ (P23)
228
11 Präzisierungen und Auswertung der zweiten Delphi-Runde
Der Aspekt des Hintergrunds kann sich jedoch nach Einschätzung der Experten auch breiter auswirken, wie zum Beispiel bei der Berufswahl. „Fehlende Sprachkenntnisse sind für jede Art von Fachunterricht eine Herausforderung, der sozio-ökonomische Hintergrund nimmt Einfluss, wenn es beispielsweise um die Gestaltung eigener Spielräume z. B. in der Berufsorientierung geht.“ (P1)
Hingegen könnten die sprachlichen Fähigkeiten durch einen entsprechenden familiären Hintergrund auch gefördert werden, was zu einem besseren Sachverständnis führen könnte. „Wirtschaftspolitisches Arbeiten bedeutet auch, mit Begrifflichkeiten konfrontiert zu werden und umzugehen, wie es die Alltagssprache nicht erfordert. Dieses Maß an Verständnis für die Inhalte wird dann schneller erfolgen oder bereits präsent sein, wenn die jungen Menschen in einem sozio-ökonomischen Umfeld aufwachsen, das dieses Vokabular und wirtschaftliches Denken pflegt“. (P20)
Auch das folgende Argument trennt zwischen der Sprachkompetenz und anderen Faktoren, die durch den sozio-ökonomischen Hintergrund geprägt werden, wobei die sprachlichen Hürden als leichter zu überwinden eingeschätzt werden. „Die Sprache ist der Schlüssel für alle Lerninhalte. Ohne die Sprache können Lerninhalte nicht erschlossen werden. Der sozio-ökonomische Hintergrund ist zwar eine Barriere, aber manche schaffen es, diese Barriere hinter sich zulassen und wollen lernen und dann ist das auch möglich. Die Sprache ist hingegen eine größere Barriere, denn trotz Willen können die Lerninhalte nicht verstanden werden.“ (P16)
Fazit Differenzierungsaspekt „Sprache“ Insgesamt zeigen die Aussagen der Experten, dass man von einem Zusammenhang zwischen der Sprache und dem sozio-ökonomischen Hintergrund ausgehen kann, auch wenn der sozio-ökonomische Hintergrund breiter gefasst ist und sich auch in anderen Bereichen, wie zum Beispiel der Berufswahl o. ä. auswirken kann, wie es auch in Abschnitt 3.4 beschrieben wurde. Diese anderen Aspekte können laut den Einschätzungen der Experten von den SuS leichter überwunden werden als vorhandene sprachliche Hürden. Die sprachlichen Hürden wurden dabei vor allem auf einen reduzierten Wortschatz bezogen und scheinen auch für das Fach Wirtschaft ein ernst zu nehmendes Problem darzustellen. Davon sind
11.3 Zweite Einschätzung zur Dimension „Differenzierungsaspekte“
229
jedoch nicht nur SuS mit Migrationshintergrund betroffen, sondern auch SuS, die Deutsch als Muttersprache erlernt haben. Der sozio-ökonomische Hintergrund kann sich nach den Ergebnissen der zweiten Befragungsrunde dabei nicht nur auf die Sprachkompetenz der SuS auswirken, sondern auch auf deren Vorwissen. Einschätzungen dazu, wie sich dieses auf die Leistung im Fach Wirtschaft auswirkt, wurden in der nächsten Frage erhoben.
Übersicht Als weiterer einflussreicher Aspekt wurde das „Vorwissen“ bewertet. Bitte erläutern Sie möglichst eindeutig, welche Art von Vorwissen (außer Sprache und mathematischen Grundfähigkeiten) sich im Wirtschaftsunterricht positiv auf die Leistung auswirken kann. Wie und wo haben/können die SuS dieses Vorwissen erwerben? (C3)
Beim Vorwissen unterschieden 21 Experten zwischen verschiedenen Szenarien, wie dieses erworben werden kann, sowie unterschiedliche Arten an Vorwissen. Hierdurch wurde auch die Bedeutung von Vorwissen für den Wirtschaftsunterricht unterschiedlich eingeschätzt. 12 % der Experten, alle aus dem Bereich der Gemeinschaftsschulen, hielten Vorwissen im Fach Wirtschaft für nicht unbedingt erforderlich. „Ein spezielles Vorwissen halte ich nicht für zwingend notwendig“ (P8). In der kaufmännischen Sekundarstufe II bauen die Inhalte zum Teil stärker aufeinander auf, weshalb dem fachlichen Vorwissen (z. B. im Wirtschaftsgymnasium) eine stärkere Bedeutung beigemessen wurde. „Es geht um fachliches Vorwissen aus vorangegangen Jahrgangsstufen in der wirtschaftlichen Domäne, also um wirtschaftliches und rechtliches Grundwissen bzw. um Grundkompetenzen.“ (P19)
Die weiteren Aussagen der Experten zeigten, dass Vorwissen teilweise auch recht weit gefasst werden kann. Ebenso kann Vorwissen auf unterschiedliche Weise erworben werden. Aus den Einschätzungen, welche Arten an Vorwissen für den Wirtschaftsunterricht von Bedeutung sind und wie dieses erworben werden kann, wurden die folgenden drei Kategorien gebildet (Tabelle 11.5).
230
11 Präzisierungen und Auswertung der zweiten Delphi-Runde
Tabelle 11.5 Antwortkategorien Arten von Vorwissen Kategorie
Bezeichnung
Anzahl
A
Vorwissen wird durch ökonomische Erfahrungen erworben • Schule • Elternhaus • Jugendarbeit oder Vereine
5 8 4
B
Domänenspezifisches (fachliches) Vorwissen
4
C
Nicht domänenspezifisches Grundlagenwissen und allgemeine Kompetenzen.
6
Antwortkategorie A: Vorwissen wird durch ökonomische Erfahrungen erworben Laut den Einschätzungen der Experten wird ein Teil des relevanten Vorwissens auf Grundlage von ökonomischen Erfahrungen gebildet, die einerseits außerschulisch in den Bereichen „Elternhaus“, „Jugendarbeit/Vereine“ und andererseits im Unterricht angebahnt werden. „Denke, ein Großteil des Vorwissens wird über das Elternhaus vermittelt oder früher vermehrt auch zum Teil viel über Jugendarbeit und Vereinsarbeit. Da dieser Bereich rückläufig ist, wir auch weniger Vorwissen aus den Bereichen ‘Organisationsfähigkeit’ ‘sich strukturieren Lernen’, ‘Verantwortung übernehmen’ etc. erworben […].“ (P25)
Andererseits könnte für das Fach Wirtschaft relevantes Vorwissen auch bis zu einem gewissen Grad in anderen Schularten erworben werden. Unter relevantem Vorwissen wurden von den Experten sowohl fachliches Wissen als auch allgemeine Kompetenzen verstanden, wie sie folgend in Kategorie B und C präziser beschrieben werden. „Geographie, Recherchefähigkeit, Zusammenhänge sehen und verstehen, gesunder Menschenverstand, Offenheit, Neugierde, Englisch. Das kann in der Schule, im Verein, bei den Pfadfindern erworben und trainiert werden.“ (P5)
Diese Kompetenzen lassen sich jedoch nicht eindeutig den Unterpunkten von Kategorie A zuordnen. Die Antworten legen jedoch nahe, dass die SuS in den Zubringerschulen eher in Bezug auf ein fachliches Vorwissen geprägt werden, das in den weiterführenden Schularten als Grundlage benötigt wird. Die „Wirtschaftsschule liefert das Fundament fürs WG [Wirtschaftsgymnasium].“ (P23).
11.3 Zweite Einschätzung zur Dimension „Differenzierungsaspekte“
231
Einblicke in die Arbeitswelt könnten in einem schulischen Kontext zum Beispiel durch Praktika (z. B. Bors/Bogy) erfolgen oder durch die Mitarbeit in einer Schülerfirma. Ein ähnlicher Bezug wurde auch auf der Ebene einer Vereinstätigkeit genannt, wo Jugendliche mit ökonomischen Entscheidungen in Kontakt kommen können. Hierzu wurde von den Experten zum Beispiel die Mitwirkung bei der Organisation eines Zeltlagers oder die Tätigkeit als Kassenwart genannt. Eine weitere Art von praxisnahen ökonomischen Erfahrungen wäre laut den Ergebnissen dann gegeben, wenn die SuS durch das Elternhaus an die Rolle des Wirtschaftsbürgers herangeführt werden. Hierzu könnten Eltern ihren Kindern einen gewissen Taschengeldbetrag zugestehen und hierfür gemeinsam ein Girokonto eröffnen. Eine ähnliche Funktion könnten Flohmarktverkäufe erfüllen, da sie das Verständnis fördern können, wie an einem Markt Preise gebildet werden. Aber auch erste Investitionsüberlegungen im Sinne von Konsumentscheidungen, die eventuell mit einem Kaufvertrag einhergehen, wäre ein Bereich, in dem SuS durch die Unterstützung der Eltern ökonomische Erfahrungen machen und entsprechendes Vorwissen herausbilden können. Sofern ein Elternteil als Unternehmer tätig ist, besteht für die Jugendlichen somit die Möglichkeit mit der Rolle des Unternehmers in Kontakt zu kommen und eventuell erste Arbeitserfahrung zu sammeln. Neben diesen praktischen Erfahrungen, durch die sich ein entsprechendes Vorwissen anbahnen lässt, könnte aber auch ein stärker theoretisch geprägtes Vorwissen gefördert werden. Dies wäre dann der Fall, wenn Jugendliche an das Lesen einer Zeitung herangeführt und auf diesem Weg mit wirtschaftlichen Themen konfrontiert würden. Je nach sozio-ökonomischem Hintergrund könnten Jugendliche, laut den Delphi 2-Ergebnissen, auch passiv durch die bloße Wahrnehmung von Gesprächen einen Bezug zu wirtschaftlichen Themen gewinnen und somit möglicherweise ein entsprechendes Interesse entwickeln. Drei der Experten betonten dabei, dass die Anbahnung von Vorwissen in einem engen Zusammenhang mit dem Wecken von Interesse zu sehen ist, damit die SuS möglichst viel Eigenmotivation mit in den Unterricht bringen, um sich mit wirtschaftlichen Inhalten auseinanderzusetzen. „Vorwissen basiert konstant auf der eigenen Interessenlage, aber auch wie bereits erwähnt, auf Grundlage des sozio-ökonomischen Umfeldes in Familie und Freundeskreis. Vorwissen ist immer dann erwerbbar, wenn Interesse geweckt wird und projektorientiert mithilfe von konkreten Beispielen wirtschaftspolitische Handlungsfelder bearbeitet werden.“ (P20)
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11 Präzisierungen und Auswertung der zweiten Delphi-Runde
Bereich B: Domänenspezifisches (fachliches) Vorwissen Während ein Experte aus dem Bereich der Gemeinschaftsschulen kein spezielles Vorwissen für notwendig erachtete, scheint ein fachliches Vorwissen vor allem im kaufmännischen Sekundarbereich II von Bedeutung zu sein. Hierunter wurden vor allem klare wirtschaftliche Grundkompetenzen verstanden, die auf den weiterführenden Schularten nur kurz wiederholt und danach zügig vertieft werden. Hierzu zählen laut den Experten die Begriffe: „Markt, Angebot, Nachfrage, Knappheit, Kreislauf, Rechtsfähigkeit, Geschäftsfähigkeit, BIP.“ (P19). Diese Grundlagen wurden bisher vor allem in den kaufmännischen Schularten, wie der Berufsfachschule Wirtschaft, gelegt und sind dann bei einem Wechsel in das Wirtschaftsgymnasium notwendig. Durch das Fach WBS sind zukünftig auch die Schulen des allgemeinbildenden Sekundarbereichs I verstärkt für die Vermittlung von derartigem Basiswissen zuständig. Neben diesen wirtschaftlichen Grundlagen sind in den weiterführenden Schulen zudem auch mathematische Grundlagen von Vorteil. „Es sind ja gerade die mathematischen Grundfertigkeiten, die den Unterschied machen. Wer Probleme beim Dreisatz und der Prozentrechnung hat, tut sich sehr schwer, die Kostenrechnung etc. zu erlernen. Anderes Vorwissen ist m. E. nicht relevant. Es gibt oft nur ganz ungefähre Vorstellungen vom Wirtschaftsleben und/ oder der Börse. Dies bringt die SuS nicht weiter […].“ (P17)
Für die Sekundarstufe I relevantes Vorwissen dürfte sich hingegen stärker im Bereich der Alltagserfahrungen, im Sinne von allgemeineren Kompetenzen wiederfinden, wie sie in der folgenden Kategorie beschrieben werden. Antwortkategorie C: Nicht-domänenspezifisches Grundlagenwissen und allgemeine Kompetenzen Auch dem nicht-domänenspezifischen Vorwissen bzw. den allgemeinen Kompetenzen wurde von den Experten eine hohe Bedeutung beigemessen. Als allgemeine Kompetenzen nannten die Experten u. a. folgende: „Analysekompetenz, Urteilskompetenz, Handlungskompetenz, Methodenkompetenz.“ (P10). Weitere Experten führten zudem auch Arbeitstechniken, wie Textverständnis, Präsentationstechniken, abstraktes/analytisches Denken, gesunder Menschenverstand, Zahlenverständnis an. Diese Aspekte lassen sich jedoch auch leicht unter den zuvor genannten Kompetenzen subsumieren. Derartige Fähigkeiten werden jedoch nicht nur im Fach Wirtschaft erworben, sondern müssen in mehreren Fächern und über mehrere Jahre hinweg angebahnt werden. Zudem sind diese laut den Expertenaussagen in vielen Fächern
11.3 Zweite Einschätzung zur Dimension „Differenzierungsaspekte“
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notwendig, um eine gute Leistung erzielen zu können. Ein Experte aus dem Bereich der kaufmännischen Schulen forderte sogar, dass diese Fähigkeiten bereits durch andere Fächer angebahnt werden sollten, damit sie dann später im Fach Wirtschaft zur Verfügung stehen. Fazit Differenzierungsaspekt „Vorwissen“ Die Aussagen der Experten validierten somit die Bewertung aus der ersten Befragungsrunde und präzisierten diese Bewertungen durch die genannten Beispiele. Die Antworten legen nahe, dass der außerschulische Bereich beim Erwerb von Vorwissen eine wichtige Rolle spielt, wobei die Schule diesen Bereich nur begrenzt beeinflussen kann. Stattdessen zeigten die Aufführungen in Kategorie A eine Verbindung zur sozio-ökonomischen Situation des Elternhauses. Einerseits spielt das Elternhaus in direkter Weise eine wichtige Rolle, wenn es zum Beispiel darum geht, ein Kind an Taschengeld und erste Konsumentscheidungen heranzuführen. Andererseits ist es aber häufig auch das Elternhaus, das die Jugendlichen dazu ermutigt, in eine Jugendgruppe einzutreten oder im Fußballverein Verantwortung zu übernehmen. Aber auch bei den allgemeinen Fähigkeiten schließt sich der Kreis zu den ökonomischen Erfahrungen aus dem Alltag. Wenn diese den SuS durch unterschiedliche Akteure ermöglicht werden, dürfte sich dies zugleich positiv auf die nicht domänenspezifischen Kompetenzen und allgemeinen Fähigkeiten auswirken und den Lehrkräften weitere Handlungsspielräume für einen differenzierten Wirtschaftsunterricht eröffnen. Die erste Befragungsrunde zeigte auch, dass in Sachen Vorwissen den SuS häufig mathematische Grundfähigkeiten zu fehlen scheinen, die mit dem Ziel einer fördernden Differenzierung ausgeglichen werden müssten. Daher widmet sich die nächste Frage dem „mathematischen Vorwissen“ und dessen Bedeutung für den Wirtschaftsunterricht.
Übersicht Unter den „kognitiven Grundfähigkeiten“ subsumierten die Experten vor allem mathematische Grundfähigkeiten, die bei den Schülern häufig nicht ausreichend genug ausgeprägt sind und daher zu schlechten Leistungen führen. Dies führt zu der Frage, ob und wenn ja wie Leistungen im Wirtschaftsunterricht von mathematischen Fähigkeiten unabhängiger gemacht werden können. Welche Ideen gibt es aus Ihrer Sicht hierfür? (C4)
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11 Präzisierungen und Auswertung der zweiten Delphi-Runde
Die 16 verwertbaren Einschätzungen der Experten ließen sich bei dieser Frage relativ einfach in zwei gleichstarke Hauptkategorien unterteilen (Tabelle 11.6). Tabelle 11.6 Antwortkategorien: mathematische Grundfähigkeiten im Wirtschaftsunterricht Kategorie
Bezeichnung
Anzahl
A
Mathematische Fähigkeiten sind keine Grundvoraussetzung für eine 8 gute Leistung im Fach Wirtschaft.
B
Manche wirtschaftlichen Themen müssen mathematische Bezüge enthalten:
8
Antwortkategorie A: Mathematische Fähigkeiten sind keine Grundvoraussetzung für eine gute Leistung im Fach Wirtschaft 50 % der Experten widersprachen der Darstellung, dass mathematische Fähigkeiten eine wesentliche Voraussetzung für eine gute Leistung im Fach Wirtschaft darstellen. Fünf dieser Experten unterrichten dabei an einer Schule im Bereich der Sekundarstufe I, ein Experte kommt aus dem Hochschulbereich und einer aus dem gymnasialen Bereich. Die Einschätzung wurde u. a. dadurch begründet, dass ein Großteil der Inhalte auch nicht mathematisch, sondern verbal darstellbar wären und die SuS bei mathematischen Aufgaben nach Bedarf unterstützt werden könnten. „Wirtschaftliche Themen werden an allgemeinbildenden Schulen – im Gegensatz zu den Hochschulen – ohnehin eher qualitativ als quantitativ vermittelt. Dies erleichtert den Zugang, soweit sprachliche Mindestvoraussetzungen erfüllt sind (s. oben). Durch eine gezielte Auswahl der Themen und durch eine entsprechende didaktische Reduktion, die eine oft entbehrliche “mathematische Beweisführung” ausschließt, kann m. E. dies erreicht werden.“ (P24)
Ebenso wurde argumentiert, dass es primär darum gehen sollte, den SuS Zusammenhänge zu vermitteln und diese, wo sinnvoll, durch Zahlen zu untermauern und nicht umgekehrt. Dies gilt somit auch für einen differenzierten Unterricht. „Differenzierter Unterricht: statt Abprüfen von Rechnungswesen/numerischen Lösungen, besser: Ursache-Wirkungs-Beziehungen abfragen.“ (P25)
11.3 Zweite Einschätzung zur Dimension „Differenzierungsaspekte“
235
Ein Experte aus dem gymnasialen Bereich sah in den mathematischen Anforderungen ebenfalls keine relevante Hürde und begründete dies damit, dass selbst im gymnasialen Bereich die mathematischen Anforderungen zwischenzeitlich so stark abgesenkt wurden, dass das Anspruchsniveau das der linearen Funktion nicht übersteigt. Dieser Anspruch sollte laut Einschätzung des Experten eigentlich für alle SuS mit etwas Engagement zu bewältigen sein. Antwortkategorie B: Manche wirtschaftlichen Themen müssen mathematische Bezüge enthalten Die andere Hälfte der Experten war der Auffassung, dass Wirtschaftsunterricht in manchen Bereichen sogar mathematische Bezüge enthalten muss und diese auch beibehalten werden sollten. Dies wird dadurch begründet, dass betriebswirtschaftliche Entscheidungen fast immer auf einer (mathematischen) Optimierung basieren. Vor allem die Experten aus den kaufmännischen Schulen argumentierten in diese Richtung, verbunden mit der Forderung, dass die SuS mathematisch eher gestärkt und gefördert werden sollten. „Das ist die falsche Frage. Der Wirtschaftsunterricht muss nicht unabhängig werden von den mathematischen Fähigkeiten, sondern die SuS müssen mathematisch gestärkt werden. Hier gibt es Ansätze, auch vom KM; mit der individuellen Förderung in den beruflichen Gymnasien. Ein Ansatz gilt vielleicht: Man kann z. B. die Marktformen auch jenseits der Mathematik im Unterricht behandeln. Also die Auswirkungen von Marktmacht etc. Dennoch Vorsicht: An den Hochschulen wird es sehr viel mathematischer. Man tut den SuS keinen Gefallen, ihnen die Mathematik zu ersparen.“ (P17)
Dass die mathematischen Fähigkeiten auch mit Blick auf ein Studium eher gestärkt statt abgeschafft werden sollten, scheint plausibel. Dieses Argument wurde von drei weiteren Experten aus dem Bereich der kaufmännischen Schulen benutzt und ebenfalls mit der Auffassung verknüpft, dass die mathematischen Anforderungen für die SuS eigentlich kein Problem darstellen sollten, zumal es sich meist entweder um Grundrechenarten handle oder schwierigere Berechnungen immer nach dem gleichen Schema ablaufen. „Wirtschaft und Mathematik hängen in einigen Bereichen eng zusammen und können hier auch nicht losgelöst werden. In Sek. 1 beschränkt sich der Matheanteil auf die Grundrechenarten. In Sek. 2 werden die mathematischen Inhalte in Wirtschaft komplexer, jedoch erfolgen sie nach klarem Schema, das erlernt werden kann.“ (P24)
236
11 Präzisierungen und Auswertung der zweiten Delphi-Runde
Fazit Differenzierungsaspekt „mathematische Fähigkeiten“ Die unterschiedlichen Antworten lassen einen klaren Unterschied zwischen dem Fach Wirtschaft in der Sekundarstufe I und Wirtschaft im Sinne von Betriebswirtschaft in der Sekundarstufe II erkennen. Mathematische Fähigkeiten scheinen in der Sekundarstufe I somit keinen großen Einfluss auf die Leistung im Wirtschaftsunterricht zu haben, da die Themen weitgehend losgelöst von mathematischen Anforderungen unterrichtet werden können. In der Sekundarstufe II hingegen kam bei den Experten aus dem kaufmännischen Schulen sehr deutlich zu Ausdruck, dass Wirtschaftsunterricht auch für ein Studium vorbereiten soll und, dass mathematische Optimierung ein wesentlicher Bestandteil der Betriebswirtschaft ist. Daher sollte der mathematische Anspruch an die SuS auch nicht reduziert, sondern derartige Fähigkeiten gefördert werden. Auch wenn der mathematische Anspruch von den Experten generell als überschaubar und machbar bewertet wurde. Zudem bleibt zu beachten, dass, wenn das Fach Wirtschaft eher verbal unterrichtet wird, zwar die mathematischen Schwierigkeiten wegfallen, aber die zuvor beschriebenen sprachlichen Hürden durchaus bestehen bleiben.
11.4 Zweite Einschätzung zur Dimension „Differenzierungsform“ Hinsichtlich der „Differenzierungsform“ unterscheidet das ZAFE-Modell lediglich zwischen einer offenen und einer geschlossenen Differenzierungsform. Beide Formen sind bezüglich der Herstellung von Adaptivität mit entsprechenden Herausforderungen verbunden. Diese wurden bereits im Theorieteil in Abschnitt 6.3 aufgezeigt. Im Rahmen der ersten Delphi-Runde konnten jedoch keine eindeutigen Erkenntnisse gewonnen werden, ob eine offene oder geschlossene Differenzierungsform für das Fach Wirtschaft geeigneter ist. Die Experten antworteten bei den entsprechenden Fragen häufig nur mit sehr allgemeinen Aussagen und Problembeschreibungen. Aus diesem Grund wurde der Aspekt in der zweiten Befragungsrunde mit der folgenden Fragestellung erneut aufgegriffen.
Übersicht Auf die Frage, ob für das Fach Wirtschaft eine offene oder geschlossene Differenzierungsform geeigneter ist, beschrieben die Experten eher allgemein die Vor- und Nachteile der beiden Differenzierungsformen. Dies
11.4 Zweite Einschätzung zur Dimension „Differenzierungsform“
237
entspricht einer allgemeinen didaktischen Perspektive, wie sie auch in der Literatur häufig dargestellt wird. Glauben Sie, dass Überlegungen hinsichtlich der Differenzierungsform grundsätzlich fachunabhängig zu entscheiden sind oder gibt es ggf. für das Fach Wirtschaft spezifische Aspekte, die bei der Wahl der Differenzierungsform beachtet werden sollten? Welche könnten das sein? (D1)
Von den 25 Experten beantworteten nur 18 diese Frage, wobei sie zwar mehrheitlich ihre Meinung äußerten, diese aber nicht weiter begründeten. In knapp 30 % der Fälle wählten die Experten eine andere Argumentation. Diese erschien häufig nicht logisch und ließ Zweifel aufkommen, ob die Experten über ein richtiges Verständnis der Begriffe verfügten. Dennoch wurden die 18 Antworten entsprechend ausgezählt und in einer Häufigkeitsverteilung dargestellt (Abbildung 11.9).
Abbildung 11.9 Bevorzugte Differenzierungsformen im Fach Wirtschaft. (Eigene Darstellung)
Ähnlich wie bereits in der ersten Delphi-Runde bewertete auch in diesem Durchgang ein relativ hoher Anteil (39 %) an Experten die Wahl der Differenzierungsform als eine fachunabhängige Entscheidung. Ein Experte aus dem Bereich der Gemeinschaftsschulen argumentierte, dass beide
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11 Präzisierungen und Auswertung der zweiten Delphi-Runde
Differenzierungsformen unabhängig vom Inhalt unterschiedliche Probleme in der konkreten Anwendung aufwerfen, auf welche die allgemeine Didaktik bisher keine ausreichenden Lösungen gefunden hat. Dabei nannte dieser eine Reihe von Aspekten, die sowohl in der Literatur als auch in der ersten Befragungsrunde genannt werden. „Ich denke, dass sich die Frage nach der Art der Differenzierung allgemein stellt, da die Art allgemeine Probleme aufwirft, die in jedem Fach gelöst werden müssen, z. B. woher kennt man den Leistungsstand und wie kann man eine Passung erzeugen. Hier liegen auch aus meiner Sicht die Hauptprobleme, die in der allgemeinen Didaktik noch nicht beantwortet wurden. Für das Fach Wirtschaft sehe ich keine spezifischen Aspekte.“ (P23)
Mit nur einer Nennung hielt sich der Zuspruch für eine offene Differenzierungsform im Wirtschaftsunterricht in Grenzen. Der Experte aus dem Bereich der Werkrealschulen argumentierte dabei über den höheren Grad an Wahlfreiheit und dass sich die Wahl der Differenzierungsform an den Interessen der SuS orientieren sollte. Diese Perspektive mag zwar für die Wahl von Projektthemen durchaus zutreffen, erfasst aber nicht das ganze Bild. Zum Beispiel, wenn schwache SuS durch ein differenzierendes Unterrichtssetting gezielt gefördert werden sollen, kann es letztendlich nur zweitrangig um die Interessen der SuS gehen. Die Argumentation für eine geschlossene Differenzierungsform wurde u. a. dadurch begründet, dass die SuS sich häufig damit schwertun, selbstständig Aufgaben zu wählen, die optimal zum Lernprozess passen. Zudem wurde die kritische Frage gestellt, wie viel Differenzierung im Fach Wirtschaft an einer Gemeinschaftsschule aufgrund der geringen Stundenzahl von nur 1 bis 2 Stunden pro Woche überhaupt möglich sein kann. Dass die Wahl der Differenzierungsform inhaltsabhängig ist und es die Aufgabe der Lehrkraft sein sollte, die geeignete Form situationsspezifisch zu wählen, fanden 11 % der Experten. Generell fielen die Begründungen leider etwas knapp aus und können eher als Impulse verstanden werden. Knapp 30 % der Experten bezog sich hingegen auf eine andere Argumentation, beispielsweise auf einen größeren Kontext jenseits der Unterrichtsebene, wie zum Beispiel dieses Zitat zeigt. „Es kommt weniger auf das Fach an. Vielmehr kommt es auf die Schülerinnen und Schüler und die Lernkultur der Schule an.“ (P4)
11.4 Zweite Einschätzung zur Dimension „Differenzierungsform“
239
Die Lernkultur der Schule könnte dahingehend einen wesentlichen Aspekt darstellen, dass derartige Differenzierungsformen in Verbindung mit einer Erziehung zum eigenständigen Arbeiten auch in einem geeigneten institutionellen Rahmen eingebettet sein sollten. Aus den Ergebnissen der ersten Befragungsrunde ließ sich der folgende Konflikt ableiten, der auf seine Lösbarkeit hin beurteilt werden sollte.
Übersicht Studien zeigen, dass vor allem schwächere Schüler mit zu offenen Differenzierungsformen überfordert sind, wenn es zum Beispiel um eine korrekte Selbsteinschätzung in Verbindung mit der eigenständigen Auswahl geeigneter Aufgaben geht. Hingegen führen geschlossene Differenzierungsformen Lehrkräfte an organisatorische Grenzen, da sie für jeden Lerner oder jede Lerngruppe das Niveau richtig einschätzen und diesen geeignetes Material für eine optimale Förderung zuweisen müssen. Wie würden Sie diesen Konflikt für das Fach Wirtschaft lösen? (D2)
Die 15 vorhandenen Antworten bestätigten, dass die gestellten Thesen überwiegen und führten zugleich Lösungsvorschläge an. Aus den genannten Antworten konnten die folgenden drei Hauptkategorien gebildet werden (Tabelle 11.7). Tabelle 11.7 Antwortkategorien: Lösung für Problemaspekte bzgl. der Differenzierungsformen Kategorie
Bezeichnung
Anzahl
A
Der dargestellte Konflikt besteht im Alltag.
3
B
Situative Wahl der Differenzierungsform
7
C
Notwenige Rahmenbedingungen zur Umsetzung der Differenzierungsformen • Geeignetes Material • Dialoge gestalten • Gesamtschulische Konzepte
1 1 2
240
11 Präzisierungen und Auswertung der zweiten Delphi-Runde
Antwortkategorie A: Der dargestellte Konflikt besteht im Alltag Drei der Experten betonten in ihren Antworten ausdrücklich, dass der in der Fragestellung beschriebene Konflikt nicht nur in der Literatur, sondern auch tatsächlich im Schulalltag existiert. „Dieser Konflikt bestimmt meinen unterrichtlichen Alltag. Je weniger ich die entsprechende Lerngruppe kenne, umso unmöglicher die Differenzierung.“ (P8)
Ein anderer Experte, der im gymnasialen Bereich tätig ist, bestätigte die Problematik auch für diesen Bereich, obwohl er die Situation im Sinne einer Herausforderung positiv bewertete. „Die Einschätzung teile ich. Es ist allerdings kein Konflikt, sondern eine Herausforderung für die Lehrkraft, der man sich stellen muss.“ (P3)
Ebenso wurde die in der Frage erwähnte Problematik, dass für eine optimale Förderung eine gelingende Passung durch eine entsprechende Diagnose erzeugt werden müsste, ebenfalls als ein reales Problem bewertet. Dass Lehrkräfte dieses Problem wohl nur sehr begrenzt lösen können, wurde damit begründet, dass in der Breite noch immer geeignete Diagnoseinstrumente fehlen. Auf die Frage, wie sich diese Herausforderung zur geeigneten Differenzierungsform hingegen lösen lässt, formulierten die Experten unterschiedliche Möglichkeiten. Antwortkategorie B: Situative Wahl der Differenzierungsform 10 Aussagen der Experten beinhalteten konkrete Vorschläge für eine Umsetzung im Unterricht. Die Experten waren sich darin einig, dass die Wahl der Differenzierungsform situativ erfolgen sollte. Als Bezugspunkt würde man dabei vom Leistungsniveau der SuS ausgehen, wobei für schwächere SuS eine geschlossene Differenzierungsform geeigneter wäre und stärkeren SuS bei der Wahl der Aufgaben mehr Freiraum gegeben werden kann. Den Aussagen lag dabei häufig die Annahme zugrunde, dass es bei schwächeren SuS verstärkt das Ziel ist, die Schwächen auszugleichen und die SuS individuell zu fördern. „Weniger Differenzierung in den Aufgaben, dafür mehr individuelle Förderung der Schwächeren durch die Lehrkraft. Die guten Schüler erarbeiten selbstständig, die Schwächeren bekommen individuelle Hilfestellung und Betreuung bei Schwierigkeiten durch den Lehrer oder durch starke Schüler, die bereits fertig sind.“ (P24)
11.4 Zweite Einschätzung zur Dimension „Differenzierungsform“
241
Zwei Experten aus dem Bereich der kaufmännischen Schulen und der Gemeinschaftsschule sprachen sich mit Blick auf anstehende Prüfungen sehr klar gegen eine zu starke Niveaudifferenzierung bei Übungsaufgaben im Unterricht aus. Vielmehr befürworten diese eine separate individuelle Förderung mit einer klaren Defizitfokussierung, welche die schwächeren SuS darin unterstützen sollte, dem normalen Unterrichtsniveau folgen zu können, das sich zugleich am Niveau der Abschlussprüfung zu orientieren hat. „Alle bekommen die gleichen Aufgaben, oder es wird ein besseres Konzept für eine individuelle Förderung/Betreuung geschaffen, wo die schwachen Schüler gezielt separat gefördert werden. Unterschiedliche Aufgabenniveaus halte ich für problematisch, wenn ein einheitliches Prüfungsniveau erreicht werden muss. Daher halte ich auch individuelle Klassenarbeiten für Schwachsinn. Vielmehr sollten wir die Kinder charakterlich stärken, dass sie auch ein Scheitern im Sinne von Fehler machen, verkraften und dennoch weitermachen und sich rausboxen. Ich glaube, es ist sinnvoller, eine klare Messlatte zu legen und jeder weiß, was der Anspruch ist.“ (P23)
Dennoch bleibt die Wahl der Differenzierungsform auch immer eng gekoppelt an weitläufigere Aspekte, wie zum Beispiel den gegebenen Rahmenbedingungen. Antwortkategorie C: Notwendige Rahmenbedingungen zur Umsetzung der Differenzierungsformen Zwei Experte aus dem Hochschulbereich sehen dabei nicht die Wahl der Differenzierungsform als entscheidende Variable an, sondern vielmehr die Frage, wie das Thema Differenzierung im Rahmen eines gesamtschulischen Konzepts verankert ist. Dies sollte zudem mit der Implementation einer entsprechenden Lernkultur einhergehen, was für ein einzelnes Fach eine nicht zu markante Hürde darstellen würde. „Die ganze Schule muss diesen Wandel miteinander gestalten. Für ein einzelnes Fach ist das sehr aufwendig. Nur so kann ein Lernkulturwandel wirksam umgesetzt werden.“ (P5)
Eine individuelle Förderung kann demnach, wie sie soeben in Kategorie B beschrieben wurde, nur gelingen, wenn diese in eine entsprechende Kommunikation eingebettet ist. „Hier ist der Dialog wichtig. Also gemeinsam mit den Schülern zu besprechen, welche Unterstützungsleistungen sie gerade benötigen […].“ (P2)
242
11 Präzisierungen und Auswertung der zweiten Delphi-Runde
Hinzu kommt die Forderung nach geeignetem Unterrichtsmaterial, die bei dieser Frage aus dem Hochschulbereich formuliert wurde. „Zur Verfügung gestelltes Unterrichtsmaterial und Schulbücher müssten mit gutem Beispiel vorangehen und differenziertes Material anbieten, das die Lehrpersonen dann nutzen könnte“ (P1). Fazit zur Dimension „Differenzierungsform“ Die Antworten zu Frage D1 zeigen, dass die klare Mehrheit der Experten für das Fach Wirtschaft über keine Präferenz hinsichtlich der Differenzierungsform verfügt, sondern diese Entscheidung auch fachunabhängig treffen würde. Da beide Formen mit entsprechenden Vorteilen aber auch Nachteilen verbunden sind, für die bisher auch in der allgemeinen Didaktik noch keine zufriedenstellenden Lösungsansätze gefunden wurden, ist es nicht verwunderlich, dass für keine der beiden Möglichkeiten eine klare Präferenz besteht. Ein sich daraus ableitender Entscheidungskonflikt wurde anhand von Frage D2 genauer untersucht. Hierbei zeigte sich, dass ein Lösungsansatz darin bestehen könnte, den unterschiedlichen SuS je nach vorhandener Selbstkompetenz bei der Auswahl von Aufgaben unterschiedlich viele Freiräume einzuräumen. Fraglich bleibt, auf welcher Ebene eine Differenzierung im Sinne einer individuellen Förderung ansetzen sollte beziehungsweise, wie viel davon im täglichen Unterricht gut steuerbar ist. Die Frage, auf welcher Ebene eine Differenzierung im Wirtschaftsunterricht erfolgreich umgesetzt ist, wird anhand der folgenden ZAFE-Dimension erneut genauer betrachtet.
11.5 Zweite Einschätzung zur Dimension „Differenzierungsebene“ In der zweiten Befragungsrunde war mit der Dimension „Differenzierungsebene“ die Zielsetzung verbunden, die Bewertungen unterschiedlicher Methoden aus der ersten Befragungsrunde durch weitere Fragen zu präzisieren und zu validieren. Zudem wurde mit einer Fragestellung zu differenzierenden Aufgaben7, die Untersuchung in dieser Dimension noch erweitert. Diese soll nun zuerst vorgestellt werden. 1. Eignung von differenzierenden Aufgaben im Wirtschaftsunterricht Um das Potenzial differenzierender Aufgaben für den Wirtschaftsunterricht bewerten zu können, wurden die Experten gebeten eine Einschätzung mit Blick auf die Unterrichtsstruktur vorzunehmen. Hierbei sollte bewertet werden, inwiefern sich eine aufgabenbasierte Differenzierung innerhalb einer einheitlichen Unterrichtsstruktur für den Wirtschaftsunterricht eignet. 7Zum
theoretischen Hintergrund vergleiche Abschnitt 5.4.3.
11.5 Zweite Einschätzung zur Dimension „Differenzierungsebene“
243
Übersicht Neben der Differenzierungsform, die sehr stark mit der Unterrichtsstruktur verknüpft ist, wird in der Literatur auch die Möglichkeit diskutiert, eine Differenzierung innerhalb einer einheitlichen Unterrichtsstruktur anhand von differenzierenden Aufgaben umzusetzen. Wie würden Sie diesen Ansatz für das Fach Wirtschaft bewerten? Falls Sie derartige Aufgaben verwenden oder kennen, beschreiben Sie bitte, wie sich diese im Fach Wirtschaft nutzen lassen. (D3)
Die Fragestellung leitet sich aus der in Abschnitt 5.4.2 vorgestellten Darstellung ab, dass eine Differenzierung über Aufgaben auch innerhalb einer einheitlichen Unterrichtsstruktur stattfinden kann, wodurch eine zu starke Zersplitterung des Unterrichtsgeschehens vermieden wird. Entsprechend der Auswertung, die in Abbildung 11.10 dargestellt ist, befürworteten alle 17 Experten, bis auf eine Ausnahme, diesen Umsetzungsvorschlag. Leider gaben die Experten häufig nur eine Einschätzung ab und verzichteten auf eine fachspezifische Begründung. Auch nannten nur wenige der Experten konkrete Umsetzungsbeispiele, weshalb unklar bleibt, ob die Experten bisher Erfahrungen mit dieser Vorgehensweise sammeln konnten.
Abbildung 11.10 Eignung einer Differenzierung über Aufgaben. (Eigene Darstellung)
244
11 Präzisierungen und Auswertung der zweiten Delphi-Runde
Lediglich zwei der Experten mit Bezug zur Hochschule sowie zur Gemeinschaftsschule gaben an, dass sie ein derartiges Vorgehen im Fach Wirtschaft für geeignet halten, aber bisher keine konkreten Umsetzungserfahrungen sammeln konnten. Innerhalb der Einschätzung, dass differenzierte Aufgaben für den Wirtschaftsunterricht geeignet seien, argumentierten die Experten jedoch unterschiedlich. Die Argumente wurden dabei in den folgenden Kategorien zusammengefasst (Tabelle 11.8). Tabelle 11.8 Antwortkategorien: Umsetzung einer Differenzierung anhand der Aufgabenebene Kategorie
Bezeichnung
A
Uneinheitliche Einschätzung zu differenzierten Aufgaben in Schul- 5 büchern
Anzahl
B
Kategorie B: Möglichkeiten zum Einsatz von differenzierenden Aufgaben • Aufgabenlastige Inhaltsbereiche • Aufgaben mit gestuften Hilfen • Unterstützung durch neuen Bildungsplan • Einheitliche Unterrichtsstruktur • Selbstständiges Üben
3 3 1 2 2
Antwortkategorie A: Uneinheitliche Einschätzung zu differenzierten Aufgaben in Schulbüchern Die befragten Experten sprachen sich für die Initiative der Schulbuchverlage aus, die inzwischen aktiv versuchen, entsprechende Aufgabentypen in Schulbüchern anzubieten. „Sicher ein praktikabler Ansatz, gibt es doch auch in Schulbüchern bereits.“ (P1)
Zudem zeigte sich, dass derartige Angebote der Verlage gerne in Anspruch genommen werden. „Ja, das geht gut. Siehe aktuelles Lehrbuch in BW mit 3 Niveaus, Name fällt mir gerade nicht ein.“ (P11)
11.5 Zweite Einschätzung zur Dimension „Differenzierungsebene“
245
Zwar setzten die Verlage in den letzten Jahren verstärkt auf derartige Aufgabenformate und orientieren sich bei der Bereitstellung von Aufgaben an den im Bildungsplan vorgegebenen drei Niveaustufen. Allerdings beklagen andere Experten immer noch einen Mangel an entsprechendem Material. „Es gibt wenig differenzierte Aufgaben im Fach. Diese müssen zunächst erstellt werden. Ich kenne kaum differenziertes Material. Dies könnte ich dann mit Lernstationen nutzen.“ (P16)
Trotz dieser uneinheitlichen Einschätzung zur Qualität dieser Aufgaben in Schulbüchern8 nannten die Experten durchaus Möglichkeiten, wie differenzierte Aufgaben im Unterricht eingesetzt werden könnten. Antwortkategorie B: Möglichkeiten zum Einsatz von differenzierenden Aufgaben Während die Einschätzungen zum Material eher uneinheitlich erschienen, war mit Blick auf den generellen Einsatz von differenzierenden Aufgaben keine Skepsis erkennbar. Im Gegenteil, die Experten nannten diverse Möglichkeiten, wie diese im Wirtschaftsunterricht eingesetzt werden könnten. Demnach sind differenzierende Aufgaben sehr gut für aufgabenlastige Inhaltsbereiche, wie dem Rechnungswesen oder im Rahmen von Prüfungsvorbereitungen, geeignet. „Im Bereich Rechnungswesen kann man sehr gut differenzierende Aufgaben verwenden.“ (P3)
Oder wie es ein anderer Experte aus dem Bereich Werkrealschule formulierte: „Setze ich ein, z. B. bei der Wiederholung des Jahresstoffes der 7. Klasse. Es gibt leichte, mittelschwere und schwere Buchungssätze. Dabei gleichen sich die Aufgaben für alle drei Bereiche, aber die Vorüberlegungen werden von leicht zu schwer immer weniger (bzw. gibt es bei schwer nicht).“ (P9).
Weitere drei Experten aus verschiedenen Bereichen bezogen sich gezielt auf das Aufgabenformat mit gestuften Hilfestellungen und bewerteten dieses als eine für das Fach Wirtschaft geeignete Möglichkeit.
8Was
ebenfalls ein spannendes Forschungsdesiderat wäre.
246
11 Präzisierungen und Auswertung der zweiten Delphi-Runde
„Dies dürfte für das Fach Wirtschaft geeignet sein, da etwa Zusatzaufgaben für stärkere SuS gestellt werden können od. methodische “Tipps” und Hilfestellungen für schwächere SuS. Dies ist leicht in das Arbeitsmaterial einzubinden und kann in sozialen Lernarrangements leicht umgesetzt werden […].“ (P19)
Dieser Aussage liegt ebenfalls ein Verständnis von Differenzierung zugrunde, das dem Ziel „Vielfalt ausgleichen“ entsprechen würde. Andere differenzierende Aufgabenformate wurden hingegen nicht explizit genannt. Dass eine Aufgabendifferenzierung als relativ leicht umsetzbar eingeschätzt wurde, widerspricht andererseits der zuvor genannten Skepsis, dass noch immer zu wenig gutes differenzierendes Unterrichtsmaterial vorhanden sei. Eine Hilfestellung für das eigenständige Erarbeiten von differenzierenden Aufgaben könnte laut den Aussagen zudem im Bildungsplan gesehen werden. Der neue Bildungsplan liefert sehr präzise, niveaudifferenzierte Vorgaben zu den Lernzielen und könnte die Konzeption von Aufgaben somit möglicherweise unterstützen. „Kann ich mir gut vorstellen, und wird das nicht schon gemacht, v.a. jetzt mit dem neuen BP, mit Aufgabendifferenzierung nach Niveaustufen?“ (P24)
Explizitere Hinweise auf den Bildungsplan gab es jedoch nicht. Ein weiterer positiver Aspekt wurde in einer einheitlichen Unterrichtsstruktur gesehen, die mithilfe von differenzierten Aufgaben beibehalten werden könnte und somit die Lehrkräfte mit Blick auf die Klassenführung entlasten würde. „Differenzierung kann, glaube ich, nur innerhalb einer einigermaßen einheitlichen Unterrichtsstruktur erfolgen. Die Idee der Individualisierung, wo jeder der 30 Schüler an einer Aufgabe seiner Wahl arbeitet, ist utopisch und mit Blick auf eine Abschlussprüfung nicht umsetzbar, wenn das Wissen noch erarbeitet werden muss. Dies ist vielleicht in der Prüfungsvorbereitungsphase möglich, dass jeder sich eigenständig vorbereitet […].“ (P23)
Wie das Zitat zeigt, wurden derartige Aufgaben für ein selbstständiges Üben von Inhalten oder im Rahmen einer Prüfungsvorbereitung als geeignet eingeschätzt. In diesem Rahmen würde man die SuS eigenständig und eigenverantwortlich an geeigneten Aufgaben üben lassen und eventuell einen Erwartungshorizont vorgeben, wie viele davon für das Erreichen eines bestimmten Notenbereichs abgearbeitet werden sollten.
11.5 Zweite Einschätzung zur Dimension „Differenzierungsebene“
247
Skeptisch wurde in diesem Zusammenhang aus dem Bereich der kaufmännischen Schulen angemerkt, dass der prüfungsrelevante Stoff zugleich auch das Anforderungsniveau vorgibt, das von den SuS auf dem jeweils bestmöglichen Niveau erreicht werden sollte. „[…] Letztendlich ist der Maßstab jedoch der prüfungsrelevante Stoff, der am Ende sowohl von Schwachen als auch von starken Schülern beherrscht werden muss. Insofern muss auch bei differenzierten Aufgaben am Ende für jeden Schüler die Möglichkeit bestehen, die Aufgaben der Prüfung zu bestehen.“ (P25)
Daher sollten die leichten Versionen der Aufgaben auch nicht zu leicht konzipiert werden. Die Antworten weisen darauf hin, dass eine Differenzierung auf der Aufgabenebene für das Fach Wirtschaft generell geeignet ist. Da Aufgabenstellungen die Grundlage jeglicher Arbeits- oder Übungsphase darstellen, sollten differenzierte Aufgaben auch in einem breiteren Kontext verstanden werden. So basiert auch die Methode „Projekt“ meist auf einer offenen Aufgabenstellung und Arbeitsphase und kann dadurch den SuS relativ viel Freiraum einräumen. Fazit zur Differenzierungsebene der Aufgaben Die Antworten bei dieser Frage zeigten, dass die Experten mit differenzierenden Aufgaben vor allem Übungsaufgaben (zum Teil unter der Nennung von gestuften Hilfen) assoziierten. Hiermit könnte auch das Ziel „Unterschiede auszugleichen“ verbunden werden, in dem Sinne, dass schwächere SuS durch entsprechende Übungsaufgaben gefördert würden. Anhand von unterschiedlichen Aufgabentypen ließen sich aber auch anderen Differenzierungsziele erreichen. Die wenigen genannten Hürden betreffen dabei vor allem das Aufgabenmaterial, das hierfür vorhanden sein sollte. Vor allem aus dem Bereich der kaufmännischen Schulen wurde eine Differenzierung über Aufgaben mit Blick auf die Abschlussprüfungen sowohl positiv als auch negativ bewertet. Einerseits können SuS anhand derartiger Aufgaben an ein möglichst freies Üben herangeführt werden. Andererseits sind Aufgaben mit einem zu geringen Anforderungsniveau kritisch zu bewerten, da in der Abschlussprüfung alle SuS ein entsprechendes Niveau abrufen können sollten. 1. Weiterführende Fragen zu Bewertung geeigneter Methoden In der ersten Befragungsrunde wurde die Eignung der folgenden Methoden für eine Differenzierung im Fach Wirtschaft bewertet. Die folgende zusammenfassende Grafik der Delphi 1-Ergebnisse wurden Experten dabei im Fragebogen angezeigt, damit sich diese ein Bild von den bisherigen Bewertungen machen konnten. Zudem bildeten die Ergebnisse der ersten Befragungsrunde die Grundlage für die weiteren Fragen E1 bis E3.
248
11 Präzisierungen und Auswertung der zweiten Delphi-Runde
Abbildung 11.11 Bewertung der Methoden und Differenzierung (Delphi 1). (Eigene Darstellung)
Übersicht Die Methode „Projekt“ wurde von den Experten bei den vorangegangenen Fragen mehrfach als eine geeignete Möglichkeit genannt, um Vielfalt im Wirtschaftsunterricht zuzulassen oder um sie im Rahmen eines offenen Differenzierungsformats einzusetzen. Dennoch wurde die Methode bei in den Ergebnissen der ersten Befragungsrunde auch mit einem relativ hohen Anteil im mittleren Bereich und mit drei Stimmen sogar als ungeeignet bewertet. Was glauben Sie, wie sich diese unterschiedliche Einschätzung begründen lässt und wodurch das Potenzial dieser Methode begrenzt ist? (E1)
Insgesamt antworteten 19 Experten auf diese Frage. Drei Experten aus dem schulischen Bereich der Gymnasien, der kaufmännischen Schulen und der Hochschulen betonten dabei noch einmal explizit die Stärken der Projektmethode, während sich alle weiteren Aussagen, auf problematische Aspekte der Methode bezogen. Diese negativen Aussagen wurden entsprechend kategorisiert und in Abbildung 11.12 dargestellt. Die erwähnten drei positiven Aspekte werden im folgenden Abschnitt kurz zusammengefasst.
11.5 Zweite Einschätzung zur Dimension „Differenzierungsebene“
249
2. Potenzial der Projektmethode Das Potenzial der Projektmethode wurde von den Experten vor allem in ihrer Offenheit und der Möglichkeit gesehen, ein vielfältiges Arbeiten zu ermöglichen. Ebenso wurde auch der Bezug zu den Arbeitstechniken der Arbeitswelt als ein positiver Aspekt bewertet, der dazu beitragen könnte, die SuS besser auf diese vorzubereiten. Jedoch birgt die Offenheit der Projektmethode sowohl Vorteile als auch Nachteile. „Projekte sind für Differenzierung geeignet, da die Schüler selbst entscheiden, wie ein Projekt erarbeitet wird und welche Quellen verwendet werden.“ (P24)
Vor allem bei arbeitsteiligen Projekten ergibt sich die Chance, die unterschiedlichen Potenziale der SuS einzubringen. „Projektarbeit setzt unterschiedlichste Potenziale in den SuS frei. Beim Beo-Projekt hat eine Gruppe eine App entwickelt. Dabei kam es zu einer Rollenaufteilung: Gestaltung von Logos, von Fragebögen oder Finanzverwaltung. Jeder konnte seine Stärken einbringen.“ (P17)
Je komplexer ein Projekt ist, umso größer werden auch die Schwierigkeiten bei der Umsetzung im Unterricht, die bei dieser Frage ebenfalls präzisiert wurden und nun detaillierter vorgestellt werden.
Problemasche Aspekte der Projektmethode Kategorie A: Rahmenbedingungen
25%
17% Kategorie B: Herausforderung für schwache Schüler
25% 33%
Kategorie C: Ansprüche an die Lehrkra Kategorie D: Offenheit der Methode
Abbildung 11.12 Problematische Aspekte der Projektmethode. (Eigene Darstellung)
3. Problematische Aspekte der Projektmethode Die problematischen Aspekte der Projektmethoden ließen sich insgesamt in vier unterschiedliche Kategorien gliedern.
250
11 Präzisierungen und Auswertung der zweiten Delphi-Runde
Antwortkategorie A: Rahmenbedingungen Als begrenzende Rahmenbedingungen wurden vor allem zeitliche Restriktionen und das Fehlen von geeigneten Mitteln und Räumlichkeiten genannt. Die Zeitproblematik betrifft dabei vor allem die Sekundarstufe I, in der das Fach Wirtschaft häufig nur mit einer Wochenstunde ausgewiesen ist, wodurch die Möglichkeiten für komplexere Projekte deutlich einschränkt werden. „Das Potenzial der Methode Projekt ist eindeutig durch die Einzelstunde, von denen mindestens 6 dieses Schuljahr aus unterschiedlichsten Gründen ausgefallen sind, begrenzt […].“ (P8)
Der kaufmännische Bereich ist laut den Einschätzungen hingegen deutlich weniger von dieser Problematik betroffen, da durch das Fach „Projektkompetenz“ mit ein oder zwei Stunden pro Woche ein ausreichendes Zeitpolster für entsprechende Projekte9 zur Verfügung steht. Antwortkategorie B: Herausforderung für schwache Schüler Ein weiterer problematischer Aspekt wurde in der Herausforderung für schwache SuS gesehen. Egal aus welchem Bereich die Experten stammten, die Argumentation verlief einheitlich dahingehend, dass sich vor allem schwache SuS mit der Offenheit und der daraus entstehenden Selbstorganisation schwertun oder sogar damit überfordert werden. Zudem setzt diese Methode entsprechende Arbeitstechniken voraus, die besser schon vorab beherrscht werden sollten oder während des Projekts erlernt werden müssen. „Und die Schüler benötigen ein gutes und solides Grundwissen und die Fähigkeit und Wissen, auf die sie während des Projekts evtl. darauf zurückgreifen müssen.“ (P9)
Ein Experte aus den kaufmännischen Schulen präzisierte diese allgemeinen Schwierigkeiten dadurch, dass SuS anstatt analoger Literatur häufig das Internet benutzen, um sich den Projektablauf zu erschließen oder Informationen zu recherchieren. Vor allem schwächere SuS scheinen dabei mit der Selektion der vielen Inhalte überfordert zu sein. „Projekte sind für Differenzierung geeignet, dass die Schüler selbst entscheiden, wie ein Projekt erarbeitet wird und welche Quellen verwendet werden. Hierin liegt
9Das
auch generell einen (betriebs-) wirtschaftlichen Fokus haben sollte.
11.5 Zweite Einschätzung zur Dimension „Differenzierungsebene“
251
jedoch gleichzeitig die Schwierigkeit, da insbesondere schwache Schüler häufig das Internet anstatt Literatur verwenden und sich schwertun, sich in der Vielfalt des Internets zurechtzufinden. So kann es passieren, dass Schüler aufgrund einer Internetrecherche völlig falsche Schwerpunkte setzen.“ (P24)
Antwortkategorie C: Ansprüche an die Lehrkräfte In der daraus resultierenden Betreuungsnotwendigkeit wurde eine weitere Hürde gesehen. Die Experten betonten dabei den nicht geringen Anspruch an die Lehrkräfte. Dieser leiteten sie daraus ab, dass ein Projekt kein Selbstläufer ist, sondern begleitet werden muss. Eine solche Projektsteuerung ist einerseits zeitaufwendig und steht im Spannungsfeld zwischen dem Geben von Freiräumen und einer aktiven Steuerung durch die Lehrkraft. „Gute Projektarbeit (das macht sie auch anspruchsvoll für die LP) muss aber das richtige Maß an Freiheit aufweisen, die Lehrperson muss bspw. bei der Fragestellung, dem Zeitplan/Struktur und bei der Form des Projektergebnisses lenken.“ (P24)
Der Anspruch an die Lehrkräfte wurde auch dadurch begründet, dass bei der Projektmethode auch der Bearbeitungsprozess an sich ein Lernziel darstellt. Zwar sollten die SuS durch die Lehrkraft bei der strukturellen Planung o. ä. unterstützt werden, um auf einen erfolgreichen Projektabschluss hinarbeiten zu können. Dies bedeutet aber nicht, dass ein Projekt zwangsläufig gelingen muss und nicht scheitern kann. Da auch ein Scheitern, in Verbindung mit einer entsprechenden Reflexion, einen Lernprozess darstellen kann. Antwortkategorie D: Offenheit der Methode Die Frage, wie viel Freiraum den SuS für das Sammeln von Erfahrungen eingeräumt werden sollte, kann die Lehrkräfte somit herausfordern. „Ein Projekt kann gelingen oder misslingen. Wenn konkrete Ergebnisse gesucht werden, ist diese Methode eher ungeeignet, da bei ihr der Prozesscharakter (z. B. Sozialkompetenz) eine Rolle spielen kann. Projekte müssen häufig eng begleitet werden, um zielgerichtet zu sein. Dies bedeutet sowohl führen als auch ausprobieren lassen. Diesen Mittelweg zu finden ist eine Herausforderung.“ (P6)
Das Zitat beschreibt sehr gut den schon zuvor genannten Problemaspekt, der direkt auf die Offenheit der Methode zurückgeführt werden kann. Hinzu kommt, dass die Bewertung von Projektarbeiten wegen ihrer Offenheit für Lehrkräfte ebenso herausfordernd sein kann und sehr klare Bewertungskriterien erfordert. Auch ist es ungleich schwieriger für eine Lehrkraft durch Projektunterricht die Lernziele des Bildungsplans „garantieren“ zu können.
252
11 Präzisierungen und Auswertung der zweiten Delphi-Runde
Als sehr gut geeignete Methoden für eine Differenzierung im Wirtschaftsunterricht wurden in der ersten Delphi-Runde die „Freiarbeit“, „Gruppenarbeit“ und „Lernzirkel“ bewertet. Entsprechende Begründungen zu dieser Einschätzung wurden in der zweiten Befragungsrunde anhand der folgenden Frage erhoben.
Wie würden Sie begründen, dass sich die Methoden „Freiarbeit“, „Gruppenarbeit“, „Lernzirkel“ sehr gut für eine Differenzierung im Wirtschaftsunterricht eignen? (E2)
Die 18 Begründungen der Experten zeigen deutlich, dass die jeweilige Eignung nicht direkt in Bezug auf die domänenspezifischen Besonderheiten des Fachs steht, sondern sich aus dem Wesen dieser Methoden ableitet. Diese positiven Aspekte dürften dabei sowohl für das Fach Wirtschaft als auch für andere Fächer anwendbar sein und konnten in die folgenden vier Kategorien unterteilt werden (Tabelle 11.9). Tabelle 11.9 Antwortkategorien Eignung von „Freiarbeit, „Gruppenarbeit“ und „Lernzirkel“ Kategorie
Bezeichnung
Anzahl
A
Einfache Anwendung und Klarheit
4
B
Offenheit der Methoden
5
C
Steuerung des Lernprozesses durch die Schüler
9
D
Kritische Anmerkungen
3
Antwortkategorie A: Einfache Anwendung und Klarheit Vier der Experten argumentierten dabei über die einfache Anwendung und Klarheit dieser Konzepte. „Das sind etablierte Konzepte und jedem ist klar, wie sie einzusetzen sind.“ (P1). Diese einfache Anwendung und Klarheit könnte somit den Grund darstellen, warum diese Methoden in den unterschiedlichsten Fächern für eine Differenzierung genutzt werden. „Es sind überfachliche Methoden, die geeignet sind für Differenzierung, also sind sie auch für Wirtschaft gut geeignet.“ (P13)
Antwortkategorie B: Offenheit der Methoden Auf einer didaktischen Ebene verwiesen die Experten bei den Vorteilen dieser Methoden vor allem auf deren Offenheit, wodurch vielseitige Wahlmöglichkeiten
11.5 Zweite Einschätzung zur Dimension „Differenzierungsebene“
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gegeben sind, auf welche die SuS zurückgreifen können. Für fünf der Experten war der Aspekt der Offenheit ein zentrales Argument. Der Aspekt wurde dabei überwiegend mit den Methoden „Freiarbeit“ und „Lernzirkel“ in Verbindung gebracht. „Freiarbeit lebt ja davon, dass SuS sich die Aufgaben aussuchen.“ (P21). Hiermit verbunden war die Erwartung, dass Auswahlmöglichkeiten bei den SuS zu einem gesteigerten Interesse und einer größeren Motivation führen könnten. „Schüler können an eigenen sie interessierenden Themen arbeiten.“ (P2). Die Wahlmöglichkeit muss sich dabei nicht nur auf die Aufgabe an sich beschränken, sondern kann sich auch auf verschiedenste Zugänge und Informationsquellen beziehen, die zur Bearbeitung einer Aufgabe herangezogen werden können. „‘Freiarbeit’ entspricht unterschiedlichen Konzeptionen und öffnet die Möglichkeit, sich verschiedenster Informationsquellen zu bedienen. ‘Gruppenarbeit’ erfordert systematische Aufgabeneinforderungen und sorgt für unterschiedliche Betrachtungsweisen, was für Diskussionen förderlich ist, da wirtschaftspolitische Prozesse auch unterschiedliche Deutungen erfahren […].“ (P20)
Eng mit dem Argument der Offenheit im Sinne einer Wahlmöglichkeit wäre zugleich die Steuerung des Lernprozesses durch die SuS verbunden. Antwortkategorie C: Steuerung des Lernprozesses durch die Schüler Wenn Methoden durch ihre Offenheit diverse Wahlmöglichkeiten zur Verfügung stellen, so ermöglicht dies den SuS ihren Lernprozess anhand der Wahlmethoden (sofern es nicht nur die Wahl des Themas betrifft) aktiv mitgestalten zu können. Entsprechende Mitgestaltungsmöglichkeiten sind nach den Aussagen der Experten in drei Bereichen denkbar. Der erste Bereich wäre darin zu sehen, dass die methodische Umsetzung einen Rahmen schafft, der es ermöglicht, die individuellen Bedürfnisse der SuS zu berücksichtigen. „Absprache nach Bedürfnissen, Schülerinnen und Schüler arbeiten nach ihren Fähigkeiten.“ (P6)
Zwar wurde dieser Aspekt nur von einem Experten aus dem schulischen Bereich genannt, dennoch ist er vor dem Hintergrund einer gelingenden Adaptivität entscheidend. Die Anpassung an die Bedürfnisse der SuS, könnte zum Beispiel über die Stellschrauben „Zeit“, „Hilfen“ und „Kooperation“, in die Wege geleitet werden.
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11 Präzisierungen und Auswertung der zweiten Delphi-Runde
„Bei diesen Methoden kann jeder Schüler in seinem Tempo arbeiten. Es gibt viele Möglichkeiten, Zusatzmaterial und Lernhilfen zur Verfügung zu stellen, die jeder Schüler nutzen kann.“ (P24)
Dabei ist anzumerken, dass diese Stellschrauben durchaus miteinander in Verbindung stehen. Bräuchte ein SuS zur eigenständigen Bearbeitung mehr Zeit, so könnte dieses benötigte Zeitbudget zum Beispiel durch das Nutzen von Hilfestellungen oder die Kooperation mit anderen SuS reduziert und der Lernprozess effektiver gestaltet werden. Ebenso könnten auf diesen Weg auch Verständnisprobleme beseitigt werden. Die Stärken der Methoden „Lernzirkel“ und „Freiarbeit“ wurden dabei stärker beim Lerntempo gesehen. „[…] Bei einem Lernzirkel kann man ja auch sehr gut verschieden schwere Aufgaben bereitstellen, jeder kann in seinem Tempo lernen […].“ (P21)
Die Methode „Gruppenarbeit“, wurde von den Experten hingegen wegen ihrer Kooperationsmöglichkeiten präferiert. „Weil SuS bei Freiarbeit und Lernzirkel nach ihrem Lerntempo arbeiten können. Bei Gruppenarbeit können die SuS sich gegenseitig helfen.“ (P16)
Dabei kann die Ausgestaltung der Gruppen je nach Zielsetzung unterschiedlich erfolgen und entweder gezielt leistungshomogen oder leistungsheterogen gebildet werden. „Gruppenarbeit: Aufteilung in starke und schwache Gruppen, oder aber gezielt Starke und Schwache zusammenpacken mit der Maßgabe, dass kooperiert werden muss (idealerweise erfordert die Aufgabenstellung eine solche Kooperation.“ (P17)
Antwortkategorie D: Kritische Anmerkungen Jedoch fanden sich unter den Ergebnissen auch drei kritische Stimmen. Ein Experte wollte die Eignung dieser Methoden per se nicht begründen und ein anderer Experte aus dem Bereich der Gemeinschaftsschulen konnte aufgrund aktueller Unterrichtserfahrungen in seiner Klasse die Eignung der genannten Methoden ebenfalls nicht bestätigen. „Ich bin bei der von mir unterrichteten Klasse dieses Schuljahr absolut gegenteiliger Meinung.“. Leider wurde diese Aussage nicht weiter erläutert. Unklar blieb in der ersten Befragungsrunde auch, warum die Methode Gruppenpuzzle im Vergleich zu ähnlichen Methoden relativ schlecht bewertet wurde. Dies sollte mit der folgenden Frage präzisiert werden.
11.5 Zweite Einschätzung zur Dimension „Differenzierungsebene“
255
Woran kann es liegen, dass das Gruppenpuzzle trotz seiner Ähnlichkeit zu Lernzirkel und Gruppenarbeit (die beide als klar geeignet eingeschätzt werden) im Verhältnis eher schlecht abschneidet? (E3)
Die folgenden Kategorien entstanden durch die Auswertung von 15 verwertbaren Einschätzungen10, welche sich in vier Begründungsstränge gliedern ließen (Tabelle 11.10). Tabelle 11.10 Antwortkategorien: Begründungen zum schlechten Abschneiden des Gruppenpuzzles Kategorie
Bezeichnung
Anzahl
A
Methode ist allgemein nicht sehr beliebt.
2
B
Keine zeitliche Differenzierung möglich.
3
C
Hoher organisatorischer und zeitlicher Aufwand
5
D
Sicherung/Verbreitung der Ergebnisse teilweise schwierig.
7
Antwortkategorie A: Methode ist allgemein nicht sehr beliebt Zwei der Experten bewerteten das Gruppenpuzzle als eine nicht sehr beliebte Methode bei Lehrkräften und SuS und unterstrichen somit die Ergebnisse der ersten Delphi-Runde. „Eigene Erfahrung: Gruppenpuzzle finden/fanden meine SuS meist nicht so prickelnd, daher bin ich auch skeptisch (allgemein, nicht speziell im Zusammenhang mit Differenzierung!).“ (P25)
Einer der Experten argumentierte dabei sogar noch breiter, jedoch ohne dabei eine Begründung anzuführen. „Die Methode selbst dürfte nicht sehr beliebt sein.“ (P11). Antwortkategorie B: Keine zeitliche Differenzierung möglich Zwei Experten aus dem Hochschulbereich und einer aus einer Gemeinschaftsschule bezogen ihre Argumentation bewusst auf die Differenzierungsthematik und nannten Gründe, warum sie die Methode „Lernzirkel“ für eine Differenzierung als nicht geeignet einschätzen. Der Hauptkritikpunkt, auf den sich alle drei Aussagen 10Insgesamt
wurden 18 Einschätzungen abgegeben. Drei davon entsprachen der Kategorie „Keine Ahnung“ o. ä.
256
11 Präzisierungen und Auswertung der zweiten Delphi-Runde
beriefen, ist die „Starrheit“ der Methode. So kritisierte ein Experte das rigide Ablaufmuster sowie die notwendigen Rollenverteilungen innerhalb der Gruppen. „Diese Methode ist rel. starr in Ablauf und Rollenverteilung. Da jeder Schüler auch als “Experte” auftreten muss und die Erklärungen z. T. von Mitschülern stammen, könnten schwächere Schüler Schwierigkeiten haben.“ (P19)
Ein anderer Experte verortete die Starrheit im zeitlichen Ablauf und der vorgegebenen Taktung, die somit keine Spielräume für eine zeitliche Differenzierung ermöglicht, da die verschiedenen Gruppen voneinander abhängig sind. „Im Gruppenpuzzle sind die Gruppen untereinander nicht unabhängig. Dies ermöglicht beispielsweise keine zeitliche Differenzierung. Nach der gleichen Zeit und vergleichbaren Themen muss hier ein Ergebnis erreicht sein.“ (P7)
Die dritte Aussage bestätigte diese Einschätzung und erweiterte sie dahingehend, dass die SuS durch diese Methode und den Zeitdruck auch in ihren Lernwegen eingeschränkt werden könnten. “[…] Ein SuS muss in einer bestimmten Zeit Inhalte können, es gibt nicht mehr oder weniger Zeit, jeder bekommt den gleichen Text oder so, da man ja in einer Gruppe Experte wird. Dann muss man das den anderen in der Stammgruppe erklären. Diese haben somit keine Möglichkeit auf ihre Weise zu lernen, müssen dem einen zuhören und darauf vertrauen.” (P21)
Nachdem die Aussagen in dieser Kategorie die Eignung der Methode in Bezug auf den Aspekt einer Differenzierung bewerteten, nehmen die beiden folgenden Kategorien wieder verstärkt allgemeinere Umsetzungsaspekte in den Blick. Antwortkategorie C: Hoher organisatorischer und zeitlicher Aufwand Ein Experte aus dem schulischen Bereich sah vor allem im „höheren Zeit- und Organisationsaufwand“ (P13) eine entscheidende Hürde, jedoch ohne seine Ausführungen weiter zu präzisieren. Dieser Aspekt wurde noch ein weiteres Mal genannt und eine Verbindung zu entsprechenden Inhalten hergestellt. „Gruppenpuzzle bedürfen eines hohen Vorbereitungsaufwandes […]. Es eignet sich auch nicht so sehr für kognitiv herausfordernde Inhalte. Eher für träges Sachwissen.“ (P17)
Diese Aussage würde an sich auch zu Kategorie D passen. Sie kann jedoch auch dahingehend verstanden werden, dass kognitiv anspruchsvollere Inhalte für
11.5 Zweite Einschätzung zur Dimension „Differenzierungsebene“
257
ein Gruppenpuzzle aufwendiger vorbereitet werden müssen als beispielsweise ein reines Abfragen von trägem Wissen. Die folgende Aussage fasste hierzu die Problematik umfänglich zusammen. „Lernzirkel ist insofern schwierig, dass das Wissen durch Schüler weitergegeben werden muss. Diese müssen es erfassen, für sich strukturieren und dann entsprechend weitergeben, was in der Praxis häufig nicht funktioniert, da z. B. die Texte zu schwer sind, der Schüler es sich nicht strukturieren oder gut weitergeben kann. Für den Lehrer entsteht dadurch ein wahnsinniger Aufwand, da alles kontrolliert und ggf. verbessert werden muss. Wenn es schlecht läuft, kann nur der Experte sein Thema.“ (P23)
Antwortkategorie D: Sicherung/Verbreitung der Ergebnisse teilweise schwierig Die soeben angeführte Befürchtung hinsichtlich der Ergebnissicherung entspricht der am häufigsten genannten Antwortkategorie mit insgesamt sieben Nennungen. Dabei wurde vor allem der Wissenstransfer von den Experten auf die anderen Gruppenmitglieder als problematisch bewertet. Je nach Komplexität des Inhalts könnte dieser Wissenstransfer für schwächere SuS in der Expertenrolle eine große Herausforderung darstellen. „Vielleicht liegt die Schwierigkeit darin, dass jeder seine Rolle gut erfüllen muss, damit auch alle davon profitieren. Z. B. ein Experte, der seinen Inhalt nicht verstanden hat, verhindert die Verbreitung von Infos in einer Gruppe.“ (P6)
Dies könnte, wie bereits angedeutet, im schlimmsten Fall dazu führen, dass die Lehrkräfte die Ergebnissicherung moderieren beziehungsweise im Plenum nacharbeiten müssten. Dies ist einerseits in der Methode so nicht vorgesehen und würde andererseits zu einem erheblichen zusätzlichen zeitlichen Aufwand führen. „Bei Gruppenpuzzles müssen Schüler sich gegenseitig neue Inhalte erklären. Dies führt in der Regel dazu, dass nur die jeweiligen Experten ihre Themen verstanden haben, die anderen Themen jedoch nicht. Häufig ist auch das Problem, dass die Schüler sich zwar intensiv mit einem Thema befassen, den anderen Schülern beim Erklären dann aber nicht mehr zuhören. Für die Lehrkraft bedeutet dies in der Regel, dass alles nochmal im Klassenplenum wiederholt und erklärt werden muss, was wiederum das Gruppenpuzzle ad absurdum führt.“ (P24)
Dies kann mit Blick auf die Ergebnissicherung insofern problematisch werden, da auch schwächere SuS in diese Expertenrolle schlüpfen müssen und in dieser ggf. mit dem Textverständnis, sowie dem eigenständigen Komprimieren und Weitertragen der Inhalte überfordert sein könnten. So stellt der Aspekt der
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11 Präzisierungen und Auswertung der zweiten Delphi-Runde
lassenführung während der Durchführung für die Lehrkraft (neben der zeitK intensiven Vorbereitung des Gruppenpuzzles) einen zusätzlichen Aufwand dar. „Das Wissen muss durch Schüler weitergegeben werden. Diese müssen es erfassen, für sich strukturieren und dann entsprechend weitergeben, was in der Praxis häufig nicht funktioniert, da z. B. die Texte zu schwer sind, der Schüler es sich nicht strukturieren oder gut weitergeben kann. Für den Lehrer entsteht dadurch ein wahnsinniger Aufwand, da alles kontrolliert und ggf. verbessert werden muss. Wenn es schlecht läuft, kann nur der Experte sein Thema.“ (P23)
Im Extremfall könnte dies so weit führen, dass die Ergebnisse zentral im Klassenplenum besprochen werden müssten, was der eigentlichen Intention eines Gruppenpuzzles klar entgegensteht. Zwei Experten erwähnten explizit den Zeitaufwand, der durch die Abstimmungen in den Gruppen und durch die Präsentation der Ergebnisse entstehen kann. Die bisher aufgeführten Punkte lieferten bereits eine detaillierte Begründung zu den vorhandenen Problemaspekten, die sich jedoch nur teilweise auf den Differenzierungsbereich bezogen. Knapp 20 % der Einschätzungen stellten hingegen noch einen klareren Bezug zur Differenzierung her. Zwei Experten sahen beispielsweise eine eingeschränkte Tauglichkeit dadurch begründet, dass die Aufgaben innerhalb eines Gruppenpuzzles zwar auf verschiedene Personen aufgeteilt werden können, aber eine gezielte Zuordnung von schwächeren SuS zu leichteren Arbeitsaufträgen bei diesem Format sehr aufwendig wäre. Hierdurch wurde diese Methode für kognitiv anspruchsvolle Aufgaben als weniger geeignet eingeschätzt. Ein anderer Experte empfand die größte Schwachstelle mit Blick auf eine Differenzierung darin, dass die Methode keine unterschiedlichen Zeitkontingente zur Bearbeitung vorsieht und den Expertengruppen in der Regel keine niveaudifferenzierten Texte zugeordnet werden. Auch haben die Mitglieder der Stammgruppe keine diversen Möglichkeiten, um sich die Inhalte der anderen Experten anzueignen, sondern sind darauf angewiesen, dass jeder Experte seine Inhalte so vermitteln kann, dass man sich diesen meist nur durch reines Zuhören oder mithilfe einer minimalen Visualisierung aneignen kann. Dieser Kritikpunkt beim Gruppenpuzzle entspricht dabei zugleich den zuvor genannten positiven Aspekten bei der Methode „Freiarbeit“. Inwiefern ein Teil der genannten Kritikpunkte auf eine reine Gruppenarbeit angewendet werden kann, müsste überprüft werden.
11.5 Zweite Einschätzung zur Dimension „Differenzierungsebene“
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In der nächsten Frage wurde noch einmal ein Blick auf die Ergebnisse zur Eignung unterschiedlicher Methoden geworfen, um damit die Einschätzung der ersten Befragungsrunde zu bestätigen oder neue Erkenntnisse zu gewinnen.
Wenn Sie jetzt noch mal auf die Bewertungen schauen, stimmen Sie diesen im Großen und Ganzen zu und welche Methode würden Sie vor dem Hintergrund Ihrer Erfahrung für das Fach Wirtschaft als besonders geeignet beschreiben? (E4)
Drei der 20 Experten bestätigten die Bewertung der Methoden aus der ersten Delphi-Runde (entsprechend Abbildung 11.11) ohne weitere Bemerkungen. Die anderen Experten nannten erneut geeignete Methoden für eine Differenzierung im Fach Wirtschaft oder fügten Ergänzungen an (Abbildung 11.13).
Abbildung 11.13 Vergleich der Methodenbewertungen Delphi 1 & 2. (Eigene Darstellung)
Die Bewertungen der ersten Befragungsrunde sind aufgrund ihrer nach Eignung gewichteten Darstellung nur bedingt direkt mit der Darstellung aus der zweiten Befragungsrunde vergleichbar, da es sich hier um eine Auszählung der Nennungen handelt. In Bezug auf die Frage soll dennoch eine Beschreibung der Ergebnisse gewagt werden, da in beiden Fällen ein Ranking der Methoden gebildet wurde.
260
11 Präzisierungen und Auswertung der zweiten Delphi-Runde
Analog zur ersten Befragungsrunde wurden auch in Delphi 2 die Methoden „Gruppenarbeit“, „Projektarbeit“, „Freiarbeit/Einzelarbeit“, „Lernzirkel“ und „Arbeitspläne“ in einem freien Antwortfeld als Methoden genannt, die für eine Differenzierung im Fach Wirtschaft als besonders geeignet eingeschätzt wurden. Die Gründe für diese Einschätzungen wurden zum Teil bereits durch die vorhergehenden Fragen erläutert. Durch das Ranking auf Grundlage der zweiten Befragungsrunde verschiebt sich das bisherige Bild nur leicht. So wurde zum Beispiel der Methode „flipped classroom“ eine etwas bessere Eignung zugesprochen, obwohl diese Methode in der ersten Befragungsrunde manchen Experten unbekannt war. Neu im Ranking hinzugekommen ist hingegen die Methode „Portfolio“. Die Ergänzungen der Experten bezogen sich vor allem auf die Methoden „Arbeitspläne“ und „flipped classroom“. Letztere wurde dabei im Kontext einer zunehmenden Digitalisierung genannt, jedoch mit der Einschränkung, dass die SuS vorab an die umgekehrte Reihenfolge der Wissensvermittlung gewöhnt werden müssten. Für den Lernzirkel wurde angemerkt, dass sich dieser eignet, um ein großes Pensum an bedingt anspruchsvollen Aufgaben abarbeiten zu lassen. Auffällig an den Nennungen ist, dass die Methode „Projekt“ trotz der zuvor genannten Schwachstellen die meiste Zustimmung erhielt, noch vor der Gruppenarbeit und der Freiarbeit. Fazit zur Differenzierungsebene der Methoden Die zweite Befragungsrunde bestätigte, entsprechend Abbildung 11.13, die Bewertungen aus Delphi 1. Dennoch konnten im Rahmen der zweiten Befragungsrunde die Einschätzungen aus der ersten Befragungsrunde konkretisiert werden, wodurch sie nun als erste Hinweise im Sinne eines methodischen Leitfadens gesehen werden können. So wurde durch Frage E1 deutlich, dass mit der Methode „Projekt“, welche auch in Freitextantworten der beiden Befragungsrunden immer wieder als sehr geeignet genannt wurde, auch gewisse Stolpersteine verbunden sind. So sollte im Differenzierungskontext vor allem darauf geachtet werden, dass schwächere SuS durch die Offenheit der Methode, im Sinne von Auswahlmöglichkeiten und flexiblen Lösungswegen, nicht überfordert werden. Ebenso stellt diese Methode entsprechende Ansprüche an die Lehrkräfte, die stets den Fortschritt der einzelnen Gruppen im Blick behalten und bei Bedarf fördernd eingreifen kann. Die Einschätzung der Experten in Frage E2 untermauerten die bisherigen Einschätzungen zur Eignung der Methoden „Freiarbeit“, „Gruppenarbeit“ und
11.6 Weiterführung der Delphi 1 Ergebnisse jenseits des ZAFE-Modells
261
„ Lernzirkel“. So lieferten die Hauptkategorien eine Vielzahl an positiven Argumenten, warum diese Methoden zur Umsetzung von differenziertem Unterricht geeignet sind. Dabei handelte es sich jedoch meist um übergeordnete und nicht domänenspezifische Argumente. Dennoch kann davon ausgegangen werden, dass diese so auch für eine Differenzierung im Fach Wirtschaft gelten. Eine ebenfalls nicht domänenspezifische Argumentation wurde von den Experten bei Frage E3 gewählt, wo diese das relativ schlechte Abschneiden der Methode „Gruppenpuzzle“ begründen sollten. Neben allgemeinen Argumenten, wie zum Beispiel dem hohen organisatorischen Aufwand, zeigten sich für diese Methode klare Einschränkungen mit Blick auf eine Differenzierung. So ist aufgrund der Taktung des Gruppenpuzzles keine zeitliche Differenzierung vorgesehen. Ebenso wurde eine Niveaudifferenzierung innerhalb dieser Methode als nur sehr schwer umsetzbar beurteilt, da alle Teilnehmer in eine Expertenrolle schlüpfen, einen vorgesehenen Inhalt aufbereiten und diesen richtig an die Gruppe weitervermitteln müssen. Dies kann vor allem für schwächere SuS eine Herausforderung darstellen. Falls dieser Vermittlungsvorgang nicht erfolgreich gelingen sollte, liegt es an der Lehrkraft, hier ausgleichend zu wirken und die Sicherung der Lernergebnisse entsprechend zu unterstützen. Die genannten Argumente der Experten zu dieser Methode scheinen plausibel, was zur Empfehlung führen könnte, dass das Gruppenpuzzle für eine Differenzierung im Wirtschaftsunterricht nur bedingt geeignet ist. Die vielen domänenunspezifischen Argumente der Experten legen nahe, dass bei der Wahl einer geeigneten Methode überwiegend fachunabhängige Aspekte zu beachten sind, die so sehr wahrscheinlich für viele Fächer zutreffen. Zudem muss die Wahl der Methode auch immer an den jeweiligen Inhalt und die Schülergruppe angepasst werden. Dies ist und bleibt die Aufgabe der Lehrkraft. Mit dem Aspekt der Methoden wurden somit alle vorgesehenen Bereiche mit einem klaren Bezug zu den ZAFE-Dimensionen konkretisiert. Der letzte Fragenbereich wird sich auf Aussagen aus der ersten Befragungsrunde, jenseits des ZAFE-Modells, beziehen.
11.6 Weiterführung der Delphi 1 Ergebnisse jenseits des ZAFE-Modells Die folgenden drei Fragenbereiche beziehen sich auf wesentliche Ergebnisse der ersten Befragungsrunde, die zur Beantwortung der übergeordneten Forschungsfragen weiter konkretisiert werden sollten.
262
11 Präzisierungen und Auswertung der zweiten Delphi-Runde
1. Ausprägung von Differenzierung im Fach Wirtschaft im Vergleich zu anderen Fächern Die erste Frage in diesem Bereich greift dabei die Aussagen der ersten Befragungsrunde zur Ausprägung von Differenzierung im Fach Wirtschaft auf, um diese Einschätzung zu validieren und zu untersuchen, wie sich diese unterschiedliche Ausprägung erklären lässt (Abbildung 11.14).
Abbildung 11.14 Ausprägung von Differenzierung. Ergebnis aus Delphi 1. (Eigene Darstellung)
Hierzu wurde die Abbildung mit der folgenden Anmerkung im Delphi 2-Fragebogen abgebildet: „In der ersten Befragungsrunde war eine klare Mehrheit der Experten der Auffassung, dass sich eine Differenzierung im Fach Wirtschaft von anderen Fächern unterscheiden wird.“
Falls Sie dieser Einschätzung zustimmen, erläutern Sie bitte, woher sich dieser Unterschied ergibt und welche Konsequenzen dies für die Gestaltung von Wirtschaftsunterricht hat. Falls nicht, erläutern Sie bitte, welche Aspekte von differenziertem Unterricht sich fachunabhängig gestalten lassen beziehungsweise problemlos übertragbar sind. (F1)
11.6 Weiterführung der Delphi 1 Ergebnisse jenseits des ZAFE-Modells
263
Die Einschätzungen der 18 Experten revidierten die Aussage der ersten Delphi-Runde dahingehend, dass knapp 60 % der Antworten der vorherigen Einschätzung, dass eine Differenzierung im Fach Wirtschaft anders ausgeprägt ist, widersprachen. Insgesamt ließen sich aus den Antworten zwei Hauptkategorien bilden (Abbildung 11.15).
Abbildung 11.15 Ausprägungen von differenziertem Wirtschaftsunterricht. (Eigene Darstellung)
Antwortkategorie A: Domänenspezifische Ausprägung von Differenzierung Auch wenn sich das Gesamtbild der ersten Befragungsrunde nicht bestätigen ließ, argumentierten doch 42 % der Experten über eine domänenspezifische Perspektive. Sofern sich die Ausprägung der Differenzierung im Wirtschaftsunterricht tatsächlich von anderen Fächern unterscheiden sollte, müssten sich diese Unterschiede vor allem durch die fachdidaktische Ebene ergeben. „Der Unterschied kann sich ja nur durch die fachspezifische Perspektive ergeben, wenn es einen gibt, wovon ich ausgehe. Fachdidaktisch ist das m. E. aber noch nicht klar herausgearbeitet.“ (P1)
Die Experten nutzten dabei mehrheitlich diese fachdidaktische Perspektive als Argumentationsgrundlage. So bezog ein Argument die besondere Ausprägung im Fach Wirtschaft darauf, dass das Fach sowohl eine inhaltliche Nähe zu den Naturwissenschaften und zu den Sozialwissenschaften aufweist und sich die daraus entstehenden Möglichkeiten auch auf die Konzeption von differenzierenden Unterrichtssettings auswirken wird.
264
11 Präzisierungen und Auswertung der zweiten Delphi-Runde
„Wirtschaft als Fach hat einerseits Nähe zu den Naturwissenschaften, durch das modellhafte, formalisiert mancher Inhalte => differenzierte Zugänge ähneln eher denen von naturwissenschaftlichen Fächern (Experimentieren, Messen, Zusammenhänge erkennen und darstellen, bspw. Nachfragefunktion); andererseits klar eine Sozialwissenschaft mit normativen Elementen => ähnlich Zugänge anderer sozialwissenschaftlicher Fächer => Je nachdem, welches “Vergleichsfach” die Befragten in Runde 1 im Kopf hatten, und welchen Aspekt von Wirtschaft sie eher vor Augen hatten, lassen sich vielleicht die unterschiedlichen Antworten (kein Unterschied, großer Unterschied) erklären. Aus meiner Sicht: andere Ausprägung, eben weil es sich der BEIDEN Arten von Differenzierung wird bedienen müssen, statt nur einer.“ (P25)
Andere Experten fokussierten sich bei ihren Begründungen mehr auf die domänenspezifischen Besonderheiten des Fachs. Als Beispiel wurde u. a. die Schülerfirma als methodische Großform genannt, die so in anderen Fächern nicht eingesetzt wird. „[…] Allerdings basiert Wirtschaftsunterricht auf anderen fachdisziplinären Zugängen, die beispielsweise methodische Großformen ermöglichen, die in anderen Fächern nicht denkbar wären, beispielsweise Schülerunternehmen.“ (P7)
Ein weiterer wesentlicher domänenspezifischer Unterschied wurde in der Möglichkeit gesehen, differenzierende handlungsorientierte Unterrichtssettings im Wirtschaftsunterricht einfacher realisieren zu können. Leider wurde in diesem Zusammenhang nicht genauer erläutert, im Vergleich zu welchen Fächern dies der Fall sein soll. Ein Experte aus dem Seminarbereich sah ein domänenspezifisches Merkmal in der Aktualität und dem Gegenwartsbezug der Inhalte. „Stimme zu, ständiger Einbezug der Aktualität, keine starre Verwendung der bereits gehaltenen Stunden möglich und deshalb eine ständige Neuausrichtung auch der Differenzierung im Unterricht.“ (P9)
Auch bei dieser Aussage wäre zu hinterfragen, ob die Person dabei an ein spezielles Vergleichsfach gedacht hat. Im Vergleich zum naturwissenschaftlichen Bereich, wo Inhalte auf soliden Naturgesetzen basieren, mag diese Einschätzung durchaus zutreffen. Nimmt man stattdessen als Referenzfach das Fach Politik, so dürften diesbezüglich weniger große Unterschiede vorhanden sein. Eine weitere Einschätzung aus dem Bereich der Seminare bezog sich ebenfalls auf den naturwissenschaftlichen Bereich und bewertete die Möglichkeiten, im Fach Wirtschaft eine Niveaudifferenzierung umzusetzen als einfacher, ohne dies näher zu begründen.
11.6 Weiterführung der Delphi 1 Ergebnisse jenseits des ZAFE-Modells
265
Aus dem gymnasialen Bereich wurde hingegen angemerkt, dass die verschiedenen Einschätzungen in den beiden Befragungsrunden auf ein mögliches unterschiedliches Verständnis von Differenzierung zurückgeführt werden könnten. Ein Unterschied in der Gestaltung von Differenzierungskonzepten wurde vor allem zwischen Haupt- und Nebenfächern gesehen. „In E,D,M wird aufwendig differenziert, auch in den Leistungsüberprüfungen. In den Nebenfächern, die viel weniger Unterrichtsstunden zur Verfügung haben, ist dies eher über unterschiedliche Schwierigkeit der Aufgaben, bzw. über die Anzahl bzw. Art der Hilfestellungen üblich. Dies sehe ich ebenfalls für den Wirtschaftsunterricht so.“ (P8)
In dieser Aussage zeigt sich zudem, dass eine Differenzierung in den Nebenfächern durchaus ähnlich gestaltet werden würde, aber diese aufgrund eines geringeren Stundenumfangs weniger in den Fokus gerückt werden kann. Antwortkategorie B: Ausprägung von Differenzierung ist nicht domänenspezifisch Die Mehrheit der Experten bewertete die Umsetzung einer Differenzierung im Wirtschaftsunterricht weniger stark abhängig von den domänenspezifischen Eigenheiten des Fachs und widersprach somit den Darstellungen aus der ersten Befragungsrunde. Zugleich nannten die Experten Aspekte, die nach ihrer Einschätzung eindeutig domänenunspezifisch gestaltet werden können. Ein zentraler Punkt wurde zum Beispiel darin gesehen, dass für differenzierten Unterricht grundlegende Planungsfragen als fachunabhängig betrachtet werden können. „Die Grundfragen der Differenzierung stellen sich in allen Fächern gleichermaßen. Auch sind die Probleme die gleichen, ggf. ergeben sich durch die Inhalte (siehe die Anfangsfragen) fachspezifische Unterschiede, diese halte ich jedoch für marginal.“ (P23)
Ebenso wurden von einem Experten derartige Grundüberlegungen genauer beschrieben und darauf hingewiesen, dass neben der Planung auch die Umsetzung eng an die Art des jeweiligen Inhalts gekoppelt ist, die sich jedoch von Fach zu Fach unterscheiden kann. „Differenzierung ist meiner Meinung nach fachunabhängig. In jedem Fach müssen dieselben Grundüberlegungen getroffen werden: Wie kann differenziert werden? Wie können differenzierte Aufgaben aussehen? Wie stark soll differenziert werden?
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11 Präzisierungen und Auswertung der zweiten Delphi-Runde
Die konkrete Umsetzung ist immer themenabhängig und kann auch nicht im Bereich Wirtschaft einfach übertragen werden. Für jedes Thema muss individuell überlegt werden, wie differenziert werden kann.“ (P24)
Von einem weiteren Experten wurde in diesem Zusammenhang eine inhaltliche Nähe zu anderen gesellschaftswissenschaftlichen Fächern beschrieben, was ebenfalls auf eine eher domänenunspezifische Ausprägung hindeuten könnte. „Aus meiner Sicht sind keine einschneidenden Änderungen zu anderen Sachfächern erforderlich. Wie bereits erwähnt, sehe ich gleiche Handlungsfelder im Politik-, Geographie- und Geschichtsunterricht. Hierzu gehören das projektorientierte Arbeiten, die Lernzirkel, die Gruppenarbeit, aber auch die individuellen Lernformen mit differenziertem Material zur Informationsgewinnung und Analyse.“ (P20)
Entsprechend dieser Einschätzung würden somit nicht nur im inhaltlichen Bereich, sondern auch auf der methodischen Ebene, Parallelen zwischen den unterschiedlichen Fächern existieren. „Ich vertrete die Meinung, dass sich bestimmte Differenzierungen, wie Methoden (Projekt) und Sozialformen (Einzelarbeit) fachunabhängig gestalten lassen […].“ (P7)
Ein letztes Argument für eine ähnliche Ausprägung wie in anderen Fächern war, dass das Fach Wirtschaft erst in Klasse 7 startet und Lehrkräfte somit wahrscheinlich zuerst auf Differenzierungsformen und Methoden zurückgreifen werden, die den SuS bereits aus anderen Fächern bekannt sind. „Die Differenzierung ist deshalb [nicht] anders, weil das Fach nur wenige Wochenstunden hat und erst in Klasse 7 beginnt. Die Konsequenz ist, dass gängige Differenzierungsformen, die in anderen Fächern eingeführt und geübt wurden, eingesetzt werden.“ (P13)
Fazit zur unterschiedlichen Ausprägung von Differenzierung Mit knapp 60 % widerlegte die Mehrheit der Experten die Einschätzungen aus der ersten Befragungsrunde, wonach eine Differenzierung im Fach Wirtschaft anders ausgeprägt sein wird als in anderen Fächern. Beide Argumentationsrichtungen der Experten scheinen plausibel und schließen sich auch nicht aus. Sicherlich gibt es eine Reihe von grundsätzlichen Entscheidungen, die bei der Konzeption von differenziertem Unterricht fachunabhängig getroffen werden müssen. Dies zeigt auch das ZAFE-Modell, das ebenfalls eine fachunabhängige Planungshilfe bietet.
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Auch zeigte der Vergleich der unterschiedlichen gesellschaftlichen Fachbereiche in Kapitel 7, dass diese häufig auf die gleichen oder zumindest sehr ähnlichen Methoden und Aspekte verweisen. Dass jedes Fach auch domänenspezifische Besonderheiten, zum Beispiel im Bereich der Methoden und vor allem auch der Inhalte aufweist, ist jedoch ebenso richtig. Einige dieser inhaltlichen Besonderheiten wurden für den Wirtschaftsunterricht bereits durch die vorangegangenen Fragen herausgearbeitet. 2. Der Heterogenitätsdiskurs im Kontext öffentliche Erwartungen und Widerstände In der ersten Befragungsrunde zeigte sich, dass einige der Experten Bedenken hatten, sich zur Heterogenitätsthematik zu äußern. Dies warf die Frage auf, woher diese Bedenken stammen könnten. Um diese zu beantworten, wurde den Experten in der zweiten Befragungsrunde die folgende These präsentiert.
Übersicht Einige der befragten Expertinnen und Experten hatten trotz der Zusicherung von Anonymität Bedenken, sich zu den Fragen der ersten Befragungsrunde zu äußern. Man könnte vermuten, dass dies der Fall war, weil diese fürchteten, sich in einem Diskurs falsch zu äußern, der in der Öffentlichkeit mit hohen Erwartungen verbunden ist. Würden Sie dieser These zustimmen oder wie lassen sich Ihrer Meinung nach diese Bedenken erklären. (F2)
Zu dieser Frage äußerten sich nur 13 der Experten und die Antworten waren dabei sehr kurz gehalten. Von diesen 13 Aussagen waren drei nicht verwertbar, da es sich um Aussagen wie „keine Ahnung“ handelte. Die übrigen Antworten lieferten jedoch gute Aspekte, aus denen drei Kategorien gebildet werden konnten (Tabelle 11.11).
Tabelle 11.11 Antwortkategorien: Ängste, sich zu äußern Kategorie
Bezeichnung
Anzahl
A
Themenfeld „Heterogenität“ ist mit Erwartungen und Unsicherheit 8 verbunden.
B
Themenfeld „Heterogenität“ ist keine heikle Thematik.
3
C
Zeitknappheit
3
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11 Präzisierungen und Auswertung der zweiten Delphi-Runde
Antwortkategorie A: Themenfeld „Heterogenität“ ist mit Erwartungen und Unsicherheit verbunden Knapp 50 % der Experten hielt die These für plausibel. Als besonders heikel wurde die Thematik jedoch nicht eingeschätzt. „Das Thema ist allgegenwärtig und trotzdem kaum fundiert fachdidaktisch bearbeitet. Besonders heikel finde ich es aber nicht.“ (P1)
Die Vorsicht einiger Experten wurde vielmehr durch die neue Einführung des Fachs WBS begründet, was mit hohen Erwartungen verbunden zu sein scheint und die Schulen bis zum Zeitpunkt der Erhebung relativ wenig Erfahrungswerte sammeln konnten. „Falsche Äußerungen kann es nicht geben, wenn begründbare Erfahrungen vorliegen. Dass das Fach “Wirtschaft” für viele “Neuland” ist, aber eine ungemein wichtige Rolle spielt, könnte eventuell zu einer eher vorsichtigen Einstellung führen.“ (P20)
Etwas schärfer wurde das Argument von einem Experten aus dem schulischen Bereich formuliert. Er sieht eine Mitverantwortung für die Entwicklung gelingender Konzepte bei den übergeordneten Stellen, wie zum Beispiel den Seminaren und geht davon aus, dass es für diese Stellen rational wäre, sich nicht zu äußern, sofern keine guten Konzepte vorliegen. „Ich glaube schon, dass dieses Thema mit hohen gesellschaftlichen Erwartungen verbunden ist (siehe Diskussion um die Gesamtschule). Ich glaube, dass Personen in entsprechenden Positionen = Seminar eventuell Bedenken haben sich zu äußern, da keine guten Konzepte breit implementiert wurden, man aber von derartigen Stellen erwarten könnte, dass eine gewisse Expertise vorliegt. Falls diese nicht vorhanden ist, macht es Sinn, sich nicht zu äußern.“ (P23)
Ein ähnliches Argument wurde auch für den Bereich der Lehrkräfte genannt, die zugeben müssten, dass sie keine differenzierenden Maßnahmen umsetzen. Antwortkategorie B: Themenfeld „Heterogenität“ ist keine heikle Thematik Es gibt jedoch auch andere Stimmen, die in der Thematik keinen heiklen Aspekt sahen, sondern einen konstruktiven Diskurs als notwendige Voraussetzung für eine Problemlösung erachteten. „Nur ein Diskurs, egal ob richtig oder falsch (wenn es das überhaupt gibt) kann zu neuen Anschauungen und Anstößen führen.“ (P9)
11.6 Weiterführung der Delphi 1 Ergebnisse jenseits des ZAFE-Modells
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Ebenfalls kam von weiteren zwei Experten, die Anmerkung, dass sie keine Bedenken hatten, sich zu den Fragen zu äußern. Antwortkategorie C: Zeitknappheit Zwei Experten aus dem Bereich der Hochschulen und einer aus dem schulischen Umfeld erklärten die Nichtteilnahme durch den zeitlichen Aufwand, den die Beantwortung eines solchen Fragebogens mit sich bringt. Dabei unterschieden die Experten zwischen einem allgemeinen Zeitmangel unabhängig vom Befragungsthema und den zeitraubenden Fragen dieser Erhebungsrunden. „Zeitknappheit unabhängig vom Befragungsthema?!“ (P19). Die folgenden letzten beiden Fragen der zweiten Delphi-Runde haben wieder eine zukunftsorientierte Perspektive. Sie fragen nach vermeintlichen Widerständen, welche die Heterogenitätsdiskussion hervorbringen könnte, so wie nach einer Einschätzung, ob einerseits der Bedarf an differenziertem Unterricht und andererseits die existierenden Umsetzungshürden miteinander in Einklang gebracht werden können.
Glauben Sie, dass diese Thematik Widerstände erzeugt? Warum? (F3)
Die insgesamt 14 abgegebenen Einschätzungen zu dieser Fragestellung lassen sich in drei Hauptkategorien gliedern (Tabelle 11.12). Tabelle 11.12 Antwortkategorien: Gründe für Widerstände Kategorie
Bezeichnung
Anzahl
A
Innovation als Kulturwandel • Kulturwandel braucht Mut. • Kulturwandel bringt hohe Arbeitsbelastung.
3 6
B
Widerstände als Reaktion auf politische Vorgaben.
4
C
Keine Widerstände.
4
Antwortkategorie A: Innovation als Kulturwandel Drei Experten begründeten die Widerstände dadurch, dass sie sich aus einem notwendigen Kulturwandel ergeben könnten. Dies bedeutet, dass etablierte Unterrichtsweisen geprüft und ggf. an aktuelle Rahmenbedingungen angepasst werden müssen. Derartige Widerstände sollten jedoch als ein normaler Prozess verstanden werden, der im Dialog und mit gegenseitiger Unterstützung überwunden werden kann.
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„Widerstände sind natürlich total normal. Wenn ich mehrere Jahre als Lehrperson – ggf. mit Fokus Frontalunterricht – unterwegs bin, ist es natürlich aufwendig, wenn ich plötzlich alles anders machen sollte. Es braucht auch Mut und Neugierde auf der Seite der Lehrpersonen. Es handelt sich um einen Kulturwandel. Dieser braucht viel Zeit und gute Unterstützung.“ (P5)
Generell bedeutet ein Kulturwandel auch immer, dass man sich von gewohnten Verfahren lösen muss, was Unsicherheit und einen gewissen zusätzlichen Arbeitsaufwand mit sich bringt. Bezogen auf den Unterricht betrifft der politisch initiierte Kulturwandel hin zu mehr Binnendifferenzierung vor allem die Lehrkräfte. „Widerstände sind wohl eher bei Unterrichtspraktikern zu erwarten, da z. T. eine generelle Umstellung von Unterricht im Raum steht.“ (P19)
Diesen zusätzlichen Mehraufwand bewerteten ebenfalls sechs weitere Experten, aus allen Tätigkeitsbereichen, als die Hauptursache für mögliche Widerstände. „Widerstände in dem Sinne, dass Lehrkräfte damit überfordert sind, verschiedene Niveaus anzubieten, da es extrem viel Arbeit bereitet.“ (P9)
Ein anderer Experte aus dem Hochschulbereich verortete die zusätzliche Arbeit nicht nur in der Erstellung von neuen Arbeitsmaterialien, sondern auch bei der konkreten Umsetzung des erwähnten Kulturwandels. „Vielleicht, weil es Arbeit macht und herausfordert, Bewährtes zu prüfen?“ (P1). Diese Mehrbelastung wurde bereits in der ersten Delphi-Runde deutlich zum Ausdruck gebracht. Die Ursache von Widerständen kann aber neben der auftretenden Arbeitsbelastung auch in einer allgemeinen Skepsis gegenüber bildungspolitischen Innovationen gesehen werden, wie die folgende Kategorie zeigt. Antwortkategorie B: Widerstände als Reaktion auf politische Vorgaben Neben der genannten Arbeitsbelastung und Skepsis gegenüber einem Kulturwandel können laut den Experten Widerstände auch als Reaktion auf politische Vorgaben entstehen. Diese Widerstände sollten dabei stärker gewertet werden. Die folgende Aussage aus dem Seminarbereich könnte man diesbezüglich auch als eine Art Pauschalrechtfertigung für Widerstände gegen jegliche Art von politisch veranlasster Innovation verstehen. „Lehrer sind aufgrund fragwürdiger Maßnahmen des Ministeriums oftmals gebrannte Kinder.“ (P9)
11.6 Weiterführung der Delphi 1 Ergebnisse jenseits des ZAFE-Modells
271
Eine weitere Aussage bestätigte den Eindruck, dass es auf der Unterrichtsebene durchaus Widerstände geben kann. „Die Thematik erzeugt mit Sicherheit Widerstände, da individuelle Förderung und Differenzierung politisch gewollt sind, jedoch nicht in dem Maß umgesetzt werden, wie es sein sollte und auch im Fachdidaktik-Bereich diese Schwerpunkte noch nicht ausreichend vermittelt werden.“ (P24)
Ein Fachberater hatte hierzu eine andere Auffassung und bemängelte, dass sich bei den Lehrkräften die Fortbildungsbereitschaft teilweise sehr in Grenzen hält. Eine Teilnahmeverweigerung bei entsprechenden Fortbildungen könnte man somit ebenfalls als Widerstand gegen eine politische Vorgabe werten. „[…] Aus meiner Erfahrung als Fachberater für die Lehrerfortbildung im Fach Wirtschaft/Berufs- und Studienorientierung möchte ich anmerken, dass die Fortbildungsbereitschaft der Kollegen sich sehr in Grenzen hält, sodass viele Veranstaltungen wegen mangelndem Interesse bzw. zu geringer Teilnehmerzahl abgesagt werden müssen.“ (P8)
Im Bereich der kaufmännischen Schulen sind die Rahmenbedingungen hingegen etwas anders gelagert, da diese Schularten bisher nicht durch entsprechende Lehrpläne oder andere politische Maßgaben zu einer Niveaudifferenzierung gezwungen werden. Wie schon bei den vorherigen Fragen deutlich wurde, spielt im kaufmännischen Bereich vor allem die Vorbereitung der SuS auf die Abschlussprüfungen eine wesentliche Rolle. Die Widerstände beziehungsweise die Umgehung von Differenzierung begründen sich hier aus den politischen Vorgaben im Sinne der bestehenden Prüfungsanforderungen. So wird häufig zugunsten einer effizienten Prüfungsvorbereitung auf zeitintensive Differenzierungssettings verzichtet. „Nein, sie ist aber schlicht und einfach in den Bildungsplänen zu wenig vorgesehen. Und auch nicht prüfungsrelevant -> Prüfung = heimlicher Lehrplan.“ (P17)
Diese Einschätzung deckt sich dabei durchaus mit der Literatur. Vor allem in Abschlussklassen, die sich auf die Abschlussprüfungen vorbereiten, sinkt die Beliebtheit von offenen Lernformen, welche jedoch abseits der Prüfungsvorbereitung durchaus beliebt waren (Kühberger und Windischbauer 2013, S. 10). Ebenso bewerteten zwei Experten ein zu starkes leistungsdifferenziertes Üben mit Blick auf die Prüfungsvorbereitung als problematisch, da letztendlich alle SuS das Prüfungsniveau erreichen müssen.
272
11 Präzisierungen und Auswertung der zweiten Delphi-Runde
Antwortkategorie C: Keine Widerstände Vier der Experten sahen hingegen keine Widerstände oder waren sogar gegenteiliger Meinung, jedoch ohne dies zu begründen. Woher sich diese Aussagen ableiteten, lässt sich leider nicht genauer bestimmen. Fazit zur öffentlichen Erwartung und Widerstände Durch die Fragen F2 und F3 zeigte sich, dass der Heterogenitätsdiskurs in der Öffentlichkeit durchaus mit entsprechenden Erwartungen an die umsetzenden Akteure in Verbindung zu stehen scheint. Die Einschätzungen in Frage F2 zeigten jedoch, dass die Nichtteilnahme einiger weniger Personen an der Delphi-Studie nicht unbedingt durch diese Unsicherheit erklärt werden kann. Vielmehr könnten auch deutlich banalere Gründe, wie zum Beispiel Zeitknappheit, dafür verantwortlich gewesen sein. Hingegen wurde durch Frage F3 deutlich, dass die Thematik durchaus in der Lage ist, vor allem bei den umsetzenden Akteuren Widerstände zu erzeugen. Die Gründe für diese Widerstände wurden von den Experten dabei mehrheitlich im Bereich eines notwendigen Kulturwandels verortet, der zugleich mit einer erhöhten Arbeitsbelastung für die Lehrkräfte einhergeht. Dieses Argument lässt dabei durchaus Parallelen zur Diskussion der 1970er Jahre erkennen. Schon damals war eine Umsetzung von mehr innerer Differenzierung mit einer Reihe von Ansprüchen an die Lehrkräfte verbunden, die ebenfalls zu einer Steigerung der Arbeitsbelastung führten (vgl. Kapitel 2, 3. Bönsch 1970, S. 18). Dass zudem auch eine generelle Neigung zu Widerständen gegenüber bildungspolitischen Reformen vorhanden zu sein scheint, sollte auch jenseits dieser Diskussion nachdenklich stimmen. 3. Zukunftsperspektive zur Abwägung von Bedarf an differenziertem Wirtschaftsunterricht und existierenden Hürden Die Frage, ob und wie es gelingen kann, einen Ausgleich zwischen dem Bedarf an differenzierten Wirtschaftsunterricht einerseits und den existierenden Hürden andererseits herzustellen, war die letzte Frage der zweiten Runde. Sie leitet sich einerseits aus den Aussagen der Experten ab, dass differenzierter Wirtschaftsunterricht zukünftig an Bedeutung gewinnen wird und anderseits aus den Äußerungen der Experten zu den existierenden Hürden.11
11Ergebnisse
aus Delphi 1. Fragen B6, B7 und G3.
11.6 Weiterführung der Delphi 1 Ergebnisse jenseits des ZAFE-Modells
273
Übersicht 60 % der befragten Experten gehen davon aus, dass differenzierter Unterricht zukünftig an Bedeutung gewinnen wird. Begründet wurde diese Einschätzung durch Inklusionsmaßnahmen, einer zunehmenden Migration, aber auch durch eine eher schleichende Veränderung aller anderen Schüler. Andererseits sehen die Experten eine Reihe von bedeutsamen Hürden, wie zum Beispiel das Fehlen von gutem differenzierendem Unterrichtsmaterial und einem dadurch nicht leistbaren Vorbereitungsaufwand seitens der Lehrkräfte. Zudem sprechen auch ungünstige Rahmenbedingungen, wie zu hohe Klassenteiler, Zeit- und Notendruck sowie ein fehlender Wille zur Kooperation unter den Lehrkräften gegen eine erfolgreiche Umsetzbarkeit von differenziertem Unterricht. Wie würden Sie die Wahrscheinlichkeit einschätzen, dass dieser Konflikt zwischen dem Bedarf an differenzierendem Wirtschaftsunterricht einerseits und den existierenden Umsetzungshürden andererseits gelöst werden kann? Bitte begründen Sie Ihre Meinung. (F4)
Im Vergleich zu den beiden vorangegangenen Fragen war die Antwortbereitschaft bei dieser Frage mit 19 Antworten noch einmal deutlich höher. So ließen sich aus den Antworten der Experten insgesamt 3 Kategorien bilden (Tabelle 11.13). Tabelle 11.13 Antwortkategorien: Konflikt zwischen Bedarf und Hürden Kategorie
Bezeichnung
Anzahl
A
Bedarf an differenziertem Wirtschaftsunterricht ist vorhanden.
3
B
Konflikt ist existent.
6
C
Ansätze zur Konfliktlösung • Geeignetes Material/Ressourcen • Entwicklung einer Teamkultur • Lehrerbildung
6 4 2
Antwortkategorie A: Bedarf an differenziertem Unterricht ist vorhanden Insgesamt stützen drei Experten die in der These formulierte Darstellung, dass zukünftig ein klarer Bedarf an differenziertem Wirtschaftsunterricht vorhanden sein wird. So war ein Experte der Ansicht, dass Unterricht in durchschnittlichen Klassen zukünftig nicht mehr ohne differenzierende Konzepte auskommen
274
11 Präzisierungen und Auswertung der zweiten Delphi-Runde
wird. „Es geht ja in durchschnittlichen normalen Klassen gar nicht mehr anders“ (P11). Ein weiterer Experte aus dem Bereich der Gemeinschaftsschulen ging davon aus, dass sich der dargestellte Konflikt durch eine breite Etablierung von Differenzierung quasi von selbst lösen wird. „Der Konflikt wird dadurch gelöst, dass Differenzierung über kurz oder lang Routine sein wird.“ (P13)
Im Gegensatz dazu wurde jedoch auch die Einschätzung geäußert, dass sich der Konflikt durch den Bedarf einerseits und die gegebenen Realitäten im Unterricht verstärken wird. „Der Bedarf wird nicht verschwinden und die unterrichtliche Realität wird die Auseinandersetzung befördern.“ (P1)
In dieser Kategorie gab es somit unterschiedliche Meinungen zur Frage, welche Konsequenzen der Bedarf mit sich bringen wird. Durch die folgende Kategorie wurde jedoch deutlich, dass die in der ersten Befragungsrunde formulierten Probleme auch im Rahmen dieser Befragungsrunde von den Experten gesehen wurden, was somit den beschriebenen Konflikt bestätigt. Antwortkategorie B: Konflikt ist existent Insgesamt sechs Experten bezogen sich in ihren Äußerungen auf die formulierte These und bestätigten den dargestellten Konflikt. Dabei bezogen sie sich teilweise auch auf die in der Vignette genannten Umsetzungshürden. „Diese Hürden sehe ich definitiv auch […].“ (P21). Oder wie es ein anderer Experte formuliert: „Ich sehe nicht, dass momentan auch nur annähernd genügend Ressourcen in die Differenzierung fließen. Von daher sehe ich eine geringe Chance. Es gibt auch zu wenige Anreize für die Lehrkräfte, das Thema voranzubringen.“ (P17)
Insgesamt war diese Antwortkategorie sehr eng mit der folgenden Kategorie C verbunden, da die Experten einerseits den Konflikt bestätigen, aber zugleich auch Lösungsansätze nannten. Antwortkategorie C: Ansätze zur Konfliktlösung Potenzielle Lösungsmöglichkeiten wurden dabei vor allem in drei Bereichen verortet. Hierbei wurde der Bereich Material und Ressourcen mit sechs Nennungen am häufigsten erwähnt. Unter Ressourcen verstanden die Experten jedoch unterschiedliche Aspekte, wie zum Beispiel die Forderung nach mehr
11.6 Weiterführung der Delphi 1 Ergebnisse jenseits des ZAFE-Modells
275
Deputatsstunden, die für organisatorische Belange zur Verfügung gestellt werden sollten (sog. „Poolstunden“), beziehungsweise das Begrenzen von zusätzlichen organisatorischen Tätigkeiten. Dies könnte durch eine Reihe von organisatorischen, beziehungsweise regulatorischen Änderungen herbeigeführt werden und zu einer Arbeitsentlastung führen. „Lösen kann man dies, indem man z. B. die Poolstunden nicht kürzt oder man generell den organisatorischen Aufwand neben dem eigentlichen Kerngeschäft des Unterrichtens abbaut oder die Klassen kleiner macht usw. Zeitdruck ist natürlich im Wirtschaftsbereich auch meistens ein Problem, weil die Lehrpläne oft zu voll sind. Dann gibt es noch Probleme hinsichtlich Räumlichkeiten/Ausstattung/Stundenplan/ neue (undeutliche) Lehrpläne etc.“ (P21)
Derartige regulatorische Änderungen werden jedoch sehr wahrscheinlich nicht schnell implementiert werden können, da hierfür ein breiteres Umdenken bei der Schulverwaltung aber auch bei den Lehrkräften erfolgen müsste. „Die vorgebrachten Umsetzungshürden sind in jedem Fall in der Realität gegeben. Nach meiner Ansicht ist ein Umdenken in der Schulverwaltung und -Organisation genauso vonnöten wie eine (etwas) veränderte Lehrerrolle. Ohne zur Verfügung gestellte Ressourcen ist eine Umsetzung vieler wünschenswerter Maßnahmen nicht möglich.“ (P19)
Aber auch mehr Lehrkräfte und gutes Unterrichtsmaterial werden als notwendige beziehungsweise hilfreiche Ressource bewertet. „Nur mit mehr Lehrkräften möglich oder Unterrichtsmaterial vom Land zur Verfügung gestellt, wäre auch eine Erleichterung.“ (P16)
Dass sich die strukturellen Rahmenbedingungen zeitnah ändern werden, wurde auch von einem weiteren Experten aus dem Hochschulbereich als relativ unwahrscheinlich eingeschätzt. „Strukturell (Lehrermangel, Klassenteiler) sehe ich in näherer Zukunft eher schwarz, aber wir an der PH usw. tun unser Bestes, um mit gutem Unterrichtsmaterial und toller Lehrerausbildung zu unterstützen […]. Daher auf längere Sicht doch optimistisch, also > 50 %.“ (P25)
Der Aspekt des fehlenden Arbeitsmaterials beziehungsweise von umfänglichen und konsistenten Differenzierungskonzepten wurde zudem durch zwei weitere Experten genannt. Aber selbst wenn Differenzierungskonzepte zentral entworfen
276
11 Präzisierungen und Auswertung der zweiten Delphi-Runde
würden, wäre zugleich deren Verbreitung und die damit verbundene rechtliche Absicherung mit einem gewissen Arbeitsaufwand verbunden. „[…] Für eine flächendeckende Differenzierung müssen Unterrichtskonzepte erarbeitet und zur Verfügung gestellt werden, was organisatorisch und rechtlich enormen Aufwand verursacht.“ (P24)
Als mögliche Alternative zu einer strukturellen Veränderung wurde ein Umdenken in der Arbeitsmentalität der Lehrkräfte beschrieben, was so von vier Experten angesprochen wurde. Demnach müsste die Arbeitsmentalität von einer stark individuell geprägten Arbeitsweise hin zu einer Teamkultur verändert werden. „Das gelingt, wenn man weg vom Einzelkämpfer hin zum Team kommt. Nicht jede Lehrperson muss alles selber machen, man muss sich im Schulhaus in der Fachschaft unterstützen und sich gemeinsam professionalisieren. Lehrpersonen verstehen sich leider vielfach als Einzelkämpfer […].“ (P5)
Ein derartiges Vorgehen wäre somit mit der Chance verbunden, dass sich innerhalb der Schulen entsprechende Konzepte entwickeln könnten. „[…] Wenn in einem Kollegium der Teamgedanke zählt, dann wird es schneller gute Lösungen geben und Aufgabenverteilung das Ganze beschleunigen. Dann werden auch genügend Differenzierungsmaterialien vorliegen.“ (P20)
Dabei wäre eine solche Teamkultur vielleicht sogar relativ einfach möglich, sofern der Anspruch durch verbindliche Rahmenvorgaben geregelt ist. Während die Sekundarstufe I zumindest über den gemeinsamen Bildungsplan zur Differenzierung angehalten wird, fehlen im Bereich der kaufmännischen Schulen vergleichbare Rahmenbedingungen. „[…] Ich denke, der Konflikt wird bestehen bleiben, und es wird sich auf einem leistbaren Niveau einpendeln. Ggf. bessere Chancen in Gemeinschaftsschulen, die größere Strukturen verändern können/müssen. Die Sek II verwendet laut Seminar die Didaktik der Gemeinschaftsschule nur rudimentär.“ (P23)
Eine weitere wesentliche Voraussetzung für eine breitere Etablierung von Differenzierungskonzepten stellt laut den Experten die Lehrerbildung dar. Unabhängig davon, ob differenzierter Unterricht durch Einzelkämpfer oder in
11.6 Weiterführung der Delphi 1 Ergebnisse jenseits des ZAFE-Modells
277
einem Team konzipiert wird, die Lehrkräfte müssen in beiden Fällen mit den entsprechenden Konzepten und Möglichkeiten vertraut gemacht werden. „Ich bin mir gar nicht sicher, ob es wirklich Umsetzungshürden sind. Ich glaube vielmehr, dass Lehrerbildung sich nachhaltig dieses Themas annehmen muss und fachspezifische Lösungsmöglichkeiten bereits im Studium darlegen muss, um künftige Lehrkräfte mit Strategien vertraut zu machen, die sie später anwenden können, ohne sich diese erst im “Stress” der Arbeit aneignen zu müssen.“ (P7)
Fazit zur Konfliktlösung Auch die Ausführungen zu dieser Frage nannten mehrheitlich den Mangel an gutem und einsatzfähigem Arbeitsmaterial als problematisch. Diese Forderung nach gutem Unterrichtsmaterial, das von extern bereitgestellt wird und nicht erst noch zeitaufwendig an den Schulen selbst konzipiert werden muss, scheint durchaus legitim. Diese Forderung geht auch mit den Ergebnissen aus Frage G1 der ersten Delphi-Runde einher, wonach die Gruppe der Lehrkräfte ihre Planungskompetenz vor allem in Bezug auf differenzierte Unterrichtseinheiten deutlich schlechter einschätzte als ihre Durchführungskompetenz. Möchte man dazu beitragen, den beschriebenen Konflikt zu lösen, könnte neben der Bereitstellung von gutem Unterrichtsmaterial auch die Planungskompetenz der Lehrkräfte durch entsprechende Fortbildungen verbessert werden. Wobei auch hierfür vorab gute „Best-Practice Beispiele“ konzipiert werden müssten. Ob dies gleichzeitig auch dazu beitragen kann, den Dialog der Lehrkräfte zur Konzeption von differenzierten Unterrichtssettings zu verbessen, und somit eine andersartige Teamkultur zu etablieren, bleibt zu hoffen.
Elektronisches Zusatzmaterial Zusatzmaterial 1 (DOC 4347 kb)
Gesamtfazit der Delphi-Studie
12
In diesem Kapitel werden die Ergebnisse der Delphi-Studie zusammengefasst und die übergeordnete Fragestellung zu den Chancen und Hürden im differenzierten Wirtschaftsunterricht beantwortet. Aufgrund der qualitativen Ausrichtung des Forschungsdesigns muss erwähnt werden, dass die gewonnenen Erkenntnisse zwar nicht als allgemein übertragbar zu sehen sind, aber dennoch als erste Impulse in einem wirtschaftsdidaktischen Forschungsfeld zu verstehen sind, das bisher nur wenig erforscht wurde. Die übergeordnete Leitfrage wurde dabei in die folgenden fünf Unterpunkte untergliedert. Diese werden nun im Gesamtfazit noch einmal aufgegriffen, beantwortet und sollen das Gesamtfazit entsprechend strukturieren. Die Frage nach potenziell erfolgreichen didaktischen Maßnahmen wurde dabei nicht in einem eigenen Unterkapitel beantwortet. Die Antwort zu diesem Punkt ergibt sich hingegen vielmehr aus den Erläuterungen zu den anderen Aspekten. • Wie geeignet ist das Fach Wirtschaft, um die vorhandene Heterogenität der SuS nutzen zu können? • Welche Heterogenitätsaspekte haben Einfluss auf den Wirtschaftsunterricht? • Lassen sich im Umgang mit Heterogenität und der Verwendung von Differenzierungskonzepten Parallelen oder Unterschiede zu anderen Fächern erkennen? • Welche didaktischen Maßnahmen lassen sich in einem differenzierten Wirtschaftsunterricht erfolgreich umsetzen? • Welche zukünftige Entwicklung prognostizieren die Experten für einen differenzierten Wirtschaftsunterricht?
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Hertrich, Differenzierung im Wirtschaftsunterricht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31167-4_12
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280
12 Gesamtfazit der Delphi-Studie
Die erste Befragungsrunde zeigte, dass die im Unterricht wahrgenommene Heterogenität von den Experten zwar als unterschiedlich intensiv beurteilt wurde, aber die Mehrheit der Experten die zukünftige Bedeutung von differenziertem Wirtschaftsunterricht als hoch bewertete1. Diese prognostizierte Entwicklung wäre somit im Einklang mit den bildungspolitischen Zielsetzungen und Maßnahmen in Baden-Württemberg und spricht zudem für die wirtschaftsdidaktische Relevanz der Fragestellung.
12.1 Wie geeignet ist das Fach Wirtschaft, um die vorhandene Heterogenität der SuS nutzen zu können? Diese Fragestellung wurde primär anhand der Dimension „Differenzierungsziel“ des ZAFE-Modells erörtert. Die Einschätzungen der Experten in der ersten Befragungsrunde verorteten dabei das Fach Wirtschaft mehrheitlich zwischen den Fächern Kunst bzw. Religion einerseits, die auf Kreativität oder Meinungsvielfalt angewiesen sind und andererseits dem Fach Physik, dessen Inhalte meist auf nicht diskutierbaren Naturgesetzen beruhen und sehr regelgeleitet sind. Auf Grundlage dieser Positionierung des Fachs in einem mittleren Bereich, erfolgten in Delphi 1 zahlreiche Darstellungen und Begründungen, warum wirtschaftliche Inhalte für das Einbeziehen von Vielfalt geeignet sind. Als ein Hauptargument wurde dabei auf vielseitige Möglichkeiten verwiesen, die wirtschaftliche Inhalte für das Einbeziehen von unterschiedlichen Meinungen bieten. Auf Grundlage dieser unterschiedlichen Ansichten und Meinungen lassen sich wiederum kontroverse Diskussionen gestalten oder nachzeichnen. Als weiteres wichtiges Argument wurde von den Experten auch die Multiperspektivität der wirtschaftlichen Inhalte thematisiert, die es ermöglicht, die Sachebene über unterschiedliche Perspektiven zu erschließen. Diese unterschiedlichen Perspektiven können somit auch zur Konstruktion von differenziertem Wirtschaftsunterricht genutzt werden. So wäre es beispielsweise möglich, den SuS die Möglichkeit zu bieten, sich für eine erste Bearbeitung des Inhalts interessengeleitet eine Perspektive auszuwählen, und sich erst im Anschluss auch mit den übrigen Perspektiven und Aspekten auseinandersetzen zu müssen. Eine differenzierte Darbietung der Inhalte könnte zudem durch
1Vgl. Abbildung 10.5
& 10.6.
12.1 Wie geeignet ist das Fach Wirtschaft, um die vorhandene …
281
die Umsetzung einer bisher üblichen methodischen Vielfalt aus unterschiedlichen Sozialformen, Aktionsformen und Methoden unterstützt werden. Auf der Gegenseite thematisierten die Experten in der ersten Befragungsrunde für die wirtschaftlichen Inhalte auch Grenzen für das Einbeziehen von Vielfalt. Diese Grenzen wurden vor allem bei der Vermittlung von Grundlagenwissen oder Faktenwissen gesehen. Gleiches wurde auch für Themenbereiche genannt, denen klare Regeln zugrunde liegen, wie es zum Beispiel in der Buchführung oder bei der Preisbildung der Fall ist.2 Andererseits wurden rechtliche Themenbereiche, die ebenfalls auf Regeln beruhen, als geeignet eingeschätzt, was zu weiteren Fragen führte. Die zweite Befragungsrunde präzisierte diese Ergebnisse dahingehend, ob die Möglichkeiten, um Vielfalt einzubeziehen, sich eher auf der Meinungsebene, im Sinne von kontroversen Diskussionen, verorten lassen oder ob sich hierfür eher die Sachebenen mit ihren multiperspektivischen Betrachtungsmöglichkeiten anbieten. Die Ergebnisse zeigten, dass 62 % der befragten Experten Vielfalt eher über die Meinungsebene einbeziehen würden3. Die Experten zogen aber auch eine Verbindung zwischen den beiden Bereichen. So wurde einerseits argumentiert, dass zuerst eine inhaltliche Auseinandersetzung auf der Sachebene stattfinden müsse, bevor die SuS dafür gerüstet sind, um kontroversen Diskussionen sachlich zu folgen beziehungsweise selbst über einen Sachverhalt faktenbasiert diskutieren zu können. Andererseits wurde aber auch der umgekehrte Weg beschrieben, dass durch eine Auseinandersetzung mit verschiedenen Meinungen zu einem Thema auch der Sachverhalt erschlossen werden kann. Dabei deckt sich die erste Variante4 auch mit der wirtschaftsdidaktischen Literatur. So beschreibt Loerwald (2017) die Multiperspektivität der Inhalte als eine wesentliche Voraussetzung auf der Sachebene. Um sich einen Inhalt erschließen zu können, ist demnach eine Auseinandersetzung mit mehreren Perspektiven eines Sachverhalts notwendig, was durch einen Perspektivwechsel erreicht werden kann. Hierbei kann vor allem die Gegenüberstellung von unterschiedlichen Perspektiven dazu genutzt werden, um kontroverse Bereiche darzustellen und mit den SuS zu diskutieren und somit die Inhalte auch auf einer Meinungs- oder Diskussionsebene zu betrachten.
2Vgl. Abschnitt 10.2. 3Vgl. Abbildung 11.5. 4Vgl. Abbildung 11.6.
282
12 Gesamtfazit der Delphi-Studie
Ebenfalls konnte durch die zweite Delphi-Runde geklärt werden, warum rechtliche Themenbereiche für das Einbeziehen von Vielfalt, im Gegensatz zum Rechnungswesen, in der ersten Befragungsrunde als geeignet eingeschätzt wurde. 46 % der Experten5 begründeten dies u. a. damit, dass rechtliche Themen einen offensichtlicheren und breiteren Alltagsbezug haben als Inhalte des Rechnungswesens. Diese wurden hingegen als reglementierte Zahlenkonstrukte beschrieben. Zudem legten die Experten dar, dass rechtliche Themenbereiche zwar auch auf Regeln (Gesetzen) basieren, aber hierbei deutlich größere Spielräume gegeben sind. So kann zum Beispiel ein Gesetz an sich infrage gestellt werden bzw. dessen gesellschaftliche Berechtigung diskutiert werden. Die ist im Fach Physik, das auf Naturgesetzen beruht, nicht möglich. Ebenso müssen bei der Anwendung entsprechender Paragrafen die Rahmenbedingungen für eine rechtlich einwandfreie Anwendung geprüft werden. Auch hier kann die Bewertung der Rahmenbedingungen ebenfalls zu Kontroversen führen, wodurch es wiederum möglich wäre, die unterschiedlichen Meinungen und Einschätzungen der SuS entsprechend einzubeziehen. Auch konnte in Delphi 2 (Frage B3) die vorangegangene Einschätzung zum Einbeziehen von Vielfalt im Rechnungswesen relativiert werden. So ließ sich durch die Einschätzung der Experten6 aufzeigen, dass auch im Fach Rechnungswesen unterschiedliche Möglichkeiten vorhanden sind, um die Vielfalt der SuS einbeziehen und zu nutzen zu können. Diese Möglichkeiten wurden dabei vor allem durch das Vorhandensein von vielseitigen Praxisbezügen begründet. Unter Praxisbezug ist in diesem Kontext zu verstehen, dass sich zur Vermittlung entsprechender Inhalte sehr gut alltagsnahe Beispiele konstruieren lassen, wodurch echte bzw. realitätsnahe Dokumente, wie zum Beispiel Rechnungen oder sonstige Belege, in den Unterricht einbezogen werden können. Diese tragen somit einerseits zur Motivation der SuS bei, indem dadurch unterschiedliche differenzierte Szenarien anhand von Geschäftsvorfällen simuliert werden können. Diese Möglichkeiten wurden dabei überwiegend von Experten aus den kaufmännischen Schulen thematisiert, wo diesen Inhalten eine deutliche größere Bedeutung zukommt als im Bereich der Sekundarstufe I. So werden diese Szenarien an den kaufmännischen Schulen häufig auch über die Methode der „Übungsfirma“ abgebildet. Der dritte Argumentationsstrang der Experten bezog sich auf die Eignung derartiger Inhalte für ein Arbeiten mit differenzierenden Aufgaben,
5Vgl. Abbildung 11.7. 6Vgl.
Tabelle 11.1.
12.2 Welche Heterogenitätsaspekte haben Einfluss …
283
da sich demnach unterschiedliche komplexe Aufgaben zu den entsprechenden Inhalten relativ einfach erstellen lassen. Auf Grundlage der Expertenmeinungen zeigte sich, dass das Fach Wirtschaft somit vielseitige Chancen für das Differenzierungsziel „Vielfalt einbeziehen“ bietet. Diese Möglichkeiten ergeben sich einerseits durch die wirtschaftlichen Inhalte, die es vor allem ermöglichen, die Vielfalt der SuS einzubeziehen und zu nutzen. Andererseits bietet auch die Dimension der „Differenzierungsebene“ weitere Möglichkeiten, um differenzierten Unterricht zu gestalten. So wurde von den Experten beispielsweise die Möglichkeit als geeignet bewertet, eine Differenzierung anhand der Aufgabenebene umzusetzen. Ebenso konnten verschiedene Methoden in Bezug auf ihre Eignung für einen differenzierten Wirtschaftsunterricht untersucht und bewertet werden. Die zukünftige Herausforderung wird nun darin bestehen, dieses Potenzial in konkrete Konzepte zu überführen, die von den Lehrkräften im Unterrichtsalltag verwendet werden können.
12.2 Welche Heterogenitätsaspekte haben Einfluss auf den Wirtschaftsunterricht? Sobald Unterricht differenziert konzipiert werden soll, muss die übliche Gleichschrittigkeit im Unterrichtsgeschehen zugunsten von einem oder mehreren Differenzierungsaspekten aufgelöst werden. In Verbindung zur Dimension „Differenzierungsaspekte“ bewerteten die Experten in der ersten Befragungsrunde den Einfluss ausgewählter Heterogenitätsaspekte auf die Leistung im Fach Wirtschaft und somit indirekt auch ihre Relevanz als potenzieller Differenzierungsaspekt. Auf Grundlage dieser Bewertungen konnte ein Ranking der Aspekte gebildet werden, wonach dem Aspekt „Vorwissen“ die größte Bedeutung und dem „Geschlecht“ die geringste Bedeutung attestiert wurde7. Ebenso wurde in Delphi 1 die Frage gestellt, welche Heterogenitätsaspekte in den Klassen der Experten auftreten und den Unterricht beeinflussen. Bei dieser Einschätzung kam dem Aspekt „Vorwissen“ ebenfalls eine zentrale Bedeutung zu. Aber auch weitere Aspekte, wie zum Beispiel die „Lernbereitschaft/Motivation“,
7Vgl. Abbildung 10.10.
284
12 Gesamtfazit der Delphi-Studie
sowie die „Sprachkompetenz“ der SuS, scheinen mit Blick auf den Heterogenitätsdiskurs wesentliche Einflussfaktoren im Wirtschaftsunterricht darzustellen8. Dass die Experten dem Aspekt „Geschlecht“ den geringsten Einfluss auf die Leistung im Fach Wirtschaft bescheinigten, ist insofern ein interessantes Ergebnis, da diese Einschätzung im Widerspruch zu diversen Kompetenzstudien im Bereich der ökonomischen Bildung steht (Seeber et al. 2018). Mit Ausnahme der ECOS-Studie (Macha und Schuhen 2013) schneiden Jungen bei ökonomischen Kompetenztest signifikant besser ab als Mädchen. Die Frage nach den Gründen für diese Diskrepanz wurde somit als eine wesentliche Fragestellung in der zweiten Befragungsrunde übernommen. Auch hier widersprachen rund 30 % der Experten (aus dem schulischen Bereich und dem Seminar) den Ergebnissen der Forschung. Sie begründeten ihre Bewertung jedoch nicht anhand eines objektiven Notenvergleichs, sondern anhand subjektiver Einschätzungen auf Grundlage von Unterrichtserfahrungen, bei denen auch Aspekte, wie zum Beispiel das Benehmen, die Mitarbeit oder auch die Organisationsfähigkeit einbezogen wurden. Diese Darstellung der Experten legt nahe, dass Lehrkräfte neben fachlichen Aspekten eine Reihe von weiteren Determinanten in ihre Leistungsdiagnose mit einfließen lassen und zeigt zugleich, dass die diagnostische Kompetenz der Lehrkräfte auch im Fach Wirtschaft ein komplexes Gefüge zu sein scheint, das in diesem Kontext auch weiter erforscht werden sollte. Das schlechtere fachliche Abschneiden von Mädchen in den dargestellten Kompetenztests begründeten rund 50 % der Experten vorwiegend über die Interessen der SuS. Sie gingen davon aus, dass Mädchen sozialisationsbedingt ein geringeres Interesse für wirtschaftliche beziehungsweise monetäre Fragestellungen mitbringen und sich auch mit mathematischeren Themen schwerer tun als Jungen. Die Ergebnisse der ersten Befragungsrunde konnten für den Differenzierungsaspekt „Geschlecht“ somit teilweise begründet werden. Die Argumentationen der Experten weisen aber auch darauf hin, dass zwischen einer guten Leistung im Unterricht, bei der auch Aspekte wie Mitarbeit und Benehmen etc. einbezogen werden können und einer rein fachlichen Testleistung unterschieden werden sollte. Für die ökonomische Bildung wäre dies somit eine interessante Fragestellung herauszufinden, ob und wie die Leistungen von SuS in einem Kompetenztest und der durch die Lehrkräfte gebildeten Note in Verbindung stehen. Ebenfalls wären in diesem Kontext auch weiteren Untersuchungen zur Existenz von Beurteilungsfehlern im Unterricht (z. B. „Halo-Effekt oder
8Vgl. Abbildung 10.13.
12.2 Welche Heterogenitätsaspekte haben Einfluss …
285
„Primäreffekt“) von Interesse, ebenso wie die Frage, inwiefern die im Unterricht wahrgenommene Leistung von SuS tatsächlich auch mit späteren Klassenarbeitsergebnissen bzw. Noten korreliert. Zudem konnte in Delphi 2 der Aspekt „Sprache“, der in Delphi 1 von vielen Experten unter dem Punkt „Herkunft“ subsumiert wurde, präzisiert werden. So zeigte sich durch die Einschätzungen der Experten, dass der Sprachkompetenz auch im Fach Wirtschaft eine entschiedene Rolle zukommt. Neben der allgemeinen Bedeutung der Sprachkompetenz beschrieben die Experten deren Bedeutung auch für den Wirtschaftsunterricht näher. So wurde vor allem die Relevanz von Fachbegriffen hervorgehoben, die für die Vermittlung von Fachkonzepten notwendig sind und mehrfach mit rechtlichen Themengebieten in Verbindung gebracht wurden. Ebenfalls merkten die Experten an, dass sich eine geringe Sprachkompetenz im Fach Wirtschaft auch direkt in den Abschlussprüfungen auswirken könnte, sofern die SuS nicht mehr in der Lage sind, die Prüfungsaufgaben richtig zu verstehen oder ihre Lösungen entsprechend zu artikulieren. Es wurde auch mehrfach drauf hingewiesen, dass eine schwach ausgeprägte Sprachkompetenz häufig nicht nur bei SuS mit Migrationshintergrund feststellbar ist, sondern dies auch SuS mit Deutsch als Muttersprache betrifft. Den sozio-ökonomischen Hintergrund bewerteten rund 30 % der Experten im Hinblick auf den Erwerb einer entsprechenden Sprachkompetenz als eine entscheidende Variable, ebenso wie für das Vorwissen. Für die ökonomische Bildung sind diese Erkenntnisse insofern von Relevanz, da sie die Notwendigkeit für entsprechende Handlungen verdeutlichen und zeigen, dass in einem differenzierten Wirtschaftsunterricht eine sprachliche Differenzierung, mit dem Ziel Unterschiede auszugleichen, zwingend mitgedacht werden sollte. Da dem Aspekt „Vorwissen“ in Delphi 1 sowohl die höchste Bewertung hinsichtlich seiner Bedeutung für die Leistung im Fach Wirtschaft bescheinigt wurde, als auch seine Relevanz im täglichen Unterrichtsgeschehen mehrfach beschrieben wurde, lag es nahe, diesen Aspekt auch in Delphi 2 dahingehend genauer zu untersuchen, welche Arten von ökonomischem Vorwissen dabei von den Experten als bedeutsam erachtet werden und über welche Wege sich die SuS ein derartiges Vorwissen erwerben können. Entsprechend der in Tabelle 11.5 abgebildeten Kategorien, wird deutlich, dass die Experten im Elternhaus eine sehr wesentliche Quelle für die Herausbildung von Vorwissen sehen, gefolgt von der Institution Schule und den Vereinen. Die möglichen ökonomischen Vorerfahrungen, die im Elternhaus erworben werden können, wurden von den Experten dabei sehr breit und weitläufig beschrieben und reichen von einer Heranführung der Kinder an ein Sparkonto über erste Erfahrungen mit Preisbildung auf Flohmärkten bis hin zur Auseinandersetzung mit der Rolle des
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12 Gesamtfazit der Delphi-Studie
Unternehmers, sofern ein Elternteil selbstständig tätig ist. In diesem Zusammenhang wurde auch betont, wie wichtig das Wecken von Interesse für ökonomische Zusammenhänge sei. Sehr ähnlich zum Elternhaus wurden auch die möglichen ökonomischen Erfahrungen beschrieben, die in Vereinen gemacht werden können. Das Vorwissen, welches in der Schule erworben wird, wurde hingegen vor allem im Bereich des (lehrplanbezogenen) fachlichen Vorwissens und der Berufsorientierung verortet. Hinsichtlich der Relevanz von Vorwissen überraschte die Darstellung der Experten, dass dem „nicht domänenspezifischen Grundlagenwissen“ und den „allgemeine Kompetenzen“ über die Anzahl den Nennungen eine größere Bedeutung für die Leistung im Fach Wirtschaft bescheinigt wurde, als dem domänenspezifischen Vorwissen. Auch dieses Ergebnis wirft für die ökonomische Bildung weitere Fragen dahingehend auf, warum das „domänenspezifische Vorwissen“ von geringerer Bedeutung zu sein scheint. Ebenso sollte die Art des „nicht domänenspezifischen Grundlagenwissens“ noch genauer untersucht werden, sowie seine Wirkung im Wirtschaftsunterricht. Der Aspekt der „kognitiven Grundfähigkeiten“, welcher in der ersten Befragungsrunde ebenfalls als bedeutsam für eine gute Leistung im Fach Wirtschaft eingeschätzt wurde, konnte im Sinne von mathematischen Fähigkeiten konkretisiert werden. Bei der Einschätzung, wie entscheidend mathematische Grundfähigkeiten im Wirtschaftsunterricht sind, zeigten sich klare Unterschiede zwischen der Sekundarstufe I und den Einschätzungen aus den kaufmännischen Schulen. So widersprach die Mehrheit der Experten aus dem Bereich der Sekundarstufe 1, der Darstellung, dass mathematische Fähigkeiten eine Grundvoraussetzung für eine gute Leistung im Fach Wirtschaft seien, weil auf hier hauptsächlich Zusammenhänge vermittelt würden, was auch problemlos ohne mathematische Bezüge umgesetzt werden kann. Im Bereich der Sekundarstufe II werden hingegen deutlich mehr „zahlenlastige“ Inhalte vermittelt, die mathematische Bezüge enthalten und somit wird zumindest ein grundlegendes mathematisches Verständnis vorausgesetzt. Ob das in diesen Bereichen geforderte mathematische Niveau eine ernsthafte Hürde für eine gute Leistung im Fach Wirtschaft darstellen kann, wurde von den Experten jedoch angezweifelt. Sie artikulierten vielmehr, dass der mathematische Anspruch in den letzten Jahren eher gesunken ist und plädierten dafür, wirtschaftliche Inhalte nicht weiter von der Mathematik zu entkoppeln, da die SuS in diesen Schularten auch auf ein Studium vorbereitet werden sollen, wo wiederum entsprechende mathematische Fähigkeiten verlangt werden. Für einen differenzierten Wirtschaftsunterricht legen die Ergebnisse der Delphi-Studie somit nahe, dass auf eine Niveaudifferenzierung entlang des Aspekts „mathematische Fähigkeiten“ im Sekundarbereich I eventuell verzichtet werden könnte, da dieser Aspekt im
12.3 Lassen sich im Umgang mit Heterogenität Parallelen …
287
Wirtschaftsunterricht der Sekundarstufe I kaum von Bedeutung ist. Vielmehr sollte man sich auf die Entwicklung gelingender Konzepte für eine sprachliche Differenzierung und Förderung konzentrieren. Im Sekundarbereich II müsste indessen noch präziser untersucht werden, wo mathematische Hürden existieren, um mit einer geeigneten Niveaudifferenzierung den betroffenen SuS eine entsprechende Hilfe anbieten zu können.
12.3 Lassen sich im Umgang mit Heterogenität Parallelen oder Unterschiede zu anderen Fächern erkennen? Durch die Gegenüberstellung verschiedener Fachbereiche in Kapitel 7 wurde deutlich, dass zwischen den betrachteten gesellschaftswissenschaftlichen Fächern sehr große Überschneidungen vorhanden sind, was die Konzepte zum Umgang mit heterogenen SuS betrifft9. So erforschen alle betrachteten Fachbereiche beispielsweise Schülervorstellungen zu unterschiedlichen Fachkonzepten, wobei auch zwischen den Fachbereichen, wie zum Beispiel der Politikdidaktik und der Wirtschaftsdidaktik, klare thematische Schnittmengen vorhanden sind. Ebenfalls beschreiben alle betrachteten Fachbereiche Möglichkeiten, wie differenzierte Unterrichtssettings mithilfe von geeigneten Methoden und/oder Medien umgesetzt werden können. Auch hier sind die beschriebenen Möglichkeiten meist sehr ähnlich, was auch für die Konzeption von unterschiedlichen Zugängen zu Inhalten gilt. Entgegen diesen konzeptionellen Ähnlichkeiten auf der Ebene der Fachliteratur waren die Experten in Delphi 1 der Auffassung, dass sich die Ausprägung von differenziertem Wirtschaftsunterricht von anderen Fächern unterscheidet, wobei 54 % diese Unterschiede in einem mittleren Bereich und 34 % sogar in einem hohen Bereich verorteten10. Wodurch sich diese Unterschiede konkret ergeben, konnte anhand der Fragestellung in Delphi 1 nicht weiter konkretisiert werden, weshalb dieser Aspekt in die zweite Befragungsrunde übernommen wurde. Hier verwiesen 42 % der Experten auf domänenspezifische Aspekte, die sich vor allem aufgrund von fachspezifischen Besonderheiten ergeben können und für die ökonomische Bildung bisher nach
9Vgl.
Tabelle 7.1.
10Vgl. Abbildung 10.7.
288
12 Gesamtfazit der Delphi-Studie
Ansicht des Autors noch nicht klar herausgearbeitet werden konnten. Die Einschätzungen der Experten in der zweiten Befragungsrunde lieferten hierfür jedoch erste Ansatzpunkte. So wurde in Anlehnung an die Ergebnisse zum Differenzierungsziel „Vielfalt einbeziehen“11 argumentiert, dass das Fach Wirtschaft sowohl Themen beinhalte, die meist sehr modellhaft und formalisiert unterrichtet werden und somit den Naturwissenschaften ähneln, als auch sozialwissenschaftliche Inhalte mit viele normativen Elementen. Diese Gegebenheit stellt, laut den Experten für das Fach Wirtschaft eine fachspezifische Besonderheit dar, die zugleich auch die Ausprägung beziehungsweise die Gestaltung von differenziertem Unterricht beeinflussen kann. Als weitere Besonderheit wurden zudem methodische Großformen genannt, wie zum Beispiel die Schülerfirma, die so nur im Fach Wirtschaft angewendet werden und auch mit Blick auf differenzierten Unterricht zu einer anderen Unterrichtsart beziehungsweise Ausprägung führen können. Aspekte, wie zum Beispiel „Handlungsorientierung“ oder „Aktualität und Gegenwartsbezug der Inhalte“ wurde zudem als fachspezifische Aspekte genannt. Diese genannten Prinzipien sollten jedoch vorsichtig gewertet werden, da sie zwar in der Wirtschaftsdidaktik angewendet werden, aber auch darüber hinaus. Es handelt sich hierbei vielmehr um didaktische Prinzipien, die auch in anderen Fachbereichen, wie zum Beispiel der Politikdidaktik oder der Geschichtsdidaktik, Anwendung finden. Andererseits bewerteten 58 %der befragten Experten in Delphi 2 etliche der Entscheidungsparameter von differenziertem Unterricht als fachunabhängige Gestaltungsvariablen und begründeten diese Fachunabhängigkeit vor allem durch die inhaltliche Nähe zu anderen gesellschaftswissenschaftlichen Fächern. Auch müssen bei der Planung von differenziertem Unterricht Grundüberlegungen getroffen werden, die ebenfalls als fachunabhängig betrachtet werden können. Diese Aspekte sollen nun entsprechend der ZAFE-Systematik vorgestellt werden. Differenzierungsziel Wie bereits bei der vorangegangenen Frage zusammengefasst wurde, bietet das Fach Wirtschaft klare und vielfältige Möglichkeiten, um die Vielfalt der SuS aufgreifen und nutzen zu können. Der Vergleich der unterschiedlichen Fachbereiche in Kapitel 7 legt dabei nahe, dass es sich hierbei um grundlegende Überlegungen handelt, die in vielen Fachbereichen angestellt werden. So wird beispielweis in
11Vgl. Abschnitt 11.2.
12.3 Lassen sich im Umgang mit Heterogenität Parallelen …
289
der Geschichtsdidaktik auf eine Materialdifferenzierung verwiesen, anhand derer die Vielfalt der SuS genutzt werden soll (Adamski 2017, S. 45). Aber auch die Politikdidaktik betont die Wichtigkeit einer Subjektorientierung sowie die Notwendigkeit, die politischen Inhalte an die Interessen und die Lebenswelt der SuS anzuschließen (Achour 2015, S. 5). Unabhängig von der gemeinsamen Zielsetzung kann es bei der Umsetzung, natürlich fachspezifische Besonderheiten geben. Differenzierungsaspekte Eine rückläufige Sprachkompetenz der SuS ist ebenso ein Problemfeld, das bei allen betrachteten Fachbereichen thematisiert wird. Während u. a. die Geographiedidaktik über praxisnahe Beiträge zur Sprachbildung im Unterricht (Oleschko et al. 2016) verfügt, stehen diese für die ökonomische Bildung noch aus. Die Ergebnisse der zweiten Befragungsrunde weisen jedoch auch für das Fach Wirtschaft auf einen klaren Zusammenhang zwischen der Sprachkompetenz und der Leistung hin. Die Beschreibung der sprachlichen Hürden im Wirtschaftsunterricht, wie sie in Delphi 2 erhoben wurden, sowie deren Auswirkungen12, lassen keinen Zweifel daran, dass die Bemühungen in diesem Bereich verstärkt werden sollten. Differenzierungsform Weitere domänenübergreifende Aspekte und Überlegungen zeigten sich überraschenderweise auch innerhalb der ZAFE-Dimension „Differenzierungsform“. Obwohl in der ersten Befragungsrunde für das Fach Wirtschaft domänenspezifische Möglichkeiten für die Verwendung von offenen und geschlossenen Differenzierungsformen erhoben werden sollten, zeigte sich, dass es den Experten schwerfiel eine Präferenz für eine der beiden Formen zu äußern. Stattdessen wurden die Vor- und Nachteile dieser Formen meist allgemein und fachunspezifisch beschrieben. Auch zeigten die Experten in Delphi 1 einen Konflikt auf, der so auch andere Fachbereiche betreffen dürfte. Der beschriebene Konflikt besteht darin, dass eine geschlossene Differenzierungsform aufgrund der intensiven Planung und Abstimmung der Aufgaben auf die SuS, die Lehrkräfte leicht an ihre Grenzen bringen könnte und andererseits vor allem schwache SuS durch die Auswahlmöglichkeiten bei einer offenen Differenzierungsform überfordert werden. Diese Aussagen legten nahe, in Delphi 2 zu untersuchen, ob die
12Vgl.
Tabelle 11.4.
290
12 Gesamtfazit der Delphi-Studie
Wahl der Differenzierungsform eventuell als eine eher fachunabhängige Entscheidungsvariable im ZAFE-Modell betrachtet werden kann, bei der sich in allen Fächern die gleichen Fragen stellen und entsprechende Antworten gefunden werden müssen. In der zweiten Befragungsrunde wurde dieser Konflikt von den Experten bestätigt und als ein real existierendes Problem in täglichen Unterrichtssituationen beschrieben. Eine Herausforderung besteht demnach noch immer darin, wie auf einfach Weise eine gelingende Passung zwischen dem Material und den SuS sichergestellt werden kann. Das Fehlen von geeigneten Diagnoseinstrumenten, die hierfür eingesetzt werden könnten, wird noch dabei immer als ein problematischer Aspekt gesehen. Nach Meinung der Experten sollten schwächere SuS im Wirtschaftsunterricht somit eher über geschlossene Differenzierungsformen in den Unterricht eingebunden werden, um sie mit der Einschätzung ihres eigenen Lernstandes und der Auswahl geeigneter Aufgaben nicht zu überfordern, während stärkeren SuS bei der Auswahl von Aufgaben größere Freiräume zugestanden werden könnten. Generell war bei den Experten für den Wirtschaftsunterricht eine Präferenz für eine offene Differenzierungsform erkennbar. Experten aus den beruflichen Schulen und dem Bereich der Gemeinschaftsschule wiesen zudem darauf hin, dass sich eine zu ausgeprägte Niveaudifferenzierung (formunabhängig) mit Blick auf anstehende Abschlussprüfungen eventuell auch negativ auswirken könnten und sprachen sich stattdessen für eine individuelle Förderung schwächerer SuS, außerhalb des regulären Fachunterrichts, aus. 39 % der befragten Experten äußerten sich in Delphi 2 dahingehend, dass die Wahl der Differenzierungsform grundsätzlich als eine fachunabhängige Entscheidung bewertet werden sollte und diese vielmehr von der Art des Inhalts anhängig gemacht werden sollte. Für die Wirtschaftsdidaktik kann diese Einschätzung als ein erster Hinweis verstanden werden, dass klare Entscheidungskriterien herausgearbeitet werden könnten, die von der Art des Inhalts auf eine geeignete Differenzierungsform schließen lassen. Das könnte beispielsweise durch die Konzeption, Erprobung und Bewertung entsprechender Unterrichtssequenzen geschehen, wodurch entsprechende Erkenntnisse abgeleitet werde könnten. Dass die Einschätzungen der Experten als realistisch angesehen werden können, zeigt sich auch daran, dass ein Teil der genannten Aspekte im allgemeindidaktisch geführten Diskurs zu finden ist (Bohl 2012, S. 58; Altrichter 2009). Für eine weitgehende Domänenunabhängigkeit dieser ZAFE-Dimension sprechen zudem die beschriebenen Rahmenbedingungen, die für eine erfolgreiche
12.3 Lassen sich im Umgang mit Heterogenität Parallelen …
291
Umsetzung gegeben sein sollten.13 In diesem Zusammenhang wurde angemerkt, dass weniger die Wahl der Differenzierungsform entscheidend ist, sondern die Frage, wie Differenzierung allgemein in ein gesamtschulisches Konzept eingebettet wird. Als zentrale Gelingensbedingung wurde hier vor allem die Implementation einer entsprechenden Lernkultur gesehen, die von der ganzen Schule getragen werden sollte, was zwangsläufig dazu führen würde, dass differenzierende Ansätze in allen Unterrichtsfächern angewendet werden und somit gegebenenfalls auch fachübergreifend an erfolgreichen Konzepten gearbeitet wird. Als weitere zentrale Voraussetzung wurde zudem eine gelingende Kommunikation innerhalb des Kollegiums und zu den SuS genannt. Differenzierungsebene: Sehr ähnlich zur Dimension „Differenzierungsform“ zeigten sich auch bei den Ergebnissen im Bereich der Dimension „Differenzierungsebene“ offensichtliche Parallelen zu anderen Fachbereichen. So orientierte sich die Auswahl der Methoden, welche die Experten in den beiden Befragungsrunden hinsichtlich ihrer Eignung für das Fach Wirtschaft bewerten sollten, überwiegend an der allgemeindidaktischen Literatur und der Darstellung der in Kapitel 7 verglichenen Fachbereiche. Hierbei zeigte sich bereits in der ersten Befragungsrunde, dass Methoden, die in anderen Fachbereichen in der Literatur zu differenziertem Unterricht genannt wurden,14 von den Experten auch für das Fach Wirtschaft als geeignet bewertet wurden. Die Validierung und Präzisierung dieser Einschätzungen in der zweiten Befragungsrunde zeigten zudem, dass die Vor- und Nachteile der betrachteten Methoden nicht nur das Fach Wirtschaft betreffen, sondern sehr wahrscheinlich auch in anderen Fachbereichen gelten könnten. Beispielsweise wurde die Methode „Projekt“ bei mehreren Fragen häufig als eine gute Möglichkeit zur Umsetzung einer Differenzierung im Fach Wirtschaft beschrieben, schnitt aber bei der expliziten Bewertung der Methoden15 in Delphi 1 eher im Mittelfeld ab. Die Einschränkungen der Methode wurden (mit Fokus auf den Wirtschaftsunterricht) vor allem dadurch begründet, dass einerseits geeignete Rahmenbedingungen im Sinne eines ausreichenden Zeitbudgets oder geeigneter Räumlichkeiten vorhanden sein sollten. Aus didaktischer Sicht merkten die Experten an, dass die Methode trotz weitreichender Möglichkeiten
13Vgl.
Tabelle 11.7.
14Vgl. Abschnitt 7.1./7.2 15Vgl. Abschnitt 10.5.
und Abbildung 10.14.
292
12 Gesamtfazit der Delphi-Studie
zur Differenzierung, vor allem für schwächere SuS eine Herausforderung darstellen kann, da sie ein gewisses Maß an Grundwissen und Organisationsfähigkeit voraussetzt. Die notwendige Organisationsfähigkeit wurde dabei vor allem durch die Offenheit der Projektaufgaben begründet. Sie kann sowohl die SuS aber auch die Lehrkräfte vor Herausforderungen stellen, da Projekte meist eng begleitet werden müssen, um eine Zielorientierung zu unterstützen, und andererseits den SuS Freiräume für eigene Lernerfahrungen gewährt werden sollten. Trotz dieser Herausforderungen belegte die Methode „Projekt“ im Ranking der Delphi 2-Befragung den ersten Platz, dicht gefolgt von den Methoden „Einzelarbeit“ und der „Gruppenarbeit“. Ebenso konnten in der zweiten Befragungsrunde Begründungen erhoben werden, die eine Erklärung für das schlechte Abschneiden der Methode „Gruppenpuzzle“ in der ersten Befragungsrunde bieten. Diese Begründungen liefern einerseits wertvolle Hinweise für den Einsatz der Methode im differenzierten Wirtschaftsunterricht und legen andererseits auch eine Übertragbarkeit der Argumente16 auf andere Fächer nahe. Als meistgenannter Kritikpunkt wurde dabei mehrheitlich die teilweise problematische Sicherung bzw. Verbreitung von Ergebnissen genannt, die dadurch gegeben ist, dass die SuS vor allem ihre Rolle als Experten ordentlich ausführen müssen, um die Inhalte korrekt und verständlich vermitteln zu können. Diese sind jedoch auch auf die Konzentration und Aufmerksamkeit ihrer Klassenkameraden angewiesen. Auch bietet diese Methode aufgrund der vorgegebenen Taktung kaum zeitliche Differenzierungsmöglichkeiten. Eine Niveaudifferenzierung wäre bei dieser Methode zwar theoretisch denkbar, aber auch zugleich mit einem hohen organisatorischen Aufwand verbunden, sofern schwächeren SuS einfachere Expertenthemen zugeordnet werden sollen. Insgesamt wurde der organisatorische und zeitliche Vorbereitungsaufwand bei dieser Methode als relativ problematisch eingeschätzt, was so nicht nur im Fach Wirtschaft, sondern auch domänenunspezifisch gegeben sein dürfte. Analog zur Präzisierung möglicher problematischer Aspekte wurden in der zweiten Befragungsrunde auch die Vorteile der positiv bewerteten Methoden weiter bestimmt. So wurde die Eignung17 der Methoden „Freiarbeit“ und „Lernzirkel“ für eine Differenzierung im Wirtschaftsunterricht mehrheitlich damit begründet, dass der Lernprozess direkt durch die SuS gesteuert werden kann und
16Vgl. 17Vgl.
Tabelle 11.10. Tabelle 11.9.
12.3 Lassen sich im Umgang mit Heterogenität Parallelen …
293
somit auch die individuellen Bedürfnisse der SuS besser berücksichtigt werden können. Zudem beschrieben die Experten diese Methoden als sehr klar und einfach in der Anwendung, was zugleich eine große Offenheit im Lernprozess, im Sinne von Wahlfreiheiten, ermöglicht. Auch diese Aussagen dürften auf andere Fachbereiche übertragbar sein. Die Bewertungen der verschiedenen Methoden hinsichtlich ihrer Eignung im differenzierten Wirtschaftsunterricht liefern im Sinne von Helmkes Forderung (Helmke 2017, S. 259), dass gelingende Methodenvarianten definiert werden sollten, wichtige Erkenntnisse für die ökonomische Bildung, die sehr wahrscheinlich auch domänenunspezifische genutzt wird könnten. Dieser Erkenntnisse bieten somit grundlegende Hinweise, für die methodische Gestaltung eines differenzierten Wirtschaftsunterrichts, können jedoch nur dann nachhaltig wirken, wenn sie den Weg in die Schulen finden. Analog zu den Methoden, zeigte bereits die Darstellung in Kapitel 7, dass auch der Einsatz von differenzierenden Aufgaben in vielen unterschiedlichen Fachbereichen thematisiert wird und somit als eine weitere Parallele gewertet werden kann. Die Ergebnisse der Delphi-Runden zeigen deutlich, dass die Verwendung von differenzierenden Aufgaben auch für den Wirtschaftsunterricht als geeignet eingeschätzt wurde18. Die Einsatzmöglichkeiten derartiger Aufgabenformate wurden dabei vor allem mit Blick auf aufgabenlastige Inhaltsbereiche (z. B. Rechnungswesen) beschrieben, sowie bei der Vorbereitung auf Prüfungen. Die Qualität der in den Schulbüchern vorhandenen differenzierenden Aufgabenformate wurde dabei sehr uneinheitlich eingeschätzt und ergab kein klares Bild. Eindeutig ist jedoch, dass auch die Verlage in den letzten Jahren diese Möglichkeit der Differenzierung in ihren Schulbüchern erkannt haben. Obwohl, wie in Abschnitt 5.4.2 bereits dargestellt wurde, mehrere Möglichkeiten bestehen, um Aufgaben differenziert gestalten zu können, bezogen sich die befragten Experten in Delphi 2 nur auf das Aufgabenformat mit gestuften Hilfen und schätzten dieses als geeignet ein. Zudem wurde der Bildungsplan mit seinen Niveaustufen als eine begünstigende Rahmenbedingung bewertet. Dass sich die Experten nur auf das Aufgabenformat mit gestuften Hilfen bezogen, könnte ein Hinweis sein, dass differenzierende Aufgaben im Wirtschaftsunterricht vor allem dazu eingesetzt werden, schwache SuS zu fördern und Schwächen auszugleichen. Es könnte aber auch daran liegen, dass gestufte Hilfen als differenzierendes Aufgabenkonzept
18Vgl. Abbildung 11.10.
294
12 Gesamtfazit der Delphi-Studie
eine Besonderheit darstellen, da sie bewusst konzipiert werden müssen und nicht so alltäglich sind, wie zum Beispiel das Arbeiten mit einer Projektaufgabe. Die Ergebnisse der Delphi-Studie waren jedoch dahingehend eindeutig, dass der Einsatz von differenzierenden Aufgaben im Wirtschaftsunterricht große Chancen bietet und die Wirtschaftsdidaktik gefordert ist, auch in diesem Bereich funktionierende Konzepte zu gestalten. Abschließend lässt sich festhalten, dass anhand der Delphi-Studie für alle ZAFE-Dimensionen neue Erkenntnisse für die ökonomische Bildung und die Entwicklung von differenziertem Wirtschaftsunterricht und dessen didaktische Umsetzung gewonnen werden konnten. Ebenso zeigte sich, dass viele Aspekte bzw. Hürden bei der Umsetzung nicht nur das Fach Wirtschaft betreffen, sondern auch andere Fachbereiche. Dies legt nahe, die Herausforderung von gutem differenziertem Unterricht zukünftig auch stärker fächerübergreifend zu denken und zu erforschen.
12.4 Welche zukünftige Entwicklung prognostizieren die Experten für einen differenzierten Wirtschaftsunterricht? Wie bereits in der ersten Befragungsrunde deutlich wurde, ging die Mehrheit der Experten von einer hohen zukünftigen beziehungsweise zunehmenden Bedeutung von differenziertem Unterricht aus19. Die Ergebnisse der Delphi-Studie zeigten jedoch auch, dass der Notwendigkeit von differenziertem Wirtschaftsunterricht auch limitierende Rahmenbedingungen und noch nicht gelöste Problemfelder gegenüberstehen. Vor dem Hintergrund der im Heterogenitätsdiskurs immer wieder auftauchenden Forderung, dass Lehrkräfte die Heterogenität der SuS einfach als Chance begreifen und differenziert unterrichten müssten (Bräu 2005), zeichnete die Erhebung zur Selbsteinschätzung der Planungs- und Umsetzungskompetenz ein interessantes Bild20. Tatsächlich verorteten alle befragten Experten ihre Planungs- und Umsetzungskompetenz mit Blick auf eine differenzierte Unterrichtsstunde in den oberen zwei Dritteln der Bewertungsskala und schätzten sich somit eher als kompetent ein. Auffallend dabei war,
19Vgl. Abbildung 10.5 & 10.6. 20Vgl. Abbildung 10.17 & 10.18.
12.4 Welche zukünftige Entwicklung prognostizieren …
295
dass vor allem die Gruppe der Lehrkräfte ihre Planungskompetenz schlechter einschätzte als ihre Umsetzungskompetenz. Bei den Experten aus dem Hochschulbereich war stellenweise ein umgekehrtes Bild erkennbar. Bezog sich die Selbsteinschätzung hingegen auf die Planungs- und Umsetzungskompetenz einer ganzen Unterrichtseinheit von ca. acht Unterrichtsstunden, so zeigte sich für beide Kompetenzen grundsätzlich eine ähnliche, aber deutlich negativere Selbsteinschätzung der Experten. Dies wurde vor allem im Bereich der Lehrkräfte mit Bezug auf die Planungskompetenz deutlich. Für die zukünftige Entwicklung von differenziertem Wirtschaftsunterricht stellen diese Aussagen interessante Erkenntnisse dar, die daraufhin deuten, dass Lehrkräfte mehr Hilfestellung bei der Entwicklung von differenziertem Wirtschaftsunterricht benötigen und dementsprechend vor allem die Planungskompetenz von angehenden Lehrkräften gestärkt werden sollte. Wie diese Hilfestellung konkret gestaltet sein könnte, um den Lehrkräften einen maximalen Nutzen bieten zu können, müsste jedoch noch genauer untersucht werden. Die Aussagen dieser Delphi-Studie zeigen, dass sehr häufig die Forderung nach geeignetem Unterrichtsmaterial gestellt wurde, da vor allem dessen Entwicklung als sehr zeitintensiv empfunden wird. Durch eine außerschulische Konzeption von differenzierten Unterrichtseinheiten könnten die Lehrkräfte somit in Unterrichtsvorbereitung entlastet werden und zugleich die Chance erhöht werden, dass differenzierter Wirtschaftsunterricht schneller ein Teil des täglichen Unterrichtsgeschehens wird. Zu hinterfragen wäre jedoch auch, welche Hilfestellungen im Sinne von übergeordneten Differenzierungskonzepten oder allgemeinerem Input den Lehrkräften an die Hand gegeben werden könnte, um deren Planungskompetenz zu fördern. Eine derartige Untersuchung könnte zum Beispiel an den pädagogischen Hochschulen bereits in einem sehr frühen Ausbildungsstadium, wie dem integrierten Semesterpraktikum (ISP), erhoben werden und mit den benötigten Hilfestellungen aus Sicht von Referendaren und Berufseinsteigern verglichen werden. Hieraus könnte ein zielgerichtetes Inputkonzept für die Ausbildung der zukünftigen WBS-Lehrkräfte und darüber hinaus entwickelt werden. Ebenso wurde in der ersten Delphi-Runde die Frage nach vorhandenen Hürden gestellt, die beseitigt werden müssten, damit differenzierter Wirtschaftsunterricht gelingen kann. Hierbei zeigte sich21, dass sich die Mehrheit der Äußerungen auf die organisatorischen Rahmenbedingungen bezog und vor
21Vgl.
Tabelle 10.5.
296
12 Gesamtfazit der Delphi-Studie
allem Zeitdruck, in Verbindung mit zu vielen geforderten Lehrplaninhalten und großen Klassen, als hinderliche Faktoren nannten. Dabei scheint der Faktor Zeit in zweierlei Hinsicht eine entscheidende Rolle zu spielen. Einerseits gingen die Experten davon aus, dass differenzierte Unterrichtssettings in der Umsetzung deutlich mehr zeitliche Ressourcen benötigen als gleichschrittiger Unterricht, und es aufgrund der Lehrplananforderungen in Verbindung mit gegebenen Prüfungsanforderungen zu Engpässen kommen könnte. Andererseits wurde auch bei dieser Frage die zeitaufwendige Unterrichtsvorbereitung thematisiert und dass diese Problematik nur durch besseres externes Unterrichtsmaterial, in Kombination mit einschlägigen Fortbildungsangeboten gelöst werden könne. Ebenso wurde der mangelnde Kooperationswille der Lehrkräfte als hinderlich beschrieben. Diese Hürden wurden von der Hälfte der Experten in der ersten Befragungsrunde u. a. auch als Begründung angeführt, warum die Heterogenität der SuS nach ihrer Einschätzung den Wirtschaftsunterricht in den kommenden 5 Jahren nicht nachhaltig verändern wird. Dass hier durchaus ein Konflikt zwischen den existierenden Rahmenbedingungen und dem Bedarf gegeben ist, wurde durch die Aussagen der Experten deutlich. Sie beschrieben, dass nach ihrer Einschätzung die Heterogenität der SuS, vor allem durch Aspekte wie Migration und auch Inklusion zukünftig zunehmen wird und dies im Prinzip auch den Wirtschaftsunterricht in den kommenden Jahren verändern wird. Die zweite Befragungsrunde beleuchtete diesen Konflikt zwischen dem Bedarf und den existierenden Hürden noch genauer: Hierdurch bestätigten sich die Einschätzungen der Experten aus der ersten Befragungsrunde, da sowohl der zukünftige Bedarf an differenziertem Wirtschaftsunterricht als auch die Hürden noch präziser thematisiert wurden. Die vermeintlich zentrale Bedeutung von geeignetem Unterrichtsmaterial, in Verbindung mit entsprechenden Ressourcen, wurde auch in Delphi 2 mit den meisten Nennungen genannt22. Im Vergleich zu Delphi 1 wurde zudem die Notwendigkeit betont, dass für eine positive Entwicklung von differenziertem Unterricht auch die Entwicklung einer entsprechenden Teamkultur etabliert werden müsste. Nur so könnten die damit verbundenen Herausforderungen gemeistert werden, indem die benötigten Konzepte auch dezentral in den Schulen entwickelt werden könnten. In diesem Kontext wurde auch die Notwendigkeit von entsprechender Lehrerbildung betont. Im Rahmen von Delphi 2 bestätigte sich jedoch auch die Vermutung, dass die Thematik „Heterogenität und Differenzierung“ durchaus Widerstände bei
22Vgl.
Tabelle 11.13.
12.4 Welche zukünftige Entwicklung prognostizieren …
297
den betroffenen Akteuren erzeugt. Die Mehrheit der Nennungen begründete diese Widerstände durch den notwendigen Kulturwandel. Dieser braucht einerseits Mut zur Veränderung, da zum Beispiel eine gemeinsame Konzeption von Unterrichtseinheiten die bisher übliche pädagogische Freiheit der Lehrkräfte einschränken könnte. Andererseits geht ein Kulturwandel auch immer mit einer hohen Arbeitsbelastung einher, die von den Lehrkräften möglicherweise gerne vermieden wird und somit eine entsprechende positive Entwicklung hemmen könnte. Ein Teil der genannten Hürden könnte zukünftig sicherlich durch die Entwicklung von geeigneten Konzepten und unterstützenden Maßnahmen angegangen werden. Deutlich problematischer wäre es hingegen, wenn Widerstände auf Basis einer grundlegenden Skepsis/Ablehnung gegenüber bildungspolitischen Innovationen überhandnehmen würden und sämtliche Innovationen schon von Beginn an per se verhindern würden. Stellt man die in der Delphi-Studie ermittelten Umsetzungshürden der folgenden Darstellung von Bönsch aus dem Jahre 1970 (Bönsch 1970, S. 18) gegenüber, so mag es verwundern, dass sich diese in den letzten vierzig Jahren nur relativ wenig verändert haben: • • • • • •
Generell höhere Anforderungen an die Lehrkraft, diffizilere Unterrichtsorganisation (u. a. Raum und Zeitfragen), schwierigere Umsetzung (mehr Lärm und höhere Arbeitsbelastung), zeitintensiverer Vorbereitungsaufwand, Fragen des Arbeitsmaterials (z. B.: Wer konzipiert geeignete Materialien?), Fragen der Lernprozesssteuerung und der Leistungsüberprüfung.
Zwar ist die politische Entschlossenheit, mit der die Landesregierung die Gemeinschaftsschule und generell eine verstärkte innere Differenzierung vorantrieb, vor dem übergeordneten bildungspolitischen Ziel, mehr Bildungsgerechtigkeit erzeugen zu wollen, durchaus nachvollziehbar. Betrachtet man die genannten Problemfelder auf der schulorganisatorischen Ebene, sowie auf der praktischen Unterrichtsebene, so kann es durchaus irritierend wirken, dass differenzierter Unterricht erneut politisch als ein vielversprechender Lösungsansatz propagiert wird, obwohl selbst im Jahr 2018 nur wenige zufriedenstellende Lösungsansätze für ziemlich alte Probleme gefunden zu sein scheinen. Positiv betrachtet bietet diese Ausgangslage für den Umgang mit Heterogenität noch reichliches Entwicklungspotenzial, sowohl für die ökonomische Bildung als auch drüber hinaus.
Fachdidaktische Implikation und Ausblick
13
Das Gesamtfazit in Kapitel 12 fasste die wesentlichen Ergebnisse der Delphi-Studie noch einmal zusammen und komprimierte die Chancen und Hürden, die mit einem differenzierten Wirtschaftsunterricht in Verbindung stehen. Vor allem die Darstellung der erhobenen Hürden hat gezeigt, dass die Hauptproblemfelder aus dem Diskurs der 1970er Jahre und der aktuellen Debatte noch immer sehr nahe beieinanderliegen. So wird eine erfolgreiche Umsetzung von differenziertem Unterricht auch noch im Jahr 2018 durch Aspekte, wie zum Beispiel einen sehr zeitintensiven Vorbereitungsaufwand in Verbindung mit fehlendem Arbeitsmaterial und hohen Anforderungen an die Lehrkräfte, gehemmt. Dass mehr innere Differenzierung, beispielsweise durch die Einführung von Gemeinschaftsschulen, politisch implementiert, und durch den Bildungsplan 2016 forciert wurde, ohne dass vorab auf einer breiten Basis innovative Lösungen auf alte Probleme gefunden wurden, mag verwundern. Eine wesentliche und positiv stimmende Erkenntnis dieser Arbeit ist aber auch, dass die gewonnenen Einschätzungen nahelegen, dass die domänenspezifischen Inhalte und Charakteristiken des Fachs Wirtschaft vielfältige Möglichkeiten bieten, um differenzierten Unterricht gestalten zu können, was dazu beitragen kann, der Vielfalt der SuS zukünftig besser gerecht werden können. Hierdurch kann somit auch ein Beitrag zur Generierung von mehr Bildungsgerechtigkeit geleistet werden. Zudem liefern die Ergebnisse auch für den wirtschaftsdidaktischen Diskurs neue Impulse und Erkenntnisse, die einerseits für die Aus- und Weiterbildung und Unterrichtsentwicklung Möglichkeiten aufzeigen und anderseits auch innerhalb der ökonomischen Bildung, an die wissenschaftliche Diskussionen angeschlossen werden können.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Hertrich, Differenzierung im Wirtschaftsunterricht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31167-4_13
299
300
13 Fachdidaktische Implikation und Ausblick
In diesem Zusammenhang ist vor allem das Ergebnis von Bedeutung, dass die wirtschaftlichen Inhalte aufgrund der gegebenen Multiperspektivität vielfältige Möglichkeiten für das Einbeziehen von Vielfalt bieten1, die zur Konzeption von differenzierten Unterrichtssetting genutzt werden können. Eine Möglichkeit, die gewonnenen Erkenntnisse an die bisherige Forschung anzuschließen, könnte zum Beispiel das Kompetenzmodell von Seeber et al. (2012) darstellen. In ihrem Modell definieren die Autoren situationsübergreifende Kompetenzen für den wirtschaftenden Menschen und stellen diese sehr übersichtlich dar, indem sie ökonomisch geprägte Lebenssituationen nach den beteiligen Akteuren kategorisierten (Seeber et al. 2012, S. 89). Demnach können Personen beispielsweise in der Rolle des Verbrauchers, des Arbeitnehmers oder auch des Wirtschaftsbürgers etc. auftreten. Mit jeder dieser Rollen sind zwangsläufig auch unterschiedliche Tätigkeiten beziehungsweise Interessen verbunden, und es werden jeweils unterschiedliche Kompetenzen benötigt. Dass dieses Modell als Standard in der Wirtschaftsdidaktik angesehen werden kann, zeigt die Tatsache, dass das Kompetenzmodell als Grundlage für den Bildungsplan 2016 in Baden-Württemberg diente. Für die Lehrkräfte könnte dieses Modell vor dem Hintergrund der Ergebnisse der Delphi-Studie jedoch nicht nur als Kompetenzmodell hilfreich sein, sondern zugleich auch als Orientierungsraster dienen, wenn zu bestimmten Inhalten unterschiedliche Perspektiven identifiziert werden sollen, um daraus differenzierte Unterrichtssituationen entwickeln zu können. Die in der Delphi-Studie herausgearbeitete Bedeutung der Multiperspektivität als Chance für eine Differenzierung im Wirtschaftsunterricht ist jedoch, auch im Kontext der übergeordneten kontroversen Diskussion zur Herauslösung der wirtschaftlichen Inhalte aus dem Fächerverbund und Überführung in ein eigenes Fach, gewichtig. Die Kritiker eines eigenständigen Fachs Wirtschaft, die u. a. im Bereich der Politikdidaktik zu verorten sind (Engartner 2014), führen dabei als ein Argument an, dass nur ein Integrationsfach den unterschiedlichen Perspektiven gerecht werden könne, und die ökonomische Bildung hier zu kurz greife (Lange und Menthe 2011b). Dass die Perspektivenvielfalt auch ein wesentliches wirtschaftsdidaktisches Unterrichtsprinzip darstellt, steht außer Frage (Loerwald 2008). Vielmehr wird vor diesem Hintergrund darüber gestritten, ob ein eigenständiges Fach Wirtschaft der Multiperspektivität gerecht werden kann und diese ausreichend Beachtung findet. Die Ergebnisse der Delphi-Studie, an der ein hoher Anteil an Experten aus dem schulischen Bereich vertreten waren,
1Vgl. Abschnitt 11.2.
13 Fachdidaktische Implikation und Ausblick
301
zeigten, dass der Aspekt bzw. das Prinzip der Multiperspektivität durchaus in den Köpfen derjenigen verankert zu sein scheint, die täglich an der Basis unterrichten. Dass die Multiperspektivität der Inhalte dabei als eine wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung von differenziertem Unterricht beschrieben wurde, spricht dafür, dass dieses Prinzip im Wirtschaftsunterricht sehr gut umgesetzt und angewendet werden kann. Allerdings müssten die gewonnenen Erkenntnisse hierfür noch weiter konkretisiert und in alltagstaugliche Hilfestellungen überführt werden. Die Darstellung der gegebenen Hürden zeigte, dass ein Teil von ihnen (z. B. Klassengröße, Teamkultur etc.) nicht im Aktionsradius der Wirtschaftsdidaktik liegen. Aufgabe der Wirtschaftsdidaktik sollte es vielmehr sein, die Chancen aufzugreifen, die für eine Differenzierung im Wirtschaftsunterricht identifiziert wurden und durch fachdidaktische Konzepte realisiert werden könnten. Aus der Delphi-Studie lassen sich u. a. die folgenden Forschungsfelder ableiten, die als Vorschläge in einem relativ weiten Aufgabenkreis zu verstehen sind. • Erarbeitung und Erprobung von Unterrichtsbeispielen, wie und bei welchen Inhalten der Aspekt der Multiperspektivität konkret genutzt werden kann, um die Sachebene differenziert erschließen zu können. • Erarbeitung und Erprobung von Unterrichts- und Übungseinheiten mit differenzierenden Aufgaben, die dazu beitragen können, Leistungsunterschiede in Bezug auf unterschiedliche Differenzierungsaspekte auszugleichen. • Weitere Forschungen im Bereich des sprachsensiblen Wirtschaftsunterrichts. Wie lassen sich fachsprachliche Hürden identifizieren und ausgleichen? • Konzeption und Erprobung von Lehrerfortbildungen, in denen Lehrkräfte Hilfestellungen erhalten, durch die ihre Planungskompetenz hinsichtlich differenzierter Unterrichtseinheiten im Fach Wirtschaft verbessert werden kann. Natürlich ließen sich aus den Ergebnissen noch weitere, breitere potenzielle Forschungsfelder ableiten. So könnte zum Beispiel eine intensivere Erforschung von Schülerinteressen aus einer wirtschaftsdidaktischen Perspektive hilfreich sein, sofern auch Aspekte der Motivation mit in die Entwicklung von differenzierten Unterrichtskonzepten einbezogen werden sollen. Die Deutlichkeit, mit der die Experten auf die zeitintensive Vorbereitung, den Mangel an geeigneten Materialien und den Bedarf an entsprechenden Fortbildungen zum Ausdruck brachten, sollte für die Wirtschaftsdidaktik ein Signal zum Handeln sein. Nur wenn gute Konzepte generiert werden, welche die Lehrkräfte bei der Unterrichtsvorbereitung und Umsetzung entlasten und zugleich
302
13 Fachdidaktische Implikation und Ausblick
neue innovative Impulse in die Schulen tragen können, wird es möglich sein, die Chancen für eine gelingende Differenzierung im Wirtschaftsunterricht zu nutzen. Dies könnte zugleich einen erfolgversprechenden Weg darstellen, um die vielleicht begründeten Ängste vor einer Überbelastung aufgrund bildungspolitischer Reformen abzuschwächen und somit zu einer positiven Innovationskultur beitragen zu können. Hierfür wird jedoch eine enge Zusammenarbeit aller an der Delphi-Studie beteiligten Expertengruppen eine wesentliche Voraussetzung sein.
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