Dieter Jähnig: Die Zeit der Kunst und der Bau der Geschichte: Bd. 1: Die Geschichtsstruktur der Kunst | Bd. 2: Die Erde als Horizont der Geschichte 9783495996256, 9783495996263


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Table of contents :
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Kunst und Wirklichkeit
1 Kunst als Bau
2 Technik
3 Kunst als Bild
Der Zusammenhang zwischen dem Ende der Kunst und dem Beginn der Kunstwissenschaft bei Hegel
Zur Erinnerung an Danko Grlic, Zagreb (1923–1984)
Klassik und Historie
1 Historische Methode und klassischer Anspruch
2 Historische Forschung und geschichtliche Wirklichkeit
3 Die Geschichtsstruktur des ›Klassischen‹
›Die Kunst in der Zeit der Arbeit‹ (Nietzsches ›Bayreuth-Gedanke‹)
1 Zum Geschichtsbezug der griechischen Tragödie
2 ›Die Kunst und die Revolution‹
3 Der ›Geist der Musik‹
Die moderne Kunstblindheit
1 Die Reduktion aufs Wünschbare
2 Die Reduktion aufs Nutzbare
3 Die Reduktion aufs Lesbare
›Der Ursprung des Kunstwerkes‹ und die moderne Kunst
1 Der Unterschied zwischen moderner Kunst und modernem Zeitalter
2 Aufstellung statt Vorstellung. Das Beispiel Brancusi
3 Gegenwart statt Gegenstand. Das Beispiel Giacometti
Leibhaftigkeit. Zum Werk von Antoni Tàpies
Realisation (Zum Kubismus von Georges Braque)
1 Das Problem der Aktualität in der Kunst
2 Bild-Erläuterungen: ›Den Raum greifbar machen‹
3 Nachwort: Die Zweideutigkeit der Zentralperspektive
Die Kunst und der Raum
Sprache als ›Überschuß‹
Gedanken Jacob Burckhardts zum Sprach-Charakter der Künste
1 Der Tauschcharakter der Sprache
2 Der Reichtum des Anfangs
3 Der Weltgehalt des Schmucks
›Das einzig irdisch Bleibende‹
1 ›Rätselhafter als die Wissenschaften‹
2 Weder ›Verewigung‹ noch ›Nachahmung‹
a Die Autarkie der Kunst
b ›Irdisch-unsterblich‹
c Das Paradigma der Architektur
d Kunst und Religion
e Das Merkmal der Poesie
3 ›Allgültige Bilder‹
Anhang
Zum Fall Bayreuth (1954) – Ein Leserbrief an DIE ZEIT
Der musikalische Aspekt der Sprache
Der Raum der Kunst – Vorwort 1993
Abbildungen und Bildnachweise
Kunst und Wirklichkeit
»Der Ursprung des Kunstwerkes« und die moderne Kunst
Leibhaftigkeit (Zum Werk von Antoni Tàpies)
Realisation (Zum Kubismus von Georges Braque)
Die Kunst und der Raum
Band 2
Die Beseitigung der Geschichte durch ›Bildung‹ und ›Erinnerung‹ (zu Hegel)
1 Gewißheit
2 Logik
3 Arbeit
Fachbetrieb und Sachbezug
Einleitung
1 Kulturwissenschaften und Kultur
a Die Diskrepanz zwischen fachlichem Fundament und sachlicher Dimension
b Die Unzulänglichkeit des Gebietskonzeptes
c Die Diktatur der Historizität
d Die Umkehrung der Wahrheit
e Die Unersetzlichkeit der Wissenschaft in der modernen Welt
2 Naturwissenschaften und Natur
3 Praxiswissenschaften und Praxis
4 ›Natur plus Geist‹ und Welt
Wissenschaft und Geschichte bei Droysen
1 Droysens Aktualität zu seiner wie unserer Zeit
2 Das Quellen-Schaffen der Methode
3 Die ›historische Bedeutung‹
4 Herrschaft des Fachbetriebs über den Sachbezug
Natur und Geschichte bei Schelling
Jacob Burckhardts Gedanke des ökumenischen Maßstabs
I.
II.
Die ›Kehre‹ in Heideggers Verständnis der Geschichte
1 Philosophie und Geschichte
2 Der ›Satz vom Grund‹
3 ›Seinsgeschichte‹ als Welt-Geschichte
4 Das geschichtliche Gespräch
Philosophie und Kunst
1 Nacheinander (Hegel)
2 Gegeneinander und Miteinander (Aristoteles und Kant, Schelling und Nietzsche)
Vicos verum-factum-convertuntur-These
Vico-Vorlesung 8 vom 7.12.1984
Leibniz und die Kybernetik
1 Universalisierung der Technik
a Die ›Logische Maschine‹
b ›Lösung‹ des Problems der lebendigen Natur für die Wissenschaft
2 Selbsterzeugung und Selbstorganisation
a Künstliches Gedächtnis
b ›Subjektivität‹ der Natur
c Existenz als ›Existiturire‹
Aktion
Information und Produktion
Individualität und Universalität
d Automation
3 Kybernetisches Dual-System und die chinesische Polarität von Yin und Yang
Selbstentfremdung – Weltentfremdung. Über den Zusammenhang zwischen europäischer Philosophie und moderner Technik
1 ›Subjektität‹
2 Metaphysik des Atomzeitalters
3 Die Automatik der Autonomie
4 Der Weltraum der Erde
›Die falsche Größe‹
Jacob Burckhardts Kritik der Verwechslung von Größe mit Macht
Anhang
Erinnerung an Wolfgang Schadewaldt (1974)
Einige Thesen zur ›Funktion der Geisteswissenschaften‹ in der ›Produktionsgesellschaft‹ (um 1985)
Zum Seminar: Adolf Portmann – Anthropologie und Biologie WS 1973/74
Hartmut Schröter zu: ›Die Natur der Erde‹
Editorische Notiz
Liste der Veröffentlichungen Dieter Jähnigs
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Dieter Jähnig: Die Zeit der Kunst und der Bau der Geschichte: Bd. 1: Die Geschichtsstruktur der Kunst | Bd. 2: Die Erde als Horizont der Geschichte
 9783495996256, 9783495996263

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Dieter Jähnig

Band 1

Dieter Jähnig

Die Zeit der Kunst und der Bau der Geschichte

Die Zeit der Kunst und der Bau der Geschichte

Die Geschichtsstruktur der Kunst

Die Erde als Horizont der Geschichte

https://doi.org/10.5771/9783495996263 .

Band 2

https://doi.org/10.5771/9783495996263 .

https://doi.org/10.5771/9783495996263 .

Aufsätze Band 1

Dieter Jähnig

Die Zeit der Kunst und der Bau der Geschichte Die Geschichtsstruktur der Kunst Herausgegeben von Dieter Rahn

https://doi.org/10.5771/9783495996263 .

© Titelbild: Paul Klee, Die Revolution des Viadukts, 50x60 cm, 1937, Hamburg.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-495-99625-6 (Print) ISBN 978-3-495-99626-3 (ePDF)

Onlineversion Nomos eLibrary

1. Auflage 2023 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2023. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de

https://doi.org/10.5771/9783495996263 .

Inhaltsverzeichnis

Kunst und Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

1 Kunst als Bau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

2 Technik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

3 Kunst als Bild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

20

Der Zusammenhang zwischen dem Ende der Kunst und dem Beginn der Kunstwissenschaft bei Hegel Zur Erinnerung an Danko Grlic, Zagreb (1923–1984) . . . . . . .

27

Klassik und Historie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

1 Historische Methode und klassischer Anspruch . . . . . .

35

2 Historische Forschung und geschichtliche Wirklichkeit . .

40

3 Die Geschichtsstruktur des ›Klassischen‹ . . . . . . . . .

43

›Die Kunst in der Zeit der Arbeit‹ (Nietzsches ›BayreuthGedanke‹) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

1 Zum Geschichtsbezug der griechischen Tragödie . . . . .

51

2 ›Die Kunst und die Revolution‹ . . . . . . . . . . . . . .

62

3 Der ›Geist der Musik‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

76

Die moderne Kunstblindheit . . . . . . . . . . . . . . .

101

1 Die Reduktion aufs Wünschbare

. . . . . . . . . . . . .

104

2 Die Reduktion aufs Nutzbare . . . . . . . . . . . . . . .

107

3 Die Reduktion aufs Lesbare . . . . . . . . . . . . . . . .

112

5 https://doi.org/10.5771/9783495996263 .

Inhaltsverzeichnis

›Der Ursprung des Kunstwerkes‹ und die moderne Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

115

1 Der Unterschied zwischen moderner Kunst und modernem Zeitalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

115

2 Aufstellung statt Vorstellung. Das Beispiel Brancusi

. . .

122

. .

137

Leibhaftigkeit. Zum Werk von Antoni Tàpies . . . . . . .

151

Realisation (Zum Kubismus von Georges Braque) . . . .

157

1 Das Problem der Aktualität in der Kunst

. . . . . . . . .

157

2 Bild-Erläuterungen: ›Den Raum greifbar machen‹ . . . . .

163

3 Nachwort: Die Zweideutigkeit der Zentralperspektive

. .

174

Die Kunst und der Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . .

177

3 Gegenwart statt Gegenstand. Das Beispiel Giacometti

Sprache als ›Überschuß‹

Gedanken Jacob Burckhardts zum Sprach-Charakter der Künste

193

1 Der Tauschcharakter der Sprache . . . . . . . . . . . . .

194

2 Der Reichtum des Anfangs . . . . . . . . . . . . . . . .

200

3 Der Weltgehalt des Schmucks . . . . . . . . . . . . . . .

205

›Das einzig irdisch Bleibende‹ . . . . . . . . . . . . . . .

215

1 ›Rätselhafter als die Wissenschaften‹ . . . . . . . . . . .

215

2 Weder ›Verewigung‹ noch ›Nachahmung‹ a Die Autarkie der Kunst . . . . . . . . b ›Irdisch-unsterblich‹ . . . . . . . . . c Das Paradigma der Architektur . . . . d Kunst und Religion . . . . . . . . . . e Das Merkmal der Poesie . . . . . . .

. . . . . .

220 221 225 229 240 255

3 ›Allgültige Bilder‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

258

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

6 https://doi.org/10.5771/9783495996263 .

Inhaltsverzeichnis

Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

269

Zum Fall Bayreuth (1954) – Ein Leserbrief an DIE ZEIT . . .

269

Der musikalische Aspekt der Sprache . . . . . . . . . . . .

270

Der Raum der Kunst – Vorwort 1993 . . . . . . . . . . . .

275

Abbildungen und Bildnachweise . . . . . . . . . . . . .

281

Kunst und Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

283

»Der Ursprung des Kunstwerkes« und die moderne Kunst . .

288

Leibhaftigkeit (Zum Werk von Antoni Tàpies) . . . . . . . .

291

Realisation (Zum Kubismus von Georges Braque) . . . . . .

292

Die Kunst und der Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

297

7 https://doi.org/10.5771/9783495996263 .

https://doi.org/10.5771/9783495996263 .

Kunst und Wirklichkeit1

1 Kunst als Bau Ist Kunst Nachahmung oder Schöpfung? Kunst als Erinnerung von vergangener, Kunst als Vorbild für künftige Wirklichkeit; Kunst – wirklichkeitsfördernd, Kunst – wirklichkeitsverhüllend: wann ist sie das eine, wann das andere? Wann flieht sie die Wirklichkeit? Wann trifft sie die Wirklichkeit? L’art pour l’art – Engagement, Ästhetizismus – Antikunst. Mit solchen Fragen und Begriffen wird das Verhältnis der Kunst zur Wirklichkeit diskutiert. Daß ›die Wirklichkeit‹ etwas ist, zu dem ›die Kunst‹ hinzukommt: das von der Kunst ›überbaut‹ wird, also ihr zugrunde liegt, oder in ihr ›erscheint‹, also ihr vorliegt (ihr Sinn, ihr Ziel, ihre ›Idee‹), in dem einen wie in dem anderen Fall: ihr Grund, das ist immer schon vorausgesetzt. Das meint doch schon der Name ›Wirklichkeit‹. Wir diskutieren darüber, wie ›die Kunst‹ funktioniert, wie ›die Wirklichkeit‹ durch ›die Kunst‹ verbessert oder verschlechtert wird. Das Schema von Grund und Über-Bau, sei es ›materialistisch‹, sei es ›idealistisch‹, haben wir, so lange wie es den ästhetischen Begriff ›Kunst‹ gibt, seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, als etwas scheinbar Selbstverständliches immer schon im Rücken. Als ein Über-Bau im buchstäblichen Sinn erscheint zum Beispiel eine gotische Kathedrale. Sie überragt die natürliche Wirklichkeit, die Erde, und auch noch die menschliche Wirklichkeit, die Stadt. 1 Vortrag auf der Sommerschule in Korčula (Jugoslawien) am 23. August 1971. Gegenüber der ersten Veröffentlichung in der Zeitschrift Praxis (8, 1972, S. 79–92) geringfügig korrigiert und in den Anmerkungen erweitert. (Der Vortrag wurde am 1. Dezember 1971 in der Gesamthochschule Kassel wiederholt. Eine schwedische Übersetzung erschien in der Zeitschrift Horisont, Stockholm, 20, 1973, S. 69–81.) Eine Zweiteilung der Entstehungsgeschichte der Kunst in einen mimetischen Ansatz (am Ende des Paläolithikums) und einen tektonischen Ansatz (im Neolithikum) findet sich bei Richard Hamann, Geschichte der Kunst, Bd. 2, ›Von der Vorgeschichte bis zur Spätantike‹, 1952). (Hans Sedlmayr hebt von der »eidetischen und mimetischen Phase«, mit der die »Geschichte der Kunst« im jüngeren Paläolithikum beginnt, die »tektonisch-symbolische Phase des Neolithikums« ab: ›Ursprung und Anfänge der Kunst‹, 1956, jetzt in: Sedlmayr, Epochen und Werke, 1959, S. 7–17, besonders S. 16.).

9 https://doi.org/10.5771/9783495996263 .

Kunst und Wirklichkeit

Wir glauben, eine Kathedrale wie die von Chartres oder die von Freiburg strebe von der Erde weg, zum Himmel hinauf. Oder wir sehen in ihr ein Symbol der überirdischen ›Himmelsstadt‹. In beiden Fällen begreift man das Bauwerk als Ausdruck eines überweltlichen, kritisch gesagt: eines fiktiven Interesses. Es ist sozusagen Über-Bau in der Potenz. Erstens ist das, was da ausgedrückt wird, selber schon unwirklich oder überwirklich, und zweitens ist das Bauwerk, als Ausdruck, selber noch einmal ein bloßes Bild jenes Denkens und Glaubens – dem als den Handelnsintentionen eines Zeitalters, einer Gesellschaft eine gewisse geschichtliche Realität zukommt. Über-Bau in anderer, ebenfalls buchstäblicher Weise ist ein absolutistisches Schloß, etwa Versailles, in Deutschland Ludwigsburg. Hier wird das Zugrundeliegende, die Natur, die Bevölkerung, nicht transzendiert, sondern übertrumpft. Das Schloß gilt als Ausdruck von Herrschaft. Von solchen älteren, in ihrer Kunstform selbst noch funktionalen, liturgisch, politisch motivierten und damit immerhin wirklichkeitsbe­ zogenen Bauwerken unterscheiden sich solche, wo der Scheincharak­ ter der Kunst gegenüber der Wirklichkeit ausdrücklich gewollt ist, die Kunst ein autonomes Reich neben der Wirklichkeit darstellt. Wenn noch ein Bezug besteht, dann der der Illusion oder der Verschleierung: Große Bankgebäude im 19. Jahrhundert blenden sich die Front eines griechischen Peripteraltempels als Fassade vor. Kunst ist jetzt Blen­ dung, die dem realen Zweck eine ›höhere Weihe‹ gibt. Das Sichtbare ist Fassade. Eine solche Fassade kann ungewollt zum Ausdruck der Wirklich­ keit werden, die sie eigentlich verhüllen sollte. Die pseudo-klassizis­ tische Säulenhalle am ›Haus der Kunst‹ in München offenbart in ihrer brutalen, schmuck- und rhythmuslosen Stereotypie den alles nieder­ stampfenden Marschtritt ihrer Erbauer. Auf jeden Fall, in solchen exponierten wie in den üblichen Fällen, von der englischen Neogotik seit der Mitte des 18. Jahrhunderts über die Neorenaissance und den Neubarock bis zum Neoklassizismus der 30er Jahre in Europa, entfernt sich die Kunst als ein ästhetischer ›Stil‹-Zweck von dem realen Bau-Zweck; sie löst sich von der Wirklichkeit ab. Dieser Unterschied zwischen einem Bauwerk im 17. und einem Bauwerk im 19. Jahrhundert gilt nun aber scheinbar nur für eine bestimmte Auswahl von Bauten. Sicherlich läßt sich der Wirklich­ keitsbezug eines Barockschlosses von der ästhetischen Autonomie einer neoklassizistischen Bankfassade unterscheiden. Bauwerke sind aber doch zum Beispiel auch alte und neue Brücken. Den römischen

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1 Kunst als Bau

Aquädukt des Pont du Gard in Nîmes [Abb. 5] kann man zwar ästhetisch beurteilen; von seinem Entstehungsgrund her hatte er aber doch wohl genausowenig mit ›Kunst‹ zu tun wie eine moderne Autobahnbrücke, während das Barockschloß und die Kathedrale, auch wenn es den ästhetischen Begriff von ›Kunst‹ zu ihrer Zeit noch nicht gab, auf jeden Fall so viel mit dem Phänomen von Kunst zu tun haben wie ein barockes Porträt, ein mittelalterliches Fresko oder das Bild der Nymphe Arethusa auf einer Syrakusischen Münze. Hätten wir also die ersten Beispiele nicht aus dem problema­ tischen, von vornherein zwischen Kunst und Wirklichkeit befindli­ chen Bereich der Architektur (der Bau-Kunst), sondern aus dem für eine kunstphilosophische Überlegung scheinbar viel legitimeren der Malerei (der Bild-Kunst) gewählt, dann wäre der genannte Unter­ schied zwischen Barockschloß und Bankfassade gar nicht aufgetaucht. Denn ein Bild ist doch wohl immer Kunst, in einem Fall schlechtere, in einem anderen Fall bessere Kunst; ein Bau dagegen ist einmal mehr ein Kunstwerk, ein anderes mal mehr ein Stück Wirklichkeit. Und an dem Prototyp aller Ästhetik, der Bild-Kunst, hätten wir dann den alten und neuen ›Realismus‹-Streit in der Ästhetik oder das Problem, welche Art von Wirklichkeit, der Geist oder die Materie, die Natur oder die Gesellschaft, das Ich oder das Über-Ich, für die Kunst grund­ legend ist oder grundlegend sein sollte, aufnehmen können. Doch damit hätten wir die Frage, die das Thema ›Kunst und Wirklichkeit‹ aufwirft, übersprungen: die Frage, ob Kunst überhaupt zureichend begriffen ist, wenn sie – und zwar ganz gleich, in welcher der verschie­ denen ›Künste‹, Literatur und Musik, Malerei und Plastik, Tanz und Theater – unter dem Vorbegriff des Bildes angesetzt wird. Mit diesem Vorbegriff ist ein ganz bestimmtes Verhältnis zur Wirklichkeit als Grundbegriff von Kunst undiskutiert schon vorausgesetzt, dasjenige, in dem sich von Plato bis zu Hegel und seit Hegel alle philosophische Kunstdiskussion hält: Kunst ist Mimesis. Nur innerhalb dieses Vorbegriffs (und ihn ständig versteifend) bewegt sich der Streit, ob Kunst mehr Abbild oder mehr Ausdruck, ob die Wirklichkeit, die ins Bild gesetzt wird, mehr objektiver oder mehr subjektiver Art ist, und schließlich, ob das Verhältnis zwischen diesen beiden Realitätspolen mehr affirmativer oder mehr kritischer Art ist. Unbefragt bleibt dabei, ebenso wie der Bild-Begriff selbst, auch der (aller Ästhetik vorausgehende) Begriff von ›Wirklichkeit‹ als desjenigen, worauf sich das Bild jeweils bezieht, was dem Bilden jeweils zugrunde liegt.

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Kunst und Wirklichkeit

Beides, der ästhetische Grundbegriff von ›Kunst‹ als Bild und der diesem selber noch vorausgehende logische Grundbegriff von Wirklichkeit als des Zugrundeliegenden, lassen sich nur in Frage stel­ len, wenn man sich von der suggestiven Bannkraft jenes universalen Prototyps frei macht, wonach Kunst als solche bildhaft ist. Zu diesem Zweck lohnt es sich, daß man sich dem Einwand, der sich gegen die architektonischen Beispiele ins Feld führen läßt, stellt. Stimmt es überhaupt, daß ein römischer Aquädukt oder eine moderne Auto­ bahnbrücke von ihrem Entstehungsgrund her nichts mit Kunst zu tun haben, vorsichtiger gefragt: nichts mit dem, was uns veranlaßt oder berechtigt, einen venezianischen Palast, eine islamische Moschee oder gar einen griechischen Tempel ebenso wie ein Porträt von Velazquez oder eine Fuge Bachs als Kunst zu bezeichnen? Eine alte Wasserleitungsbrücke oder eine neue Autobahnbrücke scheinen mit einem Porträt oder einem barocken Konzert nichts zu tun zu haben. Das eine ist Kunst, das andere Technik. Die Frage ist, ob diese Unterscheidung stimmt. Zu ihrer Beantwortung ist es angebracht, einen Punkt in der Geschichte aufzusuchen, der chronologisch zwar weit entfernt ist, dafür aber den Sachverhalt, um den es geht, klarer zeigt als die Beispiele, die wir zur Artikulation des Problems angeführt haben. (Dabei sei das eigene Problem des Bildcharakters in der Kunst zunächst noch ausgeklammert.) Jener Punkt in der Geschichte ist der Anfang von Geschichte, der übereinkommt mit dem des Anfangs von ›Kultur‹ oder menschlicher Gesellschaft in dem engeren Sinn von differenzierter Gesellschaft überhaupt. Die Antwort auf die Frage, ob die Bau-Beispiele nicht vorschnell Kunst und Technik vermengt haben, läßt sich dann in Gestalt einer Gegenfrage geben: Was sind die Pyramiden von Gizeh am Unterlauf des Nil, die Tempel von Uruk an der (damaligen) Mündung des Euphrat, die geometrischen Stadtanlagen von Mohenjo Daro und Harappa am Indus oder etwa auch die, nach den gleichen tektonischen Prinzipien wie Bauwerke ›aufgebauten‹ bronzenen Opfergefäße aus der am Knie des Gelben Flusses beheimateten Kultur der Shang- und Chou-Zeit Chinas [Abb. 3]? In allen diesen Fällen handelt es sich um Dokumente aus den Gründungsepochen der ersten Hochkulturen. Mit diesen Hochkulturen hat Geschichte im genauen Sinn des Wortes begonnen: Die wirtschaftliche Vorsorge, wie etwa beim Bau von Dämmen und Bewässerungsanlagen, und ebenso der Toten-, Ahnenund Heroenkult bestehen darin, daß Zukunft und Vergangenheit aus­

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1 Kunst als Bau

drücklich unterschieden und als Unterschiedene aufeinander bezogen werden. Die beiden Grundmerkmale von ›Kultur‹: Städtegründung und Ackerbau, mit den dazugehörigen Kennzeichen der sozialen Differenzierung, der handwerklichen Spezialisierung, des Handels und des Beamtentums, sind die verschiedenen Ausprägungen eines Aktes: des Aufbruchs eines ausdrücklichen Zeitbezuges. In ihm beruht der Kern des Unterschiedes zu der älteren paläo­ lithischen Jäger-, Fischer- und Sammlerwirtschaft. Seit jener Zeit, seit etwa fünftausend Jahren (in China seit etwa dreieinhalbtausend Jahren), so lange, wie es Stadt- und Landbau gibt, so lange, wie es Arbeiter und Bauern gibt, genauso lange gibt es monumentale Kunst: Architektur in Gestalt von Bauwerken und tektonisch gestalteten Siedlungen, Geräten und Figuren (Figuren wie etwa der Falkenstele aus der ersten Dynastie im Louvre [Abb. 1] oder die sumerischen Rollsiegel aus der gleichen Zeit [Abb. 2]). Nur eines gab es da noch nicht und bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts nicht: die Relation von vorgängiger ›Wirklichkeit‹ und nachträglicher ›Kunst‹. Die Bauten und Plätze, Stelen und Geräte waren nicht Abbild oder Ausdruck von etwas Vorausliegendem, etwas (faktisch oder ide­ ell) Vorherbestehendem. Sie waren vielmehr selbst der Spielraum von Entstehen und Vergehen, der Spielraum von Geschichte. In neuzeitli­ cher Denkweise gesprochen: sie waren das Geschichtsgründende. Mit den Bauten bildete sich erst der Raum für geschichtliches Handeln. Bauen hieß: errichten eines Males, d. h. von Örtlichkeit, also der Möglichkeit von Orientierung; Unterscheidung von oben und unten, von Aufstieg und Grund, chinesisch: von Yang und Yin, von Erde und Himmel, also des Bereiches der Arbeit; Entgegensetzung von links und rechts; d. h. von Ankunft und Auszug, von Heimkehr und Abschied, also des Bereiches von Erkenntnis; Differenzierung von hier und dort, von nah und fern, also des Bereiches von Handlung. Der chinesische Begriff für künstlerische Tätigkeit heißt wörtlich: ›die Lehre von chin und yüan‹, die Lehre von nah und fern. Was wir ›Kunst‹ nennen, das war – in den formalen Weisen der Zirkulierung und Quadrierung, der Achsengebung und Stufung, der antithetischen Spannung oder (wie in den ostasiatischen Dachformen) des schwe­ benden Ausgleichs, vor allem aber in der Proportionierung und Rhythmisierung – die anfängliche Kultivierung der Natur durch die Errichtung von Ordnungsprinzipien, eine Klärung nirgendwo vorlie­ gender oder ablesbarer Daseinsverhältnisse durch die Errichtung von Verhaltensregeln. In der Kunst als Bau gaben die Menschen sich, in

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Kunst und Wirklichkeit

jedem Gebiet und zu jeder Zeit jeweils anders, das heißt so, daß damit ein bestimmtes Gebiet und eine bestimmte Epoche, eine bestimmte Gesellschaft jeweils erst entstand, ihre jeweiligen Handlungsmaß­ stäbe. Das gleiche, was sich so, an den bildenden Künsten, im Ausgang von der Dimension des Raumes sagen läßt, ließe sich, im Ausgang von der Dimension der Zeit, an den ersten Formen der Dichtung, vor allem den großen Epen, wie etwa den homerischen, zeigen. An der maßgeblichen Bedeutung der homerischen Epen für die Ausbil­ dung der griechischen Gesellschaft ließe sich der konkrete Sinn des Ausspruchs von Herodot aufzeigen, wonach die Griechen sich durch Homer ›ihre Götter‹ gegeben hätten. Kunst war – vom Beginn der Hochkulturen bis zur Perikleischen Zeit Griechenlands und seither weiterhin noch häufig neben anderen Tendenzen – nicht Mimesis von Wirklichkeit, sondern Statuierung von Welt. Die Tempel auf der Akropolis waren für die attische Polis nicht nachträgliche Information über Tatbestände, sondern vorgän­ gige Formation von Intentionsstrukturen. Wenn man sich von der Herrschaft der neuzeitlich-europäischen Vorbegriffe frei macht, bemerkt man, daß diese alten Kulturen das, was wir ›Kunst‹ nennen, selbst als Weltstatuierung begriffen haben: als diejenige Aufgabe des Menschen, von der das Bestehen und die zu Zeiten notwendig werdende Erneuerung der Welt abhing. Die alten Begriffe, die wir mit ›Welt‹ oder ›Weltordnung‹ übersetzen, wie etwa das altgriechische ›Kosmos‹ oder das altägyptische ›Maat‹, bezeichnen jeweils das Ganze des Bezuges, in dem die Menschen zu einander stehen und in dem sie zu dem stehen, worauf sie angewiesen sind, zur Natur. Nur wenn man sich nicht klar macht, was jenes ›Ganze‹ ist, das durch Bilden und Bauen an bestimmten Orten aufgerichtet und durch die großen Feste zu bestimmten Zeiten erneuert werden muß, wenn man dabei lediglich an den physikalisch-außermenschlichen und indifferenten ›Kosmos‹ der neuzeitlichen Physik denkt, muß man jenen Kulturen die Unbegreiflichkeiten unterstellen, die ihnen manche Kulturhistoriker in der Tat zumuten. Welterneuerung hatte prinzipiell den Sinn, der uns noch aus der perikleischen Zeit Griechen­ lands bekannt ist: Die in Athen in jedem Frühjahr stattfindenden Tragödien-Aufführungen hatten die Bedeutung einer Polis-Erneue­ rung.

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2 Technik

2 Technik Mit dieser archäologischen Überlegung scheint nun freilich noch nichts von dem, was uns interessiert, entschieden zu sein. Denn damit wäre allenfalls der heute gültige Begriff von Kunst erweitert. Es wäre aber doch nichts an dem Verhältnis zwischen Kunst und Wirklichkeit, so wie es heute besteht, geändert. Auch dann, wenn Kunst nicht von jeher das war, was ihr heute als allgemeine Verfassung zugesprochen wird: Mimesis, und damit Abbild oder Ausdruck, Darstellung oder Vorstellung, Schein von gestriger oder Vorschein von künftiger Wirk­ lichkeit, auch dann, auch mit einer solchen historischen Revision des Begriffs würde doch offensichtlich nichts an dem aktuellen Tatbestand geändert, daß Kunst heute etwas Unwirkliches gegenüber einer vor ihr und unabhängig von ihr bestehenden Wirklichkeit ist. Auch wenn Hegels Begriff von Kunst: sie sei das sinnliche Scheinen der Idee, diese moderne Fassung des alten Mimesis-Begriffs, in ihrem universalen Gültigkeitsanspruch fraglich wäre, seine Konstatierung der modernen Lage, wonach die Kunst ihre geschichtliche Rolle ausgespielt hat und an ihre Stelle die ›Wissenschaft‹ getreten ist, diese Einsicht hat sich in den hundertfünfzig Jahren seit ihrer Deklarierung doch offenkundig nur bestätigt. Die Entwicklung der wissenschaftlichen Forschung ist diejenige Art von Interaktion, die der modernen Art von Aktion, dem indus­ triellen ›Wachstum‹, der wirtschaftlichen und politischen Konkur­ renzerhaltung, fundierend und steuernd zugehörig oder kritisch angemessen ist. Für Kunst ist da kein Platz, es sei denn, sie paßt sich als Kapitalsanlage oder als Werbungsferment der Wirtschaft, als Agitationsinstrument oder Protestvehikel der Politik, als Informati­ onsmodell oder Demonstrationsobjekt für ästhetische Theorien der Wissenschaft an. Die Kunst ist in den toten Winkel dessen abgeglitten, was man jetzt ›Kultur‹ nennt, weil die Wirklichkeit dieser Zeit die Technik ist. Eines allerdings hat sich in den hundertfünfzig Jahren, seit Hegel seine These vom Vergangensein der ›höchsten Bestimmung‹, d. h. des Wirklichkeitsbezugs der Kunst geprägt hat, doch geändert. Fast zur gleichen Zeit, wo der von Hegel konstatierte Tatbestand seine mas­ sivste Bestätigung findet, nämlich von einem regional-europäischen in einen universal-globalen Zustand übergeht, fast zur gleichen Zeit beginnt sich die Beurteilung dieses Tatbestandes zu ändern. Hegel feierte ihn noch mit Emphase, weil er darin nicht nur einen Fortschritt

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Kunst und Wirklichkeit

im Bewußtsein der Freiheit, sondern auch in der Realisierung der Freiheit sah. Wir wissen dagegen, wir sehen jedenfalls, auch wenn es zumeist noch in die alten Denkweisen zurückgebogen wird, daß die bisherige technologische Weltveränderung unter dem Schleier einer kurzfristigen Scheinfreiheit einzelner Klassen und einzelner Natio­ nen die Menschheit im ganzen vor die Gefahr der Selbstzerstörung gebracht hat. Nach einem für die Umweltkonferenz 1972 in Stockholm verfer­ tigten UNO-Bericht (um nur ein Beispiel zu nennen) müssen mehrere Millionenstädte, auch in den sogenannten Entwicklungsländern, in absehbarer Zeit, in einigen Fällen bereits in etwa zehn Jahren, von der gesamten Bewohnerschaft verlassen werden, weil sie bis dahin, und zwar irreparabel, unbewohnbar geworden sind. Dieser bevorstehende physische Suizid menschlicher Wohnstätten: wegen Wasservergif­ tung, Luftvergiftung, Zusammenbruch der Transportsysteme, ist aber nur die Besiegelung einer in den Großstädten der Industrienationen bereits seit langem im Gange befindlichen Agonie der humanen Ver­ hältnisse. In dieser Lage, in diesem neuen Licht, in das für uns der Prozeß gelangt ist, den Hegel als Vollendung der Weltgeschichte feierte, ist die – für Hegel als erledigt geltende – Frage, was das eigentlich ist, was wir mit dem Titel ›Kunst‹ bezeichnen, bedenkenswert geworden. Die ›ontologische‹ Frage: was ist Kunst?, die ›historische‹: was war Kunst? betrifft uns um der praktischen und aktuellen Frage willen, wie wir uns zu dem verhalten, was unsere Wirklichkeit ausmacht, der modernen Technik. Erkennen wir die Kunst in der Beschaffenheit, die vom Beginn der Hochkulturen bis zum Ende des Barock für sie maßgeblich war, in ihrer Bau-Struktur, dann legt sich die Vermutung nahe, daß sie einen Gegenpol zu der seit dem 18. Jahrhundert im Gange befindlichen wissenschaftlich-industriellen Wirklichkeit, der Technik, darstellt. Der griechische Name für die bauenden, die architektonischen Künste, genauer: für den bauenden Bezug des Menschen zur Natur, war Techne. Die alte Techne und die neue Technik haben eines gemeinsam: Naturentfaltung zu sein. Der Unterschied ist der, daß die alte, bauende Naturentfaltung darin bestand, daß sie Raum und Zeit statuierte, während die neue, technische Naturentfaltung (die sich selbst für Naturbeherrschung hält) in ihrer bisherigen Praxis darauf aus war, Raum und Zeit zu überwinden.

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Das ließe sich im einzelnen an dem technologischen Grundzug des kapitalistischen Wirtschaftsprinzips, dem Rentabilitätszwang, zeigen, mit seinem von Benjamin Franklin geprägten Grunddogma ›Zeit ist Geld‹ und seiner, jetzt weltvernichtend werdenden Konse­ quenz, sich nur erhalten, nur stabil bleiben zu können in progressiver Expansion; und an dem technologischen Grundzug des imperialis­ tischen Prinzips der Politik, dem Willen zur Macht, für den jeder Handlungsbereich, in der Gesellschaft wie in der Natur, Ausbeutungs­ gegenstand ist. Beide Prinzipien, das der Expansion und das der Exploitation, kommen zusammen in jener Pervertierung des Mittels zum Zweck, die sich die moderne Religion der Raum- und Zeit-Über­ windung in der Vergötzung des Verkehrs geschaffen hat. Die merkantile Bodenspekulation, die aus Wohnvierteln sterile Büro­ komplexe macht, die bürokratische Funktionsmanie, die neue Städte (wie Brasilia) oder neu aufgebaute (wie Hannover) gesichts- und leblos werden ließ, und der fast überall perfekt gewordene Verlust des Öffentlichkeitscharakters der Straßen und Plätze, der Orte also, wo das Humanum existent wurde, durch ihre Degradierung zu blo­ ßen Transport- und Abstellunterlagen: das ist die Wirklichkeit, die unwirkliche, gespenstige Wirklichkeit, aus der wir täglich – in die Scheinwelt des Fernsehens, in die Traumwelt der Drogen – fliehen. Daß dieselbe Staatsverwaltung, die stolz war, das Überschallflug­ zeug für Europa gerettet zu haben, die Pariser Hallen, nachdem sich darin ein neues Lebenszentrum von Paris herausgebildet hatte, abreißen ließ, ist ein Symptom der bisherigen Abkehr der Technik von der Techne. Bisherig: denn wenn sich an diesem Weg etwas ändern kann, dann nicht durch einen antitechnischen Affekt, sondern nur durch eine Veränderung der Technik selbst. Notwendig ist allerdings und gerade dazu eine Kritik an dem bisherigen Affekt, dem Mystizismus der Technologie: dem schrankenlosen Machbarkeitsglauben, der die Befreiung der Technik zu ihrer eigenen geschichtlichen Möglichkeit und damit unsere Befreiung verhindert. Diese Kritik hat zwei Aspekte, die beide mit der Dimension der Kunst zusammenhängen; der eine mit der bis jetzt besprochenen Verfassung der Kunst als Bau (als Techne), der andere mit der neu zu begreifenden anfänglichen Verfassung der Kunst als Bild (als Mimesis). Beides ist in unserem Jahrhundert sichtbar geworden; wir müssen nur die Augen öffnen. Zu jedem der beiden Aspekte sei hier je

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ein Beispiel aus der gegenwärtigen Kunst (a) und dessen Zusammen­ hang mit je einer der beiden Gründungstaten der ›modernen Kunst‹ (b) angeführt. a Die architektonische und damit von Haus aus soziale (gesellschafts­ bildende) Verfassung der Kunst wird gegenwärtig besonders klar von einigen jüngeren Künstlern in England erkannt. Ich zitiere eine Äußerung des Bildhauers Phillip King.2 King und seine Freunde (wie Caro und Tucker) haben ihre Konzeption von Kunst gefunden in der Abkehr von ihrem Lehrer Henry Moore. (King und Tucker waren Assistenten Moores.) Das Zitat sagt, worin diese Abkehr besteht. Es ist das Fazit eines Griechenland-Aufenthaltes 1960. (1969 hat King diese Erfahrung erneuert und ergänzt in einem Japan-Aufenthalt.) King schreibt (bei Gelegenheit einer Londoner Ausstellung sei­ ner Werke Ende 1968): Vor 1960 habe er Moore nahegestanden und der Idee, daß ein Werk sich eng an die Natur, zumal die menschliche Figur, anschließen müsse. »Der Aufenthalt in Griechenland ließ mich die Möglichkeit einer Plastik in Erwägung ziehen – the possibility of sculpture, being natural and therefore of nature [einer Plastik also, die natürlich ist]. Es schien mir, daß in Griechenland die Architektur natürlich aus der Umgebung wuchs; sie war nicht einfach wie etwas Vorgefertigtes hingeklotzt; sie war entstanden aus der Notwendigkeit des dort lebenden Volkes. It seemed of nature and not about nature ...« Und King schließt diesen Bericht: »Die Art von Kunst, die ich vorher betrieb, war zu einem gewissen Grade wurzellos, nämlich in der Weise, daß alles nur mit mir zu tun hatte, nicht mit der Außenwelt.« Seither macht King weiträumige, farbige Metallgebilde, die man nach mimetischen, d. h. unangemessenen Kategorien als ›abstrakt‹ bezeichnen würde [Abb. 9 und 10]. In Wahrheit sind sie so wenig ›abstrakt‹ wie ein griechischer Tempel oder eine buddhisti­ sche Pagode: plastisch-räumliche Aktionen, durch die das zustande kommt, was King und seine Freunde Earthbound (Erdlastigkeit), Thingness (Dingheit) und Worldliness (Welthaftigkeit) nennen. In Die Zitate von Phillip King nach: Phillip King, Sculpture 1960–1968, Katalog der Whitechapel Gallery London, September/Oktober 1968. (S. auch: Phillip King, Sculpture, Rowan Gallery London, Juli 1970; Phillip King, Kröller-Müller National Museum, Otterlo, 1974; Robert Kudielka in: Das Kunstwerk, 1968, Heft 1/2, und Studio International, Januar 1969; William Tucker, ›What Sculpture is‹, in: Studio International, Dezember 1974.). 2

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diesen ›Dingen‹, die man nicht vor sich sehen, nicht vorstellen kann, sondern in die man sich ein-sehen muß, sind wir wieder der – von Philosophie, Religion und Wissenschaft zweieinhalb Jahrtausende lang verleugnet gewesene – »wirkliche, leibliche, auf der festen, wohlgegründeten Erde stehende, alle Naturkräfte aus- und einat­ mende Mensch«.3 Earthbound ist das Gegenteil des homogenen, indifferenten cartesianischen Raumkontinuums der neuzeitlichen Wissenschaft, Thingness das Gegenteil der vom Selbstbewußtsein diktierten Gegen­ ständlichkeit, Worldliness das Gegenteil der aus dem neuzeitlichen Ansatz von ›Wirklichkeit‹ resultierenden Verselbständigung von Mensch und von ›Umwelt‹. b Unabhängig von jeder ›Stil‹-Ähnlichkeit ist damit der Sinn des Kubismus erneuert worden.4 Der Kubismus, die eine große Grün­ dungstat der modernen Kunst, wird noch immer daran gehindert, in seiner Sprache zu sprechen, in seiner Sprache gehört zu werden, durch die Übermacht der mimetischen Ästhetik, die ihm eine GegenstandsDeformierung, Gegenstands-Zersplitterung oder Gegenstands-Ana­ lyse unterstellt. Der Kubismus ist nicht Darstellung und auch nicht Vorstellung von Gegenständen, sondern Aufstellung von Welt. Ein kubistisches ›Bild‹ ist zu dem, worauf sein ›Sujet‹, zuweilen auch ein Zusatz im Bild verweist: das Spiel auf einer Gitarre, Musik von Bach oder Mozart, ein Äquivalent. Im Unterschied aber zu der mit ihrer Zeit im Einklang befindlichen Architektonik der Barockkunst steht diese moderne Raum- und Weltstatuierung in Opposition zu dem bestehenden ›Trend‹ des Zeitalters. Die kubistische Überwindung der Zentralperspektive ist eine Überwindung des imperialen Unendlich­ keitsanspruchs, unter dem das neuzeitliche Europa – in einer Syn­ these von Römertum und Christentum – die Erde zu erobern sucht. Ein Bild von Braque ist der äußerste Gegensatz zu einer Auto­ bahnbrücke, und zwar so, daß in dieser Vergleichbarkeit beide als Kunst, nämlich ein bestimmtes Verhältnis des Menschen zur Welt Das Marx-Zitat von dem »wirklichen, leiblichen« Menschen: in dem Pariser Manu­ skript ›Nationalökonomie und Philosophie‹ von 1844, in der Kröner-Ausgabe der Frühschriften, ed. Landshut, von 1968, S. 273. 4 Zum Kubismus: s. hier das Kapitel ›Realisation (Zum Kubismus von Georges Braque)‹ und die dort, in der Anmerkung 82 S. 157 genannten Gesammelten Schriften von Georges Braque. 3

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statuierend, und als Nicht-Kunst: nämlich an keiner autonom ästhe­ tischen Eigenwelt interessiert, zutage treten. In der Autobahnbrücke radikalisiert sich der Herrschaftsan­ spruch des Menschen über die Erde, der zum erstenmal im römi­ schen Imperium aufgetreten ist und in einer solchen mathematischen Negierung der Physis wie dem Pont du Gard bei Nîmes aus der Zeit des Augusts dokumentiert ist [Abb. 5]. – Die türkische Brücke in Mostar [Abb. 6], die, ohne jede Abbildhaftigkeit, in ihrer rhythmi­ schen Spannung die städtische Umgebung verbindet, der Bewegung des Flusses antwortet und den überschreitenden Menschen trägt und erhöht, ist nicht darum schöner, weil die Erbauer mehr Interesse an Ästhetik gehabt hätten, sondern weil sie dem Weltbezug des Menschen näher waren.

3 Kunst als Bild Um den zweiten Aspekt begreiflich zu machen, müssen noch zwei historische Bemerkungen eingefügt werden, eine, die sich auf den Anfang des historischen Begriffs von Kunst als Mimesis bezieht, nämlich auf Plato5, und eine zweite, die sich auf den Anfang von Kunst überhaupt bezieht: die frankokantabrischen Höhlenmalereien aus dem Ende der Altsteinzeit. Die von Hegel konstatierte und interpretierte Ablösung der Kunst durch die ›Wissenschaft‹ hat ihren – von Hegel ausdrücklich anerkannten – Vorläufer in dem berühmten Verdikt gegen die Kunst im zehnten Buch von Platos Staat. Man kann sagen: Die europäische Metaphysik (die in der neuzeitlichen Natur- und Geschichtswissen­ schaft und der modernen Technik ihren Abschluß findet) beginnt damit, daß sie die Kunst verwirft. Der Ikonoklasmus ist ihr Wesensge­ setz, in dem zugleich ihre Affinität zu einer bestimmten Tradition des Christentums lag, die sich im Protestantismus und Puritanismus als sogenannte ›Säkularisation‹ oder (mit Max Weber) ›Entzauberung‹ der Welt dem philosophischen ›Rationalismus‹ an die Seite stellte. 5 Über den Zusammenhang zwischen dem Kunsturteil im 10. Buch von Platos Staat und dem Wandel der Kunst um 400 v. Chr.: s. die beiden in der Anmerkung 90 S. 174 genannten Aufsätze von B. Schweitzer und dem 1. Abschnitt des Aufsatzes ›Die Kunst in der Zeit der Arbeit (Nietzsches ›Bayreuth-Gedanke‹)‹, ›Zum Geschichtsbezug der griechischen Tragödie‹, hier S. 51-62.

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3 Kunst als Bild

Die beiden Hauptargumente von Platos Kunstverbot sind das logische des Illusionscharakters der Malerei und das moralische des Emotionscharakters der Dichtung. Diese Argumentation ist historisch legitimiert (nur wird die historische Relativität von Plato so wenig wie von Hegel bemerkt): Was bei Plato wie bei Hegel als ›die Kunst‹ angesprochen wird, das entspricht der Wesens-Veränderung der Kunst um 400 v. Chr., der Psychologisierung und damit Subjektivierung der Dichtung (z. B. bei Euripides) und des Beginns der raumper­ spektivischen Illusionsmalerei (der ›Skenographia‹) in der bildenden Kunst dieser Zeit. Die Kunst bis zu Phidias und Sophokles wird von dem Begriff von Kunst, der allen Bilderstürmern vorschwebt, nicht getroffen. (Nur innerhalb jenes kunstfernen Kunstbegriffs kann – als Alternative zur Illusion – das Problem der ›Identität‹ auftauchen.) Der Irrtum liegt nun aber nicht nur darin, daß man die BauStruktur der Kunst übersehen hat (Plato spart sie in seiner Kunstkritik aus, Hegel kennt sie gar nicht mehr), sondern auch darin, daß die Bild-Struktur selbst erst seit Plato und endgültig in der neueren Ästhetik mit der Bedeutung von Schein, Fiktion, Illusion, Verschleie­ rung, Vernebelung, Gefühlsdumpfheit, Unausweisbarkeit verknüpft wird. Daß es eine ältere und andere Bedeutung auch der bildhaften Weise von Kunst gab, kommt bei Aristoteles noch einmal – in einem Nachhall gleichsam – zur Sprache, wenn er (wie Plato selbst im Spätwerk, den Gesetzen) als den Prototyp der Mimesis den Tanz bezeichnet und die Urform der Mimesis in der Vergegenwärtigung der alten Mythen durch das tragische Theater sieht. Damit ist gesagt, daß das Wesen der mimetischen Künste zwar durchaus im Bezug zu etwas Vorgegebenem beruht, dieser Bezug aber nicht den zweifelhaften oder schattenhaften Charakter einer bloßen Spiegelung hat, sondern den einer Vergegenwärtigung. Im Tanzen, im Singen, im tragischen ›Spiel‹ wird ein vergangenes Ereignis (bei dem es gar nichts abzuspiegeln gibt) wiederholt.6 Der Grund dieses Unterschieds zwischen Mimesis als Ausdruck und Mimesis als Handlung, zwischen Bild als Schatten und Bild als Gegenwart liegt offenbar in dem jeweils ganz verschiedenen ›Betrachter‹-Verhältnis. In dem einen Fall betrachte ich ein Erzeugnis, in dem anderen bin ich selbst der Handelnde. Mit diesem Unterschied 6 Zu dem Begriff von ›Mimesis‹ als Tanz in Platos Gesetzen und bei Aristoteles: s. Hermann Koller, Die Mimesis in der Antike. Nachahmung, Darstellung, Ausdruck, 1954 (Dissertationes Bernenses I, 5).

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im Standort (Vorstellen oder Beteiligtsein) hängt ein Unterschied in der Verfassung der Sache selbst, um die es jeweils geht, zusammen. Im Falle einer Kline (eines Lagers) – Platos Paradigma im Staat – ist natürlich der Gebrauch ›wirklicher‹ und darum wahrer als die Spiegelung auf einem Bild. Wenn es aber, wie in dem Selbsterkennt­ nisprozeß des Ödipus, in den Bestattungsagonen, aus denen das homerische Epos hervorgegangen ist, den kulturbegründenden Taten des Herakles, die in den Festspielen von Olympia erinnert wurden, in den Todes-, Hochzeits-, Ernte- und Initiationstänzen der sogenannten Primitivvölker um Leben und Tod geht, dann ist das ›Spiel‹, der Rhythmus der Farben, Klänge, Worte, Leiber, diese temporäre Wirk­ lichkeit, das Element der Wahrheit. Diese Verfassung von Kunst: Mimesis als Vergegenwärtigung, kennzeichnet – noch vor dem Beginn von Geschichte, vor dem Beginn von Kunst als Bau und damit Welt-Statuierung – den Beginn von Kunst überhaupt, nämlich in den figürlichen Knochengravierungen und den Höhlenmalereien des ausgehenden Paläolithikums. Diese etwa zwanzig- bis dreißigtausend Jahre alten ersten Zeugnisse von Kunst werden von Experten wie von Laien meist als ›Magie‹ begriffen und damit als eine bloße Fortsetzung des viel älteren Werkzeugge­ brauchs. Man unterstellt diesen Jägern, sie hätten durch das Malen eines Bisons den ›wirklichen‹ Bison ›bannen‹, den Jagderfolg bewirken wollen. Davon, daß – im Unterschied zu den Werkzeugen – auch uns diese Bilder unmittelbar faszinieren, daß sie im höchsten Sinne schön sind, wird in diesen, das moderne Zweck- und Erfolgsdenken mit einem zeitlosen Naturgesetz verwechselnden Erklärungen keine Notiz genommen. Immerhin widersprechen ihnen ethnologische Analogien, so wie sie etwa von der Schule des Frankfurter FrobeniusInstituts oder in Frankreich von Michel Leiris erforscht worden sind. Sie bestätigen die These von Georges Bataille.7 7 G. Bataille, Lascaux oder Die Geburt der Kunst, 1955 (Skira Genf); Gregor Häfliger, Autonomie oder Souveränität. Zur Gegenwartskritik von Georges Bataille, Mäander: Mittenwald 1981. Innerhalb der Vorgeschichtsforschung scheint die Distanzierung von den magischen Deutungsversuchen der Höhlenmalerei zuzunehmen. Hier sei verwiesen auf: André Leroi-Gourhan, Préhistoire de l’Art Occidental, 1965 (Editions d’Art Lucien Mazenod), deutsch: Prähistorische Kunst, 1971 (Herder Freiburg, Basel, Wien), darin das Kapitel ›Die Religion des paläolithischen Menschen‹, S. 203–220; Hermann Müller-Karpe, Geschichte der Steinzeit, 1974 (C. H. Beck München), besonders die Abschnitte über den Ursprung der Kunst in der Altsteinzeit (S. 157–163) und über die ›Bildwerke‹ im

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3 Kunst als Bild

Bataille macht darauf aufmerksam, daß es im Unterschied zu dem schon nahezu (nach neueren Funden sogar mehr als) eine Million Jahre alten Werkzeuggebrauch der Frühmenschen (wie dem Neander­ taler) Plastiken und Malereien genau so lange gibt, wie es unsere Menschenart gibt. Um einen pragmatischen Zweck zu erreichen (wie den des Nahrungserwerbs), brauchte man keine Bilder zu malen. Das Malen des Tieres [vgl. Abb. 4] war nicht die Antizipation eines vorge­ setzten Zweckes, sondern die – im Vollzug des Malens ebenso wie der Tiertänze (der Maskentänze) – stattfindende Vergegenwärtigung dessen, was der Bison, das Mammut, der Hirsch für diese Jäger waren: das Ungeheure, über Leben und Tod Entscheidende, Erregende und in einem letzten Sinn auch sympathetisch zu ihnen Gehörige. Damit ist zweierlei gesagt, erstens: Kunst war in ihrer Bild-Struk­ tur ursprünglich Vergegenwärtigung des Bezuges zwischen Mensch und Natur; und zweitens: sie war damit das, was den Menschen kennzeichnet, der vor dreißigtausend Jahren den Neandertaler auf der ganzen Erde abgelöst hat und von dem wir, die heutigen Menschen, uns biologisch-anatomisch nicht unterscheiden. Kunst war das, was – im Unterschied zum bloßen Werkzeuggebrauch des Frühmenschen – den Menschen kennzeichnet, der wir selber sind. So wie die zweite Revolution in der Entwicklung der Menschheit, die des Übergangs zur Seßhaftigkeit und damit geschichtlich-gesell­ schaftlicher Differenzierung, durch die Kunst als Bau und damit Welt-Statuierung gekennzeichnet ist, so ist die erste, der Beginn des eigentlich menschlichen Daseins, durch die Kunst als Bild, und das heißt: durch den Aufbruch der Sprache gekennzeichnet. Und so wie in dem einen Fall die Einsicht in den Bau-Charakter verweigert wird durch den ästhetischen Symbol-Begriff, so wird in

Bereich von ›Kult und Religion‹ der Altsteinzeit (S. 262–275); Karl J. Narr, Urge­ schichte der Kultur, 1961 (Kröner Stuttgart), darin das Kapitel ›Eiszeitliche Höhere Jägerkultur‹ (S. 90–163); vom gleichen Autor der Abschnitt über die ›Jüngere Urge­ schichte‹ in seinem Beitrag zu dem Sammelwerk Neue Anthropologie, hrsg. von H.-G. Gadamer und P. Vogler (dtv), Bd. 4, Kulturanthropologie, 1973, S. 39–61. – Grenzen und Möglichkeiten von Analogien zwischen ethnologischen und prähistorischen Phä­ nomenen nennt neuerdings Meinhard Schuster in seinem Vortrag ›Ethnologische Bemerkungen zum Kontinuitätsproblem‹ in: Hans Trümpy (Hrsg.), Kontinuität Dis­ kontinuität in den Geisteswissenschaften, 1973 (Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt), S. 95–114. – Zur Arbeit des Frankfurter Frobenius-Institutes sei hier ver­ wiesen auf die Sammlung: Völkerkunde. Zwölf Vorträge zur Einführung in ihre Pro­ bleme, hrsg. v. B. Freudenfeld, 1960 (C. H. Beck München).

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Kunst und Wirklichkeit

dem anderen Fall die Einsicht in den Sprach-Charakter der Kunst verweigert durch den technologischen Magie-Begriff. Daß die Sorge um eine falsche oder richtige Ansicht vom Anfang der Kunst aus einem mehr als antiquarischen Interesse kommt, das liegt daran, daß manche Zeichen, zumal der letzten Jahre, dafür sprechen, daß wir nicht nur am Ende des ›bürgerlichen‹ Zeitalters, sondern des ganzen ›geschichtlichen‹ Zeitalters, des durch Nationen und Klassen-Differenzen geprägten Weltzeitalters stehen. Es geht dabei nicht darum, das uns gewohnte ›Prozeß‹-Schema von Geschichte durch ein romantisches Kreislaufdenken, das bloße Korrelat des Entwicklungsglaubens, zu bestreiten: als wollte man wie­ der Höhlenjäger werden. Es geht darum, auch noch unser (römischneuzeitliches) Schema von Geschichte als veraltet zu erkennen. Die Möglichkeit, die im Wesen der Technik liegt, einerseits, die einzige Alternative zu der im Gange befindlichen ›Umwelt‹-Zerstörung andererseits ist eine Veränderung unseres Praxis-Horizontes. Das Prinzip der europäischen Neuzeit, das Prinzip der grenzenlosen Herr­ schaftsausdehnung, und das bedeutet: die Verwechslung von mensch­ licher Würde mit absoluter Selbstbestimmung, die Verwechslung von Freiheit mit Autonomie, sowohl in individueller wie in kollektiver Form, ist das, was sich jetzt als veraltet erweist. a Ein Weg zur Unterhöhlung dieses Prinzips besteht darin, seine Unsinnigkeit bewußt zu machen. Solche Versuche sind um so wirksa­ mer, je entschiedener sie das, was von diesem Prinzip verneint wird und, wenn es da wäre, dieses Prinzip als überflüssig zu erkennen geben würde, schon gegenwärtigmachen. Das ist der Fall bei einigen Filmregisseuren, so etwa (mehr noch als bei Godard) bei Antonioni und Bertolucci, und in den Theaterstü­ cken Becketts. Hier – wie auch in den Aufführungen Shakespeares oder Artauds durch Peter Brook, der Commedia dell’Arte oder Gorkis durch Giorgio Strehler, Sophokles’ oder Brechts durch Benno Besson – ist die Sprache nicht mehr Vermittlungsmedium, das informiert oder appelliert, sondern wieder leibhaftiger Vorgang. Das Theater, seit dem Ende des Barock der Inbegriff von Illu­ sion, wird in solchen Fällen wie Becketts eigener Inszenierung des ›Letzten Bandes‹ in West-Berlin, Bessons Inszenierung des Ödipus in Ost-Berlin zu einem Augenblick und Ort, wo die heute maßgeb­ liche Wirklichkeit, der wir uns täglich unterwerfen, nicht bloß durch bessere Gedanken kritisiert, sondern vor dem Dasein einer anderen

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3 Kunst als Bild

Wirklichkeit als das, was selber scheinhaft und gespenstig ist, zurück­ tritt. b Das Erbe aus dem Anfang der modernen Kunst, das sich auf der Bühne und im Film – in veränderter (vielleicht auch angemessenerer Form) – erneuert, ist das der anderen großen Gründungstat neben dem Kubismus: des Surrealismus. Dessen Apotheose der ›Poesie‹ sollte nicht eine romantische Alternative zur Politik sein, sondern eine Ergänzung der politischen Veränderungen. Der Surrealismus sah, daß die Polemik gegen die ›bürgerliche‹ Gesellschaftsordnung in der Gefahr steht, selber noch von deren eigenem Wirklichkeitsbegriff gefesselt zu werden: der Vorstellung, wonach ›wirklich‹ das ist, was theoretisch begreifbar, wissenschaftlich verifizierbar ist. In dem ›Zweiten surrealistischen Manifest‹ von 1930 erklärt André Breton: »Wenn es dem Surrealismus hauptsächlich darum geht, ins Gericht zu gehen mit den Begriffen Realität und Irreali­ tät, Vernunft und Unvernunft, Reflexion und Impuls, Wissen und ›gegebenes‹ Nichtwissen, Nützlichkeit und Nutzlosigkeit usw. – so besteht seine Analogie zur Intention des historischen Materialismus zumindest darin, daß er vom ›kolossalen Scheitern‹ des Hegelschen Systems ausgeht.« Und zu der Frage, ob die Kunst »ein Echo der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen der Menschheit« sein soll, sagt er, schon diese Frage verkenne »völlig das eigentliche Wesen des Denkens: unbedingt und bedingt, utopisch und realistisch zugleich zu sein«.8

Die Zitate von André Breton nach der Neuausgabe: André Breton, Die Manifeste des Surrealismus, 1968 (Rowohlt Paperback), S. 76f. Zum Surrealismus unter dem hier angesprochenen Gesichtspunkt: Dieter Rahn, Raumdarstellung und Zeitbezug in der Malerei. Zur Kunst und Kunstgeschichte André Massons, Mäander: Mittenwald 1982. 8

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Der Zusammenhang zwischen dem Ende der Kunst und dem Beginn der Kunstwissenschaft bei Hegel Zur Erinnerung an Danko Grlic, Zagreb (1923–1984)9

Das Verhältnis zwischen Philosophie und Kunst beruht für Hegel in der Dialektik von Feindschaft und Verwandtschaft. Die Natur wird von der Philosophie (derjenigen Tradition der Philosophie, der Hegel sich verpflichtet weiß und die das nachphilosophische Europa verifiziert) hinter sich gelassen; sie steht unter ihr. Was Hegel (im engeren Sinn des Wortes) Religion nennt, die nachantiken Offenbarungsreligionen, das ist ein Stadium auf dem Weg, den die Philosophie – seit Plato – selbst beschreitet und zuletzt, als »Wissenschaft«, vollendet. Die Kunst allein ist der Philosophie nah und fern zugleich. Und die so außerordentlich ausführliche, ständig auf Detailbeispiele angewie­ sene Philosophie der Kunst (Hegels Vorlesungen über die Ästhetik) hat darin ihren einheitlichen Grundzug, daß sie dieses eine Bezugs­ moment der Philosophie zur Kunst, das in dem Bindewörtchen »und«: nah und fern zugleich, ausgesprochen ist, erörtert. Daß die Konjunk­ tion »und« hier sowohl die Ähnlichkeit als auch den Unterschied bezeichnet (ähnlich der deutschen Konjunktion »oder«, die sowohl 9 Erstveröffentlichung: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, 34/1, 1989, S. 82–89. D.R. – Der Aufsatz entstammt dem Umkreis einer Vorlesung Philosophie und Kunst (zu Hegel, Plato und Nietzsche). S. dazu den Beitrag ›Philosophie und Kunst‹, in: Kulturwissenschaften. Festgabe für Wilhelm Perpeet zum 65. Geburts­ tag, hg. v. Gerhard Pfafferott, Bonn: Bouvier 1980, S. 229–243. (Hier Band 2, S. x-y.) – Den Gegenpol zu Hegel bildet J. Burckhardt. S. dazu vom Verf.: ›Kunst-Erkenntnis bei Jacob Burckhardt‹, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 58, 1984, S. 16–37; ›Jacob Burckhardts Gedanke des ökumenischen Maßstabs‹, in: Wege zur Kunst und zum Menschen. Festschrift für Heinrich Lützeler zum 85. Geburtstag, hrsg. von Frank-Lothar Kroll, Bonn 1987, S. 427–443. (Hier Band 2, S. X-y.) Die Zitate aus Hegels Vorlesungen über die Ästhetik nach der Ausgabe von Heinrich Gustav Hotho, 1835.

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Ende der Kunst und Beginn der Kunstwissenschaft bei Hegel

die Nachbarschaft des aut als auch die Gegnerschaft des vel umfaßt), – dieser kopulativ-adversative Doppelsinn eines Sachverhalts ist hier das eigentlich Denkwürdige. Man könnte ihn den Zusammenhang von Alt und Neu, von Einst und Jetzt, – in Hegels Terminologie: von »Klassik« und »Romantik«, nennen. Diesen Zusammenhang selbst auf ein Wort gebracht: Das vergangene Zeitalter der Kunst ist für uns eine Stufe. Was Hegel als die aktuelle Aufgabe der Philosophie erkennt, der Philosophie in ihrer sich selbst erfüllenden Gestalt als »Wis­ senschaft«, das ist ein Fortgang auf dem Weg, den die Kunst vor zweieinhalbtausend Jahren, im älteren Griechenland, begonnen hat. So wie innerhalb Griechenlands selber schon Plato und Aristoteles auf demjenigen Freiheits-Bewußtsein aufbauen, das die griechische Kultur in den Formen des homerischen Epos und des dorischen Tempels, der plastischen Göttergestalten und der tragischen Men­ schenkonflikte begründet hatte, so setzt das neuere Europa in der Form der »Wissenschaft« fort, was die »Kunstreligion« der Griechen angefangen hat. Dieser Fortgang ist nun ebensosehr Entfernung wie Entfaltung. Und die Entfernung besteht nicht im Vergessen, in einem Verlassen, das ein bloßes Ignorieren wäre. Wer die Herkunft nur ignoriert, der weiß ja gar nicht, wie sehr er ihr, als Ignorant, verhaftet bleibt, wie sehr er im Rausch der Aktualität, im Rausch der neuesten Moden und Sta­ tistiken sehr alte, sehr hohl gewordene Denk- und Handelnsnormen zementiert. Darauf zielte Hegel selber mit seinem Einwand gegen den ästhetischen Enthusiasmus einiger »Romantiker« der eignen Generation ab, sei es in Gestalt der Kunstfrömmigkeit Wackenroders oder auch der Kunstironie Jean Pauls, denen er zum Vorwurf machte, sie fielen mit ihrem Pathos der Kritik an dem modernen Trend zu allgemeiner Nützlichkeit und systematischer Erklärbarkeit in ein unwiderruflich vergangenes Ernstnehmen von Kunst zurück. Kunst in der gleichen Weise ernst zu nehmen wie die vorplatonischen Griechen ihre Götterstatuen oder die Gläubigen des »späteren Mittelalters« ihre Marienbilder, – dazu besteht in unserer Zeit weder ein Recht noch auch ein Weg. Dem jetzt akut gewordenen, von Hegel genauso wie von seinen »romantischen« Altersgenossen als lebensfeindlich erkannten Rationalismus des bloßen »Räsonierens« und Positivismus des »gesunden Menschenverstandes« ist nicht beizukommen, wenn man hinter ihn zurückfällt: sei es in der Gedankenlosigkeit erbaulicher Schwärmerei und »gärender Begeisterung«, sei es in einem Ersatz

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Ende der Kunst und Beginn der Kunstwissenschaft bei Hegel

des Ernstnehmens der Wirklichkeit durch den Unernst schrankenlo­ ser Ironie. Um das jetzt Gefährliche zu überwinden, muß das Alte der eige­ nen Herkunft selber noch als diese eigene Herkunft aufgenommen werden. Alles liegt hier an diesem als. Ihm gegenüber steht dem bloßen »Räsonieren« in seiner Leblosigkeit das bloße Wiederholen in seiner Kraftlosigkeit nicht nach. Der Kritiker ist hier so hilf- und heillos wie das Kritisierte selbst. Das Vergangene als Vergangenes aufzunehmen, heißt einerseits: das Frühere und Ferne in seine Stufenstellung einzuordnen, anderer­ seits das Heutige und Eigene in seiner eigenen Geschichte anzueig­ nen. Dieses doppelte Moment von Aufnehmen: des Alten auf seine (einstmalige) Zukunft hin, des Heutigen auf seine (jetzige) Vergan­ genheit hin, meint Hegel mit seinem Begriff der »Bildung«, der den Grundbegriff (den Kerngedanken) der ›Vorrede‹ zur Phänomenologie des Geistes ausmacht. Hegels ›Vorlesungen über die Ästhetik‹ sind ein praktiziertes Beispiel – vielleicht sogar das Schlüsselbeispiel – dieses Begriffs der »Bildung«. Eine »bildende« Aufnahme des Vergangenen kann es zu allen Zeiten geben. In einem betonten, potenzierten, nämlich umfas­ senden, – in einem systematischen Sinn gehört die »Bildung« aber erst dem Zeitalter zu, das – nach Hegel – den Anfang der Erfüllung dessen ausmacht, worauf hin die Geschichte von ihrem Anfang an tendiert: Die »Bildung« kennzeichnet das Zeitalter der »Wissenschaft«. Innerhalb der Geschichte der Kunst unterscheidet Hegel die drei Phasen der »symbolischen«, der »klassischen« und der »roman­ tischen« Künste: des erst nur suchenden, des erreichten, des über sich hinausweisenden Bezuges der Künste zur Welt. Auf das Ganze der Weltgeschichte hin gesehen wird eine andere Dreiteilung entschei­ dend. Auf die Periode der »klassischen« Erfüllung folgt zuerst die »romantische« Fortsetzung der »klassischen« Kunst in den zweitau­ send Jahren, wo die Wirklichkeit schon beginnt, von dem »sinnli­ chen Scheinen der Idee« unabhängig zu werden, daneben aber von Erscheinungen der Kunst (der Malerei, der Musik und der Dichtung) noch immer eine gewisse weltgeschichtliche Wirkung ausgeht: den Ritterromanen, dem holländischen Stilleben, der barocken Kirchen­ musik und neueren Dramen wie dem ›Hamlet‹, dem ›Wallenstein‹, dem ›Faust‹. Hier steht neuere Kunst noch in einem quasi ›naiven‹ Verhältnis zur alten (zur vorchristlich-»klassischen«) Kunst. Zwar ahmt sie das Alte, wenn sie selber groß ist, niemals nach. Sie weiß

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sich als ›modern‹. Und sie tritt auch durchaus schon als modern auf: als periphere Zeitkritik, nicht mehr als zentrale Zeitbegründung (wie vielleicht noch die Kunst von Byzanz oder der Gotik). Aber alte (»klassische«) Kunst ist für sie – wie beispielsweise Homer oder Sophokles in dem Goethe-Schiller-Briefwechsel – etwas zwar distanziert, aber doch noch immer entschieden ernst zu Nehmendes. Etwas gänzlich Anderes beginnt von dem Moment an, wo das Ganze der Geschichte, wo die Geschichte als ein Ganzes wahrgenommen wird, wo das Nebeneinander der überkommenen Zeugnisse (die ja, auch wenn man die Entstehungsdaten kennt – wie bei Homer, bei Sophokles oder Shakespeare, beim Straßburger Münster, bei Raffael oder Händel –, von neueren Künstlern wie Schiller und Goethe, Haydn und Mozart nach ihrem jetzigen Ernstnehmen-Können und nicht nach ihrem chronologischen Abstand aufgenommen wurden), – wo dieses okkasionelle Nebeneinander des ›Alten‹ zu dem systema­ tischen Nacheinander des Vergangenen wird. Dazu genügt nicht das bloße Überliefertsein und auch nicht die bloße ›Patina‹ des Alters. Dazu gehört entscheidend das moderne Ein­ arbeiten in das jetzt erst zu gewinnende Bewußtsein des Geschichts­ prozesses. Dieses weltgeschichtliche Novum, dieses gegenwartsverän­ dernde Novum, – nach Hegels Überzeugung gleich radikal ins Ganze der Wirklichkeit eingreifend wie beispielsweise einstmals der Beginn der »Kunstreligion« zur Zeit Homers oder der Beginn der Unterschei­ dung von Außenwelt und Innenwelt mit dem Christentum –, dieses weltgeschichtliche Novum vollzieht die historische Systematik, die Hegel als die »Arbeit« der »Bildung« begreift und innerhalb der Zuwendung zu den Künsten als den Umschlag vom Ernst der Kunst zum Ernst der Kunst-»Wissenschaft«. Dieser Umschlag kennzeichnet in Hegels Ästhetik das zweite große Ende, das Ende auch noch der nachantik-modernen, der »romantischen« Kunst. Das erste Ende, das Ende der »klassischen Kunst« (nach Hegels Ansicht in der eignen »Trauer« der griechischen Götter schon vorgeahnt; II, S. 78 f.), mußte tragischen Charakter haben: das Ende einer unwiederbringlichen Fülle. Das Ende der »romantischen Kunst« dagegen kann nur – komischen Charakter haben: ein Ende, das weiß, daß seine eigene Erfüllung nur außerhalb seiner zu finden ist. Dieses Ende ist kein allmähliches Aufhören der ›Produktivität‹, auch kein Schwächerwerden der öffentlichen und privaten ›Rezep­ tion‹. Beides kann sich sogar steigern. Es ist überhaupt keine Evolu­

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tion, sondern – um mit einem Ausdruck Kants zu reden, den dieser von der ›kopernikanischen‹ Wende der neuzeitlichen Naturwissen­ schaft gebraucht hat (in der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft) – eine »Revolution der Denkart«. Deren Name ist – in dem von Hegel gemeinten und gebrauchten Sinn der Sache –: »Ästhetik«. Die »klassische« Kunst endet, indem ihr »klassischer« Charak­ ter, ihre »absolute« Bedeutung relativiert wird. Das ist der Beginn der »romantischen« Kunst. Die »romantische« Kunst endet, indem ihr eigener Geschichtsbezug perfektioniert wird. Darin beruht die Leistung der Kunst-»Wissenschaft«. Sie deckt das Ganze, das »Sys­ tem« des Dreischritts »symbolisch«-»klassisch«-»romantisch« als das historische Gesetz der neueren Kunst auf und besiegelt damit deren eigene Abschlußfunktion. Sie erst bringt das – seinem geschichtli­ chen Gesetz nach – Abschließende zum Abschluß. Erst damit findet die latente Gefahr eines immer noch »klassisch«-Ernst-nehmen-Kön­ nens von Kunst ihr endgültiges Ende. Die »Wissenschaft« der Kunst – so wie Hegel sie versteht und praktiziert – macht selber erst damit ernst, daß unsere Zeit den Küns­ ten keinen Ernst mehr entgegenzubringen braucht. (Vgl. dazu den Schlußpassus des zweiten Teils: ›Das Ende der romantischen Kunst­ form‹, II, S. 228 ff.) Bliebe der Prozeß des Luxurierens, des Überflüssig- und Gleich­ gültigwerdens der Künste im Ganzen des Zeitalters sich selber über­ lassen, dann bliebe die Ambivalenz von faktischem Verschwinden und latenter Erneuerungsgefahr noch immer aktuell. Eine Gefahr wäre dies aus demselben Grund, der die Künste einstmals zu einem höchsten Bedürfnis legitimiert hatte. Was einstmals Erscheinung war, wäre jetzt Verschleierung. Der Sachverhalt, daß »wir«, daß unsere Epoche in der Tat »darüber hinaus« ist, »Werke der Kunst göttlich verehren und sie anbeten zu können«, wie es an der Übergangsstelle der ›Einleitung‹ heißt (I, S. 14), muß institutionalisiert werden. Die moralische For­ derung des »Geistes«, den Willen zur Autonomie gegen jeden Rück­ fall in die alte Bindung an die »Sinnlichkeit«, an die »Natur«, also an das (wie die Phänomenologie-Vorrede sagt) »unfreie Pathos« bloßer Anschauung abzusichern, – diese Forderung verlangt, den generellen Anspruch der Moderne, »allgemeine Formen, Gesetze, Pflichten, Rechte, Maximen als Bestimmungsgründe« anzusetzen (I, S. 15), auf den Sonderfall der Kunst ausdrücklich anzuwenden. Und das bedeu­

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tet, systematisch mit dem ernst zu machen, was – nach Hegels Über­ zeugung – die »Reflexionsbildung unseres heutigen Lebens« (a. a. O.) ermöglicht: unser Verhältnis zu den Künsten einem »höheren Prüf­ stein und anderweitiger Bewährung« auszusetzen (I, S. 14). Was neu entsteht, was von Altem überliefert (oder neu entdeckt) wird, hat für uns nicht nur »die ächte Wahrheit und Lebendigkeit« von einst »verloren« (I, S. 16). Es gilt vielmehr, diesen ›Verlust‹, der in Wahrheit ja eine Befreiung ist, noch eigens zu besiegeln. Wir haben nicht nur zuzusehen, wir haben selbst zu praktizieren, daß – wie Hegel in dem Übergangspassus der ›Einleitung‹ sagt – »was durch Kunst­ werke jetzt in uns erregt wird«, »außer dem unmittelbaren Genuß zugleich« zu einer Sache unsres »Urtheils« wird, – so nämlich, daß »wir den Inhalt, die Darstellungsmittel des Kunstwerks und die Ange­ messenheit und Unangemessenheit beider unserer denkenden Betrachtung unterwerfen« (a. a. O.). Eben das leistet –, eben das praktiziert Hegel im Ganzen seiner Vorlesungen »über die Ästhetik«, das heißt: seiner Aufzeichnung und Vorzeichnung eines Systems der Kunst-Epochen und Kunst-Gat­ tungen, das jedem Einzelphänomen, das jedem der vielen Kunstzeug­ nisse, das jedem der vielerlei Zugänge zur Kunst seinen Platz im Ganzen der Geschichte zuweist; – und das heißt: ihm seine Stufen­ stellung zuweist, die seine Wahrheit ausmacht, die das Phänomen begreifbar macht. Zu wissen, warum eine Dichtung wie die homerischen Epen unter den Bedingungen ihrer Zeit (in dieser vergangenen, uns nicht mehr nachvollziehbaren ›Weltanschauung‹, mit ihrer uns noch erkennbaren Gestaltungsweise) eine ganze Epoche zu sich selbst brin­ gen konnte, heißt: mit der Analyse der geschichtlichen ›Bedeutung‹ zugleich dieses Perfectum, dieses ›so war es einmal‹ zu besiegeln: Uns geht das auch noch, – aber nur noch um der »denkenden Betrachtung« willen an. Die Transposition der Überlieferung in die »Bildung« bildet, d. h. sie erschließt uns den Horizont unserer eigenen Zukunft. Was einstmals »Welt« hervorrief, ist jetzt – indem wir eben diesen Welt­ bezug analysieren – für uns zum Stoff der eigenen Welt geworden. Dem entspricht das Prinzip der Einteilung dieser Vorlesungen. Teil I, Kapitel 1: Der »Begriff des Schönen überhaupt«, stellt für die Kapitel 2 und 3 die Folge von »Natur«- und »Kunstschönem« auf. – Teil II: Die drei großen Phasen: »symbolisch«, »klassisch«, »roman­ tisch« = »Erstreben, Erreichen und Überschreiten« (I, S. 106). – Teil

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III: Die verschiedenen Gattungen als die Entfaltung dieser histori­ schen Systematik. Die »Wissenschaft« von der Kunst, scheinbar nur ein neutraler Spiegel des Geschehens, ist in Wahrheit der Vollzug des Umschlags vom Geschehenden zum Geschehenen. Als Thema von »Wissen­ schaft« ist Kunst nicht mehr Subjekt von Geschichte, sondern Objekt von – »Ästhetik«. Der Unterschied Hegels zu den späteren (direkt oder indirekt von ihm inspirierten) ästhetischen und literatur-, musik- und kunsthisto­ rischen Disziplinen ist der, daß er diese eigene praktische (den Gang der Geschichte selbst verändernde) Bedeutung der Theorienbildung selber noch erkannt hat. Hegel weiß, daß historisches Erkennen mehr als nur »Erkennen«, mehr als nur ein Rezipieren ist, – genauso wie Kant noch wußte, daß Natur-Erkenntnis ein Natur-Verändern ist: Wir reden uns ein, erst seit Newton wüßten wir, was ein Stern ist. In Wahr­ heit wissen wir seit Newton nur, was ein Stern dann ist, wenn wir ihn nach dem Maßstab, der ihn mit einem Stein vergleichbar macht (dem Maßstab der Ortsveränderung, der Energiegesetzlichkeit), befragen. Im Falle der Kunst hat Hegel selbst den Unterschied genannt (zumindest ansatzweise). Wo die Kunst noch ihre »höchste Bestim­ mung« erfüllte, war sie – wie die griechische Epik und die griechische Plastik – an die Duplizität von Helligkeit und Dunkelheit, von apol­ linischem Weitblick und altertümlicher Statuarik, von »geistiger« Klarheit und »naturhafter« Undurchsichtigkeit gebunden. Unser »Bedürfnis«, »was Kunst sey wissenschaftlich zu erkennen« (I, S. 16), emanzipiert die Überlieferung, indem sie das einstmals Aufgestellte in die Bewegung der Historie verflüssigt, sie der »Schwere«, der Erd­ gebundenheit, die ihren angestammten »Welt«-Bezug ausmacht, ent­ reißt. Ähnlich wie die Physiker auf die Umwandlung der Energien, die Genetiker auf die Umwandlung der Informationen, sind die Kunst­ historiker auf die Umwandlung der Formenergien und Bedeutungs­ intentionen gerichtet. Was wir – genauso wie die Menschen einst­ mals, in Athen und Venedig, in Straßburg und Florenz, in London und Leipzig – je und je sehen und hören könnten, bleibt ausgespart: »Unser Knie beugen wir doch nicht mehr« (I, S. 135). Ob das »Ernst«-nehmen einstmals überhaupt ein »Knie beugen« war, kann mit dieser Vorent­ scheidung: wir müssen ins Ganze einordnen, wo man einstmals in die Unmittelbarkeit der »Anschauung« »versenkt« gewesen war, nicht einmal mehr zur Frage werden, weil man mit diesem christlich-theo­

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logischen Begriff des ›Anbetens‹ (der ›Aura‹) dem Alten (dem grie­ chisch- und auch dem römisch-Alten) erst das Signum des uns unzu­ gänglich fremd Gewordenen, Archaischen, aufdrückt. Die Bedeutung dieser Philosophie der Kunst für die Philosophie selber besteht darin, daß sie sich auf diesem Weg von den Lasten ihrer eigenen Vergangenheit befreit. Als »Wissenschaft der Kunst« befreit sich die Philosophie, indem sie die Kunst historisch begreift und damit vergangen macht, auch von der Kunst in sich selbst. Hegel wird damit zum Testamentsvollstrecker Platos, der in der Kunst den Antipoden der Philosophie im Hinblick auf deren Rolle für den Bestand der Polis sah. Die Ordnung der Gemeinschaft: entweder orientiert an der Kunst (der Mimesis) oder an der Philosophie, – ein Entweder-Oder, dessen Sinn sich ausdrücken läßt, wenn man sagt: entweder Desorientierung oder wirkliche Orientierung. In diesem Grundzug der Antinomie erneuert Hegel den Ansatz Platos. Was für diesen die Gefährdung des Staates durch die Dichter ist, das ist für Hegel die Gefährdung der Phi­ losophie selber durch das, was er in der ›Vorrede‹ zur Phänomenologie des Geistes die »ästhetische Anschauung« nennt. Die »Begeisterung, die wie aus der Pistole geschossen kommt«, ersetzt »die harte Arbeit des Begriffs«. Erbauung und Ekstase nehmen die Stelle ein, die der Prüfung und Vermittlung zugehört. Wenn das Wahre das Ganze ist, dann kann man auf die Aneignung der Stufen, in denen sich der Kampf zwischen Wahrheit und Irrtum abgespielt hat, nicht verzichten. Die Energie der Welt-Entwicklung kann nur mit der eignen ›Energie‹ des Denk-Prozesses, mit dem »Ernst«, dem »Schmerz«, der »Geduld und der Arbeit des Negativen« aufgearbeitet werden. Was für die Offenbarung des Glaubens an den einen Gott die heidnische Vielgötterei ist, das ist für die Arbeit des einheitlichen Wissens die künstlerische Undurchsichtigkeit: die Gebundenheit der Kunst an die Grenzen von Zeit und Raum. Zur eigenen Größe der Griechen gehört für Hegel deren eigne Kraft zur Wendung, die Fähig­ keit, selber schon diese Begrenzung der Kunst als die Beschränkung der Kunst durchschaut zu haben: »Im Ganzen hat sich der Gedanke früh schon gegen die Kunst als versinnlichende Vorstellung des Gött­ lichen gerichtet; bei den Juden und Muhamedanern z. B., ja selbst bei den Griechen, wie schon Plato sich stark genug gegen die Götter des Homerus und Hesiodus opponirte« (I, S. 134).

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1 Historische Methode und klassischer Anspruch Im Jahre 1930 fand in Naumburg ein Symposium von führenden Ver­ tretern der klassischen Altertumswissenschaften unter dem Thema ›Das Problem des Klassischen und die Antike‹ statt11; in Naumburg, also in der unmittelbaren Nähe von Schulpforta, der Erziehungsstätte von Wilamowitz und Nietzsche. Das Problem dieser Tagung war die Frage, ob dem Gegenstand einer besonderen Gruppe von historischphilologischen Wissenschaften ein mehr als nur historisch-philologi­ sches Interesse zukommt, die Frage, ob die klassische Antike nur noch etwas ›Antikes‹ oder ob sie noch das ist, was den Sinn der Wissen­ schaften, die sich mit ihr beschäftigen, einstmals ausgemacht hatte, Unter dem gleichen Titel zuerst erschienen in: Argo, Festschrift für Kurt Badt, 1970, S. 35–45. (Dann in: D. J., Welt-Geschichte: Kunst-Geschichte. Zum Verhältnis von Vergangenheitserkenntnis und Veränderung, DuMont Schauberg: Köln 1975, S. 112– 121. D.R.) Mit dem am Klassizismus orientierten Bildungsbegriff der ›Klassik‹ und dessen Problematik befassen sich einige neuere Veröffentlichungen aus dem Bereich der klassischen Philologie: Manfred Fuhrmann und Hermann Fränkle, ›Wie klassisch ist die klassische Antike?‹ (1970); Walter Jens, ›Antiquierte Antike?‹ (1971, Sylter Beiträge); Egidius Schmalzriedt, ›Inhumane Klassik‹ (1971, mit einem Anhang: Belege und Dokumente, S. 29–133); Richard Kannicht, ›Philologia Perennis?‹, in der Tübin­ ger Universitätszeitschrift Attempto 39/40, 1971, S. 46–71. (Dort zuerst auch die Vorträge von Jens und Schmalzriedt.) – Eine Sammlung älterer und neuerer Schriften zum Problem der ›Klassik‹ in der Germanistik: Heinz Otto Burger (Hrsg.), ›Begriffs­ bestimmung der Klassik und des Klassischen‹, 1972 (Wissenschaftliche Buchgesell­ schaft). 11 Das Problem des Klassischen und die Antike, acht Vorträge, gehalten auf der Fach­ tagung der klassischen Altertumswissenschaft zu Naumburg 1930, herausgegeben von Werner Jaeger, Neuauflage in der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft 1961. Besonders verwiesen sei hier auf die Vorträge von Helmut Kuhn, ›’Klassisch’ als his­ torischer Begriff‹), Johannes Stroux, ›Die Anschauungen des Klassischen im Altertum‹ und Paul Friedländer, ›Vorklassisch und nachklassisch‹. – Aus der späteren Diskussion über diese Tagung seien hier genannt: der Aufsatz von Alfred Körte, ›Der Begriff des Klassischen in der Antike‹, Berichte der sächsischen Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Klasse 86, 1943, H. 3, und die Rezension von Bruno Snell über W. Jaegers ›Paideia‹, in: Göttingische Gelehrte Anzeigen 197, 1935, S. 329–353. 10

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Klassik und Historie

eben ›klassisch‹. Der Titel der Tagung ›Das Problem des Klassischen und die Antike‹ bezeichnete die Diskrepanz, die während der groß­ artigen Entfaltung der Altertumswissenschaften im Verlauf des 19. Jahrhunderts zwischen dem spezifisch wissenschaftlichen Interesse dieser Wissenschaften und der einstmaligen allgemeinmenschlichen, genauer: pädagogisch-normativen Bedeutung dieses Gegenstandes aufgebrochen war, die Diskrepanz zwischen Historizität und Klassizi­ tät. Der Zweck jenes Symposions war nun freilich kein prinzipiell wissenschaftskritischer, sondern (der gegenständlichen Frageweise der Wissenschaften selbst entsprechend) allein auf den eigenen Gegenstandsbereich, die Antike, gerichtet. Es ging dem Inaugurator der Tagung, Werner Jaeger, dem Autor der ›Paideia‹, und seinen Fachkollegen nicht um die Frage, was Historizität und Klassizität überhaupt sind, sondern um die Frage, ob ihr eigener Gegenstand, die Antike, noch einen klassischen Rang beanspruchen kann oder nicht. Es ging um die Frage, ob ein ›neuer Humanismus‹ möglich sei: Kann die Antike noch einmal zu einer die eigene Zeit, die Gegenwart, prägenden erzieherisch-vorbildlichen Macht werden? Kann sie selber noch einmal Paideia-Charakter gewinnen? Im Unterschied nun zu dieser (an einen bestimmten historischen Gegensatz geknüpften) Fragestellung soll hier das Problem von Klas­ sik und Geschichte überhaupt betrachtet werden – noch vor der Festlegung auf eine bestimmte historische Epoche und den Hinblick auf ein bestimmtes wissenschaftliches Fach. Um aber dieses Thema näher zu erläutern, den eigentlichen Frage-Punkt herauszuholen, ist eine Reflexion auf die Naumburger Tagung hilfreich. So utopisch auch das Motiv dieser Tagung, die Hoffnung auf einen neuen Humanismus, gewesen ist, ein Moment an diesem Motiv ist doch bedenkenswert: daß nämlich diese Gruppe von histori­ schen Wissenschaften, eine Reihe von Vertretern dieser Gruppe von Wissenschaften, sich überhaupt der Frage stellten, wie es mit dem ursprünglichen Sinn ihrer Wissenschaft steht. Im Unterschied zu den anderen (gleichzeitigen) Versuchen einer neuen Antiken-Verehrung – wie etwa im George-Kreis – sollte hier ja nicht die universale und irreversible Macht der Wissenschaft verleug­ net werden. Es war vielmehr die Absicht, einen neuen Humanismus (einen mehr als nur historischen Bezug zur Antike) in dem glei­ chen Element herstellen zu können, in dem der letzte Humanismus seine Lebensmacht verloren hatte, nämlich der zur Zeit von Goethe,

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1 Historische Methode und klassischer Anspruch

Humboldt und Hegel bereits aufgekommenen historisch-kritischen Wissenschaft. Eben dieses Element, das sich seit einem Jahrhundert als das Ferment der Auflösung des ›Klassischen‹ erwiesen hatte, sollte zur Grundlage seiner neuen Aktualisierung gemacht werden. (In der Anerkennung und sogar Mobilisierung der modernen Wissenschaft zur Abwehr ihrer eigenen Folgen kann man das Unternehmen Jaegers mit dem – auch zeitlich benachbarten – von Bultmann vergleichen, wie unvergleichlich auch immer die Wirkungen waren.) In diesem Punkt des Motivs hat die Naumburger Tagung – ganz unabhängig von dem Mißerfolg ihres eigentlichen Zieles – ein allgemeines Verdienst. Sie hat das Bewußtsein eines Sachverhaltes gefördert, der gar nicht die Antike und den Humanismus speziell betrifft, sondern die moderne Wissenschaft im ganzen: die Frage, was aus einer Sache wird, wenn sie in den Status eines Forschungsgegen­ standes tritt. Sie hat das Bewußtsein davon gefördert, daß zwischen einer Sache selbst und ihrem Ansatz als Gegenstand von Wissenschaft eine Differenz bestehen kann.12 Dieses prinzipiell wissenschaftstheoretische und wissenschafts­ kritische Problem besitzt in einigen besonderen Wissenschaften ledig­ lich einen besonderen Grad an Signifikanz. Nicht überall wird das Problem – das Bewußtsein, daß hier überhaupt ein Problem steckt, daß hier die Möglichkeit einer Diskrepanz besteht – in gleichem Maße deutlich. So ist unter den Naturwissenschaften in diesem Punkt die Medizin problembewußter als etwa die Astronomie; die Theologie ist darin problembewußter als etwa die Linguistik; und innerhalb der philologisch-historischen Wissenschaften kommen der Altphilologie und der klassischen Archäologie ein Vorrang an Pro­ blembewußtsein zu.13 Werner Jaeger nennt diesen Sachverhalt am Schluß seiner Einführung zur Ausgabe der Naumburger Vorträge: »Der Versuch, das Klassische wissenschaftlich faßbar zu machen, rührt an die Grundfrage der Objektivität des geschichtlichen Erkennens und ihrer Vereinbarkeit mit dem lebendigen Erfassen der Werte in der Geschichte.« (Das Problem des Klassischen, S. IX). 13 Das Werk von Kurt Badt zeichnet sich durch die Verbindung von Problembewußt­ sein und Interpretationspraxis aus. In beiden Momenten und in ihrem Zusammen­ hang liegt ein Anstoß zu diesem Versuch über das geschichtliche Problem des ›Klas­ sischen‹. Das eine: die Interpretationsarbeit Badts, die von dem Interesse am Rang des großen Werkes (des großen Œuvre) und seiner Erkenntnis bestimmt ist – und darum wohl auch in der Beschäftigung mit der (in eminenter Weise ›klassischen‹) Malerei Frankreichs ihren Mittelpunkt hat, mit denjenigen Meistern zumal, deren Klassizität unter dem Vorurteil der bloßen Modernität (wie im Falle von Cézanne oder Delacroix) 12

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Klassik und Historie

Dieses in der Naumburger Tagung zwar nicht eigens reflektierte, aber virulent gewordene prinzipielle Problem: das Verhältnis zwi­ schen Wissenschaft und Sache überhaupt, hat – zehn Jahre nach dieser Tagung, in einem Vortrag während des letzten Weltkrieges – Karl Reinhardt durch die Formel ausgedrückt: ›Die klassische Philologie und das Klassische‹.14 In dieser Formel ist ausdrücklich auf die Dis­ krepanz gewiesen, durch die der konkrete Fall, das Verhältnis von Philologie und Antike, zugleich von allgemeiner Bedeutung ist: die Problematik im Verhältnis von Inhalt und Form der Wissenschaft überhaupt. Unmittelbar wird dieser Sachverhalt – weitere zwanzig Jahre später, 1960, – durch Hans-Georg Gadamer in dem Titel seines Hauptwerks: ›Wahrheit und Methode‹ formuliert.15 Es soll hier also das Verhältnis von Klassik und Historie als ein Beispiel für das Verhältnis von Wissenschaft und Sache betrachtet werden. ›Klassik‹ soll zunächst nur – ganz formal – den besonderen Rang- oder Dignitätsanspruch bezeichnen, der eine Sache (einen besonderen Gegenstandsbereich oder eine besondere Geschichtsepo­ che) vor anderen auszeichnet. Mit dem ›Historischen‹ ist diejenige Sachverfassung bezeichnet, in die eine Sache a priori rückt, unter der sie von vornherein angesetzt wird, wenn sie Thema der Wissen­ schaften wird, die für die Phänomene des Klassischen zuständig sind, der historischen Wissenschaften. Jede Erscheinung, der einmal das oder dem des bloßen Klassizismus (wie im Falle von Poussin) verdeckt war; das andere: eine wissenschaftskritische Arbeit, die, auf diese Interpretationen gegründet, in ihren vielfältigen Angriffszielen von dem durchgängigen Bewußtsein der Spannung zwischen Wissensintention und Sachverfassung im Falle der Wissenschaft von der Kunst geleitet ist. – Zum Verhältnis von Kunst und Geschichte in der Arbeit Kurt Badts: s. jetzt den Konstanzer Gedächtnisvortrag von Hans Robert Jauß, ›Kurt Badts Apologie der Kunst‹, der in der Reihe ›Konstanzer Universitätsreden‹ (zusammen mit einem Vortrag von Max Imdahl) unter dem Titel ›Kurt Badt zu Ehren‹ 1975 (im Universitätsverlag Konstanz) erscheinen wird. 14 Karl Reinhardt, ›Die klassische Philologie und das Klassische‹ (Vortrag von 1941), in: Reinhardt, Vermächtnis der Antike, 1959, und Reinhardt, Die Krise des Helden, 1962 (dtv 93), S. 115–143 (danach die Zitate). – S. auch die in Vermächtnis der Antike abgedruckten Gedenkworte Reinhardts auf Wilamowitz, Ludwig Curtius, Gilbert Murray und Walter F. Otto. – Verwiesen sei auch auf die Aufsätze zum Problem des Humanismus und die Nachrufe auf Wilamowitz und Karl Reinhardt in der Aufsatz­ sammlung Hellas und Hesperien von Wolfgang Schadewaldt, in der zweiten Ausgabe von 1970, Bd. 2, S. 436–607 und 698–707. 15 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, 1960 (3. Aufl. 1972). – Zu den hier angesprochenen Gedanken Gadamers vgl. Harald Patzer, ›Der Humanismus als Methodenproblem der klassischen Philologie‹, in: Studium Generale 1, 1948, S. 84–92.

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1 Historische Methode und klassischer Anspruch

Signum der Klassizität zukam oder der dieses Signum zukommen kann, gehört ja von vornherein der Geschichte an. Der Widerstreit in dem Terminus ›klassische Antike‹: Gegenwärtigkeit im Anspruch und Vergangenheit in der Faktizität, ist offenbar der Sache selber immanent. Wenn wir etwas ›klassisch‹ nennen, dann ist das stets etwas – irgendwie – Altes, das nur, obwohl es alt geworden ist, nicht schlechthin vergangen, nicht schlechthin vorbei ist. So sprechen wir z. B. auch von der ›klassischen Moderne‹ in der bildenden Kunst, wenn wir die Generation von Klee und Picasso, Braque und Matisse, Mondrian und Brancusi meinen, die nicht mehr zur unmittelbaren, zur zeitgenössischen Moderne gehört. Die Frage ist nur, ob mit der üblichen Aussage: ›klassisch‹ ist etwas, das einerseits (als ›Faktum‹) Vergangenheit ist, andererseits (in der Bedeutung) noch irgendwie ›uns angeht‹ oder angehen könnte)16, also nicht vergangen ist, die Sache, die wir dabei im Sinne haben, getroffen ist. Die Frage ist, ob mit dieser Aufteilung in vergangene Faktizität und gegenwärtige Bedeutung nicht vielleicht gerade das Entscheidende von vornherein verfälscht, verschüttet wird, das Ent­ scheidende nämlich, daß hier etwas Altes, Gewesenes gerade auf Grund seiner zeitlichen Entfernung, gerade im Element der Geschichte also, seinen aktuellen Anspruch ausübt. Die Frage ist, ob das Beson­ dere, das Sonderbare und Auszeichnende des ›Klassischen‹ nicht gerade in einer eigenen Art (in einer ausgezeichneten und besonderen Art) von Geschichtlichkeit beruht. Wenn es so steht, dann ist die andere Frage, ob nicht am Ende gerade das historische Denkschema, von dem die historischen Wis­ senschaften geleitet sind, Schuld daran hat, daß man das ›Klassische‹ als eine ›Qualität‹, als einen ›Wert‹ versteht, der zu der historischen Wirklichkeit der Sache als etwas Überzeitliches und damit Überwirk­ liches und damit Unwirkliches hinzutritt, ein Schein, ein Schemen, ein Schatten, vielleicht auch eine ›Aura‹, auf jeden Fall nichts Wirkliches. Die Frage heißt: Wie steht es mit der eigenen Geschichtlichkeit des ›Klassischen‹? Und was folgt daraus für die geschichtlichen, die historisch-philologischen Wissenschaften? Nach dieser Kennzeich­ nung der Frage soll, und zwar im Anschluß an Gadamer, das wissens­ 16 Das Merkmal der ›Klassizität‹, eine Sache der Nachwelt (›unsere‹ Sache) zu sein, wurde als ihr Grundzug herausgestellt in einem Aufsatz von Kurt Bauch: ›Klassik, Klassizität, Klassizismus‹, in: Das Werk des Künstlers (Kunstgeschichtliche Zweimo­ natsschrift) 1, 1939/40, S. 430–440.

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Klassik und Historie

theoretische Problem erläutert werden (2) und danach am Phänomen die Geschichtlichkeit des Klassischen selbst (3).

2 Historische Forschung und geschichtliche Wirklichkeit In ›Wahrheit und Methode‹ befindet sich – in der Mitte des Buches und an der Stelle, wo der Autor von den vorwiegend referierenden Partien zur Darlegung seiner eigenen Konzeption übergeht – ein kur­ zer Abschnitt mit der Überschrift ›Das Beispiel des Klassischen‹ (S. 269–275). Ein ›Beispiel‹ soll das Klassische dabei für die Absicht des ganzen Werkes sein, die ›Überwindung der Hermeneutik des Historismus‹ (S. 313). Das Klassische dient dazu als Beispiel in seiner doppelten Hinsicht. Es stellt einerseits einen Maßstab, eine Folie dar, vor der das Manko der historischen Hermeneutik, der Grund zur Kritik, faßbar wird. Es stellt zugleich aber auch einen exemplarischen Fall für das Ziel der Überwindung (Gadamers eigene Konzeption der Hermeneu­ tik) dar. Als einen Maßstab für seine Kritik versteht Gadamer das Klas­ sische im Hinblick auf den schon angedeuteten Sachverhalt, daß es sich dabei um Phänomene handelt, die nicht in der Grundverfassung eines historischen Gegenstandes aufgehen, nämlich vergangen zu sein. Gadamer nennt selbst keine Beispiele. Man wird aber etwa daran denken können, daß die Tragödien des Aischylos, wie fern und fremd sie uns auch erscheinen mögen, doch nicht in der gleichen Weise vergangen sind wie die Perserkriege, der Dom von Brunelleschi nicht in der gleichen Weise wie die politischen Unternehmungen der Medici, und auch die Zauberflöte nicht in der gleichen Weise wie die Französische Revolution. Diesen Unterschied versteht Gadamer nun (und zwar mit einem etwa gleichzeitig mit dem Historismus aufgekommenen Begriff) als einen im Zeitenwandel sich durchhaltenden normativen Anspruch: Er sieht das Signum des Klassischen in seiner Geltungsdauer (S. 271). Diese normative Bedeutung wird nach Gadamer durch die »his­ torische Vernunft« »zersetzt« (S. 270). Einen Beweis dafür sieht er in der Verkehrung des Klassischen als eines Norm-Begriffs zum Klassi­ schen als einem »historischen Stilbegriff« (S. 270f.). Das ›Beispiel des Klassischen‹ verweist demnach auf einen Widerspruch zwischen der Verfassung, in dem ein historischer

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2 Historische Forschung und geschichtliche Wirklichkeit

Gegenstand als solcher von vornherein angesetzt wird (dem Status der Vergangenheit) und der Verfassung, die – möglicherweise – gerade sein Wesen ausmacht (dem Anspruch auf Nichtvergänglich­ keit). Nietzsche hat, zur Zeit der Hochblüte des Historismus (in dem Basler Fragment ›Wir Philologen‹), diesen Widerspruch in die beiden Sätze gefaßt: »I. Alle höhere Erziehung muß eine historische sein. 2. Mit der griechischen und römischen Historie steht es anders als mit allen anderen, nämlich klassisch« (›Unzeitgemäße Betrachtungen‹, Kröner, S. 545). Dazu bemerkt Karl Reinhardt: »An der Aufgabe, die beiden Sätze zu vereinigen, würgt heute noch die klassische Philolo­ gie« (›Die Krise des Helden‹, dtv 1962, S. 127). Das hier – an einer und von einer besonderen Wissenschaft – bemerkte Dilemma reicht nun aber ebenso weit über den Bereich der klassischen Philologie hinaus, wie das Phänomen des ›Klassi­ schen‹ über den Gegenstandsbezirk der griechisch-römischen Antike hinausreicht. Wo nämlich hat ›das Klassische‹ seinen Ort? Ist es überhaupt eine Epochen-Bestimmung? Und wenn, wo hat es dann innerhalb einer solchen Epoche seinen Ort? Woran, um bei dem Aus­ gangsbeispiel zu bleiben, erscheint denn innerhalb der klassischen Antike ›das Klassische‹? Als ›klassisch‹ galten zuerst und ausdrücklich bestimmte alte Dichter, so etwa (schon im 5. Jahrhundert) Homer, dann, seit Aristo­ teles, die attischen Tragiker, daneben – seit dem augusteischen Rom – die attischen Bau- und Bildwerke. Als dann, für die nachantiken Zeiten, Rom selbst ›klassisch‹ wurde, sah man auch hier das Klassi­ sche in erster Linie in der Dichtung. Homer und Vergil, Phidias und Sophokles – das sind gleichsam die klassischen Klassiker. Das Phä­ nomen des Klassischen hat offensichtlich seinen Ort (auf jeden Fall: sein Zentrum) in der Kunst. Und es ist demgemäß in der Klassizität der griechisch-römischen Antike selbst schon legitimiert, wenn später auch andere Zeiten und Werke – und auch ohne ausdrückliche Bezie­ hung auf die Antike – das Prädikat des ›Klassischen‹ am Maßstab der Kunst gewonnen haben. Das letzte große Beispiel dafür ist die ›Wiener Klassik‹ der Musik. Dieser Zusammenhang zwischen Klassik und Kunst verweist auf die verschiedene geschichtliche Seinsweise des Werkes im Unter­ schied zur Handlung. Das Problem, das hier steckt, wird jedoch zuge­ deckt, wenn man das Spezifische der Kunst als ›übergeschichtlich‹ und das andersartige Interesse, das sie beansprucht, als einen zu ihrer

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Klassik und Historie

›historischen Wirklichkeit‹ noch hinzukommenden überzeitlichen ›Wert‹ ansetzt. Mit dieser Überlegung ist bereits das andere Moment berührt, für das das ›Klassische‹ Gadamer als ›Beispiel‹ dient. Es soll einen Vorbegriff für das Ziel seiner »Überwindung der historischen Her­ meneutik« liefern. Er erklärt, das Klassische müsse, auch wenn man es in seiner überhistorischen Bedeutung ernst nimmt, keineswegs als ein »übergeschichtlicher Wertgedanke« verstanden werden. Es bezeichne vielmehr »eine ausgezeichnete Weise des Geschichtlich­ seins selbst« (S. 271). Wenn etwa, um diese Behauptung zu erläutern, Vergil für Dante, Homer für Goethe, vielleicht auch Plato für die Renaissance oder Aristoteles für Hegel sich als klassisch erweisen, dann wird damit Eigenart und Unterschied der Zeiten nicht negiert, es findet vielmehr eine »geschichtliche Vermittlung der Vergangen­ heit mit der Gegenwart« statt (S. 274). Gadamer nennt diese geschichtliche Vermittlung: das »Einrücken in ein Überlieferungsge­ schehen« (S. 275). In dem geschichtlichen Sichbewähren und damit Sichbewahren des Klassischen sieht Gadamer ein – gewissermaßen vorwissen­ schaftliches – Beispiel für die hermeneutische Grundeinstellung, die er von der Wissenschaft selbst fordert: das »wirkungsgeschichtliche Bewußtsein«. Gemeint ist damit ein Bezug zur Überlieferung, der davon ausgeht, daß wir jeweils von dieser Überlieferung selber schon geprägt sind, und der diese Bedingtheit nicht etwa zu eliminieren ver­ sucht, sondern sie reflektiert; also ein Bezug zur Überlieferung, der »die eigene Geschichtlichkeit mitdenkt« (S. 283). Mit dieser These ist nun ein Gedanke verbunden, der – unbe­ schadet der sonst möglichen Kritik am Gedanken der ›Wirkungsge­ schichte‹ – von unbestreitbarer Bedeutung ist: der Gedanke, den Gadamer die »hermeneutische Bedeutung des Zeitenabstandes« nennt (S. 275). Nicht zufällig wird dieser Gedanke im unmittelbaren Anschluß an das ›Beispiel des Klassischen‹ entwickelt. Wenn man den Begriff des ›Klassischen‹ in seiner Geschichte und der Vielfalt seines Gebrauchs überblickt, dann schält sich ein Moment als besonders eigentümlich heraus: das Schweben zwischen dem stets in einer ent­ fernten Vergangenheit ruhenden Gegenstand und einer – diesen Gegenstand erst als klassisch erkennenden – späteren Zeit. Der Cha­ rakter der ›Klassizität‹ ist gewiß keine Erfindung oder Einbildung die­ ser späteren Zeit, aber er tritt in ihr erst ans Licht. Der Zeitenabstand

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3 Die Geschichtsstruktur des ›Klassischen‹

ist hier offenbar die Dimension, in der die ›klassische‹ Substanz, die einer Sache von Anfang an innewohnt, als solche erst gewonnen wird. Dieses Verhältnis drückt Gadamer – in allgemeiner Hinsicht – aus, wenn er sagt: »Der zeitliche Abstand läßt den wahren Sinn, der in einer Sache liegt, erst voll herauskommen« (S. 282). Damit diese Möglichkeit realisiert wird, ist es notwendig, die »Spannung« zwi­ schen Überlieferung und Gegenwart »nicht in naiver Angleichung zuzudecken, sondern bewußt zu entfalten« (S. 290). Es mindert nicht die Bedeutung dieser Einsicht, es liegt vielmehr in deren eigener Konsequenz, wenn sich an der näheren, konkreten Bestimmung, die sie bei Gadamer findet, ein Grund zur Kritik erken­ nen läßt. Das Phänomen des Klassischen zeigt bei genauerer Betrach­ tung, daß Gadamer selbst nicht geschichtlich genug denkt. Es fügt sich nämlich nicht in die Grundvorstellung, unter der Gadamer seine geschichtliche Seinsweise begreift: die Vorstellung von der Geltungs­ dauer. Daß das Klassische »eine ausgezeichnete Weise des Geschicht­ lichseins selbst« ist, das meint für Gadamer konkret: »den geschicht­ lichen Vollzug der Bewahrung« (S. 271). Entsprechend lautet die nähere Bestimmung des »Zeitenabstandes«: es sei dies »nicht ein gähnender Abgrund«, sondern er sei »ausgefüllt durch die Kontinuität des Herkommens und der Tradition« (S. 281). Damit jedoch, daß der Sachverhalt der »Geschichtlichkeit« und des »Zeitenabstandes« konkret in der Gestalt der »Bewahrung« und der »Kontinuität« begriffen wird, wird er um seinen besten Sinn gebracht. Wir erläutern das durch eine nähere Charakteristik des Klas­ sischen, und zwar – der hier behaupteten Geschichtlichkeit des Klassi­ schen gemäß – nach den folgenden drei Gesichtspunkten: a Merkmale der Erscheinung des Klassischen (die Art seiner Gegenwart), b die Art seiner Entstehung (seine Herkunft) und c sein Zukunftsbezug.

3 Die Geschichtsstruktur des ›Klassischen‹ a Für das erste Moment, die Art, wie das Klassische da war, scheint nun freilich gerade die radikale Isolierung gegenüber Vergangenheit und Zukunft bezeichnend zu sein. Es ist oft bemerkt worden, daß klassische Zeiten im Vergleich zur Dauer ihres Ruhmes ein auffallend kurzes Dasein hatten: Das 5. Jahrhundert innerhalb der griechischrömischen Antike und innerhalb dessen wieder die dreißig Jahre der Parthenon-Zeit; etwa den gleichen Zeitraum umfaßt die Hoch­

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Klassik und Historie

renaissance; das klassische Zeitalter der deutschen Dichtung und Philosophie und der europäischen Musik beginnt um 1780 und endet um 1830; die Gründungsjahre der klassischen Kathedralen fallen in die Zeit zwischen 1194 und 1220. Dieses quantitative Merkmal erhält aber sein Gewicht erst durch den qualitativen Charakter. Klassische Epochen ragen wie ein Turm aus den Entwicklungsströmen heraus. Die frühe Klassik der griechi­ schen Plastik ist aus der späten Archaik nicht abzuleiten. Und was auf klassische Epochen folgt, ist entweder ein Wesenswandel, wie schon die Spätklassik des 4. Jahrhunderts, plötzlicher Verfall oder heftiger Protest, wie der Manierismus. Diese Beobachtung läßt sich noch präzisieren, wenn man darauf achtet, wie zuweilen traditionswahrende Entwicklungen um den Turm des Klassischen herumgehen. So knüpft die mit C. M. v. Weber begin­ nende nachklassische Musik des 19. Jahrhunderts an Traditionen der sogenannten Vorklassiker an, während die Wiener Klassik in einem genau bestimmbaren Sinn aus dem unmittelbar Vorhergehenden ausbricht und mit dem Spätwerk Beethovens und Schuberts ohne eine substantielle Nachwirkung abbricht; unterschwellig läuft daneben – etwa bei Kreutzer, Zelter oder Löwe – die Tradition weiter.17 Ähnlich läßt sich zeigen, daß der Dichtungsbegriff der ›Goethezeit‹ in einem Maße von der davor und danach herrschenden Kunstkonzeption abweicht, daß man geradezu von einem gegenteiligen Begriff spre­ chen kann.18 (Auch von der deutschen Philosophie vom Erscheinen der ›Kritik der reinen Vernunft‹ 1781, bis zum Tode Hegels, 1831, kann man bis zu einem gewissen Grad ähnliches sagen.) In Griechenland knüpft die Nachklassik an archaische Traditionen, die außerhalb Attikas lebendig geblieben waren, an. In der neueren Kunst finden außerhalb Italiens unmittelbare Übergänge von der Gotik in den Barock statt. Dieser Grundzug der Diskontinuität kommt nun aber nicht nur den klassischen Epochen selbst zu, sondern auch den späteren Rezep­ tionen oder Begegnungen mit dem Klassischen, in denen sich dieses erst als solches konstituiert (also dem Vorgang, den Gadamer – S. Thrasybulos Georgiades, Musik und Sprache, 1954 (die Kapitel 11, 12 und 13); Georgiades, Schubert. Musik und Lyrik, 1967 (besonders S. 39f. und S. 97–193); Arnold Feil, Studien zu Schuberts Rhythmus, 1966; Arnold Feil, Franz Schubert. Die schöne Müllerin – Winterreise, 1975. 18 S. dazu v. Verf., Schelling. Die Kunst in der Philosophie, Bd. 2, 1969, besonders den Abschnitt ›Intuition und Reflexion‹, S. 138–172. 17

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fälschlich – das »Bewahren« des Klassischen nennt), so im Falle der Antikenbegegnung der Hochrenaissance oder der Griechenbegeg­ nung der deutschen Klassik. Diesem Grundzug: dem Augenblickscharakter und der histori­ schen Wirkungslosigkeit, gegenüber versagt das – aus dem römischen Handlungsbegriff herkommende – Erfolgs-Schema der traditionellen Geschichtsschreibung. Es versagt aber auch das Kontinuitäts-Schema mit seinem Begriff der ›Geltungsdauer‹. Das bedeutet jedoch nicht den Verzicht auf ein geschichtliches Denken. Klassische Epochen und klassische Werke lassen sich als Erhebungen begreifen, die untereinander in einer geschichtlichen Affinität stehen. Die produktiven Begegnungen deutscher Dichter mit den Grie­ chen in der ›Goethezeit‹ zeugen dafür ebenso wie etwa die Geschichte der bildenden Kunst, wenn man sie im Hinblick auf die Tradition des künstlerischen Ranges hin betrachtet. Verlassen werden muß hier nur – wie dies Hans Jantzen in dem Aufsatz ›Tradition und Stil‹ gezeigt hat19 – der Maßstab chronologischer Zusammenhänge. An seine Stelle tritt aber nicht eine – sich für ›überzeitlich‹ haltende – Ästhetik, sondern die Erkenntnis jener anderen Art von Nähe, die daraus entsteht, daß klassische Werke und Epochen in einem analogen Grundverhältnis zu ihrer eigenen Vergangenheit stehen. b Damit ist bereits das zweite Moment genannt: das Verhältnis klassi­ scher Werke und Epochen zu ihrer Vergangenheit. In diesem Punkt ist die Einsicht Nietzsches ausschlaggebend, wonach das Klassische, wo immer es entsteht, wesenhaft »Bändigung«, Überwindung und damit Befreiung ist. Seit den zwanziger Jahren ist dieser antagonistische Grundzug des Klassischen im Falle der Griechen von der Homer- und der Tra­ gödienforschung (insbesondere durch Karl Reinhardt und Wolfgang Schadewaldt) und von der klassischen Archäologie herausgestellt worden. So kann man schon die ›geometrische‹ Tendenz im Epos und der bildenden Kunst der Frühzeit als eine Bändigung des Orien­ talischen und Titanischen der hellenischen Vorzeit ansehen oder die griechische Rationalität und Formkraft im Ganzen als eine »Bändi­

19 Hans Jantzen, ›Tradition und Stil in der abendländischen Kunst‹, in: Jantzen, Der gotische Kirchenraum, 1954 S. 79–94.

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gung« des »Dämonischen« (Schefold20), das die Griechen von ihrem eigenen Wesen her bedrohte. Die Griechen haben diesen Grundzug des Klassischen selbst gedeutet in den Gestalten des Herakles und der Athene, dem Lieblingsheros und der Tochter des obersten der Götter, der selber schon sein Wesen darin hat, der Überwinder der Titanen zu sein. Ein zweites Beispiel, das sich für diese Entstehungsstruktur anführen läßt, ist zugleich auch für die innere Verwandtschaft des ›Klassischen‹ verschiedener Epochen ein Beispiel. Die griechische Tragödie ist zwar gewiß keine einfache ›Geburt aus der Musik‹, aber sie ist die Vereinigung eines chorischen und eines dialogischen, eines dithyrambischen und eines epischen, eines dionysischen und eines heroisch-mythischen Elementes, also eine Synthese ursprungsver­ schiedener Elemente.21 Ebenso besteht – wie Thrasybulos Georgiades gezeigt hat22 – die Wiener Klassik aus einer einzigartigen Vereinigung zweier ebenfalls ursprungsverschiedener Elemente: einer genuin musikalisch-harmonischen mit einer genuin dramatisch-tragischen Komponente, aus einer Verbindung von Musik und leibhafter Hand­ lung. (Georgiades erläutert das besonders am Don Giovanni und der Missa Solemnis.) Und wie in der griechischen Tragödie, so ist auch hier der Bezug auf eine produktiv teilnehmende, das ›Werk‹ erst konstituierende Gemeinschaft das Entscheidende. Diese dramatische Leibhaftigkeit, Verleiblichung des ›Transzen­ denten‹, diese Vergegenwärtigung dessen, was sonst nur gedacht oder geboten, betrauert oder erhofft wird, macht das wesentlichste Merk­ mal echter Klassik aus.23 In ihm beruht, weil das Mangellose das Karl Schefold, ›Das Dämonische in der griechischen Kunst‹, in: Hermeneia, Fest­ schrift für Otto Regenbogen, 1952, S. 28–39. 21 S. dazu jetzt: Wolfgang Schadewaldt, ›Ursprung und frühe Entwicklung der atti­ schen Tragödie‹, in: H. Hommel (Hrsg.), Wege zu Aischylos, 1974 (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Bd. 1, S. 104–147. (Vgl. S. 140f. in: Verf., Welt-Geschichte: KunstGeschichte, Köln 1975.). 22 Thrasybulos Georgiades, ›Das musikalische Theater‹. Festrede vor der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 1965; München C. H. Beck, und die in der Anm. 43 genannten Kapitel aus ›Musik und Sprache‹, besonders S. 99–102 (zur Missa Solem­ nis). 23 Daß dieser spezifische (›inhaltliche‹) Charakter des Klassischen auch für die klassi­ schen Kathedralen konstitutiv ist, läßt sich sowohl den Selbstzeugnissen des Zeitalters entnehmen (nach denen die maßgebliche Intention zu diesen Bauten die Verbindung des ›Himmlischen‹ mit dem ›Irdischen‹ war; nicht eine ›Symbolisierung‹, sondern die Vergegenwärtigung des ›Überirdischen‹ auf der Erde, des Gottes unter den Menschen) 20

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Herrschaftslose ist, die Freiheit, die der Mensch hier in Haltung und Gebärde zeigt. Zu ihm gehört aber auch, weil in der Gegenwart, im Augenblick des Vollendeten der Mensch sich selbst erkennt, die Schwermut, die dem Glänzenden das Gewicht gibt. Aus der antagonistischen Herkunftsstruktur des Klassischen erklärt sich, warum es gar nicht kontinuierlich bewahrt werden kann: In dem einen – errungenen und geglückten – Augenblick des Umschlags von der Spannung zur Erfüllung besitzt das Klassische seine Wirklichkeit. Jede Fortsetzung der Erscheinung verliert hier den Sinn, weil der Erscheinungs-Grund nicht mehr da ist. Aus der gleichen Situationsbezogenheit heraus steht das Klassi­ sche selbst im Widerspruch zu einem kontemplativen Bildungsideal. Die wesenhaft gegenwartskritische, der Selbstbefreiung dienende Verehrung der Antike durch die Renaissance, der Antike und der Renaissance durch Winckelmann und Goethe oder Jacob Burckhardt, der venezianischen Malerei und Poussins durch Cézanne kann leh­ ren, daß eine angemessene ›Bewahrung‹ des Klassischen stets verän­ dernd ist. c In dieser eigenen Geschichtlichkeit des Klassischen liegt (mit einem Ausdruck, den Uvo Hölscher im Titel seiner Vorträge über Wilamo­ witz, Karl Reinhardt und den Humanismus gebraucht hat24) die ›Chance‹ der modernen Wissenschaft gegenüber dem Klassischen. Wenn Klassik in einem Heraustreten aus dem historischen Entwick­ lungsstrom besteht, dann wäre ihrer Erkenntnis nichts hinderlicher als die Selbstsicherheit ungebrochener Kontinuität. Wo aber, wie dies seit ein- oder zweihundert Jahren der Fall ist, die geschichtliche Kontinuität gebrochen, die Geschichte selbst in ihren Dimensionen verwandelt ist, dort ist nicht nur das Klassische alt genug, um erkannt werden zu können, sondern auch unsere eigene Fraglichkeit groß genug, um es zu brauchen. Es ist gerade nicht ein »durch die Konti­ nuität des Herkommens und der Tradition« ausgefüllter »Abstand«, sondern ein die Zeiten scheidender Abgrund, über den hinweg der Blick hier geht. Die Erkenntnis, in der – zugleich mit der Anerkennung der einst als nicht- oder antiklassisch verachteten Epochen, wie der Gotik oder als auch einigen modernen Interpretationen der klassischen Kathedralen-Struktur, insbesondere denen von Hans Jantzen und Werner Groß. 24 Uvo Hölscher, Die Chance des Unbehagens, Drei Essays zur Situation der klassi­ schen Studien, 1965 (Kleine Vandenhoeck-Reihe 222/222a).

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der Archaik, in eins auch mit dem Verständnis außereuropäischer Überlieferungen – das Klassische selbst, Homer und Chartres, Phidias und Tizian, Mozart und Cézanne, überhaupt erst sichtbar geworden ist, ist ein Verdienst des modernen, mit dem Traditionsbruch erst möglich gewordenen Denkens. Von der ›Renaissance‹-Struktur aller Humanismen ist diese moderne Erfahrung des Klassischen wesenhaft verschieden. Für uns kann das Klassische nicht mehr darin aufgehen, zur Verwirklichung unserer selbst zu dienen. Statt dessen aber tritt in der Intention des modernen geschichtlichen Denkens, wie sie in der Interpretationsar­ beit seit Burckhardt und Buschor im Gange ist, nicht zuletzt auch in der Übersetzungsarbeit25 und in modernen Inszenierungen, in der Intention, das Andere gerade in seiner Andersheit, das Große in seiner Befremdlichkeit zu erfassen, etwas an diesem selbst heraus, das zuvor noch unbekannt geblieben war. Durch die Wissenschaft wird etwas, das ihm um seiner selbst willen zukommt, erst realisiert. Aus den genannten drei Momenten der Geschichtlichkeit des Klas­ sischen folgt für das Selbstverständnis der Wissenschaft von der Geschichte, daß diese in ihrer Sachbezogenheit selbst schon kritisch sein muß. Im Sachbezug als solchem steckt Aggressivität, denn dieser verlangt, daß der Unterschied des Vergangenen zum Gegenwärtigen ausgetragen wird, statt daß er mit dem Filter selbstgesetzter Maßstäbe von vornherein beseitigt wird. Diese produktive Möglichkeit der geschichtlichen Wissenschaf­ ten kommt in der Einleitung der ersten Kritik an dem historischen Denken und der historischen Bildung zum Ausdruck, die Nietzsche in seiner frühen Schrift ›Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben‹ gegeben hat. Nietzsche, der damals Professor für klassische Philologie an der Basler Universität und Lehrer für alte Sprachen am Basler Gymnasium war, sagt über den Zweck der Schrift: »Unzeitgemäß ist auch diese Betrachtung, weil ich etwas, worauf die Zeit mit Recht stolz ist, ihre historische Bildung, hier einmal als Schaden, Gebreste und Mangel der Zeit zu verstehen suche.« Und er setzt sogleich hinzu: Es solle »nicht verschwiegen werden, ... daß Vgl. die Bemerkungen zum Übersetzen bei Karl Reinhardt (in seinem Aufsatz ›Hölderlin und Sophokles‹, in: Die Krise des Helden, S. 89–106, besonders S. 95–98) und Wolfgang Schadewaldt (in dem Aufsatz ›Hölderlins Übersetzung des Sophokles‹ in: Schadewaldt, Antike und Gegenwart, 1966, dtv 342, S. 113–174, besonders: S. 156 bis 165). 25

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3 Die Geschichtsstruktur des ›Klassischen‹

ich nur, sofern ich Zögling älterer Zeiten, zumal der griechischen bin, über mich als ein Kind dieser jetzigen Zeit zu so unzeitgemäßen Erfahrungen komme. So viel muß ich mir aber selbst von Berufs wegen als klassischer Philologe zugestehen dürfen: denn ich wüßte nicht, was die klassische Philologie in unserer Zeit für einen Sinn hätte, wenn nicht den, in ihr unzeitgemäß – das heißt gegen die Zeit und dadurch auf die Zeit und hoffentlich zugunsten einer kommenden Zeit – zu wirken.«

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›Die Kunst in der Zeit der Arbeit‹ (Nietzsches ›Bayreuth-Gedanke‹)26

1 Zum Geschichtsbezug der griechischen Tragödie In dem ›Versuch einer Selbstkritik‹ zur ›Geburt der Tragödie‹ von 1886 macht Nietzsche der Jugendschrift die »übereilten Hoffnungen und fehlerhaften Nutzanwendungen auf Gegenwärtigstes« zum Vor­ wurf (I 17; 39)27. Die Gegenwarts-Kritik, mit der die Schrift geschrie­ ben, in der sie gedacht ist, wird damit aber nicht verurteilt. In einer aus dem gleichen Jahre 1886 stammenden neuen ›Vorrede‹ zum zweiten Band von ›Menschliches, Allzumenschliches‹ erklärt Nietzsche, die ›Geburt der Tragödie‹ sei in ihrer Konzeption den nächsten der danach verfaßten Schriften schon voraus gewesen. Die »drei ersten Unzeit­ gemäßen Betrachtungen« seien in dem, was sie sagten, »zurück zu datieren« noch »hinter die Entstehungs- und Erlebniszeit eines vorher herausgegebenen Buches (der ›Geburt der Tragödie‹ ...)« (I 737; 3). Demnach greift die ›Geburt der Tragödie‹ der späteren Zeitkritik schon voraus. In der ›Götzen-Dämmerung‹ von 1888 heißt es: »Die ›Geburt der Tragödie‹ war meine erste Umwertung aller Werte« (II 1032; 182). Die ›Geburt der Tragödie‹ ist selber schon eine »unzeitgemäße Betrachtung«, eine Kritik des Zeitgemäßen. Erstveröffentlichung: D. J., Welt-Geschichte: Kunst-Geschichte. Zum Verhältnis von Vergangenheitserkenntnis und Veränderung, DuMont Schauberg: Köln 1975, S. 161– 196. 27 Nietzsche-Zitate nach den folgenden Ausgaben: Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden, hrsg. v. Karl Schlechta (1966), 7. Aufl. 1973. (Gekennzeichnet durch Angabe von Band- und Seitennummer.) Zusätzlich werden die Seitennummern des jeweiligen Bandes der Nietzsche-Ausgabe in Kröners Taschen­ ausgabe (1964) vermerkt. Nach der noch nicht abgeschlossenen neuen Gesamtausgabe wird nur in einigen Fällen von Neuveröffentlichungen zitiert: Nietzsches Werke. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. (Gekennzeichnet: NW, Abteilung, Band­ nummer.) Einige Zitate auch nach der ›Großoktavausgabe‹ von Nietzsches Werken, Band X, 1903, hrsg. von Ernst Holzer. (Gekennzeichnet als GA X.). 26

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›Die Kunst in der Zeit der Arbeit‹ (Nietzsches ›Bayreuth-Gedanke‹)

Zu den ungewollten Konzessionen dieses ersten Buches Nietz­ sches an den Zeitgeist gehört in diesem Fall das Schwanken innerhalb der Alternative ›historisch‹ oder ›aktuell‹ (das Nietzsche erst mit der Historienschrift überwunden hat). Die entschiedene Entgegenset­ zung von Altertum und Gegenwart (der alten Griechen und des 19. Jahrhunderts) im Falle der vorsokratischen Epochen Griechenlands wird mit der Umdeutung des Altertums zu einem Symbol der Gegen­ wart im Falle der »sokratischen« Ära vermischt. Nietzsche hat damit zwei kontradiktorischen Mißverständnissen dieser Schrift Raum gegeben. Das eine ist die Neigung, auch den »sokratischen« Gegenpol zum tragischen Zeitalter nur als den (sehr angreifbaren) Versuch einer Philosophiegeschichte des Altertums aufzufassen. Das andere ist die Neigung, auch in Nietzsches Deutung der griechischen Tragödie nichts anderes als ein historisches Symbol für Nietzsches Gegenwartserfahrung (seine damalige Freundschaft mit Wagner) zu sehen. Im ersten Fall verfehlt man Nietzsches Gegenwartskritik, die den aktuellen Horizont für seine Deutung der Tragödie ausmacht, im zweiten Fall den geschichtlichen Anspruch in dieser Art von Gegenwartskritik. Die beiden Aspekte, als gegenwartsferner Historismus und unhistorischer Aktualismus sich gegenseitig ausschließend, sind jedoch vereinbar, wenn man darauf achtet, daß der Angelpunkt von Nietzsches Urteil seine Einsicht in die Wendung um 400 v. Chr. ist. So groß der Unterschied zwischen Sokrates und Hegel, zwischen Alexander und Napoleon oder Bismarck auch ist, die Konzeption der Wahrheit als ›Idee‹, die Orientierung des geschichtlichen Handelns am Gedanken des Imperiums – das sind Einschnitte im Gang der Geschichte, die die moderne Welt prägen, im alten Rom aber bereits entschieden und in der hellenistischen Umbildung Griechenlands von der Polis-Struktur zur ›Weltmacht‹ und der platonischen Diskreditie­ rung des ›Sinnenscheins‹ schon vorbereitet sind. Wenn Nietzsche in den Entwürfen zu der geplanten ›Unzeitge­ mäßen Betrachtung‹ ›Wir Philologen‹ sagt: »Um zu zeigen, wie ganz anders es sein kann, zeige man zum Beispiel die Griechen. Die Römer braucht man, um zu zeigen, wie es so wurde« (n. 182; S. 596 Kröner), so kann man diese Differenzierung zwischen Griechenland und Rom im Gedanken an die ›Geburt der Tragödie‹ noch verlagern und zuspit­ zen auf den Unterschied zwischen vor- und nachsokratischer Epoche innerhalb des alten Griechenland.

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1 Zum Geschichtsbezug der griechischen Tragödie

Der berechtigte historische Anspruch von Nietzsches Tragödien­ schrift besteht, trotz aller (und für diesen Beginn des Gedankens wohl oft kaum vermeidbar gewesenen) Fehler, darin, daß sie den Doppelcharakter Griechenlands: Gegenpol sowohl als auch Grundlage des modernen Europa zu sein, wahrgenommen hat. Diese Wahrneh­ mung hatte zur Voraussetzung, daß das Wirklichkeitsschema, das ihr im Weg steht, umgangen wurde: die Disziplinierung der Vergangen­ heitserkenntnis in (vermeintlich) eigentliche ›Geschichte‹ (Politik), Denkgeschichte (Philosophie), Kunst- und Literaturgeschichte und andere Spezialgeschichten. Um den welt-geschichtlichen Aspekt von Nietzsches kunstgeschichtlicher Frage, was die attische Tragödie war, beurteilen zu können, ist es angebracht, eine zu enge Vorstellung vom allgemeinen Thema dieser Schrift zu korrigieren. Es reicht nicht zu, ihr Thema in der Duplizität des »Dionysi­ schen« und des »Apollinischen« zu suchen. Nietzsche erklärt zwar selbst (zu Beginn des 5. Abschnitts): »Wir nahen uns jetzt dem eigentlichen Ziele unsrer Untersuchung, die auf die Erkenntnis des dionysisch-apollinischen Genius und seines Kunstwerkes ... gerichtet ist« (I 35f.; 65). Was heißt da aber »Erkenntnis«? Stellt man diese Frage, dann legt sich die Vermutung nahe, daß die Erkenntnis des dionysisch-apollinischen Kunstwerks, die Erkenntnis der Tragödie, von der Beachtung des »Sokratischen« nicht zu trennen ist. Damit hat man aber das Thema der Schrift noch immer nicht zureichend erfaßt. Es ist das spätere Denken Nietzsches, das dem früheren gegenüber die Meinung nahelegt, Nietzsche setze – ähnlich, wie er später die »Kunst« der »Wahrheit« gegenüberstellt – auch hier bereits die höchste Kunst-Form (das Tragische) dem »Sokratischen« als der Verkörperung der Wissenschaft entgegen. Man versteht dann das Thema der Tragödienschrift nach dem Schema Schopenhauers: Der dionysische Wille der »Wirklichkeit« auf der einen Seite, der »Schein« der Bilder auf der anderen Seite; und auf dieser Seite dann noch die Unterscheidung zwischen dem rühmlichen »Schein des Scheins« der apollinischen Kunst und dem sich irrtümlicherweise für wahr haltenden falschen Schein der »sokratischen« Vorstellung. Mit diesem Schema läßt sich die Meinung verbinden, unter der Nietzsches Philosophie im ganzen lange Zeit aufgenommen wurde: ›dionysischer Irrationalismus‹ contra Rationalismus, Rausch contra Vernunft. Doch das ist nicht die Differenz, die Nietzsche in der ›Geburt der Tragödie‹, in seinem Frühwerk überhaupt, beschäftigt. Der Duplizität

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›Die Kunst in der Zeit der Arbeit‹ (Nietzsches ›Bayreuth-Gedanke‹)

der beiden »Prinzipien« der Kunst steht als Alternative nicht das eine Prinzip des »Sokratischen« gegenüber, sondern ebenfalls eine Dicho­ tomie. Das »Sokratische« wird von Nietzsche offensichtlich als eine Ver­ absolutierung der »apollinischen Tendenz« verstanden (z. B. im 14. Abschnitt; I 80; 122). Auf der Seite des »Dionysischen« besteht aber nun – auch wenn da eine ausdrückliche begriffliche Entgegensetzung fehlt – ein analoges Verhältnis. Nietzsche unterscheidet von dem Kunst-Prinzip der »dionysischen Griechen« dessen kunstfremde Ver­ absolutierung unter den »dionysischen Barbaren« (im 2. Abschnitt; I 26f.; 54). Schon das Namenspaar macht klar, daß Nietzsche hier mehr meint als nur zwei Varianten eines (den Gegenpol zum »Apollini­ schen« bildenden) Geschichtsprinzips. Das »Barbarische« ist, im griechischen Sinn des Wortes, das Gegenteil des »Griechischen«. Das barbarisch Dionysische ist von dem griechisch Dionysischen ebenso weit entfernt wie das »Sokratische« von dem »Apollinischen«. Der zweite Abschnitt, der erste geschichtliche dieser im ganzen geschichtlichen Schrift, ist zu einem großen Teil diesem Unterschied gewidmet: der »ungeheuren Kluft«, »welche die dionysischen Griechen von den dionysischen Barbaren trennt« (I 26; 54). Worin besteht die Kluft? Nietzsche sagt, die Griechen hätten einer schrankenlosen Entfesselung der elementaren Gewalten, wie sie aus orientalischen Bräuchen bekannt sei, widerstanden. »Gegen die fieberhaften Regun­ gen jener Feste, deren Kenntnis auf allen Land- und Seewegen zu den Griechen drang, waren sie, scheint es, eine Zeitlang völlig gesichert und geschützt durch die hier in seinem ganzen Stolz sich aufrichtende Gestalt des Apollo, der das Medusenhaupt keiner gefährlicheren Macht entgegenhalten konnte als dieser fratzenhaft ungeschlachten dionysischen« (I 27; 54). Und als dann bei den Griechen selbst »aus der tiefsten Wurzel des Hellenischen heraus sich ähnliche Triebe Bahn brachen«, da sei »das Wirken des delphischen Gottes darauf« gerichtet gewesen, »dem gewaltigen Gegner durch eine zur rechten Zeit abgeschlossene Versöhnung die vernichtenden Waffen aus der Hand zu nehmen« (I 27; 55). Die Alternative zum »Barbarischen« ist also nicht das »Apollini­ sche«, sondern das Wechselspiel des Dionysischen mit dem Apollini­ schen, die ursprüngliche Begrenzung der Gefahr des Dionysischen. Die »ungeheure Kluft« zwischen der »barbarischen« und der »griechi­ schen« Art des »Dionysischen« liegt darin, daß die gleiche elementare

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1 Zum Geschichtsbezug der griechischen Tragödie

Gewalt in dem einen Fall isoliert und verabsolutiert, in dem anderen Fall der »Bändigung« zugänglich ist. Die wesenhafte Zuordnung zum Gegenpol teilt das griechisch Dionysische mit dem Apollinischen, während in dem Strukturmerk­ mal der Isolierung und Verabsolutierung das »barbarisch« Diony­ sische mit seinem Gegenpol, dem Extrem des Apollinischen, dem »Sokratischen«, übereinkommt – dem Grenzensetzen, Ordnen, Sys­ tematisieren um seiner selbst willen. Man kann das Thema der Tragödienschrift in dem folgenden Schema darstellen:

Das Thema der Tragödienschrift ist nicht der Unterschied des »Diony­ sischen« und des »Apollinischen«, auch nicht der von Ästhetizismus und »Sokratismus«, sondern die Differenz zwischen der Dichotomie des Bezuges und der Dichotomie der Verselbständigung. Das Thema der Tragödienschrift ist in dem Schema durch den Strich bezeichnet, der die Differenz zwischen der einen und der anderen Dimension markiert. Es ist – in Nietzsches damaligen, in der Historienschrift dann noch präzisierten Begriffen gesprochen – die Differenz zwischen »Kultur« und »Barbarei«. So nahe es liegt, den Horizont von Nietzsches Kritik als eine Konfrontation der (alten) ›Kunst‹ mit der (neuen) ›Wissenschaft‹ aufzufassen, da Nietzsche auf die »Wissenschaft« den Akzent seiner Basler Zeitkritik legt, so fern bleibt man mit dieser Polaritätsvorstel­ lung doch dem, was Nietzsche in dem einen Fall mit »Kunst«, in dem anderen mit »Wissenschaft« überhaupt meint. Nietzsche polemisiert hier nicht, im Namen einer ästhetischen Emotionalität oder gar – wie später – einer Triebverherrlichung, gegen die Erkenntnis. Ausdrücklich versichert er sich bei seiner Kritik am »Sokratismus« (in den Abschnitten 15, 17 und 18) »der ungeheuren Tapferkeit und Weisheit Kants und Schopenhauers« (I 101; 149). Am Beginn der Globalisierung des neuzeitlich-europäischen Glaubens an die Theorie sieht Nietzsche (im Verlaufe seines Den­

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›Die Kunst in der Zeit der Arbeit‹ (Nietzsches ›Bayreuth-Gedanke‹)

kens zwischen Erschrecken und Propagierung wechselnd) die beiden Gefahren dieses »theoretischen Optimismus« (15. Abschnitt; I 86; 129): die Provokation seiner Kehrseite, der Barbarei des Massen­ rausches, und das dem Glauben an die universale Begreifbarkeit der Natur (a. a. O.) zugrundeliegende »Ausbeutbar-machen-wollen« (›Wille zur Macht‹, n. 677; III 867; 455), das – wie wir nun sehen – die Zerstörung der Natur bedeutet. Die polaren »Prinzipien« der zweiten, der Isolations-Dimension: der Anspruch auf absolute Erforschbarkeit und der Trieb zu abso­ luter Auflösung, pure Helligkeit und pure Nacht, produzieren sich de facto wechselweise, ebenso wie sie sich de jure negieren. Erst in dieser selber dichotomen Struktur der außer-»künstlerischen« Dimension ist das erfaßt, was Nietzsche in seinem Frühwerk am 19. Jahrhundert kritisiert. Und erst im Hinblick darauf, was zwischen dem »Sokratischen« und dem »barbarisch« Dionysischen die strukturelle Gemeinsamkeit ausmacht, ist die Frage angebracht, was Nietzsche im Unterschied dazu als die Duplizität des Apollinischen und des »griechisch« Dionysischen begreift, was er als deren (in der Tragödie kulminierende) Gemeinsamkeit begreift. Die Differenz zweier Wirk­ lichkeitsdimensionen macht den (nur scheinbar ›ästhetischen‹) Sinn der Frage aus, worin in der einen dieser beiden Dimensionen, an den unter sich antipodischen »Kunst«-Prinzipien der gemeinschaftliche Kunst-Charakter besteht. Der Sinn dieser Frage: Nietzsches Abhe­ bung der »Kultur« von der »Barbarei«. Für Nietzsches – die Kunst ursprünglich (nicht erst nachträglich) aus ihrem Weltbezug verstehende – Konzeption ist das homerische Epos (das Urphänomen des »Apollinischen«) insofern »Kunst«, als es die Bändigung des »Titanischen«, Rettung vor der Gefahr der Maß­ losigkeit ist. Inwiefern ist auch das Dionysische »Kunst«? Auf seine Stilmerkmale hin gesehen ist es das gerade Gegenteil des »Apollini­ schen«: Maßüberschreitung, Selbstvergessenheit, Sturm und Feuer, statt Stille und Spiegel. Doch damit ist gerade nicht gesagt, was »im Vergleiche mit jenen babylonischen Sakäen«, deren »abscheuliche Mischung von Wollust und Grausamkeit« Nietzsche, wie er hier sagt, »immer als der eigentliche ›Hexentrank‹ erschienen ist«, die »diony­ sischen Orgien der Griechen« zu einem »künstlerischen Phänomen« macht (2. Abschnitt; I 26f.; 54f.). Nietzsche sagt an dieser Stelle, sie hätten die Bedeutung von »Welterlösungsfesten und Verklärungstagen« (I 27; 55). Was das heißt, ist noch deutlicher einer späteren Stelle (am Schluß des 9.

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Abschnitts) zu entnehmen, wo Nietzsche erklärt: »Von Zeit zu Zeit« habe die »hohe Flut des Dionysischen« die »Grenzlinien« »zerstören« müssen, damit bei der »apollinischen Tendenz« »die Form nicht ... erstarre« (I 60; 96f.). »Kunst« heißt in beiden Fällen also, dem klärenden wie dem lösenden, dem festigenden wie dem ekstatischen, das in dem jeweils Bestehenden jeweils Fehlende hervorzubringen. Das »Griechische«, das Nietzsche im Bezug der beiden »Kunstprinzipien« sieht, ›besteht‹ in einem grundsätzlichen Nichtbestehen. Es kommt nur vor als ein Aufstehen; es ist immer nur im Sich-Aufrichten – im Streit, im Spiel, im Lauf, im dramatischen und (wie später von Nietzsche auch selber gerühmt) im sokratischen Dialog. Die unvergleichliche Statuarik im Denken, Dichten und Bauen der Griechen ist, an dem römisch-neu­ zeitlichen Begriff des Faktums gemessen, etwas abgründig Transitori­ sches. Das gilt auch für die griechische Plastik (bis zum Ende des 5. Jahrhunderts), die in sich steht wie keine spätere mehr bis zu unserem Jahrhundert. Erst Giacometti kommt der statuarischen Verfassung der griechischen Skulptur wieder nahe. Ein griechisches ›Standbild‹ ist ebenso unfixierbar wie einer der schreitenden Männer oder eine der stehenden Frauen Giacomettis. Und seine Figuren sind gleichermaßen nicht-objektivierbar wie die der Griechen von der Archaik bis zur hohen Klassik. Den Schlüssel zum Verständnis dessen, was für Nietzsches Basler Denken ›Kunst‹ von Nichtkunst unterscheidet, gibt das Einlei­ tungswort, mit dem die zuletzt zitierte Äußerung über das Auftreten des Dionysischen bei einer Gefahr der apollinischen Tendenz beginnt: »Von Zeit zu Zeit« mußten die Grenzlinien zerstört werden. Von einer gleichen Art des Zeitbezugs spricht Nietzsche in dem (oben zitierten) 2. Abschnitt: »Das Wirken des delphischen Gottes« sei darauf gerichtet gewesen, »dem gewaltigen Gegner durch eine zur rechten Zeit abgeschlossene Versöhnung die vernichtenden Waffen aus der Hand zu nehmen« (I 27; 55). Auf die Bedeutung dieses geschichtlichen Grundgedankens des Basler Nietzsche wird hier im Abschnitt II 4 bei der Beschäftigung mit Nietzsches Historienschrift verwiesen.28 Der Frage nach der Gemeinsamkeit des »Dionysischen« und »Apollinischen« in der Tra­ 28 Dieter Jähnig verweist hier auf eine Stelle in dem Aufsatz ›Der Nachteil und der Nutzen der modernen Historie nach Nietzsche‹ in seinem Buch: Welt-Geschichte: Kunst-Geschichte. Zum Verhältnis von Vergangenheitserkenntnis und Veränderung, DuMont: Köln 1975, S. 71f.

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gödienschrift entspricht dort die Frage, was (im 2. und 3. Abschnitt der Historienschrift) bei den drei verschiedenen »Arten« eines vor- und außerwissenschaftlichen Geschichtsbewußtseins, der »monumenta­ lischen«, der »antiquarischen« und der »kritischen Historie«, das Gemeinsame in der dreimaligen Unterscheidung von »Nutzen« und »Nachteil« ausmacht. An jeder der drei »Arten« differenziert Nietz­ sche eine jeweils angemessene von einer jeweils pervertierten Form. Von einem gegenwartslähmenden Traditionalismus befreit sich eine Zeit zu eigener Hervorbringung in der »monumentalischen« Orientierung an einer ›klassischen‹ Vergangenheit – wie etwa um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert in Frankreich die Gesell­ schaft im Gedanken an das alte Rom, in Deutschland die Dichter und Denker im Gedanken an das alte Griechenland. Die Perversion des »Monumentalischen«, die Verkehrung der Befreiung in eine Fessel, ist die Vergangenheitsnormierung, die Dogmatisierung des ›Klassischen‹ zum Klassizismus. Die »antiquarische« Historie befreit von einer bestehenden Verfremdung durch die Zuwendung zur eige­ nen Herkunft – so wie sich die Italiener in einer ›Wiedergeburt‹, einer ›Renaissance‹ des alten Rom von einer Übermacht der Gotik befreiten, oder in unserer Zeit die Afrikaner im Gedanken an Frobe­ nius gegen ältere kolonialistische, in der ›Négritude‹ gegen neuere industrialistische Europäisierungsintentionen zur Wehr setzten. Die Perversion der »antiquarischen« Historie ist die »Mumifizierung« des Überlieferten, die Bindung an das Alte, weil es alt ist. Einer solchen Perversion der »antiquarischen« Historie gegenüber findet die »kriti­ sche« Historie ihre Wahrheit. So kritisiert sie etwa ein Verhältnis zur Vergangenheit, in dem die Berufung auf das Herkommen bestehendes Unrecht sanktioniert. Sie dürfte heute eine Aufgabe darin haben, über den Ausbeutungscharakter der aus dem 18. und 19. Jahrhundert stammenden genetizistischen und ökonomistischen Kategorien von ›Weltgeschichte‹ aufzuklären. Zum »Nachteil« wird diese Art von Historie, wenn sie das Verneinen des Vergangenen zum Selbstzweck macht, die Form der ›Kritik‹ selber noch zu einer Norm dogmatisiert. In allen drei Fällen besteht der »Nutzen« gleichermaßen darin, daß die jeweilige Art der Historie einer jeweils bestehenden Gefahr entgegentritt: »Jede der drei Arten von Historie, die es gibt, ist nur gerade auf einem Boden und unter einem Klima in ihrem Rechte«, sonst, also immer dann, wenn sie sich zu einem Dauerzustand institutionalisiert, »wächst sie zum verwüstenden Unkraut heran« (I 225; 119). Das Gemeinsame im »Nachteil« aller drei Arten von

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Historie besteht in einer – jeweils anders gearteten – Perversion zur Geschichtslosigkeit. Zu einem allgemeinen – selber epochalen – Wirklichkeitsprinzip ist diese gemeinsame Gefahr (der »Nachteil«) aller drei Arten von Historie nach Nietzsches Meinung in der Form von Historie gewor­ den, zu deren kritischer Erklärung er diese zweite ›Unzeitgemäße Betrachtung‹ geschrieben hat, in der modernen Art von Historie, die er als die »wissenschaftliche« bezeichnet (und wobei für uns der Gedanke an Nietzsches erklärtes Vorbild Jacob Burckhardt und dessen Art von bewußt modernem – »ökumenischen« – Studium der Geschichte genügen kann, um Nietzsches »Wissenschafts«-Kritik nicht in dem Verdacht eines antihistorischen Irrationalismus aufge­ hen zu lassen). Was Nietzsche zu zeigen versucht, das ist der Sach­ verhalt, daß ein genetizistisch-historistisches Denken seit dem 19. Jahrhundert das Verhältnis des Menschen zur Wirklichkeit überhaupt prägt – auch, wie wir inzwischen noch deutlicher sehen können, das der Naturwissenschaften: in deren genereller Tendenz zur Kybernetik; auch das zur Praxis: in dem universalen Zug zur Programmierung; auch das zur Gegenwart und Zukunft: in der kategorischen Neutrali­ sierung. Ihr Fundament hat diese Gegenwartskritik in den Jahren von Nietzsches Basler Frühwerk in einer Erfahrung, die Nietzsche in der Metaphysik seiner späteren Philosophie: dem Transzendieren des Menschen im Gedanken an den »Willen zur Macht« und dem Transzendieren der Zeit im Gedanken der »Ewigen Wiederkehr des Gleichen«, verläßt. Der im Frühwerk konzipierte Grundzug des »Barbarischen«, der antipodische Zusammenhang von »sokratischer« Erstarrung und »sakäischer« Eruption, umfaßt die beiden Pole eines ungeschichtlichen Übermenschentums. Das griechisch Dionysische beruht in dem Bezug zum Apollini­ schen. Es erfüllt sich in seinem maß-überschreitenden Wesen darin, daß es immer nur lokal und temporal auftritt. Es lebt davon, daß es einer »Erstarrung« der apollinischen Tendenz entgegentritt. Und die »apollinischen«, maß-gebenden Faktoren, die klärenden und »ban­ nenden« Prinzipien, warten hier gewissermaßen nur darauf, durch die ihnen antipodische Gefahr gebraucht zu werden. Hat dieser – gleichsam agonale – Dimensionszusammenhang der beiden »Kunst«-Prinzipien nun aber nicht zu seiner Bedingung die grundsätzliche Geschiedenheit im Auftreten eines jeden dieser beiden Prinzipien? Und ist das, nach Nietzsches Darlegungen, nicht allenfalls

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in den Epochen Griechenlands vor der Tragödie der Fall? Wie sollte dieser situationsgebundene Dimensionszusammenhang auch für die Tragödie selbst, also dort, wo jene beiden Prinzipien sich zu einer Kunst vereinigt haben, noch denkbar sein? Die Geschichtsstruktur der Kunst, so wie sie Nietzsche zunächst (in den Abschnitten 2, 3 und 4 der Tragödienschrift) an den großen Kunsterscheinungen der früheren Zeit zeigt (oder konstruiert), ist doch gerade auf die entschiedene Son­ derung des apollinischen und des dionysischen Prinzips gegründet: das homerische Epos – Antwort auf die titanische Wildnis, der nächt­ liche Thiasos der Mänaden – Einbruch in die dorische Ordnung. Geht dieses Spannungsmoment nicht verloren, wenn die Sonderung der beiden »Kunstwelten« in der dramatischen Vereinigung aufgehoben wird? Was das homerische Epos oder die dithyrambische Chorlyrik als das ihrem eigenen Aufkommen zugehörige Andere jeweils außer sich haben, das bringt, als immanente Duplizität, die Tragödie selbst her­ vor. Wenn eine Kunstart aber diese beiden polaren Kunstprinzipien in sich verbindet, setzt sie sich dann nicht über einen Geschichtsbezug, wie ihn Nietzsche an den vorausgegangenen Beispielen demonstriert hat, hinweg? Es entsteht hier also die Frage: was hat die Duplizitätsstruk­ tur, die die griechische Tragödie nach Nietzsches Ansicht als Kunst­ werk auszeichnet, mit ihrem eigenen Ort in der Geschichte zu tun? Diese Frage behandelt Nietzsche ausdrücklich in dem 10. Abschnitt der Tragödienschrift. Er stellt sie in der konkreten Weise, daß er fragt, warum die attische Tragödie gerade im 5. Jahrhundert, zwei Generationen also vor Sokrates und den Sophisten, auftrat. Und er beantwortet sie mit der Behauptung: die klassische Tragödie sei zu der Zeit aufgetreten, wo sich die epochale geschichtliche Wendung bereits vorbereitete, deren Grundzug in einer prinzipiellen Verabso­ lutierung und Isolierung jener beiden »Tendenzen« besteht. Danach wäre die attische Tragödie in dem geschichtlichen Augenblick auf­ getreten, wo das Duplizitätsverhältnis als solches und damit die ganze Dimension der »Kunst« hinfällig zu werden drohte. Sie wäre somit eine Erneuerung des ›Alten‹ in der Situation der Auflösung gewesen. Der künstlerische Duplizitätscharakter der Tragödie, ihre kunst-geschichtliche Sonderstellung, wäre danach das Zeichen eines potenzierten Geschichtsbezuges, das Zeichen eines Zusammenhanges dieser Kunstart mit dem weltgeschichtlichen Einschnitt, der das 5. Jahrhundert v. Chr. außerhalb Griechenlands zur ›Achsenzeit‹ (mit dem Ausdruck von Jaspers) macht, und der in Griechenland erst im

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4. Jahrhundert, als Vorbereitung ›Roms‹ und des ›Abendlandes‹, in Erscheinung tritt. Die Frage, ob eine solche Überlegung mehr ist als ›System­ zwang‹, ob sie nicht vielmehr gerade für Nietzsches ganzes »Grie­ chenbuch« die Ausgangserwägung bezeichnen könnte, läßt sich klä­ ren, wenn man den 10. Abschnitt mit dem Beginn des 21. Abschnitts (I 114f.; 165f.) zusammenhält. Dort nennt Nietzsche die Tragödie das »Heilmittel« gegen die beiden Gefahren, vor denen die Griechen »bei der außerordentlichen Stärke ihrer dionysischen und [ihrer] poli­ tischen [also ihrer ›dorischen‹] Triebe« standen, nämlich: in »ekstati­ sches Brüten« oder in »verzehrendes Haschen nach Weltmacht und Weltehre« zu verfallen. Und er sagt, inwiefern er damit an geschicht­ liche Epochen und Bereiche denkt: Von der einen Tendenz, »von dem Orgiasmus«, führe der Weg »zum indischen Buddhaismus«.29 Von der anderen Seite, »von der unbedingten Geltung der politischen Triebe« (also dort, wo sie zum Selbstzweck werden) gerate ein Volk notwendig »in eine Bahn äußerster Verweltlichung« (hier, wie der Fortgang zeigt, gemeint als Faszination an der ›Welt‹-Macht und der ›Welt‹-Ordnung), »deren großartigster, aber auch [wie man damals noch sagen konnte] erschrecklichster Ausdruck das römische impe­ rium ist«. Den Griechen sei es, »zwischen Indien und Rom hingestellt und zu verführerischer Wahl gedrängt«, gelungen, »eine dritte Form« (also eine von den beiden jeweils auf eine Tendenz fixierten Formen freie Form) »hinzuzuerfinden«. (Dabei läßt Nietzsche eine dazugehö­ rige Erfahrung nicht außer acht: »freilich nicht zu langem eigenen Gebrauche«, also: um den Preis der Dauerhaftigkeit. »Man verlange doch von dem Alleredelsten nicht, daß er die haltbare Zähigkeit des Leders habe.«) Mit dem geläufigen Gedanken: zwischen ›Asien‹ und dem ›Abendland‹ stehend, verbindet Nietzsche den besonderen Gedanken an die Stellung der griechischen Tragödie zu eben jener Achsenzeit, 29 Wenn Nietzsche das »barbarisch« Dionysische mit dem »Asiatischen« gleichsetzt, dann verbindet sich dabei für ihn die griechische Abwehr der Perser mit dem Schopen­ hauerschen Begriff des ›Buddhaismus‹. Diese zeitbedingte Vorstellung von ›Asien‹ braucht uns aber nicht daran zu hindern, den strukturellen Sinn von Nietzsches Abhe­ bung des »griechisch« vom »barbarisch« Dionysischen und den Zusammenhang des »griechisch« Dionysischen mit dem »Apollonischen« auf die Zeichen einer Verwandt­ schaft von vorgriechischen Kulturen, wie etwa des alten Sumer, mit dem archaischen Griechenland oder fernöstlicher Epochen, wie etwa des frühen Buddhismus in Nara und Kyoto, mit dem klassischen Griechenland anzuwenden.

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die durch den Beginn der weltweiten Veränderungen im Aufkommen der verschiedenen großen Heilsreligionen in China, Indien, Persien, Palästina um 500 v. Chr. gekennzeichnet ist. Die unter sich antagonistischen Prinzipien asketischer Heilsleh­ ren und politischer Reichsgründungen (die für Nietzsche hier durch »Indien« und »Rom« symbolisiert sind) sind sich doch verwandt in einem ähnlichen Welt-Begriff. Nietzsche unterscheidet ihn (im 10. Abschnitt) von dem älteren, den er – im Gedanken an dasjenige Zeitalter Griechenlands, das von den homerischen Epen (und der geometrischen Keramik) bis zu Sophokles (und Phidias) reicht – als »mythisch« bezeichnet (I 62; 100f.). Was in diesem (mit dem λόγος verträglichen, im Falle Griechenlands konstitutiv mit ihm verbunde­ nen) »mythischen« Zeitalter Welt ist, das ist für den religiösen Willen zur ›Welt‹-Entsagung ebenso wie für den politischen Willen zum ›Welt‹-Besitz nur noch Umwelt.30

2 ›Die Kunst und die Revolution‹ Nietzsche befaßt sich mit der alten Tragödie im Gedanken an seine Epoche. Er sieht in dieser eine Zuspitzung des spätgriechischen (»sokratischen«) Wissenschafts-»Optimismus« und des römischen Imperialismus. Die moderne Industriegesellschaft: eine Ausweitung und Aufgipfelung der hellenistisch-römischen Tendenz zur WeltEroberung. Die geschichtliche Situation ist in den beiden Fällen, dem der attischen Tragödie und dem des 19. Jahrhunderts, also so verschie­ den wie Anfang und Ende; und es leuchtet, trotz aller Vergleichsmo­ mente mit dem Musikdrama Wagners, ein, wenn Nietzsche später die Deutung seines Buches als einer »Wiedergeburt der Tragödie« als eine Mißdeutung zurückweist (in ›Ecce Homo‹; II 1108; 347). Neues kann jetzt nicht im Erneuern liegen. Wenn Nietzsche bei den Griechen gelernt hat, daß Kunst »Gegeninstanz« sein kann, Antwort auf Bestehendes, dann kann das im 19. Jahrhundert nicht die Forderung einer Verteidigung von Gefährdetem, also eine Bewahrung, bedeuten. Die Erinnerung an die griechische Tragödie, das Denken Wie eng der Bezug jener beiden uns antipodisch erscheinenden und häufig auch feindlichen Handlungsmaßstäbe sein kann, hat im Falle der europäisch-nordamerika­ nischen Neuzeit Max Weber an dem Zusammenhang von Wirtschaftswachstum und ›Askese‹ bei der Herausbildung des modernen Industrialismus gezeigt. 30

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an diese alte Kunst heute, kann für Nietzsche – im Unterschied zu allem Klassizismus – keinen normativen Sinn haben. Trotzdem ist es für ihn – im Unterschied zu der Vergangenheitsneutralisierung des historischen ›Realismus‹ – aktuell. Warum? Wenn unser Verhältnis zur Vergangenheit sich erschöpfen würde in der Wahl zwischen der Erforschung einer Entwicklung und nostal­ gischer Wiederholungssehnsucht, dann könnte man sich Nietzsches Zuneigung zu einer frühgeschichtlichen Form von Poesie als eine kleinbürgerlich-versponnene Flucht vor der unerbittlichen Nüchtern­ heit der wirklichen Probleme dieser Zeit ausdeuten. Der Gedanke an Altes kann aber auch ohne den Wunsch zu einer Rückkehr oder Wiederkehr zu einem »Lebens«-Bedürfnis werden. Erinnerung und Beharrung, Rückblick und Rückkehr sind nicht dasselbe. Wenn Nietz­ sche behauptet, die Kunst als solche stehe in einem Gegensatz zur heutigen Wirklichkeit, dann kann er das nur dadurch wissen, daß er eine andere als die heutige Wirklichkeit kennt. (An Kunstgenuß und Kunstbeflissenheit herrscht im Zeitalter der Ästhetik kein Mangel.) Ähnlich wie Hegel hat Nietzsche sich gefragt, was, im Falle solcher Phänomene, die wir in die Rubrik ›Kunst‹ einordnen, bei den alten Griechen die von unseren Verhältnissen verschiedene Stellung dieser Phänomene im »Leben« ausgemacht hat. Im Unterschied zu Hegel (ähnlich aber wie Hölderlin) hat ihn diese Frage mit der Wirklichkeit seiner Zeit unzufrieden gemacht. Die Überlegung, inwiefern die griechische Tragödie für Nietzsche ›aktuell‹ ist, läßt sich durch das folgende Zitat beantworten: »Gesetzt, wir wüßten nichts von den Griechen, so wäre unsern Zuständen vielleicht gar nicht beizukom­ men.« Diese Äußerung stammt aus der letzten der ›Unzeitgemäßen Betrachtungen‹: ›Richard Wagner in Bayreuth‹. Sie ist die Einleitung der folgenden Erklärung: »Und man hielte solche Einwendungen, wie sie zuerst von Wagner in großem Stil gemacht worden sind, für Träumereien von Leuten, welche im Lande Nirgendsheim zu Hause sind« (I 382; 322f.). Was bei den Griechen in einer Zeit geschichtlicher Krisen bewah­ rend war, das müßte demnach in unserer Zeit das Gegenteil von bewahrend sein. In dem Aufsatz ›Die Kunst und die Revolution‹31 Der Aufsatz ›Die Kunst und die Revolution‹ von 1849 ist zitiert nach der Ausgabe: Richard Wagners Gesammelte Schriften, herausgegeben von Julius Kapp (Hesse & Becker Verlag, Leipzig, o. J.) Band 10, S. 11–47. 31

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formuliert Wagner das so: Die Kunst habe bei den Griechen mit dem, »was sie ist«, dem »öffentlichen Bewußtsein« zugehört und sei »daher konservativ« gewesen, während sie »in der modernen Öffentlichkeit nicht vorhanden« ist und darum, wenn sie mit einem Öffentlichkeits­ anspruch auftreten würde, »revolutionär« sein müßte. Sie kann »bei uns ... nur im Gegensatze zur gültigen Allgemeinheit« existieren (S. 33). Es ist bekannt, daß Wagner, der damals Hofkapellmeister an der Dresdener Oper war, im Mai 1849 in Wort und Tat führend an den Aufständen in der sächsischen Hauptstadt beteiligt war. In Zürich – wohin er, in den deutschen Fürstentümern steckbrieflich verfolgt, über Paris geflüchtet war – war seine erste Arbeit der genannte Auf­ satz ›Die Kunst und die Revolution‹. Ihm schließt sich eine Reihe von Schriften zur Frage einer neuen Oper an. Das musikalische Schaffen Wagners gilt in diesen Jahren dem Anfang der Arbeit am ›Ring‹. Der – im Fortgang der Arbeit sich zu der endgültigen Tetralogie ausweitende – Text begann, noch in Dresden, mit ›Siegfrieds Tod‹, der späteren ›Götterdämmerung‹. Er war Ende 1852, also drei Jahre nach dem Dresdener Aufstand, abgeschlossen. Um 1870, während Nietzsches Besuchen in Tribschen (in der Zwischenzeit waren der ›Tristan‹ und die ›Meistersinger‹ entstanden), arbeitete Wagner am Abschluß der Partitur des ›Siegfried‹ und dem Beginn der Partitur der ›Götterdämmerung‹. Nietzsche weist eine immanent ästhetische Deutung seines Interesses an Kunst, in diesem Fall an Wagner, in der vierten ›Unzeit­ gemäßen Betrachtung‹ ausdrücklich zurück. Im 4. Abschnitt der Bayreuth-Schrift sagt er: »Man könnte uns nicht mehr unrecht tun, als wenn man annähme, es sei uns um die Kunst allein zu tun: als ob sie wie ein Heil- und Betäubungsmittel zu gelten hätte, mit dem man alle übrigen elenden Zustände von sich abtun könnte. Wir sehen im Bilde jenes tragischen Kunstwerks von Bayreuth gerade den Kampf der einzelnen mit allem, was ihnen als scheinbar unbezwingliche Not­ wendigkeit entgegentritt, mit Macht, Gesetz, Herkommen, Vertrag und ganzen Ordnungen der Dinge« (I 384; 325). Und ein paar Zeilen weiter heißt es: »Man kann nicht glücklich sein, solange um uns herum alles leidet und sich Leiden schafft; man kann nicht sittlich sein, solange der Gang der menschlichen Dinge durch Gewalt, Trug und Ungerechtigkeit bestimmt wird; man kann nicht einmal weise sein, solange nicht die ganze Menschheit im Wetteifer um Weisheit

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2 ›Die Kunst und die Revolution‹

gerungen hat und den einzelnen auf die weiteste Art ins Leben und Wissen hineinführt« (I 385; 326). Die Frage: denkt Wagner, wenn er von »Revolution« spricht, nicht lediglich an eine ›Kunstrevolution‹ (also gar nicht im Ernst an Revolution), muß umgekehrt werden: Wie kommt der Musiker und Kenner der griechischen Dichtung (Wagners Aischylos-Studien gehörten in die Dresdener Zeit) dazu, sich an den damaligen politi­ schen Aufständen zu beteiligen? Was gibt es da für einen Zusammen­ hang? Auf diese Frage versucht Wagner in dem Aufsatz über Kunst und Revolution eine Antwort zu geben. Und Nietzsche nimmt den Kerngedanken des Aufsatzes in seiner ›Unzeitgemäßen Betrachtung‹ über Wagner auf – dort also, wo er die Pläne Wagners für ›Bayreuth‹ in ihrem »Lebens«-Bezug verständlich machen will. Dieser Lebensbezug ist nicht der sonst zu unsrer Zeit zuerst erwartete. Nietzsche denkt nicht an eine politische Wirkung durch das Medium der Kunst. »Die Kunst ist ... keine Lehrerin und Erzieherin für das unmittelbare Handeln; der Künstler ist nie in diesem Verstande ein Erzieher und Ratgeber; die Objekte, welche die tragischen Helden erstreben, sind nicht ohne weiteres die erstrebenswerten Dinge an sich« (I 385; 326). Nietzsche sieht, daß das Problem schon im Handeln selbst steckt, nicht erst in der Frage, wie die Verhältnisse des Handelns verbes­ sert werden können. Er sieht das zuerst veränderungsbedürftige Verhältnis in einem Fehler, der die in den politischen Verhältnissen Mißbrauchten daran hindert, diesen Mißbrauch zu erkennen. Nietz­ sche nennt diesen Fehler: die »unrichtige Empfindung«. Er spricht davon besonders im 6. Abschnitt der Bayreuth-Schrift. Eine Vorbe­ reitung des Gedankens findet sich am Schluß des 5. Abschnitts: »Wenn ich mir in volkreichen Städten die Tausende ansehe, wie sie mit dem Ausdrucke der Dumpfheit oder der Hast vorübergehen, so sage ich mir immer wieder: es muß ihnen schlecht zumute sein. Für diese alle aber ist die Kunst bloß deshalb da, damit ihnen noch schlechter zumute werde, noch dumpfer und sinnloser, oder noch hastiger und begehrlicher. Denn die unrichtige Empfindung reitet und drillt sie unablässig und läßt durchaus nicht zu, daß sie sich selber ihr Elend eingestehen dürfen; wollen sie sprechen, so flüstert ihnen die Konvention etwas ins Ohr, worüber sie vergessen, was sie eigentlich sagen wollten; wollen sie sich miteinander verständigen, so ist ihr Verstand wie durch Zaubersprüche gelähmt, so daß sie Glück nennen, was ihr Unglück ist, und sich zum eignen Unsegen noch

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›Die Kunst in der Zeit der Arbeit‹ (Nietzsches ›Bayreuth-Gedanke‹)

recht geflissentlich miteinander verbinden. So sind sie ganz und gar verwandelt und zu willenlosen Sklaven der unrichtigen Empfindung herabgesetzt« (I 393; 336). Die Kunst, Ergebnisse neuer Kunst, Bekenntnisse zu alter Kunst, kann also mit dem Unheil der Gegenwart verbunden sein. Sie kann die »Konvention« propagieren, die das Unheil noch zum Bedürfnis macht. Den Begriff der »unrichtigen Empfindung« erläutert Nietzsche zu Beginn des 6. Abschnitts an »zwei Beispielen«. Zu dem zwei­ ten Beispiel (das hier zuerst genannt sei) nimmt Nietzsche einen Gedanken aus der Historienschrift auf: die Selbsttäuschung beim »Objektivitäts«-Anspruch im Selbstverständnis der Wissenschaft, die praktische Funktion ihrer Wirklichkeits-Theorie als einer Apologie der bestehenden Wirklichkeit. Von den verschiedenen Fachgebieten, an denen Nietzsche die­ ses Beispiel demonstriert, sei hier die Zoologie genannt. Ohne Darwins Namen zu nennen, erklärt Nietzsche: »Die Forscher der Tiergeschichte bemühen sich, die tierischen Ausbrüche von Gewalt und List und Rachsucht im jetzigen Verkehre der Staaten und Men­ schen untereinander als unabänderliche Naturgesetze hinzustellen« (I 394; 338). Das unbestreitbare biologische Prinzip des ›Kampfes ums Dasein‹ wird durch Ignorieren, Bagatellisieren oder Umdeuten aller solchen Phänomene, die durch dieses Prinzip nicht verursacht sind (wie z. B. die Zeugnisse eines Eigenwertes der Gestalt in Farbe, Form, Bewegung, Ton, oder eines Eigenwertes des Eros), verabsolutiert und gewinnt durch diese Auslegung als des zentralen Naturgesetzes (eines gleichsam transzendenten Wirklichkeitsgrundes) in der Praxis den Charakter einer Rechtfertigung des modernen ökonomischen Prinzips der Konkurrenz. Die fachwissenschaftliche Theorie wird zu einer – meist unbewußten und ungewollten – pseudoreligiösen Art von Praxissanktionierung. Nietzsche zieht das Fazit aus seiner Beispielreihe: »Die Lehre vom Staat, vom Volke, von der Wirtschaft, dem Handel, dem Rechte – alles hat jetzt jenen vorbereitend apologetischen Charakter; ja es scheint, was von Geist noch tätig ist, ohne bei dem Betriebe des großen Erwerb- und Macht-Mechanismus selbst verbraucht zu werden, hat seine einzige Aufgabe im [unbewußten] Verteidigen und Entschuldi­ gen der Gegenwart« (a. a. O.). Der andere, der erste dieser beiden Beispielkreise, an denen Nietzsche seinen Gedanken der »unrichtigen Empfindung« erläutert, liest sich für uns, der Form wie auch dem Inhalt nach, recht kindlich:

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2 ›Die Kunst und die Revolution‹

»Ehemals sah man mit ehrlicher Vornehmheit auf die Menschen herab, die mit Geld Handel treiben, wenn man sie auch nötig hatte; man gestand sich ein, daß jede Gesellschaft ihre Eingeweide haben müsse. Jetzt sind sie die herrschende Macht in der Seele der modernen Menschheit, als der begehrlichste Teil derselben« (I 393; 337). Es ist aber dieser Ansatz von ›Wirklichkeit‹ – nach dem die wirtschaftliche Produktivität und die damit verbundenen Institutionen (wie z. B. der Verkehr) nicht mehr nur ein Mittel zum Zweck, sondern zum Selbstzweck geworden sind, für den alles andere zum Mittel geworden ist – dem der moderne (seit dem Ende des 18. Jahrhunderts aufge­ kommene) Ansatz von ›Kunst‹ entspricht, der den Kunsttheorien und Kunstdiskussionen schon immer voraus liegt: Kunst ist Luxus. Dieser Vorbegriff von Wirklichkeit wird nur bestätigt, wenn man sich die Frage stellt, wie die Kunst aus ihrem Wolkenkuckucksheim befreit und dem industriellen Arbeitsprozeß eingegliedert werden kann. Das Pathos einer bürgerlichen, politischen, pädagogischen ›Wirkung‹ der Kunst auf die ›Wirklichkeit‹ bleibt dem Luxus-Begriff der Kunst, gegen den es opponiert, verhaftet, weil es an dem ›materia­ listischen‹ oder ›idealistischen‹ Wirklichkeits-Maßstab nichts ändert. Ein Bild des Revolutionsmalers David ist von dem, was es ›widerspie­ gelt‹, so weit entfernt wie eine Biedermeierlandschaft. Die Größe Goyas liegt darin, daß er sich über die Entfernung der Kunst (der bildenden Kunst) von der Gesellschaft in seiner Zeit keine Illusionen machte und diese Illusionslosigkeit selbst mit malte. »Bei den Griechen«, schreibt Wagner in dem genannten Aufsatz, »war das vollendete, das dramatische Kunstwerk der Inbegriff alles aus dem griechischen Wesen Darstellbaren; es war, im innigen Zusammenhange mit ihrer Geschichte, die Nation selbst, die sich bei der Aufführung des Kunstwerkes gegenüber stand« (S. 33). Im Gedanken an diesen Zusammenhang zwischen Aischylos und der attischen Polis sagt Nietzsche von Wagner, er sei zur gleichen Zeit »Revolutionär der Gesellschaft« geworden, wie er erkannt habe, daß einstmals der einzige Künstler »das dichtende Volk« gewesen sei (I 404; 351). »Ihn schauderte«, so heißt es weiter in dem gleichen 8. Abschnitt der Bayreuth-Schrift, »bei der Erinnerung, auf wen er bisher hatte wir­ ken wollen. Von seinem Erlebnis aus verstand er die ganze schmach­ volle Stellung, in welcher die Kunst und die Künstler sich befinden: wie eine seelenlose oder seelenharte Gesellschaft, welche sich die gute nennt und die eigentlich böse ist, Kunst und Künstler zu ihrem

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›Die Kunst in der Zeit der Arbeit‹ (Nietzsches ›Bayreuth-Gedanke‹)

sklavischen Gefolge zählt, zur Befriedigung von Scheinbedürfnissen. Die moderne Kunst ist Luxus: das begriff er ebenso wie das andre, daß sie mit dem Rechte einer Luxus-Gesellschaft stehe und falle. Nicht anders, als diese durch die hartherzigste und klügste Benutzung ihrer Macht die Unmächtigen, das Volk, immer dienstbarer, niedriger und unvolkstümlicher zu machen und aus ihm den modernen ›Arbeiter‹ zu schaffen wußte, hat sie auch dem Volke das Größte und Reinste, was es aus tiefster Nötigung sich erzeugte und worin es als der wahre und der einzige Künstler seine Seele mildherzig mitteilte: seinen Mythus, seine Liedweise, seinen Tanz, seine Spracherfindung entzogen, um daraus ein wollüstiges Mittel gegen die Erschöpfung und die Langweile ihres Daseins zu destillieren – die modernen Künste« (I 404f.; 351f.). Nietzsche geht dabei nicht auf einen geschichtlichen Tatbestand ein, der für Hegel bei der Frage nach der geschichtlichen Entwicklung seit den Griechen zu einem Angelpunkt geworden war, – eine Aus­ lassung, die in Nietzsches Fall den Einwand nahelegt, daß er um der griechischen Kunst willen die griechische Wirklichkeit zumindest verkürzt hat. Daß die Griechen, die Bürger der griechischen Polis, in ihren Festen, in den Versammlungen auf der Agora, unbestreitbar freilich auch in ihren Kriegen, – daß sie in Delphi und Olympia, nicht jedoch in dem, was wir die ›Lebenserhaltung‹ nennen, daß sie in den sportlichen und musischen Agonen, nicht aber in einem programmierten Konkurrenzkampf, das ausüben konnten, was ihnen als lebenswichtig erschien, das war ihnen doch nur dadurch möglich, daß es unter ihnen Sklaven gab. Wagner, der erklärt, daß ihn an Hegels ›Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte‹, mit der er sich in seiner Dresdener Zeit beschäftigte, vieles sehr beeindruckt habe32, stellt sich diesem Tatbe­ stand: »Der Sklave hat ... für alle Zeiten nachgewiesen, daß Schönheit und Stärke, als Grundzüge des öffentlichen Lebens, nur dann beglü­ ckende Dauer haben können, wenn sie allen Menschen zu eigen sind« (S. 31). Er teilt nur trotzdem nicht das Freiheitspathos seiner Zeit. Im Gedanken an die Vergangenheit behauptet er von seiner Zeit: »Der Sklave ist nicht frei, sondern der Freie ist Sklave geworden« (S. 32). Dieses Urteil fällt Wagner im Hinblick darauf, daß seine Zeit geprägt ist durch die Eigenart und das Gewicht der industriellen Arbeit. 32

S. Curt von Westernhagen, Wagner, 1968, S. 146.

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2 ›Die Kunst und die Revolution‹

Nach ihrem eigenen Verständnis ist die ›Arbeit‹ das Gegenteil von Muße. Die Tage, die Wochen, das Jahr sind eingeteilt in die Zeiten der Arbeit und die Zeiten, wo die Arbeit ruht. Zu diesen, den ›arbeitsfreien‹ Stunden gehört neben der puren Ruhe noch das ›Spiel‹ (oder eine ›freiwillige‹ Arbeit). (Der Sport versteht sich als eine Mischung von ›Arbeit‹ und ›Spiel‹.) Diesem Selbstverständnis gegenüber ist bei Wagner als erstes zu betonen, daß er die moderne ›Arbeit‹ nicht als das Gegenteil der Ruhe oder des ›Spiels‹ begreift, ihr Spezifikum also nicht gleichsetzt mit Mühe. Das Gegenteil der ›Arbeit‹ sieht er in einer Daseinsweise, die selbst mit Mühe verbunden ist, in derjenigen, die er als Musiker und Dichter selber ausübt. Er nennt es das »künstlerische« Tun. Damit ist – via negationis – gesagt, daß ›Arbeit‹ hier von einem Verhalten unterschieden wird, das im Ausmaß der Anstrengung, in der Größe der Gefahren, in der Schwere und im Ernst zeitweiliger Verzweiflung, im Zwang zur Geduld, in der Beharrlichkeit der Ausdauer den schwersten und den am höchsten respektierten Industriearbeiten nicht nachsteht. Versteht man – anders als Wagner in diesem Aufsatz – den Namen ›Arbeit‹ in dem weiteren und älteren Sinn, der jedes ange­ strengte Tun des Menschen bezeichnet, dann ist das, was Wagner als »künstlerische« Tätigkeit der Industriearbeit entgegensetzt, auch Arbeit. In diesem weiteren Sinn des Wortes kann man beispielsweise in dem lebenslangen, unablässigen, von der äußersten Konzentration der Augen und der Hand, des Geistes und der Seele geleiteten Aufent­ halt Cézannes »vor dem Motiv« eine vom bloßen ›Spiel‹ unendlich weit entfernte Verkörperung von Arbeit sehen. Wodurch, wenn nicht durch das Merkmal der Anstrengung, ist dann für Wagner die ›Arbeit‹ in dem besonderen Sinn der Industriear­ beit gekennzeichnet? Wenn man diese Frage reflektiert und dabei nur auf das von Wagner gebrauchte Vokabular achtet, dann könnte sich die Meinung nahelegen, Wagner habe lediglich die alte Unterscheidung von ›Kunst‹ und ›Handwerk‹ aufgegriffen. Diese Meinung könnte sich noch darauf stützen, daß Wagner die Tradition der Ästhetik gut bekannt war. Sie würde aber Wagners Zeitkritik verfehlen, die – wie schon der Titel sagt – der Zweck der Schrift ist. Ein ästhetisches Mißverständnis würde noch dadurch erleichtert, daß Wagner den Namen »Arbeit« selbst dem Ausdruck »Handwerk« gleichstellt. Und wenn jemand, der noch dazu selbst ein ›Künstler‹ ist, in der Blütezeit des ästhetischen ›Geniekults‹ das »künstlerische« Tun vom »handwerklichen« abhebt, dann ist man schnell geneigt, sich an

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die Unterscheidung lehr- und lernbarer Fähigkeiten vom künstleri­ schen ›Schöpfertum‹ erinnert zu fühlen. Sucht Wagner seine Abhe­ bung der Arbeit von der Kunst nicht selbst durch den Unterschied von »Zwang« und »Freiheit« zu erklären, mit dem man von alters her die ›artes liberales‹ von den handwerklichen ›Künsten‹ unterschied? So beginnt ein – im ganzen wichtiger – Absatz in Wagners Aufsatz: »Der Künstler hat, außer an dem Zwecke seines Schaffens, schon an diesem Schaffen ... selbst Genuß ... Dem Handwerker gilt nur der Zweck seiner Bemühung, der Nutzen, den ihm seine Arbeit bringt; die Tätigkeit, die er verwendet, erfreut ihn nicht, sie ist ihm nur Beschwerde, unum­ gängliche Notwendigkeit, ... seine Arbeit vermag ihn nur aus Zwang zu fesseln« (S. 29f.). Das hört sich an wie eine Paraphrase der berühm­ ten Stelle, in der Kant die gängige Unterscheidung von ›Kunst‹ und ›Handwerk‹ in der ›Kritik der Urteilskraft‹ (§ 43, n. 3) referiert: »Die erste heißt freie, die andere kann auch Lohnkunst heißen. Man sieht die erste so an, als ob sie nur als Spiel, d. i. Beschäftigung, die für sich selbst angenehm ist, zweckmäßig ausfallen (gelingen) könne; die zweite so, daß sie als Arbeit, d. i. Beschäftigung, die für sich selbst unangenehm (beschwerlich), und nur durch ihre Wirkung (z. B. den Lohn) anlockend ist, mithin zwangsmäßig auferlegt werden kann.« Liegt hier, bei Wagner, also nicht mehr vor als eine jener Künst­ lerutopien, die auch dann romantisch-verschroben bleiben, wenn sie im Mantel des Menschenfreundes auftreten? Der Fortgang der zitier­ ten Stelle könnte diesen Verdacht noch erhärten, da Wagner da einen Ausnahmefall von Handwerksarbeit anführt, wo auch diese Betäti­ gungsweise frei von Zwang ist: Das sei dann der Fall, wenn der Zweck der Arbeit »die Befriedigung eines eigenen Bedürfnisses« ist, »z. B. die Herstellung seiner eigenen Wohnung, seiner eigenen Gerätschaf­ ten, Kleidung usw.«. Dann nämlich, sagt Wagner, »wird ihm mit dem Behagen an den ihm verbleibenden nützlichen Gegenständen all­ mählich auch Neigung zu einer solchen Zubereitung des Stoffes, wie sie seinem persönlichen Geschmacke zusagt, eintreten« (S. 30). Das Phantastische dieser Erwägung im Hinblick auf den Gedan­ ken der Schrift: die »Kunst« zum Maßstab der Sozialveränderung zu deklarieren, liegt auf der Hand. Jeder Mensch müßte, vom Löffel bis zum Anzug, vom Fahrzeug bis zum Haus, alles selber machen, wenn jeder Mensch vor der Exteriorität seines Tuns bewahrt bleiben sollte, – eine Überwindung der ›Arbeitsteilung‹ um den Preis des Stüm­ pertums. Spricht man sich diese Konsequenz der vordergründigen

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Erwägung Wagners aus, dann befreit man einen ernst zu nehmenden Gedanken, den er darin verpackt hat. Wagners Kritik an einer Arbeitsform, die prinzipiell freudlos ist, die nur »aus Zwang«, das heißt, nur im Gedanken an eine außerhalb der Arbeit selbst liegende Folge dieser Arbeit gemacht wird, und das Lob einer Betätigung, bei der die »Zubereitung des Stoffes« mit einer »Neigung« verbunden ist, sind von der Frage, wem das Arbeits-Resul­ tat gehört, in Wahrheit unabhängig. Wenn es Wagner primär darum geht, eine – wie er zu Anfang der Stelle sagt – »erfreuende und befriedigende Tätigkeit«, die als erfreuende und befriedigende »nicht Arbeit« ist, als ein Vorbild aufstellen zu können, dann bietet sich dafür eine Erfahrung an, die der »künstlerischen« und der »handwerk­ lichen« Tätigkeit gemeinsam ist: ›Kunst‹ in dem alten Sinn des Wortes (als ars), der gerade die handwerkliche Schulung mit dem artistischen Geschick verbindet, ist die ausschlaggebende Bedingung dafür, daß die »Zubereitung des Stoffes« den Werktätigen erfreut und befriedigt. Je schwerer das ›Werken‹-lernen, die Erwerbung der Sachkenntnisse war, je weniger vertauschbar also das ›Schaffen‹ ist, um so tiefer ist die Befriedigung in der Ausübung einer solchen Tätigkeit. Daß der Schuh, die Brücke, das Fresko, wenn sie fertig sind, für den Schuster, die Zimmerleute, die Maler kein ihnen »verbleibender Gegenstand« sind, ist dagegen kein Einwand. Befriedigung ist hier keine Frage des Besitzes. Hans Sachs setzt dieser Erfahrung ein Denkmal. Im Schlußteil des Absatzes wird der Kernpunkt der Unterschei­ dung, der der Intention dieses Aufsatzes zugehört, beim Namen genannt. Und für den Leser wird klar, daß der Unterschied, den Wag­ ner hier in Wahrheit meint, nicht der von Dienst und Autarkie ist, sondern der zwischen einer Werktätigkeit, wo der Zweck des Tuns das jeweilige Werk ist, und einer solchen, wo es ein »abstrakter« Wert ist: »Gibt er [der Handwerker] aber das Produkt seiner Arbeit von sich [wir dürfen nun korrigieren: gibt er schon das »Produzieren« von sich], verbleibt ihm davon nur der abstrakte Geldeswert, so kann sich unmöglich seine Tätigkeit je über den Charakter der Geschäftigkeit der Maschine erheben; sie gilt ihm nur als Mühe, als traurige, saure Arbeit« (S. 30). Die Geschäftigkeit, bei der der Mensch primär durch den »abstrakten Geldeswert« mit seiner Arbeit verbunden ist, unterschei­ det sich von anderer Werktätigkeit dadurch, daß hier die ›Arbeit‹ nur als Mühe gilt, daß hier die Unlust oder (worauf Wagner an anderer Stelle verweist) die Langeweile das bestimmende Merkmal sind. Und

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›Die Kunst in der Zeit der Arbeit‹ (Nietzsches ›Bayreuth-Gedanke‹)

Wagner fügt hinzu: »Dies letztere ist das Los des Sklaven der Indus­ trie; unsre heutigen Fabriken geben uns das jammervolle Bild tiefster Entwürdigung des Menschen: ein beständiges geist- und leibtötendes Mühen ohne Lust und Liebe, oft fast ohne Zweck« (a. a. O.). Die Entwürdigung des Menschen durch die Industriearbeit, die moderne Sklaverei, sieht Wagner danach in der Entfremdung des Arbeiters von seiner Arbeit, – nicht erst in der Ausbeutung des Wertes seiner Arbeit, sondern schon in der Einstufung seiner Tätigkeit als einer Produktion von Werten, in der »Abstraktion«, wir können auch sagen: in der prinzipiellen Formalisierung oder Mathematisie­ rung der Arbeitswelt. Die nähere Beachtung der ›künstlerischen‹ Werktätigkeit (der die handwerkliche zugehören kann) erlaubt, das noch zu verdeutlichen. Was den Menschen in der ›Industrie‹ zum Sklaven macht, ist nicht der fehlende Besitz der Arbeitsresultate, nicht die Veräußerung des Entstandenen, sondern die Nichtigkeit, in der schon die Materie seiner Tätigkeit zu ihm steht, die Nichtigkeit dieser Materie selbst. Das Programm hat die Erde ersetzt. Die moderne »Versklavung« besteht nicht erst in einer Selbst­ entfremdung, sondern, um eine Dimension weiter, in einer Welt­ entfremdung. Im Namen der Selbstentfremdung allein bleibt die ›kapitalistische‹ Abstraktion der Welt zum Wert unangetastet. Ent­ scheidend ist der Aufstieg der Kategorie des Besitzes zum absoluten Wirklichkeitsmaßstab. In dieser Verabsolutierung des Besitzes – der seit dem Beginn des Ackerbaus, seit dem Beginn der ›Kultur‹ ein Wesens-Element des Menschen ausmacht – zum Wesens-Zentrum ist der Zwang zum ›Wachstum‹ eingeschlossen. Als eine abstrakte Norm existiert Besitz nur, indem er ›wächst‹. Ein Zeichen dieses Grundzugs industrieller Arbeit ist der »Aus­ druck der Dumpfheit oder der Hast«, der Nietzsche nach dem oben zitierten Passus aus dem 5. Abschnitt der Bayreuth-Schrift bereits vor hundert Jahren in unseren »volkreichen Städten« zu denken gab. Der »Abstraktion« in der Eigenart der »Arbeit« entspricht die Universalisierung ihres Ausmaßes. Die »Arbeit« ist nicht – wie z. B. das alte Handwerk oder die Feldarbeit des Bauern – ein Teil des Daseins, zu dessen Wesen es gehört, mit anderen Daseinsweisen, wie den Festen der Lebens- und Jahreswenden, den Festen der Polis oder des Volkes, der Liebe, wie den Gesprächen, den Liedern, den Bädern zu wechseln. Sie ist vielmehr ›die Wirklichkeit‹ selbst, in die andere Daseinsweisen, sofern sie nicht ›irreal‹ oder ›unvernünftig‹ geworden sind, eingeordnet werden, der sie untergeordnet werden.

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Die Ferienzeit wird als ›Erholung‹ verstanden. Die höchste Erfüllung des ›Spieles‹ in ›arbeitsfreien‹ Stunden besteht darin, daß es – vom ›Trimm-dich‹-Eifer bis zum ›aktiven Urlaub‹ – zur Wiederherstellung oder zur Steigerung der Arbeitsfähigkeit ›eingesetzt‹ werden kann. (›Passivität‹, ein Name, in dem das Wort und die Sache der ›Passion‹ nachklingt, ist das schlechthin Verwerfliche.) Der Schulunterricht wird von Erziehungsbehörden und Pädagogen auf seinen Wert für die ›moderne‹ (technologisch-informationelle) Berufsausbildung redu­ ziert. Das ›Spiel‹ ist als »Ergänzung und Kontrast« zu dieser Bildung, als eine Art von negativer ›Leistung‹ also, eingeplant. Und die ›Kunst‹ (kurzerhand mit ›Ästhetik‹ gleichgesetzt) findet in ihrer – wie wir seit Schopenhauer wissen – Freiheit von der Wirklichkeit (vom »Wol­ len«), also in ihrem Luxus-Charakter, allerhöchste Sanktionierung, indem sie eben in dieser Eigenschaft dem Arbeitsprozeß dienstbar gemacht wird: durch ihre »Entlastungs«-Funktion, mit Nietzsches Formulierung: als ein »Mittel gegen Erschöpfung«. Eine Voraussetzung dieser Verabsolutierung der ›Arbeit‹ zum universalen Daseinsmaßstab ist die Reduktion der Lebensbedürfnisse auf die Lebensbedingungen. Hier, in der eigenen Denk-Bedingung des modernen Ökonomismus, wird man den Kern von Wagners Berufung auf die Griechen in der Verbindung mit seiner Zuwendung zu den revolutionären Bestrebungen jener Zeit sehen dürfen. Der Hinweis auf die Sklavenhaltung der Griechen reicht, für sich genommen, ja nicht aus, um den Unterschied der Griechen zur Gegenwart der Indus­ triegesellschaft zu bemerken. Jener Tatbestand der griechischen Sozi­ alstruktur reicht noch nicht zu, um zu erklären, warum die Griechen diejenigen Lebenspflichten, die sie den Sklaven übertrugen, selber nicht für wichtig hielten. »Diese Beschaffung der sogenannten not­ wendigen Lebensbedürfnisse, welche, genau genommen, die ganze Sorge unsers Privat- wie öffentlichen Lebens ausmacht, dünkte den Griechen nie würdig, ihm der Gegenstand besondrer und anhaltender Aufmerksamkeit zu sein. Sein Geist lebte nur in der Öffentlichkeit ...: die Bedürfnisse dieser Öffentlichkeit machten seine Sorge aus; diese aber befriedigte der Patriot, der Staatsmann, der Künstler, nicht der Handwerker. Zu dem Genusse der Öffentlichkeit schritt der Grieche aus einer einfachen, prunklosen Häuslichkeit: schändlich und niedrig hätte es ihm gegolten, hinter prachtvollen Wänden eines Privatpalas­ tes der raffinierten Üppigkeit und Wollust zu fröhnen, wie sie heut­ zutage [Wagner greift eine Symbolfigur seiner Tage heraus] den ein­ zigen Gehalt des Lebens eines Helden der Börse ausmachen« (S. 31).

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›Die Kunst in der Zeit der Arbeit‹ (Nietzsches ›Bayreuth-Gedanke‹)

Wagner sieht in diesem Vergleich mit den Griechen – wie naiv auch manche dieser Formulierungen erscheinen mögen – ein Problem, das eine Unzulänglichkeit in der Sozialkritik seines wie unseres Zeitalters trifft. Er sieht, daß die Ausbeutung der Lohnemp­ fänger in den Industriestädten jener Jahre nur gemildert, aber noch nicht überwunden ist (wir können heute hinzufügen: nur auf andere Bereiche: Verkehrsunfälle, psychische und physische ›Zivilisationser­ krankungen‹, die Alters- und Kinderfremdheit, ›Streß‹-Epidemien; auf entfernte Gebiete: die ›Entwicklungsländer‹; spätere Generationen: in der ›Umwelt‹-Zerstörung, verlagert wird), wenn die Kritik sich auf die objektive Ungerechtigkeit in den bestehenden Herrschaftsver­ hältnissen und das willentlich Böse in den bestehenden Besitzverhält­ nissen beschränkt, aber deren von der ganzen Epoche geteilten (von allen für richtig und gut erachteten) Lebens-Maßstab: die Leistung in dem Konkurrenzkampf um die Erhaltung der Zukunft, übernimmt. ›Zukunft‹ heißt in diesem Fall: das institutionalisierte Planen (in dem das alte ›Spekulieren‹ nur scheinbar überwunden ist), das Ausgerich­ tetsein auf eine jedesmal für genau erkennbar angesetzte und als ein ständiges Näherkommen vorgestellte, in Wahrheit aber konstitutiv ausstehende, kategorisch noch nicht ganz präsente Präsenz. Wagner befürchtet in dem Aufsatz, die »revolutionäre Kraft« könne sich in Formen äußern, die den Impuls dieser Kraft in sein Gegenteil verkehren. Er warnt davor, sich über »das eigentliche Wesen der großen sozialen Bewegung« beirren zu lassen durch die »zur Schau getragenen Theorien unsrer doktrinären Sozialisten, wel­ che mit dem gegenwärtigen Bestande unsrer Gesellschaft unmögliche Verträge schließen wollen« (S. 37). Dieser Grund der Sorge muß, wie Wagner hier erklärt, zuerst einmal verstanden werden: »Äußert sich«, fragt er – die empirische Berechtigung des Verlangens anerkennend – die »revolutionäre Kraft« »nicht zunächst als der Trotz des Handwerkers [hier also des Industriearbeiters] auf das moralische Bewußtsein von seiner Arbeit­ samkeit gegenüber der lasterhaften Trägheit oder unsittlichen Geschäftigkeit der Reichen? Will er nicht, wie aus Rache, das Prinzip der Arbeit zur einzig berechtigten Religion der Gesellschaft erheben? Den Reichen zwingen, gleich ihm zu arbeiten, um auch im Schweiße seines Angesichts sein tägliches Brot sich zu verdienen?« (S. 37). Mit diesem empirischen Verständnis, der moralischen Anerken­ nung, verbindet Wagner die Frage, was eine solche »Religion der Gesellschaft«, eine solche Verabsolutierung der Leistung, eine solche

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2 ›Die Kunst und die Revolution‹

(mit dem ›Ring‹ zu reden) Vergöttlichung der »Verträge« bedeutet: »Hätten wir nicht zu fürchten, daß die Ausführung dieses Zwanges, die Anerkennung jenes Prinzipes gerade das menschenentwürdi­ gende Handwerkertum [das Produzieren von Werten] endlich zur absoluten Weltmacht erheben ... müßte?« (S. 37). Wenn die »Arbeit« zum Namen dieses Zeitalters werden kann, dann ist mit diesem Namen nicht – genauso wenig wie mit den »Maschinen« und Fabriken – das Spezifikum eines Lebens-Bereiches gemeint, sondern der Sachverhalt, daß das Erwirken der Lebens-Mit­ tel zur Lebensdoktrin geworden ist. Wagner bedrängt, wie unerfahren er auch in der Kenntnis imma­ nenter ökonomischer Gesetze sein mag, die Sorge, daß die Unmenschlichkeit, in der sich die Industrialisierung seiner Zeit in der Lage der arbeitenden Klassen auswirkt, durch die Anerkennung des ökonomischen Horizontes dieser Zeit in einer solchen Form bekämpft wird, die die technologische Globalisierung der Unfreiheit (der Ver­ sklavung) ungewollt noch befördert. Die Frage dieser Zeit ist daher – in der selber noch suchenden Formulierungsweise dieses Aufsatzes – für Wagner die: »Woher die menschliche Stärke gegen den alles läh­ menden Druck einer Zivilisation, welche den Menschen vollkommen verleugnet? Gegen den Übermut einer Kultur, welche den menschli­ chen Geist nur als Dampfkraft der Maschine verwendet? Woher das Licht zur Erleuchtung jenes herrschenden grausamen Aberglaubens, daß jene Zivilisation, jene Kultur an sich mehr wert seien, als der wirkliche, lebendige Mensch?« (S. 36). Diese Frage wäre mißverstanden, wenn man Wagners Polemik gegen die »Zivilisation« hier mit der Kulturkritik Rousseaus gleich­ setzen würde: als sei die menschliche ›Natur‹ unterdrückt durch die als solche anti-natürliche »Zivilisation«. Wagner meint die Gefahr einer ganz bestimmten Kultur (oder Zivilisation), derjenigen, die von Erfindungen wie der »Dampfkraft« (und einem Selbstbewußtsein, wie es sich von dieser Zeit an in den ›Weltausstellungen‹ entfaltete) geprägt ist. Und diese Gefahr ist seiner Ansicht nach nicht lediglich der korrekturbedürftige Anfangszustand eines alle Opfer rechtfertigen­ den Aufstiegs zum Glück, sondern das Strukturmerkmal einer Kultur, die die Herstellung, den Erwerb und die Sicherung von ›Reichtum‹ zum Lebensinhalt gemacht hat. Darum Wagners Frage, was aus dieser Verzauberung, aus diesem »lähmenden Druck« befreien könnte. Die Antwort gibt er mit seiner Kunst, insbesonders mit dem in den Jahren, denen dieser Aufsatz zugehört, begonnenen ›Ring des

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›Die Kunst in der Zeit der Arbeit‹ (Nietzsches ›Bayreuth-Gedanke‹)

Nibelungen‹. Mit dem, was Siegfried und sein Tod verkörpert, gelangt die Macht der »Götter« dieser Ära an ihr Ende: die Koinzidenz des Willens der Verträge mit dem Willen der Begierde in der Abkehr von der Liebe und der Verkehrung der Freiheit zum Selbstbesitz.33 In den Vorarbeiten zu der Bayreuth-Schrift charakterisiert Nietz­ sche den ›Ring des Nibelungen‹: »freiwilliges Verzichten der bisheri­ gen Weltmächte, Gegensätze von Weltperioden – mit Umwandlung der Richtung und der Ziele« (GA X, 1903, S. 456).

3 Der ›Geist der Musik‹ Es ist bekannt, daß sich für Nietzsche, schon bevor er (im Sommer 1875 und im Frühjahr 1876) das vierte Stück der ›Unzeitgemäßen Betrachtungen‹, seine Huldigungsschrift zur Eröffnung der Bayreu­ ther Festspiele schrieb, die ersten Zweifel in seine Bewunderung Wag­ ners gemischt hatten. Aus dem Nachlaß publizierte Skizzen vom Frühjahr 187434 lesen sich in ihren Einwänden gegen das »Schauspie­ lerthum«, die »Ekstatik« und die »Sinnlichkeit« Wagners wie ein Vor­ spiel jener funkelnden und zischenden Polemik aus den späteren, zumal dem letzten von Nietzsches Schaffensjahren. Und Nietzsches, durch die heftigsten Anfälle seiner Migräne belastete und auch ver­ kürzte, Teilnahme an einigen der letzten Proben und dem ersten Auf­ 33 Verwiesen sei hier besonders auf die Aufsätze von Karl-Heinz Volkmann-Schluck: ›Der Ring des Nibelungen. Die Krise des Bewußtseins‹, in den Programmheften der Bayreuther Festspiele 1956, ›Das Rheingold‹, ›Die Walküre‹, ›Siegfried‹ und ›Götter­ dämmerung‹; und: ›Richard Wagner als Repräsentant des 19. Jahrhunderts‹, in: Kritik und Metaphysik. Heinz Heimsoeth zum 80. Geburtstag 1966, S. 252–262. – Aus der neueren Literatur zum ›Ring‹ seien hier zwei Schriften von Carl Dahlhaus genannt: aus seinem Buch Richard Wagners Musikdramen von 1971, die Kapitel zum ›Ring‹, S. 83–139; und der Aufsatz ›Über den Schluß der Götterdämmerung‹ in der von Dah­ lhaus herausgegebenen Sammlung Richard Wagner. Werk und Wirkung, 1971 (Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts 26) S. 97–115. In dem Aufsatz zeigt Dahl­ haus, daß der Schluß der ›Götterdämmerung‹ in seiner endgültigen Fassung (von 1874) – nach den Wandlungen und Schwankungen in der Zwischenzeit – den Gedanken der ersten Konzeption des Gesamtwerks (in dem Dresdener Prosaentwurf ›Die Nibelun­ gensage‹ vom Herbst 1848) sehr nahekommt. 34 Großoktavausgabe X (1903), S. 427–450. Wieder abgedruckt in der zweibändigen Nachlaßauswahl Die Unschuld des Werdens von A. Baeumler in Kröners Taschenaus­ gabe, Bd. 1 (in der Auflage von 1956: S. 207–275). In der neuen Gesamtausgabe von Nietzsches Werken ist der Nachlaß von 1874 beim Abschluß dieses Buches, im Januar 1975, noch nicht veröffentlicht.

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3 Der ›Geist der Musik‹

führungstag der ›Ring‹-Tetralogie im Juli und August 1876 in Bay­ reuth bezeichnet die Wende von seinem Frühwerk zu dem, was man sein Hauptwerk nennen kann, den Schriften, die er im Bewußtsein einer eigenen (zuerst vorwiegend ›kritischen‹, später dann auch ›pro­ phetischen‹) Philosophie geschrieben hat. Die erste dieser neuen Schriften, der Beginn der »großen Loslösung«, der »erste Ausbruch von Kraft und Willen zur Selbstbestimmung« (wie Nietzsche in der Vorrede zum ersten Band der Neuausgabe 1886 im Rückblick selber sagt; I 440; 7), ist das Buch ›Menschliches, Allzumenschliches‹ mit dem Untertitel ›Ein Buch für freie Geister‹ und gewidmet »dem Andenken Voltaire’s« »zur Gedächtnis-Feier seines Todestages, des 30. Mai 1778« (vgl. NW IV 2, S. 1). Zwei Nachträge, ›Vermischte Meinungen und Sprüche‹ und ›Der Wanderer und sein Schatten‹, erschienen 1879 (sie bilden seit der Neuausgabe von 1886 den »zwei­ ten Band«). Es ist das erste Buch Nietzsches, das wie von da ab die meisten seiner Schriften und Entwürfe in Aphorismen-Form geschrieben ist. Der erste Teil entstand während eines Aufenthaltes im Winter 1876/77 in Sorrent, also unmittelbar nach den Besuchen zur Eröff­ nung der Festspiele in Bayreuth. Dieses Buch, in dem Nietzsche sich von Wagner (von dem »Künstler«) unverkennbar distanziert, führt für immer zum Bruch der Freundschaft. Der Streit der Sympathien zwischen Wagner-Hörern und Nietz­ sche-Lesern, ob Nietzsche mit seiner Polemik gegen Wagner mehr im Recht oder mehr im Unrecht ist, verfehlt den Zwiespalt in der Sache, der quer dazu verläuft und auf beiden Seiten besteht. Muß Nietzsche sich denn bei seiner Polemik geirrt haben, wenn man Wagners Kunst verteidigen will? Daß der Nietzsche jener Polemik, der platonisch-reformatorische Verächter des »Theatralischen«, als der Verkünder des »Willens zur Macht« von der Wirklichkeit unseres Jahrhunderts mehr bestätigt wird als der Rebell von Dresden, der Dramatiker von Tribschen: ist diese historische Verifikation von Nietzsches Philosophie auch schon ein Beweis ihrer Vorbildlichkeit, die dazu zwingen müßte, die Polemik dieses Philosophen gegen Wagner durch den Nachweis von Irrtümern: Widersprüchen, anti­ thetischen Übertreibungen, biographisch motivierten Bösartigkeiten, zu entkräften? Solchen Abwehraffekten liegt die Voraussetzung zugrunde, der ›Nietzsche‹ nach 1876 könne nur eine Vervollkommnung des ›Nietz­ sche‹ aus der Zeit davor sein. Im Unterschied dazu setzen wir voraus,

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›Die Kunst in der Zeit der Arbeit‹ (Nietzsches ›Bayreuth-Gedanke‹)

daß Nietzsches Denken eine Einheit von Übergängen, ein Austrag von Spannungen ist, und daß zumal die Ausbildung der ›eigenen‹ Philo­ sophie den Eintritt in eine grundlegende Doppeldeutigkeit darstellt. Nietzsche wird, endgültig seit dem ›Zarathustra‹, der Lehrer des »Übermenschen«, er bleibt aber zugleich der Kritiker des europäischen Nihilismus. (Der Begriff des »Dionysischen« umfaßt in Nietzsches späterem Denken diese Doppeldeutigkeit in ihren beiden Seiten.) Und umgekehrt bleibt auch dann, wenn man Nietzsches AntiWagner-Polemik als eine Konsequenz seiner – zwar prophetischen, aber damit noch lange nicht begrüßenswerten – Metaphysik des Willens begreift, die Frage bestehen, ob mit dem Beginn seiner Zweifel an Wagner (seit 1874) nicht auch eine verbindliche Erkenntnis der Grenzen Wagners verbunden sein könnte, die Frage also: ob die Erfahrung von der Kunst und des »Gegeninstanz«-Charakters der Kunst gegenüber der Wirklichkeit dieses Zeitalters, die Nietzsche seit der Zeit der Tragödienschrift Wagner in hohem Maße verdankt, seine Tribschen-Erfahrung – ob diese Erfahrung alles das, was ›Wagner‹ heißt, umfaßt, oder aber nur eine Seite von Wagner ausmacht, wäh­ rend eine andere bis in die Jahre um 1875 Nietzsche nur noch nicht ins Bewußtsein getreten war. Von einer solchen Doppeldeutigkeit bei Wagner, einer Zwiespäl­ tigkeit in seinem »Genie«, spricht Nietzsche in einem seit 1967 zugänglichen Entwurf vom Sommer 1875, der, abgeschwächt und gekürzt, zu einem Passus im 2. Abschnitt der Bayreuth-Schrift umge­ bildet worden ist. (Der Entwurf: NW IV I, 1967, S. 310f.35 Der darauf zurückgehende Passus der Bayreuth-Schrift: I 372; 309f.; NW IV 1, S. 9. Die beiden Texte sind im folgenden durch E und B bezeichnet.) Bereits in den erwähnten Notizen vom Januar 1874 ist von der »Doppelnatur Wagner’s« die Rede (GA X, 1903, S. 427; ›Die Unschuld des Werdens‹ I, 1956, S. 97). In einem Gliederungsplan der BayreuthNotizen bezeichnet Nietzsche den Inhalt jenes Entwurfs vom Sommer 1875 durch das Gegensatzpaar: »Heftiger Wille und Geist der Musik« (NW IV I, S. 320). In dem endgültigen Text der Bayreuth-Schrift ist es der 3. Absatz des 2. Abschnitts, der diesen Gedanken aufnimmt. Es heißt da von Wagner: Seine Natur erscheine »in zwei Triebe oder Sphären auseinander gerissen«. »Zu unterst wühlt ein heftiger Wille in jäher Strömung, der gleichsam auf allen Wegen, Höhlen und 35 Bisher war nur der Schluß dieses Passus bekannt: GA X, 1903, S. 452; ›Die Unschuld des Werdens‹ Bd. 1, n. 276, S. 116f.

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3 Der ›Geist der Musik‹

Schluchten ans Licht will und nach Macht verlangt« (B). Dazu heißt es in dem Entwurf, »Dies ist die eine Seite der Wagnerschen Natur, furchtbar und friedlos, sich und anderen zur Qual« (E). Der endgültige Text erklärt, daß aus der Stärke dieser »Sphäre« Wagners »das Drama seines Lebens« zu verstehen sei. In dem Entwurf schreibt Nietzsche: »Nur ein ganz hoher und freier Geist konnte dieser wilden Natur einen Weg ins Gute und Hilfreiche weisen und sie davor bewahren, daß sie gegen sich selber zerstörerisch wüthete« (E). Im endgültigen Text wird diese zweite Sphäre lediglich als eine »freie Kraft« umschrie­ ben, im Entwurf dagegen (ebenso wie in dem Gliederungsplan) benannt: »Dieser Geist,... der wie eine Flamme dem hin und her geworfenen Seefahrer beim Unwetter die Richtung zeigte, war der Geist der Musik« (E). »Es war«, so heißt es dann an beiden Stellen ähnlich lautend, »ein liebevoller, mit Güte und Süßigkeit über­ schwänglich mild zuredender Geist, dem die Gewaltthat und das Machtwort verhaßt ist und der Niemanden in Fesseln sehen will« (E). Nur im Entwurf fährt Nietzsche fort: »Es gab Stunden und Zeiten, wo ihn auf eine schreckliche Weise der Zweifel heimsuchte, ob ihm dieser Geist noch treu geblieben sei; und wenn er dann seinen edel-mächti­ gen Flügelschlag um sich fühlte, so drang eine tiefe heiße Dankbarkeit und eine Fülle von ungeschriebenen Gelöbnissen zu ihm empor: Treue gegen den Geist der Musik wurde seine Religion« (E). Der Frage: »wie sollen wir« diese »andere Sphäre der Wagneri­ schen Natur« »beschreiben?« geht Nietzsche in dem veröffentlichten Text durch kurze Hinweise auf die Gestalten von Wagners Werken nach. In dem Entwurf notiert er: »Wie aber die Musik zu Wagner’s Willen redete, erschließen wir zu halbem Wege daraus, wie Musik zu uns spricht« (E). Und der daran anschließende Passus, in dem Nietzsche andeutet, wie Wagners Musik zu ihm spricht, endet mit einer schon länger bekannten Erklärung (s. die letzte Anm.): »Ich wüßte nicht, auf welchem Wege ich je des reinsten sonnenhellen Glücks theilhaftig geworden wäre als durch Wagner’s Musik: und dies obwohl sie durchaus nicht immer vom Glück redet, sondern von den furchtbaren und unheimlichen unterirdischen Kräften des Menschentreibens, von dem Leiden in allem Glücke und von der Endlichkeit unseres Glücks; es muß also in der Art, wie sie redet, das Glück liegen, das sie ausströmt« (E). Nietzsche unterscheidet also in den Jahren, wo er zwischen der alten Bewunderung für Wagner und ersten Zweifeln schwankt, zwei Seiten

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›Die Kunst in der Zeit der Arbeit‹ (Nietzsches ›Bayreuth-Gedanke‹)

(zwei »Triebe«, zwei »Sphären«) an ihm, die, in dem Zusammenspiel eines »dramatischen« Antagonismus, seiner »Natur« gleichermaßen zugehören: die Seite eines »heftigen Willens« und eine Kraft der Freiheit, der Helligkeit, der Liebe, der Milde, die er in dem Entwurf als den »Geist der Musik« bezeichnet. (Daß er diesen Namen in dem endgültigen Text ausläßt, läßt sich damit erklären, daß Nietzsche bei den Lesern der Bayreuth-Schrift nicht – wie bei Wagner und Cosima selbst – die Kenntnis seiner Erläuterung dieses Namens in der ›Geburt der Tragödie‹ voraussetzen konnte.) Der Gedanke an diese Unterscheidung zweier Sphären in Wag­ ner selbst hilft bei einer Verständnisschwierigkeit, zu der ein Aphoris­ mus aus dem letzten (1879 geschriebenen) Stück des Buches ›Mensch­ liches, Allzumenschliches‹, ›Der Wanderer und sein Schatten‹, führen muß, wenn man ihn mit der Bayreuth-Schrift zusammenhält. Es ist der Aphorismus n. 170 mit der Überschrift ›Die Kunst in der Zeit der Arbeit‹ (I 941f.; 251f.). Nietzsche erklärt darin, man müsse drei Weisen von Kunst unterscheiden, wenn man Kunst nach dem Maßstab ihres Anspruchs befragt. Er unterscheidet drei verschiedene Weisen von Kunst, die sich aus ihrer Stellung »zum Leben« ergeben. Zunächst gibt es danach den Unterschied zwischen einer »großen Kunst« und einer »kleinen Kunst«, einer »Kunst der Erholung, der ergötzlichen Zerstreuung«. Der »kleinen Kunst« kommt demnach das Merkmal zu, das Nietzsche in dem Entwurf einer ›Vorrede an Wagner‹ zur Tragödienschrift als die moderne Form von »Heiterkeit« charakterisiert.36 Es ist diejenige Stellung der Kunst zum Leben, die mit dem modernen Begriff der »Entlastung« getroffen wird. Die von Nietzsche davon abgehobene »große Kunst« wird nun aber selber nochmals in zwei verschiedene Möglichkeiten ihres Anspruchs und damit auch ihrer Beschaffenheit unterteilt: eine, die – wie Nietzsche zu Beginn des Aphorismus in negativer Umschreibung sagt – von der »Zeit der Arbeit« abgewiesen wird (und damit auch in dieser Zeit schwer erkannt werden kann). Das ist danach die »große »Von Ihnen weiß ich es, mein verehrter Freund, von Ihnen allein, daß Sie mit mir einen wahren und einen falschen Begriff der »griechischen Heiterkeit« unterscheiden und den letzteren – den falschen – im Zustande ungefährdeten Behagens auf allen Wegen und Stegen antreffen; von Ihnen weiß ich gleichfalls, daß Sie es für unmöglich halten, von jenem falschen Heiterkeitsbegriffe aus zur Einsicht in das Wesen der Tra­ gödie zu kommen.« (Zitiert nach D. J. ›Welt-Geschichte: Kunst-Geschichte‹, S. 128f.) (Ab 1978 KGW III-3.367. D. R.). 36

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Kunst« in ihrer genuinen Verfassung. Von dieser genuinen Form von »großer Kunst« unterscheidet Nietzsche eine derivative Form. Diese ist dort zu finden, wo eine »große Kunst« sich trotz ihres höheren Anspruchs der Lebenswelt, in der die »kleine Kunst« das ihr gemäße Feld besitzt, angeglichen hat. Die »große Kunst« hat da versucht, »in jener anderen Luft heimisch zu werden (mindestens es in ihr auszuhalten)«: »Auch die Künstler der großen Kunst versprechen Erholung und Zerstreuung, auch sie wenden sich an den Ermüdeten ... – ganz wie die unterhaltenden Künstler, welche zufrieden sind, gegen den schweren Ernst der Stirnen, das Versunkene der Augen einen Sieg errungen zu haben.« Die Frage, woran nun hier, bei dieser Intentions-Verwandtschaft mit der »kleinen Kunst«, die »Größe« sich bekundet, beantwortet Nietzsche in einer Weise, die selbst dann, wenn er ihr nicht noch den ausdrücklichen Verweis auf das musikalische Drama seiner Gegen­ wart beigefügt hätte, als eine schneidende Karikatur von Bayreuth gelesen werden müßte. »Welches ist«, fragt Nietzsche, verglichen mit der kleineren Kunst der Zerstreuung, »der Kunstgriff ihrer größeren Genossen?« Und er antwortet: »Diese haben in ihren Büchsen die gewaltsamsten Erregungsmittel, bei denen selbst der Halbtote noch zusammenschrecken muß; sie haben Betäubungen, Berauschungen, Erschütterungen, Tränenkrämpfe: mit diesen überwältigen sie den Ermüdeten und bringen ihn in eine übernächtige Überlebendigkeit, in ein Außer-sich-sein des Entzückens und des Schreckens. « Die Schärfe dieser Kennzeichnung der »modernen« großen Kunst schwächt Nietzsche scheinbar wieder ab. Man dürfe dieser »modernen« Art von großer Kunst, so »wie sie jetzt, als Oper, Tragödie und Musik lebt«, nicht »als einer arglistigen Sünderin zür­ nen«. In dieser Zeit könne Kunst sich nicht anders als so zur Größe erheben. Doch das wäre eine Entschuldigung, die die beschworene Gefährlichkeit allenfalls – auf ihre historischen Bedingungen hin – erklären, aber nichts daran verteidigen würde. Was ist der Grund für diese dritte Art von Kunst, die darin besteht, daß eine »große Kunst« sich dem Lebensbezug von »kleiner Kunst« angepaßt hat? Nach dem Aphorismus ist das die Macht dieses Zeitalters. Nietzsche nennt es hier in dem Titel des Aphorismus »die Zeit der Arbeit«. Wir haben den Anfangspassus, der das darlegt, zunächst ausgespart, weil er gegenüber dem ausdrücklichen Zweck des Aphorismus: Nietzsches Angriff gegen Bayreuth (mag auch der Name Wagners hier noch nicht genannt werden) nur als Einleitung

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fungiert, für unsere Frage aber: was Nietzsche der Freundschaft mit Wagner (parallel zu seiner Bewunderung Burckhardts) verdankt, für die Frage also, worin seine eigene Zeitkritik wurzelt, zu einem unbeabsichtigten Schlüsselpunkt dieses Aphorismus wird. Kunst kann, wie Nietzsche hier erklärt und wie er das jetzt (nach seinem ersten Eindruck von der – damaligen – Wirklichkeit Bayreuths) an dem Wagnerschen Musikdrama zu sehen glaubt, in dieser Zeit darum nur verfremdet (»vergröbert« und »verkleidet«) auftreten, weil ihre genuine Verfassung durch die Eigenart dieses Zeitalters gelähmt wird. »Wir haben«, so beginnt der Aphorismus, »das Gewissen eines arbeitsamen Zeitalters: dies erlaubt uns nicht, die besten Stunden und Vormittage der Kunst zu geben, und wenn diese Kunst selber die größte und würdigste wäre. Sie gilt uns als Sache der Muße, der Erholung: wir weihen ihr die Reste unserer Zeit, unserer Kräfte. – Dies ist die allgemeinste Tatsache, durch welche die Stellung der Kunst zum Leben verändert ist: sie hat, wenn sie ihre großen Zeit- und Kraft-Ansprüche an die Kunst-Empfangenden macht, das Gewissen der Arbeitsamen und Tüchtigen gegen sich, sie ist auf die Gewissenlosen und Lässigen angewiesen, welche aber, ihrer Natur nach, gerade der großen Kunst nicht zugetan sind und ihre Ansprüche als Anmaßungen empfinden. Es dürfte deshalb mit ihr zu Ende sein, weil ihr die Luft und der freie Atem fehlt.« Das Problem der Kunst ist danach kein Problem der Ästhetik, sondern ein Problem des »Gewissens«. Kann das, was einstmals »große Kunst« war, nicht mehr bestehen, nicht mehr – wie Nietzsche glaubt – entstehen, weil diese Größe als verwerflich gilt? Und dies nicht darum, weil große Kunst etwas Verwerfliches bewirkt, sondern weil sie nichts bewirkt, weil Kunst eine Institution der Erfolglosigkeit ist. Nicht darum, weil da – wie ihr von den »Arbeitsamen« unterstellt wird – weniger Mühe, Schmerz, Gefahr, Geduld verlangt würde, hat sie das Gewissen der »Tüchtigen« gegen sich, sondern darum, weil sie den gleichen Anspruch auf Maßstäblichkeit erhebt: sie ist, auch für den »Empfangenden«, nicht weniger, sondern genauso anspruchsvoll wie das dem ›Leistungs‹-Prinzip unterworfene ›Schaffen‹, das im Mobilisieren und Programmieren, im Herstellen und Bestellen der Lebens-Mittel besteht; aber sie kann, wie begrenzt auch immer die Augenblicke, die Stunden und Tage ihres Auftretens sein mögen, in ihrer genuinen Verfassung niemals ein Zusatz zur Arbeit innerhalb einer durch den Maßstab der Tüchtigkeit geprägten Welt sein.

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Dieses antagonistische Verhältnis der »großen Kunst« zu dem »Gewissen eines arbeitsamen Zeitalters« (und nicht etwa ein quantita­ tives Manko im Verhältnis des Umfangs von ›Kunst‹ und von ›Arbeit‹) wird in dem zuletzt genannten Einleitungspassus des Aphorismus ›Die Kunst in der Zeit der Arbeit‹ von Nietzsche hervorgehoben. Die »große Kunst« ist in dem, was sie sagt, und das heißt: in der Weise, wie sie spricht, und das wiederum heißt: in der Verfassung, die gewonnen werden muß, um das Gesagte zur Sprache kommen zu lassen, eine Alternative zu dem neuzeitlich-modernen ›Arbeits‹-Willen. Das meint Nietzsche hier mit dem Bild der Tageszeit, die das Gegenteil des ›Feierabends‹ ist. Es ist der vom Gewissen des Zeitalters beanspruchte »Vormittag«, die Zeit der stärksten Stunden, die Zeit, in der für das Schwerste das Höchstmaß an Kraft, für das Handeln das Höchstmaß an Sammlung erreichbar ist, welche die »große Kunst« brauchen würde, um ungeschmälert »groß« sein zu können. »Unserer« Art von großer Kunst, sagt Nietzsche gegen Ende jenes Aphorismus, dürfe man trotz der gewaltsamen Erregungsversuche, in denen sich die abendlich verhüllte Arbeitswelt in ihrem Prinzip, der Energiekumulation, dem in der tosenden Werkstatt immer nur Sich-selber-Hören, bestätigt sieht, nicht zürnen: »Sie lebte ja selber hundertmal lieber in dem reinen Element der morgendlichen Stille und wendete sich an die erwartenden, unverbrauchten, kraftgefüllten Morgen-Seelen der Zuschauer und Zuhörer.« Aber dazu ist nach Nietzsches Meinung in seiner Gegenwart kein Raum. Der Aphoris­ mus schließt: »Danken wir ihr, daß sie es vorzieht, so zu leben, als davonzufliehen: aber gestehen wir uns auch ein, daß für ein Zeitalter, welches einmal wieder freie, volle Fest- und Freudentage in das Leben einführt, unsere große Kunst unbrauchbar sein wird.« Die Kunst: in dieser Zeit nur als Schatten oder in einer Ver­ kehrung ihres genuinen Bezugs zum Leben denkbar (»klein« oder »betäubend«), eben darum, weil sie in einem Gegensatz zu der eigenen »Lebens«-Art dieses Zeitalters steht – das ist Nietzsches These in diesem Aphorismus aus den ersten Jahren nach Bayreuth. In den Jahren vor Bayreuth war der gleiche Gegensatz die Basis von Nietzsches Interesse an Wagner. Der Gedanke an das, was ihm – in einer Summierung von Phänomenmerkmalen, persönlichen Abhängigkeitskomplexen und dem Beginn seines Eintritts in die tra­ ditionelle Metaphysik – als die Wirklichkeit Bayreuths erschienen ist, überlagert von nun ab (wenn auch in wechselndem Gewicht) den Bay­

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reuth-Gedanken, das Thema der vierten ›Unzeitgemäßen Betrach­ tung‹. Daß aber das eine von dem anderen nicht widerlegt wird, kann das Stück aus den Entwürfen zu der Bayreuth-Schrift bestätigen, in denen Nietzsche an Wagner zwei »Triebe« (oder zwei »Sphären«) unterscheidet. Die Tendenz zur Betäubung, zur Überwältigung, zur gewaltsamen Erschütterung ist die eine jener beiden »Sphären«, die­ jenige, die Nietzsche da als den »heftigen Willen« bezeichnet. Sie war ihm schon damals an Wagner bekannt, aber erst später neigte er dazu, sie mit ›Wagner‹ zu identifizieren. Die vor der Eröffnung von Bayreuth an Wagner geliebte andere Sphäre, der Geist der Stille und der Milde, die Freiheit von der Heftig­ keit des Willens, die Begrenzung des Triebes zur Macht, wird jetzt, im Gedanken an das erste Auftreten des »modernen« Musikdramas, fraglich gemacht. Ausdrücklich abgesprochen wird sie Wagner aber auch da noch nicht. Das geschieht erst in der Spätzeit, wo Nietzsche in zahlreichen Äußerungen »contra Wagner« und in jener Schrift kurz vor dem Zusammenbruch den »Fall Wagner« als das eindrücklichste Beispiel der allgemeinen »Theatralik« seiner Zeit zu geißeln sucht. Der auf den ersten Blick befremdlich klingende Schluß der Bayreuth-Schrift sagt genaugenommen dasselbe wie der Schluß des Aphorismus ›Die Kunst in der Zeit der Arbeit‹, der eine der »großen Kunst« angemessene Wirklichkeit in die Zukunft verlegt. »Und nun fragt euch selber«, sagt Nietzsche gegen Ende der Bayreuth-Schrift, für ein flüchtiges Lesen übertrieben pathetisch, »ihr Geschlechter jetzt lebender Menschen! Ward dies für euch gedichtet?« Und er erklärt diese Frage: »Wo sind unter euch die Menschen, welche das göttliche Bild Wotans sich nach ihrem Leben zu deuten vermögen«, nämlich »immer größer werden, je mehr sie, wie er, zurücktreten? Wer von euch will auf Macht verzichten, wissend und erfahrend, daß die Macht böse ist?« Und nach Verweisen auf Brünnhildes Erfahrung: »trauernder Liebe tiefstes Leid schloß die Augen mir auf«, und Siegfrieds Freiheit gegenüber Wotan schließt die Schrift: »Wer so fragt, und vergebens fragt, der wird sich nach der Zukunft umsehen müssen; und sollte sein Blick in irgendwelcher Ferne gerade noch jenes ›Volk‹ entdecken, welches seine eigne Geschichte aus den Zeichen der Wagnerischen Kunst herauslesen darf, so versteht er zuletzt auch, was Wagner diesem Volke sein wird: – etwas, das er uns allen nicht sein kann, nämlich nicht der Seher einer Zukunft, wie er

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uns vielleicht erscheinen möchte, sondern der Deuter und Verklärer einer Vergangenheit« (I 433f.; 388f.). Der Schluß des Aphorismus aus ›Der Wanderer und sein Schat­ ten‹ sagt: was »große Kunst« in ihrer Stellung zum Leben braucht, was darum auch das gegenwärtige musikalische Drama beansprucht, das entzieht sich ihr in der Gegenwart. Der Schluß der Bayreuth-Schrift sagt: worauf Wagner mit ›Bayreuth‹ aus ist, was ›Bayreuth‹, um zu einem dramatischen »Ereignis« werden zu können, an Seh- und Hörbereitschaft seines ›Publikums‹ braucht, das fehlt ihm derzeit (damals) noch. Das ›Publikum‹, das ›Volk‹ – durch das die Sprache dieser Musik erst Sprache sein könnte – das ist zu dieser Zeit (unter Wagners und Nietzsches Umgebung) noch gar nicht da. Notgedrungen müßte Bayreuth darum entweder (was nicht eingetroffen ist) auf eine Periode völliger Vergessenheit gefaßt sein oder aber auf eine Periode völliger Verkennung. Wilhelm Furtwängler, der, wie er berichtet, in seiner Jugend die Polemik des späteren Nietzsche gegen Wagner geteilt hatte, unter­ scheidet in seinem Aufsatz ›Der Fall Wagner, frei nach Nietzsche‹ von 1941 die »Wagnerianer«, die Wagners Kunst ›theatralisch‹ verhüllt hätten, von dieser, auf ihre Verwirklichung (damals) noch wartenden Kunst selbst.37 Dabei handelt es sich nach diesem und anderen Wag­ ner-Aufsätzen Furtwänglers um den Abstand zwischen dem Anspruch auf »Klarheit der Darstellung« (S. 166), den die genuine dichterische Einheit dieser Kunst erhebt, und der in Einzelheiten (Episoden und Faktoren seiner Werke) verlorenen Berauschung, die das Theater mit einem Erlebnis verwechselt. Eine Unterscheidung, die dem Prinzip von Nietzsches Differenzierung zwischen dem »griechisch« und dem »barbarisch« Dionysischen in der Tragödienschrift nahekommt. Dieser Unterschied zwischen zeitbedingter »Wirkung« und sach­ gemäßer Verwirklichung ist nach Furtwängler das Problem der Auf­ führung.38 Und das wiederum ist nach seiner Überzeugung nicht nur 37 Wilhelm Furtwängler, Ton und Wort. Aufsätze und Vorträge 1918 bis 1954, 9. Auf­ lage 1966 (Brockhaus), S. 121–170. 38 »Ich mußte mir«, sagt Furtwängler hier in der Erinnerung an die Aufführung eines der ›Ring‹-Dramen »in einem führenden Theater Deutschlands«, »nach dem ersten Akt eingestehen, daß dem gegenüber, was ich eben gehört hatte, der schlimmste Wag­ ner-Hasser im Recht sei: eine unechte kulissenreißerische, flache, gemachte Theater­ kunst, weiter nichts. Dabei war die Aufführung – und das ist noch das Allerschlimmste daran – nicht einmal das, was man schlecht nennen kann. Sie war, soweit es das Zusammenwirken der einzelnen Faktoren betraf, durchaus diszipliniert. Die Öffent­

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ein Problem der Inszenierung (der ›Interpretation‹: durch den Diri­ genten, die Darsteller, die Bühne), sondern ebensosehr ein Problem des Publikums. Es liegt, sagt Furtwängler in diesem Aufsatz von 1941, »an uns, an den Zuhörern, unsere Haltung gegen Wagner zu revidie­ ren. Wir müssen nicht fragen, ob die Werke vor uns bestehen, sondern müssen uns selber ändern, umstellen; müssen bestrebt sein, vor ihnen zu bestehen« (S. 160). Was Furtwängler hier die auf »Klarheit der Darstellung« ange­ wiesene dichterische Einheit der Wagnerschen Musikdramen nennt, das beschreibt Nietzsche in einer längeren Notiz aus den Vorarbeiten zu der Bayreuth-Schrift vom Sommer 1874, die er überschrieben hat: »Der rhythmische Sinn im Großen« (GA X, 1903, S. 466f.; NW IV 1, 1967, S. 309f.).39 »Die Anlage jedes Wagnerischen Dramas ist von einer Einfachheit, welche noch größer ist als die der antiken Tragödie; und dabei ist die dramatische Spannung die höchste. Dies liegt in der Wirkung der großen Formen, ihrer Gegensätze, ihrer einfachen Bin­ dungen, das ist das Antike an dem Bau dieser Dramen. – Man durch­ denke die Einleitungen der drei einzelnen Akte, das Verhältnis der drei Akte zu einander; hier zeigt sich eine schlichte Größe des Bau­ meisters, welche in der neueren Dichtung überhaupt nicht ihres Glei­ chen hat. Die Spannung beruht auf den Höhenverhältnissen der Lei­ denschaften, niemals auf dem Effekt des neuen und überraschenden Schauspiels.« Der Fortgang gemahnt an den Begriff des »Fernhörens«, den Furtwängler an Beethovens Baustruktur erläutert (›Ton und Wort‹, S. 201f.). »Ich wünschte mir den Grad von rhythmischer AugenBegabung, um über das ganze Nibelungenwerk in gleicher Weise hinschauen zu können, wie es in einzelnen Werken mir mitunter gelingt: aber ich ahne da noch eine besondere Gattung rhythmischer Freuden des höchsten Grades.« An drei Beispielen erläutert Nietzsche dies am ›Ring‹: »Die Rheintöchterscene mit Siegfried im letzten Akt des letzten Dramas und die Rheintöchterscene mit Alberich im ersten Akt des ersten Dramas, der Liebesjubel der sich findenden Siegfrieds und Brünnhildens im letzten Akt des Siegfried und der Abschiedsjubel lichkeit aber weiß gar nicht, wie unendlich weit eine solche Lesart Wagners von dem Original entfernt ist« (S. 165f.). 39 Man wird bei dieser Gelegenheit aussprechen dürfen, daß Furtwängler Nietz­ sche nicht gerecht wird, wenn er dessen eigene Kompositionsversuche und seine Schwäche für diejenigen von Peter Gast zum Exempel für Nietzsches Kunstverstand überhaupt macht.

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der sich Trennenden im ersten Akt der Götterdämmerung usw. Dann wieder die Nornenscene im Anfange des ersten Akts (Vorspiels) der Götterdämmerung.« Nach einem Hinweis auf ähnlich übergreifende Bezüge im ›Tristan‹ schließt diese Notiz mit einem Verweis auf die Zusammenhänge in den großen Umschlägen der Bewegungen: Stei­ gerungen und plötzliche Stille. Der Schluß der Bayreuth-Schrift behauptet, ein Publikum, das dem Anspruch dieser Musikdramatik entspräche, würde in diesen Spielen, ganz besonders im ›Ring‹, seine eigene Vergangenheit »gedeu­ tet« sehen, das heißt: auf das Spiel, den Bau der Welt hin gedeutet (und so, in einem buchstäblichen Sinn des Wortes, »verklärt«). Es handelt sich hier also um das Nochausstehen der Verwirk­ lichung von etwas, was selber – weit entfernt davon, Wunsch, ›Idee‹, Programm zu sein – da ist, als ›Werk‹ bereits besteht, nur (damals) noch nicht zur Sprache gekommen ist. Was heißt »Verhältnis der Kunst zum Leben«? Im Falle dieser beiden Beispielkreise: der attischen Tragödie, der (damaligen) ›Bay­ reuth‹-Werke Wagners, des ›Ring‹, des ›Tristan‹, der ›Meistersinger‹, ist die Wirklichkeit der Kunst nicht nur (was im Falle des Musik­ dramas auf der Hand liegt) mehr als der ›Text‹. Sie ist offenbar auch mehr als das aus Text und Partitur bestehende ›Werk‹. Sie ist mehr als das, was durch unseren Begriff des ›Werkes‹ gedeckt wird. Die sogenannte ›Aufführung‹ ist etwas wesenhaft anderes als eine bloße ›Interpretation‹. In ihr ist das Spiel erst Spiel, in ihr ist das δρᾶμα erst Ereignis. Und das besagt: die Wirklichkeit der Kunst ist (in diesem »apollinisch-dionysischen« Falle des Dramas zumindest) etwas wesenhaft Anderes als die Dauerhaftigkeit von etwas einmal ›Geschaffenem‹. Es ist wesenhaft die Jeweiligkeit eines ›zwischen‹ Bühne und Publikum sich Ereignenden. Mit dem auf Kant, Descartes und Leibniz zurückgehenden Denkschema von ›Objektivität‹ und ›Subjektivität‹ läßt sich dieser Sachverhalt nicht erklären. Weil das ›Publikum‹ hier ein konstitutives Element der ›Wirk­ lichkeit‹ ist und weil Wagner seit Dresden zum Bewußtsein gekom­ men ist, wie sehr das, was er bei Sophokles und Aischylos, bei Händel und Beethoven als ›Kunst‹ erkannt hat, zu seiner Zeit in diesem letzten Status der Verwirklichung gefährdet war, ist das entstanden, was Nietzsche den »Gedanken von Bayreuth« (I 412; 360) nennt. Dieser Gedanke hat zwei Aspekte. Der eine beruht in Wagners Meinung, daß die Aufführung, die dem Komponieren folgt, ebensosehr ein Teil seiner eigenen Arbeit

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sein müsse, wie der dem Komponieren vorausgehende Text. Zum Verständnis dieser Meinung sei nochmals auf Furtwänglers Erklärung des Zusammenhangs zwischen der umfassenden Dichtungsstruktur der Wagner-Oper und den Anforderungen an die eigene Teilnahme der ›Hörer‹ (ihre Vorkenntnisse, ihre Konzentration auf die Einheit des Ganzen) verwiesen. In dieser konstitutiven, nicht nur zwischen ›besser‹ und ›schlech­ ter‹, sondern zwischen Aufstellung und Entstellung entscheidenden Bedeutung der Aufführung und der Wahrscheinlichkeit zeitbeding­ ter (nicht nur qualitätsbedingter) Entstellungen gründet Wagners Leidenschaft, ›seiner‹ Bühne mit eigenen Händen eine Tradition zu schaffen.40 Nietzsche nennt diesen Aspekt des »Gedankens von Bayreuth« die Begründung einer »Stilüberlieferung«. Wagner habe erkannt, sagt er im 8. Abschnitt der Bayreuth-Schrift: »Sein Werk wäre nicht fertig, nicht zu Ende getan gewesen, wenn er es nur als schweigende Partitur der Nachwelt anvertraut hätte: er mußte das Unerratbarste, ihm Vorbehaltenste, den neuen Stil für seinen Vortrag, seine Darstellung, öffentlich zeigen und lehren, um das Beispiel zu geben, welches kein andrer geben konnte, und so eine Stil-Überlieferung zu begründen, die nicht in Zeichen auf Papier, sondern in Wirkungen auf menschliche Seelen eingeschrieben ist« (I 410; 358). »Nachdem ihm der Zusam­ menhang unsres heutigen Theaterwesens und Theatererfolges mit dem Charakter des heutigen Menschen aufgegangen war, hatte seine Seele nichts mehr mit diesem Theater zu schaffen; um ästhetische Schwärmerei und den Jubel aufgeregter Massen war es ihm nicht mehr zu tun, ja es mußte ihn ergrimmen, seine Kunst so unterschiedlos in den gähnenden Rachen der unersättlichen Langeweile und Zerstreu­ ungs-Gier eingehen zu sehen« (I 410; 359). 40 Furtwängler schreibt in dem genannten Aufsatz: »Das Theater wird zum Verhäng­ nis für die Werke des Dramatikers. Das Bedürfnis des Theatermenschen nach Über­ treibung, nach Wirkung um jeden Preis, zerstört das Werk des Dichters. – Wagner hat ein solches Schicksal der Aufführungen seiner Werke gefürchtet, ja vorausgesehen. Es war eine der angelegentlichsten Bemühungen des Schriftstellers Wagner sein gan­ zes Leben lang, für die Darstellungen seiner Werke Anweisungen und Grundlagen zu geben, einen Stil, eine Tradition für sie zu schaffen. Es war ja schließlich nicht zum wenigsten dieser Gesichtspunkt, der für die Aufrichtung von Bayreuth maßgebend war – eine Stelle zu schaffen, wo dieses an die Zusammenarbeit der Darstellenden so große Anforderungen stellende Werk mit dem notwendigen Ernst und der notwen­ digen Sachlichkeit vorbereitet und durchgeführt, wo eine Tradition geschaffen werden konnte« (S. 167f.).

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Der andere Aspekt des »Gedankens von Bayreuth« ist eine Folge des – nach Nietzsches Meinung – genuinen Lebensbezugs der Kunst, ihrer Gegenstellung zu dem modernen ›Arbeits‹-Ethos. Der »Gedanke von Bayreuth« ist unter diesem Gesichtspunkt das Aufneh­ men des künstlerischen Anspruchs auf die »Vormittage«. Dieser Aspekt des Bayreuth-Gedankens gründet sich auf Wag­ ners und Nietzsches Erinnerung an das, was vom Beginn der mensch­ lichen Geschichte bis zum Ende des Barock für diese Geschichte der Zusammenhang von Kunst und Fest gewesen ist. In dem dritten jener drei Bücher der mittleren Periode, die mit ›Menschliches, All­ zumenschliches‹ beginnt, in der ›Fröhlichen Wissenschaft‹ von 1882, lautet ein Aphorismus, der überschrieben ist: »Jetzt und ehedem« (n. 89): »Was liegt an aller unserer Kunst der Kunstwerke, wenn jene höhere Kunst, die Kunst der Feste, uns abhanden kommt! Ehemals waren alle Kunstwerke an der großen Feststraße der Menschheit aufgestellt, als Erinnerungszeichen und Denkmäler hoher und seliger Momente. Jetzt will man mit den Kunstwerken die armen Erschöpften und Kranken von der großen Leidensstraße der Menschheit beiseite locken, für ein lüsternes Augenblickchen; man bietet ihnen einen kleinen Rausch und Wahnsinn an« (II 98; 106). Der Unterschied zwischen »jetzt« und »ehedem« ist nicht der, daß es ehedem mehr »Feste« gegeben haben müßte als jetzt, sondern der, daß ehedem die Feste nicht Anhang (wie der zum ›Wochenende‹ gewordene Sonntag) und Ausnahmen waren, sondern Anfang und Orientierung. Das Dasein ›drehte‹ sich ›um‹ die Feste. Sie strahlten auch auf die Arbeit aus und nicht umgekehrt. Das moderne ›Fest‹ ist ein Faktor des Arbeitstages: teils in der Verharmlosung des Ausruhens, teils in der Anpassung an die Erwerbstätigkeit (z. B. beim deutschen ›Weihnachtsfest‹), teils in der betonten Unterbrechung des dadurch eigens noch besiegelten Normalzustandes. Die Perversion des Festes zu einer »Ausnahme-Stille« und »Aus­ spannung« nennt Nietzsche die »moderne Feststimmung«. Danach ist ein Aphorismus aus dem mittleren jener drei Bücher des »Freigeis­ tes«, ein Aphorismus aus der ›Morgenröte‹ von 1881 überschrieben (n. 271). Sein Schlußpassus lautet: »Ich beschreibe das Glück, wie ich es mir bei unserer jetzigen gehetzten, machtdürstigen Gesellschaft Europas und Amerikas denke. Hier und da wollen sie einmal in die Ohnmacht zurücktaumeln – diesen Genuß bieten ihnen Kriege, Künste, Religionen, Genies. Wenn man sich einem alles verschlingen­ den und zerdrückenden Eindruck einmal zeitweilig überlassen hat – es

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›Die Kunst in der Zeit der Arbeit‹ (Nietzsches ›Bayreuth-Gedanke‹)

ist die moderne Feststimmung! – dann ist man wieder freier, erholter, kälter, strenger und strebt unermüdlich nach dem Gegenteile weiter: nach Macht« (I 1181; 208). Die Frage, wieweit in Bayreuth (oder in Salzburg) ein derartiges »Feststimmungs« Publikum überwiegt, muß hier dahingestellt blei­ ben, da uns hier Nietzsches eigener Bayreuth-Gedanke beschäftigt. Aber auch ein Überwiegen in der Zahl wäre noch kein Einwand gegen das Gewicht der Minderheit, die – wie etwa der Kreis junger Franzosen gleich in den ersten Jahren des Wieland Wagnerschen Bayreuth – die Arbeit des Sehens und Hörens aufgenommen hat. Schwerer wiegt eine zweite Frage – die aber auch nur genannt sei: die Frage, welcher jener beiden »Sphären«, die nach Nietzsches Überzeugung aus der Zeit der Bayreuth-Schrift Wagners Zweideutig­ keit ausmachen: der »heftige Wille« und der »Geist der Musik«, in Wagners Werk das größere Gewicht zukommt, welche maßgeblicher ist für den von dem Werke vorgezeichneten und abgegrenzten Hori­ zont heutiger und künftiger Möglichkeiten der Aufführung.41 Wir beschränken uns hier auf die Frage, was die eine dieser beiden »Sphären« Wagners, die – wie Nietzsche sie in seiner Tribschenzeit auch nannte – »griechische Heiterkeit« Wagners, als Paradigma für das Verhältnis zwischen Kunst und Gegenwart damals für Nietz­ sche bedeutete. In dem Aphorismus aus ›Der Wanderer und sein Schatten‹, der gegen die damals »moderne« große Kunst, also die in der öffentlichen Anerkennung sich bekundende Anpassung der Kunst an den »Arbeits«-Maßstab des Zeitalters, polemisiert, ist Nietzsches Eine grundlegende »Zweideutigkeit« im Werke Wagners legt, mit Hinweisen auf die Wagner-Kritik des späteren Nietzsche, K.-H. Volkmann-Schluck am ›Ring‹ und am ›Parsifal‹ dar (Richard Wagner als Repräsentant des 19. Jahrhunderts; s. hier die Anm. 33 S. 76). Volkmann-Schluck zeigt Wagners Intention einer Überwindung der modernen »Selbstsucht« in der neuzeitlichen Macht des Selbst-Bewußtseins (verkör­ pert in Wotan) durch die »Bewußtseinserlöschung« (›Götterdämmerung‹), die seine Musik vollzieht. Der Wille des Bewußtseins wird hier überwunden durch den Rausch, der, als »Wille der Liebe« zwar das »Macht«-Motiv (den Selbst-Bezug) in der neu­ zeitlichen Religion des Selbstbewußtseins verläßt, zugleich aber, mit der bloßen Umkehrung ins Gegenteil, (als »Wille der Liebe«) Metaphysik bleibt: Romantik im Ganzen von Wagners Konzeption einer Welterlösung durch den Rausch der »Musik« (der »Kunst«), Mystik in dem Rausch einer Bewußtseinssteigerung, in der der Gegen­ satz zwischen dem »selbstischen Willen« der Klingsor- und dem »reinen Willen« der Gralswelt »untergeht und verschwindet«. – S. auch die ausführlichen ›Ring‹-Inter­ pretationen Volkmann-Schlucks in den Bayreuth-Programmheften von 1956. 41

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Gedanke, daß damit der Lebensbezug der Kunst nicht etwa nur variiert, sondern verfälscht sei. (Der zufriedene Glaube, Kunst sei immer Kunst, und es gelte nur, sie auch zu fördern, entspricht dem »Reden und Lärmen, welches die bisherige Bildung von der Kunst gemacht hat« [I 369; 306].) In der Basler Zeit Nietzsches bildet der Gedanke des Unterschiedes von Lebensbezügen der Kunst die Grund­ lage seines Plädoyers für Wagners Bayreuth-Idee. Nach Nietzsches damaliger Überzeugung geht dieser Gedanke hervor aus Wagners Sorge um eine Verfälschung ›seiner‹ Kunst durch ›seine‹ Zeit. Nietzsche sieht dabei noch nicht eine Frage, die ihn später, bei seiner Polemik gegen Wagner beschäftigt hat, die Frage, wie sich Wagners romantischer Begriff von Musik als einer höchsten Art des Ausdrucks (mit ihrem Grundzug: der »unendlichen Melodie«) zu dem spezifisch griechischen Grundzug von ›Musik‹ verhält, der nach Nietzsches eigener Kenntnis der Überlieferungen im Rhythmus zu suchen ist42, und das bedeutet: im Zusammenhang mit dem Tanz. Im Spätwerk (so in einigen Aphorismen, die in der Nachlaß­ sammlung ›Der Wille zur Macht‹ zusammengestellt sind, besonders n. 839; III 581f.; 563) entwickelt Nietzsche im Anschluß an seine Unterscheidungen zwischen Wagners Musik und älterer Kunst eine auf den »Willen zur Macht« hin ausgerichtete Polarisierung zwischen Wagnerscher »Romantik« und Florentiner »Klassik«, von »Musik« und Architektur. Dabei ist die Alternative zu der (nach seiner Ansicht in Wagner gipfelnden) »Romantik« eine Vorstellung von »Klassik«, in der griechischer Rhythmus, cartesianische »Mathematik« und Nietzsches eigener »Gewaltmensch« das gleiche sind (z. B. ›Wille zur Macht‹ n. 842; III 782f.; 565f.). Der Basler Nietzsche, der Nietzsche der Bayreuth-Schrift, schiebt Wagners zeitgemäßen Zug zur Romantik noch möglichst weit von seinen Gedanken über Wagner weg, während er damals zugleich von der später für ihn maßgeblich werdenden (ganz un-griechischen und – wie er dann auch selber oft betont – viel eher römischen) Metaphysik des »Befehlens« (vgl. ›Wille zur Macht‹ n. 842) noch kaum berührt ist. In dieser doppelten Unbefangenheit, sowohl gegenüber Wagner als auch in der Aufnahme der griechischen Zeugnisse von Kunst, glaubt 42 Vgl. dazu heute von Thrasybulos Georgiades: Der griechische Rhythmus. Musik, Reigen, Vers und Sprache, 1949; Musik und Sprache. Das Werden der abendländischen Musik dargestellt an der Vertonung der Messe 1954 (Verständliche Wissenschaft 50), darin besonders das erste Kapitel (›Altertum und vorkarolingische Zeit‹) und das letzte Kapitel (›Musik als Geschichte‹).

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Nietzsche in seinem Frühwerk eine Erneuerung der rhythmischen Struktur von Musik bei Wagner begrüßen zu können. Das betont er bei seiner Verteidigung des »Gedankens von Bayreuth«. Er hebt an Wagners Sorge, von seiner Zeit mißverstanden zu werden, den Zwist der Kunst überhaupt mit dieser Zeit heraus. Dieses (im Gedanken an Wagners Zürcher Schriften) »revolutionäre« oder (mit Nietzsches damaliger Wendung, I 381; 321; 4. Abschnitt der Bayreuth-Schrift) »reformatorische« Verhältnis der Kunst zu einem kunstfremden »Leben« besteht nicht (auch wenn Nietzsche, dem üblichen Sprach- und Denkgebrauch folgend, zuweilen von »Wirkun­ gen« spricht) in einem Wirkungswillen, einem pädagogischen oder informativen ›Gehalt‹, für den die Aufführung des Dramas (oder die Sichtbarkeit des Bildes) nur ein Medium wäre, sondern in einem Widerstreit zwischen der sachgemäßen ›Rezeption‹, die das ›Werk‹ von sich aus beansprucht, und der ihm unangemessenen Aufnahme, die es den Maßstäben dieses Zeitalters unterwirft. Das Werk ruft diesen Widerstreit hervor durch seinen Kunst-Charakter. Es ist eine Gegnerschaft, die sich – auch noch im Gedanken an die heftigsten Partien der Musikdramen Wagners – als der Anspruch der Stille bezeichnen ließe. Der Anspruch äußert sich nicht so, daß etwas Erwünschtes pro­ pagiert würde, sondern so, daß schon etwas verändert sein müßte, wenn die erste Forderung, die das ›Werk‹ an den ›Betrachter‹ stellt, erfüllt werden soll, die: in seiner Sprache gehört zu werden. Was die Kunst in ihrem Verhältnis zum »Leben« fordert, das ist diese Voraussetzung. An sie und nicht an eine politisierende Ästhetik etwa im Sinne von Oscar Wilde oder des späteren Futurismus wird man denken müssen, wenn Nietzsche hier behauptet: Es sei »nicht möglich, die höchste und reinste Wirkung der theatralischen Kunst herzustellen, ohne nicht überall, in Sitte und Staat, in Erziehung und Verkehr, zu neuern« (I 381; 321f.). Mit dem Gedanken an »unsre Gebildeten«, die, an »die dumpfe und verderbliche Luft unserer heutigen Kunstzustände« »gewöhnt«, des Glaubens sind, »diese Luft zu [ihrer] Gesundheit nötig zu haben«, fragt Nietzsche im 4. Abschnitt der Bayreuth-Schrift: »Wo sind die, welche an den gegenwärtigen Einrichtungen leiden?« (I 382f.; 322f.). Das grundlegend Schlechte ist nach dieser Frage nicht das allgemein als schlecht Beklagte, sondern vor dem schon die Urteilsbasis dafür, wonach überhaupt über schlecht und gut entschieden wird: die »Kon­ vention«. Demgemäß spricht Nietzsche in dem 5. Abschnitt von der

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Sklaverei der »unrichtigen Empfindung«. Dazu verweist er in dem (hier auf S. 65 zitierten) letzten Absatz dieses Abschnitts auf den »Ausdruck der Dumpfheit oder der Hast« in den gegenwärtigen »volkreichen Städten«. Die Abhebung einer »unrichtigen« von einer richtigen Empfin­ dung zeigt, daß Nietzsche hier nicht eine Befürwortung des ›Emotio­ nalen‹ im Sinne hat (auch wenn er an anderer Stelle die »richtige Empfindung« den »deutlichen Begriffen« überordnet; I 388; 330). Um die Unrichtigkeit des Konventionellen, der gewohnten Maß­ stäbe für Zustimmungen und Ablehnungen, zu sehen, »muß man«, wie Nietzsche im 4. Abschnitt im Gedanken an die zeitgemäße Ansicht über »die Stellung unserer Künste zum Leben« erklärt, »völlig umlernen und das Gewohnte und Alltägliche einmal als etwas sehr Ungewöhnliches und Verwickeltes ansehn können« (I 382; 322). Das »Umlernen« würde nach dieser Schrift Nietzsches darin bestehen, daß wir eben das, was die Kunst, die wahrhaft große Kunst, dieser Zeit in dieser Zeit lehrt, lernten. Von der großen Malerei dieser Jahre, die damals in Paris die ersten Empörungsstürme hervorgerufen hatte, konnte Nietzsche nichts wissen. (Auch Wagner wußte davon nichts. Und es war nur ein glücklicher Zufall, daß er 1882, am Tage nach der Vollendung des ›Parsifal‹, in Palermo von Renoir porträtiert werden konnte.43) Dafür aber betont Nietzsche an Wagners Musik deren Zug zur Sichtbarkeit. »Was die Musik in unserer Zeit bedeutet« (I 388; 331), die Frage, die den Kernpunkt der Bayreuth-Schrift ausmacht, bildet das besondere Thema des 5. Abschnitts. »Die Musik in unserer Zeit«: 43 Wie Renoir (der zu den frühesten Freunden von Wagners Opern in Paris gehörte) in einem ausführlichen Brief berichtet, machte er das Porträt am 15. Januar 1882 in Palermo, am Tage nach Wagners Vollendung des ›Parsifal‹. Wagner sei von dem Ergebnis nicht entzückt gewesen: »Ich sehe aus wie ein protestantischer Pfarrer.« Renoir bemerkt im Brief zu dieser Äußerung: »Was auch wahr ist« (Graber S. 100; Schuh S. 22). Der fünfunddreißig Minuten währenden Sitzung ist dem Brief nach aber ein lebhaftes Gespräch vorausgegangen, »halb französisch, halb deutsch«, und Renoir war dabei, wie er mehrmals betont, von der »Heiterkeit« Wagners beeindruckt. – Eine Farbreproduktion des ersten Bildes und Reproduktionen einer späteren Wiederholung und von Wagner-Zeichnungen Renoirs enthält zusammen mit den brieflichen Doku­ menten und einer Geschichte dieser Begegnung das Buch von Willi Schuh, Renoir und Wagner, Eugen Rentsch Verlag: Erlenbach-Zürich und Stuttgart, 1959. Eine deutsche Übersetzung von Renoirs Bericht findet sich auch in der Sammlung von Hans Graber, Auguste Renoir. Nach eigenen und fremden Zeugnissen, Benno Schwabe Verlag: Basel 1943, S. 94–101.

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›Die Kunst in der Zeit der Arbeit‹ (Nietzsches ›Bayreuth-Gedanke‹)

das ist die Anwendung der Frage nach dem Verhältnis der Kunst zum »Leben« auf die (nach Nietzsches Meinung) wichtigste Kunstart dieser Zeit. Nietzsche legt die Antworten dar, die nach seiner Ansicht »Wagner« auf diese Frage gibt. »Wagner«: das meint damals für Nietzsche: seine Erinnerung an Tribschen und seine Gedanken an Bayreuth. Zwei Antworten stellt Nietzsche nebeneinander. Die eine sieht er in der »Musik unsrer deutschen Meister« insgesamt, der Tradition also, die Wagner – in seiner Bewunderung Beethovens zumal – aufnimmt, die andere in dem, was Wagner dieser Tradition hinzufügt: dem musikalischen Drama. Die große neuere Musik seit Schütz, Bach und Händel (wobei uns Nietzsches Begrenzung auf das »Deutsche« nicht den von ihm gemeinten geschichtlichen Sachverhalt verschließen muß) ver­ steht Nietzsche hier als eine Gegeninstanz zu dem »Notstand« der »unrichtigen Empfindung«, und das besagt, wie er an dieser Stelle betont: dem modernen Notstand der Sprache. Sprache, sagt Nietzsche hier, ist für uns zur bloßen »Konvention« geworden. Er trifft damit den Umstand, daß Sprache zu einem technologisch-ökonomischen ›Medium‹ geworden ist, einem ›Informationsträger‹. Eine Möglich­ keit davon ist der Gebrauch (und die Erklärung) der Sprache als eines – je und je zweckdienlichen – Verschleierungsinstrumentes: Sprache nicht mehr Ereignis von Wahrheit, sondern ›lebenserhal­ tende‹ Anpassung. Dieser verschleiernden Sprache der »Konvention« setzt – wie Nietzsche hier erklärt – die Musik die Sprache einer »richtigen Emp­ findung« entgegen: die Sprache einer spontanen Verbindung der Men­ schen untereinander und eines inneren Einklangs mit der »Natur«. Bei diesem Wort zeigt der Kontext, daß Nietzsche nicht an einen regionalen ›Sektor‹ (einen von ›Geist‹ und ›Humanität‹ gesonderten Gegenstandsbereich der Außen- und der Innenwelt) denkt, sondern an denjenigen Gesamtbereich des Werdens und Vergehens, der nicht von uns abhängt, sondern von dem wir abhängen. Nietzsche schließt den Passus über die erste Antwort auf die Frage, was die Musik in unserer Zeit bedeutet, indem er hier selber fragt: Wenn in der modernen Versklavung durch die »Worte« »die Musik unsrer deutschen Meister erklingt, was kommt da eigentlich zum Erklingen?« Und da ist seine Antwort: »Eben nur die richtige Empfindung, die Feindin aller Konvention, aller künstlichen Entfrem­ dung und Unverständlichkeit zwischen Mensch und Mensch: diese Musik ist Rückkehr zur Natur, während sie zugleich Reinigung und

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Umwandlung der Natur ist; denn in der Seele der liebevollsten Menschen ist die Nötigung zu jener Rückkehr entstanden, und in ihrer Kunst ertönt die in Liebe verwandelte Natur« (I 388; 330). Wagners zweite Antwort »auf die Frage, was die Musik in unserer Zeit bedeutet« (I 388; 331), sieht Nietzsche in dem besonderen Charakter von Wagners Musik: musikalisches Drama zu sein, darin also, daß Wagner als Musiker zugleich Dichter ist. »Das Verhältnis zwischen Musik und Leben ist nicht nur [wie im Falle der ersten Ant­ wort] das einer Sprache zu einer andern Sprache, es ist [darin liegt der Ansatz zur zweiten Antwort] auch das Verhältnis der vollkommnen Hörwelt zu der gesamten Schauwelt« (I 388f.; 331). Auch in diesem Fall ist die Kunst Gegeninstanz zu einer Notlage des Zeitalters. Es ist die Weltentfremdung, die sich seit dem Beginn der Industrialisierung in der Tendenz zur Entleiblichung und Entding­ lichung in allen Verhaltensweisen und allen Gesellschaftsbereichen ausbreitet. »Als Erscheinung für das Auge genommen und verglichen mit den früheren Erscheinungen des Lebens, zeigt aber die Existenz der neueren Menschen eine unsägliche Armut und Erschöpfung, trotz der unsäglichen Buntheit, durch welche nur der oberflächlichste Blick sich beglückt fühlen kann.« Erweist sich nicht, wenn man schärfer hinsieht, »den Eindruck dieses heftig bewegten Farbenspiels« sich zerlegt, das Ganze als ein falscher Prunk? »Mienen üppigen Stolzes, von einem tief Verwundeten zur Schau getragen? Und dazwischen, nur durch die Schnelligkeit der Bewegung und des Wirbels verhüllt und verhehlt – graue Ohnmacht, nagender Unfrieden, arbeitsamste Langeweile, unehrliches Elend!« (a. a. O.). Nietzsche zieht daraus ein ähnliches Fazit wie im Falle der Sprachentfremdung. Es handelt sich hier nicht nur um einen Entzug, sondern um eine Verkehrung der Wahrheit: »Die Erscheinung des modernen Menschen ist ganz und gar Schein geworden; er wird in dem, was er jetzt vorstellt, nicht selber sichtbar, viel eher ver­ steckt« (a. a. O.). Die erste Antwort war: die Musik ist Gegeninstanz zur Schein­ welt der »unrichtigen Empfindung«; die zweite ist: das Drama ist Gegeninstanz zur Scheinwelt eines unrichtigen Handelns. Es widerstreitet dem industriellen »Arbeits«-Schema, das das Sehen, das leibhafte Stehen, Gehen und Liegen, die Erhebung und den Schmerz, die Ankunft und den Abschied, zu einem Experimentalfak­ tor innerhalb der absoluten Produktivität herabgesetzt hat. Schon der einschränkende Name ›Visuelle Kommunikation‹ bezeugt, daß

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eigentliche ›Kommunikation‹ der Sphäre des Berechnens und nicht dem Hören und Sehen zugehört. Die Form ist entweder (wie Nietz­ sche hier, ähnlich dem 4. Abschnitt der Historienschrift, erklärt) ein Mittel der Verstellung, der vereinbarten Verkennung, oder ein Schimpfwort: ›bloße Form‹, dem die Neigung formloser Zeiten zum Formalismus korrespondiert. Was es bedeutet, daß das musikalische Drama ein »Verhältnis der vollkommenen Hörwelt zu der gesamten Schauwelt« errichtet, das dem »Geist der Musik«, dem Verhältnis der Musik zum »Leben«, gemäß ist, das erklärt Nietzsche, indem er auf den griechischen Begriff der »Gymnastik« verweist, jene den »Leib« des Menschen in seiner menschlichen Gestalt befreiende Bewegungsweise, die uns dank der zur gleichen Zeit, als Nietzsche dies schrieb, 1875, begonnenen Aus­ grabungen von Olympia wieder nähersteht. Im Gedanken an die Griechen überhaupt sagt Nietzsche: die »von der Musik erfüllten See­ len ... bewegen sich nach dem Gange des großen, freien Rhythmus, ... in einer Leidenschaft, welche überpersönlich ist [wie die tanzende Gemeinschaft des ›Chores‹ der Tragödie], sie erglühen von dem machtvoll ruhigen Feuer der Musik.« Nietzsche fragt: »Zu welchem Zwecke?« und antwortet: »Durch diese Seelen verlangt die Musik nach ihrer ebenmäßigen Schwester, der Gymnastik, als nach ihrer notwendigen Gestaltung im Reiche des Sichtbaren: im Suchen und Verlangen nach ihr wird sie zur Richterin über die ganze verlogene Schau- und Scheinwelt der Gegenwart« (I 390; 332). Nietzsche erinnert an »die älteren Hellenen« und erklärt, daß wir kaum begreifen können, was gemeint war, wenn sie von sich forderten, »den Staat auf Musik zu gründen«. Wollte man das begrei­ fen, dann müßte man, sagt Nietzsche, an seine Zeit gewandt, sich eingestehen, »worin der beschämendste Mangel an unsrer Erziehung und der eigentliche Grund ihrer Unfähigkeit, aus dem Barbarischen herauszuheben, liegt: es fehlt ihr die bewegende und gestaltende Seele der Musik« (I 390; 333). Diese Kraft, diese bewegende, gestaltende – also nicht nur zu fühlende, zu rezipierende, sondern unser Verhalten befreiende – Kraft fehle der Erziehung. Weil »die jetzigen Menschen« die »Seele« der Musik »nicht in sich herbergen« ließen, hätten sie »auch die Gymnastik im griechischen und Wagnerischen Sinne dieses Wortes noch nicht geahnt«. Nietzsche fügt hinzu: »Und dies ist wieder der Grund, warum ihre bildenden Künstler zur Hoffnungslosigkeit verurteilt sind.« »Selbst das Vollkommene und Höchste früherer Zeiten, das Vorbild

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der jetzigen Bildner, [ist] überflüssig und fast wirkungslos ... Sehen sie ... keine neuen Gestalten vor sich, sondern immer nur die alten hinter sich, so dienen sie der Historie, aber nicht dem Leben« (I 391; 333f.). Was meint Nietzsche hier mit »Gymnastik«? Ist das nur ein letz­ ter altphilologischer Schmuck in dieser letzten Werbung Nietzsches um Wagner? Ist es lediglich ein Vorklang seiner späteren Apotheose der »Sinne« und des »Leibes«? Entscheidend ist hier offenbar der Zusammenhang zwischen »Hörwelt« und »Schauwelt«: der »Gang des großen, freien Rhythmus«. Es gehört zur »Seele« der Musik (der μουσική, wie man unmißverständlicher sagen müßte), sich »einen Leib gestalten« zu wollen, »zur Sichtbarkeit in Bewegung, Tat, Ein­ richtung und Sitte ihren Weg« zu suchen (I 389; 331f.). Und es gehört umgekehrt zu dieser Art von Leiblichkeit, die hier – im Gedanken an die Herkunft des ›tragischen‹ Chores aus dem dionysischen Dithy­ rambus und die gegliederte Bewegung des musikalischen Theaters – »Gymnastik« genannt wird, daß sie selbst schon musikalisch struktu­ riert ist. Von »Gymnastik« spricht Nietzsche hier im Gedanken an den Zusammenhang von »Hörwelt« und »Schauwelt« im Tanz. Um ein­ zusehen, was Tanz (in seinem »Lebens«-Bezug) ist, muß man zuerst bedenken, daß die moderne Art des paarweisen Tanzens (seit dem Wiener Walzer) und die geläufige Art des Ausdrucks-›Tanzes‹ im Theater, das Ballett, Randerscheinungen des ursprünglichen Tanzens sind, für das die Vielfalt von Reigentänzen in allen Kulturen der Erde zeugen. Tanzen heißt: die (von uns als normal empfundene) Verfassung des Aus-standes: des Vorhabens und Ausweichens, der Anpassung und Ausspannung, des Willens und der Angst für eine Weile zu verlassen und für Augenblicke ›da‹ zu sein, eine Zeitlang das zu ›tun‹, was wir ›sind‹. Das Tanzen ist nicht etwas zum Dasein noch (nützlich oder überflüssig) Hinzukommendes, sondern – und unvermeidlicherweise immer nur für kurze Zeit – dieses selbst. Die Tanzenden sind, indem sie tanzen, ›bei sich‹ und auf der Erde. Tanzend sind wir eine Weile zwecklos, angstlos, frei.44 S. dazu den Vortrag von Walter F. Otto, ›Die Menschengestalt und der Tanz‹, in: Ders., Die Gestalt und das Sein. Gesammelte Abhandlungen über den Mythos und seine Bedeutung für die Menschheit, 1955, 2. Aufl. 1959, S. 399–416. Ein illustrierter Ein­ zeldruck erschien im Verlag Hermann Rinn 1956. – Otto betont, daß man das Tanzen zunächst, um seine wesentliche Zweckfreiheit zu bezeichnen, (mit einem Wort von 44

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Zum Festcharakter des Tanzes gehört es, jeweils nur auf die Augenblicke von Tagen, Minuten, Stunden ›limitiert‹ zu sein. Wollte man dem Basler Gräzisten und Tribschenbesucher unterstellen, er träumte davon, die Faktizität der industriellen Arbeitswelt könne durch eine umgekehrte Faktizität (›Tanz und Gesang‹ als Dauerzu­ stand) ersetzt werden, dann übertrüge man auf ihn das Wunschbild eines ›irdischen Paradieses‹, das nicht nur der Zeitlichkeit des Festes wesenhaft zuwiderläuft, sondern eben diejenige ›säkularisierte Escha­ tologie‹ fixiert, die der industriellen Weltentfremdung die Energie der Motivierung gab. Die Frage, die sich hier stellt, ist nicht eine Alternative zwischen verschiedenen ›Tatsachen‹: der unserer heutigen Wirklichkeit und der einer vermißten oder erhofften Phantasiewelt, sondern die Alterna­ tive zwischen zwei verschiedenen Gesichtspunkten, die Frage, ob – mit Burckhardt zu sprechen – das »Dasein« oder das »Geschäft« den Wirklichkeits-Maßstab ausmacht. Der spätere Nietzsche ist mit seiner Basler Zeit zweifach verbun­ den: Es können Gedanken, die ihn da zuerst betroffen haben, wie der des Leidens an der Vergänglichkeit (von dem der 1. Abschnitt der Historienschrift handelt) oder der der »dionysischen Verwandlung«, das Tristan-Motiv, zum Anstoß seiner eigenen Metaphysik, dem Gedanken der »Ewigen Wiederkehr des Gleichen«, werden. Und er kann, in der eigenen Zweideutigkeit seines Spätwerks, Grundthesen wie die der »Herrenmoral« oder seine Bejahung des »Willens zur Macht« in seiner Diagnose des 20. Jahrhunderts als eines Kampfes um die Erdherrschaft vermischen mit der Weiterführung früherer »unzeitgemäßer« Erfahrungen – wie etwa der, daß genuine Kunst nicht einem Mangel, sondern der Fülle entspringt, nicht Ausdruck von Bedürfnissen, sondern Zeichen und Vollzug von Dankbarkeit ist, z. B. (in den Aphorismen aus dem Nachlaß der letzten Jahre, ›Der Wille zur Macht‹ n. 801, n. 845; III 535, 495; 536f., 567) der Hinweis auf den griechischen, in der Renaissance erneuerten, Gedanken des Ruhmes (der δόξα). Diese Verbindungen zwischen Früh- und Spätwerk erschweren uns die Einsicht in die Gedanken, die – sei es ganz, sei es dem Schwerpunkt nach – der Basler Zeit Nietzsches vorbehalten bleiben, Adolf Portmann) »Selbstdarstellung« nennen könne, daß man dann aber hinzufügen müsse, daß das menschliche »Selbst« gerade »nicht die Existenz« (die Subjektivität) ist, sondern vielmehr ein Außer-sich-sein im ›Spiel‹ mit den Elementen der Welt.

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3 Der ›Geist der Musik‹

die Einsicht in den eigenen Horizont seines Basler Denkens. Nietz­ sches Gewahrwerden der Weltentfremdung und Erdentfremdung in seiner Konfrontation der Gegenwart mit den älteren Griechen in seiner Basler Zeit ist etwas unvergleichbar anderes als seine spätere – sozusagen ›platonische‹ – Apotheose des »Leibes« und der »Sinne«, die an dem metaphysischen Schema von ›Geist‹ und ›Materie‹, von Dauer und Wechsel lediglich die Gewichtsverteilung umkehrt: nun erhält das »Werden« das Signum des »Seins« (›Wille zur Macht‹ n. 617; III 895; 418), nun vertritt der »Leib« (an Stelle der Vernunft) die Macht des Absoluten. Der Basler, der Tribschener Gedanke, »daß die Seele der Musik sich jetzt einen Leib gestalten will«, die von dem musikalischen Drama Wagners inspirierte Erinnerung an die griechische »Gymnas­ tik«, läßt sich an Wagners Werk erst zureichend ermessen seit der Rhythmisierung, Musikalisierung des Bühnenbildes durch Wieland Wagner. Der Enkel Wagners befreite die Aufführung von den Bindun­ gen, in denen Richard Wagner der offiziellen Bildkunst seiner Jahre verhaftet geblieben war, seinen Konzessionen an den Naturalismus. Die Möglichkeit dazu gaben Wieland Wagner Elemente der in Paris entstandenen ›modernen Kunst‹ unserer Zeit. Nun, in den letzten Jahren, mehren sich die Zeichen, daß der – seit Aischylos – auch zur Bühne gehörige Realismus (der mit Naturalismus zu Unrecht verwechselt wird) innerhalb der erlangten Musikalisierung aufge­ nommen wird, und weiter, daß nach Wieland Wagners Förderung der großen psychologischen Elemente im Gesamtwerk Wagners nun die geschichtliche Dimension seiner Kunst, ihr Weltbezug, verstärkt zur Sprache kommt, besonders im Falle des ›Ring‹, aber wohl auch dem der ›Meistersinger‹.

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Die moderne Kunstblindheit45

Im fünften Passus konfrontierte Burckhardt seine Überzeugung von einem Sprechen-Müssen über die Kunst den Vorbehalten gegen ein Sprechen-Können. In diesem Passus lag das Schwergewicht auf der eigenen Zurückhaltung der Künste gegenüber einem forschenden Aneignenwollen. Im sechsten Passus liegt der Akzent auf den ver­ schiedenen Merkmalen eines von vornherein verfehlten Aneignungs­ willens selber. In diesen verschiedenerlei Weisen eines Zugangs, der sich der Sache, die er sucht, durch seine Art des Suchens selbst verschließt, tritt ein gemeinschaftlicher Grundzug hervor. Auf diesen Grundzug eines Zum-Verstummen-Bringens der Kunst durch den Aneignungswillen und auf dessen Überwindung zielt die von Burck­ hardt hier unterstrichene Themenbezeichnung ab: »Hauptvorbedin­ gungen« – nämlich einer der Sache der Kunst angemessenen Aneig­ nung. Und auch dann, nachdem dieses Thema genannt ist, in der zweiten Hälfte des ersten der beiden Absätze, aus denen der eine Gedankenschritt dieses Passus besteht, werden diese Vorbedingun­ gen zunächst nur via negationis bezeichnet, indem Burckhardt sagt, was zu vermeiden ist, um sich Phänomenen der Kunst nähern zu können. Erst danach, am Ende dieses langen Absatzes und in einem eigenen neuen Absatz werden zwei »Hauptbedingungen« positiver Art genannt. Davon scheint freilich die erste auch wieder nur die Vorbehalte gegen eine akademische, eine »sprechende« Beschäftigung mit Kunst zu untermauern: Einige lernen »ohne alle Bücher« »mit Kunstwerken direkt« zu verkehren. Und die zweite Hauptbedingung erläutert das Gemeinte nur am Anblick der Natur. Das eine Mal also 45 Bisher unveröffentlicht aus: D. J., Kunstgeschichtliche Betrachtungen. Jacob Burck­ hardts Topologie der Künste I, 1984, § 9, S. 155–169. Aus dem Abschnitt, der der Aus­ legung von Burckhardts Antrittsvorlesung von 1874 gewidmet ist: ›Über die Kunst­ geschichte als Gegenstand eines akademischen Lehrstuhls‹. Veröffentlicht in: J. B. Gesamtausgabe Bd. 13, Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart: Berlin und Leipzig 1934, S. 23–28. Dazu: Werner Kaegi, Jacob Burckhardt. Eine Biographie, Band VI, Schwabe Verlag: Basel Stuttgart 1977, S. 275ff.

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Die moderne Kunstblindheit

die Frage für den Leser (den Hörer): was hat das mit der Rechtferti­ gung einer Lehrtätigkeit zu tun, das andere Mal: was hat das mit Kunst zu tun? Wir werden also eigens darauf zu achten haben, wie dieses ständige Ausweichen vor dem, was diese Vorlesungsstunde doch eröffnen soll, den Sachverhalt, auf den sie aus ist, dennoch trifft. Der fünfte Passus schloß mit der Bemerkung: Kunstwerke ergrei­ fen uns wie ein Anblick aus Natur oder Menschenleben, der uns plötzlich in merkwürdiger Schärfe als hochbedeutend entgegentritt.46 Der darauf folgende Absatz scheint, seinem Anfangswortlaut nach, etwas ganz neues zu behandeln. Erst im Fortgang, entschieden erst mit dem zweiten (kürzeren) Absatz, bemerkt man den Zusammen­ hang im Akzentwechsel mit dem Vorhergesagten. »Dann sind schon die Fähigkeiten der Aneignung sehr verschieden ver­ teilt. Es gibt z. B. hochbegabte, aber mit einer einseitigen, der bildenden Kunst abgewandten Phantasie ausgestattete Menschen, zu welchen vielleicht Poesie und Musik dafür viel stärker reden und auf welche schon das tägliche Leben oder der Anblick der Natur einen gewaltigen Eindruck macht (z. B. Lord Byron). Andere erwerben in der bildenden Kunst eine ausgedehnte Kennerschaft und große Kunde, besonders der Kunstkuriositäten, während ihnen das Innere der Kunst gleichgültig bleibt. Solche können noch immer als Forscher des Tatsächlichen sehr nützlich sein. Bei andern bildet sich die Verbindung ihrer Phantasie mit dem einzelnen Kunstwerk zu rasch und feurig; ihre Phantasie kommt überhaupt ins Wogen und ist dann sich selbst und nicht mehr dem Kunstwerk hingegeben; sie phantasieren bei Anlaß eines Kunstwerkes. Wieder andere empfinden beim Anblick der schönen Gestalten der Kunst ein allzu unmittelbares sachliches Wünschen und Begehren, wären aber vielleicht statt durch lionardeske Engelsköpfe und Rafaelische Madonnen auch durch nette Pariser Lithographien usw. in dasselbe Entzücken zu versetzen. Vollständige und gleichmä­ 46 »Und bei alledem bleibt der Einzelne ohne Antwort, wenn er fragt: durch welche Kraft die Griechen wohl möchten zu so wunderbaren Götterbildern, die Abendländer des 13. Jahrhunderts zu einer so wunderbaren Gestaltung ihrer Kathedralen, und Rafael zu so wunderbaren Madonnen gelangt sein? – Und wie von all diesem unabhängig die Musik wieder ganz für sich auf so wunderbare Weise den Geist symbolisieren könne? Und weil die Kunst ein Wunder ist, so ist auch unser individuelles Verhältnis zu ihr ein Geschenk der Gottheit; schon die gute Stunde und das plötzliche intime Ergreifen – jene Momente, da geschrieben steht, daß das Kunstwerk die Seele treffen soll – sind nicht vom Willen abhängig; ähnlich wie das Ergreifen jedes Anblickes aus Natur oder Menschenleben, der uns hundertmal unberührt gelassen und dann uns plötzlich ein­ mal in merkwürdiger Schärfe als hochbedeutend entgegentritt.« (GA XIII, S. 26. D.R.).

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ßige Begabung für tiefe und zugleich vielseitige Aufnahme der Kunst ist eine seltene Gabe; was sich jeder davon am besten aneigne und wie, das ist jedes Einzelnen Sache. Die Hauptvorbedingungen sind: Daß man nicht blind der Welt der Absichten verfallen, sondern überhaupt einer objektiven Erkenntnis der Dinge offen, d.h. daß man kein gemeines Subjekt sei. Ferner daß man nicht bei Betrachtung der Kunst tatsächlich von andern Dingen präokkupiert sei, sonst irrt das Auge an den größten Schöpfungen dahin und nimmt davon kaum äußerliche Notiz. Ferner daß man die Kunst für keine bloße Erholung halte; einmal im Leben wenigstens muß sie mehr als dies gewesen sein, wenn sie nachher Erholung werden soll. Sie nimmt nicht vorlieb mit einem bloßen Abhub von Zeit und Kraft. Dies ist die Strafe derer, welche von ihr bloß Erholung wollen: sie werden das Beste nicht inne und ermüden sehr bald. Völlig abzusehen ist von den Vielen, welche aus bloßer falscher Scham und weil die Kunst zur allgemeinen Bildung gehört, die Galerien per Knechtschaft durchlaufen und heimlich stöhnen. Auf viel richtigerem Wege sind diejenigen, welche nur hie und da etwas ansehen, aber scharf und genau; solche werden vielleicht durch ein sehr inniges Verhältnis zu dem betreffenden Kunstwerk belohnt und lernen ohne alle Bücher allmählich mit den Kunstwerken direkt verkehren, in einer völlig individuellen Sprache. Das Glückseligste wäre: bei völliger Unwissenheit in Einem Augenblick das Höchste als solches innewerden zu können, wie jene Normannen, die nach Konstantinopel kamen zum Warägerdienst; sie sollen die dort aus ganz Griechenland gehäuften Götterbilder für ihre Asen gehalten haben – daheim hatten sie ihre Götter höchstens als rohe Schnitzereien gekannt –; als Heiden und Indogermanen fühlten sie sich dem Antiken und Hellenischen verwandt, und die ursprüngliche Bestimmung des germanischen Geistes zur Schönheit schlug durch. Endlich ist eine Hauptbedingung die, daß das Auge überhaupt noch der Betrachtung fähig und für die Dinge der ganzen sichtbaren Welt noch nicht durch Überarbeiten abgestumpft, noch nicht auf die bloß schriftliche und gedruckte Welt reduziert sei. Dies zeigt sich schon im Verhältnis zu den Anblicken der Natur. Der Abgestumpfte bedarf schon der außerordentlichsten landschaftlichen Stimulantien und sieht den Rest gar nicht mehr an, indem derselbe auf seine Phantasie gar nicht mehr reagiert, während für den Empfänglichen die ganze umgebende Natur voll Magie ist, sei es irgend eine Form von Berg und Fluß, oder ein Kontrast z. B. zwischen Apfelblüten, frischem Buchenlaub und blauschwarzen fernen Tannen; – oder ein letztes Hervorleuchten der Abendsonne unter gewaltigen Wolken. Diejenige Empfänglichkeit der Phantasie, welche sich hier am Kleinsten freuen und erbauen kann, wird wohl auch der Betrachtung der Kunst zugute kommen.«

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Die Betrachtung der Kunst: eine Frage, ob »das Auge überhaupt noch der Betrachtung fähig« ist. Die Betrachtung der Kunst ist darum eine Frage, die sich »schon im Verhältnis zu den Anblicken der Natur« ent­ scheidet. Dieses Verhältnis ist für den modernen Menschen zumeist ein Mißverhältnis geworden. Die Empfänglichkeit für die Dinge der ganzen sichtbaren Welt ist »durch Überarbeiten abgestumpft«. Der Sinn für die ganze sichtbare Welt ist zu einem Stumpf-Sinn geworden. Ein Zeichen dafür ist das Verhältnis des modernen Menschen zu denjenigen Dingen der sichtbaren Welt, die wir – seit dem Beginn ›unserer Zeit‹, seit der Mitte des 18. Jahrhunderts – mit dem ein­ heitlichen Namen ›Kunst‹ benennen47. Diesen Schattenseiten des modernen Kunstinteresses, den Merkmalen des modernen KunstStumpfsinns, sind die zweimal vier Einwände gewidmet, die den umfangreichen ersten Absatz dieses Passus füllen (und denen hier die beiden folgenden Stücke 1 und 2 gewidmet sind).

1 Die Reduktion aufs Wünschbare Gleich das erste dieser acht Merkmale zeigt, daß Burckhardt damit auf anderes zielt, als eine bloße ›Kritik‹. Er sieht, daß es der modernen Welt, die parallel zu Bach und Händel in England, parallel zu Mozart und Gluck in Frankreich ihren Anfang genommen hat, an hoher künstlerischer Phantasie nicht mangelt. Aber die Höhe der Begabung ist einseitig nur der Musik und dem Klang der Sprache zugewandt. Sie ist der bildenden Kunst, sie ist der sichtbaren Welt abgewandt. Ein kleines Zeichen dafür: das Verhältnis heutiger Europäer, hundert Jahre nach Burckhardt, zum Barock. Die Musik des Barock hören wir nach der Übung mehrerer Generationen weithin in ihrem eigenen Raum, nach ihren eigenen Baugesetzen. Die Größe der Bachschen Passionen, das Spiel seiner Konzerte, das Gefüge seiner Motetten, die Klarheit und der Glanz im Pathos Händels trifft uns, ergreift uns, überwältigt uns. Barocke Kirchenräume, barocke Trep­ penaufgänge, barocke Säle halten wir immer noch für ›überladen‹ und retten uns bei ihrem Anblick in die Archäologie der Formengeschichte und die Ikonologie der Bildbedeutung. Für die Sprache dessen, was da ist, um den Besucher sichtbar anzusprechen, sind wir taub. S. Paul O. Kristeller: ›Das moderne System der Künste‹ (1947), in: Kristeller, Humanismus und Renaissance, Band II, Fink-Verlag: München, 1956; 1981 als UTBTaschenbuch erschienen.

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Die »Kennerschaft«, Burckhardts zweiter Einwand, widerspricht dem nicht. Das »Tatsächliche« ist nicht das – und sei es auch im leisesten Sinn – »Ergreifende« einer Rubens-Allegorie, eines Bru­ nelleschi-Baus, einer Phidias-Metope. Es ist nicht mehr das, was Burckhardt hier »das Innere« der Kunst nennt. Ein Ausdruck, mit dem Burckhardt gerade das in einem allerhöchsten Sinn Äußere meint: den Sachverhalt des »Entgegentreten«-Könnens eines Dinges der Natur, einer Erscheinung der Kunst, den Sachverhalt der Sichtbarkeit im Unterschied zur bloßen Vorstellbarkeit, zu dem die Sache verfälscht wird, wenn sie zu einem ›Datum‹ (einem ›Faktum‹) reduziert wird. Vom Faktum kann ich in dem Augenblick wieder absehen, wo ich es ›erkannt‹, d.h. eingeordnet habe: einen Bauteil auf seine Funktion hin, einen Bildausschnitt auf seine Bedeutung (oder seine Symbolik) hin. Man könnte dieses dem Sehen zuvorkommende Festlegen in allen Weisen der Einordnung, nicht nur der chronologischen, auch der nach ›Schulen‹, nach Themen, nach Regionen oder nach Rezeptionsmerk­ malen Datierung nennen. Das Ersetzen des Sehens durch das Datieren setzt jedes Werk, auch das als groß geltende, als »Kuriosität« an. Dieses Nicht-Sehen, das die Erforschung des Tatsächlichen kenn­ zeichnet, ist aber nur dann ein Unglück, wenn es zur Norm gemacht wird. Sonst liegt hier ein eigner Fall von unentbehrlicher Askese vor, eine Arbeit, die »unserer Zeit« nicht nur – etwa in Form der Handbü­ cher – unentbehrlich ist, sondern in der auch Lehrer wie Burckhardt selber, Vorbilder Burckhardts wie Kugler oder Karl Otfried Müller, Nachfolger Burckhardts wie Wölfflin oder Rintelen und Bewunderer Burckhardts in verschiedenen Fachdisziplinen selber Meister waren (oder Meister sind). Anders steht es mit zwei weiteren Arten von »Aneignung«, die Burckhardt hier in seiner Liste der verblendeten Kunstinteressen anführt. Ihnen kann für eine sachgemäße Aneignung auch keine untergeordnete Brauchbarkeit zukommen. Das eine, der dritte Ein­ wand im ganzen dieser Reihe, ist diejenige Art von Kunstenthusias­ mus, in der das jeweils verherrlichte Werk oder Genie nur der »Anlaß« des Enthusiasmus ist. Burckhardt konnte dabei an die reichsdeutschen Schillerfeiern 1859 denken; ein späteres Zeugnis dieser »feurigen« Kunstblindheit erlebte er noch in dem Buch des ›Rembrandt-Deut­ schen‹ 1890. Da ist »die Phantasie« »sich selbst und nicht mehr dem Kunstwerk hingegeben«. Handelt es sich bei diesem Einwand um eine Selbstberauschung, für die das Werk nur Anlaß ist, so trifft der vierte Einwand eine Art

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der »Aneignung«, die sich gerade dadurch vom Werk entfernt, daß ihr Empfinden aus einem »zu unmittelbaren sachlichen Wünschen und Begehren« entsteht. Das Entzückende der Kunst ist, auch im enthusi­ astischsten Fall, etwas anderes als ein Wünschen und Begehren.48 Untereinander sind diese vier Momente einer verfehlten Aneig­ nung so sehr verschieden, daß ein Moment dem anderen jeweils entgegengesetzt ist: Die Unempfänglichkeit für die Sprache der sicht­ baren Welt auf dem Hintergrund einer hohen Begabung für Poesie und Musik ist das Gegenteil der bloßen Kennerschaft, zu der die bildenden Künste genauso wenig »reden« wie die anderen Künste. Deren Gleichgültigkeit für das »Innere« der Kunst steht in einem Gegensatz zur Emphatik der Berauschung. Und deren Phantastik ist das Gegenteil »sachlichen« Begehrens. In einem Punkt kommen diese Arten der Aneignung aber gleich­ wohl überein. Die Erscheinung der Kunst bleibt stumm. Ob Rausch oder Arbeit, ob Abwendung oder Entzückung – es handelt sich hier jedesmal um das, was Burckhardt im Falle des Studiums der Weltge­ schichte »die Übertragung des Wünschbaren in die Geschichte« nennt (SG S. 231, S. 27f.; WB S. 149). Wie selten auch immer »vollständige und gleichmäßige Bega­ bung für tiefe und zugleich vielseitige Aufnahme der Kunst« sein mögen, Kunst braucht, um aus sich heraus zum Sprechen zu gelangen, die Fähigkeit des Aufnehmens überhaupt. »Was sich jeder davon am besten aneigne und wie, das ist jedes Einzelnen Sache«. Die »objektive Erkenntnis«, von deren »Hauptvorbedingungen« im besonderen das nächste Stück dieses Passus handelt, braucht hier den Einzelnen in seiner Individualität.

Etwas von dem Geheimnis, das hier das Lächeln verdunkeln kann, zeigt, wenn man das Werk und nicht nur das Thema beachtet, Tizians ›Venus mit dem Orgelspieler‹ in Berlin. 49 Die Abkürzungen: SG: J. B., Über das Studium der Geschichte, hg. v. Peter Ganz, München 1982 WB: Die Ausgabe der ›Weltgeschichtlichen Betrachtungen‹ durch Werner Kaegi in der dtv-Bibliothek 1978 Briefe: Vollständige und kritisch bearbeitete Ausgabe, hg. v. von Max Burckhardt, Band I (1949) – (bislang) IX (1980). Kaegi: Werner Kaegi, Jacob Burckhardt. Eine Biographie, Band I (1949) – VII (1982). 48

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2 Die Reduktion aufs Nutzbare Was Burckhardt in dem sechsten Passus der Eröffnungsrede beschäf­ tigt, das ist der Unterschied zwischen Annäherung und Verweigerung schon in den Wegen der Aneignung. Ist die höchste Begabung selten, so ist doch die Fähigkeit des Aufnehmens lehrbar. Die »Hauptvorbe­ dingungen« bestehen sogar nur in der Vermeidung von Fehlern. Diese sind in ihrer Fehlerhaftigkeit schwer erkennbar. Und es sind keine Fehler, deren Korrektur der Kunstwissenschaft oder der Ästhetik zufallen könnte. Es sind Lebensfehler. Man verfehlt schon den Weg der Annäherung, man verschließt sich dem Aufnehmenkönnen, wenn man »blind der Welt der Absichten verfallen« ist. Die erste Hauptvorbedingung ist darum: »einer objek­ tiven Erkenntnis der Dinge offen« zu sein. Das bedeutet für Burck­ hardt: daß man »kein gemeines Subjekt sei«. Daß damit auch an ein falsches wissenschaftliches Selbstverständnis gedacht ist, zeigt Burck­ hardts Tafel der »Urtheile«, die die »Todfeinde der wahren geschicht­ lichen Erkenntniß« sind (in dem Vortrag ›Glück und Unglück in der Weltgeschichte‹), und deren »gemeinsame Quelle« das »Urtheil des Egoismus« ist (SG S. 233, Z.25f., S. 237, Z. 19–22; WB S. 183 und 187). Man bleibt – zweitens – der Aufnahme von Kunst verschlossen, wenn man »von anderen Dingen präokkupiert« ist. Hier liegt der Akzent nicht auf der Blindheit des Verfallenseins an Absichten, sondern auf der Andersartigkeit der politischen oder religiösen, päda­ gogischen oder philosophischen Ziele, mit denen die Kunst verknüpft wird. In diesem Fall kann es gerade die Höhe der Ziele sein, mit der man in der Meinung, die Kunst zu adeln, sie verdunkelt. In einem Gegensatz sowohl zur Welt der Absichten wie der Orientierung an anderen (auf ihre Weise selber großen) Dingen steht der dritte dieser Einwände: der Maßstab der »Erholung«, der auch noch in seiner sublimsten Form, der Entspannung50, ein »Abhub von Zeit und Kraft« bleibt. Die Kunst das Spiel, das den Ernst der Wirklichkeit, ohne uns mit der Schwere dieses Ernstes zu belasten, auf die Bühne bringt, zum Bild macht, oder sogar zum Gesang. Die Kunst insofern eine Sache des Feier-Tages, als sie eine Sache des Feier-Abends ist. Den Ausdruck (und Gedanken) der ›Entspannung‹ hat Arnold Gehlen, Zeitbilder, 1960, im Anschluß an Schopenhauers Auslegung der Kunst als ›Quietiv‹ des Lebens ins Gespräch gebracht.

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Auch mit diesem Einwand nennt Burckhardt nicht einen regio­ nalen Fehler der Kunstrezeption, sondern einen Lebensfehler, näm­ lich die Reduktion des Lebens auf die Dichotomie von Mühsal und Erholung, von Arbeit und Spiel. Für diejenigen »Schwingungen« des Lebens, die der Arbeit ihre Grenzen, dem Spiel seine Inhalte geben, jenes »Außerordentlichste« (SG S. 278, Z. 14; WB S. 44), das dem Ordentlichen den Horizont gibt, ist dort, wo Kunst als Erholung, als Entlastung angesehen wird, kein Platz mehr. Einmal im Leben wenig­ stens muß die Kunst mehr als Erholung gewesen sein, »auch wenn sie nachher Erholung werden soll«. Der Gegensatz zur Erholung ist die Anstrengung. Der Entlas­ tungsfunktion der Kunst (wie in Oper und Konzert) steht diagonal gegenüber ihre Belastungsfunktion: beim Ausstellungsbesuch, wäh­ rend der Studienreise, im Vortrag. Kunst – eine Last, sofern sie zur Bildung gehört. Dieser letzte Einwand, der vierte dieser zweiten Reihe, ist für Burckhardt der am schwersten wiegende. Von »den Vielen«, die sich nach diesem Maßstab Kunst anzueignen suchen, ist »völlig abzusehen«. Dieser Superlativ der Warnung gründet darin, daß die Verkeh­ rung der Kunst zur Bildung auch noch die Chance eines Zugangs verriegelt, die bei den anderen Fehlern latent noch gewahrt blieb: Im Erholung versprechenden Konzert kann die anfängliche Erwartung, den berühmten Solisten feiern zu können, in eine Betroffenheit durch die Musik selbst umschlagen. Der Geistliche, der in Ravenna vom Gedanken an die Macht der byzantinischen Gläubigkeit präokkupiert war, kann unversehens den Epiphaniecharakter altgriechischer Plas­ tik, der hier ins Bild der Mosaiken transponiert ist, erfahren. Die Bewertung nach Absichten kann vor dem Anspruch, der von dem Anblick ausgeht, verstummen. Wer sich aber mit dem Willen, sich zu bilden, mit Zeugnissen der Kunst befaßt, hat die Geduld brauchende Anstrengung des Aufnehmens durch die atemlose Anstrengung des Einordnens verriegelt. Hier gibt es nur ein Entweder-Oder. Eine solche, durch nichts zu vermittelnde Antinomie spricht Burckhardt an, wenn er dem falschen Weg der Bildung als einen »viel richtigeren Weg« ein Verhältnis zur Kunst entgegenhält, das von dem Bildungsernst als das eigens zu Überwindende (als die ›Naivität‹ der Unbildung) angesehen wird: »diejenigen, welche nur hie und da etwas ansehen, aber scharf und genau; solche werden vielleicht durch ein inniges Verhältnis zu dem betreffenden Kunstwerk belohnt

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und lernen ohne alle Bücher allmählich mit den Kunstwerken direkt verkehren, in einer völlig individuellen Sprache«. Der Ernst, den Burckhardt diesem Gegenpol des Bildungsernstes zumißt, bekundet sich darin, daß er den Angelpunkt eines Vorle­ sungsbeginns mit dem Thema ›Über die Kunstgeschichte als Gegen­ stand eines Akademischen Lehrstuhls‹ ausmacht, den Angelpunkt der Anfangsstunde eines viersemestrigen Kollegs über die Geschichte der europäischen Kunst, die »Eröffnung« von Burckhardts (erneuter) Zuwendung zur »Kunstgeschichte überhaupt«. »Ohne alle Bücher« ist eine sachgemäße Aufnahme denkbar, während von den vielen, für die die Kunst zur allgemeinen Bildung gehört, völlig abzusehen ist. Wie kann mit einer solchen Polarität ein akademischer Vorlesungszyklus zur Geschichte der Kunst eröff­ net werden? Für Burckhardt muß er damit eröffnet werden – aus dem gleichen Grund, weshalb seine Vorlesung über »das Studium der Geschichte« mit einer Einleitung eröffnet wurde, die als eine Hauptvorbedingung dafür die Befreiung von dem Schema der Chronologie verlangte, also den Verzicht auf eben das, was man als den Inhalt einer solchen Vorlesung erwarten durfte, – aus einem ähnlichen Grund auch, weshalb seine Vorlesung über die griechische Kulturgeschichte mit einer Einleitung eröffnet wurde, die als Hauptvorbedingung dafür die Distanz von der »Ereignisgeschichte« (die Erzählung und die Ordnung quellenkritisch zu erschließender ›Tatsachen‹) verlangte, den Verzicht also darauf, was man hier primär erwarten konnte. Diejenigen, welche nur hier und da etwas ansehen und ohne alle Bücher lernen, mit Kunstwerken direkt zu verkehren, sind auf einem ähnlichen Weg, wie ihn diese Vorlesung gehen wird, während das Bildungsinteresse an der Kunst diesen Weg verbaut. Der Schlüsselpunkt zum Verständnis dieser Paradoxie liegt offenbar in dem Bezugscharakter, den Burckhardt mit »direkt« meint. Die früheren Abschnitte dieses Einleitungstextes haben darauf schon vorbereitet: der erste Passus über den Unterschied von Anweisung und Forschung, der fünfte über die entgegengesetzten Weisen von »Aneignung«, vor allem aber der dritte, der die »unmittelbare« Ein­ wirkung der Kunst auf uns durch die »Macht der Schönheit« von derjenigen medialen Rezeption der Kunst unterscheidet, die Burck­ hardt dort »Nachdenken« und »Vergleichen« nennt. Nun ist klar, daß Burckhardt selbst im höchsten Maße nachdenkt und vergleicht. In dieser Einleitungsstunde sucht er jedoch zu zeigen, daß es zweierlei

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ist, ob die Arbeit des Vergleichens sich an sich selber orientiert, also an den Maximen der Forschung und der Bildung, oder aber an dem Sachverhalt der Kunst, also an der Frage, wie muß hier gedacht und verglichen werden, um vor die Sache zu gelangen. Inwiefern ein Lernen »ohne alle Bücher« mit dem akademischen Lernen mit Büchern vereinbar sein kann, ist schon dem zweiten Pas­ sus zu entnehmen, der von dem Zusammenhang zwischen Notlage und Vorzug »unserer Zeit« handelt. Der Schritt zur »Moderne« ist nicht der von Naivität zu Reflexion. Der Dichter der Ilias, die Erbauer des Parthenon waren so wenig naiv wie Rubens oder Mozart. Es ist der Schritt von der Epocheneinheit zur (zeitlichen und räumlichen) Welteinheit. Und dieser Schritt wird daran kenntlich, daß die Epo­ cheneinheit, die Kontinuität der Tradition, zerbrochen ist. Diesen Bruch wahrzunehmen, heißt den Vorzug unserer Zeit anzunehmen. »Wir« müssen uns den »richtigeren Weg« derjenigen, welche nur hie und da etwas ansehen, aber scharf und genau, zum Maßstab auch der akademischen Arbeit machen. Äußerungen Burckhardts über Museumsbesucher – in Rom, in Dresden – können diesen »Bildungs«-Einwand illustrieren. Im Früh­ jahr und im Sommer 1875 machte Burckhardt die ersten größeren Reisen zur Vorbereitung seiner Kunstgeschichts-Vorlesungen, zwi­ schen März und April über Turin und Genua nach Rom, zurück über Florenz, im August nach Kassel und Dresden. Von Rom aus äußert er sich wiederholt in Briefen an die Freunde in Basel über »das Frem­ denthum« vor den Bauten und in den Sammlungen. Am 13. April schreibt er an Grüninger: »Die Engländer kann ich aushalten, aber eine gewisse andere Nation weniger.« Einen Angehörigen dieser Nation nimmt er freilich aus: »Bode ist hier und nun treffen wir bald da bald dort zusammen und gehen ganze Galerien durch, wie z. B.: die vaticanische Pinacoteca und die Galleria Borghese, und zwar kri­ tisch, auf Echtheit, Erhaltung etc. hin. Es ist ganz erstaunlich was der für ein Auge hat ...«51 Das »Fremdenthum«, das ihn »in eine Art Ver­ 51 Wilhelm von Bode (1845–1929) war von 1905 bis 1920 Generaldirektor der Ber­ liner Museen. »Dank seiner im größten Stil betriebenen Ankaufstätigkeit, wodurch Berlin den größten älteren Sammlungen ihren Rang streitig machte, galt er als der weithin tüchtigste Museumsfachmann seiner Generation. Seinem Kennerurteil schenkten Kunsthändler und private Sammler größtes Vertrauen.« (Max Burckhardt in Band VI seiner Ausgabe der Burckhardt-Briefe, S. 482.) – Burckhardt hatte den jungen Bode bei einem Besuch am 12. September 1974, dessen Anlaß der Plan einer Neuauflage des ›Cicerone‹ war, kennen – und sogleich aufs Höchste schätzengelernt.

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zweiflung bringt«, beschreibt er vor dem Hintergrund dieser Aus­ nahme: »Sonst kenne ich keine Deutschen, sehe sie aber massenhaft in allen Galerien etc. Die meisten davon gehören zu jenen modernen Bußpilgern, die nicht mehr mit Steinen in den Schuhen und Geißel­ striemen auf dem Rücken den römischen Ablaßkirchen nachziehen, sondern ihre Buße durch mörderliche Langeweile vor Kunstwerken, an denen sie nichts haben, abmachen müssen.« In einem anderen Brief (an Max Alioth), vier Tage später, schreibt er: »Heute gegen Mittag als ich aus dem Vatican kam und im Palazzo Farnese stand, schritten vier Deutschinnen mit vier Bädekern in den Händen ganz militärisch gegen den Palast! und keine war auch nur leidlich, obwohl sie jung waren. Und überall dieß laute jebildete Reden! – ›Es wäre köstlich jewesen bei Papstens zu Thee zu jehen, allein Sie bejreifen wohl, bei die jetzigen Verhältnisse ...‹ « Im Fortgang der vorigen Briefstelle nennt Burckhardt auch einen Kontrast zu diesen »modernen Bußpilgern«: »Die Italiener machen mir in den Galerien nie diesen Effekt; entweder sie laufen fort oder sie sehen die Sachen recht an.« Und damit verbindet er die eigene Erfahrung eines seit dreißig Jahren stetiger Italienreisen in diesem Frühjahr 1875 abermals erneuerten Aufenthaltes in Rom: »Ich selber glaube von mir rühmen zu müssen, daß ich an den Kunstwerken sehr Vieles inne werde, das mir früher verborgen blieb und daß mein Wahrnehmungsvermögen erklecklich gewachsen ist, es wäre auch betrübt wenn es nicht so wäre. Wenn ich nur auch 3 Monate Zeit hätte! aber statt den Dingen nachsinnen zu können, muß ich von einer bot­ tega di fotografo zur andern ziehen und märten [markten], was mir vollkommen gegen den Strich ist « (Briefe VI, S. 25f. und S. 33). Die Helligkeit des »Wahrnehmungsvermögens«, dieses Element »direkten« Bezuges auch im lernenden und lehrenden Umgang mit Kunst, läßt Burckhardt zu einem Kunstverständnis »ohne alle Bücher« eher in eine Nachbarschaft treten als zu einem Verhältnis, das die Bücher vor den Anblick stellt. Der zunächst ganz besonders befremd­ (Dazu Kaegi IV, S. 170–175, mit dem denkwürdigen Bericht Bodes über dessen Besuch in der Albanstraße.) über die Begegnung in Rom ein halbes Jahr später schreibt Bode: »In einer der Kirchen begegnete mir zufällig Jacob Burckhardt, der seit Jahrzehnten zum erstenmal wieder nach Rom kam. Wir waren seitdem wiederholt hier und später in Florenz tagelang zusammen, und ich genoß in vollen Zügen seine liebenswürdige, äußerst anregende Gesellschaft und Belehrung.« (W. v. Bode, Mein Leben, 1930, I. Band, S. 113; in den Anmerkungen zu Burckhardts Brief vom 13. April 1975; Briefe VI, S. 304.).

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lich wirkende Gedanke an »jene Normannen« der Völkerwanderung, die die griechischen Götterbilder in Konstantinopel für ihre Göt­ ter hielten: eine Verbindung von hoher Glückseligkeit mit völliger Unwissenheit, verliert die Befremdlichkeit, wenn man die polemische Spitze beachtet. Diese Normannen glaubten, in dem Fremden das Höchste des Eigenen zu sehen (ihre Götter). Die Unwissenheit war nicht ganz falsch: sie fühlten sich – nach Burckhardts Urteil – zu Recht von dem hellenischen Schönheitssinn verwandtschaftlich berührt. Das Höchste, das Burckhardt hier als eine Möglichkeit anspricht, gründet nicht in der Unwissenheit, sondern in der Unmittelbarkeit. Es handelt sich hier um jenes plötzliche Gewahrwerden, das, wie Burckhardt am Ende des vorhergehenden Passus sagt, »die Seele trifft« und das er hier, im vorhergehenden Satz, als »ein sehr inniges Verhältnis zu dem betreffenden Kunstwerk« gekennzeichnet hatte.

3 Die Reduktion aufs Lesbare »Endlich ist eine Hauptbedingung die, daß das Auge überhaupt noch der Betrachtung fähig ... ist.« Das »endlich« leitet keinen Zusatz ein. Burckhardt beginnt damit das Fazit dieser Eröffnungsstunde. »Allein wir müssen von der Kunst sprechen«, weil das Sichzeigende gezeigt zu werden verlangt. Was meint Burckhardt mit Sehen? Offenbar nicht die optische Präsenz der Fakten, die wir (seit dem Beginn der modernen Naturwis­ senschaften) mit Empirie verwechseln. Die optische Rezeptivität, die optische Aktivität ist weniger ein Vorzug als eine Last der Moderne geworden, – auch schon zu Burckhardts Zeit, nicht erst im Zeitalter der Werbung und des Fernsehens. Gerade infolge der Überarbeitung ist das Auge abgestumpft. Wir haben das Sehen verlernt, weil wir einem Übermaß an Optik ausgesetzt sind, – so wie man im Lärm das Hören verlernt. Burckhardt spitzt die Behauptung, »das Auge« sei »für die Dinge der sichtbaren Welt« »durch Überarbeiten abgestumpft«, zu der Erklärung zu: Die Abstumpfung durch Überarbeiten bestehe darin, daß das Auge »auf die bloß schriftliche und gedruckte Welt reduziert sei«. Über-Arbeitung ist demnach nicht ein Zuviel an Arbeit, sondern eine dem Auge schädliche Arbeit. Die sichtbare Welt ist insofern auf die schriftliche und die gedruckte Welt reduziert worden, als die Gegenwart des Sehens durch die Information des Mediums verdrängt

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worden ist. (Zu jener Gegenwärtigkeit gehört auch das erinnernde und das hoffende, das um Verlorenes trauernde, von Zukunftsbil­ dern beängstigte, das vor Unverhofftem verhaltende, lange vergessen Gewesenes plötzlich erkennende Sehen.) Im Verhältnis zwischen »gedruckter« und optisch-medialer Welt (wie heute dem Fernsehen) ist nicht der Unterschied, sondern die Ähnlichkeit das Entscheidende. McLuhan (»The medium is the mes­ sage«) beweist das, obwohl er es bestreitet. Wir ›sehen‹ nur noch medial, das heißt: wir ›lesen‹ nur noch, – auch dort und erst recht dort, wo wir fast wieder zu ›Analphabeten‹ werden. Wenn die Griechen vom Schönen sprechen, sprechen sie von schönen Dingen, schönen Menschen, schönen Gedanken, aber nicht von Bildern, Bauten, Gedichten. Und wenn sie von Homer, Polyklet oder Phidias sprechen, sprechen sie meist nicht von der Schönheit. Dieses Dilemma, vor das die Griechen die Ästhetik stellen, ist auch nur ein Dilemma der Ästhetik, – weder eines der Schönheit, noch auch eines der gebauten, der gemalten, der getanzten Künste. »Die­ jenige Empfänglichkeit der Phantasie, welche sich hier im Kleinsten freuen und erbauen kann, wird wohl auch der Betrachtung der Kunst zugute kommen.«52 Verhüllt in die Form eines Vergleichs (»Dies zeigt sich schon ...«) spricht Burckhardt hier von einem Bezug zwischen dem Verhältnis des Menschen zur »Kunst« und dem Verhältnis des Menschen zur »Natur«. Daß ihm in der Tat der Bezug das Entscheidende ist, lehrt der Beginn dieses Absatzes, wonach schon zur rechten Aufnahme der Kunst das Auge überhaupt noch der Betrachtung fähig und für die Dinge der ganzen sichtbaren Welt noch nicht abgestumpft sein darf. Um diesen Bezug zu erkennen, bedarf es nicht der Genese des vom Menschen gemachten Schönen, das wir ›Kunst‹ nennen (sei es des Erwirktwerdens durch das schaffende Ich, sei es des Wirkens im rezipierenden Ich). Um den Bezug zwischen dem Verhältnis des Menschen zur »Natur« (zu allen Dingen der sichtbaren Welt) und seinem Verhältnis zur »Kunst« zu erkennen, bedarf es vielmehr eines Absehens von dem ganzen Schema der Genealogie. Der ›Vergleichs­ punkt‹, der Bezugsort in Burckhardts Vergleich der »Betrachtung« der Ein Zeugnis dafür: der Zusammenhang der Musen mit den Nymphen, von dem die beiden ersten Abschnitte in Walter F. Ottos Buch: Die Musen und der göttliche Ursprung des Singens und Sagens (1954) handelt. – Ein anderes griechisches Zeugnis dieses Zusammenhangs von Naturschönheit und Kunstschönheit ist die geschwisterliche Verbundenheit zwischen Artemis und Apollon. 52

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Kunst mit der »Betrachtung« der Natur ist der Unterschied zwischen Nichtsehen und Sehen. Und der wird hier verstanden als abgestumpft und und nicht abgestumpft. Burckhardts Beispiele – »ein Kontrast zwischen Apfelblüten, frischem Buchenlaub und blauschwarzen fernen Tannen; – oder ein letztes Hervorleuchten der Abendsonne unter gewaltigen Wol­ ken« – klingen ästhetisch. Im Umkreis aller Äußerungen dieser Eröffnungsstunde ist hier aber von einer solchen »Empfänglichkeit und Phantasie« die Rede, die ihren Wesenszug im Gegensatz zur Unempfänglichkeit des bloß Phantastischen hat. Ohne Phantasie gibt es kein Sehen. Das Fixieren sogenannter Tatsachen ist immer ein gewaltsamer Ausschnitt aus der Fülle des »Betrachtens«. Doch die Phantasie (die ›Einbildungskraft‹) kann zwar für die Dinge der sichtbaren Welt empfänglich machen, sie kann aber auch sich in sich selbst verzahnen und nur noch – wie dies Kant als den Grundzug der naturwissenschaftlichen ›Empirie‹, seit Galilei und Newton, bewußt gemacht hat – denjenigen Aspekt der Welt zulassen, der unserer (der technischen) Produktivität analog ist: ihre unsicht­ baren Bewegungs- und Erzeugungsformeln. Der Unfähigkeit der »Betrachtung« entspricht die Verkehrung der Phantasie zur Religion der ›Kreativität‹. An die Stelle des Sehens (des Sehenlehrens und Sehenlernens) ist das Machen getreten, – mit Burckhardts Worten: an die Stelle des »Daseins« das »Geschäft« (SG S. 133, Z. 24; WB S. 48).

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›Der Ursprung des Kunstwerkes‹ und die moderne Kunst53

1 Der Unterschied zwischen moderner Kunst und modernem Zeitalter Gibt es oder gab es ›moderne Architektur‹ so, wie es barocke Archi­ tektur gab? Waren die Bauten Schinkels oder Sempers im selben Wortsinn ›Architektur‹ wie diejenigen ihrer Vorbilder? Bleiben in dem Streit über ›postmoderne‹ und ›moderne Kunst‹ nicht beide Seiten an das ›Neue‹ des 18. Jahrhunderts gebunden? War die moderne Kunst überhaupt schon da, wenn Dasein heißt, Ankunft bei den Adressaten?

Erstveröffentlichung: Kunst und Technik. Gedächtnisschrift zum 100. Geburtstag von Martin Heidegger, hg. v. Walter Biemel und Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Klostermann: Frankfurt a. M. 1989, S. 219–254. D.R. – Von den Schriften über Heideggers Gedanken zur Kunst seien hier hervorgehoben: W. Perpeet, ›Heideggers Kunstlehre‹, in: O. Pöggeler (Hrsg.): Heidegger – Perspektiven zur Deutung seines Werks, 1969, S. 217 – 241. – F.-W. von Herrmann: Heideggers Philosophie der Kunst. Eine systematische Interpretation der Holzwege-Abhandlung »Der Ursprung des Kunst­ werkes«, 1980. – Peter B. Kraft: Das anfängliche Wesen der Kunst. Zur Bedeutung von Kunstwerk, Dichtung und Sprache im Denken Martin Heideggers, 1984. – Zu ›Heideggers Begegnung mit der Provence‹: Curd Ochwadt in seinem Nachwort zu: M. Heidegger, Vier Seminare, 1977, S. 139 – 149. – Zu Heideggers Begegnung mit Cézanne, Paul Klee und Chillida: H. W. Petzet, Auf einen Stern zugehen, 1983, S. 139 f. und 149–152; 154–159; 164–167. Schriften von Freunden des Verfassers, die das hier Gesagte fundieren und erläutern können: Gerhard Faden, Der Schein der Kunst. Zu Heideggers Kritik der Ästhetik, 1986. – Gerhard Glaser, Das Tun ohne Bild. Zur Technikdeutung Heideggers und Rilkes, 1983. – Dieter Rahn, Raumdarstellung und Zeitbezug in der Malerei. Zur Kunst und Kunstgeschichte André Massons, 1982. – Mein besonderer Dank gilt Dieter Rahn für die Möglichkeit, aus seiner Vorlesung ›Grundprobleme der Plastik‹ vom Winter 1985/86 an der Hochschule der Künste in Berlin die Manuskriptteile zu Brancusi und Giacometti lesen zu können. Zu Brancusi: Friedrich Teja Bach, Constantin Brancusi. Metamorphosen plastischer Form, 1987. – Zu Giacometti: Gottfried Boehm, ›Das Problem der Form bei Alberto Giacometti‹, in: L. Aragon u. a.: Wege zu Giacometti, 1987, S. 39–66. 53

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Ob zum Verständnis der modernen Kunst die Lektüre von Gedanken eines Philosophen zur Kunst, eines Nichtfachmannes also, und da auch noch (anders als etwa bei Adorno oder Gehlen) mit dem Schwergewicht auf Beispielen alter Kunst wie dem griechischen Tempel eine Hilfe sein kann, wird sich nur am Versuch entscheiden lassen. Zwei Erwägungen sollten aber vorausgehen. Die eine zur Frage des Gebiets, an das man mit dem Namen ›moderne Kunst‹ denkt, die andere zu Heideggers persönlichem Verhältnis zu moderner Kunst. Daß die Arbeit Picassos, zumindest seit 1907, das Œuvre Kandinskys, spätestens seit 1911, der modernen Kunst zugehören, die Werke Hodlers oder Klimts dagegen nicht, das ist mit dem Wortgebrauch ›moderne Kunst‹ entschieden. Und das Recht dieser Entscheidung wird nicht beeinträchtigt durch die Unsicherheit über den Beginn. Sind die Gemälde des Impressionismus, die Skulpturen Rodins oder auch die Bilder der ›blauen‹ und der ›rosa Periode‹ Picas­ sos, vielleicht auch die letzten Werke Paula Modersohns (zwischen 1905 und 1907) schon ›moderne Kunst‹ oder (ganz abgesehen von ihrem eigenen Rang) nur Vorläufer? Diese Fraglichkeit des Anfangs bezeugt zwar die Dunkelheit über den Kern (über das Wesen) der modernen Kunst. Sie widerspricht aber nicht dem Einvernehmen über das Gebiet ›moderne Kunst‹. Ein Schlüsselpunkt der Anfangs- und damit Wesensfrage inner­ halb des Einvernehmens über das Gebiet ist das Werk Cézannes und damit der Beginn dessen, was für Cézanne (im Anschluß an Pissarro und Delacroix) unmittelbar vorbildlich war: die (in ihrem eigenen Gepräge) um 1810 beginnenden Arbeiten Constables und Turners. Es befinden sich hier also zwei Einschnitte im Bunde: der Beginn der ausdrücklich ›modernen Kunst‹ mit den ersten ›fauvistischen‹ Werken von Matisse 1905, dem ›Frühkubismus‹ Picassos und Braques 1907 und den ersten Werken der ›Brücke‹-Maler in Dresden (Ernst Ludwig Kirchners zumal) ebenfalls 1907 auf der einen Seite, die Vor­ bereitung der großen französischen Malerei des 19. Jahrhunderts seit 1810 in England auf der anderen Seite. (Keinerlei Bedeutung kommt den beiden Jahrhunderteinschnitten zu. ›Um 1800‹, ›um 1900‹ gibt es weder einen Generations- noch einen Struktureinschnitt.) Mit 1905 bis 1910 und 1810 läßt sich in einem engeren und einem weiteren Sinn das Gebiet umgrenzen, noch bevor man sich darüber zu verständigen sucht, wie dieses Gebiet beschaffen ist, an was für Merkmalen sein Grundzug hervortritt.

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Eben damit läßt sich, auch schon vor einer Wesenserkenntnis, die Verwechslung des Modernen der modernen Kunst mit dem Modernen der modernen Zeit vermeiden. Wie immer auch die eine und die andere ›Moderne‹ selbst beschaffen sein mögen, ob die Ähnlichkeiten oder die Unterschiede zwischen ihnen schwerer wiegen: die moderne Zeit, die (jetzt zu globaler Ausdehnung tendierende) europäische ›Neuzeit‹ hat ihre Anfänge wesentlich früher, wahrscheinlich schon in der Nachbarschaft zwischen Hobbes, Descartes und Galilei, spätes­ tens in der Nachbarschaft der drei Kritiken Kants mit dem Beginn des modernen Geschichtsbewußtseins in den Natur- wie den Kul­ turwissenschaften. (Ein Zeitalter nach Zeugnissen der Philosophie und Wissenschaft zu umschreiben, ist in diesem Fall angemessen: diese Zeugnisse sind schon als Bereich ein ›Basis‹-Merkmal der Epoche.) Von den verschiedenen Kunstgattungen (die seit 1750 in dem Namen der ›schönen Künste‹ verbunden werden) empfiehlt es sich, im Falle der modernen Kunst die im Sprachgebrauch schon angezeigte Dominanz der bildenden Künste, deren Orientierungsdo­ minanz zumindest, anzunehmen. (Die Problematik des neuzeitlichen ›Systems der Künste‹54 braucht hier nicht besprochen zu werden. Daß bei moderner Kunst auch an Joyce und Beckett, an Strawinsky oder Djagilew, an Eisenstein oder Antonioni gedacht werden kann, wird auch vom jeweiligen Fachverständnis nicht bestritten werden.) Für das Verständnis der modernen Kunst ist es aber angebracht, auf den Unterschied der Arten (oder Gattungen) innerhalb der bil­ denden Künste zu achten. Nach dem Ende des Barock gab es große, künstlerisch bedeutende Bildkunst nur in der Malerei. (Thorvaldsen ist nicht mit Caspar David Friedrich und auch Christian Daniel Rauch nicht mit Constable zu vergleichen. Ähnliches gilt von der Architektur zwischen der Mitte des 18. und dem Ende des 19. Jahrhunderts.) Die moderne Kunst dagegen ist ohne die Zeugnisse der Plastik nicht angemessen zu denken. (Die Neigung, allein an Malerei zu denken, wenn über moderne Kunst philosophiert wird, zeugt bereits von der Allmacht konventionell-ästhetischer Kunstblindheit.) Die große Zahl großer Plastiker seit Rodin und Brancusi steht im Bunde mit denje­ nigen großen Malern, die zugleich auch große Plastiker waren wie Picasso und Matisse (auch Braque und Miró, Ernst Ludwig Kirchner und Max Ernst sind hier zu nennen), und Plastikern, die zugleich auch S. P. O. Kristeller: ›Das moderne System der Künste‹, in: Ders.: Humanismus und Renaissance, 1976, Bd. II, S. 164 – 206.

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Maler waren wie Hans Arp und Giacometti. Diese Erneuerung der Plastik nach ihrem langen Schlaf im 18. und 19. Jahrhundert beginnt gleichzeitig mit Rodin und dem Maler Degas. Der Gedanke Hegels, in der Plastik (mit dem Blick auf die alten Griechen) die Erfüllung der »höchsten Bestimmung« der Kunst und damit das Paradigma für das Künstlerische aller Künste dokumentiert zu sehen, könnte uns einen Wink geben, beim Denken an moderne Kunst als erstes darauf zu achten, daß Kunst hier wieder etwas mit Plastik zu tun hat, – vielleicht sogar: dafür bereit zu werden, in diesem Wandel gegenüber dem Vorausgegangenen dem Grundzug des Modernen der modernen Kunst zu begegnen. Die Vorläuferschaft der Kunst Cézannes steht dem nicht im Wege. Sie beruht in der eignen plastischen Struktur dieser Malerei. (Im Wege steht einer solchen Bereitschaft nur die wesenhafte Verschlossenheit der Ästhetik – von Plato an – gegenüber dem Plastischen der Kunst als Kunst.) Wie kann aber der Grundzug von etwas ›Modernem‹ in der Annäherung an Ältestes beruhen? Muß das Moderne der modernen Kunst nicht notwendigerweise in der Abkehr von dem beruhen, was vordem Kunst war? Zu fragen bliebe dann nur, mit welchem Recht hier wie dort von Kunst gesprochen wird. Eine erste Antwort auf dieses Dilemma, die Einsicht, daß hier nur ein Scheindilemma vor­ liegt, kann der Umfang und die Intensität der Überlieferungsstudien großer Meister der modernen Kunst geben. Die Aufenthalte Cézannes während der Wintermonate im Louvre, die ›Meninas‹-Variationen Picassos, die Bedeutung der persischen Miniaturen und der Ikonen­ malerei für Matisse, die Zeichnungen nach Werken alter Meister in allen Arbeitsphasen Giacomettis, die Skulpturengruppe nach den bei­ den Giebeln des Zeustempels von Olympia (und andere Skulpturen nach griechischen Werken) von Anthony Caro (1987), aber auch die Konzentration Paul Klees auf Mozart und Bach in seinem Musizieren sind dafür exemplarisch.55 Ausgesprochen ist jener Schein eines 55 S. dazu: Gertrude Berthold, Cézanne und die alten Meister. Die Bedeutung der Zeichnungen Cézannes nach Werken alter Meister, 1958. – Alberto Giacometti, Begeg­ nung mit der Vergangenheit. Kopien nach alter Kunst (Einführung von L. Carluccio), 1968. – Den Giacometti-Abschnitt in: Pierre Schneider, Das Lächeln der Mona Lisa. Spaziergänge im Louvre, 1975, S. 63 – 78 (jetzt auch in der oben genannten Sammlung von L. Aragon u.a., 1987). – Anthony Caro: Anthony Caro. The Greek Series (Katalog), introduction by John Dorsey, André Emmerich Gallery, New York, 1988. – Paul Klee: Paul Klee und die Musik (Ausstellungskatalog Oslo 1985, Paris, Frankfurt 1986), Schirn Kunsthalle Frankfurt und Cosmopress Genf, 1986.

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Dilemmas in der Äußerung Cézannes: »Poussin nach der Natur«.56 (Joyce’s Berufung auf Vico mit ›Finnegans Wake‹ gibt mit dem Vorbild zugleich auch eine Erläuterung des Traditionsbezuges seiner Dichtung überhaupt, wenn man dabei auf Vicos Anspruch, »der Entdecker des wahren Homer« zu sein, achtet.57) Heidegger scheint nach einigen Äußerungen in Zeugnissen moderner Kunst nur die Abkehr vom Anfang zu sehen, also eine Modernität, die darin aufgeht, sich dem Anspruch des Früheren zu verschließen. Das gilt zumal im Blick auf solche Zeugnisse moderner Kunst, die man via negationis unter dem Merkmal ›gegenstandslos‹ zusammenfaßt.58 In der dritten Stunde der Vorlesung ›Der Satz vom Grund‹ vom Winter 1955/56 sagt Heidegger: »Im Bereich der tech­ nisch-wissenschaftlichen Weltkonstruktion« habe »das, was man mit einem ungemäßen Titel ›abstrakte Kunst‹ nennt, seine legitime Funk­ tion« (S. 41). In der fünften Stunde: die »gegenstandslose Kunst« ent­ spräche der Zuspitzung der neuzeitlichen Vergegenständlichung zur technischen Bestandsicherung (s. S. 66). In dem Vortrag ›Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens‹ von 1964 ist die Rede von Künsten, die der Informatik entsprechen: Die »neue Grundwis­ senschaft« der Kybernetik ist »die Theorie der Steuerung des mögli­ chen Planens und Einrichtens menschlicher Arbeit. Die Kybernetik bildet die Sprache um zu einem Austausch von Nachrichten. Die Künste werden zu gesteuert-steuernden Instrumenten der Informa­ tion« (Zur Sache des Denkens, S. 64). Und in dem am 4. April 1967, wenige Monate vor dem Beginn der Militärdiktatur, vor der Akademie der Wissenschaften und Künste in Athen gehaltenen Vortrag ›Die Herkunft der Kunst und die Bestimmung des Denkens‹ wird sogar das Ganze der modernen Kunst als ein Abschied von dem, was einstmals 56 Emile Bernard (in Erinnerungen an Begegnungen mit Cézanne 1904 bis 1906), s. Paul Cézanne, Über die Kunst, hrsg. v. Walter Hess, 1980, S. 89. Dort auch die ähnlich lautenden Äußerungen in den (fiktiven) Gesprächen mit Gasquet: S. 28, S. 63–65; s. auch den Verweis Cézannes auf den ›Lokalton‹ »ähnlich wie bei Poussin« (Hess, S. 14). Vgl. dazu in dem Buch von Kurt Badt, Die Kunst Cézannes, 1. Aufl. 1956, den Schlußpassus über Cézanne und Poussin (bes. S. 238f., zu Delacroix bes. S. 230 f.). 57 Zu Joyce und Vico s. Richard Ellmann, James Joyce, Band II, stw 1979, S. 833 f., 851, 1037. S. auch den Aufsatz Becketts von 1929: ›Dante ... Bruno. Vico ... Joyce‹, in: Beckett, Auswahl in einem Band, 1967, S. 9 – 29. – »Die Entdeckung des wahren Homer«: Vico, Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker, übersetzt und eingeleitet von Erich Auerbach, De Gruyter: Berlin 1924 und 1965, S. 48–50, 313–345. 58 Vgl. zum Folgenden bei Petzet: S. 152–154, 159–161.

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Kunst war, deklariert. Der Vortrag verbindet eine Erinnerung an die Kunst im Verständnis des griechischen Mythos (von Heidegger erläu­ tert an der Göttin Athene) mit einer Besinnung auf die heutige Wirk­ lichkeit, indem er diese als die Verwandlung der altgriechischen τέχνη (der »Kunst«) in die moderne wissenschaftliche Technik erklärt. Deren Anspruch aber und nicht dem, unter dem einstmals »die Kunst in Hellas stand«, entspräche »die moderne Kunst in allen ihren Bezir­ ken« (Denkerfahrungen, S. 140). Zu Zweifeln an der Apodiktizität solcher Äußerungen zur Kunst unserer Epoche auch für jemanden, den Heideggers Diagnosen des Zeitalters überzeugen, gibt Heidegger selbst Anlaß. Zusammen mit René Char hat er dessen Freund Georges Braque 1954 im Atelier besucht. Die Nähe René Chars zu Dichtern und Malern des Surrealismus wird Heidegger sowenig unbekannt geblie­ ben sein wie Erhart Kästners Bewunderung von Max Ernst. Einer der Begründer (und späterer Kritiker) des Surrealismus, André Masson, hat mit Heidegger im September 1956 in Aix-en-Provence Gespräche über den Mythos, über Nietzsche und über Cézanne geführt. Von dem außerordentlichen Eindruck, den seit einer großen Ausstellung bei Beyeler in Basel 1959 Paul Klee auf Heidegger gemacht hat, berichtet H.W. Petzet. In der Galerie Beyeler und der ›Erker‹-Galerie in St. Gal­ len – zwei der markantesten Sammler und Aussteller moderner Kunst in Europa – war Heidegger häufig zu Gast, in enger Gesprächsver­ bundenheit mit den Leitern und manchen Künstlern beider Galerien, darunter (in St. Gallen) dem venezianischen Maler Santomaso. Ein Höhepunkt der Aufenthalte in St. Gallen war die lithographische Zusammenarbeit Heideggers mit dem ›gegenstandslosen‹ Bildhauer Chillida 1968. Im Falle Chillidas wie auch dem des in den meisten seiner späteren Werke ebenfalls ›ungegenständlichen‹ Bildhauers Bernhard Heiliger ist ein intensives und zustimmendes Interesse Heideggers an deren Arbeit bezeugt. In der noch auf gemeinsame Schuljahre (in Freiburg) zurückgehenden Freundschaft mit Julius Bissier wird Heidegger auch dessen künstlerische Arbeit bekannt geworden sein, die vom Studium der ostasiatischen Tuschmalerei und Kalligraphie geprägten Miniaturen und Tuschen der Nachkriegszeit zumal, die schon durch die Wendung zur ›Gegenstandslosigkeit‹ wäh­ rend der Kriegsjahre vorbereitet wurden. Aus diesen Jahren liegen jetzt in Briefen Bissiers an Oskar Schlemmer Zeugnisse der wechsel­

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seitigen Zuneigung zwischen ihm und Heidegger vor.59 Eine in den späteren Jahren nur noch mit den Griechenlandreisen vergleichbare Bedeutung kommt Heideggers Begegnung mit Cézanne zu, mit des­ sen Werk: seit einer großen Ausstellung in Zürich im Herbst 1956, mit dessen Land: seit dem ersten Aufenthalt bei René Char in der Nähe von Aix-en-Provence ebenfalls 1956 (der sich bis 1969 noch fünfmal wiederholte).60 Beides, das Werk und das Land, und der Zusammenhang von beidem sind in der Aufzeichnung ›Cézanne‹ innerhalb einer Reihe von Aphorismen Heideggers ›Gedachtes – Für René Char in freundschaftlichem Gedenken‹ von 1970 angesprochen. Und wo schließlich liegt die Grenze zwischen alter und moderner Kunst bei den ›Schuhen‹ van Goghs? Der Ambivalenz in Heideggers Äußerungen zu Personen und Tendenzen der modernen Kunst soll hier aber nicht nachgegangen werden. Es ist vielmehr das Gewicht, das für Heideggers Erörterung der modernen Wirklichkeit – die mit der Auswirkung der ›Kehre‹ um 1934/35 anhebt – dem Gedanken an die »Herkunft« oder den »Ursprung« der Kunst zukommt. Aus diesem Zusammenhang kann der Leser Einblicke auch in das Verhältnis der modernen Kunst zu der modernen Zeit gewinnen, ganz unabhängig davon, was die Kunst­ erzeugnisse, die ihm als exemplarisch erscheinen, für Heidegger bedeutet haben oder bedeutet hätten.

59 Erhart Kästner über Max Ernst: in der Sammlung Offener Brief an die Königin von Griechenland (die auch drei Texte Erhart Kästners über Martin Heidegger enthält), Suhrkamp Taschenbuch 1973, S. 63 – 72, 155–157. – André Masson, Eine Kunst des Wesentlichen. Essays, 1961, S. 72. – André Masson, Le rebelle du surréalisme, Écrits, hrsg. v. F. Will-Levaillant, Paris 1976, S. 138, S. 197. André Masson / Demosthenes Davvetas Dialog/dialoque, Zürich 1987, S. 24 f. – Zu Bernhard Heiliger s. hier Anm. 65 S. 131. – Julius Bissier – Oskar Schlemmer. Briefwechsel, hrsg. v. Matthias Bärmann, Erker-Verlag St. Gallen 1988, die Briefe Bissiers vom 15. März 1941 und vom 14. Februar 1942. 60 Zur Provence: Ochwadt und Petzet (hier in der Einleitungsanmerkung 53 S. 115). Zu der Ausstellung in Zürich: ein Brief Heideggers an Boss, in: M. Heidegger, Zolli­ koner Seminare, hrsg. v. Medard Boss, 1987, S. 317. S. dort auch Heideggers Vergleich der ›Lichtung‹ mit ›Cézanne’s Mont Ste Victoire‹ (S. 344). Dem (von Gotthard Jedlicka eingeleiteten) Katalog nach zeigte die Zürcher Ausstellung 93 Gemälde, 57 Aquarelle und 63 Zeichnungen Cézannes.

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Über Brancusi und Giacometti, von denen die beiden hier gewählten Beispielpaare stammen, ist dem Verfasser keine Äußerung Heideggers – weder positiv noch negativ – bekannt.61 Das Werk Brancusis, das spätere (nachsurrealistische) Werk Giacomettis sind hier gewählt, um Brücken in einer Notlage zu finden: erstens in dem Dilemma, entweder von allem und damit von nichts zu sprechen oder aber mit nur einem einzigen Beispiel (oder Beispielkreis) das Spannungsgefüge der kontroversen »Richtungen« moderner Kunst zu verleugnen, und zweitens in der Divergenz zwi­ schen akzeptablem Vorverständnis (dem Einvernehmen im Gebiet) und persönlicher Erfahrung (die sich auf die Akzentuierung im Detail auswirkt). Unter einer kleinen Zahl von Künstlern, denen – auch im Vergleich mit alten Meistern – der höchste Rang zukommt (neben Brancusi und Giacometti mit Sicherheit Picasso und Matisse, vermut­ lich auch Mondrian, Braque, Paul Klee und Max Ernst) berücksichtigt die Wahl Brancusis und Giacomettis die Bedeutung der Plastik für die moderne Kunst; und ihre Verbindung schlägt eine Brücke zwischen zwei polaren Zügen der modernen Kunst: ›Abstraktion‹ im ›Bild der Welt‹ und ›Destruktion‹ im ›Bild des Menschen‹.

2 Aufstellung statt Vorstellung. Das Beispiel Brancusi Die Schrift Vom Ursprung des Kunstwerkes ist der Text dreier Vor­ träge von November und Dezember 1936, die die erweiterte Fassung eines Vortrags vom November 1935 »in der Kunstwissenschaftlichen Gesellschaft zu Freiburg i. Br.« darstellen. Der ersten Veröffentli­ chung, 1950 (in den ›Holzwegen‹), hat Heidegger ein »z.T. später« als 1935/36 geschriebenes vierseitiges Nachwort beigefügt, einer erstmals 1960 erschienenen Einzelausgabe (bei Reclam) einen 1956 geschriebenen sechsseitigen Zusatz, der »einige Leitworte erläutert«. In dieser Ausgabe ist der Text der ›Holzwege‹, wie Heidegger in der Vorbemerkung notiert, »neu durchgesehen« (und stärker unterteilt); es handelt sich dabei aber an keiner Stelle um Veränderungen, etwa Angleichungen an spätere Denk- und Sprachschritte. Die Reclamaus­ Heidegger könnte von Giacometti gehört haben durch Jean Beaufret oder René Char, er könnte Werke von ihm gesehen haben bei Beyeler in Basel. (1963 stellte die Galerie Beyeler 173 Werke Giacomettis aus der Sammlung Thompson aus, die dann später in die ›Giacometti-Stiftung‹ übergingen.).

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gabe ist mit einer ›Einführung‹ von H.-G. Gadamer versehen und mit einer Widmung Heideggers: »Theodor Hetzer zum Gedächtnis.« Der Text der Gesamtausgabe (Band 5, 1977, ›Holzwege‹) entspricht dem der Reclamausgabe; er verzeichnet zusätzlich die handschrift­ lichen Marginalien Heideggers in Handexemplaren (zumeist der Reclamausgabe). Wir zitieren hier nach der am leichtesten zugängli­ chen jüngsten Auflage (1982) der Reclamausgabe. Sucht man im Geflecht des Gedachten und Gezeigten dieser Schrift nach einem Orientierungspunkt, dann bietet sich zuerst der eine Satz an, der ausdrücklich als Hauptsatz formuliert ist: »Die Kunst ist das Sich-ins-Werk-Setzen der Wahrheit« (erstmals am Schluß des I. Teils, S. 34, ähnlich schon S. 30). Doch jedes dieser drei Worte: »das Werk«, »das Setzen«, »die Wahrheit«, ist durch eine so wesenhafte Zweideutigkeit gekennzeichnet, daß der Satz, um zu sprechen, das Verständnis des Textes viel eher voraussetzt, als daß er selber die Lek­ türe fördern könnte. Er hemmt sie eher, wie die Rezeptionsgeschichte lehrt. Der nächste Weg, der sich anbietet, ist nicht weniger verfehlt: nämlich der, im Schlußstück das Fazit oder doch im letzten der drei Teile die höchste Stufe in einem aufsteigenden Argumentationspro­ zeß zu suchen. Das letzte Stück (73–81) beantwortet zwar die Titel­ frage: inwiefern ist »die Kunst« »Ursprung«? Die Antwort lautet: »Alle Kunst ist ... im Wesen Dichtung« (73 f.). Doch was sagt die Rede vom »dichtenden Wesen der Kunst«, wenn man nicht das an den beiden vorausgehenden Stücken dieses dritten Teils über das »Schaffen« und »Bewahren« Gesagte schon verstanden hat? Und ist dieser ganze letzte Teil – über das »Dichten« (das »Stiften«) »der Wahrheit« durch »die Kunst« – wirklich ein Aufstieg gegenüber den beiden vorausge­ henden Teilen: »Das Ding und das Werk« und »Das Werk und die Wahrheit«? Ist denn nicht das »Stiften« der »Wahrheit« eben jener Aufschluß über die Dingheit des Dings, also über das Sein des Sei­ enden, den Heidegger im ersten Teil mit dem Beispiel eines Bildes von einem Ding (den ›Bauernschuhen‹ van Goghs) gegeben sieht? Im Schluß so etwas wie ein Resultat zu sehen, das würde die Art dieses Weges, seinen »Kreisgang«-Charakter (8 f.) zu einem Prozeß verfäl­ schen. Es gibt aber eine Bemerkung, von der aus man zumindest eine unbedachte Fehlorientierung vermeiden kann, kein Schlüssel, wie der Satz vom »Ins-Werk-Setzen der Wahrheit«, der sich – unbedacht – ähnlich liest wie Hegels Rede vom »Scheinen« »der Wahrheit« (in

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Hothos Formulierung: dem »sinnlichen Scheinen der Idee«), aber eine Schwelle. Das sind die beiden ersten Absätze des ›Nachworts‹ (83). Dem ersten Absatz nach geht die Schrift »das Rätsel der Kunst an, das Rätsel, das die Kunst selbst ist«. »Zur Aufgabe steht, das Rätsel zu sehen.« Der zweite Absatz sagt, was mit dieser Aufgabe verlassen werden muß. Das ist die Ästhetik. Deren – selber unbefragtes – Vorverständnis ihres Themas kennzeichnet Heidegger nach zwei Seiten: dem Verständnis des Kunstwerkes und dem der Kunsterfahrung. »Die Ästhetik nimmt das Kunstwerk als einen Gegenstand.« Es handelt sich dabei um einen besonderen Bereich von Gegenständen, die Gegenstände »der aisthesis, der sinnlichen Wahrnehmung«. In der Alltagsrede und dem Alltagsmeinen »nennt man dieses Vernehmen das Erleben«. Es ist »die maßgebende Quelle« »nicht nur für den Kunstgenuß, sondern ebenso für das Kunstschaffen«. Die Quelle dafür, daß das Kunstwerk als Objekt verstanden wird, ist die Subjektivität, die dem Gegensatzpaar Produzent und Rezipient gemeinsam ist. Das Verhältnis von Kunstwerk und Kunsterlebnis entspricht der europä­ isch-neuzeitlichen Dichotomie von Natur und Geist, die in Wahrheit ein Bedingungsverhältnis ist: der Geist ist die Quelle der Natur. Im Falle der Ästhetik spricht sich dieses Bedingungsverhältnis darin aus, daß der Ursprung der Kunst im Künstler gesucht wird, allenfalls im Auftraggeber, im Leser, im Publikum, also im Kunstbe­ trachter. Als Zeichen einer Schwelle bewährt sich jener Anfang des Nachworts, indem er den Schwellenpunkt bemerkbar werden läßt, dem im Gang der Schrift die Wendung in der Titelfrage zukommt. Der Ursprung des Kunstwerks: nicht der schaffende oder empfangende Mensch, sondern das Werk. Dem Nachwort-Kommentar: zur Aufgabe stehe, das Rätsel, das die Kunst ist, zu sehen, entspricht das Fazit des ersten Teils (zu dem Beispiel der Bauernschuhe van Goghs): Es sei nötig, daß »die Schranken des Selbstverständlichen fallen und die geläufigen Scheinbegriffe auf die Seite gestellt werden« (34). Die in ihrer Geläufigkeit massivste dieser Schranken ist die Gewohnheit der Ästhetik, »das Kunstwerk als einen Gegenstand« zu nehmen (83). Als was soll es dann genommen werden? Als etwas Ungegen­ ständliches? Wenn gegenstandslos ›abstrakt‹ heißt, dann natürlich nicht. Die ›Bauernschuhe‹ sind sowenig abstrakt wie der griechische Tempel, der das Hauptbeispiel des zweiten Teils ausmacht. Nur ist auch eine Skulptur Caros oder ein Bild Mondrians sowenig abstrakt wie ein griechischer Tempel. Gegenstandslos ist jedes große Kunst­

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werk in der Tat, wenn gegenstandslos nicht-vorstellbar heißt. Die Alternative zur Gegenständlichkeit ist nicht die Abstraktheit. (Die erfüllt nur – wie das ›Geistige‹ Kandinskys – das Motiv aller Verge­ genständlichung, das in dem ›Konkreten‹ der entwerfenden Tathand­ lung liegt.) Die Alternative zur Vorstellung von Gegenständen (dem ästhetischen Begriff des ›Bildes‹) ist das Aufstellen von Welt. Es ist zweierlei, ob man einen griechischen Tempel (wie der Klassizismus) nach dem Muster eines ›Bildes‹ oder ob man die ›Bauernschuhe‹ (wie Heidegger in dieser Schrift) nach dem Muster eines Bauwerks ›liest‹. In dem einen Fall ist das Lesen die zielgerichtete Bewegung einer Folge, ein Prozeß, in dem anderen das Sichverwandeln eines Sammelns (λέγειν), ein Bezug. Für das ›Bild‹-Verständnis hat das ›Werk‹ – wie ein Werkzeug – seinen Zweck erfüllt, wenn die Schrift entziffert ist; für die Bau-Erfahrung ist das Werk der Ort, der uns Raum und Zeit gibt. Der Gedanke des ersten Teils: an einem Bild wie den ›Bauern­ schuhen‹ van Goghs lasse sich das »Ins-Werk-setzen der Wahrheit« zeigen, kann in diesem Teil selber noch ästhetisch mißverstanden werden. »Die Welt der Bäuerin«: eine Aussage des Bildes, eine Bedeutung seines Inhalts, das – herauszulesend oder hineinzulesend – »Dargestellte«. Wir bleiben dann dabei, allein darauf zu achten, wovon dieses Kunstwerk handelt (auf seinen ›Bild‹-Charakter), statt zu sehen, was es selbst ist. Diese Frage, die Kernfrage der ganzen Schrift, wird erst im Mittelteil ausdrücklich bedacht, und zwar in Gestalt der Frage: »Wohin gehört das Werk?« (37). Dabei nun tritt Heidegger mit seinem zweiten Hauptbeispiel der Gefahr des bloßen ›Bild‹-Verständnisses von Kunst, die mit dem ersten Beispiel noch in Kauf genommen werden mußte, ausdrücklich entgegen. Nach dem ersten »Versuch«: aus dem Aufschluß, den ein Werk über ein Ding gibt (das Bild: über die Schuhe), »das Geschehnis der Wahrheit« (33 und 37) zu zeigen, lautet die Frage des zweiten Versuchs: »wie Wahrheit geschehen könne?« (37). Und dazu werde nun »mit Absicht ein Werk gewählt, das nicht zur darstellenden Kunst gerechnet wird« (37). Die damit eingeleitete ausführliche Erörterung des zweiten Teils beginnt: »Ein Bauwerk, ein griechischer Tempel, bildet nichts ab. Er steht einfach da inmitten des zerklüfteten Felsentales.« Diejenige Kunstgattung, an die wir beim Reflektieren über Kunst zuletzt denken und an die die griechischen Philosophen, wenn sie von Mimesis sprachen, überhaupt nicht dachten, wird hier sogleich

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mit einem ganz bestimmten Werk angesprochen, einem griechischen Peripteraltempel, und zwar, wie die Bemerkung über sein Dastehen in einer offenen Bergwildnis erkennen läßt, dem Apollontempel von Bassä, dem »einsamsten aller griechischen Tempel«, »in dem wilden Gebirge des südwestlichen Arkadien gelegen«, noch in den Jahren dieser Schrift »nur dem Wanderer oder Reiter auf schmalem Saumpfade erreichbar«62. Ein Bauwerk wie dieses bildet nichts ab. Es drückt aber auch nichts aus. Auf einen Künstler kann ein griechischer Tempel schon darum nicht zurückzuführen sein, weil ein ›Erfinder‹ dieses Bauge­ dankens nicht bekannt ist und jeder einzelne Bau, auch der Zeustem­ pel von Olympia oder der Parthenon, in seiner individuellen Gestalt stets eine Vielfalt von Faktoren verbindet: mit dem oder den Architek­ ten die Eigenart der Region oder der Polis (beim Parthenon: in der Person des Perikles), das Vorbild der Tradition, die Individualität der Gottheit, der der Tempel geweiht ist. »Er steht einfach da ...« Er herrscht nicht über die Umgebung wie ein barockes Schloß; er schmiegt sich auch nicht in die Landschaft ein wie die antike Ruine in einem Englischen Garten; aber er negiert auch nicht das von Natur aus Gegebene wie ein römischer Viadukt. ›Natur‹ ist hier weder Umgebung, noch Landschaft, noch auch bloße Unterlage. Sie bleibt selber, was sie ist. Sie ist aber von dem Bau nicht wegzudenken ohne diesem zu nehmen, was er ist. Das gilt von den benachbarten Heiligtümern, den Sportanlagen und dem Land, »in« denen der Zeustempel von Olympia stand, genauso wie von der Steilküste und der Brandung, denen der Poseidontempel von Kap Sunion zugehörte, oder der Stadt mit der Nachbarschaft des Meeres und den Olivenhainen, auf die einstmals der Parthenon blickte. Ein griechischer Tempel reduziert auf die ›Wirklichkeit‹ des Bauwerks selbst, ohne die Erde, auf der er steht, und den Himmel, unter dem er steht, ist wie ein Delphin ohne Wasser, wie ein Vogel im Museum. Mit einer solchen Erwägung wird nicht etwas von Haus aus Technisches romantisiert, sondern vielmehr an die – seit der Roman­ tik in Vergessenheit geratene – Welt erinnert, in der der Bau den 62 Gerhard Rodenwaldt: Griechische Tempel (1. Aufl. 1941), in der 2. Aufl. von 1951 S. 32. (S. dazu hier die Abb. 16) – Bei dem Plan einer dritten Griechenlandreise (einer ›Kreuzfahrt‹) 1966 war Heidegger, wie aus zwei Briefen hervorgeht, der Besuch dieses Tempels das wichtigste. (An Medard Boss am 20. September 1965, Zollikoner Semi­ nare – hier Anm. 60 S. 121 –, S. 340; an Erhart Kästner am 17. Mai 1966, Martin Heidegger – Erhart Kästner. Briefwechsel 1953–1974, 1986, S. 87, s. auch S. 143.).

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Menschen gut war, von diesen so gebraucht wurde, wie er sie brauchte. »Er steht einfach da«: das gilt auch von seinem Gebrauch. Es ist kein Schutzraum und auch kein Versammlungsraum. Es ist nur »das Haus der Gottheit«. Aber diese »wohnt« so »in ihm« (in der Cella), daß sie mit ihm, in dem Säulenumgang, in dem Gefüge von Basis, Säulen und Giebel, in dem Spiel zwischen Bau-Werk und Bild-Werk hervortritt. Dieses Doppelte der Begrenzung: das Umschließen und Eröffnen und beides im Selben, ist uns heute freilich nur noch indirekt zugänglich als das zwar von Schriften und vielen Bildern Berichtete, aber von uns doch nicht mehr zu Hörende, zu Sehende. Die Tempel sind nicht nur leer geworden, weil die »Götterbilder« in der Cella geraubt und zerstört worden sind. Sie sind auch stumm, weil uns ihre Sprache fern gerückt ist. Das Ausmaß dieser Ferne resultiert daraus, daß uns das Entfernt­ sein selber noch fern gerückt ist. Wir spüren diese Ferne gar nicht, wenn wir den kunst- und kulturhistorischen Abstand registrieren. Das ist die in ihrer Unbemerklichkeit am schwersten wirkende jener »Schranken des Selbstverständlichen«, die »fallen zu lassen« der erste Teil der Schrift versuchte. Ohne den damit erlangten Gewinn eines Schwellen-Gespürs müßte im Mittelteil schon die zweite Bemerkung zum griechischen Tempel, die dem Hinweis auf das »einfache Daste­ hen« folgt, zu einem unüberwindlichen Hindernis für den Leser werden: »Das Bauwerk umschließt die Gestalt des Gottes und läßt sie in dieser Verbergung durch die offene Säulenhalle hinausstehen in den heiligen Bezirk« (37). Eine solche Bemerkung scheint nur so sich ernst nehmen zu lassen, daß man sie nicht ernst nimmt, sie ironisiert: Rückfall in die Mythologie – wie man das vom späteren Heidegger ja ohnehin erwartet. Oder ließe sie sich doch auch noch anders ernst nehmen? So nämlich, daß an dem Erhaltenen und uns noch Anziehenden der Tem­ pelreste das Verlorene und Verstummte des »Götterbildes« zumindest als dieses Verlorene und Verstummte spürbar wird. Was sagt denn der Fortgang, der in den Gedanken vom »Streit« zwischen »Welt« und »Erde« als dem »Geschehen« im Dastehen des Tempels mündet? Er zeigt, was auch noch ein Torso wie der des Apollontempels von Bassä oder des Athenatempels der Akropolis uns sagt. Das Aufruhen »auf dem Felsgrund«, das Aufragen in »das Licht des Tages, die Weite des Himmels, die Finsternis der Nacht« sind ein kontrapunktisches Zusammenspiel polarer Tendenzen, nicht anders als im Dastehen der Mädchen- und Jünglingsstatuen, die in den Jahren dieser Schrift noch

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unter der Sonne und neben den Säulen der Akropolis standen, der Polarität zwischen aufgerichtet-ausgreifender Stand-Kraft und dem aufnehmend-leuchtenden Blick von Augen und Leib. Wenn der »Weltentzug« und »Weltzerfall«, der sich in dem Verstummen und Verlust der Götterbilder ausspricht, »nicht mehr rückgängig zu machen ist« (36), so ist es doch zweierlei, ob das in einem Vorstellen besiegelt wird, das von dem Tempel nur den (musealen) Gegenstand – gleichgültig ob realistisch-nüchtern oder klassizistisch schwärmend – wahrnimmt, oder ob wir das Einfachste und Nächste annehmen: statt auf den Tempel zu starren, mit ihm zu sehen, also den Bau nicht uns zu eigen machen, sondern seinem Anspruch folgen: zwischen der Wildnis des Gebirges und der Ferne des Himmels (in Bassä), zwischen der bewohnten Stadt und dem bebauten Land, zwischen dem Land und dem Meer (in Athen) Bezie­ hung zu stiften, indem gezeigt wird, geklärt wird, errichtet wird, worin Beziehung überhaupt besteht. Das hieße: den Stand des Tempels auf der Erde, in der Welt, sein Dasein also, sein zu lassen. Und das hieße: unsern, den uns zur Gewohnheit gewordenen Stand zu verlassen, den Stand der Selbst- und damit Weltbestimmung. Die Rede vom »Weltentzug« und »Weltzerfall« erscheint uns doch nur darum so dunkel, weil wir den römisch-neuzeitlichen Stand des Immer-Drüber­ stehen-Müssens für unsere, die menschliche Natur ansehen. Heideggers spätere Rede vom »Geviert« als dem »Spiegel-Spiel« nicht nur zwischen Himmel und Erde, sondern auch zwischen Gott­ heit und Mensch macht in der Bereitschaft, damit zunächst nur Spott und Zorn zu ernten, mit der Erfahrung ernst, daß wir Menschen nicht diejenigen sind, die das, was war und kommt, selbst machen. Am Kunstwerkaufsatz läßt sich mit dem Gedanken des »Gevierts« eine Schwierigkeit beheben, in die hier der »Welt«-Begriff geraten ist. Mit »Welt« ist besser das Ganze des »Streites«, seine Einheit benannt als nur der eine Pol. Von dem späteren Gedanken des »Gevierts« her (wie er in den Aufsätzen ›Das Ding‹ an einem Krug, ›Bauen, Wohnen, Denken‹ an Brücken und dem Schwarzwälder Bauernhof, ›Die Sprache‹ an einem Trakl-Gedicht umschrieben wird) läßt sich das im Kunstwerkaufsatz an den ›Bauernschuhen‹ van Goghs, dem ›Römischen Brunnen‹ C. F. Meyers und dem Apollontempel von Bassä Gesagte präzisieren, wenn man statt »Welt und Erde« »Himmel und Erde« sagt (und dabei lieber den Vorwurf des Naturalismus in Kauf nimmt) – »Himmel« als Name für alles naturhaft und schick­ salhaft, zyklisch und geschichtlich Erde und Mensch Verwandelnde

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–, und diese Polarität mit der anderen, halb analog, halb quer dazu stehenden verbindet, an die die älteren Kulturen dachten, wenn sie die Menschen »die Sterblichen« nannten, die am Gang der Welt (an ihrem Auf- und Untergang) Beteiligten und insofern Mitverantwortlichen, aber nicht ihn Steuernden. (In diesem Fall muß in Kauf genommen werden, daß die Erinnerung an die alte Rede von Gott und Göttern den Vorwurf des Mythologismus provoziert.) Die drei Bauten, die Brancusi zwischen 1937 und 1939 in Tirgu Jiu, dem Ort seiner rumänischen Heimat in der Nähe der Karpaten, für ein Kriegerdenkmal errichtete, auf einem von West nach Ost durch einen Hain zum Fluß hinführenden Weg, sind, senkrecht aufragend, die ›Unendliche Säule‹, Vertikale und Horizontale verbindend, die ›Pforte des Kusses‹ und, nahe am Fluß, der ›Tisch des Schweigens‹. Statt des Kriegsruhms der Kuß, statt einer Siegesfeier die Versammlung des Schweigens und für das Gedenken der Toten der pulsierende Aufstieg der Säule. Was ein Kunstwerk bei Brancusi ist, sei hier an einer der von Brancusi selber stammenden Fotografien des ›Vogels im Raum‹ (Abb. 11) angedeutet. Es handelt sich dabei um eine der späteren Fassun­ gen (von 1930) aus einer wie häufig bei Brancusi über Jahre und Jahrzehnte hinweg abgewandelten Reihe von Versuchen, die stets und in allen Einzelheiten, nicht zuletzt auch der vielfach variierenden Kombination von Sockelteilen und der Politur, eigenhändig gearbeitet sind. (Technische Wiederholungen wären, so nahe das auch bei Bron­ zewerken zu liegen scheint, für Brancusi undenkbar gewesen.) Dieses plastische Werk ist nicht das Abbild eines fliegenden Vogels, also ein Ausschnitt aus einer Folge von Zeitmomenten (und schon gar nicht irgendein innerer Ausdruck, etwa des Fliegenwollens in einer Wiedergabe des Flugbeginns). Es ist ein Vogelflug, das Spiel zwischen Schwerkraft und Luft (im Unterschied zu dem automobilen Motorflug oder gar dem ›Raumflug‹). Wir sehen diese Bewegung, den Aufstieg ›im Raum‹ – im Unterschied zu der Vorstellung eines Vorgangs in der ›konzeptuellen‹ Ergänzung des Davor und Danach bei einem günstig gewählten Ausschnitt –, wenn wir uns auf die plastische Bewegtheit (die ϰίνησις) dieser Gestalt einlassen, zu der das rhythmische Motiv, die ›Vibration‹ des Vogelkörpers in seiner Kontur (in die die Kraft des Flügelschlages eingegangen ist) ebenso gehört wie der Kontrast zu dem schwerelosen (geometrisch exakten) kleinen Zylinder des oberen und dem massiven und rauhen des unteren Sockelteiles. Ein drittes, die Impulsivität und Spontaneität

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des Auffliegens noch mehr betonendes Kontrastmoment kommt der Standfestigkeit und Unbeweglichkeit der Kiste auf dem Foto zu, mit der Brancusi den Mangel der Fotografie an Räumlichkeit um ein Geringes ausgleicht. Ähnliches gilt von dem dunklen Hintergrund des Fotos, der hier eine Hilfe für die Erfahrung derjenigen Bewegung darstellt, die bei der wirklichen Plastik in dem Spiel des Lichtes beruht, in das sich der »Werkstoff« verwandelt, bei dieser Fassung: der Glanz des weißen Marmors, bei anderen Fassungen: die Politur der Bronze. Die ›kombinatorische Gestaltung‹ des Sockels ist an der eigenen, strukturellen Aufwärtsbewegung der Skulptur beteiligt, indem sie das Motiv des dreifach geschwungenen Schaftes vorbereitet, der seinerseits den Rhythmus der Figur im ganzen trägt. Einem Bericht nach arbeitete Brancusi »ein Jahr an Entwurf und Ausführung dieses lebendig pulsierenden Schaftes ..., der, wie er sagt, ebenso schwierig zu finden war wie die Vogelform selbst«.63 Vogel »im Raum«, das heißt gerade nicht: »in« einer vom Betrachter zu konstruierenden perspektivischen Raum-Schachtel festgestellt, sondern: fliegend Raum öffnend, »Vogel« sein. Für einen Kreis englischer Plastiker und Maler, an ihrer Spitze Anthony Caro, ist die Kunstwerkschrift Heideggers zu einer Bestäti­ gung ihrer Orientierung an dem Beispiel Brancusis in der Abkehr von dem einstigen Vorbild Henry Moore geworden. Ich erinnere64 an die drei Grundmerkmale dessen, was nach dem Verständnis dieser Praktiker und Lehrer von Praktikern »Skulptur ist«: Thingness, Earth­ bound, Worldliness. Ob – wie bei Brancusi – an Figürliches erinnernd oder gegen­ standslos – wie in den tektonisch-statuarischen Gebilden aus Eisen oder Stahl, aus Marmor, aus Alabaster, aus Ton von Chillida seit 1951 oder den das Menschen-Maß aufrufenden, dezentralisierend-hori­ zontalen Raumgeflechten Caros seit 1959: sie sind selbst ›dinghaft‹, statt über etwas, was sie selber nicht sind, nur zu informieren. Ihr Stand und nicht die ›Schrift‹ ist hier entscheidend. Ein Zeichen dieser eigenen »Dingheit« ist die »Erdlastigkeit« solcher Werke. Sie sind nicht vorstellbar. Sie sind nur dann recht Zitiert nach Fr. T. Bach, S. 53, auf dessen Bemerkungen zur »kombinatorischen Gestaltung des Sockels und der plastischen Figur«, S. 30–62, hier verwiesen sei. 64 William Tucker, ‹What sculpture is‹, in: Studio international of modern art, 1974, S. 232–234. S. auch: W. Tucker, The language of sculpture, London 1974. Vgl. im Abschnitt ›Kunst und Wirklichkeit‹ zu Tucker S. 18 und im Abschnitt ›Die Kunst und der Raum‹ S. 183. 63

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wahrzunehmen, wenn das Aufruhen, das Auflasten auf dem Boden, demselben Boden, auf dem wir auch stehen, das Tragen eigner Lasten und dem entsprechend auch ihre Leichtigkeit, das ragende, federnde, schwingende Ball- und Bogenspiel gesehen wird. Dieses Sehen ist ein Mitgehen, Mitspielen, kein Draufgucken. Solche Werke sind nicht vorstellbar (auch wenn sie nicht ver­ hindern können, wie Gegenstände beschrieben und dann ›abstrakt‹ genannt zu werden), so wenig, wie sie autonom sind. In sich ruhend sind sie »welthaltig«: Proportionen bildend, Beziehungen, Unter­ scheidungen, Überschneidungen gebend, die, den Maßen unsres Standes, unsrer Schritte gemäß, ›betretbar‹ sind wie ein barockes Treppenhaus, ein Hof der Renaissance, – keine ›zweite Welt‹ in der hiesigen, sondern dem Hiesigen Raum gebend: Welt stiftend. Zum Vorbild wurde das Werk Brancusis auch für die Arbeit Bern­ hard Heiligers (seit einem Aufenthalt 1938 in Paris). An ihn schreibt Heidegger in einem Brief von 1964: »Sie zeigen das Aufgehen der Erde in den uns noch erfüllten irdischen Himmel. Ihre Werke stellen nichts mehr dar – sie stellen uns in den Aufenthalt im Irdischen von Erde und Himmel – die ins befreiende Freie wachsende Bewegung selber und gerade sie wird offenbar – eine ›Verklärung‹ (nicht Idealisierung) des Seins – aus einem verborgenen Grunde.«65 Aufstellen statt darstellen: besteht darin die »dinghafte« Verfas­ sung des Werkes, dann entspricht dem für ›uns‹, die Sehenden, Hörenden ein Hineinstellenlassen (in den Raum, den das Werk einräumt) statt eines Vorstellens (von Gegenständen und ihrer Bedeutung), bei dem wir, immer nur Zuschauer, vom Geschehen selber ausgeschlossen bleiben. Beides: das Aufstellen als der Grund­ zug des »Schaffens« wie die »Inständigkeit« als der Grundzug des »Bewahrens« (68), meint in dem letzten Teil der Kunstwerkschrift Heideggers Rede vom »Dichten«. Das Dichten: ein Anfangen und insofern »Ursprung«. Dieses vielgeschmähte ›Sein-und-Zeit‹-Wort hat in dem Titel der Kunstwerkschrift den einfachen Doppelsinn der beiden Fragen: woraus geht das Werk hervor, was muß zusam­ menkommen, damit Kunst entsteht? und: was geht aus ihr hervor, inwiefern ist Kunst selber Ursprung? Das Zweite, ihre »Welthaltig­ keit« (Heidegger: Welt-»Stiftung«), auf dem in dem Schlußteil das Hauptgewicht liegt, kann, ergänzend zu dem Eingangsbeispiel, ein 65 Bernhard Heiliger, Katalog der Galerie im Erker, St. Gallen, 1964 (Einleitung von Georg Schmidt), S. 18.

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weiteres Werk Brancusis erläutern: ›Der Neugeborene‹ (hier in einer Fassung von 1925 und wieder einer eignen Fotografie Brancusis, Abb. 12).66 Durch die Mulde an der einen Spitze ist das eiförmige Gebilde nicht nur Oberfläche, sondern zugleich auch Masse, ›Schale‹ also und ›Substanz‹ zugleich, einem Lebewesen ähnlich und nicht nur seine ›tote‹ Form. Daran, daß einem solchen Werk, wie Brancusi sagt, der »Schock der Wirklichkeit« zukommt, ist das ebenso umspannende wie ausstrahlende Hervortreten der Rundung in der – schräg zur Vertikale verlaufenden – Rippe beteiligt. Vor allem aber gehören dazu die – schon das natürliche Ei von der Kugel unterscheidende – Asym­ metrie und die Politur. In dem einen beruht der Grundzug lebendiger Einfachheit, der ein Werk Brancusis in den äußersten Gegensatz zu der rationalen Eindeutigkeit stereometrischer Grundformen stellt. In dem anderen beruht die doppelte Verwandlung: eine solche Skulptur ist »nicht mehr beleuchteter Gegenstand, sondern selbst leuchtende Figur« und zugleich: »nicht reduktive, sondern produktive Form. Sie hat nicht die Präzision des Geometrischen, sondern die Prägnanz – im ursprünglichen Wortsinn: das Gebärende, sich Fortzeugende – des Lebendigen.« In dem Grundzug der Asymmetrie ist diese Kunst das Gegenteil der Minimal Art (die sich zu Unrecht auf Brancusi beruft), in dem der Prägnanz das Gegenteil aller ›Konzept‹-Kunst (und ›Kon­ zept‹-Theorien moderner Kunst). Diese Korrektur des neuzeitlichen Cartesianismus in dem einen, des europäischen Platonismus in dem anderen dieser beiden Grundzüge läßt sich an dem Beispiel illustrie­ ren. Von dem Einfachen, das die qualitative Fülle des Anfangs ist, im Unterschied zu den Molekülen und Atomen quantitativer Kon­ struktionen, sagt Brancusi selber: »Simplicité est la complexité ellemême.« Der Kern dieses Unterschiedes liegt in der Unvereinbarkeit zweier Zeiterfahrungen: der äußeren Kombination von Kontinuum und Jetztpunkt im einen, der inneren Zusammengehörigkeit von verweilendem Umblick und blitzartigem Einblick im anderen Fall. Fr. T. Bach erinnert bei der Forderung Brancusis: »Kunst muß auf einmal, plötzlich den Schock des Lebens geben, die Empfindung des Atmens«, an Marcel Proust.

66 Die Zitate im Folgenden: nach Fr. T. Bach (s. hier die Einleitungs-Anmerkung 53 S. ###) 16–27.

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Der ›Neugeborene‹ ist ein Zeichen desjenigen »Anfangs«, den Heidegger in dem Kunstwerkaufsatz »Schenkung« und »Gründung« nennt: »Der Anfang enthält schon verborgen das Ende.« »Der Anfang... enthält immer die unerschlossene Fülle des Ungeheuren ...« (78 f.) Brancusis »Anfang«, Heideggers »Ursprung«, das ist der griechi­ sche, der altgriechisch-vorplatonische (Heraklitische) Gedanke des Begrenzens: ein Umgrenzen, das Abgrenzen und Verbinden in einem ist, das Konträre scheidend (sein Geschiedensein zeigend) und damit das sich gegenüber Stehende zusammenbringend, das Stiften des »Streites« als das Geschehen der Einheit, – das Feuer Heraklits, das Wasser des Thales.67 Was hier Einheit heißt, das ist bei einem Beispiel wie dem ›Neugeborenen‹ an dem Zusammenhang zwischen der Prägnanz des Konturs und dem Glanz der Politur zu erkennen. Der reflektierende Hochglanz ist »nicht nur letzte Konsequenz und Steigerung der Klarheit und Strenge des von seinem Kontur geprägten Volumens, sondern hebt dessen Geschlossenheit zugleich wieder auf, irritiert die Klarheit der strengen Formgebung durch die Vielzahl der Reflexionen, die die Konturlinie umspielen«. (Ein Sachverhalt, der sich jeder Abbildung entzieht.) »Im spiegelnden Glanz der Oberfläche öffnet sich die Form der Zeit. Sie lebt durch den Widerschein des Zufälligen, das sie umgibt.« Man könnte nun versuchen, diesen Sachverhalt zu umschreiben, indem man sagt: »Sie öffnet sich dem Umraum, der zusammen mit dem Betrachter in ihr widerscheint.« Doch damit wäre gerade das Entscheidende verfehlt: Brancusis Skulptur macht eigens »die Problematik einer Raumkonzeption deutlich, von der her allererst von ›Umraum‹ gesprochen werden kann: die Vorstellung eines meßbaren Raumkontinuums, in dem Freiraum und Gegenstand unvermittelt aneinandergrenzen wie Leerstelle und Besetzung über dem Grundriß 67 S. dazu in der Vorlesung ›Einführung in die Metaphysik‹ (vom Sommer 1935) den Abschnitt ›Zur Grammatik des Wortes ›sein’ ‹, besonders S. 45–47. – S. 46: » ... das in sich hoch gerichtete Da-stehen, zum Stand kommen und im Stand bleiben, verste­ hen die Griechen als Sein.« Darin beruht das Seinsstiftende der Grenze (πέρας): »Grenze und Ende sind jenes, womit das Seiende zu sein beginnt.« Der Wandel seit 420 v. Chr. läßt sich dann so bezeichnen: »Das In-sich-da-Stehende aber wird, von der Betrachtung her gesehen, zum Sich-dar-Stellenden, das sich in dem, wie es aus­ sieht darbietet.« (Vgl. dazu: Bernhard Schweitzer, Platon und die bildende Kunst der Griechen, 1953, S. 58–88.).

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eines karierten Linienblatts. Brancusis Skulptur reagiert nicht nur auf ihren Umraum, sondern ist selbst räumlich aktiv, entfaltet ihre eigene Räumlichkeit. Sie betrachten heißt daher nicht, in der Fixierung auf den Umriß einer fraglichen Idealgestalt den schon immer vor­ gängigen Außenraum mit einem ersten Blick gegen den Eigenraum der Plastik durchzusetzen, sondern vielmehr, sich zurückzustellen, diesen Eigenraum gleichsam kommen zu lassen, sich auf die je eigene Räumlichkeit der Skulptur einzulassen.« Was bei den polierten Bronzewerken Brancusis von dem Verhält­ nis zwischen Spiegelung und Kontur gilt, das gilt bei einem Werk wie der ›Unendlichen Säule‹ von dem Verhältnis zwischen dem Kontur der einzelnen ihrer gleichförmigen Elemente und dem Rhythmus ihres Aufstiegs: ›Unendlich‹ heißt diese Säule ja nicht, weil das Ausgeführte, romantisch, als Fragment zu deuten wäre, dem die Vorstellungskraft eine endlose Fortsetzung gibt. Die Unendlichkeit beruht hier in der Ausstrahlung der in sich abgeschlossenen Elemen­ tenfolge, die durch die Form und Größe der einzelnen Segmentgebilde vorgegeben ist. Das oberste Segment beschließt einem rhythmischproportionalen Gesetz gemäß die Säule unabänderlich. Die Säule ist in ihren Grenzen ›unendlich‹. Das Mißverständnis des Konzeptualismus ist hier nicht weniger gravierend als das des Minimalismus. »Gerade als ›geschlossenes Volumen‹ ist Brancusis Skulptur raumschaffend; ihre Geistigkeit impliziert die Anerkennung von Material. Eine Klassifikation von Skulptur, die vom bloß Faktisch-Gegenständlichen aus vorgenommen wird, muß diesen Zusammenhang verfehlen.« »Die ganze Problema­ tik des Verständnisses von Brancusis Skulptur als platonischer Form wird von hier aus noch einmal deutlich. Als ›Mythos der idealen Form‹ verfehlt die platonische Interpretation nicht nur die Bedeutung des Asymmetrischen, der Abweichung, sondern vor allem die Präsenz der Skulptur. Sie insistiert auf der Dominanz der Form gegenüber dem Material, das sich als ein nur Störendes im Prozeß der Formgebung zum Verschwinden gebracht denkt. Sie unterschlägt das für Brancusis Skulptur wesentliche Moment der Erscheinung.« Das größte Hindernis für einen unbefangenen Gebrauch der Kunstwerkschrift im Hinblick auf das »Schaffen« und »Bewahren« von Kunst ist nicht der vermeintlich ›mythische‹ oder ›poetische‹ Sprachduktus Heideggers seit der ›Kehre‹, sondern sein Versuch, das ›Sein-und-Zeit‹-Wort »Wahrheit« zu bewahren. Der Unterschied zwischen dem gewohnten Wortfeld dieses Namens: der Theorie,

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der Forschung, der Begründung, und dem von Heidegger im Blick auf die altgriechische ἀλήθεια damit gemeinten Handlungs- oder Geschehenscharakter einer Zusammengehörigkeit von ›Entbergung‹ und ›Verbergung‹ ist aber so groß, daß gerade ein Denken, das, wie dies Heidegger verlangt, sich auf die jeweils angesprochne Sache einzulassen sucht, durch den Zwang zu ständig erneutem, hier nun ganz eindeutig gegen den Wortklang ankämpfen müssenden Rück­ erinnern und Rückübersetzen belastet wird. Der Sachverhalt der eigenen Dinghaftigkeit des Werkes, die Prägnanz der Skulptur, das Ereignis der Erscheinung, das Aufstellen von Welt, diese Werk-Tätig­ keit des Werkes ist von dem Mißverständnis der Ausdrucks- und Erlebnis-Ästhetik schwer frei zu halten, wenn mit dem Geistbegriff der »Wahrheit« das antipodische Mißverständnis der Informatik und Symbolik evoziert wird, also der Hegelsche Begriff des Scheinens der Wahrheit. (Auch Hegels ›Klassik‹ und ›Romantik‹ sind doch nur Abwandlungen seines logischen ›Symbol‹-Begriffs von Kunst.) Mut zu einer solchen ›Güterabwägung‹ macht Heidegger im Alter selbst. In einer Randnotiz seiner Reclamausgabe der Kunst­ werkschrift nennt er diesen »Versuch« »unzureichend infolge des ungemäßen Gebrauchs des Namens ›Wahrheit‹ für die noch zurück­ gehaltene Lichtung und das Gelichtete« (GA 5, S. 1). (»Lichtung« nun nicht mehr als Hellwerden, sondern als Freiwerden verstanden.) Er verweist in dieser Notiz auf einen aus dem Jahre 1964 stammenden Vortrag: ›Das Ende der Philosophie und der Anfang des Denkens.‹ Darin erklärt er: »Die Frage nach der ἀλήθεια, nach der Unverbor­ genheit als solcher, ist nicht die Frage nach der Wahrheit. Darum war es nicht sachgemäß und demzufolge irreführend, die ἀλήθεια im Sinne der Lichtung Wahrheit zu nennen. Die Rede von der ›Wahrheit des Seins‹ hat in Hegels ›Wissenschaft der Logik‹ ihren berechtigten Sinn, weil Wahrheit hier die Gewißheit des absoluten Wissens bedeutet. Aber Hegel fragt auch nicht, sowenig wie Husserl, sowenig wie alle Metaphysik nach dem Sein als Sein, d. h. die Frage, inwiefern es Anwesenheit als solche geben kann.« Und er merkt noch ausdrücklich an: »Wie der Versuch, eine Sache zu denken, zeitweise wegirren kann von dem, was ein entscheidender Einblick schon gezeigt hat, wird durch eine Stelle aus ›Sein und Zeit‹ (1927) S. 219 belegt: ›Die Über­ setzung (des Wortes ἀλήθεια) durch das Wort ›Wahrheit‹ und erst recht die theoretischen Begriffsbestimmungen dieses Ausdrucks (Wahrheit) verdecken den Sinn dessen, was die Griechen als vorphi­ losophisches Verständnis dem terminologischen Gebrauch von

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ἀλήθεια ›selbstverständlich’ zugrunde legten.‹ « (Zur Sache des Den­ kens, S. 77.) Ein Weg der Frage, inwiefern es Anwesenheit als solche geben kann, ist die nach dem »Ursprung des Kunstwerkes«. Dabei kommt der Abkehr von dem ›Bild‹-Gedanken der Ästhetik (dem platonischen Begriff der Mimesis) durch Heideggers Zuwendung zum Bau-Cha­ rakter als des architektonischen Grundzugs aller Künste (das Paradig­ matische des griechischen Tempels für Heidegger ähnlich wie des Homerischen Epos für Hölderlin) ein ebenso großes Gewicht zu wie der Korrektur des neuzeitlichen Produktivitäts-Maßstabs, der dem Theoriebegriff von Kunst als ›Schöpfung‹ seit der Renaissance zugrunde liegt, in Heideggers Besinnung auf die altgriechische Deu­ tung von Kunst als einer Sache der »Musen«, d. h. der Mnemosyne, mit seinem Gedanken des »Stiftens« von Beziehungen als des dichte­ rischen Grundzugs aller Künste. Bei Brancusi steht die Heraklitische ›Kombinatorik‹ der plasti­ schen Struktur in einer inneren Affinität zu der poetischen ›Esoterik‹ in der bildlichen Thematik seiner Werke, die hier nur – ergänzend zu dem Ensemble von Tirgu Jiu (und ähnlich wie bei früherer Gele­ genheit im Falle Chillidas68) – mit einigen Titeln vermerkt werden kann: ›Der Weltenanfang‹, ›Adam und Eva‹, ›Prometheus‹, ›Fliegende Schildkröte‹, ›Die Weisheit der Erde‹, ›Der Kuß‹ und auch (mit Bezug auf das Wappentier Frankreichs, in vielen Fassungen) ›Der Hahn‹. Der Bezug zum Bild in den Titeln und den Namen vieler großer Werke des Kubismus (Picassos, Braques und Juan Gris’), die am Anfang der modernen Kunst unseres Jahrhunderts stehen, besteht nicht darin, daß ein solches Bild den Gegenstand neu herstellt, indem es ihn mehr oder weniger ›kubisch‹, analysierend und synthetisie­ rend, zerlegend und simultan vorstellt (wie die verhängnisvolle Stil­ bezeichnung suggeriert), sondern in dem damit aufgerufenen Gesche­ hen, dem musikalischen, erotischen, bei Picasso auch dramatischen, also: der Welt, die in dem Bild zum Stand gelangt, zum Tanz gelangt, zur Spiel-Einheit des bildnerischen Rhythmus. Diese in sich schon poetisch-musikalische Bild-Wirklichkeit wird hier mit den verschlüs­ selten Anklängen an Figürliches im tektonischen Geflecht des Bildes oder den überdeutlichen (primär jedoch dem Kontrasteffekt zur Drei­ dimensionalität des Bildraums dienenden) Collagen von Gedrucktem noch zusätzlich bekräftigt. Unter den kubistischen Werken Braques 68

S. dazu den Chillida-Passus in dem Aufsatz ›Die Kunst und der Raum‹, S. 188-191.

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3 Gegenwart statt Gegenstand. Das Beispiel Giacometti

finden sich neben zahlreichen ›Themen‹ mit Musikinstrumenten oder Musizierenden ›Namen‹ im Bild wie ›Aria de Bach‹, ›Sonate‹, ›Duo‹, ›Mozart – Kubelik‹. Nicht das Faktum einer Violine, sondern das Spiel einer Violine, das ›Sein‹ dieses Instrumentes wird hier ›zum Bild‹, d. h. zu etwas analog zum Hören, beispielsweise einer Bachschen Fuge, rhythmisch-räumlich einheitlich zu Sehendem. Die wenigen Jahre des Kubismus als einer Entwicklungsperiode (der ›klassische Kubismus‹ Picassos und Braques: 1907–1914) waren kein ›Korsett‹, von dem man sich, wie nach der Meinung der Stilge­ schichten Picasso, so bald wie möglich wieder befreien mußte. In diesen Jahren entstand die Grammatik dessen, was von da an, auch bei Picasso, ›moderne Kunst‹ war: ›réalisation‹ statt Information. (Spuren davon unterscheiden im Bildbau auch die ›realistischsten‹ Zeichnungen Picassos nach dem Kubismus von den expressivsten Versuchen davor.)

3 Gegenwart statt Gegenstand. Das Beispiel Giacometti Wenn damit aber nur ›ursprünglich‹ Altes – wie zum Beispiel der Zusammenhang von Bau und Welt bei den älteren griechischen Tempeln – erneuert wird, was heißt dann ›modern‹? Es heißt dann auf jeden Fall nicht: Negation des Alten, Innovation. »Poussin nach der Natur« – das könnte ein Leitwort der Modernität dieser Moderne, der modernen Kunst in allen ihren ›ursprünglichen‹ Zeugnissen sein. Diese Möglichkeit wahrzunehmen, verlangte als erstes, den ästhetischen Maßstab der ›Stil‹-Merkmale aufzugeben und sich im Umgang mit den Zeugnissen, in der Verwandlung der ›Exponate‹ zu Werken, darin zu üben, die Gemälde und Skulpturen von Matisse seit 1905 nicht nur von dem Titel, sondern auch von der Gruppe der ›Fauves‹, die Arbeiten Mondrians von den übrigen Vertretern der ›De-Stijl‹-Bewegung zu unterscheiden oder in den Bildern Sophie Taeubers, den Schriften, Bildern und Skulpturen Hans Arps, den ›Merz‹-Bildern von Schwitters nicht nur Artikulationen, sondern auch die eigne große künstlerische Legitimation der ›Dada‹-Kritik an dem nationalistischen und rationalistischen Geist des ersten Welt­ kriegs zu erkennen. Das Moderne der modernen Kunst zu treffen, ist darum schwer, weil es das Einfache eines Vorgangs ist, der zwei Seiten hat. Die eine Seite, das ist der – nur dem Umgang mit der Kunst zugängliche –

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Gewinn an Dasein, der der Erneuerung der Dimension von Kunst jenseits der Ästhetik zugehört. Die andere Seite, das ist die – auch den Theorien und Diskursen zugängliche – Artikulation des Fehlens dieser Dimension in der modernen Wirklichkeit. Das eine wird nur erfahrbar im Horizont des anderen. Aber jede der beiden Seiten kann jeweils mehr oder weniger hervortreten. Das macht die irritierenden Differenzen zwischen exemplarischen Zeugnissen moderner Kunst aus, extrem z. B. zwischen Mondrian und Duchamp, weniger konträr zwischen Paul Klee und Max Beckmann, Matisse und Picasso. Die Verwechslung der modernen Kunst mit der modernen Wirk­ lichkeit äußert sich darin, daß wir, wir Theoretiker und Kritiker, Historiker und Philosophen, in Deutschland zumal, diejenige der beiden Seiten, die sich der Position des ›Zuschauers‹ allein darbietet, für das Ganze halten, – das Schreckliche, das Schmerzliche, das Dis­ sonante (das ›Nichtmehrschöne‹) allein als echt akzeptieren, gegen den ›Riß‹ des Gegenwärtigen dagegen mit den Einwänden des Forma­ lismus und Hedonismus abgesichert sind. Der späte Monet wird (in Deutschland) belächelt, Picasso ist der Meister der Zerstückelung und Giacometti Existentialist. Daß die Kunst in der modernen Kunst zu einem eignen, großen Thema wird, ist kein Zeichen des Verfalls: Kompensation des Welt­ verlustes, Selbstbespiegelung im Abschied, sondern eine Konsequenz jener Zweiseitigkeit. Mit dem, was Kunst aufstellt, muß sich jetzt die Erinnerung daran, wie sie aufstellt, verbinden. »Poussin nach der Natur«, das heißt doch: das zu Poussins Zeit noch ungefragt und ungesagt verständliche Gefüge eines Bildes muß nun – in der veränderten, ›naturgegeben‹ Mythos-fernen Situation – ausdrück­ lich aufgerufen, angesprochen werden. Die ›Atelier‹-Bilder Picassos und des späten Braque, bei Brancusi die Einrichtung und die Fotos des Ateliers selbst, die Orpheus-Sonette Rilkes, Joyce’s ›Porträt des Künstlers als junger Mann‹, aber auch ›Le sacre du printemps‹ und die Psalmensymphonie Strawinskys (hier beidemale alte Festfunktionen der Künste als Thema eines modernen musikalischen Kunstwerks; oder das Lebenswerk Karl Orffs sind ähnlich wie die geschichtlichen Besinnungen Hofmannsthals, des jungen Beckett, André Massons vor allem aber das hier schon zu Beginn genannte Studium von Werken der Tradition bei Matisse, Picasso oder Giacometti Beispiele dieser modernen Antwort auf die Krise in der Hervorhebung dessen, was vor ihr – vor dem 18. Jahrhundert, vor der Renaissance, vor dem alten

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Rom, dem Hellenismus und außerhalb ›Europas‹ – unausdrücklich, unbenannt (bis hin zum Fehlen eines eignen Namens) Kunst war. Den Anfang dieses Zugs ›moderner Kunst‹, nicht zufällig erst um 1905 (durch den Georgeschüler Norbert von Hellingrath) erkannt, stellen Hölderlins Studien der Homerischen Epen unter der Frage, wie wir »das Altertum anzusehen haben«, und seine Sophokles-Über­ setzungen dar. Die ›parataktische‹ Verfassung seiner Sprache bedeu­ tet den Versuch einer Erneuerung des Wirklichkeitscharakters der altgriechischen Sprache.69 Diese Standfestigkeit, dieses wesenhafte ›In-sich-Stehen‹, das hier der Sprache des Gedichtes vom MusikéCharakter der Sprache selber her zukommt, hat zu seinem Korrelat das Angewiesensein auf die eigne Aktivität des Hörens oder Lesens. Die Einheit des Gedichtes, der Strophe, des Verses liegt nicht vor, sie muß, lesend, hörend, je und je »geschaffen« werden. Beides, Standfestigkeit und Spiel, macht das Korrelatverhältnis zwischen »Schaffen« und »Bewahren« aus, von dem der dritte Teil der Kunstwerkschrift handelt. Am Unterschied des Kunstwerks zum Handwerk hebt Heidegger hier den Grundzug einer gleichsam potenzierten Anwesenheit hervor. Ist ein Gebrauchsding um so besser, je mehr das Angefertigtsein in der »Dienlichkeit« zurücktritt, so ist ein Kunst-»Ding« um so besser, je entschiedener das Geschaffensein am Werk hervortritt. »Das Hervorkommen des Geschaffenseins aus dem Werk meint nicht, am Werk soll merklich gemacht werden, daß es von einem großen Künstler gemacht sei ... Nicht das N. N. fecit soll bekanntgegeben, sondern das einfache ›factum est‹ soll im Werk ins Offene gehalten werden: dieses ... daß solches Werk ist und nicht vielmehr nicht ist« (65f.). Im Werk tritt – wie an der archaischen Grabskulptur eines jungen Mädchens oder jungen Mannes – hervor, was Dasein heißt. »Was ... ist gewöhnlicher als dieses, daß Seiendes ist? Im Werk dagegen ist dieses, daß es als solches ist, das Ungewöhnliche. Das Ereignis seines Geschaffenseins zittert im Werk nicht einfach nach, sondern das Ereignishafte, daß das Werk als dieses Werk ist, wirft das Werk vor sich her und hat es ständig um sich geworfen. Je wesentlicher das Werk sich öffnet, um so leuchtender wird die Einzigkeit dessen, S. dazu Thrasybulos Georgiades, Der griechische Rhythmus. Musik, Reigen, Vers und Sprache, 1977 (erstmals 1949), bes. S. 72 – 75: zum ›Prinzip der erfüllten Zeit‹ in der griechischen ›Quantitätsrhythmik‹, und S. 131 – 140: über die »sozusagen rund­ plastische Wirklichkeit des altgriechischen Wortes« (131). Bei der griechischen Wort­ stellung entsteht »die Einheit des Sinnzusammenhangs« »erst in uns, durch unsere geistige Aktivität« (137). 69

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daß es ist und nicht vielmehr nicht ist. Je wesentlicher dieser Stoß ins Offene kommt, um so befremdlicher und einsamer wird das Werk. Im Hervorbringen des Werkes liegt dieses Darbringen des ›daß es sei‹ « (66). Worin beruht das Eigentümliche der großen stehenden Frauenund schreitenden Männer-Plastiken Giacomettis? Vor dem Irrtum, hier unnatürlich-›moderne‹ Stilmerkmale finden zu wollen, schützt die Kenntnis des fast ständig geäußerten Grundsatzes Giacomettis, auf nichts anderes aus zu sein, als zu kopieren. Diesem Grundsatz folgte er, von den zehn Jahren der Annäherung an den Surrealismus 1925–1935 abgesehen, sein Leben lang in einer bis zum Ende (er starb im Januar 1966) nur noch wachsenden Entschiedenheit. Die meisten seiner Arbeiten – Zeichnungen, Gemälde, Porträt- und Figu­ ren-Plastiken – sind, oft in tagelangen, wochen- und monatelangen Sitzungen ›vor dem Motiv‹, ›nach der Natur‹ entstanden. Dieser Grundzug der ›Ähnlichkeit‹ gilt auch von den überlebensgroßen, auf den ersten Blick abstrus dünn und lang, in den Konturen aufgelöst, zerstört erscheinenden Figuren der Stehenden und Schreitenden, die Giacometti nach dem letzten Krieg berühmt gemacht haben. (Hier die ›Femme debout‹ oder ›Grande figure‹ von 1948, 183 cm hoch; Abb. 13.) In einem zweiten, einem angemessneren Blick sieht man aber, daß mit einem solchen Werk in der Tat auf Ähnlichkeit, auf Kopie hin abgezielt ist. Es ist dies ein Blick, der darauf verzichtet, Einschnitte zu fixieren und zu kombinieren, dem Umriß der Figur Stück für Stück, von oben nach unten, von unten nach oben nachzugehen. Er läßt sich vielmehr von ihr anblicken und wird damit der – der wirklichen, der natürlichen Erscheinung dieser Frau entsprechenden – Leichtigkeit ihres Standes, Geistigkeit ihrer Haltung inne. Dazu gehört, den Blick gleichsam stereoskopisch, mit beiden Augen also, so durch die Figur hindurchgehen zu lassen (mit dem Schwerpunkt der aber kein Fixpunkt sein darf – im oberen Drittel), daß das fast schwerelos Ragende dieses Gesammelt-Aufrechtstehens durch das schattenhaft mit spürbare Gewicht von Sockel und Füßen zu einem ebenso ungreifbaren wie unabweisbaren Angeblicktwerden wird. Die hier von der »Inständigkeit« des Sehens verlangte Einheit des Blicks entspricht dem Blick, nach dem zu kopieren das Ziel der Arbeit einer solchen Plastik war. Was wir sehen, wenn wir ›in Wirklichkeit‹ einen Menschen sehen, gar noch wie in fast allen Fällen von Giacomettis ›Figuren‹ oder ›Köpfen‹, den Freund, den Bruder, die

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Mutter, die Geliebte, das ist doch nicht die Anatomie und auch nicht der Organismus. Gleichwohl ist es wirkliches Sehen, kein Vorstellen. Die Arbeit seines Lebens resümierend, schreibt Giacometti nach der Rückfahrt mit dem Schiff von einem Besuch in New York im Herbst 1965: diese Arbeit, die unaufhörliche Bemühung, zu kopieren, war das Mittel, »um mir überhaupt klar zu werden, was ich sehe«. Die fotografisch-optische Genauigkeit trifft gerade das nicht, was wir sehen. Es waren Krisen, allerschwerste Krisen und alles andere als Avantgarde-Ambitionen, die Giacometti – in der Zeichnung seit 1936, in der Plastik erst seit 1946 – einen Weg aus der Notlage heraus haben finden lassen, die Sartre 1948 in die Frage gefaßt hat: »Wie läßt sich aus Steinen ein Mensch bilden, ohne ihn zu versteinern?« Ähnlichkeit, Kopie – das heißt: das Werk muß zeigen, was wirklich erscheint. Aus einem Gespräch von 1941, also noch den Jahren verzweifelter, mißlingender Versuche in der Plastik, notiert Simone de Beauvoir: »Ein Gesicht, sagte er zu uns, sei ein unteilbares Ganzes, ein Sinn, ein Ausdruck; aber die leblose Materie, Marmor, Bronze oder Gips, sei unendlich teilbar. Jedes Teilchen stehe für sich, widerspreche dem Ganzen, zerstöre es. Er versuche, der Plastik die Materie bis an die Grenzen des Möglichen zu nehmen.« Und 1947, nach dem Neubeginn der plastischen Arbeit, erklärt er, warum seine Figuren so lang und schmal geworden sind: »Ein Mensch, der auf der Straße vorbeigeht, hat kein Gewicht, er ist jedenfalls viel leichter als derselbe Mensch, wenn er tot oder ohnmächtig ist. Er hält sich mit seinen Beinen im Gleichgewicht. Man fühlt sein Gewicht nicht. Das habe ich – ohne daran zu denken – wiedergeben wollen, diese Leichtigkeit, und zwar, indem ich die Körper so schmal machte.« »Mit der Zeit habe ich begriffen, was es mit der Bildhauerei auf sich hat. Ich habe neue Dinge begriffen und ich habe alte Dinge auf neue Art angeschaut – wie soll ich es ausdrücken? Haben Sie bemerkt, daß ein Werk, je wahrer es ist, um so mehr ›Stil‹ hat? Das ist zwar seltsam, denn Stil entspricht ja nicht der Wirklichkeit der Erscheinung, und doch: Die Köpfe, die am ehesten dem Kopf von irgend jemandem, den ich auf der Straße sehe, gleichen, sind jene, die am wenigsten naturalistisch sind: die Skulpturen der Ägypter, Chinesen, der archaischen Griechen und Sumerer.«70

70 Die Zitate in dem vorhergehenden und diesem Absatz: Giacometti 1965: Gia­ cometti, Begegnung mit der Vergangenheit (hier Anm. 55 S. 118), S. 10. Sartre 1948:

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Ungesagt bleibt hier, daß wir die ›Stile‹ jener alten Zeiten nicht erneuern können, weil für unser Sehvermögen ihre Sprache stumm geworden ist. Das schwerste Hindernis ist hier das nach der griechischen Archaik, zur Zeit der »klassischen« griechischen Philo­ sophie aufgekommene Wirklichkeits- und Kunstverständnis nach dem Schema des geformten Stoffes, und das heißt: nach dem Muster des Handwerks. In dem Kunstwerkaufsatz macht der Versuch, über diesen geschichtlichen Sachverhalt aufzuklären, den Hauptzweck des ersten Teils aus. Die plastische Arbeit Giacomettis seit dem Neubeginn 1946 ist nicht ein Ausdruck des Existentialismus, sondern eine Befreiung von dem Stoff-Form-Schema, das das ›Existenz‹-Verständnis Europas seit der griechischen Philosophie leitet. (Diesen künstlerischen Grundzug des späteren Giacometti erstmals dargelegt zu haben, scheint mir die außerordentliche Bedeutung des – in den Anmerkungen genannten – Beitrags von Gottfried Boehm auszumachen.) Was man in der Plastik Giacomettis (mit Boehm) Entmaterialisierung und (ergänzend dazu) Entformalisierung nennen kann, läßt sich – in der Terminologie Heideggers – umschreiben als eine Überwindung der ›Seinsverges­ senheit‹. Sie besteht hier darin, daß Giacomettis Werk (seit 1936 in der Malerei, seit 1946 in der Plastik) den Angelpunkt des nichtästhe­ tischen, Welt »stiftenden« Grundzugs der Kunst in der besonderen Situation unseres Zeitalters ausdrücklich macht. Ein Werk Giacomet­ tis ist nur im Sehen. Das »nur« muß hier hervorgehoben werden, um die Sonderstellung Giacomettis innerhalb der modernen Kunst zu bezeichnen. (Damit ist keine hierarchische Gipfelstellung gemeint, so wie auch Giacometti selber einige seiner künstlerischen Zeitgenos­ sen aufs höchste bewundert hat, uneingeschränkt und unablässig: Matisse, den er noch in dessen letzten Lebenswochen, 1954, mehr­ mals porträtiert hat, und Braque, den er auf dem Totenbett, 1963, gezeichnet hat.71) Die großen stehenden und schreitenden Figuren Giacomettis ebenso wie die Porträtköpfe werden nur ›sichtbar‹ in dem ihnen angemessnen Akt des Sehens, einem ›Akt‹, der selber freilich eher Passion als Aktion ist, den Blick des Porträts, den Blick der Figur empfangend, kein Beäugen. Reinhold Hohl, Alberto Giacometti, 1971, S. 277. Simone de Beauvoir 1941: Hohl, S. 274. Giacometti 1947: Hohl, S. 277. 71 Bildnisse Matisse: s. den Katalog Alberto Giacometti, Berlin/Stuttgart, München: Prestel 1988, S. 37f. und die Abbildungen 164 und 165. Zeichnung Braque: hier die Anm. 78 S. 146.

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Für dieses ›Geschehen‹ sind zwei Korrelate gleichermaßen bezeichnend. Das eine: Die Nähe des Erscheinens (die Erfahrung der Unteilbarkeit) hat zu ihrer Bedingung eine unaufhebbare Entfernung. (Daß die Klobigkeit der Fußpartie nicht als klobig empfunden wird, ist dafür ein Maß.) Sartre hat dafür das Wort von der »absoluten Distanz« geprägt. Die Figuren und Porträts sind nur, indem sie unberührbar bleiben. Das meint Genets Rede von der »Heiligkeit« dieser Frauen. Das andere: Die Figur, auch die einer »Stehenden«, ist nur in dem Zeitereignis des Zum-Erscheinen-Kommens. Und dabei handelt es sich um das Kommen eines Entschwindens, das Aufgehen eines Vergehens. Georges Braque hat diesen Sachverhalt einer Anwesenheit, die weder als Objekt zu denken, noch auch im Subjekt zu suchen ist, umschrieben, wenn er von den Werken Cézannes sagt, sie seien nicht »Zuschauer«, »sie stehen nicht außerhalb der Dinge. Cézanne ist in die Handlung verstrickt.«72 Diese Alternative zu dem neuzeitlichen Bedingungsschema der Subjekt-Objektivität ist das Gegenteil von Vermischung, ein Äußerstes an Unterscheidung, nur eben diejenige Unterscheidung, die Menschen Menschen und Dinge Dinge sein läßt. Diese – mit Heidegger zu sprechen – »Seinserfahrung« ermöglicht eine Ranggleichheit der Plastik mit der Malerei. Daß Giacometti in beiden Arbeitsweisen, wie die Werkübersichten aus allen seinen Arbeitsphasen und Arbeitsfeldern seit der Jugend zeigen, gleicherma­ ßen ›genial‹ begabt war, erklärt noch nicht die innere Gleichgewich­ tigkeit zwischen Malerei und Plastik, wie sie sich im späteren Werk herausgebildet hat. Die Bleistiftzeichnung Diegos (im Kunstmuseum Bern, Abb. 14) aus dem gleichen Jahr 1948 wie die große Stehende (im Kunsthaus Zürich) kann das hier erläutern. (Der Bruder Diego war fast lebens­ lang Albertos Nachbar im Pariser Atelier und ständiges ›Modell‹.) Die Zeichnung zeigt, was Giacomettis Rede meint: das eigentlich zu Kopierende des Modells sei sein Blick. Und der sei nur zu kopieren, wenn man nichts, auch nicht die Augen und gerade sie nicht fixiere – wie man es im Sehen, im sehenden Gespräch zum Beispiel, auch nicht tut. Was dieses ›nicht‹ positiv besagt, zeigt die Zeichnung. Es ist nicht nur das Ganze der Figur, wodurch der Kopf uns ›leibhaft‹ 72 Georges Braque, Vom Geheimnis in der Kunst. Gesammelte Schriften (Zürich: Die Arche 1958), S. 57. – S. dazu hier den Aufsatz: ›Realisation (Zum Kubismus von Georges Braque)‹, S. 157-176.

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anblickt, es ist vielmehr auch das Ganze, die unteilbare Einheit des Bildraums. Die wenigen, meist senkrechten und waagerechten, die Achsen des Bildes betonenden Striche lassen die Massivität der Figur aus der Leere des Raumes hervorkommen. Sie sind mitsamt dem gestrichelten Rahmen genauso unentbehrlich wie die Plastizität des Kopfes, das Raumausgreifende des Körpers. Die Bleistiftstriche (in den Gemälden die des Pinsels) bezeichnen nicht Umrisse von ›Formen‹, sondern evozieren – in dem durchlaufenden Gewebe – die Einheit von Hintergrund und Vordergrund, ›Körper‹ und ›Umgebung‹ als den einen Vorgang des Erscheinens, die Gegenwart des Bruders. Die Figur ist nicht ›im‹ Bild; Bildraum und Blick sind vielmehr dasselbe. Und dieses Eine gewinnt nur Existenz in unserm Sehen. »Ein Gemälde existiert ja nur durch den Blick des Betrachters«, sagt Giacometti in einer Kritik an der ›Kunst‹-Kritik Duchamps 1941.73 Damit ist – mit allen zeitbedingten, zeitbezogenen Unterschieden – Giacomettis Nähe zum Werk Cézannes und seinem Begriff der réalisation genannt.74 Ein Gemälde, ein Aquarell Cézannes, eine Plastik, eine Zeich­ nung Giacomettis haben ihre ›Realität‹ allein im Augenblick der jeweiligen Realisation des vom Künstler Realisierten durch den Betrachter. Das »Geschaffene« ist ohne den »Bewahrenden« nur eine Partitur. (Und mancher glaubt, ein Bild Cézannes zu analysieren, indem er die Optik – den ›Stil‹ – der Partitur beschreibt.) Das Werk ist die Jeweiligkeit der Aufführung, – sofern mit diesem Wort nicht nur das Spiel des Orchesters (oder das Spiel auf der Bühne) allein gemeint ist, sondern die Geschehenseinheit, die sich ›zwischen‹ Orchester und Publikum abspielt. Diesen musikalischen Vergleich könnte man auf das ›Sprachkunstwerk‹ ausdehnen. Ist nicht auch ein Gedicht allein im ›Lesen‹, also im (lauten oder leisen) Erklingen, während alles Reden von ›Texten‹ nicht bedenkt, daß damit allenfalls die Anweisung zum Spiel der Sprache, aber niemals dieses selbst berührt ist? Im Europäischen gibt es für dieses einfache Spiel-Verhältnis, die ›Ereignis‹-Struktur des ›Seins‹ kein Wort. In Indien ist dieses uns nur als Bezugsverhältnis zu umschreibende einfache Spiel des Hörens und des Sehens mit dem Grundwort für die Erfahrung des Theaters, dem

73 74

Hohl (hier Anm. 70 S. 141), S. 171. S. dazu Boehm (hier in der Einleitungs-Anm. 53 S. 115) S. 55 – 61.

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(bislang meist mit ›Geschmack« auch mit ›sentiment‹ übersetzten) Sanskrit-Wort ›rasa‹ gemeint.75 Dieser einen Wirklichkeit des Werkes, diesem einen Geschehen dient das »Schaffen« ebenso wie das »Bewahren«. Dabei umschließt der Name »Schaffen« die Vielfalt von der Anonymität des Tempelbaus bis zur Individualität einer Tragödienaufführung durch den ›Regis­ seur und Theologen‹ Aischylos, eines Liedes der Tanz-, Musik- und Sprach-Lehrerin Sappho, einer Schale des Töpfers und Malers Exe­ kias. Die Auszeichnung dieser, der »schaffenden« Beteiligung am Vorgang des Werkes war, wie die Griechen in ihrem Mythos von den Musen zeigten, nicht so sehr die Kraft des Verfertigens als vielmehr die Fähigkeit des »Empfangens« und »Entnehmens«, an die Heidegger mit seiner Betonung des Bringens im »Hervorbringen« zu erinnern sucht (62, 66). Dieser Passions-Charakter des »Schaffens« äußert sich in der Biographie Giacomettis in den Einbrüchen des unabweisbar Unerwarteten. »Nichts war so, wie ich es mir vorgestellt hatte«, schreibt er beispielsweise in einem Brief 1948 zur Vorbereitung einer Ausstellung an Pierre Matisse (das ist der Sohn des Malers, der eine Galerie in New York hatte) im Gedanken an die Krise seiner Arbeit in dem Jahrzehnt zwischen 1935 und 1945. Und entsprechend dann zur Wendung mit den ersten großen Skulpturen seit 1946: Die Ähnlichkeit fand sich »zu meiner Überraschung«, wenn die Figuren »lang und dünn waren«.76 Dieser Zug des »Empfangens« und »Ent­ nehmens« im Schaffen äußert sich – parallel zu der surrealistischen Phase in Giacomettis Arbeit – in dem Verfahren des ›Automatismus‹ bei André Masson, in der dem Ethos des Zen-Buddhismus folgenden Malerei Bissiers und Marc Tobeys, aber auch in demjenigen Sinn malerischer ›Aktion‹, der die Größe der geglückten (der erhaltenen) Werke Jackson Pollocks ausmacht: Gelingen und Mißlingen hingen davon ab, erklärt er, ob »ich in meinem Bild bin«. Das Bild habe »sein eignes Leben«. »Das versuche ich hervorkommen zu lassen. Nur wenn ich den Kontakt mit dem Bild verliere, wird das Ergebnis 75 Ich verweise dazu auf eine Magisterarbeit an der Fakultät für Kulturwissenschaften der Universität Tübingen: Angelika Heckel, Untersuchungen zur Rasa-Lehre im Nâtyasâstra, 1986. Ein Aufsatz: ›Rasa – the stage and audienc‹, erschienen im Journal of arts and ideas, Delhi, Nr.s 17–18, June 1989, S. 33–42. 76 Der Brief an Pierre Matisse ist im Faksimile des Originals und in Übersetzung zuletzt wiedergegeben in dem in Anm. 71 S. 142 genannten Katalog S. 336–344, die beiden Zitate S. 344.

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verworren. Sonst besteht reine Harmonie, ein müheloses Geben und Nehmen, und das Bild gelingt.«77 Von Giacomettis Werk seit der Wendung in den Jahren zwischen 1935 und 1945 könnte das Gedenkwort gelten, das Heidegger am 16. September 1963 nach dem Tod Georges Braques für René Char geschrieben hat und das in der Gedenkschrift der Galerie Maeght wenige Seiten nach der Zeichnung des Toten durch Giacometti im Faksimile wiedergegeben ist.78 Heidegger spricht zu Beginn von der »Vollendung« des Werkes »in das Geringe Einfache« und fährt fort: »Sie geschieht durch die Verwandlung des Mannigfaltigen in die Ein­ falt des Selben, darin das Wahre erscheint. – Die Verwandlung des Mannigfaltigen in die Einfalt ist jenes Abwesenlassen, wodurch das Einfältige anwest. – Abwesen entbirgt Anwesen – Tod erbringt Nähe.« In dem Gang von Heideggers Denken bezeichnet der Kunstwerk­ aufsatz zusammen mit der gleichzeitigen Vorlesung ›Einführung in die Metaphysik‹ die Wendung in seinem Verhältnis zur Geschichte. Erst von da an gibt es bei ihm eine ausdrückliche, epochal verstandene Zeitkritik, eine Distanzierung gegenüber den Maßstäben des eigenen Zeitalters aus der Einsicht in ihren geschichtlichen Horizont. Dieser hat zwei wesentliche Angel- oder Schwellenpunkte: in dem Einschnitt um 420 v. Chr. in Griechenland und zu Anfang des 18. Jahrhunderts, philosophisch in Erscheinung tretend bei Plato und bei Leibniz. Bei Plato und dessen Nachbarschaft zur Sophistik: das Aufkommen des Maßstabs der Herstellung, bei Leibniz und dessen Nachbarschaft zu Newton: die Erfüllung dieses Maßstabs im Programm der Automatik, vorbereitet in dem Sicherungsprinzip Descartes’, ausgeführt in der Verbindung von Ökonomie und Industrie seit dem späteren 18. Jahrhundert.79 In der Korrektur des Theorieüberhangs, der der Orientierung am ›Vorhandenen‹ zukommt, durch die Orientierung am ›Zuhandenen‹ Das Pollock-Zitat nach: Jürgen Claus, Theorien zeitgenössischer Malerei, 1963 (rde) S. 63. 78 ›Hommage à Georges Braque‹, in: Derrière le Miroir Nr. 144 – 146, Mai 1964, S. 7 (Giacometti), S. 15 (Heidegger). Der Text Heideggers jetzt in: Denkerfahrungen 1983, S. 115. 79 S. dazu vom Verf.: ›Die ›Kehre’ in Heideggers Verständnis der Geschichte‹, in: Thomas Buchheim (Hg.), Destruktion und Übersetzung. Zu den Aufgaben von Philo­ sophiegeschichte nach Martin Heidegger, Acta Humaniora: Weinheim 1989, S. 101– 125 (Hier in Band 2, S. 387-417). 77

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in ›Sein und Zeit‹ war das cartesianisch-neuzeitliche Konzept von Wirklichkeit als Gegenständlichkeit noch nicht in seiner epochalen Dignität erkannt. Das Seiende (das Ding): ein Zeug, diese Ansatz­ wendung blieb – wie Heideggers damalige Zustimmung zu Leibniz bezeugt – in ihrem Verhältnis zu dem römisch-neuzeitlichen Gedan­ ken der Verfügbarkeit von Welt, der ›Dienlichkeit‹ der Dinge für den sich selbst als Grund, als ›Subjekt‹ Setzenden, den Menschen, noch unentschieden. Der Kunstwerkaufsatz hat nicht darin sein Motiv, daß das Kunstwerk als das in sich ruhend auf »Inständigkeit« Verwiesene lediglich vom Gebrauchsding abgehoben wird, sondern darin, daß er das, was ist, schlechthin am Maß des »Werkes« mißt und somit alle »Dinge« vom Gesetz der Brauchbarkeit befreit. Daß mit diesem ›seinsgeschichtlich‹-zeitkritischen Motiv der Kunstwerkschrift keine Vermischung von ›Kunst‹ und ›Leben‹ inten­ diert ist, liegt an der wesenhaften Partikularität der Künste: zuweilen, zuzeiten ›das Leben‹ zu ›feiern‹ – wie mit den Spielen in Olympia und Epidauros, mit den Stelen und Gesängen am Grab (auch die Ilias war, wie ihr Schluß bezeugt, ein Grabgesang). Eine ›Kunstreligion‹ gab es allenfalls – und hier nun in der Tat als Kompensation – zu Hegels und nach Hegels Zeit. Die Besinnung auf solche ›Bräuche‹ wie den Bau des Tempels oder die Aufführung der Tragödie (›Einführung in die Metaphysik‹) markiert in Heideggers Fall – ähnlich wie 1907 die Begegnung mit Cézanne in Rilkes Fall, die Einsicht in Cézanne während der Krise um 1935 bei Giacometti80 – die ›Wendung‹ (Rilke) oder ›Kehre‹ (Heidegger) in der Anerkennung dessen, was bei Heidegger so mißverständlich Erde heißt. Die Erläuterung des damit gemeinten Sachverhalts, für den in ›Sein und Zeit‹ noch kein Platz war, ist aber unmißverständlich. »Das Werk läßt die Erde eine Erde sein.« Damit ist der Unterschied zur Herstellung von ›Zeug‹ bezeichnet. »Das Zeug nimmt, weil durch die Dienlichkeit und Brauchbarkeit bestimmt, das, woraus es besteht, den Stoff, in seinen Dienst. Der Stein wird in der Anfertigung des Zeuges, z. B. der Axt, gebraucht und verbraucht. Er verschwindet in der Dienlichkeit. Der Stoff ist um so besser und geeigneter, je widerstandsloser er im Zeugsein des Zeuges untergeht. Das Tempel-Werk dagegen läßt ... den Stoff nicht verschwinden, sondern allererst hervorkommen« (42). Diesen S. dazu das Öl-Porträt der Mutter von 1937 (Katalog Berlin/Stuttgart Abb.61) im Vergleich mit Akt- und Bildniszeichnungen von 1922–24 (Katalog Abb. 4–9).

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›Der Ursprung des Kunstwerkes‹ und die moderne Kunst

Unterschied des »Her-stellens der Erde« im Werk der Kunst zum Herstellen von »Zeug« kennzeichnet Heidegger als ein sich in die Erde »Zurückstellen« (43). Die Erde eine Erde sein lassen, besagt demnach: die Undurchdringlichkeit, die Unerschließbarkeit, die mit zur Welt gehört, nicht anzutasten. Zerschlagen wir den Stein in seine Bestandteile, dann ist es nicht mehr der Marmor, der leuchtet oder lastet, die Bronze, die aufragt und uns anblickt. »Die Erde versagt sich jedem Eindringen in sie.« Zerle­ gen wir die Farbe »in Schwingungszahlen«, »ist sie fort«. »Sie zeigt sich nur, wenn sie unentborgen und unerklärt bleibt. Die Erde läßt so jedes Eindringen in sie an ihr selbst zerschellen. Sie läßt jede nur rechnerische Zudringlichkeit in eine Zerstörung umschlagen. Mag diese den Schein einer Herrschaft und des Fortschritts vor sich her­ tragen in der Gestalt der technisch-wissenschaftlichen Vergegen­ ständlichung der Natur, diese Herrschaft bleibt doch eine Ohnmacht des Wollens. Offengelichtet als sie selbst erscheint die Erde nur, wo sie als die wesenhaft Unerschließbare gewahrt und bewahrt wird, die vor jeder Erschließung zurückweicht und d. h. ständig sich verschlos­ sen hält.« »Die Erde her-stellen heißt: sie ins Offene bringen als das sich Verschließende« (43 f.). Dem hier zuerst genannten Grundzug des Kunstwerks: Auf-stel­ len von Welt und nicht Vorstellung von Gegenständen, korrespondiert der andere: Her-stellen der Erde und nicht (mit einem Ausdruck von Leibniz) Zustellung von Energie oder Information. Sowenig nun wie ein Apfel vermenschlicht wird, wenn er in einem Bild Giacomettis selbst Blick gewinnt, uns anspricht wie ein Porträt, so wenig werden die Dinge ästhetisiert, wenn sie, auch als Gebrauchsdinge, nicht mehr im Verbrauch aufgehen: die Bauern­ schuhe van Goghs, der Krug in dem Vortrag ›Das Ding‹ ähnlich wie der Schild des Achill im 18. Buch der Ilias oder die sechs Kaki-Früchte Mu-Chi’is, der römische Brunnen in dem Gedicht C. F. Meyers nicht anders als beispielsweise der Neubau der Staatsbibliothek in Berlin durch Hans Scharoun 1978. In dem Athener Vortrag ›Die Herkunft der Kunst und die Bestim­ mung des Denkens‹ wird die Erinnerung an das, was Kunst im alten Griechenland war, »der Eingeschlossenheit des Menschen in seiner wissenschaftlich-technischen Welt« (Denkerfahrungen 146) konfron­ tiert. Der ›modernen Kunst‹ traut Heidegger hier freilich nur das Vermögen einer »Rückkoppelung von Informationen im Regelkreis der Industriegesellschaft und der wissenschaftlich-technischen Welt«

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3 Gegenwart statt Gegenstand. Das Beispiel Giacometti

zu (145f.). Am Schluß des Vortrags, bei der als Frage formulierten Besinnung auf das zu Beginn Gesagte, stellt sich dem Leser jedoch die Frage, warum das Denken in seiner gegenwärtigen »Bestimmung« ohne Nachbarschaft mit dem »Schaffen« der Kunst bleiben sollte. »Muß das Werk nicht als Werk in das dem Menschen nicht Verfüg­ bare, in das Sich-verbergende zeigen, damit das Werk nicht nur sagt, was man schon weiß, kennt und treibt? Muß das Werk der Kunst nicht das beschweigen, was sich verbirgt, was als das Sichverbergende die Scheu wachruft im Menschen vor dem, was sich weder planen noch steuern, weder berechnen noch machen läßt?« (148).

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Leibhaftigkeit. Zum Werk von Antoni Tàpies81

Wenn man beim Gang durch eine chronologisch geordnete Galerie, wie etwa der Basler, gegen Ende vor ein Bild von Tàpies gelangt, so scheint da ein äußerster Grad von Negation erreicht zu sein (Abb. 17– 19). Das wird heute, wo ein ›neuer Realismus‹ bei unserer nächsten Umwelt ansetzt, um sie festzunageln oder aufzuheben, und ein neuer Ästhetizismus ungeahnte optische Wirkungen zustande bringt, auch von der Folge her bestätigt. Was sich in der Generation nach Tàpies als relevant erweist, greift bestehende Fakten an oder bringt ästhetische Fakten hervor. Ein Bild von Tàpies ist kein Faktum. Würde man es als ein Faktum ansehen, um so die Befremdlichkeit aus der Welt zu schaffen, die es jeder Kunsterwartung bietet, so würde man seine Daseinskraft gerade verfehlen. Um ein Verhältnis zu den Bildern von Tàpies zu finden, muß man zuerst ihre Negativität annehmen. Bei jeder Art von ›Informel‹ und selbst bei einem ›monochro­ men‹ Bild, wie etwa dem von Barnett Newman, das sich in Basel dem Tàpies gegenüber befindet, kann man präzis erklären, was es zu dem Anspruch legitimiert, ein Kunstwerk zu sein, was es unter Maßstäbe stellt, nach denen, früher oder später, klar wird, ob es gut oder schlecht ist. Gehört ein Bild von Tàpies aber überhaupt noch in den Bereich von Kunst? Hat es nicht lediglich die Elemente noch mit anderen Werken der Kunst gemeinsam: vierseitig begrenzte Flächen, bedeckt mit Linien und Farben, zuweilen mit ›Zeichen‹ und ›Gegenständen‹, zuweilen mit Materialien, die dem Bild Reliefcharakter geben? Mit Werken von Pollock oder Wols, Kline oder Rothko verglichen, ist hier nichts von jener choreographischen Ordnung einer dynamischen Bewegungsfülle zu finden, jenem durchsichtigen Schwebezustand, zu dem sich ein anfängliches Farb- und Liniengewirr für das einfüh­ lende Sehen verwandelt, jener Einheit einer großen Gebärde in der Spannung zwischen leidendem Grund und wirkendem Zug oder jenen atmenden Räumen aus Licht, in die man eintaucht. Die Werke von Erstveröffentlichung: Ausstellungskatalog Antoni Tapies. Das gesamte graphische Werk. Kunstverein St. Gallen, 1967, S. 3–5. 81

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Leibhaftigkeit. Zum Werk von Antoni Tàpies

Tàpies erschließen sich nicht als bildnerischer Daseinsvollzug, sei es der Selbstzerstörung oder der Selbstbehauptung, der Ekstase oder der Kontemplation. Wenn man eine Definition versuchen wollte, so müßte man sagen: das durchgängige Merkmal der Bilder von Tàpies besteht darin, daß alles unterlassen und alles getilgt ist, was an die bewußte oder unbewußte Tätigkeit des Malers, was an die Affinität des Bildes für einen Betrachter denken lassen könnte. Nicht nur ›Inhalt‹ und ›Form‹, jede Art von Ausdruck schlechthin fehlt diesen Bildern. Kann man sie dann aber überhaupt noch als Bilder ansprechen? Könnte man statt ihrer nicht ebensogut Fotografien verwitterter Mau­ ern, zerschlissene Vorhänge oder weggeworfene Schränke aufstellen? Hier gibt es nichts einzusehen und nichts nachzuvollziehen. Auch keine ›Material ‹-Ästhetik und erst recht keine Verfremdung oder Fetischisierung der ›Dinge‹ findet statt. Denn auch jene morschen Tore, brüchigen Wände oder rissigen Böden, die immerhin verbieten, Tàpies ›abstrakt‹ zu nennen, sind doch so unscheinbar, daß sie sich bereits der bloßen Frage nach malerischen Werten oder gar sozialkriti­ schen Verblüffungseffekten entziehen. Wenn diese zerfallenden Tore etwas ›sagen‹, dann dies, daß sie, wie alle Bilder von Tàpies, nicht darauf warten, geöffnet zu werden, sondern gegen jede Erwartung einer ›Aussage‹ verschlossen bleiben. Diese Bilder scheinen nur da zu sein, um sich als Bild, als Kunstwerk zu verweigern. Wie sind sie aber überhaupt da? Was unterscheidet sie von einer alten Mauer oder Stücken von Abfallpapier? Es gibt kein Bild von Tàpies, das trotz seiner Verweigerung von Form und Inhalt, von Ausdruck und Bewegung nicht dennoch ein paar oft halb verwischte oder zerkratzte, aber das Bild mit prägende geometrische Markie­ rungen enthielte: Kreuze und Kreise, Kreissegmente und Parallelen, Reihen von Punkten, Winkel, Quadrate und Rhomben, symmetrische Wiederholungen, senkrechte oder waagrechte Linien auf einer der Mittelachsen des Bildes – Zeichen von künstlicher, nicht natürlicher, regelhafter und nicht zufälliger Herkunft. Eine bestimmte Bedeutung solcher ›Zeichen‹ ist nirgends zu erkennen; ob diese Markierungen überhaupt Zeichen für etwas sind, bleibt unentscheidbar. Sicher ist nur, daß hier die Sphäre von Ordnung und Regel, die Sphäre von Sinn erscheint. Und wenn man sich fragt, warum man überhaupt an einem Bild von Tàpies nicht vorbei kann, dann wird man sich bewußt, daß diese meist unscheinbaren Anklänge an Ordnung, an Beziehung das Gefühl für Sinn angesprochen und

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Leibhaftigkeit. Zum Werk von Antoni Tàpies

damit erst das Auge für die Wahrnehmung des Ungeregelten, für die pure Gegenwart von Farbe und Materie wach gemacht haben. Dieses Gefühl von Sinn wird nicht negiert, wenngleich das Suchen nach einer Erklärung dieser Spuren von Ordnung und Regel abgewiesen wird. Negiert wird nur der Anspruch auf Erklärung, nicht der Bezug auf Sinn. Das Bild zeigt Sinn, aber in der Weise, daß es ihn als verschlossenen zeigt. Auf manchen Bildern von Tàpies befinden sich statt geometrischer Zeichen verwitterte Schriftzüge. Diesen graphischen Spuren ist, auch wenn sie ganze »Zeilen« bilden, auf den ersten Blick anzusehen, daß sie nicht zu entziffern sind, daß es hier nicht darum gehen kann, einen Kommentar zu erlangen, der ihre Bedeutung aufklärt. Sinn erscheint, aber als nicht aufzulösender. Das gilt für Tàpies Bilder überhaupt. »Das Rätsel wird nicht gelöst, es wird gemalt.« (Schmalenbach) Die Bilder von Tàpies sind ein Auftauchen von Sinn, der sich zugleich entzieht. Sie sind selbst verwitterte Hieroglyphen. In einer Hinsicht, nämlich so, daß das Bild überhaupt Sinnhaftes zeigt, ist Sinn da, in einer anderen Hinsicht, nämlich so, daß er sich nicht enthüllt, bleibt Sinn weg. Das Bild bring nahe, daß Sinn fern ist. Das Bild enthüllt die Verhüllung von Sinn. In der Anwesenheit des Bildes kommt zur Sprache die Abwesenheit von Sinn. Das ist der Unterschied zu einem Bild ohne Sinn: wo weder von Nähe, noch von Ferne gesprochen werden kann. Die Tore sind verschlossen, aber als verschlossene sind sie da. Wenn Bilder von Tàpies in einer Galerie durch ihren radikalen Widerstand gegen jedes Verstehen-wollen befremden, so ist damit doch nur die Hälfte gesagt. Sie stehen dennoch den stärksten Werken seit Cézanne nahe, nämlich in ihrer unabdingbaren Präsenz. Das liegt zuerst an der Greifbarkeit, an der Rauheit, Schwere und Körper­ lichkeit, in der hier die ›Materie‹ da ist. Die – selber unmateriellen – graphischen Zeichen sind nicht aufgemalt, sondern eingekratzt, aufgetragen oder eingebohrt. Spuren im Sand sind Spuren im Sand des Bildes, Risse und Falten sind wirkliche Risse und Falten im Papier. Was man sonst ›Materie‹ nennt, dürfte hier nicht mehr so heißen. Denn von Materie zu reden hat nur Sinn im Hinblick auf ihr Korrelat, die Form. Hier ist auch nicht Materie ›absolut‹ gesetzt oder als ›Eigenwert‹ entdeckt, sondern das ganze künstlich-ästhetische Schema von ›Form und Materie‹ verlassen. Es handelt sich hier wieder um Erde.

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Leibhaftigkeit. Zum Werk von Antoni Tàpies

Tàpies Bilder sind so da, wie die Erde da ist. Von deren, nicht ›stofflichem‹, sondern leiblichem Charakter ist die Farbe bei Tàpies. An ihr wird die Abkehr von jeder Ästhetik offenkundig. Farbe ist hier unmittelbar Welt. Auf den Farblithographien wie den Ölbildern herr­ schen Erdtöne vor, eine vielfältige Skala von Grau, Braun und Ocker. Wenn aber Spuren von Gold darunter auftreten, dann gehören die so dazu wie Kristalle zum Stein: Glanz, in den sich Erde verwandeln kann und Licht empfängt. Das Schwarz ist das geheimnisvolle Schwarz der Nacht oder das unerbittliche Schwarz der Licht- und Leblosigkeit, das Schwarz des Todes. Das Rot ist majestätisches Purpur, das Blau feier­ liches Ultramarin. Es gibt breite und schwere hellbraune Holztüren und es gibt hohe, dunkelblaue Bögen. Ein Titel könnte für viele Bilder von Tàpies stehen: ›Schwarze Erde mit Graphismen‹. Tàpies läßt die Erde Erde sein. Er läßt sie Grund sein für Licht. Und er läßt sie den dunklen Grund sein, in den eingeht, was das Licht verläßt. Tàpies macht nichts mit der Erde. Er läßt sie schweigen. Die Erde ist aber das seit zweitausend Jahren, seit Plato und Paulus, am meisten Verleugnete. Wir haben sie nicht erst im Zeitalter der Raumfahrt, sondern schon seit der hellenistischen und spätrömi­ schen Angst, über ihrer Vergänglichkeit das ›Ewige‹ zu versäumen, verloren: als wir sie zum Gegenstand der Überwindung gemacht haben, zum Stoff für Form, zum Material für Arbeit, zum Speicher von Energie. Vielleicht mußte aber erst die Möglichkeit der wissent­ lichen Erdentfernung und Erdzerstörung aufkommen, um die Ahnung wachzurufen, daß nur auf der Erde der Himmel verloren gehen kann. Anerkennung der Erde heißt Anerkennung der Vergänglichkeit. Die Mauern und Türen von Tàpies, die Spuren im Sand und auf Stein sind da im Zustand des Verwittert- und Verfallenseins. Die Hieroglyphen sind so unentzifferbar, als wenn ihr Sinn verloren gegangen, vergessen wäre. Die Anerkennung der Vergänglichkeit ist nichts anderes als das Aushalten vor dem Rätsel, das jedes Bild von Tàpies verlangt. In der Negation des Verstehenwollens liegt die Beja­ hung dessen, was seinem Wesen nach, nämlich seiner Entrückung aus der Gegenwart gemäß, Geheimnis ist, als Geheimnis ist, wie der Tod. Das Abwesende kann nicht ›vergegenwärtigt‹ werden, dann verlöre es sein Wesen. Aber der Zustand des Abwesendseins, die Abwesenheit, kann fühlbar werden: in der Melancholie des Verwitterns wie in der Entschiedenheit des Abgeschlossenseins, im Ton der Feierlichkeit und zuweilen auch dem der Majestät, in dem sich der Rang des Verschwiegenen bekundet.

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Leibhaftigkeit. Zum Werk von Antoni Tàpies

Um den Raum zu nennen, den ein angemessenes Sehen der Werke von Tàpies unwillkürlich schon betreten hat, ist eine Besinnung nötig. Wir meinen heute, mehr als andere Epochen in die Vergangen­ heit und Zukunft auszugreifen, in der historischen Kenntnis, in der technischen Planung. Doch das Gedächtnis der historischen Bildung vergegenwärtigt das Vergangene und die technische Planung verlän­ gert die Gegenwart. Indem sie vergangene Tatsachen konserviert, tritt die historische Bildung an die Stelle eines Bezuges zum Gewesenen, nämlich der Erfahrung der Ferne, wie sie in der Trauer um Verlorenes, im Schmerz vor dem Unwiderruflichen, im Vergessen, aber auch im leisen Aufdämmern oder plötzlich überraschenden Aufbrechen von Erinnerung stattfindet. Und indem sie ein System errechenba­ rer Tatsachen antizipiert, tritt die technische Planung an die Stelle eines Bezugs zur Zukunft, nämlich der Erfahrung von Offenheit und Dunkelheit, wie sie in der Sorge und Zuversicht des Alltags, in der Erwartungsfreude von Kindern, in der Geduld oder Ungeduld von Kranken, in der Gelassenheit von Kriegern stattfindet. Konservierung und Antizipation beseitigen die Erfahrung von Nichtgegenwart, die Erfahrung von Abwesenheit. In dieser Versperrung gegen den »ande­ ren Bezug« sah Rilke das maßgebliche Kennzeichen unserer Epoche. In der Nivellierung des Daseins auf eine bloße Vorstellung von gestern oder morgen Gegenwärtigem, von Aktualität und Positivität geht das Ganze der Zeit verloren. Diesem Nihilismus des Positiven steht die Negativität der Kunst gegenüber. Was sie negiert ist das in sich Nichtige. Vor einem Bild von Tàpies wird nichts mehr zugelassen was bloße Vorstellung – bloßes Gedächtnis oder bloße Absicht – ist. Was die übliche Erwartung hier unbefriedigt läßt, ist die Vergeblichkeit, an diesen Bildern irgendet­ was in schon Bekanntem unterzubringen. Daß hier das Rätsel ohne Lösung bleibt, heißt, daß hier der Wille zur Erklärung durchgestrichen wird. Wir sehen die Bilder von Tàpies in dem Augenblick, wo wir den Anspruch auf Erklärung preisgeben. Vielleicht fällt dieser Verzicht eben darum so schwer, weil unser Zeitalter durch keine Macht stärker bestimmt wird als den Unwillen gegenüber dem Unerklärlichen. Das Unerklärte ist das nicht von uns Beherrschte. Der Wille zur Erklärung, der Wille zur absoluten Einordnung hat sich seit Nietzsche als der Kern des Willens zur Macht erwiesen. Daß das Nichtige negiert wird, ist aber nur die Kehrseite und Bedingung der diesen Bildern eigenen Gegenwärtigkeit, ihrer Präsenz im Medium dessen, was seinem Wesen nach sichtbar und greifbar

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Leibhaftigkeit. Zum Werk von Antoni Tàpies

ist: der Erde und der Farbe. Diese Gegenwart ist von solcher Art, daß sie dem Abgeschiedenen und Ungeborenen Raum gibt. Leere ist hier Fülle. Die Scheinwirklichkeit vorgestellter Tatsachen wird verneint mit der Daseinskraft des Jeweiligen, das den Unterschied von Anwesenheit und Abwesenheit aushält. »Dem Menschen in Erinnerung zu bringen, wer er in Wahrheit ist, ihn aus dem Wahn des Unechten zu wecken«, das ist, nach Tàpies eigenen Worten, was er in seinem Werk erstrebt. »Mit meinem Werk versuche ich, dem Menschen zu helfen, den Zustand der Selbstent­ fremdung zu überwinden.« Was in diesem Werk negiert wird, ist jede Art von Herrschaft. Was nicht negiert wird, ist die Zeit. Der Verzicht auf die Totalität des Berechnens befreit den Menschen zum Ganzen der Welt. Die Äußerungen von Tàpies nach dem Katalog Antoni Tàpies der Galerie ›Im Erker‹ 1963. Verwiesen sei auch auf die Zitate bei Claus, Theorien zeitgenössischer Maler, rde 182, 1963, S. 136 – 140. Der spanische Text des dort auszugsweise zitierten Aufsatzes ›La otra pin­ tura‹ von Tàpies ist veröffentlicht in der Zeitschrift Humboldt, Über­ see-Verlag: Hamburg, Jahrgang 2, 1961, Nr. 5. Aus der Literatur über Tàpies sei hier mit Dank verwiesen auf: Werner Schmalenbach im Katalog Antonio Tàpies der KestnerGesellschaft, Hannover, 1962; Udo Kultermann, ›Antonio Tàpies‹, in: Das Kunstwerk, Juni 1961, S. 3–12; und Hans Platschek im oben genannten Katalog der Galerie ›Im Erker‹.

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Realisation (Zum Kubismus von Georges Braque)82

1 Das Problem der Aktualität in der Kunst Von ›Aktualität‹ sprechen wir im Falle der Kunst unter zwei verschie­ denen Gesichtspunkten. Wenn man etwa sagt, ›Informel ist nicht mehr aktuell‹, oder fragt, ob Pop Art und Op Art noch aktuell sind, oder konstatiert, daß die große Zeit der École de Paris seit längerem der Vergangenheit ange­ hört, so wird von Aktualität im Hinblick auf die künstlerische Ent­ wicklung gesprochen. In diesem Fall ist Aktualität eine interne Ange­ legenheit der Kunst. Unter diesem Gesichtspunkt kann man sagen: ›1905 war der Fauvismus, 1910 war der Kubismus aktuell‹. In die­ sem kunst-geschichtlichen Sinn heißt ›aktuell‹ soviel wie ›modern‹. ›Aktuell‹ ist da das Gegenteil von veraltet. Das nicht mehr Aktuelle ist entweder die anachronistische Fortsetzung einer ›Richtung‹, die gestern aktuell war: das Epigonenhafte, oder der anachronistische Aufguß einer schon längst vergangenen Kunst: Klassizismus oder Romantik, je nachdem, ob in einer solchen ›Stil‹-Nachahmung das Akademische oder das Persönliche überwiegt. Erstveröffentlichung: D. J., Welt-Geschichte: Kunst-Geschichte. Zum Verhältnis von Vergangenheitserkenntnis und Veränderung, DuMont Schauberg: Köln 1975, S. 197– 218. D.R. – Der Inhalt dieses Kapitels entspricht einem am 18. Januar 1967 an der Staatlichen Hochschule für bildende Künste in Berlin gehaltenen Vortrag. (Das dama­ lige Abschlußstück mit Hinweisen auf Pollock und Tàpies ist hier ausgelassen. Zu Tàpies s. vom Verf.: ›Zum Werk von Antoni Tàpies‹, in dem Katalog Antoni Tàpies. Das gesamte graphische Werk, Kunstmuseum St. Gallen 1967.) Das ›Nachwort‹ (zum Problem der Zentralperspektive) ist neu geschrieben. – Die Abkürzungen ›Braque‹ und ›Leymarie‹ bei Zitatangaben bedeuten: Georges Braque, Vom Geheimnis in der Kunst. Gesammelte Schriften, Die Arche: Zürich 1958 (Sammlung Horizont); Jean Leymarie, Braque, Skira: Genf 1961. (Den ›Hafen von Antwerpen‹, Abb. 22, hat Braque im Sommer 1906 wiederholt gemalt. Hier [in der Aufsatzsammlung ›WeltGeschichte: Kunst-Geschichte‹ von 1975, D. R.] ist, nicht, wie im Text und in den Bildlegenden bemerkt, die Basler Fassung wiedergegeben, sondern die des Städtischen Museums Wuppertal, Sammlung von der Heydt.). 82

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Realisation (Zum Kubismus von Georges Braque)

Unter einem ganz anderen Gesichtspunkt wird von ›Aktualität‹ gesprochen, wenn man das Verhältnis einer Kunsterscheinung zum Ganzen eines Zeitalters, zum ›Volk‹, zur ›Gesellschaft‹, zur ›Wirklich­ keit‹, im Blick hat. ›Aktuell‹ heißt in diesem Fall so viel wie ›wirk­ lichkeitsnah‹ oder ›lebensnah‹. Unter diesem Gesichtspunkt ist eine Kunst dann aktuell, wenn sie mit Zuständen, Sorgen, Bestrebungen der jeweiligen Gegenwart im ganzen in einem Zusammenhang steht. Das Gegenteil von ›aktuell‹ ist in diesem Fall das Unverbindliche, der Elfenbeinturm. In dieser – wir können sagen – externen Hinsicht muß sich das Aktuelle nicht unbedingt mit dem kunstgeschichtlich Modernen decken. Man gelangt unter diesem Gesichtspunkt vielmehr zu einer Differenzierung innerhalb paralleler Erscheinungen eines Zeitalters: Grünewald könnte so als in ›seiner Zeit‹ aktueller angesehen werden als Dürer, Velazquez aktueller als Poussin, Courbet aktueller als Corot. In der modernen Kunst ließe sich danach der Expressionismus dem Fauvismus, die Kunst Beckmanns derjenigen Feiningers, das Tun und Denken Dalis demjenigen Hans Arps, die Pop Art der Op Art vorziehen. – Ich möchte diese Unterscheidung an zwei Gegenüber­ stellungen illustrieren. Picasso: Stilleben mit Ochsenschädel, 1942 (Kunstsammlung Nord­ rhein-Westfalen, Düsseldorf) [Abb. 20] Man braucht, um den hohen Rang dieses Bildes zu sehen, gewiß nicht zu wissen, daß es 1942 in Paris entstanden ist, zur Zeit der tiefsten Hoffnungslosigkeit der Pariser, in der es scheinen konnte, die Macht des Schreckens sei unüberwindbar geworden. Auch ohne eine Kenntnis der Zeitumstände spürt man das Grauen und die Melan­ cholie, die Wirklichkeit, in der das Bild entstand: in dem Motiv des bleichen, zähnebleckenden Schädels, in den schwermütigen Farben. Man hat von den Bildern Picassos aus jener Zeit gesagt, daß »seine Palette Trauer angelegt habe«.83 Braque: Interieur mit Palette, 1942 (Privatbesitz USA) [Abb. 21] Ein solcher Ausdruck der Gegenwart ist auf dem Bild von Braque, das ebenfalls 1942 in Paris entstanden ist, kaum zu spüren, geschweige denn, daß man darin, wie bei dem Bild von Picasso die Substanz des Bildes suchen könnte. Ein Atelier-Bild, wie es Braque zu 83

M. Raynal, s. Boeck, Picasso, 1955, S. 240.

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1 Das Problem der Aktualität in der Kunst

allen Zeiten mit Vorliebe gemalt hat. Auf die Not dieser Jahre ist hier kein Bezug genommen. Sie spiegelt sich nicht in dem Motiv und wohl auch kaum in dem zarten Zusammenklang der Farben, in der reichen Ornamentik, in dem Ausgleich zwischen der Festigkeit des Stuhles und den unruhigen Kurven von Pflanze und Palette (vgl. Leymarie, S. 95 f.). Braque geht hier, unbekümmert, wie es scheint, seine künst­ lerischen Wege weiter. Der Vergleich mit einer etwas früheren BildDarstellung des gleichen Sujets (›Interieur, Der graue Tisch‹, 1941; Richardson, Braque, 1960, Taf. 48) kann das noch verdeutlichen. Im Unterschied dazu nämlich zeigt das ›Interieur mit Palette‹ im Vorder­ grund als durchsichtigen Umriß den oberen Teil der Staffelei: Der Standort des Malers (der Ausgangspunkt seines Blickes) ist mit bezeichnet. Damit wird die Distanz des Bildraumes klar. Das ›formale‹ Interesse an der Raum-Darstellung spielt hier eine besondere Rolle. Nach dem Maßstab der ›Aktualität‹ geurteilt könnte man in einem solchen Fall geneigt sein, von Ästhetizismus und Formalismus zu sprechen. Ein zweites Beispielpaar: zwei Bilder von Paul Klee. Paul Klee: Die Revolution des Viadukts, 1937 (Kunsthalle Hamburg) [Abb. 7] Will Grohmann und Georg Schmidt sehen in diesen stampfen­ den Marschierern ohne Kopf und Rumpf, in die sich die Brückenbögen verwandelt haben, einen »wahren Angsttraum der auf uns zuschrei­ tenden Gewalttat«.84 Eine solche Auslegung wird bekräftigt, wenn man eine Äußerung Klees aus dem Ende seiner Düsseldorfer Zeit liest, wo er von dem Schrecken beim Anblick einer marschierenden SA-Kolonne spricht.85 (Das Bild ist im gleichen Jahr entstanden wie ›Guernica‹, im gleichen Jahr auch, als Picasso Klee in Bern besuchte.) Ohne Zweifel bildet aber ein Bild wie dieses im Gesamtwerk Klees eine Ausnahme. Und man kann fragen, ob – trotz des Fehlens poetischer Assoziationen, wie sie für die Mehrheit der Bilder Klees bezeichnend sind – das folgende Beispiel nicht typischer für Klee ist als das erste: Georg Schmidt, Die Malerei in Deutschland (zweiter Teil) 1918–1955, Blaue Bücher 1960, S. 45; Will Grohmann, Paul Klee, 4. Aufl. 1965, S. 318. 85 Aus dem Beitrag von Lu Aichinger-Grosch, in: L. Grote (Hrsg.), Erinnerungen an Paul Klee, 1959, S. 50. 84

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Realisation (Zum Kubismus von Georges Braque)

Paul Klee: Hommage à Picasso, 1914 (Sammlung Rübel New York) [Abb. 8] Ganz offensichtlich ist das eine Huldigung an das künstlerische Vorbild Picasso. Selbst von der persönlichen Dramatik und Expressi­ vität, von der Picasso sich auch in seiner kubistischen Periode nicht entfernt hatte, nimmt Klee in diesem Echo auf das, was ihm Picasso damals schon bedeutet haben muß, keine Notiz. Denkt man an das Gesamtwerk dieser beiden Künstler, dann wird man sagen können, daß für Picasso eine unmittelbare und lei­ denschaftliche Auseinandersetzung mit seiner engeren und weiteren Umgebung kennzeichnend ist, in den Bildern Klees dagegen das, was wir die geschichtliche Wirklichkeit nennen, nur in Ausnahmefäl­ len spürbar wird. »Diesseitig bin ich gar nicht faßbar.« Gleichwohl erscheint uns Klee in seinem Werk und ebenso in seinen Gedan­ ken zur Kunst, etwa seinen Bauhausvorlesungen, kaum weniger »modern« als Picasso. Wir haben nur, wenn wir so urteilen (und meist ohne auf den Unterschied zu achten) jenen ersten Gesichtspunkt von »Aktualität« im Sinn, der – mit dem zweiten verglichen – kunstgeschichtlich immanent ist. Unter diesem Gesichtspunkt läßt sich aber auch im Falle von Picasso die Frage stellen, ob die Bedeutung des von ihm Geschaffenen primär nicht im Gewinn von neuen ›Ausdrucks-Mitteln‹ und erst in zweiter Linie in dem, was er ›auszudrücken‹ hatte, liegt. Auf jeden Fall wird es hier zur Frage, ob Aktualität in dem ›zeitgeschichtlichen‹ Sinn überhaupt ein sachgemäßer Gesichtspunkt ist, ob nicht gegenüber dem Vorwurf des Ästhetizismus der Spieß umzudrehen ist und der Anspruch auf ›aktuelle Relevanz‹ eine Gefährdung der künstlerischen Autonomie darstellt. Hat die Kunst nicht ihre eigenen Gesetze und ihren eigenen Raum? Hat sie nicht ihre eigene Wahrheit und – auch wenn man die Vorstellung von der ›Zeitlosigkeit‹ der Kunst als einen klassizistischen Irrtum erkennt – doch ihre eigene Zeit oder ihre eigenen Zeiten? »Ist der Künstler nicht vielleicht a priori geschichtlich unwirksam, ... muß man ihn nicht vielleicht allen historischen Kategorien entrücken, der Macht und ihrer Entfaltung, dem Gesellschaftlichen und Forensi­ schen ...?« (Gottfried Benn).86 G. Benn, ›Zur Problematik des Dichterischen‹, 1929 (nach: G. Benn, Gesammelte Werke in acht Bänden, hrsg. von D. Wellershoff, Bd. 3, 1968, S. 634). S. zu dem zitier­ 86

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1 Das Problem der Aktualität in der Kunst

Soll die Kunst überhaupt ›aktuell‹ sein? Das ist eine Frage, die von der Kunst her und auf sie hin gefragt ist. Es geht, gleichgültig, wie die Antwort lautet, dabei um die Kunst. Wie steht es aber, wenn wir von dem ›Zeitalter‹ und der ›Wirklichkeit‹ her fragen? Im 5. Jahrhundert v. Chr., im Zeitalter der griechischen Polis, war für das Bestehen eben dieser Polis der Tempel so unentbehrlich wie die Tragödie. Und im 13. Jahrhundert n. Chr. war die Kathedrale aus dem Leben dieser Zeit nicht wegzudenken. Die Entstehung der Industriegesellschaft seit dem 18. Jahrhundert ist durchaus auch ohne die Kunst zu denken. Unter diesem Gesichtspunkt lautet die Frage nicht: ist der ›Zeitbezug‹ wichtig für die Kunst, sondern: ist die Kunst wichtig für die ›Zeit‹? In dieser Weise stellt Hegel seine Frage nach dem Verhältnis zwi­ schen Kunst und Geschichte: folgt die jeweilige Kunst einem »Bedürf­ nis« des jeweiligen Zeitalters? Und seine Antwort zur Kunst der Gegenwart: Mit früheren Zeiten verglichen hat die Kunst in unserer Zeit »aufgehört, das höchste Bedürfniß des Geistes zu seyn«. Hegels Folgerung daraus: Die Kunst ist »nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes« (Hegel, ed. Glockner, Ästhe­ tik, Bd. I, S. 151 und S. 32). Der Ernst dieser Behauptung besteht darin, daß sie durch die Qualität der weiterhin entstehenden Kunst nicht beeinträchtigt wird. Denn weder Produktivität noch Publizität sind ein Maßstab für das wirkliche, das »höchste« Bedürfnis. Unter diesem Gesichtspunkt geht es nicht darum, ob die Kunst sich mit dem ›Aktuellen‹ befassen soll, ob sie in irgendeiner Weise ›engagiert‹ sein soll oder nicht. Es geht hier darum, ob Kunst über­ haupt noch aktuell ist. Wird (Hegels Frage angewandt auf den Fort­ gang des zu seiner Zeit Begonnenen) im Zeitalter der Technik, im Zeitalter der Kernenergie, der Automation und der Information Kunst überhaupt noch gebraucht? Hegel begründet seine These vom Funktions-Verlust der Kunst: »Der Gedanke und die Reflexion hat die schöne Kunst überflügelt.« »Die schönen Tage der griechischen Kunst wie die goldene Zeit des späteren Mittelalters sind vorüber. Die Reflexionsbildung unseres heutigen Lebens macht es uns, sowohl in Beziehung auf den Willen als auch auf das Urtheil [also in praktischer wie in theoretischer Hin­ ten Gedanken noch besonders Benns ›Rede auf Heinrich Mann‹ von 1931 (Bd. 4, S. 974–982).

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Realisation (Zum Kubismus von Georges Braque)

sicht], zum Bedürfniß, allgemeine Gesichtspunkte festzuhalten und danach das Besondere zu regeln, so daß allgemeine Formen, Gesetze, Pflichten, Rechte, Maximen als Bestimmungsgründe gelten und das hauptsächlich Regierende sind« (a. a. O., S. 30 f.). Die Kunst ist darum kein höchstes Bedürfnis des Zeitalters mehr, weil ihre »Form« derjenigen »Form«, die jetzt die Wirklichkeit angenommen hat, widerspricht. Kunst tritt als Kunst in der Weise des »Besonderen«, des »Individuellen«, d. h. des von Ort und Stunde Geprägten auf, während das Zeitalter, das seit dem Ende des 18. Jahrhunderts durch die »Wissenschaft«, wie Hegel erklärt, geprägt wird, eben damit sich an Gesetzen und Regeln orientiert, die – wie zeitgebunden auch immer die jeweilige Stufe im Prozeß des Wissens sein mag – ihrem Anspruch nach etwas überall und alle Zeit Gültiges sind. Der Kunst-Charakter: die Jeweiligkeit, widerspricht dem »Wissenschafts«-Charakter: der Allgemeingültigkeit. Die Kunst fällt, so gesehen, hinter die moderne Wirklichkeit zurück, weil sie nicht ›abstrakt‹ sein kann. Der am Maßstab der modernen Wissenschaft orientierte Begriff von Wirklichkeit besteht (seit Descartes und Galilei) grundsätzlich im Transzendieren dessen, was die Sinne anspricht – mag er sich deren auch ›experimentell‹ noch weiterhin bedienen. Spitzt man Hegels Diagnose in dieser Weise zu: das moderne Zeitalter geht (seiner »Reflexionsbildung« gemäß) vom Sichtbaren weg, die Kunst geht (ihrem Wesen gemäß) stets auf Sichtbarkeit zu, dann gewinnt die Frage, ob Kunst überhaupt noch aktuell ist, für die bildende Kunst ein besonderes Gewicht. Die Musik kann in das Pen­ dant zur Reflexion: in die Innerlichkeit des Gefühls, ausweichen. Die Dichtung kann – als Literatur – der wissenschaftlichen Reflexionsbil­ dung sogar entgegenkommen. Die bildende Kunst dagegen kann der allgemeinen Entsinnlichung weder folgen noch ausweichen. Sie wird gerade in ihrer genuinen Daseinsform vom Status des Zeitalters in Frage gestellt. Es ist kein Zufall, daß Hegel sich bei seiner Diagnose der Bedeutungslosigkeit der Kunst in der Gegenwart am Phänomen der bildenden Kunst orientiert. (Die Dichtung ist ihm keine reine, die Musik keine vollständige Kunst mehr.) In der allgemeinen Frage nach der ›Aktualität‹ der bildenden Kunst sind also zwei Fragerichtungen zu unterscheiden. Die eine: wie weit Kunst und Kunstkritik um eine innerkünstlerische oder außerkünstlerische Aktualität besorgt sein müssen. Die andere: wie weit Kunst als solche überhaupt noch aktuell ist.

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Diese Fragen sind hier nicht darum angeführt, um neue Antwor­ ten zu suchen oder alte zu kritisieren, sondern um die ganze Frage­ stellung in ihrer eigenen Fraglichkeit erkennbar zu machen. Die ganze Fragestellung gründet in einer selber fraglichen Voraussetzung. Diese besteht in der Art, wie man sich den Bezug zwischen Kunst und Zeit­ alter generell vorstellt. Kunst gilt danach als aktuell, wenn sie dem jeweils neuen Stand der ›Wirklichkeit‹ angemessen ist. Aktuell heißt: zeit-gemäß. Bei der Frage nach der Aktualität wird die Kunst danach beurteilt, ob sie von der – heutigen oder künftigen – ›Wirklichkeit‹ gerechtfer­ tigt wird. Es wird vorausgesetzt, daß Kunst von dem, was heute ›ist‹, was morgen ›sein‹ wird, ein Ausdruck ist. Das heißt: der Maßstab für das Urteil über Kunst ist die (bestehende oder auch erwartete) Präsenz. Nur unter dieser Voraussetzung muß das Schwinden des höchsten Bedürfnisses, der Rückgang der Zeitgemäßheit, auch schon ein Urteil darüber sein, ob die Kunst weniger als einstmals gebraucht wird. Gesetzt, der ›Zug der Zeit‹ erweist sich selber als gefährlich, dann würde, wenn der Kunst nicht nur der Bezug zur Präsenz, sondern auch der zum Nichtpräsenten zugehörte, die Kunst gerade darum, weil sie – wie Hegel sah – vom ›Trend‹ der Gegenwart entfernt ist und diese Entfernung eigens austrägt, von den von der Gefahr Betroffenen gebraucht werden. Der ganzen Alternative ›aktuell oder nicht aktuell‹ muß die Frage vorhergehen, wie ›Aktualität‹, wie der Zeitbezug von Kunst überhaupt zu denken ist. Dieser Frage soll an einem Kreis von Beispielen aus der modernen Kunst nachgegangen werden.

2 Bild-Erläuterungen: ›Den Raum greifbar machen‹ Wir beschränken uns dabei auf einen Maler, weil so, bei aller Kürze, eine größere Dichte der Betrachtung als im Wechseln und Vergleichen zu gewinnen ist. Wir wählen die Periode des Kubismus, weil wir glau­ ben, daß diese wenigen Jahre von 1907 bis 1914 (nur bei Juan Gris ist die ganze Lebensarbeit davon gleichermaßen geprägt) als die – kurz nach Matisse und kurz vor Mondrian – erste große Gründungstat der ›modernen Kunst‹ zugleich einen eigenen Höhepunkt darstellen. Und wir wählen Braque, weil an ihm die eine Möglichkeit von Kunst: nicht Ausdruck, sondern Erwiderung zu sein, exemplarisch zu erkennen ist.

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(Eine Beispielreihe aus seinem Spätwerk ergänzt die Hinweise auf die eigentlich ›kubistische‹ Zeit, um deren Gültigkeit, ihre Tragweite auch im ›Stil‹-Wandel zu zeigen.) – Analogien und Unterschiede gegenüber den kubistischen Werken Picassos können dabei außer acht bleiben.87 Der Hafen von Antwerpen, 1906 (Öffentliche Kunstsammlung Basel) [Abb. 22] Zunächst ein Bild aus der Zeit vor dem Kubismus. Man sieht die Nähe zum Fauvismus, aber auch die unverkennbaren Unterschiede. Bei aller ornamentalen Verselbständigung der Farbe fehlen hier doch die großen, oft grellen Farbflächen. Wesentlich ist nicht der Kontrast 87 Im Hinblick darauf wie auch auf das Ganze dieses Versuchs denke ich dankbar an Gespräche mit Franz Meyer bei Gelegenheit einer Exkursion mit den Teilnehmern eines Seminars über Fragen des Anfangs der ›modernen Kunst‹ zum Basler Kunst­ museum im Januar 1966, besonders an seine vergleichenden Bemerkungen zu den (damals im gleichen Raume befindlichen) Basler Werken des Kubismus von Braque und Picasso. Der vorliegende Versuch beschränkt sich auf den Kubismus von Georges Braque. Die Strukturverschiedenheiten des Kubismus von Picasso und von Braque sind so erheb­ lich, daß sich die geschichtliche Bedeutung dieser Gründungsjahre der ›modernen Kunst‹ im Gedanken an Picasso anders darstellt als im Blick auf Braque. Als Zeichen des modernen ›Willens zur Macht‹ werden die Merkmale der ›Geometrisierung‹ und der ›Deformation‹ einiger Werke Picassos in Aufsätzen Walter Biemels und Lorenz Dittmanns interpretiert: W. Biemel, ›Zu Picasso. Versuch einer Deutung der Polyper­ spektivität‹, in: Biemel, Philosophische Analysen zur Kunst der Gegenwart, Nijhoff: Den Haag 1968, S. 236–263; L. Dittmann, ›Die Willensform im Kubismus‹, in: Argo, Fest­ schrift für Kurt Badt, 1970, S. 401–417. Unterschiede zwischen dem Kubismus von Picasso und von Braque arbeitet an ihrem verschiedenen Verhältnis zur Kunst Cézan­ nes Max Imdahl heraus: ›Cézanne – Braque – Picasso. Zum Verhältnis zwischen Bildautonomie und Gegenstandssehen‹, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 36, 1974, S. 325–369. Unabhängig von den Differenzen, die sich in der Beurteilung ›des‹ Kubismus je nach dem ergeben, ob man sich mehr an Picasso, mehr an Braque oder besonders an Juan Gris orientiert, ist für den Verfasser die Bewunderung für Daniel Henry Kahnweiler. Im Rahmen dieses Versuchs sei auf Kahnweilers Betonung der Musikalität im Werke von Juan Gris verwiesen (Kahnweiler, Juan Gris. Leben und Werk, 1968, Hatje, Stutt­ gart; zuerst: 1946 bei Gallimard, Paris; in der deutschen Ausgabe besonders S. 130– 153), wobei ich D. H. Kahnweiler für ein Gespräch darüber im Oktober 1965 auch hier danken möchte. Aus der Literatur zum Kubismus sei hier die kleine Schrift von Georg Schmidt hervor­ gehoben: Juan Gris und die Geschichte des Kubismus, Woldemar Klein: Baden-Baden 1957 (Der silberne Quell, Bd.35), die die Grammatik dessen darlegt, was man die Sprache des Kubismus nennen kann.

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heftiger Farben, sondern das einheitlich funkelnde, juwelenhafte Licht. Und weiter: der perspektivische Tiefenraum, der bei den Fauves durch den Farbteppich aufgewogen wird, bleibt hier noch vorherr­ schend. Häuser in L’Estaque, 1908 (Kunstmuseum Bern; ähnlich: die ›Land­ schaft‹ aus dem gleichen Jahr in Basel) [Abb. 23] Das Neue eines solchen frühkubistischen Bildes liegt – noch vor allen stilistischen Besonderheiten – in dem andersartigen Charakter des Bildes selbst. Mit vorhergehenden Werken, auch anderer Maler, verglichen, springt die ungeheure Kompaktheit eines solchen Bildes ins Auge. Das Bild ist nicht mehr Fenster, ist selber Baum und Mauer. Die bekannten Mittel: die Reduktion der Farbigkeit auf Grau, Braun und gedämpftes Grün, das Abschneiden von Horizont und Himmel, die Stereometrisierung der Körper, – das dient offensichtlich diesem einen Zweck, die Körperhaftigkeit des Bildes zu erreichen. Wir sehen das ›Bild‹ als einen massiven Körper: Und hierzu ist das wichtigste Mittel der Wegfall der Zentralperspektive. Zwar sind die Dinge (die Häuser, die Bäume) selbst noch perspektivisch konstruiert, aber jedes unter einem eigenen Blickpunkt, so daß es keinen vom Betrachter ausgehenden Fluchtpunkt mehr gibt. Die Plastizität, die Räumlichkeit des Bildes bildet sich aus den Dingen selbst.88 Nun zwei Hauptwerke des ›analytischen Kubismus‹, zuerst: Violine und Krug, 1910 (Basel) [Abb. 24] An diesem Bild kann man zunächst die Theorie von der ›Gegen­ standsanalyse‹ des Kubismus prüfen. Von einer Zerlegung in ver­ schiedene Ansichtsseiten kann bei der Violine, dem Krug oder der Mauerkante keine Rede sein. (Eine ›Simultandarstellung‹ verschie­ Franz Meyer weist in seinem Vortrag Bildende Kunst und Aktualität (in einer Ring­ vorlesung der Universität Zürich vom Wintersemester 1967/68) darauf hin, daß eine Einheit der Kunst des 20. Jahrhunderts – bei allem »Stil«-Pluralismus – in der Beto­ nung der Bild-»Autonomie« zu suchen sei. Die frühere »Relation von standortgebun­ denem Betrachter, Bild als Fenster und dargestellter Welt in Distanz ändert sich im zwanzigsten Jahrhundert radikal. Es tendieren nämlich Bild und dargestellte Wirk­ lichkeit zur Verschmelzung in einer neuen, autonomen Bildwelt.« In diesem neuen (von van Gogh und Cézanne inaugurierten) Eingehen auf die »Bildfläche« wird die Vorstellung vom Bild als »Fenster« verlassen. Und das bedeutet, daß sich dabei auch »die Stellung des Betrachters« »von Grund auf« ändert. (Rudolf W. Meyer, Hrsg., Das Problem des Fortschritts – heute, 1969, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 86.). 88

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dener Ansichtsseiten findet sich zuweilen bei Juan Gris, – in der kubistischen Zeit aber auch bei Picasso noch nicht, bei ihm in Frauen­ bildnissen seit den dreißiger Jahren. Jene ›Kubismus‹-Theorie ist eine irrige Analogie zu der Simultandarstellung verschiedener Vorgangs­ momente im Futurismus.) Aber auch die weniger dogmatischen Gedanken von der Über­ windung der »Erscheinungswiedergabe« zugunsten einer »Vorstel­ lungsanalyse«, die das »Wesen« des Gegenstandes repräsentieren soll, die man also »lesen« muß, um den Sinn des Bildes zu verstehen, helfen hier nicht. Krug, Geige, Mauerkante stehen so im Bild, wie sie vor uns stehen. Unbestreitbar ist nur, daß die umschließenden Körperflächen in kleinteilige, von der Gegenstandserscheinung ebenso wie von einer Vorstellungsbezeichnung unabhängige plastische Partikel auf­ gelöst sind, so daß die Gegenstände aussehen, als wenn sie »zertrüm­ mert« wären. Die Bedeutung dieser »Gegenstandszertrümmerung« (die sicht­ bare Bedeutung im Unterschied zu einer theoretisch erdachten) wird klar, wenn man nicht über die zwei oder drei ›Gegenstände‹ in dem Bild sinniert, sondern sich mit seinen Augen auf das Bild einläßt, auf das Ganze dessen, was hier vor Augen steht. Dann zeigt sich, daß das – scheinbare – Gewirr von konkav-konvexen Kleinformen einen ein­ heitlichen Rhythmus bildet. (Deutlich spürt man das in die Bildachsen ausstrahlende Raumzentrum in der Arabeske des Geigenhalses.) Daß die ›Gegenstände‹ in ihrer eigenen, ihrer ›gegenständlichen‹ Einheit aufgelöst sind, ermöglicht ihre Einbeziehung in die Bild-Ein­ heit, ihre Teilnahme an dem bildnerischen Rhythmus. Die »Gegen­ standszertrümmerung« ist ein Mittel des Bildaufbaus. Braques Schritt zum Kubismus ist nicht eine Wendung von der Gegenstandserscheinung zur Gegenstandsvorstellung, sondern eine Wendung von der Gegenstandswirklichkeit zur Bildwirklichkeit. An der Bildwirklichkeit gemessen erweist sich beides, die perspektivische Konstruktion ebenso wie die begriffliche Reflexion, als bloße Vorstel­ lung. Und wir können uns, wie immer bei Braque, an seine eigenen Äußerungen halten. Er sagt, es käme ihm nicht darauf an, die »Vor­ stellung«, sondern darauf, das »Bild« »lebendig zu machen«. Die »Leitidee« des Kubismus sei gewesen, den Raum greifbar zu machen (Braque, S. 31 und S. 17). Dieser Charakter des Bildes: die Greifbarkeit des Raumes, wird eigens betont durch den berühmten Nagel. Während an einem etwas

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früheren Bild in New York (›Violine und Palette‹, Leymarie, S. 42) innerhalb des Bildes eine Palette an einem illusionistisch gemalten Nagel hängt, ist hier in das ganze Bild, wie in eine massive Substanz, der Nagel ›geschlagen‹. Für diesen bildnerischen Sinn des Bildes nun, seine »Greifbar­ keit«, sind das Volumen des Kruges, das tastbar zarte Holz der Geige, die Massivität der Mauerkante poetische Bestätigungen. Was läßt sich einem solchen Verständnis des Kubismus für das Problem der Aktualität entnehmen? Ist, wenn man so einseitig den bildnerischen Sinn betont, nicht jeder Wirklichkeits-Bezug endgültig abgeschnitten? Dieser Eindruck eines an der ›Welt‹ uninteressierten, eines weltfernen oder gar weltfremden Formalismus scheint sich noch zu verschärfen, wenn man nicht nur nach dem besonderen ›Zeit‹-Bezug fragt, sondern allgemeiner danach, was ein solches Bildverständnis und – wenn es im Recht wäre – ein solches Bild mit dem Menschen zu tun hat. In dieser Frage liegt jedoch der Schlüsselpunkt zur Lösung unserer Frage nach der ›Aktualität‹ von Braques Kubismus. Um das zu zeigen, ziehen wir das zweite Beispiel aus dem ›analytischen Kubismus‹ hinzu: Der Portugiese, 1911 (Basel) [Abb. 25] Die Unterschiede dieses etwa ein Jahr später entstandenen Bildes unterstreichen die Rolle, die der bildnerischen Intention im Kubismus Braques zukommt: Der Übergang von den plastischen zu flächigen (also bildparallelen) Bauelementen bedeutet eine weitere Annäherung an die Bildgesetzlichkeit. Dasselbe gilt von der hier noch entschiedeneren Betonung der Bildachsen und Bilddiagonalen. Aus diesen der Bildfläche gemäßen Elementen bildet sich wieder Raum. Dieser räumlich-plastische Charakter des Bildes wird hier noch eigens spürbar gemacht durch das Kontrastmittel der rein-flächigen Druck­ buchstaben. Das Motiv schließlich, das dem Bild seinen Namen gibt – der »Portugiese« –, ist hier kaum noch zu erkennen: der Umriß einer sitzenden Gestalt mit einem Saiteninstrument. (Der Überlieferung nach soll sich dieses Motiv auf einen portugiesischen Seemann in einer Hafenkneipe von Marseille beziehen.) Es wird fraglich, ob eine solche ›Erkenntnis‹, ein solches Heraus-›Lesen‹ der Figur bei diesem Bild die ihm gemäße Bild-›Betrachtung‹ sein kann.

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Wir müssen hier bedenken, daß es zwei verschiedene Möglich­ keiten gibt, wie man ein solches Bild sehen kann. Man kann entweder Punkt für Punkt des Bildes fixieren, diese Punkte dann untereinander und mit ähnlichen Momenten anderer Bilder vergleichen und schließ­ lich diese – nacheinander gemachten – Beobachtungen miteinander, im Gedächtnis, verknüpfen. Im Unterschied zu einem solchen regis­ trierenden und reflektierenden Verhalten dem Bild gegenüber besteht die andere Möglichkeit, zu sehen, darin, daß man das Zusammenspiel der Elemente gleichzeitig wahrnimmt. Wenn man nicht auf dem Bild herumwandert, Punkt für Punkt fixierend, sondern, beide Augen auseinanderhaltend, wie bei einem Fernblick, sich – ohne den Blick zu verändern – auf das Ganze des Bildes gleichmäßig einstellt, dann treten – in einer deutlich zuneh­ menden Klärung des Bildraums in der anhaltenden Konzentration – die vielerlei für sich genommen so chaotisch wirkenden Einzelele­ mente zu einem gitterartig strukturierten, kristallartig durchsichtigen Körper zusammen. Die Bildachsen, die schlanke Pyramide um die Mittelvertikale, die verdämmernden Randzonen und jeder einzelne Punkt, nach Stelle, Form und Helligkeit – bis zu dem schattenhaften Umriß der Figur – sind dann nicht mehr für sich selbst etwas, sondern Bau-Glied dieses einheitlichen, in sich klaren Raumes. Man muß hier von ›Raum‹ und ›Körper‹ zugleich sprechen, weil das Ganze so massiv, wie eine greifbare Substanz, und zugleich so durchsichtig ist, daß man das Sehen als ein Darin-Stehen bezeich­ nen kann. Was bei den beiden verschiedenen Sehweisen den Kern der Differenz ausmacht, ist nicht der Unterschied von ›rational‹ und ›irrational‹ oder gar der von ›objektiv‹ und ›subjektiv‹. Es ist der Unterschied von bloßer Reflexion, für die das Bild nur Bedeutungsträ­ ger ist, und einem handelnden Sehen, das das Bild in seiner eigenen räumlich-körperlichen Handlung wahr-nimmt, man darf hier sagen: hört – so wie ein Klavierspieler den Notentext. In dem einen Fall will man das Bild ›verstehen‹, wobei das Bild etwas Vorgegebenes ist, das man im Maße des ›Verstehens‹ hinter sich bringt. In dem anderen Fall läßt man sich auf das Bild ein, wobei das ›Bild‹ zuerst noch gar nicht da ist. Es gelangt zum Dasein in dem Maße, wie man in ihm ist. Im ersten Fall bleibt der ›Betrachter‹ bei sich selbst und stellt sich etwas vor. In dem zweiten Fall geht er, sehend, aus sich heraus und nimmt am Bau und Spiel des Bildes teil.

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Was hat eine solche Erwägung von Sehweisen mit der Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Mensch zu tun? Läßt sich hier nicht allen­ falls eine Einsicht in das kunst-geschichtlich Neue des Kubismus gewinnen, die Einsicht, daß hier nicht ein neuer ›Stil‹ oder eine neue Darstellungsweise praktiziert wird, sondern daß der ganze damals übliche Begriff von Kunst sich ändert? Mit dem Kubismus ist der Begriff von Kunst als Darstellung verlassen. Das Bild ist nicht mehr ein Gegenstand, der für einen Betrachter etwas nachahmt, vorstellt oder ausdrückt. Es ist ein Körper, der jeweils erst in einem selber bau­ enden, in einem handelnden Sehen existent wird. Was Braque von Cézannes Verhältnis zur Natur sagt, das gilt in gewisser Weise auch von unserem Verhältnis zu einem solchen Bild: Er ist nicht mehr »Zuschauer«. Er steht nicht »außerhalb der Dinge«. Er »ist in die Handlung verstrickt.« (Braque, S. 57.) Damit ist aber schon gesagt, wo bei einer solchen Art von kunstgeschichtlicher Wendung der Angelpunkt, der Ort der Wendung liegt. Er liegt in der veränderten Stellung, die hier vom Menschen verlangt wird. Wenn das ›Bild‹ aus seiner bisherigen Verfassung als Objekt heraustritt, dann entspricht dem, daß der Mensch aus seiner bisherigen Verfassung als Subjekt herausgeht. In diesem Zusammenhang zwischen der Verfassung der Kunst und der Verfassung des Menschen liegt die mehr als nur ästhetische Bedeutung der kubistischen Abkehr von der Zentralperspektive. Der Mensch ist nicht mehr, wie seit dem Beginn der Neuzeit, der univer­ sale Bezugsgrund für die Dinge, die nur in dem Maße und in der Gestalt zugelassen sind, wie sie sich seinem Vorstellungsanspruch fügen. Die kunst-geschichtliche, einer bildnerischen, scheinbar nur kunstimmanenten Intention folgende Wandlung bedeutet an ihr selbst, ohne daß man noch nach einer vorder- oder hintergründigen ›Aussage‹ zu suchen hätte, eine Wandlung des Menschen. Dieser Sachverhalt, daß die künstlerische Errungenschaft des Kubismus unmittelbar mit einer Veränderung im Weltverhältnis des Menschen zusammenhängt, wird deutlicher, wenn wir die Frage auf­ nehmen, wie sich die (mit der Berufung auf Braque selbst) vorgetra­ gene ›formalistisch‹ scheinende Betrachtungsweise mit den erkennt­ nistheoretischen und ontologischen Theorien des Kubismus reimt. Es könnte scheinen, als stünden sich zwei feindliche Positionen gegen­ über: eine (sich auf Picasso berufende), nach der es dem Kubismus um eine neue Wirklichkeits-Aussage geht, eine andere (an Braque orientierte) nach der es dem Kubismus um eine neue Art von Kunst

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geht. Doch das ist wieder eine falsche Alternative (die freilich für die am Gegenstand orientierten Theorien unvermeidlich ist). Wie es mit dem Verhältnis von ›Form‹ und ›Wirklichkeit‹ in Wahrheit steht, läßt sich zeigen, wenn wir an den Titel des letzten Beispiels denken. Wir sahen, daß das Motiv der Figur nicht das Thema des Bildes sein kann. Wir haben aber noch nicht überlegt, ob damit das ›Motiv‹ überhaupt unwichtig wird. Das Porträt eines Seemanns zu geben, war ohne Zweifel nicht der Zweck des Bildes. Ein Gegen­ stück zu diesem Bild in New York hat einfach den Titel ›Mann mit Gitarre‹ (Leymarie, S. 51). Wie steht es aber mit dem Motiv des Gitar­ respielers? Auf den meisten kubistischen Bildern Braques (auf sehr vielen von Gris und häufig auch bei Picasso) finden sich musikspie­ lende Menschen oder Musikinstrumente. Man begreift den Sinn die­ ser Bild-Motive, wenn man sich klar macht, was ein Musikinstrument ist. Die Wirklichkeit einer Gitarre – das ist doch offensichtlich nicht das, was sich daran optisch oder in der Vorstellung als Gegenstand fassen läßt. Was eine Gitarre ist, weiß ich nur, wenn ich sie spiele oder höre. Wenn man also das, was die Gitarre in Wahrheit ist, malen wollte, dann müßte man das Spielen und das Hören, man müßte die ›Bewegung‹ der Musik malen. Braque hat auf die Frage, warum so oft Musikinstrumente auf seinen Bildern vorkommen, gesagt, ein Musikinstrument sei etwas, das »durch die Berührung belebt« wird (Braque, S. 18). Dazu kann man die wiederholt von ihm gegebene Erklärung stellen, es gehe ihm um das »Leben« der Dinge (z. B. S. 56). Dieses »Leben« nennt Braque: die Beziehung der Dinge, die Beziehung der Dinge untereinander und ihre Beziehung zu uns (S. 41, S. 55). Das »Leben«, die »Beziehung«, läßt sich – im Unterschied zu einem vom Leben abstrahierten Gegenstand – nicht, weder als Nachahmung, noch als Ausdruck – darstellen. Es läßt sich nur – als Raum und Rhythmus – aufstellen. Das Bild muß (im Falle der Gitarre) als dieses Bild ein Äquivalent zur Musik sein. Es muß ein Vorgang sein, in den der ›Betrachter‹ ähnlich wie in einen Tanz »verstrickt« sein kann. So ist es kein Zufall, daß auf dem ›Portugiesen‹ einige der zunächst aus dem formalen Grunde der Kontrastfunktion gebrauch­ ten Druckbuchstaben das Wort BAL bilden. Auf anderen kubistischen Bildern Braques finden sich die Namen BACH oder MOZART, Hin­ weise nicht nur auf Musik überhaupt, sondern – im Falle von Braque –

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auf eine solche Art von Musik, deren Wesen selber noch im Tanz und nicht im Ausdruck gründete. Was von der Musik als der Wirklichkeit einer Violine oder eines Gitarrespielers gilt, das gilt entsprechend auch vom Geschmack als der Wirklichkeit einer Frucht, von Schwere, Rundung, Glanz und Klang eines Glases, von der ›Atmosphäre‹, die mit dem Rauch und dem Duft einer Pfeife verbunden sein kann. Solche nahen, solche zum Umgang des Menschen gehörigen Dinge haben in diesem Umgang, also in einer solchen »Beziehung« – und nicht in ihrer Gegenständlichkeit –, ihre Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit sichtbar und das heißt hier: fühlbar, greifbar zu machen, ist (nach Maßgabe dieser Wirklichkeit selbst) nicht die Sache der Wissenschaft. Es ist eine Sache der Kunst – im Unterschied zu der Sache, die der wissenschaftliche Ansatz von Wahrheit und Wirklich­ keit allein zuläßt. An einigen Bildern aus dem Spätwerk von Braque läßt sich das Dar­ gelegte ergänzen. Wir wählen drei Bilder aus der Reihe der ›Ateliers‹, die um 1950 entstanden sind und einen neuen, letzten Höhepunkt im Lebenswerk von Braque bedeuten. Atelier II, 1949 (Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf) [Abb. 26] Bei allem, was sich verändert hat: in einem bestimmten Sachver­ halt bleibt die Nähe zum Kubismus grundlegend. Das Bild erschließt sich nicht, man sieht es nicht, wenn man sich darauf beschränkt, sämtliche ›Objekte‹ entziffern zu wollen. Vieles springt sofort ins Auge: die Wölbung der Vase, der nach rechts blickende Kopf und der große, nach links fliegende Vogel; anderes bleibt im Dunkel. (Eindeutig erkennbar sind etwa noch die Staffelei im Hintergrund, die Palette vorn.) Das Bild erschließt sich aber, wenn man sich auf das räumlich-kristallhafte Gefüge in seiner sichtbaren Einheit einläßt. Die – ebenfalls an den Kubismus erinnernde – Farbigkeit (Braun und schwärzliches Blau) verwandelt sich dann in der Verbindung mit den weißen und gelben Partikeln in ein Spiel von Gold und Silber. Wie einst die Druckbuchstaben, so steht (oder schwebt) der flächige Pfeil, die vordere Raumgrenze markierend. Mit diesem Pfeil ist aber an die Stelle der damaligen Statik Dynamik getreten. Und das ist nun auch das eigentlich Neue dieser ›Atelier‹-Bilder: Der Raum ist in Bewegung geraten. Der Pfeil antwortet dem Flug des Vogels.

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Und auch an dem Kopf ist das Wesentliche die Bewegungsrichtung seines Blickes. Bewegung aber durchzieht das Bild noch in anderer Weise. Zwi­ schen allen diesen mehr oder weniger deutlich erkennbaren, ›realen‹ und ›imaginären‹ Dingen des Ateliers herrscht ein durchgängiger Austausch. Alles befindet sich in einem Zustand der Verwandlung. Jeder Versuch einer Fixierung wäre hier nun eindeutig Fälschung. Die Vielheit der Dinge ist zurückgenommen in die Einheit ihres wechselseitigen (ihres räumlichen) Zusammenspiels. Sagte Braque früher, es käme ihm auf den Raum an, in dem die Dinge ihr »Leben« haben, so sagt er jetzt noch entschiedener: »Ver­ gessen wir die Dinge und betrachten wir nur ihre Beziehungen« (Ley­ marie, S. 106). Atelier V, 1949 (NewYork) [Abb. 27] »Die Dinge existieren nicht mehr für mich außer durch ihre Beziehung untereinander und auch zwischen ihnen und mir« (Ley­ marie, S. 105). Dieser Gedanke erklärt, warum für Braque um der Wirklichkeit willen das – scheinbar nur bildnerische – Interesse am Raum so wichtig ist. Denn der ›Raum‹, das von den Dingen her gese­ hen zwischen ihnen Befindliche, ist das Element, in dem und als das sich die »Beziehungen« abspielen. Wie soll man aber dieses Rangverhältnis zwischen Dingen und Raum, das die gewöhnliche Vorstellung vom Verhältnis zwischen Sei­ endem und Nichtseiendem umkehrt, sichtbar machen? Nach diesen Bildern: indem man die Dinge selber in Bewegung bringt, indem man sie nicht etwas Fixierbares sein läßt. Weil aber dieses Aufheben der ›objektiven‹, der fixierbaren Ein­ deutigkeit in der Tat ein sichtbarer Vorgang ist, ein Vorgang der Ver­ wandlung, braucht Braque keine Symbolik. Ausdrücklich notiert er zur Zeit seiner ›Atelier‹-Bilder: »Für mich handelt es sich nicht um die Metapher, sondern um die Metamorphose« (Leymarie, S. 106). Diese Notiz erklärt, was Braque mit »Poesie« meint: jene dingli­ che Vieldeutigkeit, in der gerade die wahre Verfassung der Wirklich­ keit zur Sprache kommt. Ebenfalls zu dieser Zeit schreibt Braque: »Die Wirklichkeit offenbart sich allein im Lichte der Poesie« (Leymarie, S. 106). Man kann diese Erklärung nicht wörtlich genug nehmen. Voraussetzung dazu ist die Einsicht, daß Braque Unauflöslichkeit, Dunkelheit, Verschlossenheit als einen Bestandteil der Wirklichkeit ansieht und nicht als einen aufhebbaren Mangel unserer Erkenntnis.

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Daß die Poesie die Wirklichkeit enthüllt, hängt damit zusammen, daß die Wirklichkeit nur offenbar wird, wenn ihr Rätselcharakter offenbar wird. Atelier VI, 1950–1951 (Galerie Maeght Saint-Paul) [Abb. 28] Wie steht es nun mit dem durch die Gemeinsamkeit der ganzen Reihe (es gibt acht Bilder dieses Titels) so deutlich hervorgehobenen Thema dieser Bilder? Man hat gesagt, Braque vollende sich hier, indem er alles zusammenfaßt, was er sein Leben lang als die Welt seiner Arbeit gemalt hat. Das könnte als ein eindrucksvoller Beweis für jene Definition der modernen Kunst erscheinen, wonach da die Malerei sich selbst zum Thema geworden sei. Die Frage ist nur, ob damit auch die Meinung bestätigt wird, die sich mit dieser Definition verbindet: die Kunst ende in der Selbstreflexion. Ein Grund dafür, daß Braque sein Atelier malt, liegt darin, daß er nichts malt, wozu er nicht in einer unmittelbaren Beziehung steht, nichts, das nur durch Konvention bekannt ist. Es gibt aber noch einen besonderen Grund dafür, daß die Malerei für Braque zum Inhalt der Malerei wird. Wir erinnern uns an seine Äußerungen, daß ein Bild die Mitarbeit der Menschen braucht und damit eine Haltung, die für Braque im Gegensatz steht zu der allge­ meinen Neigung dieser Zeit zur Bequemlichkeit, der Neigung zum Erklären, Beweisen und Einordnen.89 Es erscheint hier abermals der Zusammenhang mit dem Kubismus. Ein Bild wird so gemalt, daß es ohne die Anstrengung des Sehens, ohne das sinnenbezogene Handeln des ›Betrachters‹ verschlossen bleibt. Wenn die Malerei sich selbst malt, so ist das hier das Gegenteil von Selbstreflexion. Die Kunst macht die Kunst nicht sich zum Gegen­ stand, sondern sie macht sie uns zur Arbeit. In einer Zeit, wo sich mit der Erschlaffung und Betäubung der Sinne auch die Welt, die zu diesen Sinnen spricht, entzieht, bricht die Kunst durch sich selbst einen Zugang zur Welt auf. Kunst um der Kunst willen – Kunst als Veränderung der Wirk­ lichkeit: diese theoretisch-ästhetische Alternative zeigt hier ihre Grenzen. Es sind Veränderungen in der Kunst, die darin bestehen, etwas am Verhältnis zwischen Mensch und Welt zu ändern. Diese Veränderung läßt sich bezeichnen als eine Dezentralisation des 89 Besonders in dem Aufsatz ›Malerei und Wirklichkeit‹ von 1935, in: Braque, Vom Geheimnis in der Kunst, Zürich 1958, S. 35 bis 48, hauptsächlich S. 37–41.

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Menschen, die im Gegenzug steht zu dem sich zuspitzenden und ver­ steifenden Ethos der Autonomie, des Selbstbesitzes, das dem tech­ nologischen Zug der europäischen Neuzeit und nun der ›Europäisie­ rung‹ der Erde zugrunde liegt.

3 Nachwort: Die Zweideutigkeit der Zentralperspektive Der Kubismus von Braque ist ein Beispiel von Kunst als Zeit-Kritik in der modernen Kunst (derjenigen Epoche der bildenden Kunst, die 1905 mit Matisse und 1907 mit Picasso und Braque ihren Anfang genommen hat). Der Geschichtsbezug dieses Beispiels aus dem Anfang der ›modernen Kunst‹ verweist auf ein Problem, das uns der Anfang der Kunst in der ›Neuzeit‹ stellt. Wenn das Neue der Neuzeit in dem Zug zum Selbstbesitz gesehen wird, für den das mimetische Prinzip der Zentralperspektive kennzeichnend ist, soll dann damit (wie auch einige Äußerungen Braques vermuten lassen können) behauptet werden, die ›Neuzeit‹ beginne mit der Renaissance? Auf diese Frage läßt sich nur eine – widersprüchlich klingende – Doppelantwort geben. Die eine Antwort: Der Prozeß der Selbstverabsolutierung, der sich in der Zentralperspektive bekundet, setzt schon viel früher ein. Er beginnt schon mit den großen Zeitgenossen Platos in der ›spät­ klassischen‹ Plastik der Griechen (Skopas, Praxiteles, Timotheos und Lysipp): mit der Aufnahme der Raumperspektive, von den Griechen »Bühnenmalerei«, Skenographia, genannt, in die große Malerei und Plastik90; und der ›Bild‹-Werdung der Architektur durch das Prinzip der ›Vedute‹ und der planimetrischen Raumaufteilung seit dem Hel­ lenismus. Das damit, in der griechischen Spätzeit und der römischen Antike, Angelegte gelangt aber erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts, seitdem ›Kunst‹ mit bloßer ›Bild‹-haftigkeit gleichgesetzt wird, zur Vorherrschaft, das heißt: seit dem Verlust der Architektonik innerhalb der Malerei (und Plastik), der die »Krise der Kunst um 1800« aus­

Bernhard Schweitzer, Platon und die bildende Kunst der Griechen, 1953 (Die Gestalt 25), die beiden letzten Abschnitte ›Zeitgedanken‹ und ›Entwicklung‹, S. 58 bis 88; B. Schweitzer, Vom Sinn der Perspektive, 1953 (Die Gestalt 24).

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3 Nachwort: Die Zweideutigkeit der Zentralperspektive

macht (wie das in einem Aufsatz über Goya von 1932 Theodor Hetzer dargelegt hat91). Damit hängt die andere Antwort auf die Frage nach der Bedeu­ tung der Zentralperspektive zusammen: Vom Beginn der Renaissance bis zum Ende des Barock ist die Zentralperspektive nur ein Faktor der künstlerischen Gesamtstruktur. In den dreihundert Jahren von Mantegna und Alberti bis zu Watteau und Canaletto fördert sie die Ausgleichskräfte in dem Bau des Bildes: im Rhythmus der Farbigkeit (zumal in Venedig und später in Spanien), in der eigenen Tektonik der Fläche (in Florenz und Rom), der Einheit des Lichtes (wie bei Rembrandt oder auch bei Claude Lorrain), dem Musiké-Charakter des Bildes (wie bei Poussin92), der Dramatik der bildnerischen Handlung (wie bei Rubens) oder bildhaften Erscheinung (wie bei Velazquez). Auch die perspektivische Dynamik Tintorettos ist eigene Bildwirk­ lichkeit und nicht auf die Optik des schaffenden oder betrachtenden Subjektes hin »zentralisiert«. Anders als ihre Vorprägungen in der hellenistisch-römischen Raumperspektive, anders auch als ihre modernen Ausbildungen und Auswirkungen (etwa im Gedanken der ›Monade‹ oder im Begriff des Regelkreises von Steuerung und Rückkopplung) ist die Zentralper­ spektive in der Renaissance – und das heißt: als ein Kunst-Prinzip – ein Gegengewicht gegen den am Ende des Mittelalters beginnenden Zug zur Un-endlichkeit, zur Grenzenlosigkeit. Sie ermöglicht in dieser Zeit die Annäherung des Unendlichen im ›Bilde‹, in der Ars.93 Mit dieser temporären Verwandlung des zentralperspektivischen Grundzugs der Mathematisierung zu einem Faktor der Kunst hängt Theodor Hetzer, ›Francisco Goya und die Krise der Kunst um 1800‹, in: Hetzer, Vorträge und Aufsätze, 2 Bde. 1957, Bd. I, S. 177–198. Zur Wendung um die Mitte des 18. Jahrhunderts: in der gleichen Sammlung ›Canaletto und Guardi‹ (Bd. I, S. 137– 145) und ›Vom Plastischen in der Malerei‹ (Bd. 2, S. 131–169). 92 S. bei Kurt Badt, Die Kunst des Nicolas Poussin, 1969, den ›Exkurs über die Modi‹ (S. 306–310) und die Analysen der zeichnerischen (figurativen) und farbigen Struktur der Werke Poussins im ganzen dieses Buches. 93 Über die besondere Bedeutung der Perspektive in der Renaissance, ihre Verbindung mit der ›Proportion‹, die Begrenzung des neuen Zuges zur Un-Endlichkeit in dem Renaissance-Begriff von ›Ars‹, kann die Philosophie des Nicolaus Cusanus unterrich­ ten: Ernst Cassirer, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, 1927 (Neudruck: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1963); K.-H. Volkmann-Schluck, Nicolaus Cusanus, 1957 (besonders die Abhebung von Descartes im letzten Teil dieses Buches); Gottfried Boehm, Studien zur Perspektivität. Philosophie und Kunst in der frühen Neuzeit, 1969. 91

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Realisation (Zum Kubismus von Georges Braque)

die eigene welt-geschichtliche Bedeutung dieser Kunst-Epoche von Giotto und Masaccio bis zu Tiepolo und Chardin zusammen, der Epoche, die wir ›Renaissance‹ und ›Barock‹ nennen.94 Beim Gebrauch dieser Namen bleibt meist unentschieden, ob sie das Ganze einer chronologisch umgrenzten ›Zeit‹-Strecke meinen oder aber nur einen von mehreren Wegen im Ganzen dieser Epoche ausmachen. Unter­ scheiden sich Florenz und Augsburg um 1500, unterscheiden sich Rubens und Descartes nur so wie zwei verschiedene Forschungs­ disziplinen oder gehören sie, trotz aller ›Stil‹-Ähnlichkeiten, ganz verschiedenen Zentren ihres ›Zeitalters‹ zu? (Bruno und Vico würden dann der ›Kunstgeschichte‹ näher stehen als der Geschichte der Meta­ physik.) Für das Studium der bildenden Kunst im 19. Jahrhundert würde sich unter diesem Gesichtspunkt die Aufgabe stellen, das alte Inter­ esse am künstlerischen Rang der verschiedenen Maler dieses Jahr­ hunderts zu verbinden mit der Beachtung des für dieses Jahrhundert charakteristischen Unterschiedes zwischen zeit-gemäßer Malerei und solcher, die dem ›Strom der Zeit‹ widerstand und damit – in dem doppelten Sinn des Wortes: als Klärung und als Überwindung – Zeit-Kritik sein konnte, so wie dies Bataille an dem Kronzeugen des ›L’art-pour-l’art‹-Gedankens, an Manet, dargelegt hat.95 Die neue Möglichkeit der Kunst im Industriezeitalter, Gegenkraft zu sein: nicht Spiegel von Realität, ›Bild‹ der ›Wirklichkeit‹ – wie die offizielle Kunst der Zeit –, sondern, wie Cézanne von seiner eignen Kunst gesagt hat: réalisation, beginnt mit den beiden englischen Malern Constable (geboren 1776) und Turner (geboren 1775).

94 Von den Interpreten dieser Epoche neben und seit Wölfflin sei hier Theodor Hetzer genannt, dessen Lebensarbeit den großen Malern von Giotto bis Tiepolo gewidmet war und der, ein Schüler Rintelens, in seiner Verbindung der beiden Fragen nach dem künstlerischen Rang und nach dem geschichtlichen Ort von dem Studium Cézannes ausgegangen war. 95 Georges Bataille, Manet, Skira: Genf 1955.

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Wer nach der Ära der Existenzphilosophie und mit Schriften des spä­ teren Werkes auf Heidegger stieß, für den begann das Studium dieses Denkens nicht nur vor dem Hintergrund des Politikums, sondern auch mit der Frage des Philosophikums ›Heidegger‹: Ist das überhaupt noch Philosophie? Ist das überhaupt noch das, was man in dem Fachbereich der Philosophie an den Universitäten macht, ist es das, weshalb man an den Universitäten im Umkreis der übrigen Wissenschaften Philosophie treibt? Das Spätwerk, die Arbeit Heideggers seit den ›Holzwegen‹ (1950), ist in der deutschen Universitätsphilosophie, ob angegriffen oder nicht, kaum mehr als dem Namen nach bekannt. Ein Zeichen dieses Spätwerks, ein Zeichen dessen, was Heidegger selbst als »Kehre« umschrieb, ist sein Interesse an der Kunst. Dieses Interesse (zum ersten Mal ausgesprochen in dem schon 1935 konzi­ pierten ›Kunstwerk‹-Aufsatz) korrespondiert mit Heideggers Abkehr von dem, was sich als wissenschaftliche Verbindlichkeit bezeichnen läßt, insofern als es selber nichts mit Kunsttheorie, nichts mit Ästhetik zu tun hat. In der Abwandlung eines (von Heidegger ausführlich interpretierten) Ausspruchs von Nietzsche über das Verhältnis zwi­ schen Kunst und ›Wahrheit‹ kann man dem späteren Heidegger zum Vorwurf machen, ihm sei die Kunst mehr wert als die Philosophie. Das Spätwerk erscheint vielen so, als ob er selber meine, seine Arbeit müsse seit der »Kehre« nicht wie Wissenschaft, sondern wie Kunst rezipiert werden. Erhart Kästner, der Bewunderer der Werke von Paul Klee und von Max Ernst, der Interpret der Landschaft und der Menschen Griechenlands, scheint diesen Verdacht zu bestätigen, wenn er in einer ›Rede bei der Herausgabe des Buches von Martin Heidegger und Eduardo Chillida: Die Kunst und der Raum. Galerie im Erker in Sankt Gallen am 12. Oktober 1969‹ erklärt: »Es war ein unalltäglicher Plan der Galerie 96 Erstveröffentlichung: Erinnerung an Martin Heidegger, hg. v. Günther Neske, Neske: Pfullingen 1977, S. 131–148.

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im Erker, Heidegger auf Solnhofener Stein schreiben zu lassen, auf den sonst Künstler zeichnen, und ihn mit einem so großen, so ener­ gischen Former wie Eduardo Chillida zusammenzubringen, so daß man daraufkommen muß, wenn man nicht schon vorher darauf kam, Heidegger zu lesen wie Dichtung.«97 Heideggers nicht ästhetisches Interesse an der Kunst und des­ sen Zusammenhang mit seiner Abkehr von der Verbindlichkeit der Wissenschaft führt, wenn es nicht selber in die Unverbindlichkeit ästhetischen Beliebens verbannt wird, vor die Frage, wie hier ›Kunst‹ gemeint ist. Eine Antwort darauf gibt das Ganze der St. Galler Schrift. Die Verbindung der ›Kunst‹ mit dem ›Raum‹ zielt nicht auf einen Beitrag zu der kunsttheoretischen oder kunsthistorischen Frage nach dem Raum ›in der Kunst‹ (wie beispielsweise eine Schrift Hans Jantzens von 1958 ›Über den kunstgeschichtlichen Raumbegriff‹98), sondern auf das philosophische Interesse am Raum überhaupt. ›Die Kunst und der Raum‹ – das ist ein Bezug, dem in dieser kurzen Erörterung so nachgegangen wird, daß er dem Bezug, von dem wir ausgehen, von dem unser Zeitalter ausgeht: dem wissenschaftlichen Begriff des Rau­ mes, konfrontiert wird. Der Titel ›Die Kunst und der Raum‹ versieht den von uns, den seit Descartes und Galilei als fraglos angesetzten Raum der Wissenschaft mit einem Fragezeichen. Er beschäftigt sich nicht mit der kunstimmanenten Frage, was der Plastik, der Malerei, der Architektur, was den Griechen, den Römern, der Gotik, dem Barock für Raumstrukturen zukommen, sondern mit der grundsätz­ lichen Frage, was das Phänomen von Kunst für eine Einsicht in die Eigenart von Raum und Räumlichkeit schlechthin gewährt. Auch das Gewicht der Frage ist nicht ästhetischer oder kunst­ kritischer Art. Es handelt sich bei ihr um eine Zuspitzung der philosophischen Frage: was denn der Name ›seiend‹ sagt. Dem gali­ leisch-cartesianischen Raumbegriff der neuzeitlichen Wissenschaft korrespondiert der wissenschaftliche Begriff von ›Wirklichkeit‹ als Erhard Kästner, ›Rede bei der Hinausgabe des Buches von Martin Heidegger und Eduardo Chillida: Die Kunst und der Raum. Galerie im Erker in Sankt Gallen am 12. Oktober 1969‹, in: Offener Brief an die Königin von Griechenland, st 106, Suhr­ kamp: Frankfurt a. M. 1973, S. 45f. Martin Heidegger, Die Kunst und der Raum/L’art et l’espace (Textausgabe) Erker-Ver­ lag: St. Gallen 1969. 98 Erstmals erschienen: Sitzungsberichte der Bayrischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Abteilung, Jahrgang 1938, Heft 5.

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Gegenständlichkeit. Eine (aus dem Wintersemester 1935/36 stam­ mende) Vorlesung über das Werk, in dem Heidegger diese, also unsere, die neuzeitliche, die von Europa ausgehend jetzt zu ›globaler‹ Ausbreitung gelangende, Konzeption von Räumlichkeit und Wirk­ lichkeit maßgeblich erörtert sieht, die ›Kritik der reinen Vernunft‹, hat er mit dem Titel versehen: ›Die Frage nach dem Ding‹. Die späte Schrift ›Die Kunst und der Raum‹ ist eine der Überlegungen, in denen Heidegger jener uns bestimmenden und von uns immer schon fraglos vorausgesetzten Konzeption von ›Sein‹ und ›Seiendem‹, von ›Raum‹ und ›Ding‹ seine Frage nach dem Ding entgegenstellt. ›Die Kunst‹ und ›die Wissenschaft‹ – das sind hier also nicht die Namen eines Kommunikationssystems, sondern Zeichen zweier sich wechselweise ausschließender Weltbezüge. Der Raum der Wissen­ schaft ist nicht der der Kunst. Aber sowohl der Raum der Wissenschaft als auch der der Kunst bezeichnen epochale Daseinsweisen. In einer Weltepoche, die – vorbereitet durch den Gedanken der zeitlosen Anwesenheit in Platos Idee und die römischen Begriffe actus und factum – durch das mathematische Prinzip des gleichförmig-unend­ lichen Raums der Objektivität, also der ›Umwelt‹ von Energie und Information, geprägt ist, ist der Raum der Kunst die Alternative eines anderen Weltbezuges. Eine griechische Skulptur oder eine moderne Plastik wie etwa die des Basken Chillida unterscheiden sich dadurch von der Raumer­ fassung der Neuzeit, daß sie selber Raum eröffnen und daß der von ihnen ›eingeräumte‹ Raum nicht, wie unser Raum der ›Wirklichkeit‹, gleichförmig und gleichwertig und die Sinne transzendierend ist, sondern Höhe und Tiefe, Nähe und Ferne, Kommen und Gehen auseinanderhaltend und nur im Sehen und Hören des Menschen sich ›bildend‹ ist. Der Raum der Kunst ist Topos, Ortschaft. Dieser Verfassung von Raum als ›Räumen‹, als Ortgewähren nachzudenken, ist ein Kennzeichen von Heideggers Denken im Gan­ zen. Die geschichtliche, die weltgeschichtliche Tragweite der – schon in der Descartes-Kritik in ›Sein und Zeit‹ entwickelten – Vermutung, daß damit ein Gegenpol zum Grundzug der neuzeitlich-europäischen Wirklichkeitstradition beschritten ist, wird ausdrücklich erst bedacht seit jener ›Kehre‹, die mit der genannten Kant-Vorlesung vom Win­ tersemester 1935/36 (und der Beschäftigung mit der Wendung der griechischen Welterfahrung zwischen dem 5. und dem 4. Jahrhun­ dert in der Vorlesung ›Was ist Metaphysik‹ vom Sommersemester 1935) beginnt. Ein Signum dieser ›Kehre‹, dieser Erweiterung des

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Geschichtsdenkens Heideggers von einer bloßen ›Destruktion‹ der Überlieferung (wie etwa in dem ersten Kantbuch ›Kant und das Problem der Metaphysik‹ von 1929) zu einer ausdrücklichen Konfron­ tation und damit überhaupt erst einer eigenen Epochen-Analyse ist der Vortrag mit dem Titel ›Der Ursprung des Kunstwerkes‹. Es steht damit ja nicht so, daß Heidegger unversehens angefan­ gen hätte, sich auch für Kunst zu interessieren, sondern so, daß er an Phänomenen wie dem griechischen Tempel, wie Bildern aus der letzten Schaffenszeit van Goghs die Eigenart und die Bedeutung des Erdbezuges für das Ganze des menschlichen ›Wohnens‹ erkannte, – woran in ›Sein und Zeit‹ noch nicht gedacht war. Was damit, seit etwa 1935, begonnen hat, das findet innerhalb von Heideggers Denken einen gewissen Abschluß in der kleinen Schrift ›Die Kunst und der Raum‹, die er in den Tagen seines 80. Geburtstags in St. Gallen, in der Verbindung mit Chillida »auf Stein« schrieb. Die sachliche Nähe, die man in dieser handwerklichen Verbin­ dung symbolisiert sehen kann, nannte Erhart Kästner in dem ersten Satz seiner Rede bei der »Hinausgabe« des Buches. »Der Philosoph und der Künstler, Bedenker des Raumes der Eine, und der Andere Bedenker des Raumes auch, und Beide auf den Blättern eines Buches vereint.« (S. 45) »Heidegger zu lesen wie Dichtung« – das muß dann nicht heißen die Verbindlichkeit der Wirklichkeit und ihrer Analysen zur Unver­ bindlichkeit poetischer Fiktionen (oder ›mystischer‹ Konstruktionen) zu verflüchtigen, sondern kann auch heißen: Heidegger, den späteren Heidegger, so zu lesen, wie man die Ägineten in München oder den Innenraum einer gotischen Kathedrale oder auch ein Bild des Mont Sainte-Victoire von Cézanne sehen müßte, um aufzunehmen, um anzunehmen, was da jeweils sichtbar ist. Das hat nichts mit einem solchen ›Spiel‹ von Kunst zu tun, das von der Schwere der Arbeit entlastet. Es ist nur in der Weise Spiel, wie jedes Opfer Spiel ist: Befreiung – nicht von Lasten, sondern von Fesseln. Bei einem Besuch in Freiburg während des Anfangs meiner Tübinger Studienzeit (zu dem der Bericht über eine Tübinger Gastvorlesung von Carl Friedrich von Weizsäcker im Wintersemester 1950/51 über ›Die Geschichte des Raumbegriffs‹ einen Anstoß gegeben hatte – Heidegger arbeitete in den Tagen des Besuches, im August 1951, an dem Vortrag ›Bauen Wohnen Denken‹) sprach Heidegger von Hans

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Jantzen. Die Ergiebigkeit der Gespräche mit Hans Jantzen sei ihm unter allen seinen persönlichen Verbindungen im Umkreis seiner Arbeit etwas Einzigartiges. Heideggers Worte beim Begräbnis des Freundes am 20. Februar 1967, Erinnerungen an zwei der letzten Gespräche in der fast fünfzigjährigen Freundschaft, sind dafür ein Zeugnis.99 – Heidegger gab mir damals die eben erschienene Samm­ lung von Aufsätzen Jantzens zu lesen, die nach dem ersten, 1927, im Erscheinungsjahr von ›Sein und Zeit‹, in Freiburg gehaltenen Vortrag betitelt ist: ›Über den gotischen Kirchenraum‹. Und er verwies den Studenten, von dem er wußte, daß er Schüler des Archäologen Bern­ hard Schweitzer war, auf Jantzens erstes größeres Buch ›Deutsche Bildhauer des 13. Jahrhunderts‹ von 1925. Die Arbeit von Hans Jantzen ist alles andere als unwissen­ schaftlich. Aber sie unterscheidet sich dadurch von einem Großteil wissenschaftlicher Kunstgeschichtsschreibung, daß sie ihre Aufgabe nicht darin sieht, die Phänomene der Kunst der wissenschaftlichen Methode anzupassen (sie zu Objekten von Stilanalysen, Entwick­ lungsuntersuchungen, Zeichendeutungen oder Hinterfragungsproze­ duren zu machen). Dafür ist der – später an den drei klassischen Kathedralen in Frankreich und in einer Übersicht über das Ganze der gotischen Baukunst in Europa erweiterte und ergänzte – Vortrag über den gotischen Kirchenraum ein Paradigma.100 Jantzen untersucht nicht lediglich, was die Bauformen oder Bildfiguren von Chartres oder Reims – theologisch oder soziologisch – bedeuten, oder wie sie stilgeschichtlich einzuordnen sind. Er fragt primär: Wie muß hier gesehen werden, wie müssen wir uns hier verhalten, damit das, was den registrier- und fixierbaren Fakten ihren Daseinssinn verleiht, zur Sprache kommt. Indem er den Leser darüber aufklärt, was ein gotischer Kirchen­ raum überhaupt ist, was hier als ›Raum‹ erfahrbar wird, vollzieht er mit ihm eine Änderung der eigenen (im modernen Subjekt-ObjektSchema festgemachten) ›Einstellung‹. An die Freundschaft mit Hans Jantzen wird man denken dürfen, wenn Heidegger nach dem Besuch der von Corbusier erbauten Mari­ Die Worte am Grab von Hans Jantzen: in der von der Universitätsbuchhandlung Eberhard Albert, Freiburg i. Br., herausgegebenen Sammlung ›Erinnerung an Hans Jantzen‹ 1967. 100 Hans Jantzen, ›Über den gotischen Kirchenraum‹, in: Ders., Über den gotischen Kirchenraum und andere Aufsätze, Gebr. Mann: Berlin 1951, S. 7–20. 99

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enwallfahrtskirche von Ronchamp im Elsaß sagt, hier sei zum ersten Mal seit der Gotik wieder ein »heiliger Raum«. Das eine der beiden Gespräche mit dem Freund, deren Heidegger an dem Grab gedachte, lag damals drei Jahre zurück: Bemerkungen in der Pause und im Nachklang eines Konzerts mit Streichquintetten Mozarts. Das andere war wenige Tage vor dem Tod des Freundes: »Wir sprachen von Griechenland. Sprechen und Hören waren zwar schon mühsam, ein bloßes Nennen von Namen, aber noch wach.« Sie sprachen von den griechischen Inseln, die Heidegger erst kurz zuvor zum ersten Mal besucht hatte. Der Insel, die zuletzt genannt wird, Delos, geht der Gedanke an Samos voraus: »Der Name unseres gemeinsamen Freundes Ernst Buschor fiel – es gab ein kurzes weitzu­ rückreichendes Erinnern.« Ernst Buschor war über mehrere Jahrzehnte hinweg in fast allen Semesterferien als Ausgräber in Samos. Die Bewohner der Insel (er sang dort mit im Chor der orthodoxen Kirche) sahen ihn als einen der ihren an. (In München war er ein Freund Karl Valentins.) In der Freundschaft mit Buschor verkörpert sich Heideggers Bezug zur Kunst der Griechen.101 Buschor hat, seit den zwanziger Jahren, ein neues Verhältnis zu der ›archaischen‹ Zeit Griechenlands geprägt: Aus dem »noch nicht« ist (mit einer Formulierung Frank Brommers) ein »nicht mehr« geworden. Zugleich hat Buschor einen neuen Begriff der griechischen ›Klassik‹ geprägt (der freilich in der allgemeinen und in der philosophischen Bildung noch immer kaum bekannt geworden ist). Er hat die ›Klassik‹ des Zeustempels von Olympia und des Parthenon, also der Zeit des Aischylos und des Sophokles, von der Verwechslung mit der Spätklassik (also der Kunst aus der Zeit Platos) befreit, indem er die strukturelle Verwandtschaft, in der das 5. Jahrhundert mit dem 6. Jahrhundert steht, von der stilgeschicht­ lichen Ähnlichkeit abgehoben hat, in der das 5. Jahrhundert mit dem 4. Jahrhundert steht. Zwischen der Plastik der Perikleszeit und derjenigen aus der Zeit Platos hat Buschor den Unterschied zwischen »Daseinsform« und »Erscheinungsform« herausgestellt. Bernhard Schweitzer (der mit Buschor seit gemeinsamer Grabungsarbeit in der Studienzeit befreundet gewesen war) erklärt den gleichen Wandel als einen Unterschied von Raumbezügen: Eine Skulptur der Parthenon­ Ernst Buschor (1886–1961): Von griechischer Kunst: Ausgewählte Schriften, Piper. München 1958.

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zeit kreist in ihrem eigenen, von ihr selbst hervorgerufenen Raum. Seit dem 4. Jahrhundert beginnt die Plastik sich nach einer Optik des Betrachters auszurichten. Sie ist auf dessen Raum, auf dessen Perspektive hin bezogen. Dieser Unterschied von Weltbezügen zwi­ schen früher und später ›Klassik‹ ist größer als der zwischen ›Archaik‹ und ›Klassik‹. Von einem Zusammenhang zwischen dem, was ›Kunst‹ ihrem Wesen nach ist, und der griechischen Geschichtserfahrung sprach Heidegger in einem (noch unveröffentlichten) Vortrag, den er im April 1967 (wenige Wochen vor dem Beginn der siebenjährigen Diktatur) unter dem Titel ›Die Herkunft der Kunst und die Zukunft des Denkens‹ in Athen gehalten hat. Die Göttin Athene, hier ange­ sprochen als Verkörperung des Techne-Charakters der Kunst, ver­ weist als die »ratend-helfende«, als die »strahlend-schimmernde« (der Eule und dem Ölbaum zugetan) und schließlich als die den Grenzstein schützende Gottheit auf die Zugehörigkeit der Techne (des den Menschen brauchenden Hervorgehens) zur Physis (dem aus sich selbst heraus Aufgehen). In der Zugehörigkeit zur Physis beruht der Unterschied der Techne zu der (sich selbst als Naturbeherrschung deutenden) Technik, der Unterschied also zwischen der Freiheit des Bauens und der Verschlossenheit des Steuerns. Heideggers Aufsatz ›Bauen Wohnen Denken‹, der von dem tektoni­ schen und nicht medialen Weltbezug des Menschen handelt, liegt in einer 1971 in New York unter dem Titel ›Poetry, Language, Thought‹ erschienenen Sammlung von Schriften aus dem späteren Werk Heideggers auch in englischer Sprache vor. Die Sammlung, die auch den ›Ding‹-Vortrag und den ›Kunstwerk‹-Aufsatz enthält, ist in dem Freundeskreis der englischen Bildhauer William Tucker und Phillip King aufgenommen worden als eine überraschende Bestä­ tigung ihrer eigenen Konzeption von Plastik, die durch die drei Momente: Thingness (Dinghaftigkeit im Unterschied zu jeder Art von Verbildlichung), Earthbound (Erdlastigkeit im Unterschied zu vorstellbarer Gegenständlichkeit) und Worldliness (Welthaftigkeit im Unterschied zu bloßer Selbstverwirklichung) geprägt ist. In Heideggers Gedanken des »Streites« zwischen »Welt« und »Erde« in dem Aufsatz ›Der Ursprung des Kunstwerkes‹ sah Tucker, der bis 1975 Lehrer an der St Martin’s School of Art in London war und jetzt, wieder mit einem Lehrauftrag, in Toronto ist, sich in einem

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Grundzug seiner eigenen Arbeit angesprochen, der Polarität von »Schwerkraft« und »Licht« als eines plastischen Gestaltungsprinzips. In einer Londoner Vortragsreihe über die Geschichte der moder­ nen Plastik (What Sculpture Is) vom September und Oktober 1974, in der Tucker die Schlüsselrolle Brancusis herausarbeitet, sagt er im Gedanken an den ›Kunstwerk‹-Aufsatz: »Martin Heidegger, tracing the meaning of the word ›truth‹, notes the derivation of the Greek word we translate as ›truth‹, aletheia. This comes from the prefix a-, meaning ›not‹, and lethe, meaning ›darkness‹, ›hiddenness‹. So truth is literally, what is discovered, disclosed, revealed, brought, even torn from darkness into light. It is then not something constantly obvious and apparent, but requires work, effort, from those who want it. Nor is it absolute and permanent, otherwise there would be no need to seek it more than once. ›The establishing of truth in the work is the bringing forth of a being such as never was before and will never come to be again‹, writes Heidegger. Each time truth is revealed it is different, ›in the light of‹ the work by which it is revealed. The comparison between what I take to be the central core of meaning in the word ›sculpture‹ and Heidegger’s conception of ›truth‹ seems to me strangely compelling.«102 Im Herbst 1964 machte die Galerie im Erker in St. Gallen eine Ausstellung des Bildhauers Bernhard Heiliger, mit dem Heidegger seit dieser Zeit wiederholt in St. Gallen zusammentraf. Auf einen Besuch in der Berliner Werkstatt Heiligers geht ein Brief Heideggers an den Bildhauer zurück, den der Katalog der ›Erker‹-Ausstellung reproduziert. Heidegger schreibt darin: »Sie zeigen das Aufgehen der Erde in den uns noch erfüllten irdischen Himmeln. Ihre Werke stellen nichts mehr dar – sie stellen uns in den Aufenthalt im Zwischen von Erde und Himmel – die ins befreite Freie wachsende Bewegung selber und gerade sie wird offenbar.« In diesem kleinen Katalog der ›Erker‹-Galerie folgt die Repro­ duktion des Briefes von Heidegger einem Aufsatz über das Werk

William Tucker (geb. 1935): ›What sculpture is‹, in: Studio International of Modern Art, 188, 1974, Nr. 972, S. 234; (s. auch: Tucker, The Language of Sculpture, Thames and Hudson. London 1974). 102

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Bernhard Heiligers von Georg Schmidt.103 Im Sommer 1957, zur Zeit des 500-Jahr-Jubiläums der Freiburger Universität, hielt Heidegger in vierzehntägigem Abstand eine Vorlesung über die ›Grundsätze des Denkens‹. Von Pfullingen aus konnte ich damals Günther Neske bei Besuchen dieser Vorlesungen nach Freiburg begleiten. Ein Kreis der Hörer versammelte sich danach jeweils mit Heidegger in einem Freiburger Weinlokal. Unter ihnen war, zu meiner Freude jedesmal – mit anderen Besuchern aus Basel und Zürich – Georg Schmidt. Als Direktor der Öffentlichen Kunstsammlungen Basels hatte er seit dem Ende der dreißiger Jahre eines der bedeutendsten Museen moderner Kunst aufgebaut, darunter eine nach Vollständigkeit und Rang in Europa einzigartige Sammlung von Werken des Kubismus. In seiner Verbindung von Unbestechlichkeit des Urteils, pädagogischem Eros und sozialen Gegenwartserfahrungen seit dem Ende des ersten Welt­ krieges, die ihm die Frage nach den »außerkünstlerischen Antriebs­ kräften« in der Kunst zu einer Lebensfrage werden ließen, war Georg Schmidt zu einer ebenso leisen wie unersetzlichen Orientierungskraft in der Erkenntnis dessen, was moderne Kunst ist, geworden. Daß er, der in der Nazizeit einen großen Teil der als ›entartet‹ verfemten Kunst aus Deutschland in die Schweiz und für die Öffentlichkeit gerettet hatte, keiner Mode folgte, um ein Semester lang von Basel nach Freiburg zu kommen, war anzunehmen. Und er war, wie er berichtete, auch erst kurz zuvor von der Reserve gegen Heidegger, die er mit seinen Freunden geteilt hatte, abgekommen. 1956 hatte er die Hebel-Rede, die Heidegger in Lörrach hielt, gehört.104 Von ihr war der gebürtige Basler, der einstige Freund Paul Klees, so sehr beeindruckt, daß er seitdem der Überzeugung war, niemand könnte besser die Bedeutung Klees würdigen als Heidegger. Sein Wunsch an Heidegger, er möge eine solche Würdigung schreiben, ist unerfüllt geblieben. Und es läßt sich wohl auch bezwei­ feln, daß er wirklich erfüllbar gewesen wäre. (Immerhin beginnt Heidegger mit einem Hinweis auf Klee und zwei seiner letzten Bilder die Schrift, die in seiner eigenen Spätzeit die Brücke zu dem Anfang seines Denkens schlägt, den Aufsatz ›Zeit und Sein‹ von 1962.) Georg Schmidt (1896–1965), ›Bernhard Heiliger‹, Katalog der Galerie im Erker, Okt./Nov. 1964. – Über Klee: G. Schmidt, Umgang mit Kunst, Walter: Olten und Freiburg i. Br. 1966, S. 211–225. 104 Martin Heidegger, Hebel der Hausfreund, Neske: Pfullingen 1957. (Wortlaut der Rede in Lörrach: Nationalzeitung Basel 20. Mai 1956.). 103

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Unabhängig davon aber lohnt es sich, zu überlegen, wodurch Georg Schmidt die Hebel-Rede Heideggers in eine Verbindung mit dem Maler bringen konnte, in dem er – zusammen mit Picasso und Mondrian – einen der drei »wesentlichen Künstler« unserer Zeit sah. Georg Schmidt, der 1940 die Rede zur Gedächtnisfeier nach dem Tode Klees in Bern gehalten hatte, eröffnete 1956, also im gleichen Jahr, wo Heidegger die Hebel-Rede hielt, eine große Klee-Ausstellung in Hamburg mit einem Vortrag über Klee. In diesem Vortrag erläutert er, wie Bilder Klees gesehen werden müssen. Ein Schlüssel dazu ist der Hinweis, daß Klee die Namen seiner Bilder meist erst im letzten Stadium der Bildentstehung konzipierte. Man müsse dement­ sprechend zuerst auf die jeweilige ›Form‹ und erst danach, in einem zweiten Schritt des Sehens, auf den Bild-›Inhalt‹ achten. In seiner Aufzählung der vielerlei ›formalen Themen‹ Klees hebt Schmidt die – ganz besonders ›abstrakt‹ erscheinenden – ›Quadratbilder‹ als die »zugleich simpelsten und sublimsten Geschöpfe« dieser Kunst hervor. Die verschlungenen Linien, sich durchdringenden Flächen und Farben, Körper und Räume, die unendlich reiche Skala der Helldunkel-werte, der Farbklänge, diese »formalen Themen« seien in der Arbeit des Sehens als »das Blut und die Nerven der Kunst Paul Klees« aufzunehmen. »Und vergessen Sie nicht, die Materie des Malgrundes und des Farbauftrags zu beachten, denn Klee ist vor allen anderen der sensibelste, der erfindungsreichste, der liebevollste MalHandwerker.« Diese Kennzeichnung der formalen Dimension der Werke Klees – und nicht etwa die in dem Vortrag später umschriebene des »inhaltlichen« Erfindungsreichtums – beschließt Georg Schmidt mit der Bemerkung: »Denken Sie dabei immer daran, daß auch ein Gedicht nicht vom Prosasinn seiner Worte lebt, sondern von der klanglichen und rhythmischen Stellung Wort neben Wort, das heißt von der Form. Lesen Sie Klees Bilder wie optische Gedichte. Klee ist der dichterischste Maler weit über sein Jahrhundert hinaus.« Klee: der dichterischste Maler – aufgrund der Rhythmik, auf­ grund der Musikalität der malerischen Formung. In seinen eigenen Bauhausvorträgen deutet Klee diesen Grundzug seiner Kunst als die Dichotomie von lehrbarer Formgesetzlichkeit und in dieser Gesetz­ lichkeit ins Spiel gelangender, aber selber nicht mehr lehrbarer Weltfülle: Klees Nachbarschaft und Abgrund zugleich gegenüber allen ›Konstruktivismen‹, in denen die Bauhaus-Schule sich zuweilen auch in eine Bauhaus-Doktrin verkehrte, ähnlich wie die Freiheit Mondrians in der Methode der ›DeStijl‹-Doktrin verloren ist.

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Joh. Peter Hebel ist in seinen alemannischen Gedichten unüber­ setzbar. Aber wer ein Gedicht wie ›Die Wiese‹ hört, der versinkt nicht im Genuß eines meisterhaften Sprachkunstwerks; er sieht dieses Land zwischen Feldberg und Rhein. Er wird (mit Dankesworten Heideggers nach der Verleihung des Hebelpreises durch den damaligen Kultusmi­ nister Storz im Jahre 1960) »nicht nur an die Dinge herangeführt«, sie werden in der Dichtung »transparent« gemacht. Der Mensch gelangt in die ihm, dem Menschen, zugängliche Natur. Und dies in einer Dichtung, die nicht in den alten Mythos zurückfällt, sondern die Zeit anspricht, der sie zugehört. Der Widerstreit zwischen der Natur der Wissenschaft und der Natur, die, wie »die Sonne« oder »den Mond«, wir mit unseren Sinnen wahrnehmen, wird (wie Heidegger an dem ›Rheinischen Hausfreund‹ hervorhebt) von Hebel nicht in einer Märchenwelt verleugnet. Der Widerstreit bricht vielmehr mit dem, was hier Dichtung, was hier ›Kunst‹ ist, überhaupt erst in seiner Zwiespältigkeit auf. Wenn Goethe gesagt hat, Hebel »verbauere« das Universum, dann rühre, sagt Heidegger, dieses hart klingende und dennoch freundlich gemeinte Urteil »an eine Frage, die gerade das spätere Dichten und Denken Goethes unablässig bewegte«. »Was ist es denn, was wir, und erst recht wir heute eines inständigen Fragens würdigen müssen? Es ist jenes Fragwürdige, das sich inzwischen ins Unermeßliche und Undurchschaubare gesteigert hat und unser Zeit­ alter fortreißt, wir wissen nicht wohin. Es ist jenes Fragwürdige, dafür wir heute noch nicht einmal den rechten Namen kennen: daß sich die technisch beherrschbare Natur der Wissenschaft und die natürliche Natur des gewohnten, gleichfalls geschichtlich bestimmten Wohnens des Menschen wie zwei fremde Bezirke gegeneinander absetzen und mit einer ständigen Beschleunigung immer weiter voneinander weg­ rasen. Es ist jenes Fragwürdige, daß die Berechenbarkeit der Natur für den einzigen Schlüssel zum Geheimnis der Welt angesehen wird. Es ist jenes Fragwürdige, daß die berechenbare Natur als die vermeintlich wahre Welt alles Sinnen und Trachten des Menschen an sich reißt und das menschliche Vorstellen zu einem bloß rechnenden Denken verändert und verhärtet. Es ist jenes Fragwürdige, daß die natürliche Natur in das Nichtige eines Phantasiegebildes herabsinkt und nicht einmal mehr die Dichter anspricht. Es ist jenes Fragwürdige, daß die Dichtung selbst keine maßgebende Gestalt der Wahrheit mehr zu sein vermag.«

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Nach Heidegger kann die Dichtung Hebels die Fragwürdigkeit des modernen Naturbezuges erkennbar machen. Zu vermuten ist, daß eine solche Erkenntnis unserer Weltkonstellation uns die Kunst Paul Klees in deren eigenem Weltgewicht erst zureichend ermessen lassen könnte, – die Kunst des Malers, von dessen damals eben begin­ nendem Ruhm Georg Schmidt zum Schluß des Hamburger Vortrags sagt, sie gründe »in der Einfältigkeit und der Vielfältigkeit seiner Formensprache einerseits, in der Herz-Nähe und der Welt-Weite seiner Inhalte andererseits«. An der Feier zu Hebels 200. Geburtstag 1960 in Hausen im Wiesen­ tal nahm Hans Arp teil. In Gesprächen äußerte er mehrfach seine Freude über Heideggers Dankesworte, die sich auf das Ganze der Alemannischen Gedichte Hebels gerichtet hatten. Ähnlich wie in einem ausführlicheren Vortrag über das Gedicht ›Der Sommerabend‹ aus dem gleichen Jahr hob Heidegger auch hier »das Schwingende im Gesang des Gedichtes« hervor.105 Die Nähe Chillidas zu den Gedanken des St. Galler ›Raum‹-Aufsatzes Heideggers ließe sich an seinen Skulpturen erläutern (etwa an dem großen Werk ›Autour du Vide IV‹ von 1968 in Basel, Abb. 29 – s. auch Abb. 30 und 31, ›Lob der Luft‹, 1956, und ›Lob des Horizonts‹, 1990). Sie zeigt sich aber auch an seinen eigenen Äußerungen über seine Arbeit. Drei Momente lassen sich darin unterscheiden: erstens die Betonung der raumöffnenden, raumkonstituierenden Substantialität dieser Skulpturen, die sich – gegenüber dem römisch-neuzeitlichen Begriff der Realität und dessen kategorialer Grundlage, dem carte­ sianisch-wissenschaftlichen Begriff des Raumes als der drei-(oder vier-)dimensionalen Bedingung für Volumina – als Leere darstellt; zweitens die Eigenart des Eingehens auf den Werkstoff, die Unter­ schiede des Erzes zum Stein oder zum Holz (in Chillidas Schmiede­ arbeit taucht etwas von dem urtümlichen Hephaistos-Aspekt der plastischen Kunst auf); und drittens die Musikalität in Chillidas Art von plastischer »Vibration«. An der Mauer von Chillidas Atelier in San Sebastián befindet sich ein spanisches Sprichwort: »Lieber eine Wolke von Vögeln im 105 Den Vortrag von 1960 über das Alemannische Gedicht ›Der Sommerabend‹ von Joh. Peter Hebel veröffentlichte Heidegger unter dem Titel ›Sprache und Heimat‹ in der Festschrift für Carl Jacob Burckhardt; Dauer im Wechsel; 1961.

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Himmel als einen einzigen in der Hand.« (Ein Spruch, der auch über dem Eingang zu dem Pariser Atelier des rumänischen Plastikers Bran­ cusi hätte stehen können.) Wie »formt« man das Fliegen des Vogels? Chillidas Antwort: indem man die Luft »formt«. Der Bildhauer ist »der Architekt der Leere«.106 Gemessen daran, wie Chillida diese These praktiziert, läßt sie sich neben Heideggers These stellen: »Die Sprache ist die Musik der Stille.« Die »Form« ist nicht Wand und Hülle, sondern der »Rhythmus«, in dem das Begrenzende zum Aufschließenden wird. »Bei den meisten meiner Skulpturen alternieren die Positiv- und die Negativformen. Jede ist in gewisser Weise das Gegenstück, die Gegenmelodie zur anderen. Die Basken lieben die Musik. Es ist eine strenge, schwere Musik, sie klingt wie die Begleitung zu alten vergessenen Riten.« »Man muß lange Zeit mit dem Metall, dem Holz umgegangen sein, ... bis man sie »zu einem Gedanken« machen kann, wie ein baskisches Sprichwort sagt. Man muß sich ihrem Charakter anpassen, ihre Reaktionen voraussehen, nicht mehr von ihnen verlangen, als sie gewähren können, sie vorsichtig herausfordern. Dann geben sie mehr, als von ihnen erwartet wird. Inspiration geht von ihnen aus. Die eigenen Pulsschläge teilen sich ihnen unmittelbar mit. Das Eisen hallt wider in einem gleichsam musikalischen Rhythmus, der unsere Ner­ ven mitschwingen läßt; es ertönt unter den Schlägen des Hammers, den Windstößen des Blasebalges; gespannt wie eine Saite, fängt es alle Geräusche ein. In der baskischen Sprache gibt es ein sehr schönes Wort, ein wil­ des Wort, das grollt und heult; es ist eine Art Ruf, ein Rezitativ, das die Hirten aus der Ferne einander zusingen, über die Berge und Ebenen hinweg, ein Wort aus jenen Zeiten, die von den Geräuschen kaum gezähmter Tiere, von den Stimmen des Windes in den Feldschluchten, der Wellen an den Klippen der kantabrischen Küste erfüllt waren – ›irrintzina‹. Klingt das nicht wie Eisen auf dem Amboß? Rauh und scharf, wie ein Büschel hartes Seegras, das sich unter der Peitsche des Windes krümmt und sträubt?« Einige Titel seiner Eisenplastiken: ›Vibration‹, ›Klingende Räume‹, ›Lob des Feuers‹, ›Lob der Luft‹, ›Lob des Eisens‹, ›Bebendes Eisen‹, ›Im Wind‹, ›Windkamm‹, ›Raum des Feuers‹, ›Um die Leere‹.

Eduardo Chillida (geb. 1924), alle Zitate nach Pierre Volboudt, Chillida, Hatje: Stuttgart 1967, S. VII-XII.

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Die Haltung des Künstlers zu seinem Werk vergleicht er der Spirale. »Deshalb habe ich wohl in meinen Skulpturen so oft auf sie zurückgegriffen. Die Spirale ist die geometrische Figur einer Bewe­ gung, die sich nur deshalb von ihrem Ziel zu entfernen scheint, um in ihren Umwegen und Wendungen alle denkbaren Möglichkeiten einer Raumfigur zu umschließen, einer Figur, bei der Leere und Masse, an eine gemeinsame Achse gebunden, einander ablösen. Das erinnert an das Bild des Fluges, den Kreis, den der Vogel über seinem Jagdgebiet zieht. Das meine liegt im Mittelpunkt des Volumens, im Vakuum, in dem sich die Seele des Werkes verdichtet, das unsichtbare Zentrum seiner Entwicklung.« Der »Mittelpunkt des Volumens« – das Zentrum eines Gesche­ hens: damit wird die – außerkünstlerische – Vorstellung von plas­ tischer Gestalt als eines raumerfüllenden, vielleicht auch raumbe­ siegenden ›Volumens‹ aufgegeben. Die Plastik Chillidas, die eigene Erklärung seiner Intentionen unterstreicht die Frage Heideggers: »Kann der physikalisch-technisch entworfene Raum, wie immer auch er sich weiterhin bestimmen mag, als der einzig wahre Raum gelten? Sind, mit ihm verglichen, alle anders gefügten Räume, der künstle­ rische Raum, der Raum des alltäglichen Handelns und Verkehrs, nur subjektiv bedingte Vorformen und Abwandlungen des einen objektiven kosmischen Raumes?« Der Raum, der von Volumen ausfüllbar, von ihnen ein- und ausgrenzbar ist, das ist gerade nicht der Raum der Kunst, sondern der der (neuzeitlichen) Wissenschaft, der von seinem eigenen Anfang an, seit dem Beginn der ›Neuzeit‹, die Raumbeherrschung, die Raum­ überwindung – wie beispielsweise in der Ortsbewegung – zu seinem Telos hatte. Und sein Korrelat, die Dialektik von Selbstbestimmung und Vergegenständlichung, ist jetzt dabei, die ihr von Anfang an schon innewohnende Konsequenz: die Zerstörung der Dinge und damit des menschlichen Welt-Raums, an den Tag zu bringen. Dieser Konstellation gegenüber leistet eine Kunst, die Raum als »Räumen«, als ein Orte fügendes Geschehen ist und die damit – so wie die Plastik Bernhard Heiligers, so wie Chillida oder Arp, so wie in England Tucker und King, so wie zuerst Brancusi und, in anderer Weise, Giacometti – das was Skulptur sein kann, zum ersten Male seit der griechischen Antike und dem hohen Mittelalter in verändertem Bezugsbereich erneuert hat, keinen Widerstand. Aber sie verhilft vielleicht zu einer Distanzierung gegenüber dem für absolut gesetzten

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Raum der Wissenschaft, indem sie ihn in seiner eignen Relativität, in seiner eigenen Ortlosigkeit erfahrbar werden läßt. In der Rede zu dem Buch von Heidegger und Chillida nimmt Erhart Kästner das Erscheinen dieses Buches zum Anlaß für die Frage, was es sei, »das den Künstler und den Schreiber antreibt, Bündnisse zu schließen und dies aller Welt mitzuteilen«.107 Es sei ja nicht gerade von vielen Philosophen bekannt, »daß sie glaubten, daß ihre Wahrheit und die Wahrheit der Künstler vor einen und denselben Wagen gespannt sei«. »Was treibt also den Denker, zu sagen, daß er eher auf der Seite der Kunst steht? Auf welcher Seite will er denn also nicht stehen?« Er will, wie Kästner in dem Schluß der Rede sagt, bei denen stehen, »denen die Welt nicht errechenbar erscheint, vielmehr unberechen­ bar, unvorhergesehen, bei den Künstlern, die [wie Kästner hier von zwei Kunstwegen, die den Zweifel an dem Wirklichkeitsmaßstab der Zeit zum eigenen Thema machten, sagt] in diesem Jahrhundert zwei große Erlebnisse hatten, den Surrealismus und Dada, und beide haben Aufstandscharakter gegen die Diktatur der Weltausrech­ nung, gegen die totale Steuerung, gegen die Abschaffung des Zufalls; beide bekunden: die Welt, bis ins Letzte bewußt gemacht, ausgerech­ net, gesteuert, ausgeforscht und gelenkt, sei nicht, keines Weges, die Heimat der Künstler, die nicht den Wunsch haben, die Dinge unfrei zu machen, sie zu steuern, zu knechten (eine Repression, von der niemand spricht, ein Klassenkampf ohne Anwalt), bei den Künstlern, die sich in der Neuzeit als Unterstimme empfinden, die nicht mehr hoffen dürfen, Oberstimme zu sein, denn die Künstler werden die Welt-Ausrechnung nicht hindern, sie werden sie nicht einmal stören –, auch nicht als Opposition mißzuverstehen sind, denn da würden sie das große Spiel ja nur mitspielen, bei den Künstlern, die, strack entgegen dem Optimismus, der die Welt-Ausrechnung antreibt, vom Verlust abstammen, von der Trauer genährt sind, geborene Auswanderer,

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Erhard Kästner, a. a. O. S. 48.

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bei den Künstlern, deren Handwerk von jeher war, das vermeintlich Durchschaute schwer durchschaubar, das Begriffene unbegreiflich, das Gewohnte ungewohnt, das Oftgesehene wie niegesehen, das Vertraute unvertraut und das Heimische wieder unheimlich zu machen. «108

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Erhard Kästner, a. a. O. S. 49.

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Sprache als ›Überschuß‹109 Gedanken Jacob Burckhardts zum Sprach-Charakter der Künste

Jacob Burckhardts Kolleg Über das Studium der Geschichte (die ›Welt­ geschichtlichen Betrachtungen‹) handelt von der Vielfalt und Zusam­ mengehörigkeit des Ganzen dessen, was Burckhardt unter dem einen Namen »Geschichte« versteht, dem Spiel der drei »Potenzen« von »Staat«, »Religion« und »Cultur«.110 Die Künste werden dabei sowohl in ihrer Zugehörigkeit zur »Cultur« als auch in ihrem spezifischen Verhältnis zum »Staat« wie zur »Religion« erörtert. Die besondere Stellung der Künste innerhalb der Cultur-Potenz skizziert Burckhardt – mit Hervorhebung von Architektur und Poesie – in dem dritten, der Kultur gewidmeten Abschnitt des Eingangskapitels jenes Kollegs, das die drei Potenzen zunächst gesondert vorstellt, um in den folgenden Kapiteln die Vielfalt ihres Zusammenspiels als das Gefüge des Gangs der Geschichte zu umschreiben. Der gut zehn Druckseiten umfassende Abschnitt über »die Cul­ tur« ist in zehn kleine Stücke unterteilt. Das (berühmt gewordene) erste Stück kennzeichnet den Grundzug der Cultur-Potenz als das Ensemble der spontanen »Vermögen« des Menschen, der in der »Cri­ tik« der anderen beiden Potenzen gipfelt. Das letzte Stück skizziert die Vorzüge und Gefahren der Gegenwart als einer »Weltcultur«. Die 109 Erstveröffentlichung: Festschrift Lorenz Dittmann, hg. v. Hans-Caspar Graf von Bothmer, Klaus Güthlein und Rudolf Kuhn,: Peter Lang: Frankfurt am Main u.a. 1994, S. 27–35. Dann in: Maßstäbe der Kunst- und Geschichtsbetrachtung Jacob Burckhardts (Beiträge zu Jacob Burckhardt Bd. 5), Schwabe Beck: Basel München 2006, S. 111– 130. 110 Verwendete Abkürzungen: SG: J. B., Über das Studium der Geschichte, hg. v. Peter Ganz, München 1982 WB: J. B., Weltgeschichtliche Betrachtungen (Text der von Jacob Oeri hg. Erstausgabe 1905), München 1978 GK: ›Griechische Kulturgeschichte‹ I-IV, Bd. 5–8 der Gesammelten Werke in 10 Bänden, Basel 1955–1959. GA: J. B. Gesamtausgabe, 14 Bände, Stuttgart; Basel 1929–1934.

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Sprache als ›Überschuß‹

Gefahr sieht Burckhardt in dem Hervordringen eines der »Elemente« der Cultur, des »Erwerbssinns« nämlich. Dass die Potenz der Cultur selber schon ihr Wesen im Spiel und Streit der einzelnen Elemente untereinander hat, haben die beiden mittleren Stücke (das fünfte und das sechste) hervorgehoben. Ihnen geht als eines von zwei besonders umfangreichen Stücken des ganzen »Cultur«-Abschnitts (mehr als drei Seiten –, alle übrigen haben nur eine halbe bis eine Seite Umfang) die Kennzeichnung »der Künste« (neben den drei bildenden Künsten noch Poesie und Musik) als des »Außerordentlichsten« der Cultur voraus. Die beiden (jeweils eine Seite umfassenden) Stücke zwischen dem das Spezifische der Cultur im Ganzen skizzierenden ersten und dem das »Außerordentliche« der Künste skizzierenden vierten Stück bestehen in einem Hinweis (mit einem Lieblingswort Burckhardts: in einem »Wink«) auf die »an der Spitze aller Cultur« stehenden Spra­ chen (dem zweiten Stück) und, zur Bekräftigung dieses Gedankens, einer Kritik an den gängigen Vorstellungen von der »Reihenfolge« der Culturelemente – vom »Bergbau« über »Handel« und »Gewerbe« bis zu den »Wissenschaften« – (im dritten Stück). Burckhardt referiert dabei zunächst die Reihenfolgentheorie Lasaulx’, aber nur – wie meist bei den Verweisen auf Lasaulx –, um die eigene Ansicht davon abzu­ heben. Schon in diesen beiden Stücken wird – für ein flüchtiges Lesen nur beiläufig, für ein genaueres Lesen entschieden – jeweils vermerkt, welcher Rang den Künsten im Ganzen der Cultur zukommt, – in dem Stück über die Sprachen: an dem Verhältnis der Sprachen zur Dich­ tung, in dem Stück über die Reihenfolge der Culturgebiete: an dem Zusammenhang zwischen Werkzeug und Kunstwerk, zwischen Gebrauchszweck und Schmuck.

1 Der Tauschcharakter der Sprache Das zweite Stück beginnt mit einer Wendung, die an den Schluß des vorausgehenden Eingangspassus unauffällig anklingt. Dieser schließt mit der Bemerkung, das Wachsen und Vergehen der Geschichte folge »höhern, unergründlichen Lebensgesetzen«. Das zweite Stück beginnt, indem es das nach Ansicht des Verfassers Allerhöchste nennt und dabei das Merkmal der Unergründlichkeit, das Signum der

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1 Der Tauschcharakter der Sprache

Erstaunlichkeit an den Anfang stellt: »An der Spitze aller Cultur steht ein geistiges Wunder: die Sprachen ...«111 Burckhardt fährt fort: »... deren Ursprung, unabhängig vom Einzelvolk und seiner Einzelsprache, in der Seele liegt ...« Damit ist gesagt, daß »die Sprachen«, trotz ihrer Pluralität, in der Wesensein­ heit der Menschen verwurzelt sind. Warum Burckhardt »in der Seele« sagt, wird freilich erst im Fortgang klar: »... sonst könnte man über­ haupt keinen Taubstummen zum Sprechen und zum Verständnis des Sprechens bringen. Dieser Unterricht der Taubstummen überhaupt nur erklärlich durch den entgegenkommenden innern Drang der Seele, den Gedanken in Worte zu kleiden.« Daß der »Ursprung der Sprachen« »in der Seele« liegt, heißt demnach: er liegt nicht in der Zunge. Der Ursprung der Sprache liegt nicht dort, wo unsere (europäischen) Namen der Sprache diese ansiedeln und wonach die Theorien der ›Linguistik‹ sie analysieren.112 Daß Menschen das hörende Verstehen und das redende Zuver­ stehengeben lernen können auch ohne die besonderen Organe des Die beiden hier besprochenen Stücke (2 und 3) des Abschnitts ›Die Cultur‹ SG 276, Z. 23–278, Z. 13; WB 42–44) werden ohne Seitenangabe zitiert. – Bei der Unterteilung des Abschnitts ›Die Cultur‹ in 10 Stücke ist, wie WB 44, aber anders als SG 278, Z. 14, der Passus über ›Die Künste‹ von dem vorausgehenden über die ›Reihenfolge in der Cultur‹ abzuheben. 112 Bei Burckhardt ist dieser (anti-›linguistische‹) Akzent des Taubstummenbeispiels im Ganzen seiner Formulierung entschiedener als bei W. v. Humboldt (der – vermittelt durch Lasaulx – Burckhardt zu diesem Hinweis angeregt hat) selber. Bei diesem liegt der Akzent mehr auf der Unabhängigkeit des ›Geistes‹ vom ›Ohr‹, während er bei Burckhardt mehr auf der Unabhängigkeit des Sprachvermögens von der Zunge (von jedwedem Sprachwerkzeug) liegt. Die Notiz bei Lasaulx (S. 51, ed. Thurnher S. 93): »W. Humboldt ...: Die Sprache liegt in der Seele und kann sogar bei widerstrebenden Organen und fehlendem äußeren Sinn hervorgebracht werden. Dies sieht man bei dem Unterricht von Taubstummen, der dadurch möglich wird, daß der innere Drang der Seele, die Gedanken in Worte zu kleiden, demselben entgegenkommt und vermittels erleichternder Anleitung den Mangel ersetzt und die Hindernisse besiegt.« – Der Passus bei W. v. Humboldt, ›Über die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaus‹, n. 37, beginnt: »Daß die Sprache ohne vernommenen Laut möglich bleibt, und insofern ganz innerlich ist, lehrt das Beispiel der Taubstummen« (Werke III, S. 193). Zu den Zitaten hier und im Folgenden: Ernst von Lasaulx: Neuer Versuch einer alten, auf die Wahrheit der Tatsachen gegründeten Philosophie der Geschichte, München 1856. Daneben: die neue Ausgabe von Eugen Thurnherr, Wien 1952. – Wilhelm von Hum­ boldt nach der Ausgabe der ›Werke in 5 Bänden‹, hrsg. v. Andreas Flitner und Klaus Giel, Bd. III, 1963: ›Schriften zur Sprachphilosophie‹. – Lasaulx zitiert W. v. Humboldt in den Anmerkungen 30, 34 und 46 (S. 50, 51 und 56; ed. Thurnherr S. 93, 94 und 97). 111

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Sprache als ›Überschuß‹

›Hörens‹ und ›Redens‹, dies bezeugt nach Burckhardts Ansicht die Dimension der Sprache, die sie zur Spitze aller Cultur macht. Nicht die universale Brauchbarkeit eines Instrumentes, sondern das allseitige Vermögen der Seele, ihr Vermögen nämlich, die ›Seele‹ der Dinge zu erkennen, meint Burckhardt hier, wenn er von »dem inneren Drang der Seele, den Gedanken in Worte zu kleiden«, spricht und in einer Anmerkung noch hinzufügt: »Eigentlich genügt zum Beweise schon das Erlernenkönnen fremder Sprachen überhaupt (bis zum geistigen Gebrauch). So viel Sprachen, so viel Herzen besitzt man.« und dazu der Verweis: »Ennius: tria corda«. Der römische Dichter Quintus Ennius (239–169) hatte die Kenntnis des Lateinischen, des Oskischen und des Griechischen seine drei »Herzen« genannt.113 Daß die Sprachen »unabhängig vom Einzelvolk und seiner Ein­ zelsprache« der »Seele« zugehören, ist kein Einwand gegen das Merk­ mal, das Burckhardt im Fortgang nennt: »Dann aber sind die Sprachen die unmittelbarste, höchstspecifische Offenbarung des Geistes der Völker, das ideale Bild desselben, das dauerhafteste Material, in welches die Völker die Substanz ihres geistigen Lebens niederlegen. Die Worte großer Dichter und Denker.« Die »unmittelbarste« Offenbarung, das heißt: weniger als jedes andere Zeugnis eines »Volkes« (eines Zeitalters, einer ›Kultur‹) bloß vermittelnd (›symbolisierend‹), vielmehr den »Geist«, die »Denkart« eines Zeitraums realisierend. »Höchst specifisch«, das sagt: das Eigene, das die griechische Antike von der römischen Antike, das die Italiener der Renaissance von den Franzosen der gleichen Zeit unter­ scheidet, in dem Höchstmaß dieser Eigenart erkennbar machend. Dieses physiognomische (und nicht nur semantische) Merkmal der Sprachen beruht weniger in den Themen dessen, was gesprochen wird, den übersetzbaren ›Inhalten‹, als darin, wie gesprochen wird, der etymologischen und grammatischen ›Form‹ einer Sprache, also in eben dem, was je und je das Original einer bestimmten Sprache prägt. »Gute Übersetzungen in Ehren – aber den originalen Ausdruck kann keine ersetzen und die Ursprache ist in Wort und Wendung schon selber ein historisches Zeugniß höchsten Ranges« (SG 249, Z. 35–38; WB 13). In der ›Einleitung‹ zur Griechischen Kulturgeschichte erklärt Burckhardt, inwiefern auch große Dichter, poetische Erfin­ Burckhardt wird an diesen Ennius-Ausspruch durch Lasaulx erinnert worden sein (dort S. 49, ed. Thurnher S. 92. – also unmittelbar vor dem Hinweis auf W. v. Hum­ boldt).

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1 Der Tauschcharakter der Sprache

dungen »Quellen« für den Geschichtsschreiber sein können. »Das Lebendige und Bedeutende« liegt hier »oft ganz sichtbarlich nicht in dem Ereignis, welches erzählt wird, sondern in der Art, wie, und in den geistigen Voraussetzungen, unter welchen es erzählt wird. Gleichviel, ob es wirklich geschehen, wir lernen den Hellenen und seinen äußern Gesichtskreis sowohl, als seine innere Denkweise daran kennen« (GK I, 8). In der Sprache »spricht« der Geist der Völker, weil ihr Ursprung in der Seele liegt. Die Seele des Menschen ist in einem wesenhaften Sinn nichts »Racenmäßiges«. Jeder Mensch beginnt in der Sprache zu sprechen, in der er zum Menschen wird. Die Sprache, die er als ›Muttersprache‹ lernt, ist ihm nicht angeboren.114 Was dem Menschen angeboren ist, ist nur das Sprechen-lernen-können überhaupt. Dieses Vermögen ist nicht ein vorprogrammiertes Entwicklungsmuster, son­ dern die Freiheit des Hörenkönnens, die substantielle »Geselligkeit«, die mit der – nur dem Menschen eignen – Liebe zwischen Mutter und Kind beginnt. Diese Liebe, die aus einer Spannung zur Angst entspringt, ist darum für jedes Individuum der Anfang der Sprache, weil sie Erkenntnis ist.115 In dem liebenden Spiel mit der Mutter (die darin selber erst im menschlichen Sinn ›Mutter‹ wird, also durchaus nicht die leibliche Mutter sein muß) lernt das Kind die Sprache eines ›Volkes‹ – und das heißt: es lernt das Wollen, Denken, Sehen und Vermögen (vgl. GK I, 5) einer bestimmten Geschichtstradition. Der Mensch wird ›Mensch‹, indem er – schon als Kleinkind in seinem Verhältnis zur Mutter – in die Zugehörigkeit zur ›Menschheit‹ und das besagt stets: zu einem bestimmten Zeitalter, gelangt. Es ist gerade das genuine Nicht-angeboren-sein der Sprache, was den Menschen zum Menschen, was Geschichte zur Geschichte macht.116 114 S. dazu Adolf Portmann, Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen (3. erweiterte Auflage 1969), besonders die Kapitel III bis VI (über die Bedeutung des ersten Lebensjahres für die spezifisch ›menschliche Daseinsform‹); zur ›Sprache‹: S. 93–96. 115 Dazu Alfred Nitschke, Das verwaiste Kind der Natur. Ärztliche Beobachtungen zur Welt des jungen Menschen, 2. Auflage, Tübingen 1968; Walter F. Otto: ›Das lächelnde Götterkind‹, in: Ders., Das Wort der Antike, Darmstadt 1962, S. 42 – 52. (Erstmals erschienen in: Neue Beiträge deutscher Forschung. Wilhelm Worringer zum 60. Geburts­ tag, Königsberg 1943.). 116 Wann wird man den (ungewollten) Naturalismus, Biologismus unseres ›Identi­ täts‹-Pathos erkennen, die Ahumanität einer Pädagogik, die im Namen der ›Emanzi­ pation‹ das Kind mit dem Bade ausschüttet, nämlich so argumentiert, als ginge es bei einem Menschenkind nicht anders als bei einer Pflanze, einem Tier nur um den

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Sprache als ›Überschuß‹

Wenn die »Seele« des Menschen in seinem Vermögen zum Hören und darin zum Sprechen besteht, dann kann dieser einheitli­ che Wesenszug des Menschen nur in der Vielfalt der ›Völker‹ und ›Kulturen‹, der Regionen und Epochen bestehen. Es gab nicht zuerst ›die Griechen‹, die aus dem Norden kommend sich in der Ägäis (erobernd oder assimilierend) angesiedelt hätten; sondern aus den »Berührungen und Kreuzungen« (SG 181, Z. 7; bei Kaegi VI, 82), aus dem Austausch zwischen ›Einwandernden‹ und ›Einheimischen‹, zwischen dem Alten, auf das die Ankömmlinge trafen, und dem Alten, das sie mitbrachten, ging dieses neue ›Volk‹, diese neue ›Kultur‹ der Hellenen erst hervor. – In einer neuen »Kreuzung«, in der »Berüh­ rung« mit den Griechen, bildete sich in und um Italien die Epoche des römischen Weltreichs. – Im »Tausch« von Römisch-Griechischem, Hebräischem und Nordalpin-›Barbarischem‹ – sei es in Rom und Ravenna, in Byzanz oder in Irland – bildete sich das mittelalterlichchristliche Europa. – Stets entstanden die Epochen, stets geschieht Geschichte als »Bastardtum« (SG 151, Z. 34f.; 152, Z. 12f.; WB 18f.). Darum kann es, wie Burckhardt das in der ständigen pluralen Formulierung voraussetzt, die Sprache immer nur in der Verschieden­ artigkeit »der Sprachen« geben. Die Idee einer Einheitssprache wäre die Negation der Sprache. Dem elegischen Abschnitt zur »heutigen Crisis« (SG 366ff.; WB 140ff.), der das Kapitel Die geschichtlichen Cri­ sen beschließt, fügt Burckhardt bei der letzten Wiederholung dieses Kollegs im März 1873 eine Bemerkung über die »nochmalige außeror­ dentliche Steigerung des Erwerbsinnes« hinzu, wie sie sich »nach dem Kriege von 1870/71« in dem »Schwindel« des »Gründerthums« zeige Schutz des ›Angeborenen‹, das sich, wenn man es nur ›sich selbst‹ überläßt, von aller Fremdbestimmung frei hält, ›aus sich selbst‹ (›autonom‹) entwickelt? Die Organismen sind autonomer als der Mensch, der gerade darum nicht auf ›Selbstbestimmung‹ reduzierbar ist, weil er ein Wesen der ›Gesellschaft‹ ist. Das Wort ›Gesellschaft‹ ist freilich nicht weniger mißverständlich als der Begriff ›Autonomie‹. Es nennt nicht deutlich genug den Wesensunterschied zu den vielerlei Gemeinschaftsformen im Tierund Pflanzenreich. (An den eindrucksvollen Analogien, die die Verhaltensforschung aufzeigt, sind nicht die Analogien und Genesen falsch, sondern nur die Verabsolutie­ rung dieses Faktors, der Glaube, man habe innerhalb des Schemas entweder isolierter ›Geist‹ oder zusammenhängende ›Natur‹ das Wahre an die Stelle des Falschen gesetzt. Der wahre Fehler ist die Beibehaltung dieses alten Schemas.) Burckhardts Name »Geselligkeit« nennt, obwohl er uns viel harmloser, viel beliebiger zu sein scheint, den geschichtlichen Grundzug, den »Gesprächs«-Charakter des friedlichen und feindlichen Miteinanders der Menschen präziser als der naturalistische und anthropologische Begriff ›Gesellschaft‹.

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1 Der Tauschcharakter der Sprache

(SG 374, Z. 21–25; WB 148). Soll jetzt »Alles zum bloßen business werden wie in America?« (SG 375, Z. 9; WB 149). Diese Befürchtung illustriert Burckhardt an einer Äußerung des damaligen Präsidenten der Vereinigten Staaten: »... die neuste Rede Grant’s: Ein Staat und Eine Sprache als das nothwendige Ziel einer rein erwerbenden Welt« (SG 376, Z. 23f.; WB 150). Die beiden Gedanken vom »Ursprung« der Sprache »in der Seele« und von der »Offenbarung des Geistes der Völker« sind von Burckhardt auf die ersten beiden Absätze des Passus über die Sprachen verteilt, wobei er den Inhalt des zweiten Absatzes mit einem vorsich­ tigen »Dann aber ...« dem des ersten nur noch nachzufügen scheint. Bedenkt man jedoch, was Burckhardt in beiden Fällen sagt, dann bemerkt man, daß er – nicht weniger als Wilhelm von Humboldt – ein Ineinander meint. Aus dem gleichen Grund, weshalb der Mensch, wie Humboldt sagt, »durch Sprache Mensch ist« (III, 95), ist diese, wie Burckhardt sagt, »das Material, in welches die Völker die Substanz ihres geistigen Lebens niederlegen«. »Sprache« könnte es weder für einen einzelnen Menschen (einen Robinson von Kindheit an), noch auch für eine homogene ›Menschheit‹ geben. (Und es ist wohl kein Zufall, daß diese beiden Utopien – des autonomen Individuums wie des homogenen Kollektivs – zur gleichen Zeit entstanden.) Die Auszeichnung der Sprachen, »die unmittelbarste, höchstspe­ zifische Offenbarung des Geistes der Völker« zu sein, gründet darin, daß sie die »Substanz ihres geistigen Lebens« fassen. Der Superlativ »höchstspezifische Offenbarung« ist keine bloße Steigerung der Quantität, sondern eine neue Qualität. Dieses höchste Zeugnis einer Epoche ist zugleich auch Epochen prägend. »Enorme Rückwirkung der einmal vorhandenen Sprachen auf die Geistesge­ schichte der einzelnen Völker.« Diese letzte Notiz des Passus über die Sprachen nennt den wechselseitigen Zusammenhang von Sprache und Welt, mit dem sich die Forschungen Wilhelm von Humboldts über das Verhältnis von »Weltansicht« und Sprachform in der Neuen Welt und im Übergangs­ bereich zwischen Indien und Ozeanien beschäftigten. Bei Burckhardt wie bei Humboldt wird dieser substantielle Weltbezug der Sprachen nicht durch den Tatbestand der Lernbarkeit von fremden Sprachen beeinträchtigt. Zwar ist in jedem Fall das Sprechen ein spezifisches Sprechen und damit auch das Denken ein spezifisches Denken. Den­ ken, Sprechen, Leben sind nicht homogenisierbar. Aber Sprechenkönnen heißt ja – im Unterschied zu allem Informieren, das kein

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Sprache als ›Überschuß‹

Wesenszug des Menschen ist – zu allererst: Hören-können.117 Jede Sprache, auch jede ›Muttersprache‹, spielt sich schon als »Tausch« ab. Sprache ist stets ein Sichkreuzen, Sichberühren. Das Lernenkönnen fremder Sprachen widerlegt so wenig die Ortsbezogenheit einer jeden Sprache (im Unterschied zu allen mißverständlicherweise ›Sprache‹ genannten Informationssystemen), daß die wesenhafte Erweiterung (im Erlernen fremder Sprachen) aus der wesenhaften Umgrenzung (einer ›Muttersprache‹) hervorgeht. Die Sprachgestalt der »Seele« hat aus dem gleichen Grund, weshalb sie zeit- und raumbezogen, weshalb sie ›orientiert‹ ist, die Fähigkeit zur Wanderung. »So viel Sprachen, so viel Herzen besitzt man.«

2 Der Reichtum des Anfangs Ein solches »Herz« kann auch die Kunst sein. In der Eröffnungsstunde der ›Kunstgeschichtlichen Vorlesungen‹ im Mai 1874 nimmt Burck­ hardt den Anspruch des Ennius von den »tria corda« – drei Sprachen: drei Herzen – wieder auf. »Wenn Ennius schon von seinen drei Spra­ chen (lateinisch, griechisch, oskisch) meinte, er besitze tria corda, so wird der Kundige an der Kunst noch ein mächtiges cor mehr besitzen.« Die Kunst – oder auch eine der Künste – gleicht einer Sprache. Die Aneignung (das »Kundigwerden«) von Musik, von Dichtung, von Architektur, von griechischer Plastik, von gotischen Kathedralen, von Bauwerken der italienischen Renaissance, Kompositionen Mozarts, der Divina Commedia, des Westöstlichen Divan gleicht dem Erlernen, dem »geistigen Gebrauch« einer fremden Sprache. Diese Ähnlichkeit ist aber mehr als ein Gleichnis. Denn die Sprachen sind selber schon »Kunst«, nämlich: »Dichtung«. Burckhardt stellt zwar zunächst dem Dichten das Denken an die Seite. Die Sprachen: das »Material«, »in welches die Völker die Sub­ stanz ihres geistigen Lebens niederlegen. Die Worte großer Dichter und Denker.« Aber die Erläuterungen dieser Notiz (in den folgenden Absätzen des Passus) lassen keinen Zweifel, daß Burckhardt mit diesem Gedanken an Sophokles und Plato, an Goethe und Kant dasjenige Schöpfen aus den Quellen im Sinn hat, das die Arbeit Dazu Walter F. Otto, Die Musen und der göttliche Ursprung des Singens und Sagens (erstmals 1954); Martin Heidegger, Unterwegs zur Sprache (erstmals 1959). 117

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2 Der Reichtum des Anfangs

großen Dichtens und Denkens mit dem anfänglichen dichterischen Reichtum der Sprache verbindet. Burckhardt verweist zunächst auf die beiden Wege sprachwissen­ schaftlichen »Studiums«. Man verfolgt einerseits das eigene Denken der Sprachen: »nach den ursprünglichen Grundbegriffen der Wörter – radices (etymologisch mit Hülfe der vergleichenden Sprachfor­ schung)«, andererseits ihr eigenes Dichten: »nach der grammatischen und syntaktischen Ausbreitung hin, von der Wurzel ausgehend, die man durch Verbum, Substantiv, Adjectiv und deren endlose Flexio­ nen verfolgen mag.« Dieser Bemerkung fügt Burckhardt in einem neuen Absatz die geschichtliche Beobachtung hinzu: »Im Ganzen die Sprachen je früher desto reicher; die hohe Geistescultur mit ihren Meisterwerken tritt erst ein wenn die Sprache schon im Abblühen ist.« »Je früher desto reicher«: Das Phänomen, auf das Burckhardt damit abzielt, erläutern die beiden nächsten Absätze: »Die Sprache muß am Anfang ein höchst anmuthiges Spiel in ihrem Aufblühen gehabt haben. Der große Flexionsreichthum muß schon vorhanden gewesen sein spätestens zugleich mit dem sachlichen Sprachschatz, ja schon früher? Man hätte schon alles Mögliche sagen können als man nur erst wenig zu sagen hatte? Alle Organe scheinen feiner gewesen zu sein, auch bei Griechen und Germanen das Ohr. Erst das rauhe geschichtliche Leben und die Überwältigung der Sprache durch die Sachen, durch den Gebrauch, stumpften sie ab. Das Werkzeug in seiner Vollkommenheit muß dagewesen sein schon vor dem Gebrau­ che.«

Das Gewicht dieser Bemerkungen über den Reichtum des Anfangs der Sprachen liegt in ihrer ersten Hälfte. Bevor wir darauf eingehen, ein Hinweis auf die zweite Hälfte: über die Abstumpfung im »Gebrauch«. Der Sachverhalt, den Burckhardt hier im Auge hat, ließe sich im Gedanken an Burckhardts eigene Zeit exemplarisch durch die erste der ›Unzeitgemäßen Betrachtungen‹ Nietzsches demonstrieren: ›David Strauss. Der Bekenner und Schriftsteller‹, die 1873 entstanden und erschienen ist, – besonders die beiden letzten Abschnitte über den »heutigen deutschen Allerweltsstil« und die »Sammlung von Stilproben« dieses damaligen Kultur-›Bestsellers‹ mit dem Titel ›Der alte und der neue Glaube‹. Ähnliches zeigen die öffentlichen Basler Vorträge Nietzsches ›Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten‹, deren Grundlage (im zweiten dieser Vorträge) Nietzsches Kritik am Sprachverderb des Deutsch-Unterrichts an den höheren Schulen ist. Burckhardt war von einigen Stellen dieser Vorträge (nach einem Brief

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Sprache als ›Überschuß‹

vom 21. April 1872 an Arnold von Salis) entzückt. Und wir brauchen nur an die Zeugnisse der ›Sprache in der verwalteten Welt‹ zu denken, an die Entsprachlichung unseres Sprechens im Zeichen der Informa­ tion, die Verdunkelung der Sprache im Zeichen der ›Rationalisierung‹ in den Schulen, die Asphaltierung der gesprochenen Sprache nach den Gußformen des ›Textes‹ (›und/oder‹, ›Zitat Ende‹), um eine Tendenz zu bemerken, die im Bereich der deutschen Sprache die Dichter schon seit dem 18. Jahrhundert zu permanenter Opposition gegen die Sprachgewohnheiten zwingt. Beidemale, von der großen Dichtung gehütet, im Andrang »der Sachen« verschlossen, in dem einen Fall das Element, das zum Klingen gebracht wird, im anderen Fall ein Medium, das zum Verständnis benutzt wird, – beidemale ist die Sprache etwas Vorgegebenes. Wenn Burckhardt sie nun unter diesem Gesichtspunkt »Werkzeug« nennt, dann wird sein Abstand von jedem funktionalen Sprachbe­ griff schon daran erkennbar, daß das »Werkzeug« nicht für den Gebrauch erzeugt wird, sondern dieser die anfängliche »Vollkommen­ heit« eher »abstumpft«. Sie muß in einer anderen Dimension als der des Gebrauchs, als der des ›Alltags‹ und des ›Umgangs‹ schon »aufgeblüht« sein, um im Nachhinein auch gebraucht und verbraucht werden zu können. Diese Anfangsdimension bezeugt der »große Flexionsreichtum«, der überall dort, wo wir frühere mit späteren Stadien einer Sprache vergleichen können, die früheren Stadien auszeichnet. Zu Burck­ hardts Zeit (und von Lasaulx mit besonderem Nachdruck aufgenom­ men) begannen solche Vergleiche in der ›indogermanischen‹ Sprach­ forschung. In jüngerer Zeit ist auch das Selbstverständnis von Sprache in den früheren Stadien dieses Sprachkreises bekannt geworden. Sprechen hieß: Rühmen. Und dieses hat primär die Form des Gesangs, weil nur so das Rätselhafte der ›Wahrheit‹ erscheinen kann.118 Das Rühmen (der Wortstamm des indogermanischen Sprach­ bereichs ist uns noch im griechischen κλέος vertraut) erweist sich als das Grundmotiv der Sprache. Sie ist von Haus aus Dichtung, weil der Antrieb zum Sprechen das Zu-Rühmende ist. Nicht die Aussage von Absichten, sondern die Aufnahme von Einbrüchen Dazu Paul Thieme, ›Bráhman‹, in: Zeitschrift der deutschen morgenländischen Gesellschaft 102, NF, 27, 1952, S. 91–129; Rüdiger Schmitt, Dichtung und Dichter­ sprache in indogermanischer Zeit, Wiesbaden, 1967. (S. auch R. Schmitt in der ›Ein­ führung‹ zu der von ihm hrsg. Sammlung Indogermanische Dichtersprache, Darmstadt, 1968, S. 7). 118

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2 Der Reichtum des Anfangs

ist die ›Wurzel‹ der Sprache. Für uns bezeugt das Alte Testament diesen genuinen ›Anfangs‹-Zug des Sprechers: nicht Informationen, sondern Zuspruch, Antwort, Dank, Gebet; – und Gebet nicht zuerst als Bittgebet, sondern Rühmung des Rühmlichen in Klage und Freude. Auch hier fehlt es nicht an Zeugnissen, in denen sich die Sprache selbst als ›Dichtung‹ versteht, als ›Preislied‹, als ›Tanz‹, als Erwiderung der Schönheit des Geschaffenen, in der sich der Segen des Schaffenden bekundet – und dies durchaus im Zusammenhang mit den Erfah­ rungen des göttlichen Zorns, den Ausbrüchen der menschlichen Ver­ zweiflung, im Unterschied nur zu jeder Art von neutraler ›Mitteilung‹. Der Ton des Sprechens ist darum nicht das durch die Schrift ersetzbare, in der inneren Vorstellung tilgbare Mittel einer Zeichen­ übertragung, sondern das Element, in dem sich das Gesagte selbst vollzieht. »Die Sprache muß am Anfang ein höchst anmuthiges Spiel in ihrem Aufblühen gehabt haben ... Alle Organe scheinen feiner gewesen zu sein, auch bei Griechen und Germanen das Ohr.« Die Sensibilität der Griechen für den Klang des Sprechens, für den Grundzug also der Sprache, den sie selber ἡ μουσική genannt haben, hebt Burckhardt in der Griechischen Kulturgeschichte hervor: »Das griechische Ohr, für dessen Feinheit wir in der Metrik ein allgemeines Zeugnis haben, muß von einer uns kaum vorstellbaren Empfindlich­ keit gewesen sein.« Insbesondere sei den Griechen »das rhythmische Gefühl in hervorragendem Maße angeboren« gewesen (GK III, 136). In einer ausführlichen Darlegung des Chorgesangs bei den Griechen verweist Burckhardt auf den Zusammenhang von Gesang und Tanz: »Das ganze Griechenvolk überhaupt aber war von Jugend auf musika­ lisch und tanzliebend« (GK II, 153). ›Musik, Reigen, Vers und Sprache‹ ist der Untertitel des erstmals 1949 erschienenen Buches Der griechische Rhythmus von Thrasybu­ los Georgiades. Er erörtert darin an der genuinen Musikalität der griechischen Sprache und der unablösbaren Sprachlichkeit derjenigen Zeugnisse der griechischen Kultur, die wir der ›Musik‹ zurechnen würden, was die Griechen mit ihrem Namen μουσική meinten: die in ihrem Fall ursprüngliche Verfassung von Sprache. Die spätgrie­ chisch-philosophischen Namen γλῶττα und ϕωνή sind nachträglich der Sache aufgestülpte Resultate aus der Frage nach den instrumen­ talen Hervorbringungsmitteln. Man betitelt die Sprache nach der laute-erzeugenden Zunge, die doch in Wahrheit nur ein Werkzeug ihrer Erzeugung ist.

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Sprache als ›Überschuß‹

Die Forschungen Wilhelm von Humboldts zur »Weltansicht« der Sprachen gipfeln in dem großen Werk zur Kawi-Sprache, der »Dich­ tersprache auf Java«, das Humboldt der Frage widmete, »ob auch aus einer Zeit her, die aller Literatur ... vorausgeht, Verbindungen zwi­ schen dem Sanskrit und den Malayischen Sprachen ... bestanden haben« (III, 378). Die umfangreiche Einleitung dieses Werkes, an dem Humboldt von 1830 bis zu seinem Tode, 1835, arbeitete, hat den Titel ›Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts‹ (III, 368). Ähnlich überschrieben – ›Über die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues‹ – ist ein Resümee der früheren Sprach­ studien Humboldts, das – zwischen 1827 und 1829 entstanden – dem Beginn der Arbeit an den malayisch-polynesischen Sprachen unmit­ telbar vorausging (III, 144–367). In einem Abschnitt mit der Über­ schrift ›Von der Natur der Sprache und ihrer Beziehung auf die Men­ schen im Allgemeinen‹ (S. 191ff.), in dem Humboldt (innerhalb des § 37) unter der Frage des menschlichen Sprachvermögens auf das Bei­ spiel »der Taubstummen« verweist (S. 192f.), auf das sich Burckhardt ausdrücklich bezieht, äußert er sich wenige Seiten später (§ 43) zur Frage des menschlichen Sprach-Antriebs. Dieser gehe nicht, sagt Humboldt zu Beginn dieses Passus, in »Noth, Absicht und Gefallen am Hervorbringen von [bloßen] Lauten« auf. Sprache ist demnach keine Steigerung des Angstschreis oder des Nahrungsverlangens. Ginge es nur um die Zeichengabe zu Abwehr oder Angriff, zu Flucht oder Verzehr, dann reichten die Mittel, die dazu die Tiere entwickelt haben, die vielerlei Mittel motorischer, optischer und akustischer Zei­ chengebung, aus. »Es gehört«, schreibt Wilhelm von Humboldt, »gewiß zu den irrigsten Behauptungen, die Entstehung der Sprachen vorzugsweise dem Bedürfniss gegenseitiger Hülfsleistung beizumes­ sen, und was unmittelbar daraus fließt, ihnen in einem eingebildeten Naturzustande einen bestimmten Kreis von Ausdrücken vorzuschrei­ ben. Der Mensch ist nicht so bedürftig, und zur Hülfsleistung hätten, wie man an den Thieren sieht, unarticulirte Laute ausgereicht. Die Sprache ist, auch in ihren Anfängen, durchaus menschlich, und dehnt sich absichtslos auf alle Gegenstände der sinnlichen Wahrnehmung und inneren Bearbeitung aus. Auch die Sprachen der sogenannten Wilden, und gerade sie, zeigen eine überall über das Bedürfniss über­ schiessende Fülle und Mannigfaltigkeit von Ausdrücken. Die Worte entquillen freiwillig, ohne Noth und Absicht, der Brust, und es giebt wohl in keiner Einöde eine wandernde Familie, die nicht schon ihre

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3 Der Weltgehalt des Schmucks

Lieder besäße, denn der Mensch ... ist wesentlich ein singendes Geschöpf, nur Ideen mit den Tönen verbindend« (III, 196f.). Die Sprachen – auch die der sogenannten ›Wilden‹ und gerade sie – zeigen eine überall das Bedürfnis übersteigende Fülle und Mannigfaltigkeit von Ausdrucksformen. Diesen »überschießenden« Grundzug der Sprachen gewahrt man, wenn man – wie Humboldt in seinem Studium sehr verschiedener und sehr anfänglicher Sprachen – bemerkt, daß der Anfang der Sprachen im Gesang zu suchen ist.

3 Der Weltgehalt des Schmucks Der Passus, der in dem »Cultur«-Abschnitt den Bemerkungen über »die Sprachen« als der »Spitze aller Cultur« folgt, hat sein besonderes Gewicht in der Behauptung, daß alle »culturellen«, alle freien Tätig­ keiten des Menschen – auch die Viehzucht, auch der Handel – darin ihren menschlichen Grundzug haben, daß sie von einem »geistigen Überschuß« zeugen. Das gilt von dem »Schmuck«, mit dem jedes menschliche Ding (Kleidung, Werkzeug, Waffen; Häuser, Wagen, Schiffe) unabtrennbar verbunden war, soweit wir auch in die von uns entferntesten Kultur­ bereiche – etwa Indiens oder Chinas – hinaus-, in die ältesten – etwa Australiens oder des Jungpaläolithikums – zurücksehen können. Und es gilt erst recht von allen den Aspekten der Kultur, an denen die Dis­ tanz zur Dingwelt offenkundig wird. Der »geistige Überschuß« wird, wie Burckhardt fortfährt, »bewußter Geist, Reflexion, Vergleichung, Rede, – Kunstwerk«. An dieser »Überschuß«-These Burckhardts ist der Charakter des »culturellen« Grundzugs das Entscheidende. Der Name »geisti­ ger Überschuß« ist die positive Kennzeichnung eines Sachverhaltes, der sich weniger mißverständlich (weniger mit unserem l’art-pourl’art-Begriff verwechselbar) negativ formulieren läßt: Handlungen, Arbeiten, Schöpfungen, die nicht aus einer Not, die nicht aus einem Mangel, aus einem »Bedürfnis« der Lebenserhaltung oder gar des ›Überlebens‹ resultieren, Handlungen, Arbeiten, Schöpfungen, die, an der Frage nach dem Zweck gemessen, zwecklos sind. Nur ist das so wenig in dem uns gewohnten Sinn ›überflüssig‹, daß – nach Burck­ hardts These – alles menschliche Dasein in diesem »Überschuß« zu Hause ist.

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Sprache als ›Überschuß‹

Wir haben zunächst nur von der These Burckhardts gesprochen. Wie versteht er sie? Wie ist sie zu erklären? Die uns geläufigen his­ torisch-wissenschaftlichen Erklärungen der Phänomene, die Burck­ hardt hier erwähnt, bestehen ja gerade in der Verteidigung alter und entfernter ›Kunst‹-Erscheinungen gegen ein ›Überschuß‹-Verständ­ nis: Das mittelalterliche Ornament – am Bau, im Buch, am Gerät – war, nach diesen Deutungen, viel mehr als ein bloßer Schmuck. Es diente dem kirchlichen Ritus, es war von »sinnbildlicher Kraft«119, genauso wie die Form der gotischen Kathedrale, der Goldgrund des Altarbildes, der Rhythmus der gregorianischen Messe. Was dem modernen Betrachter als Überschuß erscheint, stand nach diesem Verständnis für die Produzenten und Rezipienten der Entstehungszeit stets in den Diensten sozialer und religiöser Bedeutungen. Und noch weiter zurück, in den alten Hochkulturen, diente danach das, was uns als ›Kunst‹ erscheint, dem Anspruch des Mythos, der Handlung des Kultus, wenn nicht – wie in ganz entfernten Zeiten und Regionen, in den ›primitiven‹ Kulturen – ›kraftspendend‹ oder ›kraftbannend‹ der Magie. Es war mehr als ›Kunst‹: es war nicht Schmuck, nicht Ver­ zierung, sondern Gegenstand des Glaubens, Zeichen von Bedeutung, Träger von Werten, Schalthebel von Energie, Steuerung von Mächten. Erst in der modernen Zeit (etwa seit der Renaissance) gibt es ›Kunst‹ – Bilder, Plastik, Bauten, Ornamente – als Schmuck. In älteren Zeiten gab es Symbolik, Riten, Magie, die der moderne Mensch nur mit Kunst verwechselt. Dem Pathos dieser sich für ganz besonders sachlich haltenden Ansicht bleibt verborgen, daß schon dieses ganze Schema ›Wirklich­ keit oder Kunst‹, ›Bedeutung oder Schmuck‹ eine Folge der Macht ist, die uns magisch gebannt hält. Es ist der moderne Schematismus von Ursache und Wirkung, von ›Bedürfnis‹ und ›Erfolg‹, vom ›Kampf ums Überleben‹, der uns für den Reichtum dessen, was sich bewegt und handelt, weil es von den Zwängen des Mangels frei ist, keinen Raum mehr in unserem Denken läßt. Wir sind es, die den bloßen Luxus des Bilderschmucks in der Wohnung oder im Rathaus, die 119 »Bloßen Schmuck an Baukunst lehnen wir mit Recht ab ... Das Wort Ornament kommt freilich vom lateinischen ornare, und das heißt Schmücken. Dennoch emp­ findet ein gepflegtes Sprachgefühl vielleicht schon ohne geschichtliches Nachdenken, daß wir ursprünglich mehr damit gemeint haben müssen als Schmuck, also auch mehr als bloße Dekoration. Ornament sinkt zur Dekoration, wenn es seine sinnbildliche Kraft verliert« (Wilhelm Pinder, Von den Künsten und der Kunst, Berlin, München 1948, S. 89).

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Denkmals-Verzierung der Straßen und Plätze, wie sie seit dem Ende des 18. Jahrhunderts die Kultur der Industrialisierung (die Kultur des Erwerbstriebs) umkleidet haben, auch denjenigen Deutungen alter Kunst unterstellen, die ihrerseits diesen alten Zeugnissen mehr zutrauen als bloßes Geschäft – und sei es auch noch so tiefsinnig mit den jeweils höchsten Werten (der Psychologie, der Theologie, der Soziologie und der Energie) verbrämt. Das Mehr, das Burckhardt sieht, ist nicht ein Weniger an ›realer Wirkung‹, sondern die Distanzierung auch noch von dem uns beherr­ schenden Maximalbegriff der höchsten Wirkung. Mit der Abwendung von dem die moderne »Crise« prägenden Erfolgsschema ist der aus diesem Schema geborene Luxus-Begriff von ›Kunst‹, die Verkehrung des Schmucks zur bloßen ›Verzierung‹, die Verkehrung der Kunst zur Schöngeisterei mit verlassen. Auf diese Tragweite des Gedankens von dem »geistigen Über­ schuß« allen kulturellen Tuns gibt Burckhardt einen Wink in der Einleitung dieses Passus. Lasaulx, den Burckhardt auch hier primär als Kontrastbeispiel anführt, deutet die verschiedenen Bereiche der Kultur erstens nach einer historischen Reihenfolge und zweitens diese Reihenfolge selber als eine Entwicklung vom »materiellen« zum »geistigen Bedürfnis«, – wenngleich auch, was Burckhardt als einziges Moment zustimmend aufnimmt, innere Zusammenhänge zwischen beiden Aspekten nicht verleugnet werden. Zu Anfang dieses Passus referiert Burckhardt zunächst (in einem ersten Absatz) die Meinung Lasaulx’, um dann (in den nächsten beiden Absätzen) in zwei Schritten seine Überzeugung dem entgegenzustellen: »Reihenfolge in der Cultur nach Lasaulx p. 28: ›Zuerst Bergbau (? d. h. irgend ein Grad der Metallbearbeitung) Viehzucht, Ackerbau, Schifffahrt, Handel, Gewerbe, bürgerlicher Wohlstand; – dann erst entstehen aus den Handwerken die Künste, und aus diesen zuletzt die Wissenschaften.‹ Scheinbare Vermengung, indem die einen dieser Dinge ihren Ursprung im materiellen, die andern im geistigen Bedürf­ nis haben? Allein der Zusammenhang in der Tat ein sehr enger, und die Dinge nicht zu sondern. Bei allem mit selbstständigem Eifer (nicht rein knechtisch) betriebenen materiellen Thun entbindet sich ein wenn auch oft nur geringer geistiger Überschuß.«

Zwar scheint es zunächst so, als wolle Burckhardt Lasaulx an dieser Stelle nur verteidigen: Lasaulx’ Verbindung materieller und geistiger Bedürfnisse, wenn er die Entstehung der Wissenschaften und der Künste in eine Linie mit der des Landbaus, des Handels und der

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Sprache als ›Überschuß‹

Wirtschaft stellt, muß nur dem als eine unerlaubte »Vermengung« erscheinen, der diese beiden Seiten als ursprünglich getrennt ansieht. Doch damit übertragen wir die Theorie und Praxis unserer Zeit auf andere Epochen. »Der Zusammenhang« zwischen dem, was wir in »materielle« und »geistige Bedürfnisse« unterteilen, ist »in der That«, d. h. auf den Vollzug hin gesehen, »ein sehr enger, und die Dinge nicht zu sondern«. Wenig später (im siebten Absatz) unterstreicht das Burckhardt noch: »Im Menschen ist überhaupt nie bloß eine Seite ausschließlich, sondern immer das Ganze thätig, wenn auch einzelne Seiten desselben nur schwach und unbewußt.« Wer sagt uns denn, daß die tiefgreifenden Wandlungen vom Jagen der Tiere zu ihrer Zähmung und Züchtung, vom NahrungsSammeln auf der Erde zu ihrer Bearbeitung (teils im Hackbau, teils im Ackerbau) oder gar (von Lasaulx an den Anfang der Kultur gestellt) zum Eingriff in ihre Tiefen aus der Bewältigung von Nahrungsnot oder bloßem Fortschritt eines (immer gleichen) Rationalisierungsprozes­ ses zu erklären sind? Muß sich die Erde, das Tier und müssen wir Menschen uns nicht je und je in anderen Aktions-Horizonten zeigen, um in anderer Weise behandelt zu werden und handeln zu können? Muß die Leiblichkeit des Menschen auf der einen ›Seite‹, die eigene Geistigkeit der Erde auf der anderen ›Seite‹, das Vermögen zum Handeln hier, das Geheimnis, sich – in der Arbeit – verwandeln zu lassen, dort120 nicht ebenso sehr erkannt wie praktiziert werden, um solche Revolutionen zu ermöglichen, wie sie den Unterschied zwischen Jäger-, Fischer-, Sammlerdasein einerseits, Ackerbau, Vieh­ zucht, Metallbearbeitung andererseits ausmachen? In der sozusagen eingefleischten Unwilligkeit ›nomadischer‹ Völker zur Seßhaftigkeit oder südlicher Hackbaukulturen zum Pflugbau, in diesem Anschein geistiger ›Unbeweglichkeit‹ äußert sich der »Zusammenhang« zwi­ schen »geistigen« und »materiellen Bedürfnissen«. Und es ist unser moderner Erwerbstrieb, die Sakralisierung von Handel und Gewerbe zu Lebenszielen, der das dafür angemessene Schema von »Materie« contra »Geist«, das Schema des rubrizierenden Zugriffs, der atomisie­ renden ›Erschließung‹ auch allen anderen Epochen unterstellt. Dem Hinweis, im Menschen sei »immer das Ganze thätig«, fügt Burckhardt mit dem darauf folgenden Absatz noch die geschichtliche S. dazu die Beiträge von Meinhard Schuster, Helmut Straube, Eike Haberland sowie die ›Einleitung‹ von Adolf E. Jensen in der Sammlung Völkerkunde, zwölf Vorträge zur Einführung in ihre Probleme, hg. v. Burkhard Freudenfels, 1960.

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Zuspitzung hinzu: daß jenes »Immer« heute vergessen sei. »Ohnehin sind diese Dinge nicht nach der unendlichen Arbeitstheilung und Specialisierung unserer Zeit zu beurtheilen, sondern nach dem Bilde von Zeiten da noch Alles näher beisammen war.« Eine Konsequenz der Spezialisierung ist die Historisierung, in der das Geteilte auf eine uns akzeptable Art wieder vereinigt wird. Der interne Streit, ob »der Geist« oder »die Materie«, ob der Anfang oder das Ziel die Entwicklung bestimmen, wirkt dabei nur ›system-stabili­ sierend‹. Dieses »chronologische« Schema wird in Burckhardts Kom­ mentar zur »Reihenfolge in der Cultur nach Lasaulx...« keineswegs verteidigt. Ihm liegt die Scheidung von »materiellen« und »geistigen« Bedürfnissen zugrunde, diejenige Denkweise also, die die Verbesse­ rung des ›Lebensniveaus‹ als Vorstufe, als Grundlage, als Ursache der Künste ansieht. Dieser historische, dieser logisch-dialektische Zusammenhang überbrückt die Trennung nur. Zuerst: das Werkzeug, dann: das Kunstwerk. Diese Scheidung bestreitet Burckhardt hier, auch Lasaulx gegenüber. Ein »geistiger Überschuß« gehört zu allem »mit selbstständigem Eifer (nicht rein knechtisch) betriebenen materiellen Thun«. Unmit­ telbar, am materiellen Tun selber, zeigt das die Form, in der sich dieses Tun zu allen Zeiten einstmals abspielte: Der »geistige Überschuß« kommt »der Form des Geschaffenen zu Gute, als Schmuck ...« Und Burckhardt sagt sofort, was »Schmuck« hier primär heißt: weder bloße Verzierung, noch auch lediglich politische oder religiöse (oder gar ›magische‹) Bedeutung: »... als Schmuck, als möglichste äußere Voll­ endung«. Diese Erklärung illustriert Burckhardt mit zwei Zusätzen. Zuerst notierte er nur das eine Beispiel: » – die Waffen und Geräthe bei Homer sind herrlich bevor von einem Götterbilde die Rede ist«. Damit wird sogleich das in dem nächsten Absatz angesprochene »Kunstwerk« ausdrücklich mit dem Schmuck des Handwerks in Zusammenhang gebracht. Auch die – in den Vorlesungen zur antiken Kunst seit 1874 ausführlich behandelten – »Anatheme« (GA XIII, 89–103), die den Göttern gestifteten »Weihgeschenke«, sind ja – in ihren skulpturalen Ausprägungen – häufig selber Götterbilder. In dem anderen Namen für »Weihgeschenk«, Agalma, spielen die Bedeutun­ gen, die wir als »Schmuck«, »Votivbild«, »Kultbild« und »Standbild«

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Sprache als ›Überschuß‹

unterscheiden, ineinander.121 Seiner ursprünglichen Bedeutung nach ist ἄγαλμα »etwas, das schmückt und dadurch erfreut«.122 Das höchste Beispiel eines Weihgeschenkes ist für Burckhardt »der panathenäi­ sche Festzug am Friese des Parthenon«, eine Stiftung also als Werk der Kunst (aus der Hand und aus der Werkstatt des Phidias), deren Inhalt, die Huldigung der Frauen und Männer Athens mit den Pferden und den Opfertieren vor ihren Göttern, selber schon ein Weihgeschenk war. Die »Schatzhäuser«, in denen die griechischen Stadtstaaten an den heiligen Stätten aller Hellenen wie in Delphi oder Olympia ihre Weihgeschenke aufstellten, waren in den meisten Fällen selber »funkelnde Schmuckkästchen«. Mit dem Hinweis auf die Formung der Waffen und Geräte in den Homerischen Epen noch vor der Entstehung von »Götterbildern« zielt Burckhardt auf die Vorbereitung der Bildkunst und Baukunst der Griechen durch ihre Epen, die er um die gleiche Zeit in der Griechi­ schen Kulturgeschichte, später in den Aufzeichnungen zur griechischen Kunst behandelt (GK III, 3–13: ›Das Erwachen der Kunst‹; GA XIII, 134–139: ›Der Mythus als Vorbedingung der Kunst‹). In einer späteren Einfügung noch vor dem Hinweis auf Geräte und Waffen bei Homer hebt Burckhardt die Tragweite dieses antiken Beispiels auch nach rückwärts, im Gedanken an die Anfänge der menschlichen Kultur hervor: »Die Polirung der Schneidesteine der Pfahlbauten«. Wir können uns den Gehalt dieser Notiz am einfachs­ ten verdeutlichen, wenn wir uns den Reichtum an Schmuck vergegen­ wärtigen, von dem heute jedes Völkerkundemuseum zeugt (darunter auch das – der einstigen Wirkungsstätte Burckhardts gegenüberlie­ gende – in Basel). Von der »Polirung der Schneidesteine der Pfahlbau­ ten« bis zum Fries der Panathenäen des Phidias stehen die Zeugnisse menschlichen Daseins aus Werken der Hand im Bunde mit dem, was die Sprache des Alten Testaments Kabot nennt, ›Herrlichkeit‹123. Der »geistige Überschuß« kommt der Form des Geschaffenen zugute, als Schmuck, als möglichste äußere Vollendung. Daß die Waffen und Geräte des Homer »herrlich« sind, bevor von einem Götterbild die Rede ist, das bekunden die homerischen Epen nicht H. Blösch, Agalma. Bern 1943. Ferner Hanna Philipp, Tektonon Daidala. Der bil­ dende Künstler und sein Werk im vorplatonischen Schrifttum, Berlin, 1968. Exkurs I: S. 103–108. 122 Artikel ›Agalma‹ in: Der kleine Pauly, Lexikon der Antike, 1979, Bd. I., Sp. 110f. 123 Hans Urs von Balthasar, Herrlichkeit, Bd. III. (1. Auflage 1967); darin das Kapitel ›Alter Bund – ›Herrlichkeit’ ‹. 121

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3 Der Weltgehalt des Schmucks

nur überall in ihrem Rühmen von Glanz und Bild, von Ornament und Gestalt beim Nennen der Schiffe und Gewänder, der Helme und Lanzen. Der Ilias-Dichter sagt auch selbst, was Schmuck ist. Als Achilleus sich nach dem Tode des geliebten Freundes neu zum Kampf rüstet, werden ihm von dem göttlichen Schmied, Hephaistos, neue Waffen hergestellt. Und Homer beschreibt das Schmieden des Schildes, das Schmieden seines Schmucks. In den Aufzeichnungen zur griechischen Kunst beschließt Burck­ hardt mit einem Hinweis darauf den Abschnitt über den ›Mythus als Vorbedingung der griechischen Kunst‹. Schon am »Personal des Mythus« (GA XIII, 137) hatte Burckhardt seinen Gedanken erläutert, daß »die Aöden die eigentlichen Vorgänger der Künstler« (S. 135) waren: »Diese Menschen der Urzeit sind an sich schon nicht, ›wie jetzt die Sterblichen sind‹. Mag ihr Leben auch meist zum tragischen Ausgang bestimmt und reich an furchtbaren Taten sein, zumal Taten aus Neid und Arglist, so haben sie doch die Größe der Naivetät, und die Leidenschaft eines Achilleus schließt nicht aus ›eine göttliche Erhabenheit der Seele‹ (O. Müller) ... In unendlichen Varietäten geht der heroische Mensch an uns vorüber ... Das Ziel aller ist der Ruhm unter den Menschen, und bisweilen ›verherrlicht‹ (κυδαίνειν) Zeus einen Begünstigten auf Augenblicke vor den Andern. Neben den gewaltigen Helden der Schlacht, und neben den Spezialmenschen, dem Seher, dem Sänger, dem Bettler, dem Herold, dem treuen Aufseher Eumäos, dem Allerfinder Palamedes, dem Allkünstler Dädalos, dem tückischen Strandherrn Nauplios, erhebt sich derjenige Mensch, wie ihn Mythus und Poesie keines andern Volkes besitzen, weil er das geistige und leibliche Vermögen seiner ganzen Nation sichtbarlich in Eins zusammenfaßt: der homerische Odysseus. Von weiblichen Gestalten verlangt und schafft dieses Zeitalter vor allem die schöne und strenge virago, wie Atalante und Hippodameia, und kennt sogar ein ganz wunderbares Volk dieses Typus, die Amazonen. Neben den unglücklichen und schrecklichen Frauen, der rachsüchtigen Zauberin Medea, der herzlosen Eriphyle, der Klytämnestra und Jokaste und den in ihre Stiefsöhne Entbrannten wie Phädra, stehen dann, bestrahlt von dem vollen seelischen Licht, welches in der Odyssee waltet, jene herrlichen vier Gebilde: Antikleia die im Grame um ihren Sohn Odys­ seus gestorben, Eurykleia die Schaffnerin seines Hauses, die Gattin Penelope, und endlich die liebliche Nausikaa« (GA XIII, 137f.).

Diesen Blick auf den selber schon poetischen, auf den – im griechi­ schen Verstand des Wortes – »schönen« Zug der männlichen und

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Sprache als ›Überschuß‹

weiblichen Gestalten der Ilias und, in dieser Aufzählung, ganz beson­ ders der Odyssee, vervollständigt Burckhardt zunächst noch durch eine Erinnerung an »die Tierwelt des Mythus«. Von den »ältesten Fundstücken seit Mykenae« und »den durch Götterzorn gesandten mächtigen Stieren, Ebern usw. bis zum Gespann des Poseidon auf den Wogen und den unsterblichen Rossen des Achilleus« ist »die Stufenreihe in der Sage sehr reich.« »... zugleich aber beweist die Ilias in zahlreichen Gleichnissen das schärfste Auge für das bewegte Tier der Wirklichkeit, und ganz unvergeßlich bleibt in der Odyssee (XVII, 290ff.) der Hund Argos, welcher eben noch seinen als Bettler daherkommenden alten Herrn erkennt und stirbt. Ein vollkommen lebenstreu geschilderter Vorgang ruft hier die tiefste Rührung her­ vor.« Darauf beschließt Burckhardt den Abschnitt mit dem Beispiel einer Deutung des Schmucks durch den Mythos selber in der Gestalt des göttlichen Schmiedes und seines Schildes für Achilleus: »Endlich besitzt schon die mythische Welt selber ihren Kunstbetrieb, zum Teil noch nicht ausgeschieden von der Zauberei (Telchinen, idäische Daktylen, Dädalos), und an dessen Spitze den Feuergott Hephästos. Als Gemahl sei es der Aphrodite, sei es einer Charis, bedeutet er bereits die Verbindung von Kunst und Schönheit. Aus seiner Werk­ statt geht dann der Schild für Achilleus hervor (Ilias XVIII, 478ff.), welcher aus eingelegter Arbeit von Gold, Silber und Zinn in konzen­ trischen Streifen jene Bilder des wirklichen altgriechischen Lebens, die frühesten Genrebilder enthielt, von welchen wir bei diesem Volke Kunde haben. Jahrtausende älter mögen jene Darstellungen des ägyptischen Lebens sein, welche die Wände von Gräbern in Beni-Hassan umziehen: Aussaat und Ernte, Jagd und Fischfang, Gast­ mähler und Opfer, allein es sollten damit nur die Besitzungen und dienenden Leute der Bestatteten (vornehmer Beamten und Mitglieder des Königshauses) versinnlicht werden. Auf dem Schild des Achilleus dagegen ist freies hellenisches Dasein und Handeln dargestellt, weil es der Darstellung würdig war. Man kann einwenden, die ägyptischen Gruftmalereien seien wirklich vorhanden und der Schild nur ein homerisches Gedankenbild, allein auch dieses könnte beruht haben auf der Anschauung von bereits vorhandenen bildreichen Prachtschil­ den« (GA XIII, 138f.). Ein Gebrauchsding zu ›verzieren‹ – und noch dazu oft mit Szenen, die mit dem Gebrauch des Dings unmittelbar nichts zu tun haben – das ist ja auch in unserm Sprachgebrauch der Inbegriff von

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3 Der Weltgehalt des Schmucks

»Schmuck«. Es handelt sich hier offensichtlich weder um irgendwel­ che Abwehrzeichen, noch um Schrecksymbole oder Imponiermerk­ male. Hephaistos stellt in den vielerlei Bildern, die er auf dem Schild anbringt, das Ganze dessen dar, was der Mensch als Welt erfährt. Der Schmuck des Schildes nennt den ›Kosmos‹.124

124 Ich verweise dazu auf die Übersetzung und den Kommentar Wolfgang Schade­ waldts, Homers Illias, in der Übertragung Wolfgang Schadewaldts, 1975 (Insel-Ver­ lag), S. 319–323. – Wolfgang Schadewaldt, ›Der Schild des Achilleus‹ (1938), in: Ders.; Aus Homers Welt und Werk, 2. vermehrte Auflage 1951 (u.ö.).

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›Das einzig irdisch Bleibende‹125

1 ›Rätselhafter als die Wissenschaften‹ Der vierte Passus in dem Abschnitt über die Cultur ist der ein­ zige innerhalb des Kollegs und der Vorträge zum ›Studium der Geschichte‹, der von »den Künsten« (»die drei bildenden Künste machen hier keinen Unterschied neben Poesie und Musik«) gesondert und im Ganzen handelt; – gesondert: im Unterschied zu denjenigen Stücken, wo Burckhardt in diesem und anderen Kapiteln von den Künsten zusammen mit anderen Cultur-Gebieten handelt, wie bei­ spielsweise in dem vorangehenden Passus über die »Reihenfolge in der Cultur«126 oder in dem achten Passus über das »Verhältniß der Cultur zur Sittlichkeit«127; – im Ganzen: im Unterschied zu den Stücken, die innerhalb eines besonderen Gesichtspunktes wie etwa der Erscheinung der »Crise« oder der Frage der »historischen Größe« auf alle Künste oder einzelne Künste in der Gegenüberstellung mit anderen Gebieten der Cultur und anderen Potenzen zu sprechen kommen, wie etwa in den Vorträgen über ›historische Größe‹. Am nächsten kommen in der Universalität des Gesichtspunktes diesem vierten Passus des Cultur-Abschnitts noch die beiden Schluß­ stücke der Abschnitte über die Bedingtheit der Cultur durch die Reli­ gion und die Bedingtheit der Religion durch die Cultur in dem fol­ genden Kapitel, die jeweils die verschiedenartigen »Bedingungs«Weisen zwischen Religion und Kunst gesondert behandeln (SG S. 307–309, S. 340f.; WB S. 75–77, S. 114f.)128. Diese beiden Stücke werden darum hier mit einbezogen werden (besonders unter 2,d). Bisher unveröffentlicht aus dem Typoskript: D. J., Kunstgeschichtliche Betrachtun­ gen. Jacob Burckhardts Topologie der Künste, Band II, 1987, § 19, S. 44–103. 126 Hier in dem Aufsatz ›Sprache als Überschuß‹, S. 194 oder S. 207. 127 Der Aufsatz ›Das Verhältnis der Cultur zur Sittlichkeit‹ ist enthalten in D. J., Maßstäbe der Kunst- und Geschichtsbetrachtung Jacob Burckhardts, Schwabe: Basel 2006, S. 131- 166. 128 Zu den Abkürzungen vgl. Anmerkung 110 auf S. 193. 125

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›Das einzig irdisch Bleibende‹

In diesem vierten Passus erörtert Burckhardt Unterscheidungs­ merkmale der Künste gegenüber den anderen Gebieten der Cultur. Und dazu dient ihm – aus Gründen, die er gleich zu Beginn und dann noch mehrmals wiederholend und variierend nennt, – die Frage, in welchem Verhältnis die Künste zur Religion, also zu einer der beiden anderen Geschichtspotenzen stehen. Prototypen des Vergleichs sind die »Wissenschaften« einschließ­ lich der »Philosophie«. Innerhalb der verschiedenen Künste kommt ein paradigmatischer Rang der Architektur zu. »Hier zeigt sich am deutlichsten was Kunst ist« (SG S. 279, Z. 3; WB S. 45). Zwei im Ton eines Resümees gehaltene Schlußbemerkungen gelten der »Poesie«. Nur hier – ein einziges Mal in diesem Passus über »die Künste« – wird ein einzelnes Kunstzeugnis genannt: der »äschyleische Prometheus«. – Der Passus beginnt: »Jedenfalls die Künste das Außerordentlichste, räthselhafter als die Wissenschaften ...«

Er schließt: »Wie würden die Gedanken des äschyleischen Prometheus in der Philosophie lauten? – Jedenfalls geben sie uns in der poetischen Darstellung das Gefühl des Ungeheuren.«

Der Fortgang der Niederschrift ist deutlich als ein neuer Gedan­ kenkreis vom Vorhergehenden abgehoben. Auf einem neuen Blatt beginnt Burckhardt damit, von dem Verhältnis der »einzelnen Gebiete« der Cultur untereinander zu handeln, um hier erstmals auf den Sachverhalt zu kommen, dem dann im folgenden Kapitel über die verschiedenen wechselseitigen »Bedingtheiten« sein besonderes Interesse gilt, die »großen geistigen Tauschplätze«. Zwei von ihnen, Athen und Florenz, werden hier schon genannt. – Vom vorher Gesag­ ten ist der vierte Passus weniger deutlich abgesetzt. Die Bemerkungen zur »Reihenfolge« der Cultur-Gebiete (das Thema des dritten Passus), in denen Burckhardt schon den »Schmuck« (der Waffen und Geräte) und dann das »Kunstwerk« selbst hervorgehoben hatte, scheinen unmittelbar in die Betrachtung dessen, was man im ersten Eindruck die Exklusivität der Künste nennen könnte, überzugehen. In seiner Distanzierung von der Reihenfolge Lasaulx’, wonach an den Anfang das Materielle (der Bergbau), der Geist erst an den Schluß gehört (ganz spät erst »entstehen aus den Handwerken die Künste, und aus diesen zuletzt die Wissenschaften« (SG S. 277, Z. 21f.; WB

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1 ›Rätselhafter als die Wissenschaften‹

S. 43), hatte Burckhardt im Ganzen dieses dritten Passus den Zusam­ menhang von »materiellem« und »geistigem Bedürfniß« hervorge­ hoben und das Merkmal »unserer Zeit« weder in der Dominanz des einen, noch auch in der des anderen sehen wollen, sondern allenfalls im Verlust des Zusammenhangs: in »der unendlichen Arbeitstheilung und Specialisirung« (SG S. 278, Z. 6f.; WB S. 44). Wenngleich nun die darauf folgende Notiz so beginnt, als solle das zuvor Gesagte damit nur noch zugespitzt werden: »Das Außerordentlichste jedenfalls die Künste«, so markiert doch das verbindende »jedenfalls« zugleich auch die Wendung in der Sache. Einerseits setzt sich darin die Korrektur an Lasaulx fort: die Künste und nicht die Wissenschaften sind das Außer­ ordentlichste. Andererseits beginnt damit die Abwendung von allen Cultur-Entstehungs-Diskussionen. Wie immer auch die Reihenfolge gewesen sein mag, einem der verschiedenen Culturgebiete kommt ganz unabhängig von der Frage, was früher oder später angefangen hat, eine Sonderstellung zu. Und von der wird nun auch gesondert die Rede sein. »Das Außerordentlichste jedenfalls die Künste«. Zunächst scheint es freilich so, als setzte Burckhardt bei dieser Sonderfrage – welcher Ort kommt innerhalb des Ganzen der Cul­ tur-Gebiete den Künsten zu? – den Lasaulx’schen Gesichtspunkt der »Reihenfolge« fort. Gleich der zweite Absatz, also der Beginn der Ausführung der programmatischen These von der Sonderstellung der Künste – der drei bildenden Künste, der Poesie und der Musik – nimmt die Frage der Kunst-Entstehung wieder auf: »Alle fünf sind entweder aus dem Cultus scheinbar hervorgegangen oder doch in früher Zeit eng mit ihm verbunden gewesen ...«

Es scheint – in einem Zusatz nennt Burckhardt als ein Beispiel dieser Ansicht wieder Lasaulx –, es scheint, als seien die Künste aus der Religion hervorgegangen. Doch so scheint es nur. Burckhardt teilt diese Ansicht nicht. Im Gegenteil, er führt sie nur an, um seine Überzeugung dem entgegenzusetzen. Es scheint so, als seien die Künste aus dem Cultus hervorgegangen; in Wahrheit sind sie, wie der Schluß dieser Notiz sagt: »... aber doch auch vor ihm und ohne ihn vorhanden.«

»Das Außerordentlichste jedenfalls die Künste«. Dieses Eingangspos­ tulat findet seine erste Erläuterung in Burckhardts These über das Verhältnis zwischen Kunst und Religion. Die Künste sind – nicht etwa

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›Das einzig irdisch Bleibende‹

heute erst, sondern ihrem Grundzug, ihrem eigenen Ursprung nach – auch vor der Religion und ohne sie vorhanden. Erst mit dieser abschließenden Verneinung der Anfangsbemer­ kung wird das mittlere Stück dieser Notiz verständlich: Nur den Gedanken eines Hervorgehens der Künste aus dem »Cultus« nennt Burckhardt einen »Schein«, nicht dagegen den: daß die Künste »in früher Zeit eng mit ihm verbunden gewesen« sein können. Diese Möglichkeit der Verbindung braucht man nicht zu bestrei­ ten, wenn man den Gedanken der Begründung des einen im ande­ ren bezweifelt. An diesem Punkt der Ausführung seines Postulats über die Künste hat Burckhardt später noch die Bemerkung eingefügt: »Glücklicher Weise sind wir auch hier der Speculationen über die Ursprünge enthoben« (SG S. 278, Z. 41f.).

Was ihn zu dieser Behauptung berechtigt, das ist – für die fünf Künste nicht anders als für alle Aspekte und Faktoren der Geschichte – seine Unterscheidung von geschichtlich und genetisch. Wir sind (von der Kenntnislage Burckhardts her gesprochen) nicht gezwun­ gen, auf eine systematische Vollständigkeit prähistorischer Funde und ihre chronologisch und anthropologisch gesicherte Deutung zu warten. Wir können auch ohne eine sichere Kenntnis der Anfänge die Frage, was Kunst war, zu beantworten versuchen. Was uns (auch schon zu Burckhardts Zeit, seit den Funden und Forschungen des 19. Jahrhunderts) nicht fehlt, das ist die Kenntnis der großen, in sich abgeschlossenen Epochen der Weltgeschichte. Wir kennen Anfänge, Übergänge, Abschlüsse einzelner Kulturen; wir kennen Berührungen zwischen Kulturen und Verwandlungen in der Berührung – etwa zwischen Griechenland und Ägypten, zwischen dem nordalpinen Mittelalter und dem antiken Rom, zwischen Italien und Mitteleuropa –, um sehen zu können, um erkennen zu können, was Kunst war. Unter einer solchen nicht primär chronologisch-geneti­ schen Begründung, sondern primär »anschauend«-geschichtlichen »Betrachtung« polemisiert Burckhardt in diesem Passus über den Ort der Künste in der Weltgeschichte gegen die Ansicht einer Herkunft der »Kunst« aus der Religion. Diese Ansicht hat ihren eigenen Gül­ tigkeits-Anspruch seit Burckhardt nicht vermindert: ›Ihr redet einer gotischen Kathedrale, einer byzantinischen Ikone, einem griechischen

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1 ›Rätselhafter als die Wissenschaften‹

Tempel, einem indischen Stupa, einer afrikanischen Maske gegenüber von »Kunst«, obwohl es sich doch da in Wahrheit um Religion: um Mythos und Kultus, um Glaubensausdruck und Ritualvollzug, gehan­ delt hat. Ihr verwechselt den mythisch-kultischen Wirklichkeitsernst (oder Wirklichkeits-Glauben) älterer Epochen mit dem Formen- und Betätigungsspiel neuzeitlich-moderner Ästhetik. Ihr verfälscht die alten Zeugnisse der Kunst schon damit, daß ihr sie »Kunst« nennt.‹ Das Gewicht jenes zwei Seiten langen Passus Burckhardts über den Ort der Künste in der Geschichte beruht darin, daß er den Leser (den Hörer) vom Kunst-Verständnis der Ästhetik genauso weit entfernt wie von der Kunst-Kritik der Kultur- und Religionsgeschich­ ten oder dem Kunst-Agnostizismus der Vor- und Frühgeschichte. Burckhardts Topologie der Künste verläßt den Autonomie-Maßstab mit der gleichen Entschiedenheit wie den Funktions-Maßstab. Die Ansicht von einer Entstehung der Künste aus dem »Cultus« wird in diesem Passus zum Paradigma für jeden Versuch einer Begründung der Künste in einem anderen Geschichtsbezirk, mag die­ ser Grund nun Vorstufe, Ziel oder Basis sein. Der Maßstab, nach dem Burckhardt einer solchen Ansicht widerspricht, ist aber nicht die Nai­ vität des Ästheten, nicht die unbedachte Übertragung eigener Auto­ nomie-Ideale auf Zeiten, denen eine solche Aufklärung – oder ein solcher Verlust – noch fern lag, sondern umgekehrt gerade das jenen älteren Zeiten eigene Konzept eines »Weltganzen« im Unterschied zum Denken des modernen Industriezeitalters, für das (wie Burck­ hardt in dem letzten Passus des Vortragszyklus über ›historische Größe‹ sagt) »alles nach der Brauchbarkeit geht« (SG S. 405, Z. 6; WB S. 179). »Jedenfalls die Künste das Außerordentlichste«: mit diesem Postulat einer Auszeichnung meint Burckhardt keine ästhetische Eigenwelt außerhalb der ›wirklichen Welt‹, auch nicht eine Überwelt, zu der die Alltagswelt erhöht würde (oder einstmals erhöht worden war). Burckhardts Postulat zielt ab auf den Ort der Künste in der Welt. Es hat zu seiner eigenen Bedingung die Erfahrung, daß die Welt – die wirkliche Welt, die Alltagswelt – selbst »das Außerordentlichste« braucht. Das Ordentliche allein ist nicht das »Weltganze«. Der Philosophie gegenüber, von der Burckhardt zu Anfang des Pas­ sus sagt: »daß sie die höchsten Gesetze alles Seienden zu ergründen sucht« (SG S. 278, Z. 29f.; WB S. 44),

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›Das einzig irdisch Bleibende‹

bildet, wie er am Ende des Passus sagt, die Poesie, »welche neues Thatsächliches schafft lieber als Vorhandenes erzählt, und in ihrer Art von Gedanken und Gefühlen den höchsten Gegensatz und die höchste Ergänzung« (SG S. 280, Z. 5–8; WB S. 46).

Dieses Resümee des ganzen Passus beschließt Burckhardt mit dem Hinweis auf den griechischen Prometheus-Mythos und seine Darstel­ lung in der Dichtung des Aischylos. Wir erläutern zunächst den Passus in seinen einzelnen Schritten (2), um zuletzt die eigentümliche Polarität von Zeitbezug und »Über­ zeitlichkeit«, die das Ganze dieser Schritte prägt, in ihrem eigenen Grundzug darzulegen (3).

2 Weder ›Verewigung‹ noch ›Nachahmung‹ Die beiden ersten Absätze (die Künste: »räthselhafter als die Wis­ senschaften«, auch vor und ohne den »Cultus« vorhanden) und die beiden letzten (zu dem Beispiel der Poesie), von denen wir hier ausgegangen sind, bilden die Vorbereitung und das Resümee des Ganzen dieses Passus. Der Gedankengang dazwischen gliedert sich in fünf Schritte. Zunächst wird das zu Beginn (gegenüber dem Verhältnis der Künste zur Religion) postulierte Merkmal der Eigenständigkeit in den Umkreis seiner Aspekte ausgebreitet. (Das sind die Absätze 3–5.) Daran schließt Burckhardt in einem zweiten Schritt dieses Weges die Kennzeichnung seines Begriffes von »Kunst und Poesie« als des »einzig irdisch Bleibenden« an. (Die Absätze 6–9.) Diesem entnimmt er – drittens – die polemische Konsequenz: Kunst ist weder »Verewigung« noch »Nachahmung«. Er erläutert dies am Beispiel der Architektur, die er als Paradigma aller Künste verstanden wissen will. (Die Absätze 11–13.) In einem vierten Schritt nennt Burckhardt die Konsequenzen des Gesagten für das Ausgangspostulat über das Verhältnis zwischen Kunst und Religion. (Absatz 14.) Der darauf folgende Absatz (15) könnte von dem ersten seiner beiden Sätze her, der die vorausgegangene Bemerkung über das Verhältnis der Künste zur Religion im Hinblick auf ihr Verhältnis zu »allem Irdischen« ergänzt, als eine Fortsetzung jenes vierten Schrittes gelesen werden, wenn man ihn nicht besser von seiner zweiten Hälfte her, die die Konsequenzen der von Burckhardt angesprochenen Eigenständigkeit im Weltbezug der Künste für deren Deutung nennt, schon als Resümee

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2 Weder ›Verewigung‹ noch ›Nachahmung‹

des Ganzen liest, das in den beiden Schlußabsätzen (16 und 17) dann am Unterschied der Poesie zur Philosophie konkretisiert wird.

a Die Autarkie der Kunst In dem Eingangspostulat verbindet Burckhardt den Superlativ »die Künste das Außerordentlichste« mit der Unterscheidung »räthselhaf­ ter als die Wissenschaften«. Diese Unterscheidung der Künste von den Wissenschaften wird in dem ersten Schritt der Ausführung unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten dargelegt. Der eine ist die »Erziehung zum Wahren«, der andere ist die Wahrheit (die Erkenntnis) selbst. Der Ort der Kunst in der Welt ist unzulänglich, er ist falsch verstanden, wenn man die Kunst »als Durchgangspunkt zum Wahren«

auffaßt. Diesem Gedanken einer »ästhetischen Erziehung des Men­ schen« sieht Burckhardt auch Schillers Gedicht ›Der Künstler‹ ver­ haftet, das doch die großartigste Apologie der eignen Würde der Kunst zu sein scheint. Vieles spricht dafür, daß Burckhardt für Schiller – für seine Person wie für sein Werk – die höchste Bewunderung unter aller deutschen Dichtung überhaupt empfand. Ein Zeugnis dafür ist seine Gedächtnisrede zu Schillers hundertstem Geburtstag (am 9. Novem­ ber 1859 vor der Philosophischen Fakultät der Universität Basel), die allein schon wegen ihres Gedankens an die Bedeutung Schillers für das wechselseitige Verständnis zwischen Deutschland und der Schweiz auch ein Jahrhundert später nicht weniger lesenswert ist, als sie zu Beginn der Bismarckzeit lesenswert war. »Dieser Kosmopolit ist die nationalste Figur der deutschen Literatur.« Burckhardt rühmt in dieser Rede Schillers »Programm über die Bestimmung der Poesie auf Erden: Die Künstler«: »Es ist wohl das höchste Programm, das je aufgestellt worden ist. Man darf das Gedicht neben seinen philoso­ phischen Schriften und den Briefen über Don Carlos nennen als stärksten Beweis für seine Gewissenhaftigkeit im Fache.« (Beide Stel­ len: GA 14, S. 70 und 71.) In dem Passus über die Künste von 1868 referiert Burckhardt in der ersten Hälfte des dritten Absatzes den Gedanken dieses Gedichtes. In der Handschrift lautet diese Notiz:

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›Das einzig irdisch Bleibende‹

»Schillers Gedicht: Die Künstler, für die Stellung der Kunst in der Welt­ cultur abschließend; das Schöne als Durchgangspunct und Erziehung zum Wahren.«

Erst dann formuliert er seinen Widerspruch: »Es reicht nicht, denn die Kunst ist in hohem Grade um ihrer selbst willen vorhanden.«

In der Umstellung Oeris wird die Schärfe des Widerspruchs gemildert: »Nicht ganz abschließend für die Stellung der Kunst in der Weltkultur sind Schillers ›Künstler‹. Es reicht nicht, daß das Schöne als Durch­ gangspunkt und Erziehung zum Wahren dargestellt wird; denn die Kunst ist in hohem Grade um ihrer selbst willen vorhanden« (WB S. 44). Entweder ist die Kunst Erziehung, oder sie ist um ihrer selbst willen vorhanden. Es fragt sich nur, ob dieses Oder zu fürchten – und darum zu vermeiden – ist, weil damit eine Stellung der Kunst in der Weltcultur bestritten werden könnte. Wie könnte die Kunst noch in der Weltcultur stehen, wenn sie so entschieden »um ihrer selbst wil­ len« vorhanden sein soll, daß ihr nicht einmal diejenige Erziehungs­ wirkung mehr zugebilligt werden soll, die doch gerade das KünstlerEthos des ›klassischen‹ Schiller über den pädagogischen Rigorismus seiner ›Sturm-und-Drang‹-Zeit (›Das Theater als moralische Anstalt‹) heraushebt? Der andere Aspekt in diesem ersten Schritt von Burckhardts Gedankengang verschärft diese Frage noch. Nicht nur die »Erziehung zur Wahrheit«, die Wahrheit selber ist danach nicht der Maßstab der Kunst. Und dies darum nicht, weil mit dem Maßstab der Wahrheit, dem Maßstab der Erkenntnis also – und sei es auch dem höchsten Erkenntnis-Maßstab, der sich denken läßt, dem der Philosophie – die Eigenständigkeit der Kunst verfehlt werden würde. Die »Philosophie« wird hier offensichtlich in ähnlicher Absicht als die höchste Weise von Erkenntnis (von »Wissenschaft«) ange­ führt wie im Vorhergehenden die Ästhetik Schillers als das Postulat einer höchsten Weise von Erziehung. Nur werden nun, im Falle der »Wissenschaft«, zuvor noch andere, verbreitetere Erkenntnisweisen genannt. Burckhardt spricht – in unaufdringlicher Art – eine ganze Hierarchie von Erkenntnismöglichkeiten an. Er beugt damit dem Einwand vor, sein Gedanke einer unüberbrückbaren Kluft zwischen Kunst und Wissenschaft beziehe sich nur auf einen Extremfall, einen Sonderfall von Wissenschaft. Das Unterscheidungsmerkmal gilt in allen Fällen.

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2 Weder ›Verewigung‹ noch ›Nachahmung‹

Diese Hierarchie besteht aus drei Stufen. Der obersten, zuletzt genannten, der »Philosophie«, gehen zwei – durch »theils ..., theils ...« gesonderte – Aspekte voraus. Wissenschaft als »Sammeln« und »Ordnen« und Wissenschaft als ein »Vorandringen« und »Ent­ decken« (also als Forschen und Suchen). Das Sammeln gehört dem »praktisch Unentbehrlichen« zu: es ist die »geistige« Arbeit ange­ sichts der Frage, was gibt es alles, wie groß ist der Umfang in dem einen oder anderen Bereich von Faktizität? (Eine der Lieblingsarbei­ ten, oft auch der mühsamsten Pflichten in Burckhardts eigenem wissenschaftlichen Umgang mit den Zeugnissen der Kunst.) Das Ordnen gehört – auf dieser untersten Stufe von Wissenschaft – dem »wissenswürdigen Unendlich-Vielen« zu: es ist die systematische Arbeit angesichts der je und je verwirrenden Mannigfaltigkeit von Arten und Individualitäten eines Erkenntnisbereiches. – Forschung und Entdeckung machen mit Fakten und Gesetzen erst bekannt (im einen Fall durch Fernrohr und Mikroskop, durch Grabung und Entzif­ ferung, im anderen Fall – wie dem Bewegungsgesetz der Gravitation oder der Epochenstruktur des Hellenismus – durch Deutung und Entwurf). – In dieser Hierarchie kann Burckhardt der Philosophie die höchste Stelle zusprechen (ganz unabhängig von der historischen Folge), weil hier nicht gesonderte Entdeckungsfelder, spezielle For­ schungsdisziplinen, sondern je und je das Seiende im Ganzen zum Wissensthema wird. Die Philosophie sucht »die höchsten Gesetze alles Seienden zu ergründen«. Diese Formulierung Burckhardts zieht zwei Gedanken in einen zusammen: Als dasjenige Sammeln und Ordnen, Forschen und Entdecken, welches je und je die Einheit alles Seienden im Blick hat, sucht die Philosophie die höchsten Gesetze zu ergründen. In dieser mehrfach gestuften Gliederung eines Übereinander und Nebeneinander stellt Burckhardt an den »Wissenschaften« dasjenige einheitliche Merkmal heraus, von dem er dann die Andersartigkeit der Künste abhebt. Er nennt es hier zwar nur bei der ersten und der letzten der drei Stufen, doch kann kein Zweifel sein, daß es genauso auch für die mittlere gilt. Die Arbeiten des Sammelns und Ordnens, des Vorandringens und Entdeckens, des philosophischen Begründens zielen stets auf etwas ab, das – wie schon die Namen Wahrheit und Erkenntnis sagen – auch ohne ihr Zutun vorhanden ist. »Die Wissenschaften sind theils die geistige Seite des practisch Unentbehrlichen und die systematische Seite des wissenswürdigen Unendlich-Vielen, d.h. die großen Sammlerinnen und Ordnerinnen

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›Das einzig irdisch Bleibende‹

dessen was auch ohne ihr Zuthun thatsächlich vorhanden ist, – theils dringen sie voran und entdecken dasselbe, sei es als Einzelheit oder Gesetz, – endlich sucht die Philosophie die höchsten Gesetze alles Seienden zu ergründen, aber wiederum als auch ohne sie und vor ihr, nämlich ewig, bestehende.« Den Unterschied dazu, den Gegensatz dazu nennt Burckhardt in einem gesonderten Absatz: »Ganz anders die Künste; sie haben es nicht mit dem auch ohne sie Vorhandenen zu thun, auch keine Gesetze zu ermitteln, sondern ein höheres Leben darzustellen, welches ohne sie nicht vorhanden wäre.«

Die Künste haben (erstens) etwas darzustellen, was ohne sie nicht vorhanden wäre. Damit ist hier (zweitens) nicht das Produzieren neuer Formen oder Gebilde gemeint (wie dies auch auf wissenschaft­ lichem – nämlich technischem – Wege möglich ist: durch die Kenntnis von Gesetzen, die dem Vorhandenen zugrundeliegen), sondern ein Erwecken von »Leben«. Dieses »Leben«, das ohne die Künste nicht vorhanden wäre, unterscheidet sich (drittens) nicht dadurch von dem auch ohne es Vorhandenem, daß es neu ist, sondern dadurch, daß es »höher« ist. (Was hier »höher« heißt, erläutert Burckhardt im Fortgang.) Und schließlich (viertens) ist an dem bislang Gesagten noch festzuhalten, daß Burckhardt zwar von einem »Darstellen« spricht, aber nicht von einem Herstellen: Diese erste Kennzeichnung des Eigenen der Künste sagt nicht, daß der Künstler das »Leben«, das ohne die Künste nicht vorhanden wäre, hervorbringt. Sie sagt nur, daß es ohne die Künste nicht vorhanden wäre. Es ist damit weder über das Verhältnis des Künstlers zur Kunst, noch auch über das der Kunst zum Leben mehr gesagt, als daß es sich hier nicht um die Arbeit an etwas schon Vorhandenem handelt und daß dieses nur mit den Künsten mögliche Leben ein »höheres« Leben ist. In beiderlei Hinsicht, der Frage: was ist das für eine »Darstellung«? und der Frage: was meint hier die Rede von einem »höheren Leben«?, verleiten Burckhardts eigene Erläuterungen zu naheliegenden Mißverständnissen. Diese Erläuterungen des Autarkie-Postulates, die den nun folgenden Schritt in Burckhardts Gedankengang ausmachen, stellen den mehrfach variierten Versuch einer direkten Formulierung dessen dar, was man Burckhardts Begriff der Kunst nennen könnte, wenn er eine solche Kennzeichnung nicht selber als die sachverfälschende Zielsetzung einer »Idee« (oder eines »Grundes«) der Kunst zurückweisen würde. Vorsichtiger wird man daher diesen zweiten Schritt in Burckhardts

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2 Weder ›Verewigung‹ noch ›Nachahmung‹

Passus über die Künste seinen Kerngedanken vom Verhältnis der Künste zur Welt nennen können oder kürzer: seinen Hauptgedanken über die Kunst. Die mehrfach variierte Formulierung dieses Gedan­ kens (in drei Absätzen) scheint einheitlich geprägt zu sein durch das Alternativschema von »zeitlich« und »der einzelnen Zeitlichkeit enthoben«, von »vergänglich« und »unvergänglich«. Damit legt sich die Deutung nahe, Burckhardt spreche von nichts anderem als der ver­ trauten Ansicht vieler Kunstfreunde und – im 19. Jahrhundert zumal – auch einiger ›Kunstschaffenden‹, wonach die besondere Leistung der Kunst die Überwindung der Vergänglichkeit sei. Das »höhere Leben« der Kunst wäre dann die Überwindung jenes zeitlichen Lebens, in dem unser wirkliches Leben besteht. In der Nachzeichnung des Passus über die Künste wird uns daher zuerst einmal die Fraglichkeit einer solchen Erwartung zu beschäftigen haben,- zusammen mit den Fragen, die Burckhardts Formulierung überhaupt aufwirft.

b ›Irdisch-unsterblich‹ Die Künste »beruhen auf geheimnisvollen Schwingungen in welche die Seele versetzt wird. Was sich durch diese Schwingungen entbindet, ist dann nicht mehr individuell und zeitlich, sondern sinnbildlich bedeutungs­ voll und unvergänglich. Aus Welt, Zeit und Natur sammeln Kunst und Poesie allgültige, allverständliche Bilder, die das einzig irdisch Bleibende sind, eine zweite ideale Schöpfung, der bestimmten einzelnen Zeitlichkeit entho­ ben, irdisch-unsterblich, eine Sprache für alle Nationen. Ein größter Exponent der betreffenden Zeitalter, so gut wie die Philosophie. Aeußerlich sind ihre Werke den Schicksalen alles Irdischen und über­ lieferten unterworfen, aber es lebt genug davon weiter, um die spätes­ ten Jahrtausende zu befreien, zu begeistern und geistig zu vereinen.«

Das Autarkiepostulat zu Beginn des Passus sagte: Die Künste sind ganz anders als andere Gebiete der Cultur, auch anders als die Wis­ senschaften und selbst die Philosophie, da sie in hohem Grade um ihrer selbst willen vorhanden sind, da sie es nicht mit dem auch ohne sie Vorhandenen zu tun haben. Die Erläuterung dieses Postulates sagt: Die Künste verwandeln das individuell Zeitliche in ein sinnbild­

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›Das einzig irdisch Bleibende‹

lich Bedeutungsvolles und Unvergängliches. Sie sind, indem sie so aus »Welt, Zeit und Natur« allgemeingültige Bilder gewinnen, eine »zweite ideale Schöpfung«. Ist »Welt, Zeit und Natur« – wir können sagen: ist die Vergänglichkeit der natürlichen Welt – die wirkliche Schöpfung, so ist die Unvergänglichkeit jener bildlichen Welt eine ideale Schöpfung. Die Kunst: das »einzig irdisch Bleibende«. Was heißt hier »Bild«? Was heißt hier »Bleiben«? Was heißt hier »Schöpfung«? In allen drei Fällen läßt sich verhältnismäßig leicht sagen, was Burckhardt jeweils nicht meint. Dabei hilft im Falle des »Bild«-Gedankens der folgende (dritte) Gedankenschritt; wir sparen diese Frage darum noch auf, um zuvor auf die schon mit dem genann­ ten Schritt allein bemerkbare Fraglichkeit der Rede vom »Bleibenden« der Kunst und von der »Schöpfung« der Kunst einzugehen. Wenn die bildenden Künste, die Musik und die Poesie »Bilder«, die »nicht mehr individuell und zeitlich sind«, aus Welt, Zeit und Natur sammeln, dann kann die hier gemeinte »Schöpfung« kein »Schaffen« sein. Sammeln ist kein Produzieren. Die geheimnisvollen Schwingungen, in welche die Seele im Bereich der Künste versetzt wird, erschaffen nicht, sondern »entbinden«. Sie sind – wenn die ›kreative‹ Schöpfungs-Metaphorik hier überhaupt noch aufgenom­ men werden kann – eher helfend als zeugend, eher hütend als machend. Dieser bescheidenere Sinn von »Kunst« entspricht dem Sinn des römischen Wortes ›cultura‹ (= Pflegen) oder auch des griechischen Wortes techne (zum Erscheinen Bringen) besser als der technische ›Kultur‹-Begriff des Produktions-Zeitalters. Eine »Schöp­ fung«, die im Sammeln besteht, hat mehr mit dem Wortsinn des Schöpfens als mit dem Wunschsinn des Kreierens zu tun. Und wenn die Künste sich auch von allen anderen »Cultur«-Gebieten unterscheiden, so bleiben sie als ein Sammeln und Entbinden doch dem Grundzug der »Cultur«-Potenz treu, den Burckhardt in der Spontaneität, in dem Wandelungs-Vermögen gegenüber Gegebenem sieht. Sie brauchen »Welt, Zeit und Natur«, sie machen sie nicht. Eine »zweite« Schöpfung, das heißt hier eben nicht: eine zweite neben oder in der ersten, sondern die Versammlung der »ersten« Schöpfung. Die »Welt« der Künste: eine – wie Burckhardt an anderer Stelle sagt – »zweite, höhere Erdenwelt« (SG S. 384, Z. 11; WB S. 158), deren Eigenständigkeit in dem ohne sie nicht vorhandenen und bewegenden (Spontaneität erweckenden) Moment des »Sam­ melns« beruht.

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2 Weder ›Verewigung‹ noch ›Nachahmung‹

Wie sich dabei freilich Erwiderung und Unersetzlichkeit, Ant­ wort und Aufbruch reimen, nur »Bild« und dennoch das »Außeror­ dentlichste«, das muß zusammen mit der Frage: was das nun für ein »Sammeln« ist, bis zur Frage nach der Einheit dieses Passus (dem Zusammenhang seiner verschiedenen Schritte) noch offen bleiben. Zunächst noch der zweite jener drei Namen dieses Hauptge­ dankens über die Künste, die man die Rätselworte dieses Stückes nennen könnte, »Schöpfung«, »Bleiben«, »Bild«: Die Künste: das einzig irdisch »Bleibende«. Was »bleibt«, ist das, was Kunst und Poesie »aus Welt, Zeit und Natur« als Bilder sammeln. Inwiefern diese Bilder bleiben, sagt das Merkmal der Allgültigkeit, der Allverständlichkeit. Das Bleiben ist ein Gültig-, ein Verständlich-Bleiben. Es ist also kein Bestehen-Bleiben. Es hat nichts mit Aufbewahrung, nichts mit Speicherung zu tun. Zum »Gelten«, zum Verstehen gehört das Hören, das Sehen. Den »Bildern«, von denen hier die Rede ist, kommt insofern ein Bleiben zu, als ihre Sprache zu allen Zeiten hörbar ist. Diese »zweite, ideale Schöpfung« ist »der bestimmten, einzelnen Zeitlichkeit enthoben«, ist »irdisch-unsterblich«, weil sie »eine Spra­ che für alle Nationen« ist. Diese Art von Überzeitlichkeit hat nichts mit einer solchen Art von Ewigkeit zu tun, die außerhalb der Zeit schlechthin zu denken wäre. Denn was hier eine Sprache für alle Nationen ist, das ist dies eben darin, daß es ein größter Exponent der betreffenden Zeitalter ist. Es ist die Sammlung von Welt, Zeit und Natur, die Sammlung also des im höchsten Sinn Vergänglichen, was auch zu anderen Nationen spricht: Es sind die »Bilder« einer Zeit, die auch zu anderen Zeiten sprechen. »Die großen Alten wußten nicht von uns«,

schreibt Burckhardt in einem Zusatz zu dem zweiten dieser drei Absätze, der das, was sich als Kunst »entbindet«, »unvergäng­ lich« nennt, »und wie weit sie selber an die Nachwelt dachten, mag fraglich bleiben, aber: ... wer den Besten seiner Zeit genug gethan der hat gelebt für alle Zeiten.«

Mit diesen Versen aus dem Prolog zu ›Wallensteins Lager‹ (v. 48f.) ist derjenige Zeit-Bezug angesprochen, der darum »unsterblich« genannt werden kann, weil er für »alle Zeiten« gültig sein kann. Was dieser Sachverhalt des Gültigseins, diese Bewegbarkeit des Verstehens bei Burckhardt (und vielleicht auch in diesem ›Wallen­

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›Das einzig irdisch Bleibende‹

stein‹-Ausspruch) meint, kann ebenfalls noch offen bleiben, – wenn wir zunächst nur darauf achten, was er nicht meint. Was Exponent eines Zeitalters ist, kann nicht in einer solchen Weise überzeitlich sein wie ein Gesetz oder ein Gebot, das – als Gesetz und als Gebot – darin besteht, daß es die Zeitlichkeit eines Zeitalters, eines jeden Zeitalters transzendiert. Wieso wird hier aber nun – als größter Exponent der betreffen­ den Zeitalter – die Kunst der Philosophie verglichen, nachdem sie wenige Zeilen zuvor von dieser Ergründerin der höchsten Gesetze alles Seienden ausdrücklich abgehoben worden war? Die höchsten Gesetze alles Seienden sind nicht Exponenten – auch nicht die größten Exponenten – eines Zeitalters. Sie sind das Höchste, was als wahr erkannt werden kann. Gleichwohl aber kann einer der größten Expo­ nenten eines Zeitalters das Denken der höchsten Gesetze sein. Ja, ein solches Denken wird stets sein Zeitalter bezeugen. Das gilt von Plato wie von Schopenhauer. Die Frage ist nur, ob eine solche Zeitbezeugung eine Relativie­ rung des ›Absoluten‹ ist, oder nicht vielmehr gerade derjenigen »Größe« der Philosophie zugehört, die sie – trotz ihrer Unterschiede – mit den Künsten teilt: nämlich Sprache zu sein, – wir können mit Burckhardts hier betont gebrauchter Kennzeichnung auch sagen: ... nämlich irdisch zu sein. Was heißt denn: »das einzige irdisch Bleibende«, was heißt denn: »irdisch unsterblich«, wenn wir nur den allernächsten ›Kontext‹ lesen? Das irdisch Bleibende ist nicht das überirdisch Bleibende. Es ist das nicht überirdisch Bleibende. In der hier, während des Kollegs über das Studium der Geschichte von Burckhardt erwogenen »Potenzen«-Triadik gesprochen: es ist nicht das Bleibende, auf das der universale Geltungsanspruch der »Religion«, dieser einen der beiden stabilisierenden Potenzen, abzielt. Es ist, um diese negative Kennzeichnung ins Positive zu wenden, diejenige Möglichkeit eines Bleibens, die allein der Welt des Beweglichen, Freien, nicht notwendig Universalen zukommen kann, diejenige Möglichkeit eines Bleibens also, die der Erscheinungsweise aller »Cultur«-Gebiete angemessen ist: nämlich unaufhörlich modifizierend und zersetzend auf die beiden stabilen Lebenseinrichtungen einzuwirken. Es kann sich hier nur um eine Unsterblichkeit im »Geschichtlichen« handeln, um eine Unver­ gänglichkeit der »Wandelung« selbst. Nicht jenseits, sondern diesseits der eigenen Zeitstruktur der »Zeitalter« spielt sich ab, was Burckhardt hier – in der Unterscheidung von der historischen Aktions-Gebun­

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denheit – das der »bestimmten«, der »einzelnen Zeitlichkeit« entho­ bene »irdisch Unsterbliche« nennt. Wir verfehlen das Gesagte, wenn wir nur den – vordergründig auch mitklingenden – Gedanken einer schattenhaften Ähnlichkeit des irdisch Unsterblichen zum überirdisch – also eigentlich – Unsterbli­ chen wahrnehmen. Untergründig, auf den nächsten und weitesten ›Kontext‹ dieser Stelle – dieses Kollegs, dieses Lebenswerkes – hin gesehen, wiegt das Auszeichnende der Unvergleichlichkeit in die­ sem Paradox einer zeitlichen, also vergänglichen Unvergänglichkeit schwerer als die Analogie zum Universalitätsanspruch der beiden stabilisierenden Potenzen. Der Welt des Beweglichen, Freien kommt erst in einer so abseitigen, aber außerordentlichen Gestalt wie der der Künste eine eigene »Universalität« zu, diejenige nämlich, die keine Zwangsgeltung in Anspruch nimmt, ja, eben darin ihre eigene »Allgültigkeit« hat, daß sie – von einem Zeitalter zum anderen und über lange Zeiträume hinweg – die Spontaneität »entbinden«, daß ihre Werke noch »die spätesten Jahrtausende« »befreien« können.

c Das Paradigma der Architektur Das Postulat, die Kunst sei in hohem Grade um ihrer selbst willen vorhanden, scheint dem Sachverhalt zu widersprechen, daß jedes Kunstwerk einen Gehalt hat. Wir dürfen doch vor einem Kunstwerk fragen, was ist hier dargestellt? Und nicht nur wir, die Betrachtenden, auch die Künstler äußern sich ähnlich. Sie fragen, was dargestellt werden sollte; sie fragen sich – vor sich selbst wie untereinander –, wieweit ein jeweils zu Gestaltendes auch gestaltet worden ist. Für Betrachter wie für Künstler scheint das Werk der Kunst auf etwas abzuzielen, von etwas auszugehen, was die Kunst selbst – wie verschieden auch immer im Einzelfall – in hohem Grade nicht ist. Dieser externe Gehalt der Kunst, dieser »Sachinhalt«, wie Burckhardt den vorgängigen Anstoß oder Antrieb, den vorgängigen Wunschoder Zielgehalt bezeichnet, scheint dem Postulat der Autarkie in einer fundamentalen Weise zu widerstreiten. Der folgende (dritte) Schritt in Burckhardts Gedankengang ist diesem Anschein eines Einwandes gewidmet. Er besteht aus drei Absätzen, von denen der erste den Einwand kennzeichnet, der zweite das Gegenargument umschreibt, der dritte dieses Argument präzisiert. – Der erste Absatz lautet:

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›Das einzig irdisch Bleibende‹

»Bei den meisten Künsten, selbst bei der Poesie kann freilich der Sachinhalt in hohem Grade mitwirken, sowohl auf den Künstler als auf den Betrachtenden. (Das Wünschbare, das Schreckliche, das Sinnlich Begehrenswerthe etc.). Ja die meisten Leute glauben die Kunst sei eigentlich dazu da, um das was ihnen aus andern Gründen wichtig ist, recht eindringlich darzustellen und zu ›verewigen‹.«

In einem Nachtrag setzt Burckhardt hier noch hinzu: »sie sei die Nachahmung des Physisch-Vorhandenen, Einzel­ nen, Gebrechlichen.«

Mit dieser Kennzeichnung des Einwandes, den der »Sachinhalt« gegen das Autarkiepostulat zu erheben scheint, nennt Burckhardt – in einem dreifachen Vorbehalt – auch schon die Möglichkeit seiner Zurückweisung. Erstens sind es »die meisten«, also nicht alle Künste, die diesen Einwand nahelegen. Zweitens kann der »Sachinhalt« streng genommen nur als mitwirkend – wie hoch auch immer –, nicht als erwirkend bezeichnet werden. Und ob das unbestreitbare Mitwirken doch ein Erwirken ist, das ist – drittens – durch sein Vorhanden­ sein noch nicht entschieden; eine solche Folgerung, die aus einem Miteinander ein Zueinander macht, aus einer Konfiguration eine Subsumtion ist ein »Glaube«. (Ein Glaube muß nicht falsch sein, aber er kann sich als irrig herausstellen.) Die Abweisung des Einwandes selber besteht darin, daß Burck­ hardt den Leser (den Hörer) darauf aufmerksam macht, daß wir beim Reden über Kunst und Künste stets dem Schema eines Vorbildes folgen. Eine einzelne Kunstart dient uns – unwillkürlich, ohne, daß wir diese Auswahl reflektierten – als Muster aller Künste. Dieses Schema, dieses Muster von ›Kunst‹ ist die Bildkunst (Plastik und Malerei). Dabei gilt nun Burckhardts Gegeneinwand nicht dem Sche­ matismus (der paradigmatischen Orientierung) überhaupt, sondern diesem Muster. Er macht den Schematismus überhaupt bemerkbar, indem er durch ein neues, ein konträres Muster den besonderen Anspruch auf Mustergültigkeit des alten angreift: »Was Kunst ist«, das zeige sich »am deutlichsten« an der Architektur. Diese Bemerkung hat zunächst einmal den polemischen Sinn: ... und nicht an der Bild­ kunst. Bevor wir auf die Frage von Bedeutung und Gewicht dieses neuen Paradigmas eingehen, müssen wir erläutern, wieso darin ein Angriff auf den Bild-Begriff von Kunst zu sehen ist. Daß Burckhardt mit seinem neuen Muster eben dieses alte Muster korrigiert, wird daran

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erkenntlich, daß er (im Fortgang und im Abschluß dieses Passus) das an der Architektur Gezeigte mit der Poesie verbindet und (in einer nachträglichen Notiz) das Exemplarische der Architektur an dem Beispiel der Musik bestätigt sieht. Es sind also von allen fünf Künsten (die Burckhardt zu Anfang des Passus anspricht) die beiden Bild-Künste, Malerei und Plastik, denen er durch seinen Hinweis auf die Architektur und seine Behauptung, sie zeige »am deutlichsten, was Kunst ist«, den paradigmatischen Rang abspricht, den sie in allem Reden über ›Kunst‹ in der Ästhetik, auch in der Literaturästhetik (auch im ›Laokoon‹) und weiten Strecken der Musikästhetik seit der Romantik einnimmt.)129 Daß Burckhardt damit nicht den künstlerischen Rang und das in manchen Zeiten – wie dem des alten Griechenland – weltgeschichtli­ che Gewicht der Plastik oder – wie in der Renaissance und im Barock – der Malerei in Zweifel ziehen wird, ist anzunehmen. Der Wandel, auf den Burckhardt hier abzielt, gilt nicht dem Streit um die Wertung der verschiedenen Künste, sondern dem Maßstab dafür, »was Kunst ist«, – auch im Falle einer Phidias-Skulptur oder eines Rubens-Gemäldes. Das Referat des potenziellen Einwandes gegen sein AutarkiePostulat: »Die meisten Leute glauben die Kunst sei eigentlich dazu da, um das was ihnen aus andern Gründen wichtig ist, recht eindringlich darzustellen und zu ›verewigen«, sie glauben, »sie sei die Nachah­ mung des Physisch-Vorhandenen, Einzelnen, Gebrechlichen«, kon­ frontiert Burckhardt mit einer Blickwendung: »Glücklicher Weise aber giebt es eine Architectur, in welcher sich reiner als sonst irgendwo, und unabhängig von jenem Allen, ein idealer Wille ausdrückt. Hier zeigt sich am deutlichsten was Kunst ist. (Dafür freilich die große Abhängigkeit der Architectur vom Zweck und ihr oft langes Ausruhen auf conventioneller Wiederholung).«

Obwohl die Architektur diejenige Kunstart ist, die uns weniger als jede andere als ›reine Kunst‹ erscheint (mit Ausnahme allenfalls des ästhetisch leidigen ›Kunstgewerbes‹), denn sie gehört doch mindes­ tens zur Hälfte einem ganz unkünstlerischen Gebrauch zu; sie ist, mindestens zur Hälfte, Technik, behauptet Burckhardt, sie zeige am deutlichsten, was Kunst ist. 129 S. dazu D. J., ›Das musikalische Gleichnis‹, in: Maßstäbe der Kunst- und Geschichtsbetrachtung Jacob Burckhardts, Schwabe: Basel 2006, S. 184 und die Anm. 14 dazu auf S. 201 (bes. das dort genannte Buch von M. H. Schmid).

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›Das einzig irdisch Bleibende‹

Mit Redeweisen (und Handlungsmustern) wie ›Kunst am Bau‹ haben wir uns heute schon daran gewöhnt, den Gedanken an ›Kunst‹ ganz von der Architektur zu dispensieren. ›Kunst‹ ist das, was zum ›Bau‹ noch hinzukommen kann, eben: Plastik und Malerei. ›Kunst‹ ist (für uns) Bild-Kunst. Und auch Musik und Literatur sind (für uns) Bild-Künste. Wir fragen auch bei ihnen: was stellen sie dar, was wird ›verewigt‹, was an Gefühltem oder Gedachtem wird ›ins Bild gesetzt‹? Kunst ist (für uns) Mimesis. Für uns: sobald wir über Kunst reflektieren, sobald wir – während eines Konzerts, bei einer Bildungsreise, in einem Museum – uns auf das zu Hörende oder zu Sehende ausdrücklich als auf ein ›Kunstwerk‹ einstellen. Wir tun das auch vor Architektur, sofern sie uns als Kunst beschäftigt – in Rom, in Athen, in Chartres, in Versailles. Unser Leitbild, unser Maßstab ist auch da nicht die Bau-, sondern die Bild-Kunst. Wenn Burckhardts Behauptung, die Architektur zeige am deutlichsten, was Kunst ist, im Recht wäre, dann hieße das: wir hätten auch die Bild-Kunst nach dem Maßstab der Bau-Kunst zu betrachten. Sofern ein ›Standbild‹ Kunst, sofern ein ›Bildnis‹ Kunst ist, müßte es dann in ähnlicher Weise wie die Architektur »unabhängig« von »Sachinhalten« sein, die mit ihnen »nachgeahmt«, die mit ihnen »verewigt« werden. »Reiner als sonst irgendwo« drückt sich in der Architektur unabhängig von jenem allen »ein idealer Wille aus«. Diese knappe Bemerkung macht dem Leser Schwierigkeiten. Wenn etwas Ausdruck eines Willens ist, ist es dann nicht gerade abhängig von Sachinhalten? Oder soll hier nur das ›Ideale‹ vom ›Realen‹ oder gar das ›Ideelle‹ vom ›Materiellen‹ abgehoben werden? Doch dann könnte man beim Paradigma der Bildkünste bleiben. Man hätte nur zwischen dem einen und dem anderen, zwischen einem höheren und einem weniger hohen »Sachinhalt« zu unterscheiden. Wie kann der »ideale Wille«, der sich in der Architektur ausdrückt, der Maßstab für die Autarkie der Künste sein? Wir würden das vielleicht noch verstehen können, wenn Burck­ hardt lediglich die Sonderfälle eines idealen Willens des Künstlers meinen würde, diejenigen Sonderfälle von Architektur also, die er dann (in dem »Architektur«-Passus des Kapitels über ›Historische Größe‹ SG S. 388, Z. 27 – S. 389, Z. 29; WB S. 162f.) Erwin von Steinbach als dem (vermuteten) Erbauer des Straßburger Münsters, Michelangelo als dem Erbauer der Peters-Kuppel zuspricht. Das Bau­ werk könnte dann verstanden werden als die Verwirklichung des Künstler-Willens, als Selbstverwirklichung. Doch damit hätten wir

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den Autarkie-Gedanken Burckhardts in den Autonomie-Begriff der Ästhetik zurückverwandelt. Und die Frage, wieso die Baukunst reiner zeigt, was Kunst ist, als die Bildkünste, wäre keineswegs verständli­ cher geworden. Burckhardt spricht ja hier auch nicht von den Son­ derfällen, wo ein Bau das individuelle Gepräge eines Künstlers zeigt. Er erinnert ausdrücklich an die große Abhängigkeit der Architektur »vom Zweck« und ihre Affinität zu »conventioneller Wiederholung«. »Abhängigkeit« vom Zweck, »conventionelle« Wiederholung, das sind hier Gestaltungsfaktoren, die den Anteil des Künstlers relativieren. »Zweck« und »Convention« prägen die Architektur stärker und deut­ licher als jede andere Kunstart. Der Auftrag, der den Künstler in seinen Dienst nimmt, die Tradition, die das einzelne Werk vorzeichnet, gehö­ ren zum Grundzug dieser Kunstart. Der Bau des Parthenon ist nicht in gleicher Weise Zeugnis seiner Erbauer wie die Bildwerke des Tempels Zeugnisse der Hand und der Werkstatt des Phidias sind. Ähnliches gilt für die gotischen Kathedralen – trotz aller ihrer Individualität. In dem Passus über die Architektur innerhalb des Kapitels über die ›Historische Größe‹ hebt Burckhardt darum gleich zu Beginn den Unterschied des Architekten von der Architektur hervor: »Von den Architecten hat vielleicht keiner eine so klar zugestandene Größe wie einzelne Maler, Dichter etc. sie besitzen. Sie müssen schon a priori die Anerkennung theilen mit ihren Bauherrn; ein größerer Theil der Bewunderung strahlt auf das betreffende Volk, die betreffende Priesterschaft, den betreffenden Herrscher – und dabei geht mehr oder weniger bewußt die Ansicht mit, daß Größe in der Architektur über­ haupt mehr ein Produkt der betreffenden Zeit und Nation als dieses oder jenes großen Meisters sei« (SG S. 388, Z. 26–34; WB S. 162).

Selbstzeugnis (oder gar Selbstverwirklichung) des Künstlers: das kann nicht diejenige Unabhängigkeit von »Sachinhalten« sein, für die die Architektur vorbildlich ist und die Burckhardt als »Ausdruck eines idealen Willens« bezeichnet. Dieser »Wille« ist meist nur in zweiter Linie der des Künstlers, in erster Linie – neben ihm und mit ihm – der des Bauherrn, der Priesterschaft, des Herrschers, des betreffenden Volkes, – des Auftrags, der Tradition. Was meint dann die Unabhän­ gigkeit von »jenem Allen«, das man in den Künsten nachgeahmt und »verewigt« finden kann? Was macht hier die Andersartigkeit gegenüber dem Mimesis-Begriff von Kunst aus? Einen Schlüssel zur Antwort gibt ein Attribut, mit dem Burck­ hardt an anderen Stellen dieses Kollegs das Spezifikum des Architek­

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›Das einzig irdisch Bleibende‹

tonischen kennzeichnet, und zwar eben als ein solches, das – in dieser Kunstart dominierend – auch anderen Künsten zugesprochen werden kann: die »Monumentalität«. In dem kleinen Passus ›Zur geschichtli­ chen Betrachtung der Künste‹ (der den ausführlicheren Exkurs ›Zur geschichtlichen Betrachtung der Poesie‹ beschließt) beginnt Burck­ hardt (nach einem Verweis auf die Musik, dem er hier aber nicht nachgeht) mit der Architektur: »Das Baulich-Monumentale: der willentliche Ausdruck der Macht, sei es im Namen des Staates oder der Religion.«

Und er macht nach einer ersten Unterscheidung zwischen frühge­ schichtlichen Zeugnissen (»Stonehenge«) und den »Formen« der Hochkulturen noch eine zweite Unterscheidung, nämlich die zwi­ schen »Wollen«, »Vollbringen« und »Luxus«: »Entstehung der Style; der weite Weg vom religiös-monumentalen Wollen bis zum Vollbringen, bis zu einem Parthenon oder Kölner Dom. Dann das Monumentale als Lebensluxus; Schloß, Palast, Villa etc. ...«

Und er schließt diese Bemerkung über den geschichtlichen Zeugnis­ rang der Baukunst: »Der Charakter ganzer Nationen, Culturen und Zeiten in ihrem Gesammtbauwesen als äußerer Hülle ihres Daseins. « (SG S. 291, Z. 33, – S. 292, Z. 7; WB S. 58.)

Die Wortverbindung »baulich-monumental« ist hier nicht als Kom­ bination eigenständiger Attribute gemeint (so wie man von einer monumentalen Malerei in der Hochrenaissance sprechen kann oder – wie Burckhardt selbst im Fortgang dieser Stelle – eine typisierendideale von einer historisch-erzählenden Skulptur unterscheiden kann). Monumentalität ist ein Grundzug der Baukunst, der hinter anderen Faktoren zurücktreten kann oder in einer entschiedenen Aus­ prägung dieses Grundzugs hervortreten kann – wie in der ägyptischen Pyramide, im griechischen Tempel, in der gotischen Kathedrale oder auch – auf eine neue Weise – in den Fassaden und Höfen der Paläste, den Vierungen und Kuppeln der Kirchen, von denen Burckhardt in seiner ›Baukunst der Renaissance in Italien‹ handelt. Die »monu­ mentale Baugesinnung«, die Burckhardt in exemplarischer Einseitig­ keit in den Rustica-Fassaden der toskanischen Frührenaissance, in exemplarischer Erfüllung im Kuppelbau der Peterskirche hervortreten sieht, war ein Ausdruck des »idealen Willens«, der der Architektur als

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solcher innewohnt. Wenn Burckhardt auch in der Rustica-Fassade das »Hauptausdrucksmittel des mächtigsten monumentalen Willens« sieht, den Palazzo Pitti »ein Bild der höchsten Willenskraft bei Ver­ zicht auf allen Schmuck« nennt, die Paläste der Frührenaissance im Ganzen durch die »Einheit des Willens und des Zweckes« ausge­ zeichnet sieht (§ 52, S. 52f.; § 90, S. 138), so wäre es doch ein Irrtum, Burckhardts Rede von »Monumentalität« und »Willen« mit dem neu­ zeitich-modernen Zug des »Willens zur Macht« gleichzusetzen, der in dem Wirtschafts- und Staatsdenken der Frührenaissance vorberei­ tet wird. Schon Burckhardts Lob des Inneren und Äußeren der Peters­ kuppel ist weit entfernt von einer Aktualisierung der italienischen Renaissance, wie sie Burckhardts Hörer und Leser Nietzsche in den Dienst seiner Diagnosen und Prognosen stellte. In dem Kapitel über ›Historische Größe‹ beschließt Burckhardt mit der Peterskuppel den Passus über die Baukunst: »Michelangelo aber hat den schönsten Außenumriß und den herr­ lichsten Innenraum auf Erden mit seiner Peterskuppel erreicht« (SG S. 389, Z. 27–29; WB S. 163).

Dieses letzte Beispiel gewinnt sein eigenes Gewicht aus der Nachbar­ schaft mit dem vorletzten, dem es schon in der Einleitung ausdrücklich an die Seite gestellt wird, der Fassade »Erwin von Steinbachs« in Straßburg »mit der allerschönsten durchsichtig gewordenen Gotik« (SG a.a.O., Z. 25f.). Anders als in manchen Bauten der Frührenaissance und der »Spätzeit« (dem Manierismus) sah Burckhardt in der Peterskirche nicht einen Ausdruck jener »absoluten Machtvollkommenheit«, die er in dem ersten Abschnitt der ›Cultur der Renaissance‹ unter dem Titel »der Staat als Kunstwerk« aufgezeigt hatte, sondern diejenige Verbindung von »Reichtum und Heiterkeit« der Formen mit majes­ tätischer Würde und Größe, zu der bereits Bramante den Zentralbau entwickelt hatte (›Baukunst‹, § 65, S. 91). Diesen Grundzug: nicht des Kalküls der Macht, sondern der Heiligkeit des Schönen, meint Burck­ hardt, wenn er in dem Paragraphen über ›S. Peter‹ des BaukunstBuches von Michelangelo sagt: »Sein Größtes aber ist doch wohl, daß er die Sehnsucht der ganzen Renaissance erfüllte durch den Bau dieser vollendet herrlichen Rie­ senkuppel mit dem lichtströmenden Zylinder« (S. 98).

In der Notiz zur Architektur, die den Passus »zur geschichtlichen Betrachtung der Künste« einleitet, nennt Burckhardt solche Beispiele

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für das »Baulich-Monumentale«, die an Zeugnisse des Machtaus­ drucks in der Früh- und Spätrenaissance (und des Barock) denken lassen, erst an letzter Stelle, als Zeugnisse für den »Lebensluxus«: »Schloß, Palast, Villa etc.« (hier S. 234). Was im Ganzen dieser kurzen Notiz über die geschichtliche Betrachtung des »Baulich-Monumenta­ len« als »willentlicher Ausdruck der Macht, sei es im Namen des Staates oder der Religion« angesprochen wird, das muß auch auf einen »monumentalen Willen« älterer und anderer Zeiten anwendbar sein: auch auf ein monumentales »Vollbringen« wie den Parthenon oder den Kölner Dom, – vom Umkreis unserer Kenntnis aus: auch auf die Hindu-Bauten Indiens aus dem 9. Jahrhundert oder eine japanische Pagode aus der gleichen Zeit, – also auf Zeugnisse der Baukunst, denen gegenüber wir (in einer Zeit nach Nietzsche) uns scheuen würden, von »willentlichem Ausdruck der Macht« zu sprechen. Das »Baulich-Monumentale« ist nicht der Einzelfall einer Macht-Äußerung, der andere Willens-Bekundungen privater und nationaler, merkantiler und politischer, kirchlicher und technischer Art an die Seite zu stellen wären. Vom »Willen« spricht Burckhardt hier in dem weiten, der Vielfalt aller Epochen und Kulturen angemes­ senen Sinn, mit dem er in der Einleitung zur ›Griechischen Cultur­ geschichte‹ (S. 4 und 5) als das Thema seiner »Culturgeschichts«Schreibung die »lebendigen Kräfte«, die »aufbauenden und zerstörenden« eines Zeitalters bezeichnet, die »Denkweisen und Anschauungen«, das »Innere der vergangenen Menschheit«, um zu »verkünden«, »wie diese war, wollte, dachte, schaute und vermochte«. Diesen Sinn des »Baulich-Monumentalen« als des »willentlichen Ausdrucks der Macht, sei es im Namen des Staates oder der Religion«, verdeutlicht der Schluß jener Notiz zur geschichtlichen Betrachtung der Baukunst: »Der Charakter ganzer Nationen, Culturen und Zeiten [spricht] in dem Gesamtbauwesen als äußerer Hülle ihres Daseins« (oben S. 234). Das »Baulich-Monumentale« ist nicht insofern ein willentlicher Ausdruck der »Macht« oder – wie Burckhardt dann, bei Gelegenheit der Skulptur und Malerei, ergänzend sagt – des Heiligen, als es ein Zusatz und Nachtrag der ›Wirklichkeit‹ (der »Sachinhalte«) von Staat und Religion, von Wissenschaft und Wirtschaft wäre. Es handelt sich bei diesem »Wollen« (dem architektonischen »Fühlen«, »Denken«, »Vermögen«) um den »Ausdruck«, um die »Monumentalität« selbst. Es ist das Bauen selbst, was hier den Gehalt des »Willens« ausmacht: das Aufstellen und Umschließen, das Wölben der Kuppeln, das Ragen

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der Türme, das Errichten der Räume, das Erscheinen der Fassaden, das Zum-Stand-Bringen der Säulen (wie im griechischen ›Säulenum­ gang‹) – die Rhythmisierung der Welt (wie in Griechenland), die Proportionierung der Dinge (wie im Italien der Renaissance), die Ver­ wandlung des Schweren der Materie in ein durchsichtiges Farbenspiel (wie in den gotischen Kirchenräumen), das Zum-Schwingen-Bringen der Zusammengehörigkeit von Himmel und Erde (wie in Bauten Ostasiens), das Aufwachsenlassen auch des Zerstörenden (wie in den Hindu-Bauten Indiens). Dieses nach Zeit und Ort verschiedene Vollbringen ist hier die »Sache«, die das »Wollen« selbst bewegt – und das in seinen »Luxus«-Gestalten noch nachklingen kann.130 Eine solche »Hülle« des Daseins ist Sprache des jeweiligen Daseins, weil sie selber mit zu ihm gehört. Wie allen wesenhaften, allen lebensnahen »Hüllen« von Lebewesen – vom Blatt und vom Haar bis zum Kleid und zum Klang – kommt dieser »Hülle« selbst ein Daseinsrang zu. Sie kann das »Innere« nicht ersetzen (so etwas gibt es nur in dem Grenzfall der Maske, aber die ist auch kein bloßer, kein nachträglicher ›Ausdruck‹). Das Innere gibt es so wenig ohne die »Hülle«, wie es diese ohne jenes gibt. Der griechische Perypteros ist die »Hülle« des Standbildes in der Cella. Aber mit ihm kommt die Göttin, der Gott zur Sprache. ›Die Gottheit ist in der Cella‹: das wäre modern gedacht. Zu ihrem Sein, zu ihrer Anwesenheit gehört vielmehr die »Hülle« des Tempelbaus, dessen Licht und Spiel, dessen Stehen und Kreisen, dessen Plastizität und Musikalität, an der hier auch der Bild-Schmuck beteiligt ist. In einem solchen Fall dient die Architektur der Religion. In einem anderen, dem Schloß z. B., dient sie dem Staat. In einem dritten – dem Palast des Kaufmanns in der Renaissance, der klassizistischen Fassade eines Bankgebäudes unserer Tage – dient sie dem Erwerb. Gebraucht wird sie aber, in den großen wie in den kleinen, in den offenbarenden wie in den verschleiernden Gestalten, in dem, was sie selber ist: als Bau, als Kunst. Burckhardts Fazit in diesem Schritt seines Gedankens über die Autarkie der Künste, seiner Zurückweisung des »Sachinhalt«-Ein­ wandes, lautet: 130 Die Unterscheidung zwischen Wollen und Vollbringen (Künstler und Werk) – also die Kritik am zeitgenössischen ›Genie‹-Begriff – in den Kunstgedanken Schellings hatte der Verf. (wie er an den Reaktionen sieht: vergeblich) vor zwanzig Jahren auf­ zuzeigen versucht: Schelling. Die Kunst in der Philosophie, Bd. II, 1969, S. 43–172, bes. S. 50f. und die Anm. 15.

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»Die Architektur beweist nun, wie frei von jenen stofflichen Nebenab­ sichten jede andere Kunst ist oder sein kann.«

Dieses Resümee seines Architektur-Paradigmas, seines ParadigmenWandels vom Bild zum Bau, bekräftigt Burckhardt durch einen noch nachträglich in die Handschrift eingefügten Zusatz zu dem Beispiel der Architektur: »Ihre Parallele die Musik (das Nachahmende darin ist gerade das Ver­ fehlteste).«

Daß dieser Zusatz kein bloßer Nachsatz ist, lehrt ein früherer Zusatz, den Burckhardt dem Abschluß des vorhergehenden Passus über »die Reihenfolge in der Cultur« angefügt hat, – der also dem Übergang des »Reihenfolge«-Passus zu dem über »die Künste« im Gedanken des »geistigen Überschusses« zugehört. Der Notiz, es sei »nicht nötig, für die Entbindung jedes Geistigen einen materiellen Anlaß als Basis auf­ zufinden, obwohl er sich am Ende fände« (SG S. 278, Z. 9f.), hatte Burckhardt in einer ersten Niederschrift das Beispiel eines solchen »Fundes« beigestellt: »Für den Rhythmus zB:, als äußeres Gewand der sonst in die Lüfte verfliegenden Poesie, ist vielleicht der Ursprung im Tanz zu suchen, sowohl im heiligen als im profanen« (a.a.O., Z. 11–13).

Diesen Gedanken einer Folge: erst Tanz, dann Rhythmus, korrigiert er in einer Randnotiz, wenn auch nur in Frageform: »Oder ist der Rhythmus das Urtümliche, gleichsam eine Rettung aus der Zerfahrenheit durch irgendeine Tactbewegung?« (a.a.O., Z. 28f.).

Vielleicht darf man diese Frage mit dem Hauptsatz Burckhardts über die Künste verbinden: Was Kunst ist, das zeigt am deutlichsten die Architektur; ihre Parallele: die Musik. Ist das Urtümlichste der Rhyth­ mus? Burckhardts Gedanke, in der Architektur den Maßstab dafür, »was Kunst ist«, zu sehen, bedeutet die Abkehr vom Grundzug aller Ästhetik, die seit der Kunstkritik am Schluß von Platos ›Staat‹ dem Maßstab des Bildes folgt; und das besagt: den Weltbezug der Kunst dem Horizont des europäischen Zentralgedankens der Erkenntnis unterwirft (auch dort, wo die Kunst als eine eigene Art von Erkenntnis oder als andere – emotionale oder irrationale – Art von Erkenntnis oder als Antithese zur Erkenntnis deklariert wird). Kunst ist danach

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– in einem Vorgriff, der selbst als unbefragbar gilt, der nur noch immanente Streitigkeiten zuläßt – Mimesis. Burckhardts Paradigmen-Wandel bedeutet eine Korrektur des Mimesis-Maßstabs, die dessen Absolutheitsanspruch verabschiedet. Seinem Paradigma der Architektur entspricht unter griechischen Wörtern am ehesten der Name mousike. Und es lohnt sich, von da aus neu daran zu denken, daß die Vorstellung von Kunst als Bild (als Mimesis) bei den Griechen niemals auf alle Künste über­ tragen worden ist (Plato hätte niemals daran gedacht, ein Bauwerk mimetisch zu verstehen) und daß die Verwendung dieses Begriffs für Malerei und Dichtung selber erst in spätgriechischer (platonischer) Zeit aufkommt, zur gleichen Zeit also, wo der im griechischen Theater schon länger gebräuchliche Bild-Perspektivismus (die Skenographia, der Vorläufer der neueren Zentralperspektive) zum Gestaltungsund Betrachtungsprinzip auch der großen Malerei und Plastik gewor­ den war.131 Dieser Paradigmenwandel ist kein Themenwandel. Die lebens­ lange Kunst-»Betrachtung« Burckhardts hat zwar ihre besondere Vorliebe in der Architektur, ihre größte Breite aber gewiß in der Malerei. Die Bewunderung der Kunst Raffaels, das Buch über Rubens, die ›Beiträge zur Kunstgeschichte von Italien‹ aus der Spätzeit: über das »Altarbild«, über »die Sammler« und über »das Porträt in der italienischen Malerei«, bezeugen das. Wohl aber haben sich unter dem Maßstab der Architektur auch die Gesichtspunkte für die Betrachtung der Malerei (und auch der Skulptur) gewandelt. Einerseits folgt die »systematische«, auf »Sachen« und nicht auf Personen zielende Denkweise in Burckhardts Kunststudien dem Vorbild der Architektur, für die die »Künstlergeschichte« immer nur eine sekundäre Rolle spielen kann, der »Auftrag« und die Tradition in einer offenkundigen Weise »stil«- und rangbildend sind. Nur in diesem »architektonisch« orientierten Horizont hat Burckhardt (in seiner ›Baukunst der Renaissance‹) die weltgeschichtlichen Wandlun­ gen aufzeigen können, die dieser Epoche das – alle Kunst der Folgezeit 131 Zur Musiké. Thrasybulos Georgiades, Der griechische Rhythmus. Musik, Reigen, Vers und Sprache, 1949, 2. Aufl. 1977, bes. der letzte ›Vortrag‹, S. 122–145. Zur Mimesis. Hermann Koller, Die Mimesis in der Antike. Nachahmung, Darstellung, Ausdruck, 1954. Ders.: Art. ›Mimesis‹. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Hg. v. J. Ritter, Bd. V, 1980, Sp. 1396–1399. Zu Plato. Bernhard Schweitzer, Platon und die bildende Kunst der Griechen, 1953, S. 58–88 (›Zeitgedanken‹ und ›Entwicklung‹).

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vorbildende und die Frageweise der Ästhetik absteckende – Gepräge des bildschaffenden Künstlers (des ›Genies‹, des Produzenten) und parallel dazu des selber schaffenden Rezipienten, des ›genießenden‹ und forschenden Kenners gegeben hat. Andererseits sieht Burckhardt – weit entfernt von aller ›Gesamt­ kunstwerk‹-Romantik seiner Zeit – den Unterschied zwischen Viel­ falt und Einfalt innerhalb einer Kunstgattung. In dem Kapitel über ›Malerei und Stuckierung des Inneren‹ von Bauten in dem ›Bau­ kunst‹-Buch beklagt Burckhardt schon an der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts den »Verfall der Gattung« (§ 179). Die bildnerische und schmückende Ausstattung einer Kirche, eines Palastes verliert den inneren Zusammenhang mit dem Architektonischen der Architektur. Die Darstellungen verselbständigen sich zur »Erzählung«, die Bezie­ hungen zum »sachlich«-Gegenständlichen: »Die naturalistische Auf­ fassung kommt hinzu, um diesen Szenen das schöne leichte Dasein im dekorierten Raum und den Zusammenhang mit demselben unmöglich zu machen« (S. 278; vgl. Bd. I, S. 571132). – Eine das Bild suchende Architektur stand von Brunelleschi bis zu Bramante mit einer seit Giotto und Massacio selber architektonisch geprägten Male­ rei im Bunde.

d Kunst und Religion Das Postulat dieses Passus über die Künste: sie sind ihrem Wesen nach autark, sie sind zu keiner Zeit auf andere Cultur-Gebiete oder Geschichtspotenzen zurückzuführen, hatte Burckhardt durch die Kennzeichnung des Singulären: »das Außerordentlichste«, eingeleitet und im Gedanken an die relativ plausibelste der Herkunftsdeutungen, die Zurückführung der Künste auf den »Cultus«, ausgesprochen. Es scheint zwar, als seien die Künste aus dem Kultus hervorgegangen, 132 Die Seitenangabe ›Bd. I‹ bezieht sich hier und auch im folgenden auf die Typo­ skriptkopie ›Kunstgeschichtliche Betrachtungen. Jacob Burckhardts Topologie der Künste‹, Band I, 1984. Dort heißt es auf S. 571: »Der letzte Paragraph, der vom ›Verfall der Gattung‹ handelt, konkretisiert an Beispielen und ›Räsonnements‹ (S. 279) aus der ›späten Zeit‹ zwischen 1560 und 1590 die Wendung zum Medialen (›erzählende Darstellungen‹, ›sachliche Beziehungen‹) und die Zuspitzung aufs Einzelne (die ›natu­ ralistische Auffassung‹) mit dem ›schönen leichten Dasein im dekorativen Raum‹ und dem ›Zusammenhang mit demselben‹ bei den Auftraggebern und Meistern der Hoch­ renaissance.« D.R.

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doch was wir wissen können, erlaubt uns nur, zu sagen: sie sind in früher Zeit »eng mit ihm verbunden gewesen«. Bei einer solchen – vorsichtigeren -Betrachtung, die auf vorschnelle Deutungen in der Form von Begründungen verzichtet, können wir, ältere und jüngere Zeugnisse der Geschichte zugleich betrachtend, die Deutung dieses Ausgangsbeispiels ›Künste und Kultus‹ durch die ergänzende Fest­ stellung präzisieren: Die Künste sind »doch auch vor ihm und ohne ihn vorhanden«.

Inwiefern »Dienst«? Diese exemplarische Artikulation des Autarkiepostulates zu Beginn des Passus nimmt Burckhardt in einem vierten Schritt seiner Gedan­ kenfolge wieder auf, indem er von dem »Dienst« der Künste an der »Religion« spricht. Dabei handelt es sich zwar nur um einen kurzen Satz, dem lediglich noch eine Einschränkung in Klammern beigefügt ist. Diesen einen Satz verbindet er aber mit dem Hinweis auf eine breitere Ausführung seines Inhalts, die sich in dem Kapitel über die sechs »Bedingtheiten« findet. Sein Hinweis meint den Passus, der den Abschnitt über ›die Cultur in ihrer Bedingtheit durch die Religion‹ abschließt und der beginnt: »Die Kunst in ihrer Bedingtheit durch die Religion gesondert zu betrachten« (SG S. 307, Z. 6f.; WB S. 75). Auf diesen Passus wird dann wiederum von seinem Gegenstück her zurückverwiesen, dem Passus über »die besondere Bedingtheit der Religion durch Kunst und Poesie« (SG S. 340, Z. 7f.; WB S. 144), der den Schluß dieses Kapitels über die sechs Bedingtheiten ausmacht. Wir folgen also Burckhardts eigenen Verweisen, wenn wir die ganz besonders knappe Formulierung des vierten Gedankenschrittes in dem Passus über »die Künste« aus dem zweiten Kapitel mit den dazu­ gehörigen Äußerungen aus dem dritten Kapitel verbinden. Der eine Satz und die in Klammern beigefügte Einschränkung (Absatz 14 des Passus über die Künste) lauten: »Der höchste und früheste Dienst der Künste, dem sie sich ohne Erniedrigung fügen: die Religion. (Sie allein würde freilich die Künste nicht immer entwickeln; das metaphysische Bedürfniß, das sie vertritt, kann der Art sein, daß es sie theilweise (Islam) oder gänzlich (Purita­ nismus) entbehrt oder sogar anfeindet).«

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Wir halten zunächst drei Momente fest: 1. Wenn Burckhardt von einem »Dienst« der Künste an der Religion spricht, dann spricht er nicht von einer Entstehung der Künste aus der Religion. Wer jemand Anderem oder etwas Anderem dient, hat sich damit – freiwillig oder gezwungen – in diesen Dienst begeben; er wird damit aber nicht zu einem Faktor, seine Arbeit nicht zu einem Resultat des Auftraggebers. 2. Burckhardt nimmt auch hier Lasaulx zum Anstoß für die eigene Notiz. Lasaulx spricht an der Stelle, auf die Burckhardt hier (ebenso wie in der einleitenden Bemerkung zum Verhältnis zwischen Kunst und »Cultur«) verweist, von »Entwicklungs«-Bezügen: »Wie die Religionen und die Staatsverfassungen, so entwickeln sich auch die Künste und die Wissenschaften ... nach bestimmten Gesetzen« (bei Thurnher, S. 132f.; SG S. 496, Z. 40–43; die folgenden Zitate nach dem Fortgang dieser Stelle). Dabei besagt »Entwicklung« für Lasaulx in diesem Fall einerseits das Nacheinander von Verschiede­ nem, was war früher, was war später; andererseits: die Erklärung, woraus das Frühere selbst sich entwickelt hat. Seine (für einen solchen Entwicklungsgesichtspunkt einleuchtende) Antwort: Die Wissen­ schaften haben sich später als die Künste entwickelt; und es ist die Religion, aus der sich die Künste entwickelt haben: »Die Künste [ent­ wickeln sich] zunächst aus dem religiösen Cultus, und die Wissen­ schaften nach den Künsten ...«. Diesen zweiten Aspekt verdeutlicht er noch, nämlich: »... aus derselben Wurzel der individuellen Freiheit des Geistes, welche die treibende Kraft des politischen Lebens ist«. Las­ aulx erläutert seine Ansicht am »Entwicklungsgang« der Künste Grie­ chenlands. Vom »heiligen Haus« der Götter, dem »Weihgeschenk« der Tempel bis zu den »Phantasiebildern« poetischer Gedanken und deren »Vollendung« in »Verstandesbegriffen«, in denen alles Frühere »zum Bewußtsein gebracht und über dasselbe philosophiert« werden konnte, zeige sich eine »Reihenfolge«, nach der sich die verschiedenen »Künste« bis zuletzt zur »Prosa« entwickelt und ausgebildet hätten. Der Anstoß Lasaulx‘ für Burckhardts eigene Notiz wird dabei auch hier in einer Mischung von Zustimmung und Ablehnung bestan­ den haben. Zustimmend wird Burckhardt die Vorsicht in der Rede Lasaulx‹ von einem Nacheinander- und nicht unbedingt Auseinan­ der-Sichentwickeln im chronologischen Verhältnis zwischen Künsten und Wissenschaften aufgenommen haben; während er den Gedanken einer Erziehung und Erzeugung von Wissenschaft und Philosophie durch die Künste, den Schiller in seinem philosophischen Gedicht ›Die Künstler‹ einer Zeit der Kunstentfremdung apologetisch vorzuhalten

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sucht, zurückgewiesen hat. Auch die Vorsicht, dem »religiösen Cultus« gegenüber nicht von einem »Entstehen«, sondern nur von einem »Entwickeln« der Künste aus ihm zu sprechen, noch dazu einem »spontanen«, wird Burckhardt begrüßt haben.) In einem Gegensatz zu Lasaulx befindet sich Burckhardt hier in dreifacher Hinsicht: Seine Frage ist überhaupt nicht das Nacheinander, sondern das Nebeneinander der verschiedenen Gebiete und Potenzen. – Er sieht innerhalb der Nachbarschaft von Kunst und Religion nicht nur Zeugnisse einer die »Entwicklung« fördernden Berührung, wie dies Lasaulx bei den Griechen und auch an »jeder christlichen Kir­ che« zu sehen glaubt, sondern auch solche, die entwicklungshindernd sind, wie (nach Burckhardts Ansicht) im Falle des Islam oder des Puritanismus. – Und schließlich macht ihn die Bewunderung der Zeugnisse wechselseitigen Sichförderns von Religion und Kunst wie bei den Griechen oder im hohen Mittelalter nicht – wie den primär theologisch interessierten und inspirierten Kulturhistoriker Lasaulx – blind für solche Zeugnisse von Kunst, die auch in alten, mythischkultisch oder heilsgeschichtlich-kirchlich geprägten Weltepochen in keiner engen Verbindung mit dem Kultus standen. Es gab im alten Griechenland, im hohen Mittelalter – wir können hinzufügen: auch in der Frühzeit Sumers, im Alten und Mittleren Reich Ägyptens oder im alten China – Tänze und Lieder, Münzprägungen und Gefäßformen, Brückenbögen und Porträtstatuen, Darstellungen badender Mädchen und arbeitender Bauern, spielender Kinder oder Jagd- und Reitersze­ nen, die auch vor einem Dienst und ohne einen Dienst an der Religion vorhanden waren. Kunst kann ›auratisch‹ sein, man kann von einer »Kunstreligion« sprechen. Aber damit hat man in dem einen Fall nicht einen früheren, älteren (womöglich »ursprünglichen«) Grundzug von Kunst, in dem anderen nicht einen früheren, älteren (in diesem Fall dann: noch »primitiven«) Grundzug von Religion getroffen, sondern nur ein In-den-Dienst-genommen-werden von Kunst durch Religion. Solche »temporären Bündnisse« (s. unten S. 251) können zu keiner Zeit und weder für die Kunst noch für die Religion als ein Signum des ›historisch Wahren‹ oder des ›historisch Ersten‹ angesehen werden. 3. Ein letztes Moment schließlich in Burckhardts Notiz über den »höchsten und frühesten Dienst der Künste«: Die Zweideutigkeit im Verhältnis der Künste zur Religion: enge Verbindung und doch auch ohne sie vorhanden, Dienst an ihr, aber nicht Herkunft aus ihr, hat in dem einen Merkmal ihre heimliche Einheit, das Burckhardt hier als

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»frei« umschreibt. Der »höchste und freieste Dienst der Künste«, der­ jenige an der Religion, ist ein solcher, dem sie sich »ohne Erniedrigung fügen«. Der Kerngedanke dieser knappen Äußerung ist also der: Den Wesenszug der Autarkie (der »Spontaneität«) bezeugt in einem ganz besonders hohen Maß der Religions-Bezug der Künste. Der Zusatz über Zeugnisse der Unfreiheit (Islam, Puritanismus) unterstreicht das via negationis. Plastizität und Gewicht enthält dieser Gedanke im Blick auf jene beiden Stellen des dritten Kapitels, die man seine Ausführung nennen könnte. Wir werden auf jede der beiden Stellen gesondert eingehen und eine dritte Stelle – in beiden Fällen – mit berücksichtigen, nämlich den Fortgang des kleinen Passus ›Zur geschichtlichen Betrachtung der Künste‹ (am Schluß des zweiten Kapitels), dessen Anfang (über das »Baulich-Monumentale«) sich mit dem vorherigen Schritt (dem Paradigma der Architektur) verbinden ließ.

Die Kunst in ihrer Bedingtheit durch die Religion In dem zwei Seiten langen Passus über »die Kunst in ihrer Bedingtheit durch die Religion«, mit dem Burckhardt den zweiten Abschnitt des dritten Kapitels abschließt, sind – wie meist in diesem Kolleg – ›histo­ rische‹ und ›systematische‹ Differenzierungen vermischt. Der Passus beginnt mit Erwägungen zur »Jugendzeit« der Künste »im Dienste der Religion« (mit Ausscheidung der »Ursprungs«-Frage) und endet mit einem Ausblick auf die »Ablösung der einzelnen Künste vom Cultus«, wobei Burckhardt an Poesie, bildenden Künsten und Musik verschiedene »Stadien« und verschiedene Stärken der Ablösung in Erscheinung treten sieht. In der Mitte zwischen den jeweils gleich langen Partien zur »Jugendzeit« und zur »Ablösung« steht ein Absatz über die Griechen. Diesem kommt sowohl für eine Erinnerung des »Dienstes« am Kultus als auch für den Beginn der Ablösung eine Schlüsselrolle zu. Die Erinnerung besteht darin, daß die Griechen die Künste aus dem ersten großen Fall eines erniedrigenden Dienstes, den Burckhardt in Ägyp­ ten zu sehen glaubt, befreien. Dieser Kontrast erläutert (ohne daß man das Pauschalbild Burckhardts von Ägypten teilen müßte) den Sinn seines Gedankens von dem freien Dienst der Künste in ihrem Ver­ hältnis zur Religion. Das Gegenteil von frei (ein Dienst mit Ernied­ rigung) zeigt sich an der »hieratischen Stillstellung« (SG S. 307, Z. 28),

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in der das »heilige Recht« (die zu Beginn des dritten Abschnitts erör­ terte Sakralisierung der Staatsmacht) den Künsten ihre Lebenskraft, die Wandlung, raubt. Der Kronzeuge einer solchen Verkehrung des höchsten Dienstes zu einem Knechtsdienst ist für Burckhardt – hier wie andernorts – Byzanz. Auf die Unterwerfung der Kunst unter die Religion in Byzanz folgt die Reduktion der Kunst (das Verbot des irdisch-Bleibenden von heiligem Bild und plastischem Bild) im Islam und schließlich die Reduktion des Lebens selbst (die Verachtung des irdisch Bleibenden als solchem) im Puritanismus und Calvinismus. Einen ersten historischen Zusatz zum Gedanken der »hieratischen Stillstellung«: »Ägypten und Byzanz am Anfang und am Ausgang der alten Cultur­ welt«,

erweitert Burckhardt noch durch einen zweiten: »Die allerstärkste Knechtung einer ehemals großen und vielleicht bei Freiheit noch immer großer Dinge fähigen Kunst findet sich in Byzanz; hier fast nur das Heilige erlaubt und nur in patentirter Auswahl und Darstellungsweise, mit feststehenden Mitteln; die Kunst wird typi­ scher als sonst je. – Anderswo wird die Kunst durch die Religion gewaltsam reducirt (Islam), ja völlig verneint (Puritanismus, Calvinis­ mus, wo die kirchliche Bilderflucht sich unvermeidlich auch auf das Leben überhaupt ausdehnt)« (SG S. 307f., Anm. 22 u. 23).

Nach diesen Vorbemerkungen geben wir den Passus über »die Kunst in ihrer Bedingtheit durch die Religion« um des inneren Zusam­ menhanges in der Vielfalt der Kontraste willen (nach seiner ersten Niederschrift) geschlossen wieder: »Die Künste, welches auch ihr Ursprung sei, haben jedenfalls ihre wich­ tigste, entscheidende Jugendzeit im Dienst der Religion zugebracht. Schon vorher müssen oder können existiert haben: Nachbildung des Wirklichen in plastischer wie in flacher Darstellung, mit der Farbe; Ausschmückung des Gebauten; Anfänge von erzählendem Dichten und von Seelenausdruck im Gesang; vielleicht auch schon ein sehr künstlicher Tanz; allein nur Religion und Cultus brachten diejenigen feierlichen Schwin­ gungen in der Seele hervor, welche im Stande waren, in dieß Alles das

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höchste Vermögen hineinzulegen; sie erst brachten in den Künsten das Bewußtsein höherer Gesetze zur Reife und nöthigten den einzelnen Künstler, der sich sonst gehen gelassen hätte, zum Styl; d.h. eine einmal erreichte Höhenstufe wird festgehalten, gegenüber dem daneben wei­ terlebenden Volksgeschmack (welcher vielleicht von jeher für das Süßliche, Bunte, Grauenvolle etc. würde gestimmt haben) allein sie wird dann mit der Zeit auch festgehalten nach oben, d.h. die weitern, höhern Entwicklungen werden einstweilen abgeschnitten durch hieratische Stillstellung; das einmal mit enormer Anstrengung Erreichte gilt als heilig. Der ägyptische Styl ist darin geblieben, hat die Schritte zum Indivi­ duellen nie machen dürfen, und ist unfähig geworden überhaupt in ein Neues auszumünden und überzugehen. Sint ut sunt aut non sint [mögen sie sein, wie sie sind, oder nicht sein]. Die Griechen aber durchbrachen die Schranken: neben dem fortdau­ ernden hieratischen Styl, und zwar noch immer im Dienst des Cultus, der große freie Styl der höchsten Blüthezeit und dann eine reiche Geschichte der künstlerischen Wandlungen; zugleich die Überleitung der Kunst auch auf das Profane und endlich auf die Verherrlichung des Individuellen und Momentanen. Die Ablösung der einzelnen Künste vom Cultus nach ihren Stadien etwa diese: Zuerst macht sich die Poesie im Wesentlichen los, und entwickelt eine neutrale, heroische, lyrische Welt des Schönen; ja bei Hebräern und Griechen auffallend früh auch eine didactische Poesie. (Nothwendige poetische Form aller für Haltbarkeit und Überlieferbar­ keit bestimmter Aufzeichnung überhaupt). (Stellung der Volkspoesie). Dann trennt sich ein Gebiet der Erkenntnis nach dem Andern von der Religion wenn diese nicht durch ein heiliges Recht Herrin bleibt, und endlich entsteht eine ganz profane Wissenschaft. Und doch spricht eine Ahnung dafür daß alles Dichten und aller Geist einst im Dienst des Heiligen gewesen, und durch den Tempel hindurch­ gegangen. Dagegen die bildende Kunst bleibt länger und für einen wichtigen Theil ihres Schaffens auf immer im Dienste der Religion, oder doch eng mit ihr verbunden. (Denn die Sache hat ihre zwei Seiten [wie Burckhardt

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hier mit einem Verweis auf das Gegenstück zu diesem Passus: über »die Bedingtheit der Religion durch Poesie und Kunst« schon andeutet]). Die Religion bietet der Architektur ihre höchsten Aufgaben, und der Skulptur und Malerei einen anerkannten, überall verständlichen Gestaltenkreis, eine homogen über weite Lande verbreitete Beschäfti­ gung. Enormer Werth des Gleichartigen in der Kunst für die Bildung der Style; Aufforderung, im Längstdargestellten ewig jung und neu zu sein und dennoch dem Heiligthum gemäß und monumental. Keine profane Aufgabe gewährt von ferne diesen Vortheil. An profa­ nen, d.h. eo ipso stets wechselnden Aufgaben würde sich nie ein Styl gebildet haben; die jetzige profane Kunst lebt mit davon, daß es heilige Style gegeben hat und noch giebt. Endlich bietet die Religion der Musik einen unaussprechlichen Gefühlskreis; freilich, was die Musik innerhalb desselben schafft, das kann in seiner Halbbestimmtheit die Religion selber lange überleben.« (SG S. 307, Z. 8 – S. 309, Z. 6; WB S. 75–77)

Die Jugendzeit, die die Künste »im Dienst der Religion zugebracht« haben, war ihre wichtigste, entscheidende Zeit. Zwar sind sie mit diesem Dienst einer dreifachen Wesensgefährdung ausgesetzt: der des Stillstands (des heiligen Stils133) in den Bereichen eines religiösen Totalitarismus, der der Reduktion (der »Bilder«-Feindlichkeit) in den Bereichen eines kirchlichen (und staatlichen) Fanatismus und schließ­ lich der der völligen Verneinung (Kunst = Sünde) in den Zeiten eines heilsgeschichtlichen Moralismus. Doch diese Wesensgefährdungen sind nur der unvermeidliche Schatten der höchsten Wesenserfüllung. »Nur Religion und Cultus brachten diejenigen feierlichen Schwingun­ gen hervor«, welche im Stande waren, in das Formen und Malen, das Bauen und Dichten, das Singen und Tanzen »das höchste Vermögen hineinzulegen«. Der Dienst an der Religion, dessen Schattenseite der Knechtsdienst, dessen Schattenfolge die Verdammung oder die Verachtung ist, befähigt die Künste, dort, wo sie sich ihm ohne Erniedrigung fügen, zu derjenigen »Sprache« zu werden, die als »ein größter Exponent des betreffenden Zeitalters« – anders als Religion und Politik des betreffenden Zeitalters selbst – »eine Sprache für alle Nationen« ist. Was die Künste unersetzlich macht, das ihnen eigene 133 Dieser Ausdruck hier nach Burckhardts Begriff des ›heiligen Rechts‹: SG S. 294, Z. 18, – S. 296, Z. 25; S. 303, Z. 22, S. 309, Z. 16, dazu: S. 125, Z. 27, – S. 126, Z. 26, und S. 190–192. (WB S. 85f., S. 98–100, S. 107, S. 120.).

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Vermögen, ein höheres Leben darzustellen, welches ohne sie nicht vorhanden wäre, gelangt in dem Bezug zur Religion ebenso vor seine radikalsten Gefährdungen wie zu seinen reichsten Bekundungen. »Der große freie Styl der höchsten Blütezeit« in Griechenland, die Grabstelen und Siegesstatuen, die Tragödien des Aischylos und des Sophokles, stand schon nicht mehr wie noch das Epos und die Bau- und Bildkunst der archaischen Zeit »im Dienst des Cultus«. Die Siegesgesänge Pindars, die Lieder der Sappho standen nicht mehr im gleichen Maß im Dienst des Kultus wie noch neben ihnen die Tempelplastiken oder die Weihgeschenke. Sie waren zwar noch mit dem Kultus verbunden (wie die Tragödie mit dem des Dionysos); aber Kunst war nun ausdrücklich »Kunst«, wie dies schon die vieler­ lei Weisen des Agons bezeugen. Die Entscheidung für die »beste« Tragödientrilogie war ein Urteil über den künstlerischen Rang: wo ist der Mythos überzeugender, überwältigender aufgeführt worden? Welche der Tragödien hat an dem eigenen Raum des Spiels gemessen dem Gott des Rausches und der Maske am besten gedient? Das war die Frage, die dieser Theater-Wettkampf stellte, – ähnlich wie die Spiele in Olympia die Frage nach dem sportlich Besten stellten, auch wenn sie Herakles, Zeus und anderen Göttern geweiht waren. Noch später dann, während der Wandlungen des 4. Jahrhunderts: »die Überleitung der Kunst auf das Profane«, und endlich, im Hellenismus: »die Verherrlichung des Individuellen und Momentanen«. Diese schon im Hellenismus angebahnte Dominanz des »Profa­ nen« prägt mit großen Bereichen der nachantiken Kunst diejenigen Zeugnisse, an die wir zuerst denken, wenn von ›Kunstwissenschaft‹, von ›Literaturgeschichte‹, von ›Musik‹ die Rede ist. »Zuerst macht sich die Poesie im Wesentlichen los«: Eine »neutrale«, sowohl »heroi­ sche« als auch »lyrische Welt des Schönen« kennt bereits das christ­ liche Mittelalter, ja »bei Hebräern und Griechen auffallend früh auch eine didaktische Poesie«. »Die didaktische Poesie« der Griechen behandelt Burckhardt in einem eigenen Stück der ›Griechischen Culturgeschichte‹, das mit den ›Werken und Tagen‹ Hesiods beginnt und nach einem Passus über Parmenides und Empedokles mit einem Passus über die »poetische Bearbeitung« astronomisch-astrologischer Stoffe, »Medizin, Landbau, Fischfang, Geographie« und »das poeti­ sche Kochbuch« schließt. Aber diejenige Nähe der Kunst zur Religion, die einstmals ihr höchstes Vermögen geweckt hatte, ist damit nicht – wie Hegel glaubte – vergangen. Burckhardt sieht in dieser Nähe auch die Nachbarschaft

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zwischen Poesie und Philosophie begründet: »Und doch spricht eine Ahnung dafür daß alles Dichten und aller Geist einst im Dienst des Heiligen gewesen, und durch den Tempel hindurchgegangen.« An den bildenden Künsten, die länger und für einen wichtigen Teil ihres Schaffens immer mit der Religion verbunden bleiben, tritt unter einem solchen Gesichtspunkt ein Sachverhalt hervor, der einen Grundzug im Verhältnis zwischen Kunst und Geschichte ausmacht: die Lichtseite nämlich dessen, was Burckhardt zunächst als die Schattenseite der »hieratischen Stillstellung« vorgeführt hat. Eine einmal erreichte Höhenstufe kann despotisch »festgehalten« werden, weitere Entwicklungen werden abgeschnitten. Die lebendige Alter­ native dazu ist aber nicht eine rastlose Innovation, ein Begriff von ›Schöpfertum‹, dessen Maßstab die unaufhörliche Verabschiedung des Vorausgegangenen ist, also ein ›Hervorbringen‹, das sich dadurch selbst erhält, daß es immerzu ›schafft‹, was morgen Schrott ist. Die lebendige Alternative zur »hieratischen Stillstellung« ist die Kinesis, das Sich-Wandeln im Sich-Haben und nicht die Zementierung des ›Wachstums‹ im Sich-Wollen. Burckhardt konnte diesen Grundzug des Lebens von Kunst – einem Gegenpol zu dem selber schon leblosen ›Überleben‹-Wollen – zu seiner Zeit noch mit dem Namen »Styl« bezeichnen, der in dem historistischen und fachspezifischen Gebrauch seither den qualitati­ ven Anspruch, den Burckhardt damit verband, verloren hat. Im Gedanken an Beispiele, die vom Beginn der Gotik bis zum Ende des Barock den größten Wandel im Selben bezeugen: »Das tausendmal Dargestellte, Madonnen und Kreuzabnahmen, sind nicht das Min­ deste, sondern das Beste der ganzen Blüthezeit« (SG S. 308, Anm. 25), spricht Burckhardt von dem »enormen Werth des Gleich­ artigen in der Kunst für die Bildung der Style: Aufforderung, im Längstdargestellten ewig jung und neu zu sein und dennoch dem Heiligthum gemäß und monumental«. Diese »Monumentalität« ist nicht die Religion, wohl aber die religiöse Aufgabe, die die eigene Monumentalität der Kunst weckt und in der »jetzigen profanen Kunst« – wir brauchen nur an Brancusi oder Matisse, an Giacometti oder Picasso zu denken – zur Alternative der »Bilder-flucht« des jet­ zigen ›Lebens‹ wird, – unseres »Tuns ohne Bild«, wie Rilke das Fort­ reißende des technischen Willens genannt hat.134 134 In der neunten der Duineser Elegien. S. dazu Gerhard Glaser, Das Tun ohne Bild. Zur Technikdeutung Heideggers und Rilkes, 1983 (zu dem Ausdruck: S. 100, 146f.).

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Ein wieder anderer Grundzug des Verhältnisses zwischen Kunst und Religion im Gang der Geschichte tritt an der Musik hervor. Hier wird man an Zeugnisse der neueren europäischen Musik, an Haydns ›Schöpfung‹, an die ›Missa solemnis‹, in anderer Weise an Bruckner oder auch (trotz Burckhardts Wagner-Polemik) an den ›Parsifal‹ denken können, wenn Burckhardt darauf verweist, daß die Religion der Musik »einen unaussprechlichen Gefühlskreis« biete, der dann als Musik »in seiner Halbbestimmtheit die Religion selber lange überleben« kann.

Die Religion in ihrer Bedingtheit durch die Kunst Der zuletzt betrachtete Passus »Die Kunst in ihrer Bedingtheit durch die Religion« bildet den Abschluß des zweiten Abschnitts in dem Kapitel über die sechs Bedingtheiten. Mit dem Passus über »die beson­ dere Bedingtheit der Religion durch Kunst und Poesie« schließt Burck­ hardt den sechsten Passus und damit dieses ganze Kapitel. Er ist, wie Burckhardt in einem Zusatz schreibt, »als Ergänzung und Gegen­ stück« zu dem früheren zu lesen (SG S. 340, Anm. 28). Man wird hier also neben Wiederholungen auch Abwandlungen zu erwarten haben. Zu den Gemeinsamkeiten dieser beiden Stücke über die wechsel­ seitige Bedingtheit zwischen Kunst und Religion gehört der Wechsel in der Skizzierung von Zeichen der Förderung und Zeichen der Schä­ digung, – schon da freilich mit dem Unterschied: In dem ersten der beiden Stücke (über die Bedingtheit der Kunst durch die Religion) war bei Beeinträchtigungen nur von solchen der Kunst durch die Religion die Rede. Hier dagegen ist nun auch von Schädigungen der Religion durch die Kunst die Rede- ohne daß sich die Perspektive einfach umdrehen würde, denn an die früher genannten Beeinträchtigungen wird im Fortgang des Passus ausdrücklich erinnert. Den schädlichen Aspekt der hier zur Rede stehenden Bedingt­ heit stellt Burckhardt in diesem Passus sogar an den Anfang. Der Eingangssatz scheint nur ein Lob dieser Bedingtheit der Religion durch Kunst und Poesie erwarten zu lassen: »Beide haben von jeher in hohem Grade zum Ausdruck des Religiö­ sen beigetragen.«

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Doch schon der nächste Satz schränkt diese Einleitungsbemer­ kung ein: »Allein jede Sache wird durch ihren Ausdruck irgendwie veräußerlicht und entweiht.«

Die Kunst als Ausdruck des Geistes ist kein reiner Geist. Zwar bringt sie das Überweltliche zur Sprache, aber das geschieht nur als Verweltlichung und ist damit erkauft um den Preis der Verfälschung. Das Innere wird veräußerlicht, das Heilige entweiht, weil es Sprache nicht anders geben kann als in der Verbindung mit dem Irdischen. »Schon die Sprachen üben Verrath an den Sachen; Baco Sermones fidelis 3: ... ut ubi sensus vocabulum regere debat, vocabulum imperet sensui [so daß, wo der Sinn den Ausdruck leiten müßte, nun der Aus­ druck dem Sinn Vorschriften macht]« (SG S. 340, Z. 11–13).

Der Fortgang scheint diesen Aspekt der Schädlichkeit noch zu stei­ gern. In zweierlei Hinsicht sei die Kunst »vollends« »eine Verräterin«. Diese beiden Punkte sind von Burckhardt mit »a)« und »b)« (in den ›Weltgeschichtlichen Betrachtungen‹ sinnentsprechend mit »erstens« und »zweitens«) markiert, so daß man eine Aufzählung erwarten könnte, in der Burckhardt dieses – fast im Ton einer Religionsapologie vorgetragene – Referat berechtigter Vorbehalte und Vorwürfe von Seiten der Religion gegen die Kunst zu einem Optimum bringt. Doch der zweite Schritt von a zu b ist eine Wendung. Der Gesichtspunkt der Religion weicht unversehens dem der Kunst. »Vollends aber ist die Kunst eine Verrätherin, indem sie: a) den Inhalt der Religion ausschwatzt, d.h. das Vermögen der tiefern Andacht vorwegnimmt und ihm Augen und Ohren substituirt, Gestal­ ten und Hergänge an die Stelle der Gefühle setzt und diese damit nur noch momentan steigert; b) indem ihr eine hohe und unabhängige Eigenthümlichkeit inne­ wohnt, vermöge welcher sie eigentlich mit Allem auf Erden nur tem­ poräre Bündnisse schließt, und auf Kündigung, – und nur sehr freie Bündnisse, indem sie sich nur von der religiösen etc. Aufgabe anregen läßt, das Wesentliche aber aus geheimnisvollem eigenem Lebens­ grunde hervorbringt« (Z. 16–26).

Die irdische Unersetzlichkeit der Kunst, – aus geheimnisvollem eige­ nem Lebensgrund heraus ein höheres Leben darstellen zu können, welches ohne sie nicht vorhanden wäre, – diese Nähe zur Religion macht zugleich auch ihre Ferne zur Religion aus: ihre transzendente

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Unzulänglichkeit, die darin besteht, dem Unbegrenzten Augen und Ohren substituieren zu müssen. Es ist ein Zeichen der hohen und unabhängigen Eigentümlichkeit der Kunst, vermöge welcher sie eigentlich mit Allem auf Erden nur temporäre Bündnisse schließt und auf Kündigung, daß zu der Berührung von Kunst und Religion auch die Zeiten und die Orte der Restauration und der Feindschaft gehören. Was Burckhardt in dem früheren Passus im Gedanken an Ägypten und Byzanz, an den Islam und den Calvinismus gesagt hatte, das erneuert er hier, nur daß er entschiedener als in dem früheren Passus hier das Schicksalhafte der Fremdheit und der Feindschaft anerkennt. Ausdrücklich tadelnd klingt hier nur ein Zusatz zur neueren katholischen Kunst und Musik: »Freilich kommt dann eine Zeit, da die Religion inne wird, wie frei die Kunst verfährt, ihre Stoffe ballt etc.; sie versucht dann die stets gefähr­ liche Restauration eines vergangenen und befangenen Styles als eines hieratischen, der nur das Heilige an den Dingen darstellen soll, d.h. von der Totalität der lebendigen Erscheinungen abstrahirt und natürlich neben dem gleichzeitigen Vollbelebten um ein Großes zurücksteht. Mürrische Behutsamkeit und Decenz zB: der neuern catholischen Kunst und Musik. Und vollends wissen Calvinismus und Methodismus recht gut, warum sie die Kunst mit Gewalt abweisen, so gut als es der Islam wußte« (Z. 27–37).

Diese verschiedenen Formen von Unvereinbarkeit (Restaurierung, Ideologisierung, Negierung) sind verständlich aus der Verschieden­ heit der Lebensgründe von Kunst und Religion. Für ein geschichtliches Studium werden sie zu Zeugen dieser Grundverschiedenheit. Gleich­ wohl sind sie ebensowenig die letzte Konsequenz, wie sie die erste waren. Um diese überhistorische – mehr als nur vergangene, mehr als nur partikulare – Möglichkeit einer beide Seiten fordernden Bedingt­ heit der Religion durch die Kunst sogleich erkennbar zu machen, verbindet Burckhardt diesmal die Erinnerung an die Griechen in einer zweifachen Parallelisierung mit dem christlichen Mittelalter. »Das Gegenbild von diesem Allem: Zeiten in welchen die Kunst den Inhalt der Religion bestimmen hilft: wenn Homer und Phidias den Griechen ihre Götter schaffen, wenn im Mittelalter die Bilderkreise, zumal die der Passion, die ganze Andacht und die Gebete stückweise vorschreiben; -

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oder wenn das religiös-festliche griechische Drama die höchsten Fra­ gen coram populo von sich aus darstellt, und wenn die catholischen Dramen des Mittelalters und die autos sacramentales die heiligsten Ereignisse und Begehungen derb der Volksphantasie zur Beute hinle­ gen, ohne alle Sorgen und Profanation« (SG S. 341, Z. 5–14).

Was Burckhardt hier als Verwandtschaft zwischen älterem Griechen­ tum und hohem Mittelalter im Verhältnis zwischen Kunst und Reli­ gion sieht, das ließe sich analog auch von den großen Kunst- und Reli­ gionszeugnissen Indiens, Chinas und Japans sagen und von fast allen Kenntnissen über Zusammenhänge zwischen Kunst und Religion im Umkreis der Völkerkunde. Der ›Europäer‹ Burckhardt denkt hier ›globaler‹ als viele – in den europäischen Begriffen von ›Wirklichkeit‹, von ›Sprache‹ und ›Entwicklung‹ befangene – Kulturhistoriker. Der Schluß jenes Passus über die Bedingtheit der Religion durch die Kunst ist, wiederum fast unmerklich aus dem letzten Beispielkreis heraustretend, nochmals ein neuer Gesichtspunkt, – wenn man so will: die Synthese aus den unter sich konträren Aspekten »Verrat« und Verwirklichung der Religion durch die Kunst: »Ja die Kunst ist eine wundersam zudringliche Verbündete der Religion und läßt sich unter den befremdlichsten Umständen nicht aus dem Tempel weisen; sie stellt die Religion dar, selbst nachdem diese, wenig­ stens bei den Gebildeten, erloschen ist; – im spätern Griechenland, in Italien zur Zeit der Renaissance lebt die Religion wesentlich nur noch als Kunst fort (und daneben etwa noch als Superstition). Aber die Religionen irren sich sehr wenn sie glauben daß die Kunst bei ihnen einfach nach Brod gehe. Sie geht in ihren hohen und primären Repräsentanten auch nicht bei der jeweiligen Profancultur nach Brod, so sehr es oft diesen Anschein hat, wenn geschickte und berühmte Leute sich dazu hergeben, die Lecture der Philister zu illustriren« (Z. 15–26).

In dem kleinen Passus »Zur geschichtlichen Betrachtung der Künste« (am Schluß des zweiten Kapitels) handelte Burckhardt von der Archi­ tektur und von »Skulptur und Malerei« gesondert. Vom »BaulichMonumentalen«, das von den beiden stabilen Geschichtspotenzen gebraucht werden kann: »Ausdruck der Macht des Staates oder [Aus­ druck] der Religion«, unterscheiden sich Skulptur und Malerei darin, daß sich hier »vor Allem die Religion« ausprägt. Und das geschieht selber wieder in zweierlei Weise:

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»a) in Typen: Aegypter, Orientalen, Griechen, Mittelalter, neuere Kunst stellen das Göttliche oder wenigstens das Heilige dar jedesmal in der ihnen gemäßen Gestalt einer erhöhten Menschheit; b) in Historien: die Kunst entsteht um das Wort in der Erzählung des Mythos, der heiligen Geschichte und Legende gleichsam abzulösen ...« (SG S. 292, Z. 8–14).

Hier sieht Burckhardt ähnlich wie dann in den beiden Stücken zum Verhältnis zwischen Kunst und Religion das höchste Vermögen dieser beiden Künste, der Skulptur und der Malerei, durch die Ansprüche, die die Religion an sie stellt, zur Verwirklichung gebracht: »... dieß [das Heilige in »Typen« zu formen, den Mythos, die Legende in Bildern zu erzählen] sind ihre größten, dauernden, unerschöpflichen Aufgaben, an welchen sich ihr Maßstab überhaupt ausbildet, wo sie kennen lernt was sie kann« (Z. 15–17).

Und ähnlich wie das Baulich-Monumentale später »als Lebensluxus« auftritt (»Schloß, Palast, Villa etc.«), so wird »auch hier, in Sculptur und Malerei« »die Kunst Lebensluxus; es ent­ steht eine profane Kunst, zum Theil weltlich-monumental, im Dienste der Macht, zum Theil im Dienste des Reichthums ...« (Z. 18–20).

Merkmale dieser Profanierung sind »Nebengattungen« – »Porträt, Genre, Landschaft« –, entsprechend »einzelnen Vermögen und Bestellern« (Z. 20f.). Kommt Burckhardt (zumindest an einer solchen Stelle) doch dem ›kulturhistorischen‹ Kunstverständnis nahe: große Kunst = sakrale Kunst, Profanierung = Verlust der höchsten Bestimmung? Burckhardt zielt darauf auch an dieser Stelle nicht ab. Der Fortgang der Bemer­ kung zur Skulptur und Malerei späterer Zeiten (im Unterschied etwa zu den älteren Hochkulturen, dem frühen Griechenland oder dem Mittelalter) bestätigt hier, was uns im Falle der Malerei aus Burckhardts Rubens-Studien, im Falle anderer Künste aus seiner Mozart-Bewunderung bekannt ist: »Daneben aber wird sie sich ihrer eigentümlich hohen Freiheit bewußt, als einer Macht und Kraft für sich, welche nur Anlässe und flüchtiger Berührungen aus dem Leben bedarf, dann aber von sich aus ein Höchstes verwirklicht« (Z. 24–27).

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e Das Merkmal der Poesie In dem Passus über die Künste innerhalb des Abschnitts über die Cultur kommt von den beiden anderen Geschichtspotenzen nur die Religion zur Sprache. Daß Burckhardt für die Frage, was Kunst ist, das Verhältnis der Kunst zur Religion lehrreicher erscheint als ihr Verhältnis zur Politik, obwohl diesem doch in einem Kolleg über das Studium der Geschichte der Vorrang zukommen müßte, liegt daran, daß im Verhältnis zur Religion nicht nur der früheste, sondern auch der höchste Dienst der Künste anzutreffen ist. Hier ist daher das Postulat zu prüfen, das jeweils eine eigenständige Beachtung und Behandlung der Künste unter den verschiedenen Aspekten des Geschichtlichen erlauben, ja erfordern würde, das Postulat, die Kunst sei »in hohem Grade um ihrer selbst willen vorhanden«. Diese generelle Tragweite des Ausblicks auf den Religionsbezug der Künste (man könnte sie den methodischen Sinn dieses Ausblicks nennen) spricht Burckhardt in dem folgenden (dem 15.) Absatz des Passus über die Künste aus, mit dem der letzte der fünf verschiedenen Gedankenschritte dieses Passus beginnt. Er stellt eine ausdrückliche Wendung zurück zu demjenigen Grundzug der Kunst dar, den Burck­ hardt in der Architektur am reinsten verkörpert sieht. Diese beweist, wie frei von stofflichen Nebenabsichten jede Kunst ist. Der Hinweis auf das Verhältnis der Künste zur Religion schien diesen Gedanken zu korrigieren. Wie fremd auch immer den Künsten Zwangsdienste sein müssen, es gibt einen freien Dienst, den der Religion, unter deren Forderungen die Künste ihr höchstes eigenes Vermögen erst entfalten können. Im Kultus, im Mythos, in den Personen wie in den Geschichten der Heilsereignisse können (ähnlich wie dies Burckhardt an anderen Stellen an Skulptur und Malerei hervorhebt) alle Künste ihre größten, dauernden, unerschöpflichen Aufgaben finden, an wel­ chen sich ihr Maßstab ausbildet. Dieser Akzent des Angewiesenseins der Kunst auf Anderes als sich selbst, der Dienst-Gedanke, tritt in dem folgenden Absatz wieder hinter dem Architektur-Akzent, dem Autarkie-Gedanken zurück. Noch einmal der Inhalt des 14. Absatzes: Im Verhältnis zwischen Kunst und Religion liegt ebenso die Möglichkeit zu höchsten Aufga­ ben wie auch (Islam, Puritanismus) die einer höchsten Gefährdung. Der darauf folgende Absatz macht schon durch das »aber« seines Anfangs die Wendung bemerkbar:

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»Von allem Irdischen aber nimmt die wahre Kunst nicht sowohl Aufgaben als Anlässe an und ergeht sich dann frei in der Schwingung die sie daher erhalten. Wehe wenn man sie präcis auf Thatsächliches festnagelt, oder gar auf Gedankliches.«

Der Plan einer »Kunstgeschichte nach Aufgaben«, das Bestreben Burckhardts, die traditionelle »Künstlergeschichte« um die Darstel­ lung des sachlich Verbindenden und Trennenden einer Epoche zu »ergänzen«135, wird damit nicht revidiert; – so wenig, wie die spätere Gliederung nach Aufgaben in den ›Aufzeichnungen zur griechischen Kunst‹136 oder die großen Themen der ›Beiträge zur Kunstgeschichte von Italien‹ aus den letzten Jahren eine Revision dieses Gedankens darstellen. Einer Künstlergeschichte gegenüber und jeder Reduktion der Forschung auf den Aspekt der ›Produktions-Prozesse‹, jeder Reduktion der Poesie auf den ›Autor‹, der bildenden Künste (und der Musik) auf den ›Schöpfer‹ gegenüber wahrt das Studium der »Auf­ gaben« die geschichtliche Dimension der Kunst. Der Gedanke, daß auch »die Aufgabe« noch nicht zureicht, um sagen zu können, was Kunst ist, unterscheidet Burckhardt von allen Versuchen einer exter­ nen – theologischen oder soziologischen – Begründung der Kunst. In dem Passus über ›die Bedingtheit der Religion durch die Kunst‹ am Schluß des dritten Kapitels weist Burckhardt ausdrücklich auch im Falle des Kultus einen Begründungsrang des »Auftrags« ab: Die Kunst schließt »nur sehr freie Bündnisse, indem sie sich nur von der reli­ giösen etc. Aufgabe anregen läßt« (SG S. 340, Z. 23f.; s. hier S. 251). Und in dem Passus ›Zur geschichtlichen Betrachtung der Künste‹ notiert er: in »Spätzeiten« sei die Kunst zwar Substanzverlusten aus­ gesetzt (»Lebensluxus«), aber sie werde sich auch »ihrer eigenthümlichen hohen Freiheit bewußt, als einer Macht und Kraft für sich, welche nur Anlässe und flüchtiger Berührungen aus dem Leben bedarf, dann aber von sich aus ein Höchstes verwirklicht« (SG S. 292, Z. 24–27).

Mit einem Klang, der an Becketts Ausruf »Weh dem, der Symbole sieht!«137 erinnert, sagt Burckhardt hier: »Wehe wenn man sie präcis 135 Verweis auf D. J., ›Kunstgeschichtliche Betrachtungen. Jacob Burckhardts Topologie der Künste‹, Band I, 1984, S. 421–427 aus der Einleitung zu § 16 ›Die Baukunst der Renaissance in Italien‹. 136 GA XIII, S. 3, S. 29–166. 137 ›Beckett‹, Staatliche Schaubühnen Berlins, Generalintendant Hans Lietzau, Heft 25, Spielzeit 1973/74 (Redaktion Hildebrandt, Wendt), die letzte Seite.

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auf Thatsächliches festnagelt oder gar auf Gedankliches«. Diesen Gipfel des Fehlers, Kunst festnageln zu wollen, bekräftigt Burckhardt noch in einem Zusatz: »Natürlich wer in den alten Kunstwerken ›Ideen‹ dargestellt findet, muß von den Zeitgenössischen auch verlangen daß sie ›Gedanken‹ darstellen sollen« (SG S. 280, Z. 31f.).

Mit dem letzten (dem übernächsten) Absatz zusammen, Burckhardts Berufung auf »das Gefühl des Ungeheuren«, das »die Gedanken des äschyleischen Prometheus« in ihrer »poetischen Darstellung« geben, ist damit an das Ausgangspostulat dieses Passus: »die Künste das Außerordentlichste, räthselhafter als die Wissenschaften«, erinnert. Der Postulatgedanke wird am Schluß wiederholt als das Fazit des gesamten Gedankengangs. Das Paradigma der Kunst: die Architektur. Ihr Merkmal: die Poesie. Die Architektur: das Signum des auszeichnenden Vermögens der Kunst, ein höheres Leben darzustellen, welches ohne sie nicht vorhanden wäre. Die Poesie: das Signum des Rätselhaften der Kunst. Diese ist selbst rätselhafter als die Wissenschaften; das bekundet sich darin, daß sie weder auf Tatsächliches, noch auch auf Gedankliches festgenagelt werden kann; und es zeugt davon, daß die Künste anders als die Wissenschaften, anders auch als die Philosophie »es nicht mit dem auch ohne sie Vorhandenen zu thun« haben. Womit haben sie es dann zu tun? Was heißt das: »ein höheres Leben darzustellen, welches ohne sie nicht vorhanden wäre«? Oder verlangt das Postulat und Resultat des Rätselhaften den Verzicht auf jedes weitere Fragen? Wenn die Religion zuweilen die Kunst negiert, negiert die Kunst am Ende die Philosophie? Die Antwort auf diese Frage gibt das Kolleg über das Studium der Geschichte. Der Schein einer Antwort, die Antwort, die Burckhardt in der Einleitung zu geben scheint: Als ein Element der Cultur und damit zugehörig zu einer Potenz der Geschichte, noch dazu der spontanen, bewegenden, die stabilen Potenzen kritisierenden Potenz der Geschichte, bleibt die Kunst der Seinsfrage der Philosophie ver­ schlossen. Die Antwort jedoch, die dieses Kolleg im ganzen gibt: Das Rätsel der Kunst verlangt – zusammen mit dem Rätsel der Geschichte – ein Denken, das ihm folgt. Insofern, als dieses Denken kein Subord­ inieren, sondern, wie die Geschichte selbst, ein Koordinieren ist, kann es sich selbst als »Nichtphilosophie« deklarieren. Insofern jedoch, als es »nicht eine Anleitung zum historischen Studium im gelehrten

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Sinne [ist], sondern nur Winke zum Studium des Geschichtlichen in den verschiedenen Gebieten der geistigen Welt« geben will, stellt es ein Äquivalent zur Philosophie dar. Was dort Ontologie heißt, ist hier Topologie. Wenn auch die Künste, anders als die Philosophie, poetisch sind, so kann doch die Poesie ihrerseits zu einer »Aufgabe« dessen werden, was Burckhardt mit »Betrachtung« meint. »Nicht Darstellung des Entwicklungsganges im Einzelnen«, wohl aber eine »Anleitung zur Betrachtung der Kunstwerke nach Zeiten und Stilen«, nennt Burck­ hardt (am 6. Mai 1874) das Programm seines Vortragszyklus zur Kunstgeschichte (s. Bd. I, S. 75.Vgl. hier Anm. 132). Und er glaubt damit zumal, dem Vorzug des modernen Zeitalters zu entsprechen, der darin beruht, daß »der Betrachtende sich ein allseitiges Verständ­ nis der sämtlichen Künste ... verschaffen kann« (Bd. I, S. 85.Vgl. Anm. 132). »Anweisung und Belehrung« werden zur Pflicht, »auf das Primäre und Mächtige hinzulenken«. Gerade weil das »Geheimnis« der Kunst »durch Forschung und Spekulation« nicht »einzuengen« ist, »müssen« wir »von der Kunst sprechen« (Bd. I, S. 111 und 106.Vgl. Anm. 132). Es gibt auch fürs »Betrachten« ein Entbinden. Und dieses ist das Gegenteil eines Einengens. Es befreit, was eingeengt wurde. Die Rede vom Rätsel ist bei Burckhardt kein Verzicht auf den »Gedanken«, sondern, verhüllt in den Gestus der Abgrenzung, eine den Künsten so sehr wie dem Geschichtlichen aller Geschichte ange­ messene Erweiterung des Gedankens, – so nämlich, daß dieser seinen Verzicht aufgibt: seinen Verzicht auf das, was Burckhardt in dem Hinweis auf den aischyleischen Prometheus das mit dem Gedanken verbundene Gefühl nennt.

3 ›Allgültige Bilder‹ Die »Cultur«-Potenz: die »Welt des Beweglichen, Freien, nicht nothwendig Universalen« (SG S. 254, Z. 17f.; WB S. 20), die auf die beiden »stabilen Lebenseinrichtungen« »unaufhörlich modificirend und zersetzend« einwirkt138. Eines ihrer Elemente, die Kunst: »das einzig irdisch Bleibende«, »der bestimmten einzelnen Zeitlichkeit enthoben, irdisch-unsterblich ...« (hier: S. 225). 138 Dieter Jähnig, ›Der Ort der Künste in der ›Cultur‹‹, in: D. J., Maßstäbe der Kunst und Geschichtsbetrachtung Jacob Burckhardts, Schwabe: Basel 2006, S. 99.

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3 ›Allgültige Bilder‹

Wie ist die Zeitenthobenheit der Kunst vereinbar mit der Instabilität der Cultur? Die Antwort liegt im Fortgang jener Kennzeichnung der Kunst, die selber freilich die Form eines Paradoxons hat: »... eine Sprache für alle Nationen. Ein größter Exponent der betreffen­ den Zeitalter ...«.

Das Paradoxon, vor das man sich mit dieser Formulierung gestellt sehen könnte, ist die Antinomie: Kunst entweder Zeugnis ihrer Zeit – wie alle Exponate der Cultur vom Werkzeug und der Mode bis zum Handel und zum Landbau – oder Ausdruck überzeitlicher Werte im Falle der Künste, unterschieden allenfalls nach Stilen, Schulen, Meistern, Qualitäten, doch in den realen und imaginären Museen fürstlicher und geistlicher, öffentlicher und privater Sammler, im Spielen wie im Hören eines Konzertes, im Lesen und Bewundern eines ›Klassikers‹ in die Gleichzeitigkeit einer gleichen Nähe versetzt, überzeitlich: weil nicht um der Entstehungszeit willen, weil nicht historisch von Belang. Das Kunst-Museum stellt von Haus aus einen Gegenzug zur Musealität dar. Selbst dort, wo Aufstellung und Inter­ pretation das Interesse an dem Nacheinander provozieren, wirkt die subordinierende Geschäftigkeit der historischen Bildung im Falle der Kunst eigentümlich deplaziert. »Eine Sprache für alle Nationen. Ein größter Exponent der betreffenden Zeitalter«: Der Kunst als Monument, das – im Falle des Parthenon nicht anders als vor einem syrakusischen Münzbild, im Falle der Peterskuppel nicht anders als vor einem Kupferstich Dürers – unmittelbar zu allen Zeiten Betrachtende ansprechen kann, stellt Burckhardt hier die Kunst als Dokument an die Seite, das – wie die Trajanssäule in Rom oder das Schloß von Versailles – seine Zeit zur Sprache bringt. Wie sich freilich für die Frage, was Kunst überhaupt ist, Kunst als Monument und Kunst als Dokument selber zu einander verhalten, wird hier nicht eigens zur Frage gemacht. Gleichwohl, die uns geläufige Antinomie zwischen ›historischem‹ und ›ästhetischem‹ Anspruch scheint hier nicht angebracht zu sein. »Ein größter Exponent des betreffenden Zeitalters«: diese Notiz folgt der vorhergehenden: »eine Sprache für alle Nationen«, als vervollständige sie diese nur. Was uns als ein Paradoxon, zumindest eine Dichotomie erscheint, für Burckhardt müßten nach dieser Formulierung Histori­ zität und Monumentalität zwei Seiten desselben Sachverhaltes sein. In dem Vortragszyklus über ›historische Größe‹ kontrastiert Burckhardt die eigentliche Größe der »Künstler, Dichter und Philoso­

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phen« der problematischen Größe der »Erfinder und Entdecker im gewerblichen Fach« (SG S. 381, Z. 1 und 4; WB S. 155). Und dabei sieht er das Auszeichnende der Künstler, Dichter und Philosophen in »zweierlei Funktion«: »den innern Gehalt der Zeit und Welt ideal zur Anschauung zu bringen und: ihn als unvergängliche Kunde auf die Nachwelt zu überliefern« (a.a.O., Z. 1–3).

Der Zeitbezug der »Kunde« einerseits, ihre Unvergänglichkeit ande­ rerseits werden hier nun zwar als zwei Funktionen unterschieden, doch das ist nicht ein Unterschied von Antinomien. Es handelt sich auf der einen Seite, dem Zeitbezug, hier selber schon um etwas Außerordentliches – sowohl im Was, als auch im Wie (»den innern Gehalt ... ideal zur Anschauung zu bringen«), dem auf der anderen Seite das Außerordentliche der »Unvergänglichkeit« entspricht. Ein gleiches Qualitätsmerkmal im Was und im Wie meint Burckhardt aber auch in dem Passus über die Künste des zweiten Kapitels. Der »bestimmten einzelnen Zeitlichkeit enthoben« ist das, was Kunst und Poesie »aus Welt, Zeit und Natur« gesammelt haben, – mag nun die Allgemeinheit und Allverständlichkeit der »Bilder« mehr dem außergewöhnlichen Gehalt (also dem, was hier als »Welt, Zeit und Natur« zur Sprache kommt) oder mehr dem auszeichnenden Rang des Gebildes (also der Art, wie hier »Kunst« als Kunst spricht) zu verdanken sein. Die Künste wären also auch nach diesen beiden Bemerkungen Burckhardts gerade darin, daß sie ihr Zeitalter zur Anschauung brin­ gen, eine Sprache für alle Nationen. Wir erinnern uns: Die Frage, was bei Burckhardt »Unvergänglich­ keit« oder »Unsterblichkeit« im Falle der Kunst besagt, hat ihre eigene Fraglichkeit in dem Schein des Widerspruchs, in dem ein solcher Begriff von Kunst zu der genuinen Zeitlichkeit, der wesenhaften Transitorik dessen steht, was bei Burckhardt »Cultur« heißt. Der Schlüssel zur Lösung ist offenbar das »Außerordentliche« jenes Was und Wie im Verhältnis der Kunst zu »ihrer Zeit und Welt«, das Burckhardt hier, in dem Passus über »die Künste«, als »Sammeln« »allgültiger Bilder« bezeichnet. Was heißt hier »Bild«? Was meint Burckhardt hier mit »nicht mehr individuell und zeitlich, sondern sinnbildlich bedeutungsvoll und unvergänglich«? Das Ganze dieses Passus über die Künste sagt zumindest unmißverständlich, was mit »sinnbildlich« und »Bild« hier nicht

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3 ›Allgültige Bilder‹

gemeint sein kann. Wenn das Paradigma der Kunst überhaupt die Architektur ist, weil sie beweist, wie frei von stofflichen Nebenabsich­ ten jede Kunst ist oder sein kann, und ihre Parallele die Musik, weil »das Nachahmende darin« »gerade das Verfehlteste« ist, wenn Kunst in hohem Grade um ihrer selbst willen vorhanden ist, dann kann »sinnbildlich bedeutungsvoll« nicht medial gemeint sein. Burckhardt kann hier nicht eine Semiotik von Welt, Zeit und Natur durch die Kunst im Sinn haben. Wenn Kunst das ist, was es nicht mit dem auch ohne sie Vorhandenen zu tun hat, seien es Fakten, seien es Gesetze, wenn sie ein höheres Leben dazustellen hat, welches ohne sie nicht vorhanden wäre, dann kann hier mit Sinnbildlichkeit und Bildhaftigkeit nicht an das Schema von Wirklichkeit plus Information oder von Aktion plus Kommunikation gedacht sein. Es kann hier überhaupt nicht der Begriff von Kunst als »Bild« gemeint sein. Mit diesem Vorbehalt gegen ein Mißverständnis dessen, was Bildlichkeit hier sagt, ist das jetzt erörterte Polaritätsfeld von Zeital­ terbezug und Zeitalterübersteigung, von Kunst als Dokument und Kunst als Monument um ein zweites Polaritätsfeld zu ergänzen, – um dasjenige, das uns zuvor schon ständig beschäftigt hatte: Kunst als ein In-sich-stehen und als ein Anderem-Zugehören, Kunst als Autarkie und Kunst als »Dienst«. Versagt im einen Fall die Dichotomie von ›Wirklichkeit plus Medium‹, so versagt im anderen Fall der Antagonismus von ›autonom oder heteronom‹: Die Künste sind weder Medium noch autonom. »Sie haben ... ein höheres Leben darzustellen, welches ohne sie nicht vorhanden wäre. – Sie beruhen auf geheimnisvollen Schwingungen in welche die Seele versetzt wird. Was sich durch diese Schwingungen entbindet, ist dann nicht mehr individuell und zeitlich, sondern sinn­ bildlich bedeutungsvoll und unvergänglich.«

In dem Vortragszyklus über ›historische Größe‹ kommt der »Größe« in den Künsten ein besonderes Gewicht zu. Bevor Burckhardt auf die verschiedenen Künste gesondert eingeht, erörtert er »im Allgemei­ nen« die Frage »warum Dichtern und Künstlern Grösse beigelegt wird« (SG S. 383, Z. 10f.; WB S. 157). Zuvor war von den »großen Philosophen« die Rede, mit denen das Gebiet der eigentlichen Größe erst beginne. Zwischen dem Passus über die »Philosophen« und dem über »Dichter und Künstler« im Allgemeinen spricht Burckhardt von der »Poesie« gesondert, als von der »hohen Mitte zwischen der Phi­ losophie und den Künsten« (SG S. 383, Z. 3f.).

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›Das einzig irdisch Bleibende‹

»Der hohen Mitte«, das meint nicht vermittelnd, sondern nach beiden Seiten ausstrahlend. Diese Hoheit wird von Burckhardt – auch hier – in einer Formulierung erläutert, die, wenn man einen Autor dann ›verstanden‹ hat, wenn man ihn auf das zurückgeführt hat, was man schon vorher wußte, ein Kronzeugnis für Burckhardts vermeintlichen Ästhetizismus und Klassizismus ausmachen würde, – ja schon fast nach Biedermeier klingt: die »Heiterkeit des Schönen«, einladender als der Ernst der Wahrheit. »Dem Philosophen ist nur Wahrheit mitgegeben ... Den Dichtern und Künstlern dagegen ist einladende heitere Schönheit verliehen um [mit einem Schillerwort] ›den Widerstand der stumpfen Welt zu besiegen‹; durch die Schönheit sprechen sie sinnbildlich ...« (SG S. 383, Z. 39–42).

Was Burckhardt hier jedoch mit »heiterer Schönheit« selber im Ernst meint, das erfährt der Leser (erfuhr der Hörer) an dieser Stelle gleich in dreifacher Betonung. (1) Nach der Hauptnotiz, die dieser Zusatz erläutert, kommt die Poesie mit der Philosophie darin überein, »daß auch sie das Weltganze deutet«, – mit den Künsten in der »Bildlichkeit ihrer ganzen Äuße­ rungsweise« und darin, »daß auch sie eine Schöpferin und Macht ist« (SG S. 383, Z. 5–9). Den Zug zur Wahrheit teilt die Poesie mit der Philosophie. Auch sie denkt das Weltganze; aber sie, die mit den (anderen) Künsten »die Form der Bildlichkeit ihrer ganzen Äuße­ rungsweise« teilt, teilt mit ihnen auch das Vermögen, »eine Schöpfe­ rin und Macht« zu sein. »Sinnbildlich sprechen« muß nicht weniger sein, als das Weltganze deuten. Es kann aber mit dem auszeichnenden Sachverhalt verbunden sein, ein höheres Leben darzustellen, welches ohne sie nicht vorhanden wäre. (2) Der anschließende Passus über Dichter und Künstler »im Allgemeinen« (auf den wir hier in § 21 eingehen werden), beginnt: »Der Geist, unbegnügt mit bloßer Kenntniß ([dies ist] Sache der Spe­ cialwissenschaften), ja mit Erkenntniß ([der] Sache der Philosophie), – inne geworden seines vielgestaltigen, räthselhaften Wesens, ahnt daß noch andere Mächte vorhanden seien, welche seinen eignen dun­ keln Kräften entsprechen. Da findet es sich, daß große Welten ihn umgeben, welche nur bildlich reden zu dem was in ihm bildlich ist: die Künste« (SG S. 383, Z. 12–17).

Die bloße Kenntnis der Spezialwissenschaften, die Erkenntnis der Philosophie (die ihrerseits von jenen schon nicht ernstgenommen

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3 ›Allgültige Bilder‹

werden kann, weil sie ihrem Maßstab von Empirie zuwiderläuft), verhalten sich danach nicht so zu den Künsten, wie dies das römischneuzeitliche Schema von ›wahr = wirklich‹ und ›schön = Schein‹ suggeriert, sondern so, daß Forschungswissen und selbst philosophi­ sche Erkenntnis den Geist in der Vielgestaltigkeit und Rätselhaftig­ keit seines Wesens unbefriedigt lassen. Die »Bildlichkeit«, die (um hier nun den Übergangsvergleich umzukehren) alle Künste in ihrer Äußerungsweise mit der Poesie gemeinsam haben, entspricht der eigenen Bildlichkeit dessen, was den Geist anspricht, sofern er sich den »geheimnisvollen Schwingungen« jener großen Welten, die uns umgeben, nicht verschließt. Ein höheres Leben, welches ohne die Künste nicht vorhanden wäre: das ist nicht das Märchenland des Schönen im Bürgertum zu Burckhardts Zeit, sondern die Höhe jenes von sich aus Außerordentlichen, das sich nur dem ordentlichen Leben, das wir (seit Rom und seit Descartes) mit ›Wirklichkeit‹ gleichsetzen, als Traum und Schein verschließt. Nicht beiläufig, sondern alles hier Gesagte selber versammelnd, beschließt Burckhardt diese Bemerkung über den Zusammenhang von bildlich reden und bildlich sein mit der Berufung auf ein sehr wenig biedermeierliches Beispiel von Kunst: »selbst das Tragische ist dann tröstlich« (a.a.O., Z. 24f.). (3) Das hier nun – vor und mit der attischen Tragödie – für Burckhardt paradigmatische Kunstzeugnis wird in diesen Notizen nur durch einen erneuten Hinweis auf das Buch Lasaulx‹ erkennbar. Die Bemerkung über die Dichter und Künstler in ihrem Unterschied zu den Philosophen: »durch die Schönheit sprechen sie sinnbildlich«, versieht Burckhardt noch mit dem Hinweis: »Stellung Homer’s: Las­ aulx p.134 – 139« (SG S. 383, Z. 42f.). Was in unserem Passus »sinn­ bildlich bedeutungsvoll und unvergänglich« heißt, sagt exemplarisch die »Stellung Homers«. Der Passus bei Lasaulx, auf den sich Burckhardt hier beruft, beschließt in dessen ›Philosophie der Geschichte‹ ein Kapitel, das jenen »geistigen Heroen« gewidmet ist, die »als Gründer und Wie­ derhersteller der Religionen und der Staaten auftreten« (S. 117, ed. Thurnher S. 139); und er besteht darin, daß Lasaulx auf nahezu fünf Druckseiten griechische, römische und auch nachantike Zeugnisse der Wirkung Homers wiedergibt. Dieser Überblick gilt sowohl der Wir­ kung Homers auf spätere Dichter (innerhalb Griechenlands, zumal »Äschylos und Sophokles«; danach – exemplarisch – Ennius, der Homer – nach römischer Überzeugung – zum »Gründer der römi­ schen Literatur« gemacht habe, Vergil und Dante), als auch auf Phi­

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›Das einzig irdisch Bleibende‹

losophen und, vor allem, Staatsmänner, für die Lasaulx exemplarisch Zeugnisse über Alexander, Caesar und Napoleon anführt. Das Wich­ tigste dieses ›Neuen Versuchs einer alten, auf die Wahrheit der Tat­ sachen gegründeten Philosophie der Geschichte‹ sind für Lasaulx aber die griechischen Selbstzeugnisse über die Bedeutung der homerischen Epen für das Ganze der griechischen Welt – dem also, was Burckhardt hier die »Stellung Homers« nennt. Ähnlich spricht er in dem Exkurs ›Zur geschichtlichen Betrachtung der Poesie‹ (der bei Oeri wie Ganz am Ende des dritten Kapitels abgedruckt ist) von den »Stellungen« der Poesie »zur Welt«. Die Griechen, schreibt Lasaulx (S. 134–137; ed. Thurnher S. 150–152), haben Homer verglichen mit dem Okeanos oder »mit einer unvergänglichen Quelle«, »aus welcher nach allen Richtungen Ströme des Gesangs geflossen seien. Seine Epen waren den Griechen, was uns die biblischen Erzählungen, das allgemeine Schulbuch, die Grundlage ihrer ganzen Volkserziehung«. »Selbst Aristoteles scheut sich nicht, ihn völlig so, wie unsere Philosophen die heiligen Schriften zu zitieren; so daß es in der Tat keine Übertreibung ist, wenn von ihm gesagt wird, dieser Dichter habe ganz Hellas gebildet«. »Nicht nur als Dichter und in dem Gebiete der Kunst ist Homer der Erste auf euro­ päischer Erde, sondern seine echt heroische Natur hat darin vor allem sich betätigt, daß von ihm eine Zeugungskraft ausgegangen ist, eine lebendige und lebenschaffende, die, wie sie entsprungen war aus dem Urkeim seines Volkes, auch in das Volksleben sich einsenkt, es [durch­ wächst] und umgestaltet, und ein ihm, dem Dichter, und seinen Hel­ den ähnliches Leben hervorgerufen hat. Denn er hat das Bewußtsein der nationalen Einheit und Kraft, das trotz der Verschiedenheit der einzelnen Stämme durch die ganze hellenische Geschichte fortlebt, gehoben und gestärkt.« Lasaulx akzentuiert dieses Resümee griechischer Selbstzeug­ nisse über die Bedeutung Homers für das griechische Leben mit der Bemerkung: »Mit seinen Bildern des Heldenlebens ist die ganze Phantasie der Griechen von Jugend auf erfüllt und getränkt worden. An ihm und seinem Achilleus hat sich die Phantasie Alexanders des Großen entzündet, daß er ein zweiter historischer Achilleus geworden ist.« An das Paradigma der »Stellung Homers« wird man zuerst zu denken haben, wenn Burckhardt in der Erörterung über »Größe« bei Dichtern und Künstlern »im Allgemeinen« den Gedanken über das

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»bildlich reden« »großer Welten« zu dem, was in uns »bildlich ist«, mit der folgenden Bemerkung, die einen eignen Absatz bildet, fortsetzt: »Die Künste sind ein Können, eine Macht und Schöpfung. Ihre wich­ tigste centrale Triebkraft, die Phantasie, hat zu jeder Zeit als etwas Göttliches gegolten« (SG S. 383, Z. 26–28).

Wie weit in Burckhardts Fall die Topoi »Bildlichkeit« und »Phantasie« von ihrer neuzeitlich-ästhetischen Bedeutung entfernt sind, demons­ triert der Unterschied im Wortsinn von ›Dichtung‹ bei Homer oder Aischylos gegenüber dem neueren Roman. In dem Exkurs ›Zur geschichtlichen Betrachtung der Poesie‹ (auf den wir hier am Schluß eingehen) stellt Burckhardt dem »epischen Rhapsoden« den »heuti­ gen Romanschriftsteller« gegenüber, bei dem »die beständige Anknüpfung an die Wirklichkeit (Realismus)« mit der »freien Wahl« oder der »Neuschöpfung der Stoffe« verbunden ist (SG S. 286, Z. 18f., S. 288, Z. 1f. und 27f.). Das alte Epos, zu dem der Vortrag des Rhap­ soden gehörte, »als nationale Lebensäußerung und Zeugnis ersten Ranges für das Bedürfniß und die Fähigkeit eines Volkes, sich selbst als typisch anzu­ schauen und darzustellen ... ersetzt [für sein Zeitalter] die ganze Geschichte und ein großes Stück Offenbarung« (SG S. 286, Z. 8–10, Z. 41).

Die »Bildlichkeit« und mit ihr die Fähigkeit zur Bilderfahrung im Sehen wie im Hören, die hier mit »Phantasie« gemeint ist, ist nicht das Gleiche wie die von dem römischen Maßstab der Faktizität, dem modernen der Objektivität abgehobene ›Narrativität‹, die nach heutiger Ansicht den Poeten vom Historiker unterscheidet. Wenn Homer das Ausgangsbeispiel geben kann, dann ist mit Phantasie jenes »Göttliche« gemeint, das den Namen der »Musen« und ihrer Mutter, der »Mnemosyne«, hatte. Was Burckhardt mit »Bildlichkeit« und »Phantasie« meint, entspricht der griechischen Erfahrung der Sprache als dem Wunder des Erinnerns. Die Künste sind nicht darum »rätselhafter als die Wissenschaf­ ten«, weil sie ›Dichtung‹ und nicht ›Wahrheit‹ sind, sondern weil sie in einer Weise, die »den höchsten Gegensatz und die höchste Ergänzung zur Philosophie« ausmacht, auch mit dem »Weltganzen« zu tun haben. Im Falle der Welt ist das Ganze nicht die Summe oder das Resultat von Fakten und Objekten, von Aktionen und Subjekten, sondern diejenige Vollständigkeit der Dimensionen, die Burckhardt mißverständlich als »der bestimmten einzelnen Zeitlichkeit entho­

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ben« bezeichnet: so als habe er damit ein Transzendieren der Zeit im Sinn, während er doch auf das Gegenteil abzielt, jenes »Geschicht­ liche« der Geschichte, für das für ihn der griechisch-heraklitische Gedanke des Agon vorbildlich ist und das er als das »Ganze« der Zeitdimensionen in dem Kursus über das Studium der Geschichte zweimal bedeutungsvoll umschreibt. – Zu Beginn der Einleitung: Burckhardts Polemik gegen den »Irrthum«, »alles Dagewesene sei als auf uns berechnet zu betrachten«, »während es sammt uns, für sich, für das Vorhergegangene, für uns und für die Zukunft vorhanden war« (SG S. 226, Z. 18–22; WB S. 3).

In dem Text des Vortrags ›über Glück und Unglück in der Welt­ geschichte‹ kennzeichnet Burckhardt denselben Fehler in unseren Urteilen über das Vergangene, den er hier das »Urtheil des Egoismus« nennt und als die »gemeinsame Quelle« aller historischen Fehlurteile ansieht, mit der Bemerkung: »Alles Einzelne aber, und wir mit, ist nicht nur um seiner selbst, son­ dern um der ganzen Vergangenheit und um der ganzen Zukunft willen vorhanden« (SG S. 237, Z. 38, S. 238, Z. 1f.; WB S. 188).

In der Kunst selbst sieht Burckhardt ein Beispiel für seinen Gedanken des Weltganzen in Raffaels ›Transfiguration‹. Burckhardt sieht das Ausgezeichnete dieses letzten vollendeten Werkes Raffaels139 in eben demjenigen Antagonismus, der ihm häufig zum Vorwurf gemacht worden war: die Erregung der Menschen um den besessenen Knaben am Fuß des Berges, die Verklärung Christi in der oberen Zone – »zwei ganz verschiedene Szenen« auf einem Bild »vereinigt«. Niemand aus der unteren Zone »sieht, was auf dem Berge vorgeht, und der Bibeltext erlaubt es auch gar nicht; die Verbindung beider Szenen existiert nur im Geiste des Beschauers. Und doch wäre die eine ohne die andere unvollständig; es genügt die Hand vor die obere oder vor die untere zu halten, um zu erkennen, wie sehr das Gemälde ein Ganzes bildet« (›Der Cicerone‹, Bd. II, S. 267). Burckhardt sieht nicht zwei von Haus aus unvereinbare Gebiete – einen ›geschichtlichen Bericht‹ und eine narrative Erfindung – durch die Willkür des Malers verkoppelt, son­ dern zwei Pole des »Weltganzen« zu dem einen »Bilde« versammelt, das sie selber von Haus aus bilden. Dem »Geschichtlichen« gehören 139 Fabrizio Mancinelli: Die Verklärung Christi (nach der Restaurierung 1972–1976), in: Bruno Santi, Raffael, 1977 (Langewiesche), S. 73–79; S. auch v. Verf.: WeltGeschichte: Kunst-Geschichte, 1975, S. 132f.

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auch diejenigen Augenblicke, diejenigen »Gedanken« zu, die uns »das Gefühl des Ungeheuren« geben. Was heißt »irdisch-unsterblich«, wenn die Allgültigkeit, die Allverständlichkeit, in die Kunst und Poesie zu ihrem Zeitalter »Welt, Zeit und Natur« sammeln, darin besteht, daß diese Bilder zu einer Sprache auch für andere Zeitalter und Nationen werden können? Burckhardt antwortet darauf selbst im Fortgang dieser Notiz: Auch die Werke der Kunst sind »den Schicksalen alles Irdischen und Überlieferten unterworfen«, dem Schicksal also, zerstört zu werden, unterzugehen, vergessen zu werden. Wo aber von diesem – wie alles Irdische – Vergänglichen etwas noch erhalten bleibt, da ist es imstande, auch »die spätesten Jahrtausende zu befreien, zu begeistern und geistig zu vereinigen«. Befreien, Begeistern, Vereinigen – das ist das Gegenteil von Musealität, genauso wie es das Gegenteil von Historizität ist. Der bestimmten einzelnen Zeitlichkeit enthoben: weil hier in einem Zeitalter das Weltganze versammelt wurde. Darum kann die »ideale Schöpfung« der Kunst – auch im kleinsten Lied und Gebilde – »ein größter Exponent der betreffenden Zeitalter« sein. Das einzig irdisch Bleibende: weil diese »Bilder« das einzige irdisch Versam­ melnde sind. Sie können eine Sprache für alle Nationen sein, weil sie ein größter Exponent der betreffenden Zeitalter sind. Der Schlüs­ sel dieses paradoxen Zusammenhangs liegt in dem Superlativ »ein größter Exponent der betreffenden Zeitalter«. Anders als das Ausmaß eines Kalküls, die Überlegenheit einer Macht oder die Dauer einer Wirkung ist die Größe dieses »Größten« dasjenige Außerordentliche, das die Unwiederholbarkeit eines Schauspiels, den Augenblick im Lesen, Hören eines Verses von dem Riesenhaften unterscheidet, mit dem wir im Mikro- wie im Makrokosmos noch immer glauben, Raum und Zeit überwinden zu können.

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Zum Fall Bayreuth (1954) – Ein Leserbrief an DIE ZEIT Die Kritik von Johannes Jacobi an der diesjährigen Neuinszenierung des ›Tannhäuser‹ (in Nr. 32 der ›Zeit‹) las ich unmittelbar vor der Aufführung, die ich sehen konnte. Seine Zweifel bestärkten die Skep­ sis, die ich selber schon hatte. Jedoch mit der Folge, daß dann die helle Freude über diese Inszenierung und die darin wie neugeborene Musik umso nachhaltiger war. Natürlich bleibt der Verdruß für alle ver­ ständlich, die mit dem ›alten‹ Bayreuth zufrieden waren. (Sie wurden durch den ›Lohengrin‹ getröstet.) Ihre Argumentation scheint mir freilich auf einem Irrtum zu beruhen; und zwar demselben, mit dem schon die philosophischen Verfechter des ›neuen Stils‹ aufgetreten sind. Das ist die Theorie von der ›Abstraktion‹. Diese Theorie ist darum bedenklich, weil sie das Bühnen-›Bild‹ mit einem echten Bild verwechselt. Die Photographien der ›Tannhäuser‹ – Bühne zeigen eine grausam ›asketische‹ Szenerie. Aber was ist denn das eigentliche Bild? Doch nicht die statuarische Umrahmung, sondern der lebendige Vorgang, das Geschehen, in dem das Wort seine Gestalt und die Musik ihren ›Leib‹ gewinnen. Dieses wahrhaft bildhafte, nämlich sichtbar machende Geschehen kann sich aber gar nicht abspielen, wenn der Bühnenraum durch ›nichtssagende‹ Natur-Attrappen vollgestopft wird. Was Wieland Wagner mit dem ›Tannhäuser‹ erreicht hat (mögen seine eigenen theoretischen Äusserungen auch anders klin­ gen), das ist nicht so sehr eine modische ›Stilisierung‹ als vielmehr die grundsätzliche Tat einer Befreiung der Bühne von toten illustrie­ renden Kulissen, wodurch eine Verwirklichung des eigentlichen Geschehens nun auch im Bereich des Sichtbaren ermöglicht wird. Diese ›Konkretisation‹, wie man richtiger sagen müßte, vollzieht sich in den auf einen einheitlichen Raum bezogenen, ihn gleichsam erst konstituierenden Gebärden der Personen, Bewegungen der Chöre und dem ausdrucksvollen Wechsel von Licht und Farbe. So wird dem ›Musikdrama‹ das Feld geöffnet, wo es einzig und allein seine Wirk­ lichkeit fürs Auge haben kann: im Spiel (dem Gegeneinander und

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Miteinander) der handelnden Menschen. Jetzt erst können Raum und Person die Einheit finden, die dem Zusammenklang von Orchester und Stimme angemessen ist. – Die Kritiker sollten sich einmal infor­ mieren, wie leer und ›abstrakt‹ in der klassischen Zeit der Griechen der Bühnenplatz ausgesehen hat, oder sie sollten einen Blick in Karl Reinhardts Buch ›Aischylos als Regisseur und Theologe‹ werfen, um zu wissen, wie alles ›Bildhafte‹ dort allein in der Bewegung beruhte, eben dadurch aber, statt der künstlichen Illusion einer leblosen ›Natur‹, lebendiges Ereignis sein konnte. Wenn Nietzsche gesagt hat, in Wagner wolle nicht nur »alles Sichtbare der Welt zum Hörbaren sich vertiefen und verinnerlichen«, es »will ebenso alles Hörbare der Welt auch als Erscheinung für das Auge an’s Licht hinaus und hinauf, will gleichsam Leiblichkeit gewinnen«, so möchte man meinen, daß das neue Bayreuth eine im alten noch unerfüllt gebliebene Sehnsucht zu erfüllen begonnen hat: ›Gesamtkunstwerk‹ in dem Sinne, daß man nun nicht mehr die Augen schließen muß, um einen ungetrübten ›Kunstgenuß‹ erfahren zu können. (Das Nietzsche-Zitat stammt aus: ›Richard Wagner in Bayreuth‹, 7. Abschnitt. – Für den Fall, daß einer Veröffentlichung nur die Länge der Bemerkungen hinderlich sein sollte, möchte ich höflichst bitten, ganz davon abzusehen statt zu kürzen.)

Der musikalische Aspekt der Sprache140 Ein Beitrag zur Frage: was ist Sprache? Kein Beitrag zur Sprach-Theo­ rie. Was dann? Der Ausgangspunkt ist der Umstand, daß mit dem Wort und dem Phänomen ›Sprache‹ an (mindestens) zwei verschiedene Sachverhalte gedacht wird. Und daß alle wissenschaftliche Sprachtheorie nur einen davon für das Ganze hält. Diese Einseitigkeit des Theoriehorizontes läßt sich dadurch erläutern, daß man – auf den Sprachgebrauch ver­ weist: Unveröffentlichtes Einleitungsreferat zu dem gleichnamigen Seminar im Win­ tersemester 1979/80, das Dieter Jähnig zusammen mit dem Musikwissenschaftler Arnold Feil abgehalten hat. 140

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Der musikalische Aspekt der Sprache

(I) Der eine Fall:

Er redet mit mir Wir sprechen miteinander Ich verstehe diese fremde Sprache nicht Sprache: eine Form (die Form) der Mitteilung

(II) Der andere Fall:

Dieses Haus spricht mich an Er ist sprachlos Die Sprache dieser Landschaft

Von dem ersten Fall her gesehen sind das einfach ›übertragene‹ Bedeutungen. (Ein ›symbolischer‹ Gebrauch des Wortes ›Sprache‹, und, wenn Sprache selbst etwas Symbolisches ist, Symbolik in der Potenz.) Ein Haus kann doch wohl nicht sprechen, eine Landschaft hat keine Sprache, wer ›sprachlos‹ ist, ist keineswegs – ohne Sprache. Die Frage ist nur: wird denn hier überhaupt behauptet, ›das Haus spreche‹, ›die Landschaft habe eine Sprache‹ – so, wie wir sagen: »der Redner spricht«? Unterstellt die Rede »ich bin sprachlos«, daß ich ohne ›Sprache‹ bin – so als ob ein der Sprache fähiges Lebewesen (ein Mensch z. B.) plötzlich diese Fähigkeit verloren habe? Ist die Redensart »dieses Haus spricht mich an« eine übertragene Bedeutung der eigentlichen Sprache? Oder ist die Vorstellungsweise »ich sage dir etwas« = »ich teile dir etwas mit« nur eine eingeschränkte Bedeutung der eigentlichen Sprache? Hier kann nun nicht die Aufgabe sein, eine Entscheidung, was Sprache eigentlich ist, zu liefern; aber es könnte Wege geben, um überhaupt diese Frage zu bemerken. Ein Weg ist der, der den Bereich, der uns (uns Angehörigen der Wissenschaften, uns Teilnehmern am Umkreis der Sprach-Theorien) eindeutig als derjenige der ›Sprache‹ bekannt ist, begrenzt, so näm­ lich, daß er ihn zwar einerseits berührt, ihm andererseits aber nicht zugehört. Ein solcher Weg kommt zustande durch einen benachbarten Bereich. Und man geht ihn, wenn man darauf achtet, wie die beiden Bereiche sich denn berühren. Ein solcher Bereich ist die Musik. ›Die Musik‹ ist nicht ›die Sprache‹ – wohl aber bestreitet nie­ mand, daß ›die Sprache‹ eine Verfassung hat, wo sie sich mit der Musik berührt. Das ist der Umstand ihres Lautens.

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Ein ›Text‹ hat nichts mit Musik zu tun. Lese ich ihn aber vor – oder sprechen wir miteinander – oder hält jemand eine Rede (die dann später gedruckt, in Texten verteilt werden kann), dann ist das Moment des Lautens, also des Erklingens, am Sprechen beteiligt. Dieses – kurz gesagt – akustische Moment teilt ›die Sprache‹ mit ›der Musik‹. Die Frage hier – in die (zunächst mal sehr allgemeine) Formel gefaßt: ›Der musikalische Aspekt der Sprache‹ – meint nicht einen Beitrag zu der Spezialabteilung der Sprachtheorie, die sich Phonetik (oder Phonologie) nennt. Mit ihr ist nicht der Tatbestand der ›Akustik‹ beim Sprechen gemeint, sondern der Sachverhalt, daß dort, wo dieses akustische Element ›autonom‹ auftritt (nicht nur neutraler ›Laut‹ ist, sondern – wie wir sagen – geformter Laut), eine Autonomie eintritt, die uns in dem ›übertragenen‹ Sinn auch von ›Sprache‹ – sprechen läßt: es muß nicht unbedingt ein Lied oder eine Oper, also eine Komposition mit Text sein, die uns von der Musik als einer Sprache sprechen läßt: Die Musik selbst eine ›Sprache‹ – ist das wirklich nur eine übertragene Bedeutung? Es wäre nur eine übertragene Bedeutung, wenn entschieden wäre, daß der ›nüchterne‹ (in ›Text‹ umsetzbare) Kern der Sprache – in der Tat ihr Kern ist. Ob oder ob nicht (zumindest nicht unbedingt!) – das läßt sich in der Beachtung verschiedener, verschiedenartiger Phänomene von Musik überlegen, z. B. an der Eigenart des griechischen Musike-Phä­ nomens – im Unterschied zu dem neuzeitlichen Begriff der ›Musik‹, vielleicht auch im Hören, Sehen, Bedenken außereuropäischer, z. B. japanischer Musik. (Ich sage mit Absicht auch sehen – im Gedanken an das, was Filme über die Spiel-Weise, den Spiel-Raum solcher Musik zeigen können.) Die Konsequenz der hier gemeinten Frage ist nun nicht: eine Aufwertung des musikalischen Ausdrucks, statt der sprachlichen Mitteilung, also etwa gar ein Plädoyer fürs ›Unbewußte‹ (etwa im Sinne Schopenhauers). ›Der musikalische Aspekt der Sprache‹ wird sich – wenn ich hier auf Gesichtspunkte von Herrn Feil verweisen darf – gerade auch an solchen Fällen, die wir Vertonung von Texten nennen würden, erörtern lassen. Warum singt man eigentlich? Um einem ›Gefühl‹ ›Ausdruck‹ zu verleihen? Warum hat man, seit dem frühen Mittelalter, im ›Gottesdienst‹ Bibel-›Texte‹ musikalisch ›zur Sprache gebracht‹? Ein Schmuck? Eine Sakralisierung? Aber der Text war doch schon ›sakral‹? Also umge­

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Der musikalische Aspekt der Sprache

kehrt: eine ›Ästhetisierung‹. Das ist gewiß die Meinung der meisten (evangelisch und auch katholischen) Theologen, wenn man sie fragen würde, was der Gesang mit dem gesungenen Text in der Kirche zu tun hat. Wenn man die Selbstzeugnisse der ältesten indogermanischen Sprache, die wir kennen, die frühesten Zeugnisse des Sanskrit, der ältesten Veden durchsieht, dann haben diese alten Sprach-Zeugnisse selbst eine ganz andere Antwort auf diesen Sachverhalt. (Einer der führenden Sanskrit-Forscher, Paul Thieme, hier in Tübingen, hat das mitgeteilt:) Sie treten darum in ›geformter‹ Sprache, in Gesangs-Form also, auf, weil (- wie sie selber in ihren Gesängen sagen -) die Wahrheit der Welt nur so, nur im Gesang und als Gesang Ereignis werden kann. Es ist genau die gleiche Antwort (in manchen Übersetzungen dieser ältesten Veden durch Herrn Thieme sogar fast wörtlich gleich), die zu unserer Zeit Hölderlin auf diese Frage gibt – also (auf die berühmte Frage) ›Wozu Dichtung‹? Die Frage nach dem ›musikalischen Aspekt der Sprache‹ führt, wenn man sie phänomengerecht stellt (vielleicht sollte ich sagen: wenn man sich ihr stellt) auf die Frage nach dem ›sprachlichen Aspekt der Musik‹. Und das ist eine Frage, die zurückweist auf die Überlegung, inwiefern denn Dichtung Sprache ist? Ist Dichtung ein Sonderfall von Sprache – die Realisierung peri­ pherer oder extremer Ausdrucks-Zwecke durch den Gebrauch ästheti­ scher Ausdrucksmittel? Oder ist die sogenannte Umgangssprache ein Sonderfall der Dichtung? Diese Alternative klingt in unseren Ohren grotesk. Immerhin hat sie auch ein so nüchterner und noch immer aktueller Sprachhistoriker wie Wilhelm von Humboldt mit allem Ernst gestellt. Was ihn dazu veranlaßte, waren seine empirischen Studien außereuropäischer Sprach-Formen, Sprach-Überlieferungen. Ein anderes Beispiel als die Südsee-Sprachen Humboldts: Die griechische Philosophie ist die Fortsetzung, die Anwendung jenes Thaumazein, jener Art von Verwunderung über die Welt und uns Menschen in dieser Welt, die mit der griechischen Sprache – in die Welt (in die europäische Welt zumindest) gelangt ist. (Darüber sind sich so verschiedenartige Griechenkenner wie Bruno Snell, Wolfgang Schadewaldt und Martin Heidegger einig.) Wo kommt aber diese Sprache her? Ist da die Umgangssprache der Anfang? Die Griechen lernten ihre Sprache im Hören der Homerischen Epen. Und die waren nicht in erster Linie darum ›Dichtung‹, weil

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hier ein ›Poet‹ seinen Gefühlen in ästhetischer Formung Ausdruck verliehen hätte – sondern – ja, warum? Auf diese Frage gibt es zwei Antworten, die sich ergänzen. Die eine ist bekannt (nur wird sie in den neueren Literaturwissenschaften meist nicht beachtet): Weil hier das Chaos der Wirklichkeit auf die Einheit einer Welt, auf die gegliederte Vielfalt eines ›Kosmos‹ hin gedeutet wird. Durch die Ilias und die Odyssee gibt es eine griechische Welt, gibt es den Horizont der griechischen Geschichte. Und das andere, das ist die (immer noch kaum bekannte) Einsicht von Thrasybulos Georgiades: Die spezifische ›poetische‹ Form der homerischen Epen, der homerische Hexameter nämlich – das ist der Rhythmus eines noch heute in Griechenland bekannten Reigentanzes (des Syrtos Kalamatianos). Wenn sich Gelegenheit gibt, hoffe ich über moderne französi­ sche und neuerdings auch von deutschen Vorgeschichtsforschern akzeptierte Erwägungen über den Sinn, über den Ort der franco-kan­ tabrischen Höhlenmalereien kurz referieren zu können, über den Zusammenhang nämlich, in dem dieses ›Malen‹ mit dem auch heute noch in Naturvölkern bekannten Tanzen steht: kein ›Jagdzauber‹, keine technizistische ›Magie‹, sondern ein ›Realisieren‹, ein ›Aufneh­ men‹ dessen, was diese Menschen täglich betroffen machte; was sie in höchstem Maß ›bewegte‹. Und das waren diejenigen Lebewesen, die mit dem Anfang unserer ›Menschen‹-Art, des homo sapiens, wahrscheinlich auch den Anfang – der Sprache verkörpern. Wir sind, in unseren Theorien, zu einseitig fixiert auf das Para­ digma der Schrift-Erfindung – das etwas ganz Ungeheures bedeutet (im Zusammenhang mit dem eigentlichen Geschichts-Beginn des Menschen steht): aber doch nur eine Variante im Wesen der Sprache ausmacht. Die Schrift ist nicht die Dimension der Sprache. Aus Wilhelm von Humboldt kann man vielerlei herausholen (sogar Chomsky sieht ihn als den Vorläufer seiner Analysen an). Die Hinweise auf die ältesten Veden, auf Georgiades und Homer, auf Hölderlin und die moderne Revision der Vorgeschichte, könnten Humboldts Beachtung der Zeichen, die auf ein Anfangen der Sprache im ›Lauten‹, im ›geformten‹ Sprechen weisen, neues Gewicht geben. Was da ... ›Lauten‹ und ›Formen‹ heißt, das ist hier gerade zu beden­ ken: die Gefahr nämlich, daß wir mit solchen Begriffen ›Laut-werden von etwas‹, ›Formen von etwas‹, in dem modern europäischen Sub­ stanz-Denken fixiert bleiben, von dem das Phänomen der Musik und das Phänomen der Dichtung gerade befreien könnten.

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Der Raum der Kunst – Vorwort 1993

Das Entscheidende sind die Phänomene (also das, was man, etwas herabsetzend, ›Beispiele‹ nennt): daß wir sie aber wahr-nehmen, dazu kann die Arbeit an den vernebelnden Denk- und Seh- und Hörge­ wohnheiten, das In-Frage-Stellen dessen, was man so schön den Erwartungshorizont nennt, manchmal vielleicht eine Hilfe leisten. In dieser Verbindung, in diesem – Gespräch könnte hier die wechselseitige Hilfe von Musikwissenschaft und Philosophie liegen. (Ein Verbindungspunkt ist der Bereich, mit dem wir, Herr Feil und ich, uns auch professionell berühren. Ich brauche nur das Beispiel Hölderlin durch das Beispiel der Schubert-Lieder zu ergänzen: Die Frage, was eigentlich Dichtung ist.)

Der Raum der Kunst – Vorwort 1993141 Diese sechs Aufsätze, zu verschiedener Zeit und aus verschiedenen Anlässen entstanden, von verschiedenen Werken, verschiedenen Gattungen, verschiedenen Erfahrungen bildender Kunst handelnd, dienen einer Sache: der Frage nach dem Raum der Kunst. Diese eine Sache hat selber zwei Seiten. Es gibt den Raum, in dem ein Werk der Kunst steht, wie der Parthenon auf der »Akropolis«: der Burg der Stadt, oder ein Bild der Montagne Sainte-Victoire Cézannes in einem Museum, also vor den Betrachtern. Und es gibt den Raum, den ein Werk der Kunst selbst einnimmt, – das Gefüge von Säulenumgang, Basis, Gebälk und Dach im Falle des Tempels, die Plastizität der Farbpartikel, das Spiel von Nähe und Ferne einer Landschaft im Spätwerk Cézannes.

Dieses Vorwort erschien 1993 in einer Aufsatzsammlung, die in japanischer Spra­ che sechs Aufsätze umfaßte: ›Kunst und Wirklichkeit‹, ›Die Kunst und der Raum‹, ›Realisation (Zum Kubismus von Georges Braque)‹, ›Leibhaftigkeit (Zum Werk von Antoni Tàpies)‹, ›’Der Ursprung des Kunstwerkes’ und die moderne Kunst‹ und ›Das Haus, der Turm, der Platz (Hölderlin und die Architektur)‹. Der letzte Titel ist jetzt in der Veröffentlichung der Hölderlin-Vorlesung von Dieter Jähnig enthalten: Dichtung und Geschichte. Beiträge Hölderlins zur Geschichtsphilosophie und zur Philosophie der Kunst, Olms: Hildesheim 2019, S. 281–297. Der Titel der japanischen Aufsatzsammlung: Geijutsu no kukan. zoukeigeijutsu no gengo e no michi. Der Raum der Kunst. Wege zur Sprache der bildenden Kunst, Tokyo: Seikyusha 1993, S. 5–10. D. R. 141

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Im einen Fall: der Raum, der dem Werk der Kunst, beim Theater und Tanz: dem Vorgang der Kunst, seinen Ort gibt, im anderen Fall: der Raum, der dem Werk oder dem Vorgang selbst zugehört, seine Struktur. Ein altgriechischer Peripteraltempel hat einen anderen Ort (eine andere Weise des Standes) als eine gotische Kathedrale, ein Palast der Renaissance in Italien, eine Pagode in Nara oder Kyoto. Ein byzantinisches Mosaik, eines der späten Selbstbildnisse Rembrandts, ein altchinesisches oder altjapanisches Tuschbild sind jeweils anders strukturiert. Der Unterschied der ›Multiperspektivität‹ ostasiatischer Tuschmalerei zur Zentralperspektive des neuzeitlichen Europa ist möglicherweise größer als derjenige zu den antiperspektivischen Werken moderner Malerei im Anschluß an Cézanne.142 Eine solche Differenzierung kann ihrerseits darauf aufmerksam machen, daß die große Malerei des nachmittelalterlichen Europa vom Beginn der Renaissance bis zum Ende des Barock, von Giotto bis Tiepolo selber nicht in ihrem Raum, sondern in dem ihr wesensfremden des 19. Jahr­ hunderts gesehen wird, wenn nicht neben den optischen Gesetzen der ›wissenschaftlichen Perspektive‹ auch die architektonischen Regeln künstlerischer Vergegenwärtigung (im Bildbau wie im Farbklang) wahrgenommen werden.143 Die Frage nach dem Raum der Kunst ist die Frage, was im Falle der Kunst ein solches ›Ding‹ wie ein ›Standbild‹ oder ein ›Wandbild‹, ein Tempel oder ein Krug ist. Und das ist in einem Zeitalter der Unsicherheit, vielleicht sogar der Taubheit und Blindheit Altem wie Modernem gegenüber keine akademische Frage, sondern eine Sache des Sprachenlernens: des Lesen-, des Hören-, des Sehenlernens der Sprachen der Kunst. Das aber heißt: dies ist ein Weg, Werke der Kunst, Vorgänge der Kunst überhaupt erst sein zu lassen. Denn ein Tempel ist doch nicht schon, sobald er aufgestellt ist; und er ist erst recht nicht noch, nur weil er als Ruine erhalten ist. Ein Gemälde ist nicht schon, wenn es gemalt ist und in der Kirche oder im Museum aufgehängt ist. Mit einer solchen Ansicht von der Wirklichkeit eines Kunstwerks steht es so, als würde man die Wirklichkeit eines Schauspiels allein in dem, was auf der Bühne vorgeht, suchen, oder gar nur im ›Text‹, statt in dem, was sich zwischen der Bühne und den ›Zuschauern‹ abspielt (die als Schauende und Hörende Mitspieler sind). Das gilt von 142 Siehe dazu Dieter Rahn, Raumdarstellung und Zeitbezug in der Malerei. Zur Kunst und Kunstgeschichte André Massons, Mäander: München 1982. 143 Diesem eigenen Rang der europäischen Malerei von Giotto bis zu Tiepolo galt das Lebenswerk Theodor Hetzers (1890–1946).

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Der Raum der Kunst – Vorwort 1993

der Spannung zwischen Chor und Dialog in der griechischen Tragödie ebenso wie von der Schwingung zwischen dramatischer Handlung, Tanz und Musik beim No-Spiel. Das Können (nô) dient hier dem Ziel der ›vornehmen Anmut‹ (yûgen), dessen Gewinn sich in der ›Blüte‹ (hana), der Zustimmung des Publikums, bezeugt. Auch beim Spiel des Kabuki ist schon mit der Triade des Namens: Lied (ka), Tanz (bu) und künstlerischem Können (ki), dieser Ereignis- oder Geschehnis-Charakter angesprochen, der das Theater (besser als das Produkt des Malers oder des ›Schriftstellers‹) zum Paradigma aller Kunst macht. Eine Sache der Kunst ist immer erst dann, wenn sie an ihrem Ort, in ihrer Struktur erfahren wird. Die Sache der Kunst ›besteht‹ im Aufgang dieser Blüte (hana), im Geschehen dieses Blühens. Im Falle eines rituellen Tanzes ist das jedem klar: hier gibt es nur den Vollzug. Auch der ›Zuschauer‹ eines solchen Tanzes ›sieht‹, was sich abspielt, nur, wenn er den Vorgang innerlich ›mitvollzieht‹. Im Falle einer Plastik, eines Bildes fällt uns, uns modernen Menschen, das so schwer, wie dies die von der Sache her abstrusen Einwände gegen die ›Verdinglichung‹ des Geistigen im ›Götterbild‹ – im Westen schon seit Plato und dem ›Bilderstreit‹ des frühen Mittelalters – zeigen. Das Werk ist, nicht anders als das ›Schau-Spiel‹ einer attischen Tragödie, das ›Hör-Spiel‹ eines barocken Oratoriums, erst dann und nur dann, wenn es, gewaltig oder still, als Resultat langer Mühe des Verstehens oder auch in der Erschütterung plötzlicher Einsicht, ankommt. Ob der Vorgang dieser Ankunft mit dem ästhetischen Begriff der ›Rezeption‹ getroffen ist, das ist so fraglich, wie es der Korrelationsbegriff der ›Produktion‹ für das Verständnis des Hervorgehens ist. Beide Begriffe verfälschen den Sachverhalt der Kunst, indem sie ihn dem Schematis­ mus des uns Gewohnten unterwerfen: der Relation von Herstellung und Nutzung, die in dem technischen Denken der europäischen Neuzeit zur Allmacht gelangt ist. Dieser Allmacht entspricht die Allmacht der Theorie, die auch noch die Praxis, das Handeln, in ihren Dienst stellt. Eine Theorie der Kunst blendet mit ihrer Art durchdringender Helligkeit die Plastizität ebenso wie die Farbigkeit weg, die dem Raum der Kunst zueigen ist. Sie raubt der Kunst ihren Raum. Der Raum der Kunst ist nicht in einem Allgemeinbegriff zu fassen. Er ist allenfalls von der Folie dessen abzuheben, was er nicht ist, nämlich dem homogenen Raum der neu­ zeitlichen Wissenschaft, der Theorie. Heideggers Verbalisierung: der Raum der Kunst bestehe in der Jeweiligkeit des ›Räumens‹, bekräftigt

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diesen Sachverhalt der Nichtsubsumierbarkeit von Kunst unter die Allgemeinheit eines Begriffs. Von Kunst kann darum angemessen immer nur beispielhaft gesprochen werden. Aber schon die Rede vom ›Beispiel‹ setzt sich der Gefahr des Hierarchiegedankens aus: als müsse sich (wie nach mancher Theologie) das redende Verkün­ den, das exegetische Vermitteln nur darum auf ein Jeweiliges, je Gegenwärtiges einlassen, weil das immergültig Eine ›transzendent‹ ist. Der Werk-Charakter, der Erscheinungs-Charakter von Kunst wird dann zum Symbol-Charakter relativiert. Daß sich das Größte auch im Kleinsten zeigen kann, das ›Wesen‹ ›der Kunst‹ an der DionysosSchale oder der Brettspiel-Amphora des Töpfers und Vasenmalers Exekias ebenso wie am Parthenon, an den ›Sechs Kakifrüchten‹ von Mu ch`i144 ebenso wie an einer der altchinesischen Sakralbronzen, gehört zu dieser Art des Zusammenstimmens (der ›Harmonie‹ im Sinne Heraklits) zwischen der Vielfalt des ›All‹ und der Einheit des ›Nichts‹. Das Nebeneinander verschiedener Wege im Umgang mit Einzelnem ist darum kein Notbehelf oder Vorspiel, sondern die Bewegungsweise, die zu einer Geographie und Geologie der Kunst durch die ›Welt‹ der Kunst, durch ihren Raum selbst vorgegeben ist. Die sechs Kapitel sind Aufsätze und Vorträge, die ausdrücklich die Gelegenheiten aufnehmen, für die sie verfaßt wurden. Der dama­ lige Text ist hier unverändert beibehalten. Bei den Abbildungen waren manchmal, der anderen Aufnahmeweise gegenüber mündlicher und schriftlicher Wiedergabe gemäß, Kürzungen möglich. Der Vortrag Kunst und Wirklichkeit sucht den neuzeitlichen Gebrauch dieser beiden Wörter wechselseitig in Frage zu stellen: Kunst, gemessen am Paradigma des Bauwerks (der Techne), ist selber etwas ›Wirkliches‹, nämlich Epochenprägendes. Und ›die Wirklich­ keit‹, den geschichtlich-menschlichen Umgang mit ›der Natur‹, gibt es nicht ohne Sprache; die aber hat ihr Korrelat in derjenigen Art von Bild (von Mimesis), die die ›mimischen‹ Künste von Tanz und Theater verkörpern. Der Aufsatztitel Die Kunst und der Raum wiederholt den Titel einer kleinen Schrift des späten Heidegger. Der Aufsatz sucht in einer Erinnerung an Freundschaften Heideggers mit Künstlern und Kunstgelehrten den Gedanken Heideggers vom plastischen Grund­ 144 Zu dem Tuschbild Sechs Kakifrüchte (im Daitoku-ji in Kyoto) von Mu Ch'i: Diet­ rich Seckel, Einführung in die Kunst Ostasiens. 34 Interpretationen, 1960, darin die 34. Interpretation. – Gerhard Faden, Der Schein der Kunst. Zu Heideggers Kritik der Ästhe­ tik, Verlag Königshausen und Neumann, Würzburg 1986, S. 123–138.

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Der Raum der Kunst – Vorwort 1993

zug aller Künste an Beispielen, zu denen mir eben jene Freundschaften Anlaß gaben, zu erläutern. Die Bedeutung dieser Gedanken sehe ich in einem Sachverhalt, der mich bereits in meinen Schelling-Studien beschäftigt hatte: Der Raum der Kunst in seiner Korrektur am RaumBegriff der neuzeitlichen Wissenschaften (seit Galilei und Descartes) verweist auf kontroverse Möglichkeiten, kontroverse Wege – auch bei den Epochen der Geschichte – im Verhältnis des Menschen zur Natur. Am Kubismus Georges Braques und den, die kubistische Grund­ legung erweiternden und damit zugleich bestätigenden ›Atelier‹-Bil­ dern seines Spätwerks soll (im dritten Kapitel) der nicht-mimetische Grundzug des Kubismus und damit ein Grundzug des Ganzen der ›modernen Kunst‹ erläutert werden. Sein Vorbild ist Cézannes Ver­ such, ›nach der Natur‹ so zu arbeiten, daß das Werk am Ende gerade kein bloßes ›Bild‹ der betreffenden Natur, sondern deren ›réalisa­ tion‹ ist. Im ästhetischen Begriff der ›sinnlichen Erkenntnis‹ bleibt das Muster logischer Erkenntnis immer noch maßgebend. Die Werke des spanischen Malers Tàpies korrigieren den ästhetischen Begriff der Kunst, indem sie das ganze (cartesianische) Schema der wechselseiti­ gen Verselbständigung von ›Sinnlichkeit‹ und ›Geistigkeit‹ verlassen: Leibhaftigkeit des Bildes als Zugang zum Rätselcharakter der Welt. ›Der Ursprung des Kunstwerks‹ – dieser Titel hat bei Heidegger (mit dem Doppelsinn des europäischen Genetivs) die doppelte Bedeu­ tung: woraus die Kunst entspringt, und: was aus ihr entspringt. In diesem fünften Kapitel suche ich den ›Wink‹ aufzunehmen, den diese Schrift Heideggers mit dem Nebeneinander ihrer beiden Haupt­ beispiele: ein Gemälde van Goghs und ein griechischer Tempel, gibt, die Frage: in welchem Verhältnis steht die moderne Kunst zum ›Ursprung‹ der Kunst, zu deren Herkunft wie zu deren eignem, anfänglichen ›Gründen‹ oder ›Stiften‹? Ein erstes Beispielpaar: zwei Plastiken Brancusis, erläutert die Frage: inwiefern der Plastik das Vermögen des Anfangens (also die von der westlichen Ästhetik der Dichtung vorbehaltene Kraft des ›Schöpferischen‹) zukommt. Ein zweites Beispielpaar: eine Skulptur und eine Zeichnung Giacomettis, erläutert an Giacomettis Prinzip des ›Kopierens‹ die Erneuerung der ›ursprünglichen‹ Form des ›Bildens‹ in moderner Kunst. Im sechsten Kapitel wird in einer Korrektur unserer Ansichten von Grundgebilden des Bauens wie dem Haus, dem Turm, dem Platz versucht, einen Grundriß des Feldes der Architektur zu entwerfen. Im Blick auf Städte Griechenlands und seiner eigenen Umgebung

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Anhang

(wie Heidelberg und Stuttgart) hat Hölderlin in einigen seiner großen Gedichte Zeichen gesetzt, die einer solchen Korrektur auch mit dem Blick auf andere Epochen und Kulturen Wege weisen. Für die Anregung zu diesem Buch, die Gespräche zu Fragen der Übersetzung und die Hilfe bei den Abbildungen gilt mein Dank Frau Dr. Mari Moh, den Freunden Prof. Dr. Gregor Häfliger, Prof. Dr. Hideki Mine und Dr. Tadashi Otsuru, sowie dem Seikyusha Verlag. Dieter Jähnig

Überlingen am Bodensee, im März 1992

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Abbildungen und Bildnachweise

Abbildungen 1, 5, 6, 20, 21, 27, 28: Dieter Jähnig, Weltgeschichte: Kunst-Geschichte. Zum Verhältnis von Vergangenheitserkenntnis und Veränderung, DuMont: Köln 1975. Abbildungen 11, 12, 13, 14: Kunst und Technik. Gedächtnisschrift zum 100. Geburtstag von Martin Heidegger, hg. v. Walter Biemel und Friedrich-Wilhelm Herr­ mann, Klostermann : Frankfurt/M. 1989. Abbildung 3: Meisterwerke aus China, Korea und Japan. Museum für Ostasiatische Kunst Köln, hg. v. Adele Schlombs, Prestel : München 1995. Abbildungen 4: Dieter Jähnig, Geijutsu no kukan. zoukeigeijutsu no gengo e no michi. Der Raum der Kunst. Wege zur Sprache der bildenden Kunst, Seikyu­ sha : Tokyo 1993. Abbildungen 9, 10: Phillip King. Ausstellungskatalog Hayward Gallery, Arts Council of Great Britain : London 1981. Abbildung 17: Henriette Mentha, Die Sammlung Im Obersteg im Kunstmuseum Basel : [Ausstellung Kunstmuseum Basel, 14. Februar bis 02. Mai 2004] 2004. Abbildungen 18, 19: Siegfried Gohr, Museum Ludwig Köln. Gemälde, Skulpturen, Envi­ rements vom Expressionismus bis zur Gegenwart, Prestel : Mün­ chen 1986.

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Abbildungen und Bildnachweise

Abbildungen 30, 31: Chillida. Ausstellungskatalog Neuer Berliner Kunstverein : Ber­ lin 1991. Abbildung 16: Dieter Jähnig, Dichtung und Geschichte. Beiträge Hölderlins zur Geschichtsphilosophie und zur Philosophie der Künste, hg. v. Dieter Rahn. Germanistische Texte und Studien Bd. 98, Georg Olms : Hil­ desheim Zürich New York 2019. Abbildung 8: Paul Klee: The Nature of Creation. Works 1914 -1940. Ausstellungs­ katalog hg. von Robert Kudielka, Hayward Gallery & Lund Hum­ phries : London 2002. Abbildung 15: Vincent van Gogh. Gemälde und Zeichnungen. Eine Auswahl aus der Sammlung der Vincent van Goghstiftung, Amsterdam 1968. Die Bilddateien für die Abbildungen 2, 7, 22, 23, 24, 25, 26, 28 stammen vom Herausgeber.

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Kunst und Wirklichkeit

Kunst und Wirklichkeit 1. Grabstein des Königs »Schlange«, Kalkstein. 1. Dynastie, um 2800 v. Chr. Paris, Louvre. Breite 65 cm. - Der HorusName des Königs, eine Schlange mit erhobenem Kopf, im Rahmen der Palast­ ansicht, deren durch Rillenschmuck gegliederte Fassade drei Türme und zwei hohe Tore aufweist. (Die beiden Tore entsprechen dem Zusammenschluß der ober- und unterägyptischen Landes­ teile.) Darüber der Königsgott in Falken­ gestalt. (Nach: Max Hirmer / Eberhard Otto: Ägyptische Kunst, dtv 1971, Bd. 1, S. 74; Walther Wolf: Frühe Hochkul­ turen. Ägypten, Mesopotamien, Ägäis, Belser Stilgeschichte, Bd. 1, 1969, S. 58.

2. Rollsiegelbild der Djemdet Nasr-Zeit, Altsumer, 3000-2700 v. Chr. Höhe 5,4 cm, Berlin. - Dumuzi, der »gute Hirte«, füttert die hei­ ligen Schafe der Inanna, die durch ihr Schilfringbündel vertreten wird. Links Kultgefäße, darüber ein Lamm. (Nach Hartmut Schmökel: Ur, Assur und Babylon, Reihe: Große Kulturen der Frühzeit, 1955, S. 274; Walther Wolf: Frühe Hochkulturen, 1969, S. 152.

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Abbildungen und Bildnachweise

3. Opfergefäß aus patinierter Bronze, Typus fang-i (»viereckiges i«), China, um 1000 v. Chr., Höhe ca. 35 cm. Köln, Ostasiatisches Museum. - Das Gefäß baut sich auf aus der Gefäßschale mit ihrer Basis und dem Deckel mit seinem Knauf, der die Grundform des Deckels im Kleinen wiederholt. Die Gefäßschale gliedert sich ihrerseits in drei Teile, die an den Gefäßwänden als flächige, von schmalen glatten Bän­ dern getrennte Zonen erscheinen: die Basis, das große ausladende Mittel­ stück, das die Opfergaben aufnimmt, und den Streifen unterhalb des Randes. Über dem schwer lastenden »Dach« der leichte, gleichsam schwebende Knauf. Die hervortretenden Grate betonen gegenüber den quergelagerten Teilen die vertikale Mittelachse und bilden eine Symmetrieachse für den Dekor, der sich entweder zu ihr hin oder von ihr wegwendet; sie fassen den ganzen Gefäßkörper zu einer monumentalen Einheit zusammen, während sie zugleich nach allen Seiten ausstrahlen, den Dekor der Wände nach außen leitend, so wie dies in ihm schon durch die hervortretenden Augen der mehrfach wiederholten Tiermaske, des T'ao-t'ieh, geschieht. (In Anlehnung an Dietrich Seckel: Einfüh­ rung in die Kunst Ostasiens, 34 Interpretationen, Sammlung Piper, 1960, S. 24-29.

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Kunst und Wirklichkeit

4. Höhlenmalerei der Altsteinzeit, Detail einer Wand. Um 20000 v. Chr. Höhle von Lascaux, Frankreich. - Die Fraglich­ keit des modernen »Magie«-Begriffs, der dem Malen solcher Bilder einen Zweck unterstellt (die Sicherung des Jagd-Erfolges). Das Malen des Tieres war, ebenso wie die Tiertänze, Antwort und Sprache: nicht die Antizipation eines Wunsches, sondern der Vollzug einer Erfahrung.

5. Pont du Gard bei Nîmes, Südfrank­ reich. Römische Wasserleitung, erbaut um 29 v. Chr. Länge 262 m, Höhe über der Talsohle annähernd 50 m. »Exaktes Mauerwerk, strenge Geometrie.« (Paul Bonatz und Fritz Leonhardt: Brücken, 1960, S. 35. 6. Türkische Brücke in Mostar, Jugosla­ wien. »Wie aus der alten Feste heraus­ gewachsen. Vielleicht einmal ein römi­ scher Übergang, aber der leichte Spitzbogen und alle Einzelheiten deuten auf türkischen Ursprung.« (Paul Bonatz und Fritz Leonhardt: Brücken, S. 42. Abbildung: Bildarchiv M. DuMont Schauberg.)

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Abbildungen und Bildnachweise

7. Paul Klee: »Die Revolution des Viadukts», 50x60 cm, 1937. Kunst­ halle Hamburg. - »Zwölf Brücken­ bögen haben Füße bekommen und rücken schweren Tritts vor wie Män­ ner, die sich ihrer Kraft bewußt sind ... Die Brücken-Männer hören in der Höhe der Hüfte auf, haben weder Kopf noch Oberkörper, sind Marschierer und nichts als dies« (Will Grohmann).

8. Paul Klee: »Hommage à Picasso«, 1914. Slg. Rübel, New York. - »Im April 1912 ist Klee für 16 Tage in Paris und sieht Delaunay und die Kubisten. Picasso und Braque waren gerade dabei, die kleinteiligen Kuben des ana­ lytischen Kubismus geome­ trisch-flächig zu vereinfa­ chen, d. h. bildhaft zu klären: Übergang zum synthetischen Kubismus 1912-1914. Für Klee bedeutete das den Ein­ bruch des elementar Geome­ trischen, das fortan das tra­ gende Gerüst seines Bildens ist ... Dieser inneren Lage gibt das Bild »Hommage à Picasso« den präzisesten Ausdruck.« (G. Schmidt: Die Malerei in Deutschland 1900-1918, S. 40.)

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Kunst und Wirklichkeit

9. Phillip King, Ascona, 1972, Stahl, 231x457x457 cm, Belfast

10. Phillip King, Open Bound, 1973, Stahl, Aluminium, Holz, 168x366x366 cm, Otterlo

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Abbildungen und Bildnachweise

»Der Ursprung des Kunstwerkes« und die moderne Kunst

11. Constantin Brancusi, Der Vogel im Raum, 1930, Foto von Brancusi

12. Constantin Brancusi, Das Neugeborene II, B. 25 cm, 1925

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»Der Ursprung des Kunstwerkes« und die moderne Kunst

13. Alberto Giacometti, Stehende Frau, H. 182 cm, 1948, Kunsthaus Zürich

14. Alberto Giacometti, Bildnis Diego, 64x48 cm, 1948, Kunstmuseum Bern

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Abbildungen und Bildnachweise

15. Vincent Van Gogh, Bauernschuhe, F. 255, 38x46 cm, in Paris 1886, Amsterdam

16. Griechenland, Tempel von Bassä, Ende 5. Jh. v. Chr.

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Leibhaftigkeit (Zum Werk von Antoni Tàpies)

Leibhaftigkeit (Zum Werk von Antoni Tàpies)

17. Antoni Tàpies, Pintura No. XLVII, Sand, Steinmehl u.a., 110x100 cm, 1957, Basel

18. Antoni Tàpies, Großes Schwarz und braunes Craquelé, Öl, Sand und Zement auf Lw., 260x195 cm, 1966, Köln

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Abbildungen und Bildnachweise

19. Antoni Tàpies, Zeichen auf weißen Ovalen, Farbe, Sand und Leim auf Holz, 196x260 cm, 1966, Köln

Realisation (Zum Kubismus von Georges Braque)

20. Pablo Picasso, Stilleben mit Ochsenschädel, 130x97 cm, 1942, Düsseldorf

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Realisation (Zum Kubismus von Georges Braque)

21. Georges Braque, Interieur mit Palette, 1942, 145x196 cm, Privatbesitz

22. Georges Braque, Der Hafen von Antwerpen, 51x62 cm, 1906, Basel

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Abbildungen und Bildnachweise

23. Georges Braque, Häuser von L'Estaque, 73x60 cm, 1908, Bern

24. Georges Braque, Violine und Krug, 117x73 cm, 1910, Basel

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Realisation (Zum Kubismus von Georges Braque)

25. Georges Braque, Der Portugiese, 117x81 cm, 1910/11, Basel

26. Georges Braque, Atelier II, 1949, 130x162 cm, Düsseldorf

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Abbildungen und Bildnachweise

27. Georges Braque, Atelier V, 1949/50, 147x177 cm, MoMa NewYork

28. Georges Braque, Atelier VI, 1950-1951, 130x163 cm, Saint-Paul

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Die Kunst und der Raum

Die Kunst und der Raum

29. Eduardo Chillida, Autour du Vide IV, Stahl, 153x268x160 cm, 1968, Basel

30. Eduardo Chillida, Lob der Luft, Eisen, 133x33x23 cm, 1956, Zürich

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Abbildungen und Bildnachweise

31. Eduardo Chillida, Lob des Horizonts, Beton, 15x12x10 m, 1990, Gijon

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Aufsätze Band 2

Dieter Jähnig

Die Zeit der Kunst und der Bau der Geschichte Die Erde als Horizont der Geschichte Herausgegeben von Dieter Rahn

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© Titelbild: Die ›Dipintura der Scienzia Nuova Napoli 1730, Thomas Gilbhard, Vicos Denkbild. Studien zur Dipintura der Scienzia Nuova und der Lehre vom Ingenium, Akademie Verlag: Berlin 2012.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-495-99625-6 (Print) ISBN 978-3-495-99626-3 (ePDF)

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1. Auflage 2023 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2023. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de

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Inhaltsverzeichnis

Die Beseitigung der Geschichte durch ›Bildung‹ und ›Erinnerung‹ (zu Hegel) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

307

1 Gewißheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

308

2 Logik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

312

3 Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

317

Fachbetrieb und Sachbezug . . . . . . . . . . . . . . . .

319

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

319

1 Kulturwissenschaften und Kultur . . . . . . . . . . . . . a Die Diskrepanz zwischen fachlichem Fundament und sachlicher Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . b Die Unzulänglichkeit des Gebietskonzeptes . . . . . . c Die Diktatur der Historizität . . . . . . . . . . . . . . d Die Umkehrung der Wahrheit . . . . . . . . . . . . . e Die Unersetzlichkeit der Wissenschaft in der modernen Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

325 325 327 328 331

2 Naturwissenschaften und Natur . . . . . . . . . . . . . .

336

3 Praxiswissenschaften und Praxis

. . . . . . . . . . . . .

338

4 ›Natur plus Geist‹ und Welt . . . . . . . . . . . . . . . .

339

Wissenschaft und Geschichte bei Droysen . . . . . . . .

345

1 Droysens Aktualität zu seiner wie unserer Zeit . . . . . .

345

2 Das Quellen-Schaffen der Methode . . . . . . . . . . . .

350

3 Die ›historische Bedeutung‹ . . . . . . . . . . . . . . . .

353

4 Herrschaft des Fachbetriebs über den Sachbezug

361

. . . . .

334

303 https://doi.org/10.5771/9783495996263 .

Inhaltsverzeichnis

Natur und Geschichte bei Schelling . . . . . . . . . . .

365

Jacob Burckhardts Gedanke des ökumenischen Maßstabs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

371

I. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

374 380

Die ›Kehre‹ in Heideggers Verständnis der Geschichte

391

1 Philosophie und Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . .

391

2 Der ›Satz vom Grund‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

398

3 ›Seinsgeschichte‹ als Welt-Geschichte . . . . . . . . . . .

407

4 Das geschichtliche Gespräch

. . . . . . . . . . . . . . .

416

Philosophie und Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

423

1 Nacheinander (Hegel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

423

2 Gegeneinander und Miteinander (Aristoteles und Kant, Schelling und Nietzsche) . . . . . . . . . . . . . . . . .

430

Vicos verum-factum-convertuntur-These

Vico-Vorlesung 8 vom 7.12.1984 . . . . . . . . . . . . . . . .

437

Leibniz und die Kybernetik . . . . . . . . . . . . . . . .

459

1 Universalisierung der Technik . . . . . . . . . . . . . . . a Die ›Logische Maschine‹ . . . . . . . . . . . . . . . . b ›Lösung‹ des Problems der lebendigen Natur für die Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

459 459

2 Selbsterzeugung und Selbstorganisation a Künstliches Gedächtnis . . . . . . . . b ›Subjektivität‹ der Natur . . . . . . . c Existenz als ›Existiturire‹ . . . . . . . Aktion . . . . . . . . . . . . . . . . Information und Produktion . . . . . Individualität und Universalität . . . . d Automation . . . . . . . . . . . . . .

469 469 470 472 473 474 475 480

. . . . . . . .

. . . . . . . .

. . . . . . . .

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465

Inhaltsverzeichnis

3 Kybernetisches Dual-System und die chinesische Polarität von Yin und Yang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

481

Selbstentfremdung – Weltentfremdung. Über den Zusammenhang zwischen europäischer Philosophie und moderner Technik . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

487

1 ›Subjektität‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

488

2 Metaphysik des Atomzeitalters . . . . . . . . . . . . . .

492

3 Die Automatik der Autonomie . . . . . . . . . . . . . .

502

4 Der Weltraum der Erde . . . . . . . . . . . . . . . . . .

504

›Die falsche Größe‹

Jacob Burckhardts Kritik der Verwechslung von Größe mit Macht

509

Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

527

Erinnerung an Wolfgang Schadewaldt (1974) . . . . . . . .

527

Einige Thesen zur ›Funktion der Geisteswissenschaften‹ in der ›Produktionsgesellschaft‹ (um 1985) . . . . . . . . . . . . .

536

Zum Seminar: Adolf Portmann – Anthropologie und Biologie WS 1973/74 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

539

Hartmut Schröter zu: ›Die Natur der Erde‹ . . . . . . . . . .

549

Editorische Notiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

561

Liste der Veröffentlichungen Dieter Jähnigs . . . . . . .

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Die Beseitigung der Geschichte durch ›Bildung‹ und ›Erinnerung‹ (zu Hegel)1

An den Hegelschen Begriffen ›Bildung‹ und ›Erinnerung‹ wird faßbar, wie bei Hegel das Verhältnis beschaffen ist, das zwischen den zwei Aspekten von Geschichte besteht: Erkenntnis der Vergangenheit und Handeln in der Gegenwart, Geschichte als Überlieferung und Geschichte als Veränderung. Der Weg, der hier zur Behandlung dieses Themas gegangen werden soll, ergibt sich daraus, daß Hegel seine eigene geschichtliche Intention in einer grundlegenden Weise expliziert hat in der ›Vorrede‹ und in der ›Einleitung‹ zur ›Phänomenologie des Geistes‹. Beide Textstücke akzentuieren jeweils ein anderes Hauptmotiv von Hegels geschichtlichem Denken. In ihrer Verschiedenheit verweisen sie auf das einheitliche Grundmotiv von Hegels Interesse an der Geschichte. Der im Titel bezeichnete fragwürdige Grundzug in Hegels Begriff der Geschichte wird nur zu erkennen sein, wenn man sieht, wie er mit Hegels vorbildlichen Einsichten in das Wesen der Geschichte unmit­ Vortrag auf der (in diesem Jahr dem Thema ›Hegel und unsere Zeit‹ gewidmeten) Sommerschule in Korčula am 24. August 1970, zuerst veröffentlicht in: Praxis 7, 1971, S. 63–72 (Dann in: D. J., Welt-Geschichte: Kunst-Geschichte. Zum Verhältnis von Ver­ gangenheitserkenntnis und Veränderung, DuMont Schauberg: Köln 1975, S. 29–37. D.R.) Die Hegel-Zitate nach den jeweiligen Einzelausgaben in der Philosophischen Bibliothek des Meiner-Verlages. – Zur ›Einleitung‹ in die Phänomenologie des Geistes vgl. besonders: M. Heidegger, ›Hegels Begriff der Erfahrung‹, in: Holzwege, 1950; J. Habermas, Erkenntnis und Interesse, 1968, S. 14–35; R. Bubner, ›Problemgeschichte und systematischer Sinn einer Phänomenologie‹, in: Hegel-Studien 5, 1970, S. 129– 159. – Zu Hegels ›Bildungs‹-Begriff: H. F. Fulda, Das Problem einer Einleitung in Hegels Wissenschaft der Logik, 1965. Wesentliches zum Verständnis der ›Vorrede‹ verdanke ich Gesprächen mit Walter Schulz. – Zum Verhältnis von Philosophie und Geschichte bei Hegel vgl. außerdem: H. Marcuse, Hegels Ontologie und die Grundzüge einer Theo­ rie der Geschichtlichkeit (1932) 3. Aufl. 1974; K.-H. Volkmann-Schluck, Metaphysik und Geschichte, 1963; M. Riedel, ›Die dialektische Begründung der Notwendigkeit des Fortschritts in Hegels Geschichtsphilosophie‹, in: Hegel-Jahrbuch 1968/69, S. 89– 106. (1971 erschien von Werner Marx das Buch: Hegels Phänomenologie des Geistes. Die Bestimmung ihrer Idee in ›Vorrede‹ und ›Einleitung‹.). 1

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Die Beseitigung der Geschichte durch ›Bildung‹ und ›Erinnerung‹ (zu Hegel)

telbar verknüpft ist. Von diesem Vorbildlichen soll darum jedesmal ausgegangen werden.

1 Gewißheit Die beiden Stücke, die ›Vorrede‹ und die ›Einleitung‹, verhalten sich äußerlich gesehen so zueinander, daß die an zweiter Stelle abgedruckte ›Einleitung‹ den von Hegel zuerst konzipierten Titel ›Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins‹ erläutert, die an erster Stelle abgedruckte ›Vorrede‹ den von Hegel später und endgültig gewählten Titel ›Phänomenologie des Geistes‹. Um die Motive dieser beiden Ouvertüren zu Hegels erstem Hauptwerk zu erkennen, muß man auf die jeweiligen Ansätze achten. Beiden Stücken ist ein polemisches Generalmotiv gemeinsam. Die ›Einleitung‹ beginnt damit, daß Hegel für seinen Fall zurückweist, was von einer Einleitung erwartet wird; die ›Vorrede‹, daß er für seinen Fall zurückweist, was von einer Vorrede erwartet wird. Was Hegel in der ›Einleitung‹ für seinen Fall zurückweist, ist die Meinung, man habe, bevor man mit der Betätigung des Erken­ nens beginnt, eine Theorie des Erkennens zu entwickeln, man habe, bevor man sich dem zu Erkennenden, der Sache, zuwendet, das Erkennen selbst zu untersuchen, man müsse, bevor man an die Sache selbst (das Erkenntnis-Objekt) geht, genau Bescheid wissen über den menschlichen Anteil an dem Erkenntnis-Prozeß (über uns, die Erkenntnis-Subjekte). Was Hegel hier zunächst kritisiert, das ist die Vormeinung, die dieser Ansicht zu Grunde liegt: die Meinung, das Erkennen sei ein bloßes »Werkzeug« oder ein bloßes »Medium«, das man von der Sache selbst abziehen, absondern und zu diesem Zweck selber zu einem Erkenntnisthema machen könnte. Was Hegel mit dieser Kritik trifft, das ist die im Beginn des neu­ zeitlichen Wissensprinzips bei Descartes bereits angelegte und (paral­ lel zu dem schon zu Hegels Zeit beginnenden ›neukantianischen‹ Mißverständnis der ›kritischen Philosophie‹ Kants) am Anfang des 19. Jahrhunderts in ihre heutige Dominanz eintretende Verselbständi­ gung der Methode, das Interesse und die Faszination an der Methodo­ logie. Im § 10 der ›Enzyklopädie‹ vergleicht Hegel diese Vorstellung vom Erkennen mit dem Versuch, schwimmen lernen zu wollen, ohne

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1 Gewißheit

sich ins Wasser zu begeben. Und in der Einleitung in die ›Phänome­ nologie‹ fragt er, ob diese »Furcht vor dem Irrtum« nicht viel eher eine »Furcht vor der Wahrheit« sei (64f.). Hegels eigene Position besteht nun keineswegs darin, daß er sich einen privilegierten Besitz der Wahrheit oder eine Art von Geheim­ schlüssel zu ihrer Erlangung anmaßt (diese Anmaßung bekämpft er ja ebenfalls, und zwar in dem anderen der beiden Stücke, in der Vorrede). Er macht sich vielmehr die Intention der Methodologie, nämlich den Anspruch auf einen allgemein-verbindlichen Prüfstein oder Maßstab, der die Wahrheit des Wissens sichert, ausdrücklich zu eigen und behauptet nur, daß diese legitime Intention auf eine andere als die methodologische Weise ausgeführt werden muß. Diese Ausführung, die Erfüllung dessen, was die Methodologie intendiert, das leistet nach dieser Einleitung das geschichtliche Denken. Der Unterschied, der entscheidende Unterschied, ist dabei frei­ lich nicht etwa von der Art, daß lediglich ein Sicherungsprinzip gegen ein anderes ausgetauscht würde, sondern von der Art, daß die formale Gewißheits-Sicherung und der inhaltliche Erkenntnis-Vollzug nicht mehr getrennt werden können. Die Einsicht in die Wahrheit der Sache und das Bewußtsein der Richtigkeit dieser Einsicht bestehen in dem gleichen Akt (genauer: in der gleichen Folge von Akten). Hegel macht das klar, indem er der methodologischen Konzep­ tion von Wissen ein Mißverständnis ihrer eigenen Intention nach­ weist. Der legitime Grund der Intention ist der (nach Hegel) legitime Grund der Aufklärung, nämlich nichts als wahr gelten zu lassen, was durch den Erkennenden nicht selbst als wahr geprüft werden kann. Das heißt: Die Wissenschaft (die neuzeitlich-moderne Wissenschaft) hat ihren Grund in dem moralisch-praktischen Prinzip der Autono­ mie. Ihr Gegenteil wäre Heteronomie, eine Wissenschaft, die sich statt auf sich selbst auf Autoritäten gründen würde. Das Prinzip der Autonomie übernimmt Hegel. Die falsche Aus­ legung sieht er darin, daß die Aufklärung Autorität mit Tradition verwechselt und Autonomie mit Emanzipation von der Tradition. Das Selbst-Mißverständnis der Aufklärung ist die Meinung, Wissenschaft sei die alternative Gegenmöglichkeit zur Geschichte. Diese sich selbst verkennende Konzeption von Wissenschaft versteht Hegel als schlechten Skeptizismus, dem er seine Konzeption von Wissenschaft als den »sich vollbringenden Skeptizismus« gegen­ überstellt (67). Dem schlechten Skeptizismus macht er zum Vorwurf, daß er die Überlieferung, die in Gestalt der »Bildung« einer Zeit

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Die Beseitigung der Geschichte durch ›Bildung‹ und ›Erinnerung‹ (zu Hegel)

präsent gemachte Vergangenheit, durch den bloßen »Vorsatz«, »alles selbst zu prüfen«, oder noch besser »alles selbst zu produzieren«, »als unmittelbar abgetan und geschehen vorstellt« (67). Damit wird die legitime Intention nicht nur verfehlt; sie wird, schlimmer noch, pervertiert. Hegel erklärt: »Der eigenen Überzeugung folgen ist aller­ dings mehr als sich der Autorität ergeben; aber durch die Verkehrung des Dafürhaltens aus Autorität in Dafürhalten aus eigener Überzeu­ gung ist nicht notwendig der Inhalt desselben geändert und an die Stelle des Irrtums Wahrheit getreten. Auf die Autorität anderer oder aus eigener Überzeugung im Systeme des Meinens und Vorurteils zu stecken, unterscheidet sich voneinander allein durch die Eitelkeit, welche der letztern Weise beiwohnt« (68). Die letztere Weise, die Eitelkeit des »trockenen Ich« (70), die Perversion des Autonomie-Prinzips, ist noch schlimmer als eine ausdrückliche Autoritätshörigkeit, weil sie von der Überlieferung erst recht, nämlich blindlings, beherrscht wird. Das Merkmal dieses schlechten Skeptizismus ist die Selbstzufriedenheit im bloß forma­ len, im bloß gespielten Zweifel: während der im Eingehen auf die Geschichte, im Durchdenken der Bildung sich vollbringende Skepti­ zismus der »Weg der Verzweiflung« ist, denn auf diesem Wege ändern sich nicht nur einzelne Wahrheiten, sondern der ganze Begriff dessen, was Inhalt von Wissen überhaupt ist, kehrt sich um (67). Diese Umkehrung des Wissensinhaltes in der Zuwendung zur Geschichte macht Hegels Konzeption von Wissen aus. Deren eigenes Gewißheits-Kriterium, ausgesprochen in dem Satz: »Das Bewußtsein gibt seinen Maßstab an ihm selbst« (71), expliziert Hegel auf den letzten vier Seiten der Einleitung. Hier soll nur der Charakter jener Umkehrung an einem geschichtlichen Beispiel illustriert werden. Am Übergang vom zweiten zum dritten Buch der ›Logik‹ (also zu dem letzten, das dem »Begriff« gewidmet ist) beschäftigt sich Hegel ausführlich mit Spinoza als dem Denker der »Substanz« und Kant als dem Denker des »Ichs« oder des »Begriffs« (›Wissenschaft der Logik‹, II, 164–167, 221–234). Und er erklärt, daß Spinozas Denken keineswegs falsch gewesen sei; er habe sich nur in der Meinung über die absolute Gültigkeit seines Systems geirrt. Was Kant (im Gedanken der »transzendentalen Apperzeption«) gefunden habe, sei gerade die Wahrheit des Substanzialitätsgedankens: Der Schritt zum Begriff »ist die Enthüllung der Substanz, und diese ist die Genesis des Begriffs« (218).

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1 Gewißheit

Diesen Zusammenhang, daß das Wahre der einen Zeit durch die Folgezeit erst herauskommt, diese Entwicklung zu erkennen, darin sieht Hegel seinen Fortschritt auch noch gegenüber Kant. In diesem Rückgang auf die Herkunft erst wird der »Begriff des Begriffs« gewon­ nen. An die Stelle eines fixierbaren und objektivierbaren Inhaltes tritt die ganze Bewegung des Wissens. Mit dieser Veränderung des Wissens-Inhaltes verändert sich auch das Kriterium für die Gewißheit des Wissens. Es besteht (wie dies Hegel in der Einleitung in die Phänomenologie erklärt und wodurch seit der Phänomenologie jedes der großen Werke und jede der großen Vorlesungen Hegels charakterisiert ist) in der »Notwendig­ keit des Fortgangs« (68f. und 74). (Diese Notwendigkeit ist, wie dies vor Hegel bereits Schelling in seinem »System des transzendentalen Idealismus« und, auf neuer Ebene, dann Hegel in seiner »Logik« ausgeführt hat, in dem Prinzip der Subjektivität, der Selbstbestim­ mung, vorgebildet.) An der Stelle (in der Einleitung in die ›Philosophie der Weltge­ schichte‹), wo Hegel seinen Gedanken vom Sinn der ganzen Weltge­ schichte ausspricht: »Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit«, da fährt er fort, und diese Fortsetzung nennt nichts anderes als die Realisierung dessen, was Hegel unter Freiheit versteht: »... ein Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit zu erken­ nen haben« (›Die Vernunft in der Geschichte‹, S. 63). Die Einsicht, die sich aus der ›Einleitung‹ in die ›Phänomenolo­ gie‹ über Hegels geschichtliches Denken gewinnen läßt, besteht dem­ nach im Folgenden. Die Geschichte bietet der Philosophie (in dem Augenblick, wo diese ihre alte Gestalt, die »Liebe zum Wissen«, ver­ läßt, um in die Gestalt des »wirklichen Wissens« einzutreten; ›Phä­ nomenologie‹, S. 12) sowohl den Inhalt des Wissens (das »Wahre«) als auch seine Form (die »Gewißheit«). Das geschichtliche Verfahren (die Vergeschichtlichung der Philosophie durch Hegel) ist kein Abweg, sondern die Konsequenz der neuzeitlichen Konzeption der Wirklichkeit als Autonomie. Es stellt keine Abkehr von dem natur­ wissenschaftlichen Wissensprinzip dar, sondern dessen Erfüllung. Die Geschichte (als Erkenntnis-Inhalt und Erkenntnis-Form) bedeu­ tet in Hegels Fall die Radikalisierung der mathematischen Grundin­ tention im neuzeitlichen Begriff des Wissens. Damit, daß das Ganze der Wirklichkeit in den Prozeß des Wissens einbezogen wird, und zwar so, daß die Totalität als systematischer Folgezusammenhang ihre eigene Gewißheitsgarantie selbst erzeugt, ist derjenige Absolutheits­

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Die Beseitigung der Geschichte durch ›Bildung‹ und ›Erinnerung‹ (zu Hegel)

anspruch des Wissens begründet, der von Leibniz bereits anvisiert war und der sich heute in Gestalt der Kybernetik weltgeschichtlich zu bewähren beginnt.

2 Logik Das Motiv der ›Einleitung‹ ergab sich aus ihrem Ansatz: Hegels Kritik an einer verselbständigten Erkenntnis-Theorie. Es besteht in Hegels Verwahrung gegen den Irrtum des Formalismus, wobei er für sein Verfahren gerade die Wahrung der (nach seiner Ansicht) legitimen Intention der Erkenntnistheorie beansprucht: die methodische Wis­ senssicherung. Der Ansatz nun der ›Vorrede‹, ebenfalls polemisch gegen das gewandt, was üblicherweise in einer Vorrede erwartet wird, geht in eine andere Richtung. Hegel bestreitet hier (für seinen Fall) die Gepflogenheit einer historischen Einleitung, die Meinung, man müsse, bevor man zur Darstellung seiner eigenen Position kommt, die bisherigen Standpunkte abhandeln. Außerdem bestreitet er noch eine weitere Gepflogenheit, nämlich die, in einer Vorrede den Zweck oder das Resultat der dann folgenden Untersuchung anzugeben, eine Vor­ stellung, wonach die Ausführung ihren Sinn lediglich in der Material­ ausbreitung oder in der Beweisführung hat. Beide Gepflogenheiten, den historischen Vorspann und die Vorgabe des Ergebnisses, lehnt Hegel aus einem gleichen Grund heraus ab. Und dieser Grund macht den Sinn des Titels ›Phänomenologie des Geistes‹ aus. Die bisherigen, in der »Bildung« des Zeitalters präsent gemach­ ten Standpunkte sind in ihrem historischen Folgezusammenhang die Erscheinung des Geistes; sie machen den Weg aus, auf dem der Geist sein Wesen, absolutes Selbstbewußtsein zu sein, realisiert. Auf diesem Weg besteht die letzte Station notwendigerweise darin, daß alle früheren Stationen auf ihren anfänglichen Endzweck hin durchschaut werden, d. h., daß der Geist sich auch in seiner eigenen Herkunft noch selbst erkennt. Das ist die – an der »Bildung« und von der Philosophie zu leistende – Arbeit der »Erinnerung«. Eine historische Propädeutik ist hier also darum verfehlt, weil der systematische Zweck selbst historischen Charakter hat; und die Ablösung eines Resultates von seiner Erzeugung ist darum nicht möglich, weil der Zweck hier im Prozeß seiner Erzeugung, in der »Ausführung« (der »Arbeit« seiner einzelnen Schritte) besteht.

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2 Logik

Das besondere Motiv der ›Vorrede‹ erkennt man, wenn man sich klarmacht, wogegen die vom Ansatz her evozierte Akzentuie­ rung des wesenhaften »Ausführungs«- oder »Arbeits«-Charakters der Philosophie als Wissenschaft polemisch abzielt. Der polemische Bezugspunkt, der »Feind« der ›Vorrede‹, ist das antithetische Korrelat zu dem, was Hegel in der ›Einleitung‹ bekämpft, der Gegenpol also zu dem Irrtum des Formalismus, nämlich: die Gefahr eines form-losen, der wissenschaftlichen Form entbehrenden, unmittelbaren Einsprin­ gens und Eintauchens in die Wahrheit. Die ganze umfangreiche ›Vorrede‹ durchzieht wie ein roter Faden die ständig, in immer neuen Formulierungen und Argumentationen wiederholte Warnung vor der Prätention einer Erkenntnis, die plötzlich auftritt, nicht durch gedul­ dige Umarbeitung, sondern durch einen Umschlag von Unwahrheit in Wahrheit gewonnen wird, die Warnung also vor einer Art von Wis­ sen, der gerade das Kriterium wirklichen Wissens: Analysierbarkeit, Mitteilbarkeit seiner Erzeugung, abgeht, und die Hegel – ganz in dem Sinn von Platos Verdikt gegen die Dichter – »Ekstase« nennt (13). Das besondere Motiv der ›Vorrede‹ ist Hegels Verwahrung gegen die Gefahr dessen, was man (innerhalb seiner Perspektive) als Irra­ tionalismus bezeichnen könnte und zugleich, sofern diese Gefahr daran kenntlich wird, daß da nichts von dem Ernst und der Mühe zu erkennen ist, wie sie für die Arbeit des Begriffs charakteristisch sind, als Ästhetizismus (im Anschluß an den Hegel-Schüler Kierkegaard). Fragt man nun, worin dieses zweite Motiv der Verbindung von Philosophie und Geschichte: Wissenschaft als Verarbeitung der Überlieferung, selber gründet, dann ist die Antwort: ebenfalls im Prinzip des »Geistes« als Selbstbestimmung. Die Verarbeitung der Geschichte in der Form der Wissenschaft wird in dem Augenblick (ein Augenblick, der selbst ein geschichtlicher ist) notwendig, wo das Prinzip der Selbstbestimmung – mit Kant und der Französischen Revolution – als solches zum Bewußtsein gelangt ist. Denn dann ist dessen eigene notwendige Konsequenz, auch seine eigene Herkunft noch selbst zu bestimmen, sich selbst nicht nur formal, sondern in Wirklichkeit zu besitzen, indem man alle Stufen, die zu dieser Form geführt haben, eigens in sie aufnimmt. Die »Entzweiung«, durch die Hegel die Situation seiner eige­ nen Zeit bestimmt sieht, der Widerspruch zwischen dem »natürli­ chen« und dem philosophisch-wissenschaftlichen Bewußtsein, dem Objekt-Bewußtsein der Gesellschaft und dem Selbst-Bewußtsein der Philosophie, wird von Hegel als ein wechselweises Im-anderen-

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Die Beseitigung der Geschichte durch ›Bildung‹ und ›Erinnerung‹ (zu Hegel)

nicht-»sich-selbst-Besitzen« gekennzeichnet (25). Beide, das natürli­ che Bewußtsein wie das wissenschaftliche Bewußtsein, müssen die Geschichte aufarbeiten, um die – ohne diese Aufarbeit bestehende – Entfremdung zu beseitigen, die dem absoluten Selbstbesitz im Wege steht. Was hier im Namen der Wissenschaft den Grund der Zuwen­ dung zur Geschichte ausmacht, das hat seine – im gleichen Prinzip gründende – Parallele in demjenigen Element der Geschichte, das nach Hegel das »Material« und das konkrete »Ziel« der Geschichte ausmacht, dem Staat. Der Staat ist – seinem (dem Hegelschen) Ideal nach – die Identität von subjektivem (oder individuellem) und objektivem (oder institutionellem) Willen, d. h. derjenige Zustand, wo die Akteure des Willens, die Individuen, dasselbe wollen, was die Vollstrecker der Macht verlangen, wo also keine Entfremdung mehr zwischen »Freiheit« und »Gesetz« besteht: wo die Freiheit Realität ist. Die Geschichte vollzieht sich so lange, wie die beiden Modi des »Geistes«, der subjektive und der objektive Wille, nicht identisch sind. Weil nur in den Formen der Staatlichkeit diese Bewegung der Geschichte stattfinden und erfüllt werden kann, ist der Staat nicht nur das Ziel, sondern auch schon das »Material« der Geschichte. Der innere Zusammenhang der beiden Hauptfaktoren von Hegels Philosophie, und das bedeutet zugleich: der Geschichte (so wie er sie denkt), ist klar ausgesprochen, wenn Hegel (in der Einleitung in die ›Philosophie der Weltgeschichte‹) seine Behauptung: »Alles, was der Mensch ist, verdankt er dem Staat«, mit dem Argument begründet: »Als Wissendem« muß ihm »sein Wesen ... gegenständ­ lich« sein (›Die Vernunft in der Geschichte‹, S. 111). Beide Faktoren, Wissenschaft und Staatlichkeit, haben den Grund ihrer zentralen Bedeutung in der einen Grundverfassung des Geistes, Selbst-Besitz, und das heißt Selbst-Präsenz, zu sein. Dieses Prinzip leitet Hegels Konzeption vom Verlauf der Geschichte ebenso wie seine Konzeption vom Begreifen der Geschichte, also eben das, was man die Vergeschichtlichung der Philosophie und – mit Camus – die »Vergöttlichung der Geschichte« nennen kann. (›L’Homme révolté‹, 1951, ›Der Mensch in der Revolte‹, 1953.) Camus hat das Verdienst, den praktischen Nihilismus aufge­ zeigt zu haben, der aus dem theoretischen Anspruch, das Ziel der Geschichte zu wissen, resultiert, weil darin jede Gegenwart und damit das Element der Humanität demoralisiert wird. Will man

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2 Logik

diesem eschatologisch-teleologischen Nihilismus aber auf den Grund kommen, dann muß man sehen, daß die Aufopferung menschlicher Gegenwart auf dem Altar des Endzwecks ihren Grund in einer Besei­ tigung wirklicher Geschichte hat. Der Grundzug dieses Sachverhalts ist beschlossen in dem Ver­ hältnis, in dem der Geist zur Zeit steht. Der Geist ist einerseits durch die Fähigkeit ausgezeichnet, sich auf die Zeit zu erstrecken, nämlich in jedem Moment das, was diesen Moment negiert, das Nicht-mehr des Vergangenen und das Noch-nicht des Künftigen, mitdenken zu kön­ nen (vgl. ›Die Vernunft in der Geschichte‹, S. 153f.). Insofern kann sich der Geist in die Zeit »entäußern«, sich in die Zeit »verlieren«. Mit dieser Fähigkeit ist aber zugleich eine andere Fähigkeit verbunden (diejenige Fähigkeit, in der der Geist seine Bestimmung erfüllt), näm­ lich die, aus dieser Entäußerung zu sich selbst zurückzukehren, sich selbst zu gewinnen, indem er das Äußere er-innert, und das heißt: indem er »die Zeit tilgt« (›Phänomenologie‹, S. 558). Aus der ›Vorrede‹ und der ›Einleitung‹ ist diesem Endpunkt der ›Phänomenologie‹ gegenüber nun die Frage zu beantworten, worin dieser zeittilgende Grundzug der »Er-Innerung« konkret besteht. Die beiden Stücke lehren, daß die letzte, absolute »Er-Innerung«, die »begriffene Geschichte« (564) nur der Schlußpunkt eines Prozesses ist, der von Anfang an in einer Zeit- und Geschichts-Tilgung besteht. Die »ungeheure Arbeit der Weltgeschichte« (28) und die auf deren Resultat sich beziehende »Bildung« des Individuums haben nach Hegel auf jeder ihrer historischen Stufen und in jedem ihrer systematischen Akte den gemeinschaftlichen Grundzug der Vergeis­ tigung, der Aufhebung von Geschehenem in Gedachtes. Was das nun konkret bedeutet, läßt sich an dem Passus über die »Bildung« in der Vorrede (26–28) klarmachen. »Bildung« besteht ihrem allgemeinen Sinn nach für Hegel darin, daß das Individuum »das Vorhandene« der Überlieferung »erwirbt«. Diesem Vorhaben hat die Überlieferung, die »Arbeit der Weltge­ schichte«, schon vorgearbeitet: »Was in früheren Zeitaltern den reifen Geist der Männer beschäftigte«, das ist im Laufe der späteren Zeiten »zu Kenntnissen, Übungen und selbst Spielen des Knabenalters her­ abgesunken«. (Pythagoras oder Euklid werden in der Primarschule unterrichtet.) »Was vorher die Sache selbst war, ist nur noch eine Spur«, ein »Schattenriß«. Hegel erklärt: »Dieses vergangene Dasein ist bereits erworbenes Eigentum des allgemeinen Geistes.«

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Die Beseitigung der Geschichte durch ›Bildung‹ und ›Erinnerung‹ (zu Hegel)

Dieses allgemeine Eigentum (man könnte es das »Bildungsgut« nennen) machen sich die Individuen zu eigen, indem sie »die Bil­ dungsstufen des allgemeinen Geistes« durchlaufen, »aber« eben »als vom Geiste schon abgelegte Gestalten, als Stufen eines Weges, der ausgearbeitet und geebnet ist«. Es ist das schon »Bekannte«, was noch »erkannt« werden muß. Was ist in dieser doppelten, der substantiellen und der individu­ ellen, Verarbeitung geschehen? Was hat sich dabei gegenüber der einstmaligen Wirklichkeit geändert? Die frühere Wirklichkeit, das einstmals Schwere, ist abgearbei­ tet. Die Arbeit der Überlieferung und die Arbeit der Bildung hat das getilgt, was einstmals kein Kinderspiel war, was damals mit Schweiß und Tränen, mit Angst und Hoffnung verbunden war, eben das also, worin und weswegen gehandelt wurde, worin Geschichte stattfand. Bildung und Überlieferung haben das Frühere keineswegs schlechthin beseitigt. Im Gegenteil, sie sind ja die Mächte der Bewah­ rung, das absolute Gegenteil von Vergessenheit. Aber: was hier bewahrt wird, das ist das, was – wie der euklidische Lehrsatz oder der historische Entwicklungszusammenhang, in dem Sokrates zum Vorläufer des Christentums wird – von dem Früheren heute noch »vorhanden« ist. Die »Bildung« hat es bei ihren Gegenständen gerade nicht mit dem Ferngerückten, der Welt, die nicht mehr gegenwärtig ist, zu tun, sondern mit den Dokumenten, den Resultaten, die uns präsent, die uns verfügbar sind. Überlieferung, Bildung und – zuletzt und total – die »Er-Innerung« der Philosophie sind die Arbeit, die das Nicht-mehr-Präsente vom Noch-Präsenten und Immer-Präsenten abscheiden. Sie stoßen so, indem sie das Bewahrbare, d. h. das Präsen­ tierbare, herausarbeiten, die einstmalige Wirklichkeit erst eigentlich in die Vergangenheit zurück. Erst durch Bildung und Er-Innerung wird das Frühere zum Vergangenen gemacht, zu solchem nämlich, »mit dem der daseiende (also der heutige) Geist fertig geworden, worin daher seine Tätigkeit und somit sein Interesse nicht mehr ist« (28). Bildung und Er-Innerung machen das einstmals Geschehene (im Doppelsinn des deutschen Wortes) fertig, sie erledigen es. Sie beseitigen das Element, das innerhalb des einstigen Gesche­ hens dessen eigene Gegenwart ausmachte, nämlich seinen eigenen Zukunftscharakter. Das Vergangene als Vergangenes (nach Anfang und Ende überschaubar Gemachtes) beunruhigt uns nicht mehr; es geht uns unmittelbar, d. h. so, daß es Partner eines Handelns und nicht

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3 Arbeit

nur Stoff der Verarbeitung wäre, so, daß es uns verändern könnte, nichts mehr an. Es beunruhigt uns nicht mehr, und: es erfreut uns auch nicht mehr. Was innerhalb einer uns ferngerückten Welt (einer griechi­ schen Polis, einer italienischen Republik) Zeichen und Ausdruck höchster menschlicher Bewegung war, die Kunst, das ist eben inso­ fern für uns ein Vergangenes, als wir – wie Hegel von einem Inhalt alter Kunst, den mittelalterlichen Mariendarstellungen sagt – »unsere Knie nicht mehr beugen«, und das heißt: statt dessen einen Gegenstand wissenschaftlicher, d. h. historischer Erforschung daraus gemacht haben. Die »Bildung« verwandelt das einstmals Gegenwärtige in ein ausdrücklich Vergangenes. Sie ist die »Arbeit«, die das Überlie­ ferte dergestalt »erwirbt«, daß sie »seine unorganische Natur« (den überlieferten »Stoff«) »in sich zehrt« und so »für sich in Besitz nimmt« (27). Die Geschichte in ihrem Doppelaspekt von Vollzug und Erkennt­ nis geschieht, nach Hegel, indem sie »verzehrt wird«, indem sie vertilgt wird.

3 Arbeit Dieser Grundzug der Tilgung von Zeit macht Hegels Begriff der Arbeit aus. Arbeit ist für Hegel durch die beiden Korrelate definiert, auf die sie sich bezieht: Natur und Besitz. Für Hegel ist Arbeit die Verwandlung des Unmittelbaren in Vermitteltes, der Natur in Besitz. Das Wesen der Arbeit beruht für Hegel im Aneignen. Der Leitbegriff in der Dreiheit Natur – Arbeit – Besitz ist der Besitz. Aus diesem Grund wird die Natur – das Unmittelbare, Sinnenhafte, Elementare – von vornherein als Feind und Nahrung des Geistes angesetzt und die »Arbeit« als das Mittel zum Zweck, als die Überwindung dessen, was dem Geist, dem absoluten Selbstbesitz, fremd ist. Die Frage, die sich hier stellt, ist die, wieweit diese Tilgung der Geschichte (die Tilgung des Geschichts-Charakters der Geschichte) wesenhaft zusammenhängt mit dem Denkverfahren der Dialektik, der Methode des universalen Aufhebens. Der Grund dieses Zusammen­ hangs wäre zu suchen in Hegels prinzipiell negativem, am Maßstab absoluter Präsenz orientiertem Begriff der Zeit, mit dem Hegel an der metaphysisch-platonischen Tradition unbedingt festhält.

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Die Beseitigung der Geschichte durch ›Bildung‹ und ›Erinnerung‹ (zu Hegel)

Im Falle von Marx verweist diese Frage auf das Problem seiner Zwischenstellung zwischen einer Bindung an die metaphysische Tradition in der historischen Dialektik und einer Erfüllung seiner kritischen Intention in der Abkehr von dem ›Transzendenz‹-Anspruch der Metaphysik. Ich möchte zur Konturierung des Gesagten auf vier andere Autoren verweisen, die neben und nach Hegel in einer Gegenposition zu ihm stehen. Zuerst Schelling. Er hat erstens gesehen, daß Handeln, Freiheit, Geschichte mit dem cartesianisch-dialektischen Prinzip eines not­ wendigen Entwicklungszusammenhanges unvereinbar sind, positiv gesagt: daß Wahrheit primär eine Sache des Handelns und erst sekundär eine Sache des Wissens ist. Und er hat zweitens den Grund dieses Sachverhalts erkannt: die unaufhebbare und sinnvolle Differenz zwischen dem Menschen und der absoluten Vernunft, die Differenz, die den Grund, genauer: den Abgrund, der Freiheit ausmacht. Der zweite ist Richard Wagner. Er hat erstens das Unheil der Identifizierung von Wirklichkeit und Begriff erkannt und dem seine (in ihrer Einseitigkeit freilich auch fragwürdige) Apotheose des Ele­ mentaren entgegengestellt (etwa im ›Tristan‹); und er hat zweitens (besonders im ›Ring‹) den Grund der Negation von Freiheit und Natur in der modernen Religion des Besitzes, in dem wesenhaft imperialis­ tischen Wirklichkeitsmaßstab des Industriezeitalters erkannt. Der dritte Autor: Jacob Burckhardt. Er hat erstens im Gegenzug gegen das Entwicklungsdenken und Methodenpathos der histori­ schen Wissenschaften das Studium der Geschichte als Konfronta­ tion mit dem Bestehenden, als Zeit-Kritik, praktiziert; und zwei­ tens jenes Entwicklungsdenken und Methodenpathos in seinem Zusammenhang mit dem modernen »Erwerbs-« und »SekuritätsStreben« erkannt. Und schließlich ein Autor unserer Zeit: Georges Bataille. Er macht dem dialektisch-logischen Totalitätsanspruch der Hegelschen Philosophie im besonderen, dem universalen Begründungsanspruch der europäischen Metaphysik im allgemeinen den Vorwurf eines Monopolismus: Alle die Bereiche der Wirklichkeit, die sich von Haus aus der totalen Vermittlung entziehen wie etwa die Welt des Eros oder die des Festes und des Tanzes, werden entweder diskreditiert oder historisiert, in beiden Fällen aus ihrem wahren Ort verdrängt.

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Fachbetrieb und Sachbezug2

Einleitung Meine Damen und Herren, gegenwärtig wird am Philosophischen Seminar eine Planstelle für ›Praktische Philosophie‹ neu besetzt. Alle Bewerber, die zu Pro­ bevorträgen eingeladen worden waren, haben sich zum Verhältnis von Ethik und Gentechnologie geäußert. ›Die Wissenschaft‹ wird zum Problem, wo ihre Auswirkungen problematisch sind; die Theorie wird zum Problem, wo ihre Folgen in der Praxis problematisch werden. Dann fällt der Blick auf eine Zusatzwissenschaft, die Philosophie, weil bei ihr auch noch die Praxis selber, der Bereich des menschlichen Handelns, theoretisch untersucht, zu einem Thema wissenschaftli­ chen Diskurses wird: die philosophische Abteilung Ethik. Sie kann vielleicht einen Beitrag leisten, einen wissenschaftlich relevanten Beitrag zu der Frage, ob es Fälle gibt, wo der wissenschaftlichen Forschung Grenzen gesetzt werden müssen. Den Anfang einer Grenz-Erfahrung in den Wissenschaften mar­ kiert der Atombombenabwurf am Ende des letzten Weltkrieges. Im Rückblick, von heute aus, war das nur die Spitze des Eisbergs, der sich seither als die Doppelnatur, die Ambivalenz des ›technischen Fortschritts‹ herausgestellt hat. Die Frage, die sich mit dieser GrenzErfahrung in der Forschungs-Wirkung stellt, scheint die zu sein, ob daraus eine Grenzen-Setzung in der Ausübung der Forschung resultieren muß. Und das ist natürlich kein internes Forschungsthema mehr. Auch dann, wenn an den Forscher appelliert wird (oder dieser an sich selbst – wie erstmals Robert Oppenheimer), ist das kein Appell an die Forschung, sondern an die soziale, an die humane Verantwortung des Forschers. Es ist kein wissenschaftlicher, sondern ein ethischer Apell. Die Entscheidungsgründe sind weder disziplinär, noch inter­ disziplinär zu ermitteln; es sind (in dem pseudowissenschaftlichen Jargon einiger Philosophen zu reden) ›transdisziplinäre‹ Gründe, – 2

Vorträge am Leibniz-Kolleg Tübingen, 22.-28. Juni 1988.

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Fachbetrieb und Sachbezug

bei denen der philosophischen Disziplin der Ethik in unseren Jahren eine unerwartete neue Rolle zuzufallen scheint. Dabei gibt es drei Möglichkeiten des Bezugs zwischen Ethik und Naturwissenschaften: Die eine besteht in der Zuwendung von Philosophen (oder Theologen) zur Natur und ihrer wissenschaftlichen Erforschung: Hans Jonas, ›das Prinzip Verantwortung‹. (Der Philo­ soph Hans Jonas hatte in den 30er Jahren ein – unter Theologen seither klassisch gewordenes – Buch über die Gnosis geschrieben, also die spätantike Lehre von dem moralisch-göttlichen Auftrag an den Menschen, die ›Natur‹ in sich und außer sich als den Feind zu erkennen, der um des Heiles willen zu bekämpfen ist.) – Eine zweite Möglichkeit besteht in der Selbstreflexion und Selbstkritik von Naturwissenschaftlern selbst: am fragwürdigsten bei Fritjof Capra (›Wendezeit‹), am ergiebigsten bei Erwin Chargaff. Chargaffs For­ schungen zur Gen-Struktur waren maßgeblich an der Entdeckung der ›Doppelhelix‹ (also dem Informationssystem, das die Fortpflanzung steuert – der Grundlage der Gen-Technik) beteiligt. Aus dem Umkreis der ›Väter‹ der Atomtheorie (ein Lehrer fast aller späteren Begründer der Uran- und Wasserstoffbombentechnik des Westens): Max Born, dessen Vorträge von 1955 bis 1963 1965 gesammelt wurden unter dem Titel ›Von der Verantwortung des Naturwissenschaftlers‹. – Und die dritte Möglichkeit: daß ein und dieselbe Person zum Aus­ tragungsort der Differenzen zwischen wissenschaftlicher Forschung und ethischer Orientierung wird. Hier ist das bedeutendste und aktuellste Beispiel Carl Friedrich von Weizsäcker. Die Forschungen zur theoretischen Physik und Astronomie, mit denen er als Assistent und Freund Werner Heisenbergs (vor und nach den ersten Atom­ spaltungen) begonnen hatte, werden von ihm unvermindert fortge­ setzt, aber mit gleichermaßen intensiver philosophiegeschichtlicher Aufklärung (lange Jahre Lehrstuhl für Philosophie, speziell der PlatoForschung gewidmet) in Hamburg und engagierter moralisch-politi­ scher Gegenwartsanalyse (z. B. als Leiter des Max-Planck-Instituts zur ›Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-tech­ nischen Welt‹) verkoppelt. Ein Problem ganz anderer Art als das ethische der Grenzsetzung ist das der Grenzdeutung. Auch das ist nicht im Forschungsfeld zu lösen. Nur ist es kein ›transdisziplinäres‹, sondern ein ›praedisziplinä­ res‹ Problem. Es zielt nicht auf die Zukunft, sondern auf die Herkunft einer Wissenschaft, die sich in ihrer Zukunft (in ihren Folgen) jetzt als bedrohlich herausstellt.

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Einleitung

Eine ebenso beliebt wie falsche Antwort auf diese Frage, ist die Ansicht, Kernphysik und Gentechnik seien die Resultate eines Wis­ senschaftsprinzips, das von vornherein auf technische Nutzung, auf Instrumentalisierung aus war. Francis Bacons Ausspruch: »Wissen ist Macht«. Galilei hat aber so wenig wie Kepler, Heisenberg und Niels Bohr haben so wenig wie Watson und Crick eine technische oder womöglich gar pragmatisch-politisch-nützliche Wirkung im Sinn gehabt (weder eine lebensfreundliche, die dann wider ihren Willen lebensfeindliche ›Nebenwirkungen‹ zeigt, noch etwa gar absichtlich gefährliche – etwa zu einem Kriegsgewinn oder einer ›Abschreckung‹ – für höhere Werte). Der höchste Wert war hier kein anderer als die reine Erkenntnis, – eine Antwort auf die Frage, wie die Welt im Innersten beschaffen ist. Einen Schritt weiter als die Berufung auf Bacon geht die auf den anderen philosophischen Nachbarn Galileis (des Inaugurators der modernen Wissenschaften), die auf Descartes. Was sich jetzt als lebensbedrohende Gefahr moderner Forschung herausstellt, ist nach dieser Ansicht nur die lebensfeindliche Kristallisation eines in der ›Theorie‹ (in dem Ansatz reiner Forschung) selber schon ste­ ckenden ontologischen Übelstandes: ›Cartesianismus‹ – damit meint man heutzutage (z. B. in der ›New Age‹-Bewegung) die verwerfliche Spaltung von Subjekt und Objekt, von Mensch und Natur, von res cogitans und res extensa, von Rationalem und Emotionalem, die die ›Natur‹ von vornherein schon ›unmenschlich‹ gemacht habe und ›den Menschen‹ unnatürlich. Diese Ansicht, diese Spaltungs-Ansicht ist nur halb so falsch wie die erste (die instrumentale). Sie ist halb wahr – aber wie alle Halbwahrheiten doppelt gefährlich, eine Lösung des Problems der Zweideutigkeit moderner Forschung mit denselben Werkzeugen verklemmend, mit denen sie zu Werke geht. Die halbe Wahrheit: das ist die Beachtung von Descartes, also der Versuch, den Ansatz von Naturerkenntnis, in dessen Rahmen sich die Forschung seit Galilei abspielt, in seiner Problematik zu erkennen durch den Blick auf die Erkenntnis-Prinzipien des Zeitalters, die zu dieser Zeit beginnen, in denen des ›Neue‹ der ›Neuzeit‹ beruht. Der – verhängnisvolle – Fehler bei diesem (verheißungsvollen) Versuch: das ist das Mißverständnis dieses neuen Erkenntnis-Prinzips als einer Spaltung von Natur und Geist. Die cartesianische Unterscheidung von Subjekt und Objekt ist keine Spaltung, sondern eine Zuordnung: Was wir erkennen wollen, die Natur, wird dann erkennbar, wenn wir darauf verzichten, etwas Unerkennbares in ihr zu suchen, sei es, daß

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Fachbetrieb und Sachbezug

wir uns an das Täuschende halten, was wir hören und sehen (an die Anschauungen), sei es, daß wir uns an das Widersprüchliche halten, was uns die Überlieferungen erzählen (die Traditionen). Sich von diesen beiden Möglichkeiten des Irrtums frei zu halten, heißt: sich auf das zu konzentrieren (dasjenige als ›fundamentum inconcussum‹ zu erkennen), was von Haus aus Sicherheit verbürgt. Das aber ist: die ›Subjektivität‹, das – im Wortsinn jenes Wortes – aller Objektivität zu Grunde liegende der Denkgesetze. Die Gesetze der Ortsbewegung, die Gesetze der Energieumwand­ lung, die Gesetze der Informatik sind nicht Zeugnisse einer SubjektObjekt-Spaltung, sondern Zeugnisse der Subjekt-Objekt-Einheit. Die Monadologie von Leibniz, in der diese strukturelle Einheit von Subjekt und Objekt erstmals analysiert und fundiert worden ist, ist keine ›Überwindung‹, sondern die Erfüllung der Intentionen des Descartes (genauso wie Newton, der Zeitgenosse von Leibniz – und Mitentdec­ ker der Infinitesimalrechnung – keine Widerlegung, sondern eine Bestätigung des Ansatzes von Galilei ist). Wenn die Erinnerung an Descartes (und dessen Zusammenhang mit Galilei) für die heutige Notlage, die Erfahrung der Zweideutigkeit, des Zwiespaltes in den seither erzielten Wissenschaftserfolgen eine Bedeutung haben kann, dann kann das nur das Gegenteil von ›New Age‹ sein: nicht das Pathos einer neuen ›Ganzheit‹ von ›Ich‹ und ›Welt‹, von ›Natur‹ und ›Geist‹, sondern das Ethos einer sorgfälti­ gen Unterscheidung. Es kann nicht darum gehen, Subjekt und Objekt zu vermischen; es gilt vielmehr zu sehen, daß Subjekt und Objekt schon selber nicht das sind, was sie zu sein vermeinen: der Inbegriff menschlichen Denkens und Handelns im einen Fall, der Inbegriff der äußeren und inneren Natur im anderen Fall. Die Aufgabe, vor der wir heute stehen, ist die Einsicht, daß das Selbstverständnis des Menschen als Subjekt, d. h. als Produzent, selber schon eine empirisch-neuzeitliche (eine ›cartesianische‹) Entscheidung ist, die ein anderes Selbstverständnis: ein geschichtliches Verständnis des Menschen nämlich, ausschließt; und ebenso das Verständnis der Natur als Objekt, d. h. als Stoff von Energie, eine europäisch-neuzeitliche (in diesem Fall: ›galileische‹) Entscheidung ist, die ein anderes Verständnis der Natur ausschließt; man könnte dies das irdische Naturverständnis nennen. Im einen Fall (dem Subjekt-Verständnis des Menschen) gelangen die Gesetze der Zeit nicht in den Blick, im anderen (dem Objekt-Verständnis der Natur) diejenigen dieser Erde.

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Einleitung

Diese Differenzierung – der Subjektivität als eines epochalen Sonderfalls von dem, was Handeln überhaupt sein kann, der Objek­ tivität als eines epochalen Sonderfalls von Natur – kann nicht (wie die Utopie der ›Ganzheits‹-Postulate) auf eine einfache Antithetik hinauslaufen: das eine falsch, das andere wahr, oder gar: das eine ges­ tern, das andre heute oder morgen ›akzeptiert‹, so, als könnte man mit einem ›neuen Denken‹ das ›alte‹ verbessern wie eine neue Religion oder eine neue Politik die alte verläßt: die Reformation die Scholastik, die Republik den Absolutismus. (Man hat mit solchen Vorstellungen lediglich das Denken überhaupt verlassen.) Die Einsicht Keplers in das energisch-mathematische Gefüge der Planetenbewegung, der Quantentheorie in das funktional-mathematische Gefüge der Materie, die Einsicht Darwins in den evolutionären Zusammenhang der ArtenVielfalt des ›Lebens‹, der Biochemie in die Informationsstruktur der Fortpflanzung (der Entstehung der Lebewesen), sind Einsichten, Erkenntnisse, die sich nicht historisieren lassen. Die Einleitungskapitel in den Handbüchern und Lexikonartikeln zu den einzelnen Naturwissenschaften (von der Astronomie bis zur Mikrobiologie) oder der Medizin vermengen ständig das in der Tat ›zur Geschichte‹, d.h. zur Vergangenheit Gewordene (vom Späteren überholte) wie das ptolemäische ›Weltbild‹ der Griechen, das von Kopernikus widerlegt worden ist, oder die Optik Newtons, die von Maxwell verbessert worden ist, mit den – zu verschiedener Zeit erlangten – wirklichen Erkenntnissen; denjenigen ›Theorien‹ also, die – genauso wie die ›Welt‹-Entdeckungen seit Kolumbus – Sachver­ halte aufgeschlüsselt haben: das Gravitationsgesetz Newtons genauso wie die DNS-Struktur (die ›Doppel-Helix‹) Watsons und Cricks: Welterkenntnis und nicht nur Weltbild, von einem ›neuen Denken‹, einem neuen Glauben zu entmachtende Hypothese. Die Grenzen, auf die wir heute angesichts der Doppeldeutig­ keit, der Doppelbödigkeit der neuzeitlichen Wissenschaft verwiesen werden: dem Gewinn an Wissensaufschluß entspricht die Gefahr der Wirklichkeitszerstörung, – die Doppelbödigkeit als eine Diskre­ panz zwischen ›Theorie‹ und ›Praxis‹, zwischen der Dynamik des Erkennens und der Trägheit der Ethik zu deuten, bleibt dem europä­ isch-neuzeitlichen Subjekt-Objekt-Korrelat verhaftet, in dem diese Not gründet. Nicht ein Zusatz – ein Fortschritt in der Ethik, die dem glei­ chen Muster einer Ressourcen-Erschließung, einer Umwandlung und Steuerung von Energie folgt, wie sie den Erkenntniserfolgen der

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Fachbetrieb und Sachbezug

modernen Wissenschaft zugrundeliegt – ist jetzt geboten, sondern ein Innehalten vor dem Sachverhalt der Doppeldeutigkeit selbst: eine Erörterung des eigenen Ethos (des eigenen Handlungshorizontes) dieser neuzeitlich-modernen Wissenschaft selbst. Dazu kann ein Blick auf denjenigen Umkreis von Einzelwissenschaften hilfreich sein, an den man nicht denkt, wenn man nur ›die Wissenschaft‹ sagt, und der auch erst in der späteren Phase der neuzeitlichen Wissenschaftsgeschichte entstanden ist, wo die Naturwissenschaf­ ten bereits ihre ersten externen Erfolge, ihre ersten ›Verifikationen‹ in Gestalt technisch-industrieeller Verwertungen der Natur hatten, also dem späteren 18. und dem Beginn des 19. Jahrhunderts: die sog. ›Geisteswissenschaften‹, nach außerdeutschem Sprachgebrauch ›Kultur‹- oder ›Humanwissenschaften‹. Die Frage nach den internen Grenzen moderner Wissenschaft läßt sich dann als die nach dem Ver­ hältnis zwischen Kulturwissenschaften und ihrer Sache: der ›Kultur‹, fassen [1]. (Tafeltext:) Beginn der Neuzeit (17.Jahrhundert) Galilei 1564–1642 Kepler 1871–1630

Descartes 1596–1650 Thomas Hobbes 1588–1679 (Francis Bacon 1561–1626)

Newton 1643–1727

Leibniz 1646–1716

Auf diesem Weg läßt sich – wie ich nun heute versuchen möchte – die Nachbarschaft [Tafeltext] mit dem epochal-paradigmatischen Wissenschaftskreis gewinnen, nämlich unter der Frage nach dem Verhältnis zwischen Natur und Naturwissenschaft [2], – sodann der aktuelle Verständnisanspruch bedenken [3], der von den seit dem Beginn der Neuzeit nachgeordneten Wissenschaften wie der Jurisprudenz, der Theologie und Medizin angesichts der jetzigen Grenzsituation ausgehen kann: hier unter Fragen wie Medizin und Patient oder Theologie und Kirche, und zuletzt schließlich [4] die Problematik der Zweiteilung ›Natur und Geist‹ selbst – hier unter der Gegenüberstellung: ›Natur plus Geist‹ und Welt. Der Titel dieser Überlegungen nennt das Gemeinsame dieser vier Fragenkreise: die dabei jeweils bemerkbar werdende innerwissen­ schaftliche Diskrepanz von Fachbetrieb und Sachbezug.

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1 Kulturwissenschaften und Kultur

1 Kulturwissenschaften und Kultur Die Diskrepanz zwischen Fachbetrieb und Sachbezug, an der die Dop­ pelseitigkeit der neuzeitlich-modernen Wissenschaften bemerkbar wird, zeigt sich in den Kulturwissenschaften an einer Reihe ganz verschiedenartiger Beispielfelder.

a Die Diskrepanz zwischen fachlichem Fundament und sachlicher Dimension Ein erstes ist die Diskrepanz zwischen fachlicher und sachlicher Spezifikation, der Unterschied nämlich zwischen dem Fundament eines Faches und der Dimension einer Sache. (Ich führe in allen Fällen immer nur wenige Einzelbeispiele an, in der Hoffnung, Sie möchten je nach eignen Kenntnissen die jeweilige Übertragbarkeit dann leicht selbst herstellen können.) Wenn jemand wissenschaftlich verbindlich Sinologie oder Indo­ logie treiben will, dann ist klar, er muß die Sprache gründlich beherr­ schen – auch in ihren geschichtlichen und regionalen Varianten (im Falle Indiens: die wichtigsten der verschiedenen Sprachen vom Sanskrit bis zu den älteren und jüngeren, nördlichen und südlichen Hindi-Sprachen). Fürs Ganze der jeweiligen Kultur entspricht die­ sem sprachlichen Fundament der literarische Begriff der Quelle: das Fachstudium verlangt im Falle der Sinologie Grundkenntnisse der literarischen Überlieferung und wirkungsgeschichtlichen Tradition des Konfuzianismus, des Taoismus und Buddhismus, im Falle Indiens der verschiedenen Formen der vedischen Dichtung und Philosophie, der epischen und religiösen Literatur der Hindukultur. Was vom Fachstudium dagegen nicht verlangt wird – und zwar so, als sei das selbstverständlich, als sei das gar kein substantielles Defizit –, das ist im Falle der chinesischen Kultur ein eigenes Spezialstu­ dium in dem Spezialgebiet der Künste, in der Malerei z. B., um das chinesische-ostasiatisch Eigentümliche der großen chinesischen Landschaftsmalerei der Sung-Zeit (im 12. und 13.Jahrhundert) oder der Plastik der Tang-Zeit (im 9. Jahrhundert) genauso sachgemäß interpretieren zu können wie eine literarische Quelle (einen ›Text‹); und innerhalb der literarischen Überlieferung gilt Entsprechendes für die ganz spezielle Frage, was denn philosophische Ethik (im Blick auf Konfuzius), Metaphysik und Ontologie (im Blick auf Laotse oder

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Fachbetrieb und Sachbezug

die Upanischaden) überhaupt sein kann; und schließlich (speziell im Gedanken an die Hindu-Religion Indiens und deren Unterschied zur älteren Sanskrit-Zeit), was denn überhaupt mit dem römischen Namen und der auch erst römischen Gebietsbezeichnung ›Religion‹ speziell genannt sein kann. Es handelt sich in jedem dieser drei Fälle (bildende Künste, Philosophie und Religion) nicht um irgendwelche ›generellen‹ Kate­ gorien oder gar ein zusätzliches (und beliebiges) ›Studium generale‹; und auch nicht um ein im Einzelfall erforderliches ›interdisziplinäres Studium‹. Es handelt sich nur darum, einzusehen, daß mit der kultur­ wissenschaftlichen Facheinteilung ›Sinologie‹, ›Indologie‹ lediglich ein Aspekt aus dem damit jeweils angesprochenen Sach-bereich her­ ausgeschnitten und für die Sache selbst gehalten wird: der Aspekt des Sprachgebietes, genauer noch gesagt: der in den sprachlichen Quellen fundierten Geschichtseinheit. Daß – je nach dem immer wechselnden exemplarischen Gewicht – auch das, was wir Europäer ›Staatsbildung‹, ›Künste‹, ›Philosophie‹ und ›Religionen‹ nennen, Fundamente eines ›Kultur‹-Bereichs sein können, wird zwar nicht bestritten und im Beachten auch nicht unterschätzt, wohl aber in der Weise des Erkennens: Wer Sprachfehler machen würde (literarische Quellen sprachlich mißversteht) ist – mit Recht – disqualifiziert. Wer bei Zeugnissen der Künste, der Religion und Philosophie im Vordergründigen stehen bleibt oder neuzeitlich-europäische Katego­ rien kritiklos (indem er sie für überzeitlich oder überregional ansieht) auf das Fremde überträgt kann sich das leisten: das gehört ja nicht zum Fach. Daß der Außenstehende eine solche Diskrepanz bemerken und beklagen kann, das freilich ist nur möglich, weil es unter den FachKennern Ausnahmen gibt, die – je nach Forschungsfeld – die von der Sache her erforderlichen anderen Spezialstudien auch absolviert haben: Spezialkenntnisse in dem, was ›Malerei‹ sein kann, was ›Plas­ tik‹ sein kann, was unter ›Naturvölkern‹ und anderen Hoch-Kulturen ›Religion‹ war, was in Europa ›Philosophie‹ war. In all diesen Fällen nicht, um einer sachfeindlichen Vermischung willen, sondern um zu derjenigen Weite der Kategorien, der Gesichtspunkte zu kommen, die – ähnlich wie beim Studium einer fremden Sprache – aus dem unfreiwilligen ›Chauvinismus‹ und ›Kolonialismus‹ der Begriffsüber­ tragung befreit und die – sozusagen – handwerkliche Fähigkeit, die je spezifischen plastischen oder architektonischen, religiösen oder philosophischen Sachstrukturen einer Sache gewahr werden läßt.

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Nur zwei Beispiele dafür im Falle Ostasiens. Richard Wilhelm, mit dem die Erforschung der älteren chinesischen Religionszeugnisse (insbesondere des I Ging und des sog. ›Taoismus‹) begonnen hat, war als evangelischer Missionar nach China gekommen und ist dann als Forscher, Interpret und Übersetzer zu einem ›Missionar‹ in umge­ kehrter Richtung geworden – und dies in einer fachlich-methodischen Sorgfalt, die seine Arbeit auch heute noch in der Fachdiskussion prä­ sent sein läßt. Dietrich Seckel (jetzt Emeritus in Heidelberg) hat Inter­ pretationen ostasiatischer Kunst vorgelegt, die auch den in Dingen der Kunst von anderen Regionen her Erfahrenen befriedigen, weil sie die gründlichste Kenntnis altchinesischer und altjapanischer Denkweise mit einer an dem Sachgebiet der Kunst gewonnenen Verständnis einer altchinesischen Tuschzeichnung, einer japanischen Pagode verbinden (also auch – ohne daß dies ausgesprochen werden müßte – Ähnlich­ keiten und Unterschiede zu einem Raffael- oder einem Cézanne-Bild, zu einem griechischen Tempel oder einer gotischen Kathedrale für den Leser erkennbar werden lassen).

b Die Unzulänglichkeit des Gebietskonzeptes Diese Diskrepanz, diese unbemerkte Diskrepanz zwischen fachlichem Fundament und sachlicher Dimension, die vorab schon einen Teil des Arbeitsumfeldes zum bloßen Hobby-Zusatz disqualifiziert, kann man die Unzulänglichkeit des Begriffs der ›Quelle‹ in den Geisteswis­ senschaften nennen. Ein zweiter Fall der Diskrepanz ist die Unzuläng­ lichkeit des ›Gebiets‹-Begriffs im Fachbetrieb. Hier bieten sich als Beispiele die neueren Literaturwissenschaften an: Deckt sich das For­ schungsgebiet ›Germanistik‹ mit dem Arbeits- und Bedeutungsgebiet Goethes, mit dem Themen- und Formenbereich des Mittelhochdeut­ schen Epos, mit dem Dichtungsanspruch Rilkes? (Damit, auch hier wieder nur, drei Beispiele) Bei Goethe: eine Prägung der eigenen Dichtung durch eine Auseinandersetzung mit griechischer und römischer Dichtung, die selber einen (wie schon der Briefwechsel mit Schiller zeigen kann) in vorbildlicher Weise wissenschaftlichen Charakter hat. Die Goethe­ studien des Gräzisten Schadewaldt – bis zu seinem ›Goethe-Wörter­ buch‹ in Tübingen, Hamburg und Ostberlin – sind hier ein Zeugnis angemessener, sachgemäßer wissenschaftlicher Erforschung und Ver­ mittlung. Das andere Lebens-Arbeits-Feld Goethes, nicht nur neben,

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Fachbetrieb und Sachbezug

sondern auch mit seinem dichterischen Werk: seine wissenschaftli­ chen Studien der Morphologie, der Optik und der Wolkenbildungen: drei eigene große Disziplinen also der Naturwissenschaften. Hier wird – im Falle der ›Farbenlehre‹ – in Aufsätzen von Heisenberg und Carl Friedrich von Weizsäcker die Aktualität bezeugt. Der Fachbereich der Germanistik bedeutet hier nicht nur eine Verengung, sondern eine Verfälschung der Sache (und wird von einigen ›Germanisten‹ in der Praxis ihrer Arbeit überwunden). Im Falle der mittelhochdeutschen Klassik des Epos und der Lyrik verlangt der Sachbezug in erster Linie nicht eine gleichmäßig gründ­ liche Beschlagenheit im Ganzen der deutschen Sprach- und Literatur­ geschichte, sondern der europäischen Literatur und Kultur des hohen Mittelalters. Dichtung war hier – im Blick auf die ›Produzenten‹ wie die ›Rezipienten‹, die Dichter selber wie die höfischen und kirchlichen ›Auftraggeber‹ – keine nationale, sondern eine europäische Sache. Und (mein drittes Beispiel) Rilke ist nicht zu ›verstehen‹, nicht zu ›erfassen‹, nicht zu ›interpretieren‹ ohne die ihm vorausgegangene und benachbarte französische Lyrik, in der er sich zu Hause fühlte, aber auch nicht ohne eine – kunstgeschichtlich geschulte – Kenntnis alter und neuer Bildkunst, vor allem Rodins und Cézannes, um den Rang, den sozusagen weltgeschichtlich exemplarischen Rang seiner späteren Dichtung (seit den ›Neuen Gedichten‹ und dem ›Malte‹) erkennen und vermitteln zu können. (In Tübingen ist ein vorbildliches Beispiel für beides: Paul Hoff­ mann – sowohl was seine Kenntnis der französischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts und der europäischen Lyrik als auch der Bildkunst Frankreichs im 19. und 20. Jahrhundert betrifft.) Und schließlich gehört zu Rilkes geschichtlich-aktuellem Rang (auch der eigenen poetischen Struktur seiner späteren Dichtung, dem ›Malte‹, den ›Duineser Elegien‹ und den ›Sonetten an Orpheus‹) die Fortsetzung und Antwort auf die Wende, die das Denken Nietzsches für das europäische Selbst- und Weltverständnis darstellt. (Hier hat den Rahmen eines angemessenen Sachbezuges Heidegger, in einem Aufsatz von 1946, gezeigt.)

c Die Diktatur der Historizität Nach der zuerst genannten Diskrepanz im Verhältnis zwischen Facheinschnitt und Sachumkreis: dem Verständnis von Basis (oder

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›Quelle‹), und dem zweiten: dem Gebietsverständnis, ist das dritte: die Diktatur der Methode. Wenn Sie darauf achten, was in den Altertums-, in den Sprach-, Kunst-, Literatur- und Musikwissenschaften – in Apologien z. B. gegenüber der Konkurrenz durch ›Reingeschmeckte‹ wie Theologen und Philosophen – die eigne Disziplin zu einer ernstzunehmenden, zu einer wissenschaftlichen macht, dann ist das das historische Verfah­ ren. Wissenschaftlich lehren, wissenschaftlich forschen heißt hier in jedem Fall – vom Einzelwerk bis zur Epoche, in der Frage nach Vor­ läufern und Einflüssen wie in der der Nachwirkung, der Klärung der sozialen Bedingungen wie der arbeitstechnischen Traditionen, dem Wandel der ›Produktions‹-weisen wie dem der ›Rezeptions‹-arten historisch zu verfahren. Und das heißt: den Unterschied zum Vorher wie zum Nachher – sei es in kontinuierlicher Evolution, sei es in Einschnitten (›Revolutionen‹) – herauszuarbeiten. Ob Stilgeschichte oder Ikonologie, Sozialgeschichte oder ›Mentalitäts‹-Geschichte, Individualgeschichte oder Regionalgeschichte: die Namen der Diszi­ plinen Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft sind synonym mit den Namen Kunst-, Musik- und Literaturgeschichte. Zur Diktatur wird dieses Verfahren, indem das Erkenntnis-Mit­ tel zum Erkenntnis-Zweck wird. Nivelliert und damit negiert wird alles, was – in diesen Fahrstuhlschacht nicht hineinpaßt. In den Kunst-Wis­ senschaften (vor allem der ›Kunstgeschichte‹ im engeren Sinn, aber auch z. B. der Klassischen Archäologie) seit etwa ein bis zwei Genera­ tionen die schon fast pathologische Aversion gegen ›Rang‹-Fragen. Da wird dann der Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit unwidersteh­ lich, wenn er mit dem sozialen Pathos der Gleichberechtigung aller Zeugnisse nach dem Maßstab der historischen Zeugenschaft auftritt (sei die nun intern: form- oder gehaltsgeschichtlich, oder extern: politik- und religionsgeschichtlich). Die Sonderstellung eines Œuvres (das Unvergleichliche z. B. der Kunst des Velazquez im Unterschied zu allem relativ Bedeutenden der gleichzeitigen spanischen Malerei oder das nicht ›Manieristische‹ Veroneses, das nicht ›Klassizistische‹ Poussins) tritt nicht in den Blick. Auch dem Laien bemerkbar wird diese Diktatur einer Erkenntnisschiene an der Abstinenz gegenüber korrelativen Perspektiven beispielsweise in der jüngeren Nietzscheund der jüngeren Hölderlin-Forschung. Hier gilt als Erkenntnisleis­ tung, was in Wahrheit ein Erkenntnisverzicht ist: die ›Nachweise‹ von Übereinstimmungen mit dem Dichten und Denken der ›eigenen Zeit‹, – und dies noch forciert: in der Verwechslung von Frühwerk

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mit Grundzug. Je früher im Werkprozeß ein Hölderlintext ist, umso gültiger ist er für die Forschung. Diese Diktatur der Historizität (deren stärkste Ausprägung die Aktualitätssucht ist) bezieht ihre Kraft aus dem Schreckbild ›philo­ sophischer‹ Kultur- und Kunstbetrachtung, mit dem man an das klassizistische (oder ›monumentalische‹) Überlieferungsbild einer ›Philosophia perennis‹ denkt, für die Plato oder Thomas überzeit­ lich präsent sind. Dieses Gegenbild jeder geschichtlichen Arbeit wird an derjenigen Stelle als ›Feindbild‹ aufgestellt, wo sich der Raum der Korrelate öffnen könnte, die Aufklärung nämlich über den Grundzug einer Epoche (einer Region, eines Œuvres). Dieser Einheit stiftende Charakter (der ›Geist‹, die ›Struktur‹, die ›Mentalität‹) eines geschichtlichen Sachverhalts ist nicht zu gewinnen, wenn man sich an das Nacheinander, den Stufenweg der Fachmethode bindet. Sachbezug verlangt hier die Einsicht in die synchrone Gliederung der Epoche, das innere Geflecht von Themen und Thesen, Werken und Taten, Festen und Leiden, das am ehesten der Gefüge-klärenden Analyse eines Bauwerks vergleichbar ist: das Zeigen und Sagen, das Vernehmbarmachen des geschichtlich bedingten und geschichtlich situierten Raum-Charakters der Epoche (oder des Œuvres). Musterbeispiele dafür sind die Werke Jacob Burckhardts – die ›Griechische Kulturgeschichte‹ ebenso wie die ›Kultur der Renais­ sance in Italien‹, die ›Baukunst der Renaissance in Italien‹ ebenso wie die ›Erinnerungen aus Rubens‹: »Querschnitte«, wie Burckhardt selber diese Sach-umkreisende Gliederungs- und Darstellungsweise nannte. Mit einer ungeschichtlich-›überzeitlichen‹ (einer ›ästhe­ tisch‹-klassizistischen) Ausdeutung von Vergangenem hat das nichts zu tun. Den »Längsschnitten« kommt hier nur der sach-gemäße Ort zu: sie dienen der Erkenntnisarbeit, sie beherrschen sie nicht: Innerhalb der Epochen selbst die partikularen Veränderungen: Pro­ torenaissance, Frührenaissance, Hochrenaissance; – am Ende der griechischen Epoche: die Wendungen innerhalb des Hellenismus; eigene Epocheneinschnitte innerhalb des Lebenswerks von Rubens; und außerhalb: der Wirkungsumkreis der Epochen wie des Lebens­ werkes: die nordalpine Gotik, der europäische Barock im Umkreis der italienischen Renaissance, der alte Orient, die römische Antike im Umkreis Griechenlands. Die Eigenart, die substantielle Einheit einer ›Kultur‹, einer Lebensarbeit in der ›Synchronie‹ ihrer Eigenschaften wird nur dann erkannt, wenn der ›diachrone‹ Bezug zum Früheren und Späteren im Blick steht. Ein Spezialist der italienischen Renais­

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sance, der griechischen Kultur, der Werk- und Lebenszeugnisse des Rubens kann die Eigenart seines ›Gebietes‹ gerade nicht erkennen; er kann das von seiner Sache Verlangte nicht erlangen. Das Feindbild der ›Überzeitlichkeit‹ verdeckt den Anspruch der Sache auf ein nicht minderes, sondern tieferes Studium der Geschichte: statt eines flächig-zentralperspektivischen ein ›rundes‹, poly-perspektivisches Studium, das den eigenen, den individuellen Spielraum ausmißt, der einer Sache der Geschichte zukommt, – wie groß oder klein auch immer, von einem Weltzeitalter bis zu einem Lyrikzyklus, er sein mag.

d Die Umkehrung der Wahrheit Nach diesen drei Gruppierungen: der Diskrepanz zwischen fachli­ chem Fundament und sachlicher Dimension (am Beispiel der bil­ denden Künste in Sinologie und Indologie), der Problematik des Gebietskonzeptes (am Beispiel der Germanistik), der Diktatur der Historizität (am Beispiel der Œuvre- und Epochen-Frage): zuletzt, mit einem vierten Beispielkreis: der klassischen Philologie und Theologie: die Frage der Wahrheit der Kulturwissenschaften. Der Ausblick auf die Theologie bietet hier eine hermeneutische Hilfe. Was die Theologie von den Religionswissenschaften unter­ scheidet, bezeichnet eine innere Diskrepanz der Kulturwissenschaften selbst. Im Falle der altmodischen Bezeichnung ›Klassische Philologie‹ läßt sie sich mit dem bedeutendsten klassischen Philologen seit Wil­ amowitz, dem Wilamowitzschüler Karl Reinhardt in die Formulie­ rung seines Vortragstitels von 1941 fassen: ›Die klassische Philologie und das Klassische‹. Der ›klassische‹ Anspruch der Sache am Beginn dieser Wissen­ schaften seit dem italienischen Humanismus, seit Winckelmann und den Brüdern Schlegel (die ›Klassische Archäologie‹ und die griechi­ sche Mythologie mit eingeschlossen) widerstreitet dem Forschungs­ erfolg dieser Fächer in deren eigenem Geschichtsgang. Das philolo­ gisch-archäologisch-mythologisch- wissenschaftliche Konzept dieser Wissenschaften stimmt überein mit demjenigen jeder anderen Wis­ senschaft des 19. und 20. Jahrhunderts: dem Prinzip der Objektivität, dessen Grundzug die methodologische Nivellierung des enzyklopä­ dischen Bestandes ist. Dabei handelt es sich bereits im Ansatz der Forschungsarbeit um eine Zurichtung der ›klassischen‹ Thematik

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Fachbetrieb und Sachbezug

zu einem homogenen Forschungs-Bestand. Das vom (anfänglichen) Erkenntnis-Motiv her Unvergleichliche ist im Erkenntnisverfahren vergleichbar geworden. An die Stelle der Klassizität ist die Historizi­ tät getreten. Der Seitenblick auf die Theologie, die Differenz zwischen der Theologie (der katholischen wie der evangelischen) und der Religi­ onswissenschaft (im Umkreis der Kultur- und Sozialwissenschaften) kann die symptomatische Bedeutung jener harmlos erscheinenden Veränderung bemerkbar machen. Scheinbar handelt es sich ja nur um den legitimen Schritt von der ›Aura‹ eines unwiederholbar und uner­ reichbar Normativen zur Prosa des reproduzierbar und präsentierbar Normalen, vom Glauben zum Wissen. In Wahrheit handelt es sich jedoch um eine Umkehrung der Wahrheit. Der eigne Daseinsgrund, das ›Sein‹ der Sache eines Homerischen Epos, eines griechischen Tempels, einer Aischlyleischen Tragödie war doch das Ereignis ihrer Art von Welteröffnung, ihrer Art von Wahrheitsstiftung, – im Falle der Homerischen Epen und der Theogonie des Hesiod von solcher wirklichkeitsprägenden Relevanz, daß der Historiker Herodot im Rückblick erklärte: Homer und Hesiod hätten den Griechen ihre Götter gestiftet, womit gemeint war: das Einheitsbildende der griechi­ schen Nation, der griechischen Weltepoche. Diese eigene Wahrheit, diese eigene Erkenntnis-Stiftung wird in dem historisch-kritischen Verfahren der Altertumswissenschaften ausgeblendet, indem, bevor das Forschen überhaupt beginnt, dieser einstige Weltöffnungsvor­ gang zu einem von uns, den Forschenden, zu untersuchenden (zu ›hinterfragenden‹) Erkenntnisgegenstand verkehrt wird. Die auf ihre Weise grandiose Kennzeichnung der Philologie – und damit der ›Geisteswissenschaften‹ überhaupt – durch den ersten großen Leh­ rer einer ›Enzyklopädie und Methodologie‹ seiner Wissenschaften August Boeckh (einem der Mitbegründer der Berliner Universität): Philologie sei »Erkenntnis von Erkanntem«, untermauert diesen Zug der Vergegenständlichung auch noch von etwas ursprünglich selbst Erkenntnis Stiftendem im Inbegriff der historischen Methodik, indem sie nur die (vom Boeckh-Schüler und Kollegen Gustav Droy­ sen dann systematisch untersuchten) Konsequenzen ausspricht, die dieser – modern gesprochen – ›Regelkreis‹ geisteswissenschaftlichkommunikativer Informatik, der historischen Methodik abverlangt. Erkenntnis des Erkannten heißt: Verständnis des Gemeinten. Daß das Gemeinte (im Falle der Künste: das ›Gesagte‹) selber ein Geglaubtes war, d. h. ein mit eigenem Wahrheitsanspruch ›Produziertes‹ und

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1 Kulturwissenschaften und Kultur

in diesem Anspruch Angenommenes (Gehörtes und Gesehenes), – zuweilen, wie bei Hölderlin und Nietzsche, erst posthum, zuweilen auch, wie bei Homer durch Hölderlin, bei Poussin durch Cézanne, bei Bach durch Mozart, in späterer Zeit erneuert, – dieses Angespro­ chenwerden, Angezogen- und selber Verwandelt-Werden durch den eignen Wahrheitsanspruch der gehörten Sache ist in dem Zugriff durch den Forschungsanspruch ausgelöscht. War Norbert von Hellingrath bei seiner Entdeckung der späten Hymnen, der Sophokles- und Pindar-Übersetzungen Hölderlins um 1910 während seines Studiums der klassischen Philologie und unter dem Eindruck der Dichtung Georges, war Heidegger bei seiner Ein­ beziehung Nietzsches in die Auseinandersetzung mit der Tradition, Cézanne bei seinen Studien Poussins während der revolutionären ›Wende‹ seiner Kunst, Mozart bei der Wende zu seiner letzten Schaffensphase im Anschluß an das Studium des ›Wohltemperierten Klaviers‹ subjektiv im Unterschied zur Objektivität der historischen Forschung? Sind Theologen, die das Kerygma (den eigenen Wahrheits­ anspruch) ihrer Texte auszulegen suchen, subjektiv im Unterschied zur Objektivität der Religionshistoriker und vieler Ethnologen? Zeugnisse einer Religion: der Dionysus-Kulte in Griechenland, der Shiva-Heiligtümer in Benares, des I Ging (in der Übersetzung und mit den Kommentaren Richard Wilhelms), des Zen-Buddhismus in den Gärten der Tempelanlagen Kyotos, – in ihrem eignen Wahr­ heitsanspruch ernst zu nehmen, verlangt nicht blinde Unterwerfung (›Glauben‹ statt Wissen), sondern nur die unscheinbare Unterschei­ dung, die Karl Reinhardt in der Rezension einer Aufsatzsammlung seines Freundes Walter F. Otto im Gedanken an diejenige Wende, die aus Ottos Buch ›Die Götter Griechenlands‹ (von 1929) für das Verständnis des griechischen Mythos und dem ›Dionysos‹-Buch (von 1933) für das Verständnis des Zusammenhangs zwischen Mythos und Kultus resultiert, in die Bemerkung faßt: »An die Stelle der Frage nach der Entwicklung trat die Frage nach dem Wesen«,

und (hier nun im Gedanken auch an seine eigne Arbeit, etwa das ›Sophokles‹-Buch – das zur gleichen Zeit und am gleichen Ort wie Ottos ›Dionysos‹-Buch entstand – oder das über ›Aischylos als Regisseur und Theologe‹ von 1949): »Was wir die Wahrheit einer Dichtung nennen, ist ein anderes als die Wahrheit über ihre Entstehung.«

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Fachbetrieb und Sachbezug

e Die Unersetzlichkeit der Wissenschaft in der modernen Welt Die Namen Karl Reinhardt (der einen neuen Zugang zu den Home­ rischen Epen ebenso wie zur Attischen Tragödie begründet) und Walter F. Otto (der noch vor seinen Werken zum griechischen Mythos internationale Anerkennung in der Latinistik hatte) genügen hier, um einem Irrtum vorzubeugen, der den Teufel mit dem Beelzebub austreibt: das Problem der neuzeitlichen Wissenschaft durch die Abwendung von ihr zu lösen sucht. Die Umkehrung der Wahrheit – von der der Sache zu der des Verfahrens – verweist auf eine Zwei­ deutigkeit, die den neuzeitlich-modernen Wissenschaften innewohnt (wahrscheinlich dem, was wir ›die Moderne‹ nennen, überhaupt), und also auch nur in ihr gemeistert werden kann. Es kann nicht darum gehen, eine ›neue Wissenschaft‹ zu suchen (die dann von Anfang an genauso museal sein würde wie vor einigen Jahren in Frankreich die ›neue Philosophie‹ oder jetzt das sogenannte ›neue Denken‹) oder gar aus der Wissenschaft ›auszusteigen‹. Es kann nur darum gehen, endlich damit Ernst zu machen, daß die Wissenschaften unser Schicksal sind, und das heißt, mit der Frage zu beginnen, inwiefern sie das sind. Alles liegt hier daran, die in zweifacher Hinsicht geschichtliche Notwendigkeit der Wissenschaften zu erkennen, also den Sinn des Tatbestandes, daß ›die Wissenschaft‹ ähnlich wie ›die Technik‹ die heutige Weltepoche prägt. Der eine Aspekt dieses geschichtlichen Sachverhalts gründet darin, daß ›die Moderne‹ (die Lage also, die nach dem Ende des Barock beginnt) ohne wissenschaftliche Vermittlung kein unmittelbares Verhältnis zu ihrer ›Welt‹ mehr finden kann, – vom Allernächsten bis zum Allerweitesten (auch wenn dies selber, über Medien, Bildung, Lehre, Umgang vielfach vermittelt ist) ohne Wissenschaft keine ›Welt‹ mehr hätte. Im Falle der seit jener Zeit (dem Anfang des 18. Jahrhunderts) bekannt gewordenen Zeugnisse des europäischen und orientalischen Altertums (der alten Griechen, Römer, Ägypter und Mesopotamier) ist das leicht zu sehen. (Wie peripher auch immer: Kenntnis und Erkenntnis anderer und älterer Kulturen gehören prinzipiell genauso mit zum Wesen unserer Epoche wie die Technik und die Politik.) Ohne Arbeiten wie beispielsweise die von Jacob Burckhardt vor 100 Jahren, von Karl Reinhardt oder Schadewaldt an der griechischen, Richard Klingner an der römischen Kultur vor 50 Jahren (also deren Gebrauch, deren Verarbeitung der historisch-kritischen Methode)

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1 Kulturwissenschaften und Kultur

hätten wir keinen Zugang zur Wahrheit der griechischen, zur Wahr­ heit der römischen Kulturepoche. Entsprechendes gilt von einzelnen die Chancen der Methode nutzenden, den Methodologismus meiden­ den Arbeiten aller Kulturwissenschaften, aller Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaften. Ohne deren Wendung also innerhalb der Diskrepanz von Fachbetrieb und Sachbezug blieben uns die ›Sachen‹, die Sachverhalte unserer Welt, dieser zeitlich und räumlich umgrenz­ ten Ökumene: unzugänglich. Einzig hier aber kann (das ist der zweite Aspekt) für den »modernen Menschen« so etwas wie der Wohnraum (der epochale Wohnraum) liegen. Mit enzyklopädischem Universalismus hat das nichts zu tun. (Die Enzyklopädien sind ja nur die Sammlung und die Summe der Fachbetriebsarbeit: der alle zehn Jahre überholte ›Stand der Forschung‹.) Alles zu tun hat dies aber mit der Realisation des eigentlich ›modernen‹ Sachverhaltes, daß unsere ›Welt‹ – der Kosmos menschlicher ›Kulturen‹ nicht anders als das ›Universum‹ der Naturerscheinungen – begrenzt ist, also selber ›rund‹, – begrenzt auch: in der Zeit, sodaß das neuzeitliche Fortschrittsdenken, das alte neuzeitliche Fortschrittsdenken, in den Wissenschaften nicht nur in seiner eschatologischen Heilsemphatik, der Erwartung eines kontinuierlichen Aufstiegs (denken Sie an das Wilamowitz-Zitat in dem Reinhardt-Aufsatz!), sondern auch in der datentechnischen (sich selbst für nüchtern haltenden) Utopie einer Fortbewegung im Prozeß der Wissensperfektion, verfehlt ist. Ökumenisch sachbezogen würde heißen: exemplarische Fachstu­ dien, die sich so in den Dienst der jeweils aufgenommenen Sachan­ sprüche stellen, daß sie mit der Arbeit anderer Fachgebiete von Fall zu Fall kommunizieren – im einen Fall nehmend, im anderen gebend – und damit den (hier zu Beginn genannten) Diskrepanzen zwischen Fach-Bereich und Sach-Gebiet beikommen, den Widerwillen also überwinden, mit dem sich die Fachbetriebsamkeit dem Tatbestand verweigert, daß das jeweilige Studienfeld meist andere Grenzen als die Institutsumzäunung hat. Seit einigen Semestern wird an vielen Instituten der Fakultät für Kulturwissenschaften kaum noch eine Vorlesung gehalten – die Indologie, die Sinologie in diesem Semester je eine Wochenstunde: Was wir zu lehren haben, geht Kollegen und Studierende der Nach­ barfächer nichts an! Die Schuld an dieser Verwechslung mit den Naturwissenschaften liegt aber nicht bei den einzelnen Instituten, sondern an der generellen ›Instituts‹- und ›Seminar‹-Gesinnung.

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Fachbetrieb und Sachbezug

Jacob Burckhardt hielt lebenslang in Basel nur Vorlesungen – und außerdem regelmäßig öffentliche Vorträge für die Bürger seiner Stadt – die alles andere als ›Popularisierungen‹ waren. Und diese Vorlesun­ gen zur Kultur-, zur Kunst- und zur politischen Geschichte Europas waren, gestützt auf das intensivste und souveränste Quellenstudium, für – wie wir heute sagen würden – ›Hörer aller Fakultäten‹ bestimmt. Soviel zu dem für heut gedachten Kreis der Kultur- oder Geistes­ wissenschaften.

2 Naturwissenschaften und Natur Ich hatte am vorigen Mal versucht, die Diskrepanz von Fachbetrieb und Sachbezug am Beispiel der Kulturgeschichte (also der ›Geistes­ wissenschaften‹) zu erläutern: an der Doppeldeutigkeit – vielleicht sogar der Doppelbödigkeit –, die dem Verhältnis zwischen Kultur­ wissenschaften und Kultur zukommt. Die verschiedenen Kontrastmo­ mente kommen in diesem Beispielkreis zusammen in der Diskrepanz, die hier zwischen der linearen Historizität der Fachmethodik und dem mehrdimensionalen Geschichtsraum des Sachgefüges zu bemer­ ken ist. Was eine solche Diskrepanzerkenntnis schwierig –, oder vielmehr: selten –, macht, ist nicht die Dunkelheit der Sachbezüge, sondern der Erfolg des Fachbetriebs. Sie brauchen nur an das Begriffs­ gerüst der Linguistik, die damit erlangte Macht einer unerschöpfli­ chen Verifikanz im Schneiden und Spießen zu denken – während das eigene ›Reich der Zeichen‹ (um mit dem Titel des Japan-Buches von Roland Barthes zu sprechen) das Ablegen von Messer und Gabel verlangt und die – für uns beschwerliche – Übung in der sanften Art des Gliederns und Bewegens, die der Umgang mit den ›Stäbchen‹ fordert. Im Vergleich jedoch zu der fast unumstößlich scheinenden ›Beweiskraft‹, die im Falle der Naturerscheinungen dem Fachbetrieb durch den technischen Erfolg zukommt, hat der Umkreis der Kultur­ gebiete und Kulturregionen den Vorzug eines großen Reichtums an vorbildlichen persönlichen Kontrastbeispielen (wie den am letzten Mal genannten von Karl Reinhardt und Walter F. Otto in jeder ihrer Disziplinen. Walter Benjamin in der Germanistik ist nur ein durch den früheren Schrecken und den späteren Glücksfall der politischen Verhältnisse besonders exponiertes Beispiel dafür.) Ich möchte jetzt – nun mehr in bloßer ›Thesen‹-Form noch anzeigen, wie (nach meiner Ansicht) der Ausgang von den Kulturwis­

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2 Naturwissenschaften und Natur

senschaften zu den Naturwissenschaften und auch noch über diese hinaus weiterzuführen ist. Die Diskrepanz zwischen den Fächern der Naturwissenschaften und der Sache der Natur ließe sich als diejenige zwischen Weltall und Erdraum umschreiben. Das heißt nicht: das Experimentalfeld der sog. exakten (der im engeren Sinn mathematischen) Naturwissenschaften von der Astronomie bis zur anorganischen Chemie, das – im Makrowie im Mikrobereich – wesenhaft außerplanetarisch ist, gering zu schätzen; es heißt nur: die paradigmatische Dominanz des sog. ›Welt­ raums‹ und der sog. ›Elementarteilchen‹ zu relativieren. In der makround mikrokosmischen (also der über- und unter-›irdischen‹ Wirklich­ keit sind Kausalgesetze (bis zu einem gewissen Grade) sachgemäß; in der irdischen Wirklichkeit werden diese Gesetze natürlich nicht aufgehoben, sie bleiben auch forschungsrelevant. (Ihr Leitmaß – der Ansatz Galileis, sie zum Filter für Erkennbarkeit zu machen – führt zu den Erfolgen in der Technik; genau besehen muß man sogar sagen: in diesem Theorie-Ansatz besteht die Technik.) Doch der Erfolg ist um den Preis erkauft, daß von den Bezügen abgesehen wird, die in einem substantiellen, in einem qualitativen Sinn differenzierter sind: Im Erdraum sind die Kausalbezüge Funktionen von Spiegelbezügen, die selber nicht mehr funktional erforschbar – d.h. überhaupt nicht mehr im fachspezifischen Gerüst erforschbar sind. Das gilt im weitesten Sinn für den Unterschied dessen, was unsere Sprache einstmals mit ›Elementen‹ meinte: das Wasser, die Luft, das Erdreich – gegenüber den ›Elementar‹-Bausteinen der ›Materie‹. Und es ließe sich an der Diskrepanz zwischen dem Forschungsfeld der Optik und der Erscheinungsweise des Lichtes exemplarisch klären: Die Optik ist nicht falsch. (Ohne sie gäbe es weder Fernrohr noch Foto, weder Fernsehen noch Brille.) Aber – um mit Heisenberg zu sprechen – was Licht ist, kommt bei ihr nicht vor. Innerhalb der verschiedenen Disziplinen der Naturwissenschaf­ ten äußert sich dieser Strukturunterschied zwischen außerirdischer und irdischer Dimensionalität an dem unterschiedlichen Prognosegrad von Astronomie [Kosmologie] und Meteorologie; – oder vielmehr: er würde sich äußern, wenn nicht das Muster des einen dieser beiden Wissenschaftspole – und damit der Wahrheitsmaßstab der Prognostizierbarkeit – so sehr als Fundament für alle Disziplinen der Naturerkenntnis gelten würde, daß dieser Unterschied dem andern Pol als Mangel angelastet würde.

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Fachbetrieb und Sachbezug

Der Diskrepanz von Weltall und Erdraum entspricht bei den Biowissenschaften die Differenz zwischen dem Erforschen von Funk­ tionen und dem Erörtern von Relationen. Dafür ist ein in seiner SachErkenntnis großes, in seiner Fach-Mißachtung symptomatisches Bei­ spiel das Buch Die Tiergestalt des einstigen Basler Zoologen (und Mitbegründers der Verhaltensforschung) Adolf Portmann.

3 Praxiswissenschaften und Praxis Auf einen dritten großen Diskrepanz-Bereich neben demjenigen der Kulturwissenschaften und dem der Naturwissenschaften verweisen die sogenannten ›angewandten Wissenschaften‹. Ich nenne hier nur wieder exemplarisch zwei solcher Spannungspole: das von Medizin und Patient und das von Theologie und Kirche. Bei dem ersten Beispiel­ feld denke ich so wenig an eine ›alternative‹ Medizin im Gegensatz zur sogenannten ›Schulmedizin‹ wie man bei Karl Reinhardt an eine ›Alternativphilologie‹ zur ›Schulphilologie‹ denken kann. (Reinhardt ist nicht einfach das Gegenteil von Wilamowitz.) Es handelt sich auch hier um die Unterscheidung von Aspekten – und das heißt in diesem Fall: eine Korrektur des ganzen Schematismus, der schon mit dem Begriff der ›angewandten Wissenschaften‹ sein Unheil treibt. Es ist zweierlei, ob das nicht im ›Fundament‹ der Theorie Aufgehende der Diagnose und der Therapie (z. B. schon in der Anamnese) oder auch der Predigt und der Liturgie zu einer bloßen Randerscheinung wird, oder aber umgekehrt dieser Ort des ärztli­ chen, des seelsorgerischen Handelns zum Maßstab auch der Lehrund Forschungsarbeit wird. Einen Wink, der Zukunft öffnet, könnte hier die Kulturgeschichte geben, (Man muß nicht ›ins Mittelalter zurückfallen‹, um aus ihm lernen zu können.) Es ist dies der eigene Ort eines Dienstes an der Sache – der ›Natur‹ des Leibes, dem ›Heil‹ der Seele –, der im Mittelalter mit dem Namen ›ars‹, bei den Griechen mit dem Namen ›techne‹ gemeint war: Ein Wissen im Handeln, das auch nur am Handeln lehr- und lernbar ist (ähnlich wie der Umgang mit einer neuen Sprache oder einem Musikinstrument). Die ›Heilkunst‹ ist in ähnlicher Weise ein Wissen wie die Steuermannskunst, die Kochkunst oder die Baukunst: ein Handlungswissen (gr. phronesis, lat. prudentia). Das jetzt akut gewordene Problem der europäisch-neuzeitlichen Wissenschaftlichkeit (akut z. B. an den sogenannten ›Nebenwirkun­

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4 ›Natur plus Geist‹ und Welt

gen‹ der erfolgreichsten chemischen und medizinischen Forschungs­ resultate) ist die Frage nach der Schwelle, auf welche die Erfahrung der Doppelbödigkeit verweist. Die Besinnung auf alte, im Erfolgsprozeß der Neuzeit lange ignorierte Möglichkeiten vor-neuzeitlicher und außereuropäischer Weisen eines Handlungswissens könnte Wand­ lungen befördern, indem sie das ihnen angemessne Denken weckt. Im Falle der Medizin z. B. die Einsicht in die Brauchbarkeit einer Kombinatorik, die die Ursachenanalyse nicht ablöst, aber übergreift. Ansätze dazu im Beachten des Zusammenspiels von Infektion und Abwehrschwäche (das ›Immun‹-Problem) und dementsprechend – im Hinblick auf die Individualität des Kranken überhaupt das Moment der Disponiertheit (der Neigung also) zur einen oder anderen Erkran­ kung bei dem einen oder anderen Menschen. Es handelt sich auch hier nicht um externe ›Alternativen‹, son­ dern um interne Korrekturen: Verschiebungen in der Maßstab-Hie­ rarchie innerhalb der sogenannten ›angewandten‹ Wissenschaften. An die Stelle des Schemas ›Theoriefundament plus Praxistraining‹ würde das einheitliche Feld eines Handlungswissens treten, in das von Anfang an und ständig Funktionskenntnisse (von der Physiologie und Anatomie bis zur Pharmakologie und Informatik) eingeordnet wären. Einer solchen Strukturverschiebung innerhalb der Praxiswis­ senschaften könnte ein Paradigmenwechsel im System der Wissen­ schaften überhaupt korrespondieren, indem an die Stelle des Kanons der theoretischen Grundlagenwissenschaften die freie Kombinatorik exemplarischen Erfahrungswissens treten würde.

4 ›Natur plus Geist‹ und Welt Kulturwissenschaften und Kultur, Naturwissenschaften und Natur, Praxiswissenschaften und Praxis: in jedem dieser drei Korrelbereiche besteht die Diskrepanz zwischen Fachbetrieb und Sachbezug nicht in einer Antithetik von engstirniger Spezialverbohrtheit und phan­ tasievollem Ganzheitsstreben, sondern in derjenigen Verblendung des Erfolgs, die alle Grenzen überspringt, – nicht die der (Erfolg verbürgenden) Labor- und Institutsaufteilung (dafür ist die moderne Internationale des ›Interdisziplinären‹ da), wohl aber die, die von den Sachen selbst der Wißbarkeit gestellt sind. Im Fachbetrieb ist das Nichtgewußte immer nur das jetzt noch nicht Gewußte – und damit der eigentliche Wissensantrieb. Der Sachbezug dagegen nimmt die

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Fachbetrieb und Sachbezug

Zeichen dessen an, was im Umkreis jedes Wissensthemas unvermeid­ lich nicht zu wissen ist, nicht, weil es ›okkult‹ wäre, sondern weil es von Natur aus nicht prognostizierbar ist (in der Evolution: nicht rück­ wirkend, in der Weltgeschichte nicht fortwirkend, im Einzelleben das Unvorhersehbare nicht nur der Zukunft, sondern auch von Schrecken und Glanz der Gegenwart und im Rätselhaften plötzlichen Erinnerns – selbst in der Psychotherapie). Das Sichverweigern gegenüber diesem Tatbestand, diesem eigentlich universalen ›Elementar‹-Tatbestand gegenüber ist das gemeinsame Merkmal der beiden Hälften in der scheinbar elemen­ tarsten (und scheinbar am meisten plausibelsten) Unterteilung des europäisch-neuzeitlich-modernen Wissenschaftssystems: der Unter­ teilung in ›Natur‹- und ›Geistes‹-Wissenschaften (diese Namen jetzt in dem weiten Sinn genommen, der auch die Praxiswissenschaften mit umfaßt und da die Medizin und die Jurisprudenz, die Forstwirtschaft und die Volkswirtschaft trennt. Zunächst: die beiden Züge einer betriebkonformen Selbstüber­ heblichkeit, mit dem sich diese beiden Wissenschaftshälften in ein kontradiktorisches Gleichgewicht setzen (in Tagungen und Medien freilich mehr als in der Arbeit selbst). Für ein naives Selbstverständnis der Naturwissenschaften beschränken sich die Geisteswissenschaften auf einen fast unbeschreiblich winzigen Randsektor im Umfang und in der Geschichte des Universums. Und außerdem haben sie es – wenn man von den Sozialwissenschaften (und den Rechts- und Wirtschaftswissenschaften) absieht – meist nur mit überholten Refle­ xionen des Lebewesens ›Mensch‹ über sich und die Natur zu tun, statt mit der Wirklichkeit selbst. Die Naturwissenschaften erforschen die Wirklichkeit, die Geisteswissenschaften nur ein paar Spiegelungen dieser Wirklichkeit im Kopf (und vielleicht auch noch im Herz) des Menschen, in seinen Taten, Meinungen und Phantasien. – Für ein naives Selbstverständnis der Geisteswissenschaften dagegen ist das Thema der Naturwissenschaften, die Wirklichkeit, so wie sie vor dem Menschen war und außerhalb seiner ist, nur ein fast ganz zu ignorierender Unterbau, an den man in den Arbeitsräumen, den Lehrund Forschungsstätten nur ausnahmsweise denkt: der Kunsthistori­ ker z. B., wenn er auf Landschaftsmalerei kommt, der Sozialhistoriker, wenn er den Zusammenhang von Technik und Gesellschaft unter­ sucht. In beiden Fällen läßt sich der Spieß jedoch umdrehen. Wenn die Geistes- oder Kulturwissenschaften insofern das Andere gegenüber

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4 ›Natur plus Geist‹ und Welt

den Naturwissenschaften sind, als sie es mit dem Spezifischen – den Taten und Gedanken, den Werken und Bestrebungen – des Menschen zu tun haben, also auch ›Humanwissenschaften‹ genannt werden können, was ist dann in ihrem Wissen aus dem Menschen geworden, wenn sie von dem Tatbestand abstrahieren, daß er, wo immer und wie immer es ihn als den Homo sapiens gibt, nicht nur zur Lebenserhaltung, sondern in allen Weisen der Lebensäußerung, im Alltag wie im Fest, in der Arbeit wie in der Krankheit, bauend wie denkend, anbetend wie abwehrend, sammelnd und jagend wie planend und zerlegend in der Natur sich aufhält. Daß hier eine von wenigen sachbezogenen Ausnahmen (und Ausnahmewissenschaften: wie der Ethnologie) bestätigte Regel der Defiziens in fast allen Geisteswissenschaften vorliegt, bemerkt man, wenn man den anderen Spieß umdreht. Eine kulturgeschichtliche Besinnung, die auf die Wandlungen des Denkens in den Kulturepo­ chen und Kulturregionen achtet, kann auch noch diejenige sublime Naivität im Wissenschaftsverständnis korrigieren, die, irritiert durch den technischen Erfolg, ›Natur‹ als Inhalt dessen, was das maßgeb­ liche Thema wissenschaftlicher Erkenntnis ausmacht, mit Wirklich­ keit schlechthin gleichsetzt. Sagt man ›die Wissenschaft‹ ohne jeden ausdrücklichen Zusatz (wie Rechtswissenschaft oder Veterinärwis­ senschaft, Sprachwissenschaft oder Sozialwissenschaft), dann meint man damit die Erforschung der Natur – und damit: die Erkenntnis der Wirklichkeit. Antworten auf die Frage, wie ›die Wirklichkeit‹ ›in Wirklichkeit‹ beschaffen ist, – und das besagt: wie sie objektiv beschaffen ist (im Unterschied zum bloßen Meinen). Der Name ›Objektivität‹ sagt genau besehen zweierlei: Das zu erforschende Gebiet: die Wirklichkeit, und: das Ziel der jeweiligen Forschungsarbeit: die ›wirkliche‹ Beschaffenheit der Wirklichkeit. Was dabei nicht bedacht wird, ist die Auswahl, die sich von dieser Zielsetzung her auf die Gebietsprägung hin auswirkt. Die Kulturge­ schichte (dieses Wort so wesenhaft verstanden wie von Jacob Burck­ hardt oder praktiziert in der ›Sozialgeschichte‹ von Max Weber, in der Denk-Geschichte Hegels oder Nietzsches) könnte zeigen, daß jener uns als ›wirklich‹ allumfassend geltende Begriffsgebrauch ›Natur‹ gleich ›Wirklichkeit‹ gleich Objektivität nur eine von verschiedenen Zugangsweisen, nur eine von verschiedenen Auftrittsarten der Natur, der Wirklichkeit innerhalb der menschlichen Geschichte ausmacht. Damit ist keine der unsinnigen neu- und neo-›kantianischen‹ Konzeptualitätsphilosophien gemeint: wonach alles immer nur

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Fachbetrieb und Sachbezug

›Erscheinung für uns‹ und niemals ›das Ding an sich‹ sein soll. Die Technik ist – auch für den Laien – der Beweis der Wahrheit der Erkenntnisse seit Kopernikus und Galilei. Die Frage, um die es in Wahrheit geht, ist nur die, ob damit das sog. ptolemäische ›Weltbild‹, ob damit die ›Physik‹ des Aristoteles als bloßer Schein widerlegt sind. Und darauf muß die Antwort lauten: Nur ›unserem‹, dem eigenen Maßstabshorizont für das, was Wissen und Nichtwissen heißen kann, erscheint des Aristoteles’ Gedanke der Bewegung als etwas, das, wie die Gewächse, zu allererst Verwandlung, und nur zu allerletzt Verkehr ist (Veränderung von Streckenpunkten) als abstrus. Nur unter unserer, der cartesianisch-galileisch-neuzeitlichen Zielsetzung erscheint des Aristoteles’ Gedanke von den Orten, die das Leichte von dem Schweren, das Kalte von dem Heißen unterscheiden, als abstrus. Auch dann, wenn unsere – die nun auch der Wissenschaft und Technik Japans oder Indiens als einzig ernstzunehmend geltende – Zuwendung zur Natur: ihr Ansatz als Objekt der Forschung, der letzte gewesen sein sollte, der seine Gültigkeit mit der Selbstauslöschung des Homo sapiens verifiziert, dann wären damit nicht die anderen Zugangsweisen – z. B. die des alten Kreta (der minoischen Kultur), der Inder an dem Strom, dem ›Ganges‹, den sie ›die Ganga‹ nennen, der drei Jahrtausende am Nil – widerlegt. Eine solche Wendung, eine solche Öffnung zur Wahrheit dessen, was man die Kulturgeschichte der Natur nennen könnte, ist das Korre­ lat zu derjenigen Wendung, die – seit 1905 und 1915 – die exakte Naturwissenschaft selbst an ihrem obersten (oder innersten) Theorie­ bezirk eingeleitet hat. So falsch auch das gewöhnliche Verständnis des Namens ›Relativitätstheorie‹ ist (weil es sich hier ja um eine im höchsten Maße ›absolute‹ Einsicht handelt) so entschieden ist damit doch der Ausschließlichkeitsanspruch des ›klassisch‹-neuzeitlichen Wirklichkeits-Schemas verlassen. Es ist der eigne Gang, das eigene ›Gesetz‹ (das eigne Schicksal) des mit Descartes und Galilei begonnenen Konzeptes menschlichen Erkennens, daß in den beiden Kernbereichen seines paradigmati­ schen Wissensfeldes, der mathematisch-physikalischen Frage nach der ›Materie‹ und der mathematisch-physikalischen Frage nach dem ›Kosmos‹, die Konsequenzen der ersten, der ›klassischen‹ Synthese: der Einsicht in die Einheit des ›kosmischen‹ und ›irdischen‹ Raumes durch Newton (ähnlich dann: der tierischen und der menschlichen Zeit durch Darwin) in einer neuen Synthese sich umkehren. Die Konsequenz jener ›klassischen‹ Synthese – der Newtonschen Raum-

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4 ›Natur plus Geist‹ und Welt

und der Darwinschen Zeit-Einheit – schien das industrielle und imperiale Pathos eines grenzenlosen einheitlichen Wirkungsraums zu sein, in dem der Mensch die Evolution der Natur in seinem eigenen ›Wachstum‹ fortsetzt. Die Konsequenz der jetzigen Synthese von Makro- und Mikro-›Kosmos‹ ist das Ende des Gedankens an ein unendliches Raum- und Zeitkontinuum und damit die Möglichkeit der Rehabilitation des lange Zeit als ›mythische‹ Fiktion verachteten Gedankens einer endlichen, in sich ›runden‹ Welt. Das Maximum an sogenannter ›Unanschaulichkeit‹, richtiger muß man sagen: an Unvorstellbarkeit, das die mathematischen Gedanken einer ›Krümmung‹ von Raum und Zeit in der Allgemeinen Relativitätstheorie, der Äquivalenz von ›Welle‹ und ›Teilchen‹ in der Quantentheorie und schließlich der ›Antimaterie‹ in der jüngsten Elementarphysik bedeuten, stellt eine Wende zur Rehabilitation der Anschauung dar. Nicht, weil alles doch nur ›Symbol‹ wäre, sondern, weil Wirklichkeit nicht mehr im Ansatz der Gegenständlichkeit auf­ geht. Das Hindernis der Anschauung seit Galilei war der Wille zur Objektivität, das heißt: die Transzendenz des Raumes und der Zeit, die sich im Auf- und Untergang der Sterne wie der Sonne, des Jahres wie des Lebens, der Lebensalter wie der Weltzeitalter zutragen, in die Statik einer gleichförmigen Gesetzlichkeit, die immer nur vorausgesetzt (und technisch auch ›bewiesen‹), aber niemals selbst erfahren werden kann. Mit der Atom- und Kernphysik seit Einstein und Niels Bohr ist nicht nur so etwas wie ein Abschluß erlangt – nämlich desjenigen Weges einer Erforschung der ›Natur‹, der mit Kopernikus und Galilei begonnen hatte. Wir sind nun im Begriff, sowohl die ›Urbausteine‹ der Materie (die alles andere als Steine sind), als auch das Ausmaß, den Anfang und das Ende des ›Universums‹ (das alles andere als unendlich ist) erkennen zu können. Dieser Abschluß bedeutet zugleich auch eine Wende: nämlich in der wechselseitigen Selbstüberheblichkeit der Natur- und Geisteswissenschaften (wie lange es auch noch dauern mag, bis die Nachricht von dieser Wende bei den Adressa­ ten ankommt). An die Stelle der naturwissenschaftlichen Hybris im Gedanken einer unendlich riesenhaften Wirklichkeit mit dem zwergenhaften Seitensproß des Homo sapiens tritt die Einsicht in das vielfach ›gekrümmte‹, das vielfach ›runde‹ (kubische oder zylindrische) Spiel eines pulsierenden Geschehens: Geschichte nicht als Fortschritt, son­ dern als Wandel. Und an die Stelle der geisteswissenschaftlichen Hybris

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Fachbetrieb und Sachbezug

im Gedanken der intelligiblen Unendlichkeit wachsender Autonomie, der gegenüber ›die Natur‹ nur noch der ›Erdenrest‹ als Unterbau der ethischen Gebote ist, tritt die Einsicht in die Gleichberechtigung der Ökumene menschlich-›kulturellen‹ Handelns. Statt des Universalismus unendlichen ›Wachstums‹ im Denken der ›klassischen‹ Naturwissenschaften die Einschränkung auf einen ›runden‹ – den Grenzen unserer Erde angemessenen – Begriff von Welt. Statt des Provinzialismus europäischer Selbstbespiegelung in den ›klassischen‹ Geisteswissenschaften die Ausweitung auf einen vollen – der Fülle unserer Erde angemessenen – Begriff von Welt. An die Stelle der Dichotomie ›Natur und Geist‹ würde das Spiel der einen (mit Heraklit zu sprechen) »Weltzeit« treten. Die Diskre­ panz zwischen Fachbetrieb und Sachbezug ist dem jetzt, zuletzt, genannten Umkreis diejenige des Subjekt-Objekt-Korrelates auf der einen, des Gefüges der Phänomenalität auf der anderen Seite. Phänomenalität ist eine Kennzeichnung der Sprache als des Grundzugs von ›Welt‹ – auch in der prae-hominiden Sphäre des tierischen und pflanzlichen ›Lebens‹, der ›Elemente‹, des ›Kosmos‹. Sprache nur gerade nicht als Information und Kommunikation – die zur ›Wirklichkeit‹ noch hinzukäme – verstanden, sondern als das In-Erscheinung-treten, das Zum-Sein-kommen selbst (was die Griechen meinten, wenn sie von ›Physis‹ sprachen), das Öffnen des Gegenüber von Anspruch und Antwort, das die alten ›Welt‹-Entste­ hungs-Mythen mit der Polarität von ›Himmel‹ und ›Erde‹ meinten, – ägyptisch ›maat‹, indisch ›triloge‹ (die Dreiheit von Erde, Himmel und dem Dazwischenbefindlichen), deren höchster Ausdruck der Gedanke von der ›Welt‹ als einer Ordnung ist, die ständig der Gefährdung durch den Menschen ausgesetzt, der Erneuerung durch ihn bedürftig ist, zuletzt noch, nun auf ›die Welt‹ der Polis eingeschränkt, im Athen der dionysischen Tragödie.

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Wissenschaft und Geschichte bei Droysen3

1 Droysens Aktualität zu seiner wie unserer Zeit Die Geschichtswissenschaft sieht ihr Hauptproblem derzeit im Ver­ hältnis der Vergangenheitserforschung zu den Gegenwartswissen­ schaften, der Soziologie und Politologie.4 Ein zweites Problem ist die neue Fassung des alten Problems, inwiefern die Erforschung der Geschichte überhaupt den Anspruch, ›Wissenschaft‹ zu sein, erheben kann, neu: sofern dieses Problem nun (etwa seit K. R. Popper) unter den Aspekten der analytischen Wissenschaftstheorie erörtert wird.5 Der Problemhorizont ist in beiden Fällen der gleiche und trotz aller Veränderungen in der gegenständlichen Thematik und der formalen Argumente der alte: die Konfrontation mit den Naturwissenschaften. Die Diskussionen bewegen sich nach wie vor zwischen den beiden Polen einer optimalen Annäherung an die ›exakte‹ Wissenschaftlich­ keit, die den Naturwissenschaften seit jeher (seit ihrer Ausbildung im 17. und 18. Jahrhundert) eignet, und optimaler Rechtfertigung einer (human-sozialen) Eigenständigkeit, die – von Dilthey bis zu Habermas – eine den Naturwissenschaften ebenbürtige Wahrheitsre­ levanz gerade durch die Ausprägung des Unterschiedes findet. Die der Natur gegenüber jetzt in Gang gekommene Frage, ob die neuzeit­ lich-moderne Art von Wissenschaft überhaupt ihren Anspruch, sich ständig steigernde Wahrheitsfindung zu sein, erfüllt6, scheint für die Selbstreflexion der Geschichtswissenschaft uninteressant zu sein. Erstveröffentlichung: Wirklichkeit und Reflexion. Walter Schulz zum 60. Geburts­ tag, hg. v. Helmut Fahrenbach, Neske: Pfullingen 1973, S. 313–333. 4 Zuletzt auf dem 29. Historikertag vom 3.-8 Oktober 1972 in Würzburg. 5 Zuletzt auf dem 10. Kongreß der Gesellschaft für Philosophie vom 8.-12. Oktober 1972 in Kiel (wo das Kongreßthema ›Natur und Geschichte‹, soweit das ›und‹ über­ haupt thematisiert wurde, wohl besser ›Natur- und Geschichtswissenschaften‹ hätte lauten müssen). 6 Besonders in England und den USA, s. z. B. M. Lohmann (Hrsg.), Gefährdete Zukunft. Prognosen angloamerikanischer Wissenschaftler, Hanser: München 1970. (Umweltforschung. Bd. 5.); oder Barry Commoner: The closing circle. London 1971. 3

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Wissenschaft und Geschichte bei Droysen

Wir sorgen uns um die Zeichen von Geschichtsverlust und Geschichtsfeindlichkeit seit dem Ende des letzten Weltkriegs, sehen eine verhängnisvolle Umkehr von dem Interesse an der Vergangen­ heitserforschung im 19. zur Vergangenheitsverleugnung im 20. Jahr­ hundert. Oder aber wir sehen, gerade umgekehrt, einen Vorzug gegenüber dem 19. Jahrhundert darin, daß sich eine soziologische Aktualisierung in der wissenschaftlichen Thematik und eine metho­ dologische Optimierung in der wissenschaftlichen Theorienbildung angebahnt hat. Ob aber nicht etwa schon die Thematisierung der überlieferten Geschichte zu einem Forschungsgegenstand, das unver­ mindert machtvoll gebliebene Erbe aus dem Anfang des 19. Jahr­ hunderts, eine Veränderung im Verhältnis zwischen Gegenwart und Vergangenheit bewirkt haben könnte, die einschneidender ist als der Schritt zur didaktischen Vergangenheitsverleugnung oder zur theoretischen Forschungsverjüngung seit der Mitte des 20. Jahrhun­ derts, das ist noch immer eine kaum gestellte und noch weniger diskutierte Frage.7 Das Verhältnis zwischen Geschichte und Wissenschaft kann jedoch nicht länger fraglos bleiben, wenn wir mit der Frage, was sich im Verhältnis zwischen Mensch und Natur verändert hat, weiter­ kommen wollen. In dieser Frage sind ernsthafte Fortschritte nur in dem Maße zu erhoffen, in dem das bestehende, das gegenwärtig herr­ schende Naturverhältnis in seiner eigenen geschichtlichen Bedingt­ heit durchschaut wird. Und das verlangt, daß die Geschichte selbst, das Verhältnis des Menschen zum Vergangenen, neu durchdacht wird. Ein Weg, der sich dazu bietet, ist die Besinnung auf die Gründungszeit des heute Bestehenden. (Ein anderer wäre die Besinnung auf in ihrer Zeit kritische, ›unzeitgemäße‹, und damit zukunftsweisende

Ausnahmen sind der Vortrag von Karl Reinhardt, ›Die klassische Philologie und das Klassische‹ von 1941, in: Reinhardt, Vermächtnis der Antike, 1959, und: Reinhardt, Die Krise des Helden, München 1962. [= dtv. Bd. 93], und neuerdings der Aufsatz des Althistorikers Christian Meyer, ›Die Wissenschaft des Historikers und die Verant­ wortung des Zeitgenossen‹, in: Meyer, Die Entstehung des Begriffs »Demokratie«, Frankfurt a. M. 1970. [= Edition Suhrkamp. 387]). Auf die genannte Frage verweist auch der Althistoriker Alfred Heuß, Verlust der Geschichte, 1959; Zur Theorie der Weltgeschichte, 1968) – Zu dem Vortrag von Reinhardt s. meinen Aufsatz: ›Klassik und Historie‹, in: Argo. Festschrift für Kurt Badt, 1970. S. 35–49. (Hier Bd. 1, S. x-y). 7

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1 Droysens Aktualität zu seiner wie unserer Zeit

Intentionen aus der gleichen Zeit – wie die von Droysens Hörer Burckhardt oder Burckhardts Hörer Nietzsche.8 J. G. Droysen (1808–1884) gehört zwar nicht mehr, wie Fr. A. Wolf, Niebuhr oder F. Chr. Baur, der eigentlichen Gründungsge­ neration der historisch-philologischen Wissenschaften an. Aber er ist, nach seinem philologischen Vorbild August Boeckh und neben Dilthey, der bedeutendste Methodologe der Historie im 19. Jahrhun­ dert. Ein besonderer Vorzug seiner ›Wissenschaftslehre‹ liegt bereits darin, daß sie sich auf einem umfassenden Studium der antiken und der neuzeitlichen Philosophie (bis zu den Vorlesungen Hegels) und in der Verbindung mit einem wirklich universalen Studium der Weltgeschichte aufbaut.9 Droysens eigene historische Forschung zeichnet sich durch zwei grundlegende Leistungen aus. Das Frühwerk ›Geschichte des Helle­ nismus‹ (in drei Bänden 1833–1843 erschienen) ist mit dem Nachweis der eigenständigen geschichtlichen Bedeutung des nach›klassischen‹ Zeitalters Griechenlands die revolutionäre – im Prinzipiellen noch weit über Niebuhr hinausgehende – Überwindung des klassizistischnormativen Geschichtsdenkens der ›Goethezeit‹. Zugleich stellt es – darin auch noch Ranke übertreffend – eine Verbindung von ›indi­ vidual‹- und ›universal‹-historischem Prinzip dar: Die eigene Bedeu­ tung und eigene Größe des Hellenismus besteht gerade darin, daß er, indem er zur Grundlage der römischen Welt und des von Rom aus geschichtsmächtig gewordenen Christentums wurde, das Fundament der seitherigen europäischen Geschichte, der seitherigen geschichtli­ chen Wirklichkeit bildet. Erkenntnis des Hellenismus heißt in sich selbst: Erkenntnis unserer eigenen Wirklichkeit. Die ›Fremd‹erkennt­ nis ist hier Selbsterkenntnis. Aus dieser Verbindung von Vergangenheitserkenntnis und Gegenwartsinteresse ist das historische Hauptwerk Droysens hervor­ 8 Zu Nietzsche s. meine Tübinger Antrittsvorlesung ›Nietzsches Kritik der histori­ schen Wissenschaften‹, in: Praxis, 6, 1970, S. 223–236. 9 In einem Brief vom März 1858 an einen Freund sagt Droysen über den Historiker Sybel: »Leider fehlt ihm, wie der ganzen Rankischen Schule, die antike Welt und viel­ leicht damit das Bedürfnis oder die Fähigkeit der großen weltgeschichtlichen Anschau­ ung, die man doch nicht ohne Jesaias und Äschylus, ohne Aristoteles und Augustinus gewinnt. Ich könnte es auch so ausdrücken: Sybel kommt nicht bis zu den letzten Fragen ... Du kennst meine Mängel, und ich kenne sie auch so ziemlich; aber ich weiß, was ich daran habe, daß ich den Baco, den Dante, den Homer und ein wenig auch den Pentateuch mit umfasse« (Briefwechsel II, S. 534).

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gegangen: die in dreißig Arbeitsjahren entstandene, vierzigbändige ›Geschichte der preußischen Politik‹ (1855–1885). Droysen stellt darin, auf der Basis eigener neuer Quellenstudien, Preußen als die zu der neuen deutschen Staatengründung und Staatenleitung berufene historische Macht dar. Diese heute vielleicht etwas zu zeit­ gemäß klingende Geschichtskonzeption wird aber falsch gesehen, wenn man dabei nicht Droysens entschiedene Zustimmung zu den Intentionen des amerikanischen Unabhängigkeitskampfes und der Französischen Revolution mit im Auge hat. Der englische Historiker G. B. Gooch sagt im Hinblick auf Droysens Kieler ›Vorlesungen über die Geschichte der Freiheitskriege‹ (1846), die Friedrich Wilhelm IV. zornig zurückwies: »Das Werk ist mehr der Freiheit als dem Nationalismus gewidmet ... Droysen lobt den Charakter und die Taten der Franzosen. Der Krieg von 1792 sei ein Verteidigungskrieg gewesen, und die Vernichtung Polens ein viel größeres Verbrechen als die Ermordung Ludwigs XVI. Die Revolution habe die Unterschiede zwischen Volk und Staat getilgt, und Mirabeau habe zu Recht voraus­ gesagt, daß sie die ganze Welt erfassen würde.«10 Heute gründet sich Droysens Ruhm (neben seinem Frühwerk, zu dem außer dem ›Hellenismus‹ auch seine Übersetzungen des Aischylos und des Aristophanes gehören) auf die erst 1936 vollständig veröffentlichten ›Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte‹, die ›Historik‹.11 Von 1857 bis 1882 hat Droysen diese Vorlesungen achtzehnmal gehalten. Die Aufgabe, die er sich 10 G. B. Gooch, Geschichte und Geschichtsschreiber im 19. Jahrhundert, Dt. Ausg. 1964. S. 156. – S. auch Jörn Rüsen, ›Politisches Denken und Geschichtswissenschaft bei J. G. Droysen‹, in: Politische Ideologie und nationalstaatliche Ordnung. Festschrift Theo­ dor Schieder, 1968, S. 171–188. 11 Die Ausgabe der ›Historik‹ von Rudolf Hübner erscheint seit der ersten Auflage von 1937 (im Verlag R. Oldenbourg, München) in unveränderten Neuauflagen (seit 1967 auch in der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, Darmstadt). Zitate danach: durch bloße Angabe der Seitennummern. – Verwiesen sei hier auch auf die neue Auswahl aus Droysens Gesamtwerk mit bisher ungedruckten Materialien zur ›Historik‹, Johann Gustav Droysen, Texte zur Geschichtstheorie, Hrsg. v. G. Birtsch u. J. Rüsen. 1972 (VR 366, 367, 368). Aus der neueren Literatur über Droysen seien hier hervorgehoben: 1. H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, 1. Aufl. 1960, S. 195–205. 2. Max Müller, ›Historie und Geschichte im Denken J. G. Droysens‹, in: Speculum Historiale. Festschrift Johannes Spörl, 1965, S. 694–702. 3. Benedetto Bravo, Philologie, histoire, philosophie de l’histoire. Etude sur J. G. Droysen historien de l’antiquité, [Warschau, Phil. Dissertation 1965/66.] Warschau, Polnische Akademie der Wissenschaften 1968.

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mit ihnen stellte, hat er in einem ersten Plan, der ›Privatvorrede‹ zum letzten Band des ›Hellenismus‹ von 1843, kurz bezeichnet als ›Wissenschaftslehre der Geschichte‹ (377). Und 1861 bringt er in seiner Kritik an dem methodologischen Versuch des Engländers Buckle, die Erkenntnis der Geschichte in den wissenschaftlichen Rang der Naturerkenntnis zu heben, schon durch den Titel dieser Kritik zum Ausdruck, daß er, wenn er Buckles Methode ablehnt, dessen Ziel gerade teilt: die »Erhebung der Geschichte zum Rang einer Wissenschaft« (386). Droysens Größe und Aktualität besteht in dem Zusammen­ schluß zweier Aspekte. Er begründet den wissenschaftlichen Charak­ ter der historischen Wissenschaften dadurch, daß er erstens von dem grundlegenden ontologischen Unterschied, der zwischen den Themen der Geschichts- und der Naturwissenschaften besteht, ausgeht: alle geschichtlichen Phänomene unterscheiden sich von der Natur inso­ fern, als es sich dabei um menschliche Phänomene handelt, d. h. um Phänomene, an deren jeweiligem »Sein« ein »Bewußtsein« der Vergangenheit konstitutiv (wirkend und verändernd) beteiligt ist. Daß es trotz dieses fundamentalen Unterschiedes zur Natur auch von der Geschichte eine Wissenschaft geben kann, sieht Droysen darin begründet, daß es zweitens der Geschichte gegenüber eine der For­ schungsbasis der Naturwissenschaften, dem Experiment, ebenbürtige Forschungsbasis gibt, eben dasjenige, was seine Vorgänger in ihrer Struktur entwickelt haben und er selbst in seiner Bedeutung klären will: die Quellenkritik. Daß innerhalb der außerordentlich vielfältigen Thematik der ›Historik‹ das Moment der »Quellenkritik« für Droysen wichtiger ist, als man nach der Gliederung im ›Grundriß‹ annehmen würde, zeigt schon der Umfang der darüber handelnden Stücke in 4. H.-J. Weimar, Droysens Theorie der historischen Erfahrung [München, Phil. Disser­ tation 1969]. 5. Jörn Rüsen: a) Begriffene Geschichte. Genesis und Begründung der Geschichtstheorie J. G. Droy­ sens, 1969. b) (Rüsens Beitrag über Droysen in:) Deutsche Historiker, Hrsg. v. H.-U. Wehler, Band 2, 1971, S. 7–23 (VR 334, 335, 336). c) ›Wahrheit und Methode in der Geschichtswissenschaft‹, in: Philosophische Rund­ schau, 18, 1972, S. 266–278 (eine mit Recht scharfe Kritik an den positivistischen ›Untersuchungen zu Johann Gustav Droysens Historik‹ von Karl-Heinz Spieler in: Historische Forschungen, 3, 197o). 6. Karl Christ, Von Gibbon zu Rostovtzeff, 1972 (Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt); über Droysen: S. 50–67.

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der Vorlesung selbst, was der Herausgeber, R. Hübner, ausdrücklich hervorhebt (XIV). Und in einem Aufsatz ›Kunst und Methode‹ erklärt Droysen im Hinblick auf die Gründungsepoche der Geschichtswis­ senschaft, an die er mit seiner ›Methodologie‹ anschließt: »Vielleicht das größte Verdienst der kritischen Schule in unserer Wissenschaft, wenigstens das in methodischer Hinsicht bedeutendste, ist, die Ein­ sicht durchgesetzt zu haben, daß die Grundlage unserer Studien die Prüfung der ›Quellen‹ ist, aus denen wir schöpfen. Es ist damit das Verhältnis der Historie zu den Vergangenheiten auf den wissenschaft­ lich maßgebenden Punkt gestellt« (420). Ich möchte hier zwei Momente von Droysens ›Historik‹ her­ vorheben, die sich als die beiden Pole dieser ›Wissenschaftslehre der Geschichte‹ begreifen lassen. Das eine, das Fundament, ist die genannte, aus den Leistungen der Vorgänger und Zeitgenossen das Fazit ziehende Erklärung der Quellenkritik als der wissenschaftlichen Basis der Geschichtswissenschaft (2). Das andere, der Horizont, ist seine, die Aufklärung des 18. Jahrhunderts und Hegels Geschichts­ philosophie mit dem zu seiner Zeit dominierend gewordenen Wirk­ lichkeitsbezug des wissenschaftlichen Realismus verbindende Kon­ zeption des Maßstabs der historischen Erkenntnis, sein Begriff der Geschichte als der »sittlichen Mächte« (3). Bedenkenswert scheint mir der strukturelle Zusammenhang dieser beiden Momente zu sein.

2 Das Quellen-Schaffen der Methode Das zentrale Motiv der Geschichtswissenschaft sieht Droysen in dem Sachverhalt, daß uns die Vergangenheit nicht von selbst gegeben ist. »Jede Gegenwart hat das Bedürfnis, sich ihr Gewordensein, ihre Vergangenheit von neuem zu rekonstruieren, d. h. in dem Licht der gewonnenen Erkenntnis, gleichsam von einem höheren Standpunkt aus, mit um so weiterem Horizont das, was ist und so geworden ist, zu begreifen. Aber freilich, je weiter von uns entfernt und rückwärts diese Dinge liegen, die wir zu fassen suchen, desto weniger sind wir unmittelbar und ohne weiteres imstande, sie richtig zu sehen und zu verstehen. Es bedarf weitläufiger und schwieriger gelehrter Vermittlung, in das Fremdartige und unverständlich Gewordene uns hineinzufinden, uns die Vorstellungen und Gedanken, aus denen vor Jahrhunderten und Jahrtausenden die Dinge getan und aufge­ faßt wurden, wiederherzustellen, gleichsam die Sprache, die die uns

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2 Das Quellen-Schaffen der Methode

fremdartigen Zustände und Ereignisse sprechen, zu verstehen« (83). Das Vergangene ist uns, eben als das Vergangene, fremd geworden. Die Geschichtswissenschaft ist da, um uns das Fremde wieder bekannt zu machen. Und dazu bedarf es »schwieriger, gelehrter Vermittlung« (83). Das nämlich, was von dem Vergangenen noch vorhanden ist, die »Überlieferung«, kann nicht einfach mitgeteilt werden. Hier stellt sich die spezifische Aufgabe dieser Wissenschaft: »Sie will gleichsam neue erste Quellen schaffen« (83). Droysen macht das an zweierlei Aspekten klar. Erstens sind uns Denkmäler, Dokumente bekannt, die die Zeitgenossen nicht kannten. Droysen verweist auf Rankes Ausnützung der Archive für die Reformationsgeschichte, die Sleidan, der Zeitgenosse der Reformation, nicht kennen konnte. Dabei ist aber nicht das größere Material der entscheidende Unterschied, sondern: Ranke »überschaut und entwickelt die politischen Zusammenhänge jener großen Zeit besser und sicherer, als sie irgendeiner der damals Lebenden geahnt hat« (83). Neben der »Vermehrung« steht als zweites und wichtigeres Moment die »Bearbeitung« der schon vorhandenen Dokumente. Die Wissenschaft schafft »neue Quellen«. »Sie kann es durch methodische Behandlung der bekannten historischen Überlieferung.« Hier ist Nie­ buhr das Beispiel. »Niebuhr in seiner Römischen Geschichte hat nicht eben viel mehr als Livius, Dionysius und die sonst bekannte Literatur benutzt; aber sein großer historischer und politischer Scharfsinn, seine Kunst, die Quellen ins Kreuzverhör zu nehmen, seine meister­ hafte Kunst der Interpretation staatlicher Zustände und Bedingungen hat ihn Dinge entdecken und erweisen lassen, von denen Livius und seine Zeitgenossen keine Ahnung hatten« (83). Beide Momente, den Sinn der Rede von den »neuen Quellen«, faßt Droysen zusammen: »Ranke, Niebuhr und alle ähnlichen Forscher, was sie so forschend gewonnen und dargelegt haben, das wird man natürlich nicht im eigentlichen Sinn erste und ursprüngliche Quellen nennen, aber noch weniger abgeleitete Quellen. Sie gaben nicht erste unmittelbare Auffassungen, aber die Auffassungen, die sie geben, sind auf so sicherem methodischen Wege gewonnen, daß sie in vieler Hinsicht höheren Wert haben als die ersten Quellen« (83f.). Die Voraussetzung für diesen Gedanken, daß durch das metho­ dische Verfahren die Quellen der Geschichte erst geschaffen werden, ist Droysens Einsicht, daß alle Historie (ebenso wie die Philologie) mit seinem Lehrer Boeckh zu sprechen »Erkenntnis von Erkanntem«

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ist, schärfer formuliert, mit Droysens eigenen Worten, daß die Gegen­ stände der Geschichtswissenschaft niemals den Charakter von »Tatsa­ chen« haben. Die Geschichte besteht aus Handlungszusammenhän­ gen; und die sind nur in der Form von »Auffassungen« überliefert. »Es heißt die Natur der Dinge, mit denen unsere Wissenschaft beschäftigt ist, verkennen, wenn man meint, es da mit objektiven Tatsachen zu tun zu haben. Die objektiven Tatsachen liegen in ihrer Realität unserer Forschung gar nicht vor. Was in irgendeiner Vergangenheit objektiv vor sich gegangen ist, ist etwas ganz anderes als das, was man geschichtliche Tatsache nennt. Was geschieht, wird erst durch die Auffassung als zusammenhängender Vorgang, als ein Komplex von Ursache und Wirkung, von Zweck und Ausführung, kurz als Eine Tatsache begriffen und aufgefaßt, sie können von andern mit andern Ursachen oder Wirkungen oder Zwecken kombiniert werden ... Alle Quellen, wie gut oder schlecht sie sein mögen, sind Auffassungen von Geschehnissen« (133f.). Aufgabe der Wissenschaft ist es, diese Auffassungen, das, was uns überliefert ist, kritisch daraufhin, was da aufgefaßt ist, zu inter­ pretieren. Auf diesen Grundsachverhalt der historisch-philologischen Wissenschaften richtet sich das, was Droysen die zwei »großen Funda­ mentalsätze« dieser Wissenschaft nennt. Der erste sagt, daß die Wis­ senschaft das, was sie über die Vergangenheiten erfahren will, »nicht in diesen sucht, denn sie sind gar nicht und nirgends mehr vorhanden, sondern in dem, was von ihnen noch, in welcher Gestalt auch immer, vorhanden und damit der empirischen Wahrnehmung zugänglich ist«. Aus diesem ersten Fundamentalsatz folgt: »Unsere Wissenschaft beruht darauf, daß wir aus solchen noch gegenwärtigen Materialien nicht die Vergangenheit herstellen, sondern unsere Vorstellungen von ihnen begründen, berichtigen, erweitern wollen, und zwar durch ein methodisches Verfahren, das sich aus diesem ersten Lehrsatz entwickelt« (20). Wir haben die uns vorliegenden »Ausdrücke« » auf das zurückzuführen, was sich in ihnen hat ausdrücken wollen. Es gilt, sie zu verstehen. Damit haben wir das bezeichnende Wort.« Der zweite Fundamentalsatz, der sich daraus ergibt, ist Droysens berühmte Bestimmung: »Unsere Methode ist forschend zu verste­ hen« (22). Diesen wissenschaftlichen Grundzug der Historie klärt Droysen am Begriff der »Quellenkritik«. Der Begriff läßt sich kurz an Hand des (modernen) Kennzeichens einer wissenschaftlichen Textausgabe: ›historisch-kritisch‹, erläutern. ›Kritisch‹ besagt: man darf den Quel­

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len, so wie sie überliefert sind, nicht trauen. Das Überlieferte muß geprüft werden; und zwar erstens auf seine Echtheit hin (auf seine tatsächliche Autorschaft) und zweitens auf seinen objektiven Aussa­ gewert hin, daraufhin, was der Autor, auch wenn er gesichert ist, von dem geschichtlichen Tatbestand, über den er handelt, nun in der Tat gesehen und getroffen hat. Das kann man nur, wenn man Denkweise, Darstellungsweise und Interessen des Zeitalters und der Person des Autors kennt, also nur durch Interpretation. ›Historisch‹ meint in diesem Fall die Vorgeschichte, die Entstehung auch der Quellen selber noch zu erforschen; eine Aufgabe, die besonders dann notwendig wird, wenn die vorliegenden Quellen auf früheren, verlo­ renen Quellen aufbauen, oder aber die erste schriftliche Fixierung lange vorausliegender mündlicher Überlieferung sind. Das kritische Moment ist zuerst in Niebuhrs ›Römischer Geschichte‹ (1811), das genetische (›historische‹) in Fr. A. Wolfs ›Pro­ legomena ad Homerum‹ (1795) ausgebildet worden. Vereinigt hat beide Methoden der protestantische Theologe F. Chr. Baur in seinen Forschungen zum Urchristentum und zur Dogmengeschichte (seit 1831). »Hier zuerst wurde das Verhältnis der Sage zur Geschichte, des Mythos zur Sage ins Auge gefaßt und damit das eigentliche Wesen der Quellenkritik praktisch und methodisch klar gemacht« (133).12 Kritik der Quellen besagt demnach: Prüfung ihres Informationswertes durch die Destruktion der Überlieferung, Genese: Interpretation ihrer Bedeutung durch die Rekonstruktion ihrer Entstehung. Destruktion und Rekonstruktion stehen hier in einem Wechselbezug.

3 Die ›historische Bedeutung‹ Mit dem theoretischen Sachverhalt, der Antwort auf die Frage, wie die Wissenschaft von der Geschichte funktioniert, scheint noch nicht die praktische Frage nach ihrem Sinn beantwortet zu sein. Im Falle der Naturwissenschaft ist klar, wie beide Momente, Funktion und Sinn, zusammenhängen. Kant sagt das in der ›Vorrede‹ zur ›Kritik der reinen Vernunft‹. Das Thema des analytischen Teils dieses Werkes ist die Bedingung der Möglichkeit von Naturwissenschaft. In der Zu Ferdinand Christian Baur s. die Einführung von Ernst Käsemann in: F. C. Baur, Historisch-kritische Untersuchungen zum Neuen Testament, 1963 (F. C. Baur: Ausgewählte Werke, hrsg. v. Klaus Scholder, Bd. 1).

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Wissenschaft und Geschichte bei Droysen

›Vorrede‹ zur zweiten Auflage erklärt Kant im Gedanken an Galilei und Newton: die Wissenschaft der Natur bringe die von den NaturErscheinungen verhüllten Natur-Gesetze ans Licht. Die Grundlage der Naturerkenntnis (die ›Experimentalmethode‹) ist ein Entwurf, eine Konstruktion des eigenen Verfahrens der Natur. Das scheinbar nur abspiegelnde Erkennen ist hier in Wahrheit ein produktives Voll­ ziehen der Bewegungsgesetze. Wer die Natur in dem neuzeitlichen (von Kant interpretierten) Sinn von Wissenschaft »erkennt«, der legt damit ihre Macht frei. Die neuzeitliche (von Descartes zuerst analysierte) Naturwissenschaft ist der modernen Fabrikations- und Explosionstechnik nicht nur vorausgegangen. Sie ist vielmehr von Anfang an und innerhalb ihres rein theoretischen Erkenntnisinteres­ ses von Galilei bis zu Norbert Wiener »technisch«. Sie hatte ihren Anfang darin und blieb dabei bis heute, daß sie das, was hier erkannt werden sollte, ansetzte als die unsichtbaren, »mathematischen« Akti­ onsprozesse der Natur. So liegt trotz des ganz unpragmatischen Erkenntnisinteresses der schöpferischen Forscher ein Recht in der (zumeist nur psychologisch gemeinten) Behauptung, daß der Sinn der Naturwissenschaft in der Ermächtigung zu Voraussagen beruhe, daß das Erkennen hier prognostischen Charakter habe. Was soll man, damit verglichen, von der Geschichts-, von der Vergangenheitserforschung sagen? Was sagt Droysen? Zunächst scheint es so, als ob er – wie andere, spätere (die »neukantianischen«) Theoretiker – in der Geschichtswissenschaft das genaue Gegenteil zur Naturwissenschaft sieht. Der Sinn der wissenschaftlichen Grundlage der Geschichtswissenschaft, der Quellenkritik, wird unmißverständ­ lich damit erklärt, daß dieses neue, dieses methodische Verfahren die bis dahin meist übliche, auf jeden Fall aber ständig widerfahrende Verfälschung des Vergangenen nach den Gesichtspunkten der Gegen­ wart beseitigt. Das heißt: zur Wissenschaft wird der Geschichtsbezug insofern, als er das Fürwahrhalten von bloßen Meinungen ausräumt, deutlicher: als er das methodische Mittel einer (mit F. Chr. Baur zu sprechen) »Scheidung von Vergangenheit und Gegenwart« gewonnen hat. Droysen erklärt: »Die größte Gefahr und Schwierigkeit für histo­ rische Auffassung ist die, daß wir unwillkürlich die Anschauungen und Voraussetzungen unserer eigenen Gegenwart mit heranbringen und unser Verständnis der Vergangenheit uns damit vermitteln.« Als ein Beispiel dafür nennt er die geschichtlichen Dramen Shakespeares. Er fährt fort: »Nur auf dem Wege der behutsamen und methodischen Interpretation ist es möglich, die sicheren Resultate zu gewinnen,

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3 Die ›historische Bedeutung‹

die unsere Vorstellung von der Vergangenheit berichtigen und uns befähigen, sie nach ihrem eigenen Maße zu messen« (156).13 Das wissenschaftliche Prinzip der Geschichtswissenschaft ist also, scheinbar in genauem Gegensatz zu dem produktiven Grundzug der Naturwissenschaften, rezeptiv auf das tatsächlich Vergangene der Vergangenheit gerichtet. Daß dies nur scheinbar so ist, die moderne Geschichtswissenschaft nur scheinbar das Gegenteil der neuzeitlichen Naturwissenschaften ist, wird klar, wenn man nach der ersten Frage: wie das wissenschaftliche Prinzip dieser Wissenschaft beschaffen ist, eine zweite Frage stellt: wie denn dieses Prinzip in der wissenschaftli­ chen Arbeit realisiert wird. Die Antwort darauf gründet nach Droysen in dem ontologischen Sachverhalt, den er ganz allgemein »historische Bedeutung« nennt, konkreter und mit dem Strukturmerkmal, mit dem er »die geschichtliche Arbeit nach ihren Zwecken« bestimmt: »die Kontinuität des Werdens und der sittlichen Mächte«14, kurz: »die bewegenden Mächte« (185). Auch hier wird das Gemeinte am besten klar durch den Gegen­ satz. Die Aufgabe historischer Erkenntnis besteht grundsätzlich darin, überhaupt erst aus »Geschäften« »Geschichte« zu machen (183). Das heißt nicht, daß wir, die Erkenntnis-»Subjekte«, etwa künstlich etwas in die Überlieferung hineinsehen. Im Todesurteil der Athener über Sokrates wird man auch unabhängig von der historischen Logik Hegels, nach der »Wissenschaften und das Verderben ... immer mit­ einander verpaart sind« (›Die Vernunft in der Geschichte‹, hrsg. v. Hoffmeister, 1955, S. 71), das Zeichen einer epochalen Wende sehen dürfen. Und Alexander war gewiß nicht nur für die Antike, er ist auch für uns »groß«: weil seine Eroberungen das bis dahin auf sich selbst begrenzte Griechenland der »Klassik« auflösten und die Grundlage

Wie wenig freilich Droysen selbst ein Forschungsprinzip dogmatisierte, kann ein später Brief an seinen Sohn Gustav (vom 16. Februar 1884) zeigen, wo er schreibt, es gelte »das Wesen der Geschichte größer und weiter zu fassen, als die handwerks­ mäßige Methode, die bei uns eingerissen ist, gestattet und duldet. Für den Einen Giotto oder Dante gebe ich den ganzen Bettel von ›Tatsachen‹, wie sie die dumme, kritisch und engbrüstig erforschte Wellenbewegung rastlos wechselnder politischer Äußer­ lichkeiten nennen, mit Vergnügen dahin. Solche Bilder, solche Gedichte, das sind Tat­ sachen, das sind echte, unverfälschte Urkunden, in die man sich vertiefen muß und kann, wenn man solche vergangenen Zeiten lebendig und mitempfindend wie die Gegenwart auffassen will; sie sind noch Gegenwart« (Briefwechsel II, S. 975). 14 Hegel spricht von »sittlichen Mächten« in den ›Grundlinien der Philosophie des Rechts‹, § 145. 13

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Wissenschaft und Geschichte bei Droysen

des römischen Welt-Reiches und damit der europäisch-asiatischen Welt-Geschichte schufen. Die beiden Beispiele zeigen, was Droysen mit der »historischen Bedeutung« meint: den Maßstab zur Beurteilung eines vergangenen Geschehens nach seinen Entwicklungsfolgen. Was einem Gesche­ hen dazu verhilft, nicht nur »Geschäft« gewesen zu sein, sondern »Geschichte« zu werden, das ist seine Rolle im umgreifenden Prozeß, seine Stellung in der (teils evolutionären, teils revolutionären) Konti­ nuität des Wirkungszusammenhangs. Dieser Zusammenhang ist zunächst immer nur ein jeweiliger: ein epochaler, ein nationaler. Doch der Veränderungshorizont ist stets derselbe, nämlich das, was (für Droysen wie für Hegel) den »Arbeits«charakter der Geschichte ausmacht, ihren (was für beide das gleiche sagt) »sittlichen« Grundzug: die jeweilige Differenz zwischen Herkunft und Zukunft, zwischen dem, was man »Sein« und »Sollen« nennt. Das Vergangene kann dadurch als ein geschichtlicher Prozeß erkannt werden, weil jeder Moment der Vergangenheit an sich selbst durch seinen Folgeaspekt, durch seinen »Tat«charakter, bestimmt ist. Geschichtserkenntnis ist für Droysen eine produktive Erkennt­ nis: das »Verstehen« eines jeden Momentes unter dem Maßstab seiner Wirkung. Der Erkenntnishorizont in Gestalt der »historischen Bedeutung«, der »Kontinuität des Werdens« setzt »Geschichte« von vornherein als Wirkungsablauf an. Die »historische Bedeutung« ist die Stellung, die ein Ereignis, eine Handlung im Ganzen des jeweils dazugehörenden geschichtli­ chen Verlaufs einnimmt. Sie unterscheidet sich von derjenigen Bedeu­ tung, die das Ereignis oder die Handlung für die jeweils Agierenden oder Betroffenen hatte. »Was der einzelne will und tut und schafft, ist sein Geschäft und auf seine Gegenwart gerichtet, ist nicht Geschichte, sondern wird erst Geschichte durch die Art der Betrachtung, in die wir es stellen und auffassen. Erst für die Geschichte ist sein Tun ein Moment in der Kontinuität des Werdens und der sittlichen Mächte, und in diesem Zusammenhang des Werdens und der Kontinuität faßt es die historische Forschung« (183). Der Gegensatz, um den es Droysen geht, ist also nicht unmittelbar der von Individuum und Gesellschaft, sondern der von Gegenwart und Prozeß. Die hier ausdrücklich negierte »Gegenwart« kann ebenso wie die eines »ein­ zelnen« auch die einer Gruppe, einer Polis, eines »Volkes«, sein, so wie umgekehrt gerade große »einzelne«, Sokrates oder Alexander, auf ihre »historische Bedeutung« hin befragt werden.

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3 Die ›historische Bedeutung‹

Was die »Geschichte« vom »Geschäft« unterscheidet, das sind die »bewegenden Mächte«, die Wirkungsgründe und Wirkungskräfte, in denen die »Kontinuität des Werdens« besteht. Das Zeitalter des Hellenismus, dessen Entdeckung durch den jungen Droysen heute selbst eine Leistung von geschichtlicher Größe genannt werden kann, war aufgrund seiner eigenen Konstitution gewissermaßen dazu prä­ destiniert, zu Droysens erstem großem Thema zu werden. Und Droy­ sen brauchte das (von Hegel durchdachte) Prinzip der »historischen Bedeutung« nur beizubehalten, um mit dem gleichen Interesse, das den umfassenden Antikenkenner auf die Umschlagsepoche zwischen Griechenland und Rom geführt hatte, zum historischen Vorarbeiter und Verteidiger der preußisch-deutschen Reichsgründung, dem aktu­ ell-politischen Problem seiner Zeit und seines Landes, zu werden. Ihrem Horizont nach ist die moderne Geschichtswissenschaft, obwohl Vergangenheitserkenntnis, sowenig rezeptiv wie die Natur­ wissenschaft. Damit scheint jedoch noch nicht dasjenige Selbstver­ ständnis, das Droysen mit allen Theoretikern der Geschichtswissen­ schaft teilt, in Frage gestellt zu sein, daß nämlich die Basis der Geschichtswissenschaft, die Quellenkritik, in der Scheidung von Vergangenheit und Gegenwart besteht. Denn die Beurteilung der Vergangenheit nach dem Maßstab der historischen Wirkung scheint doch durchaus verträglich zu sein mit der methodischen Bemühung, ja diese geradezu zu fordern, daß man sich den Überlieferungen gegenüber von verfälschenden Gegenwartsanalogien frei macht. Die Frage ist nur, ob das eigene Selbstverständnis den Sachver­ halt trifft. Daß Droysens historische Forschungen, ihrem methodi­ schen Verfahren und ihren Resultaten nach, verbindliche Erkennt­ nisse vermitteln und alles andere als ›narrative Fiktionen‹ sind, kann niemand bezweifeln. Trotzdem ist die Frage, ob in seinem Fall, in die­ sem für die moderne Geschichtswissenschaft in vieler Hinsicht, nicht zuletzt für deren positivismuskritischen Aspekt, paradigmatischen Fall, das ausdrückliche Ziel der Scheidung von Vergangenheit und Gegenwart erreicht ist oder ob das dafür aufgestellte methodische Prinzip der historischen Forschung und das diesem Prinzip zugrun­ deliegende kategoriale Konzept des Themas dieser Forschung eine Zurichtung der Überlieferung bedeuten, die trotz der Beweisbarkeit der Resultate einer Verfälschung der Vergangenheit und damit unse­ res Bezuges zu ihr gleichkommt. Wie Droysen die grundsätzliche Absicht der Scheidung des Ver­ gangenen vom Gegenwärtigen konkret versteht, wird daran deutlich,

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Wissenschaft und Geschichte bei Droysen

wie er seine ebenfalls prinzipielle Ablehnung jedes »poetischen« Vergangenheitsbezugs begründet. Die Geschichtsdarstellung einer Dichtung muß nicht etwa von Fall zu Fall (wie dem von Shakespeare), sondern prinzipiell abgelehnt werden: weil Dichtung Dichtung und nicht Wissenschaft ist. Der »Poet« wird, wie »der gemeine Mann«, »das Ferne und Fernste sich nach der Analogie oder vielmehr in der gleichen Art und Form wie das uns gewohnte Gegenwärtige denken« (200). Der Grund für das nach Droysen wesenhaft unhistorische Den­ ken des Poeten ist der gleiche, wegen dem Droysen in objektiver Hinsicht die »Psychologie« von der »Geschichte« absetzt. Die »psy­ chologische« Interpretation »dichtet« »zu dem, was da geschieht, die Charaktere«. Auch hier wieder ist das Beispiel Shakespeare. »Er erklärt aus dem Inneren der Menschen ihre Schicksale.« Von diesem guten Recht der Poesie: »Personen« »leibhaft vorführen« zu können, ist die Forschung genauso weit entfernt wie von dem Mythos, der die Gottheit »antropomorphisiert« (174). »Die Poesie ... durfte aus der innersten Seele dessen, den sie uns darstellt, sein Tun und Leiden erklären. Warum darf unsere Wissenschaft nicht dasselbe tun oder versuchen? Empirischer Art, wie sie ist, muß sie möglichst exakt zu sein suchen, und exakt ist sie in dem Maße, als sie für die einzelne Aufgabe, die einzelne Frage, die sie sich stellt, aus dem kritisch verifizierten Material in möglichst gesicherter Schlußfolgerung ihre Ergebnisse zieht« (185). Nach der zunächst erwähnten Argumentation: »Geschichte« ist mehr als »Geschäft«, würden die Themen der »Poesie« von denen der »Historie« fernzuhalten sein, weil sie einen Rückfall in das bloße »Geschäft« bedeuten würden. Nach der jetzt genannten Argumenta­ tion ist ein »poetisches« Verfahren nicht empirisch, d. h. nicht »exakt« genug. Es ist der Anspruch auf Sicherheit, der außerwissenschaftliche Verfahrensweisen verbietet.15 15 Droysen verweist bei seiner Kritik an dem unhistorisch-»rhetorischen« (418) Ver­ fahren der »psychologischen« Interpretation zumeist auf Macaulay und dessen Nähe zum »historischen Roman« (74, 140f., 418f.). Es soll nicht bestritten werden, daß er sich dabei konkret gegen W. v. Humboldt wendet (von dem der Ausspruch stammt, daß »die Historie Kunst und Wissenschaft zugleich sei« [419]) wie auch gegen Ranke mit seiner Konzeption der Historie als einer »Kunstreligion«, die Gadamer (Wahrheit und Methode, S. 199 u. 202) der »ästhetischen Selbstvergessenheit ... des großen epi­ schen Dichtertums« an die Seite stellt. Wir möchten hier nur den Grund dieser Zeit­ kritik erwägen, Droysens Identifikation des geschichtlichen Erkennens mit dem (auf

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3 Die ›historische Bedeutung‹

Von dieser Argumentation fällt ein Licht auf den wissenschafts­ praktischen und wissenschaftstheoretischen Ansatz von geschichtli­ cher Wirklichkeit. Ist es so selbstverständlich, wie man glaubt, daß Geschichte als »Kontinuität des Werdens« definiert wird, als der Ausdruck der »bewegenden Mächte«? Die Frage, die sich hier erheben läßt, ist die, ob dieser Grundansatz des Gegenstandes der historischen Wissenschaft etwa ebenso, wie das der erwähnte Grund der Ableh­ nung der »Poesie« besagt, eine Folge des wissenschaftlichen Verfah­ rens ist. Sind – in unreflektierter Form natürlich – die »bewegenden Mächte« darum der Maßstab für das geschichtswissenschaftliche Interesse, weil der Maßstab zur Bestimmung der Gegenstände das eigene, das für die eigene Zeit konstitutive Erkenntnisprinzip ist: das Prinzip der Sicherheit? In dem Abschnitt ›Die geschichtliche Arbeit nach ihren Zwecken‹ sagt Droysen zu der Frage, wie es mit dem Sinn der Geschichte in der Geschichtswissenschaft steht, zunächst (in § 80 des ›Grundrisses‹): »Alles Werden und Wachsen ist Bewegung zu einem Zweck, der in der Bewegung sich erfüllend zu sich selbst kommen will.« Und dann (im nächsten Paragraphen): »Der höchste ... Zweck ist empirisch nicht zu erforschen.« (Beides 336.) Die Relativierung des Wissensinhaltes ist eine Folge der Verabsolutierung der Wissensform. Diese beiden Momente, die Gewißheit im Partiellen und die Ungewißheit im Ganzen, bilden nun freilich kein statisches Neben­ einander, sie sind vielmehr in dynamischer Weise verbunden: im Gedanken des Erkenntnisfortschritts. Der Begriff der Wissenschaft als »Forschung« ließe sich demnach definieren als Sicherheit im Pro­ zeß. Der Zusammenhang zwischen wissenschaftlichem Verfahren und Vorbegriff ihres Gegenstandes ist hier von Droysen ausdrücklich genannt: Was in der Geschichte selbst deren eigene Wahrheit, ihre »Notwendigkeit und Allgemeinheit«, ausmacht, das ist »die Konti­ nuität der fortschreitenden geschichtlichen Arbeit« (29).16 Kontinui­ der »Quellen-Kritik« basierenden) wissenschaftlichen Verfahren und in der Alterna­ tive zu dem, was er (trotz seiner Kenntnis der griechischen Literatur) als »Poesie« ansieht. Das Bezweifelbare dieses ganzen Schemas ließe sich erläutern in einer Gegen­ überstellung mit der (am Begriff der »Denkweisen« orientierten) Konzeption des Quellen-Studiums bei J. Burckhardt (s. seine Einführung in die ›Griechische Kultur­ geschichte‹). 16 So häufig sich Droysen mit seinem Geschichtsbegriff auch auf Aristoteles’ Gedan­ ken einer epidosis eis hauto (›De Anima‹, II, 5, 417b), eines »Zuwachs zu sich selbst« (9), beruft, so wenig liegt darin ein Grund, den Unterschied zwischen dem, was Aris­

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Wissenschaft und Geschichte bei Droysen

tät und Steigerung und beides nicht gemeint als die vegetative Aus­ wicklung eines Keimes, als »Entwicklung« (29; vgl. Hegel: ›Die Vernunft in der Geschichte‹, hrsg. v. Hoffmeister, S. 90 u. 151f.), son­ dern als Verwirklichung der Freiheit, als »Arbeit«, das macht nach Droysen die Grundstruktur der Geschichte aus. Und es macht ebenso die eigene Wahrheit des wissenschaftlichen Verfahrens, die Grund­ struktur der Historie aus. In dieser doppelseitigen Grundbestimmung werden drei Momente vorausgesetzt: sukzessiver Zusammenhang (im Begriff der »Kontinuität«), Richtungsbestimmtheit (im Begriff des »Fortschrei­ tens«) und Handlung (im Begriff der »Arbeit«). Als geschichtliche Wirklichkeit wird also von vornherein nur der­ jenige Aspekt der Vergangenheit zugelassen, der dem methodischen Prinzip der Exaktheit entgegenkommt. Was die Historie erforscht, was sie thematisiert, das sind diejenigen Momente der Vergangenheit, die von »historischer Bedeutung« sind, nach Droysens Begriff: die »bewegenden Mächte«, die Wirkungsgründe und die Wirkungskräfte, in denen die »Kontinuität des Werdens« besteht. Die Geschichte, die das Thema von Geschichtswissenschaft bildet, wird von vornher­ ein angesetzt als Wirkungszusammenhang. Die Grundkonzeption des Themas der Geschichtswissenschaft entspricht deren eigenem Grundzug als Wissenschaft. Es ist klar, daß das Problem, das hier entsteht, nicht von der Art ist, daß man einen ›Fehler‹ aufweisen könnte, der in falschen Ergebnissen besteht. Damit würde man auf Droysen nur – und mit noch weniger Erfolg – jenen Beckmesser-Eifer anwenden, den Hegel gegen seine Geschichtsphilosophie provoziert hat. Es handelt sich um eine unbeabsichtigte Zurichtung der Überlieferung, wo, im Glauben ›rein empirisch‹ zu verfahren, nicht erkannt wird, daß man schon im Ansatz die Vergangenheit in erlaubte und unerlaubte Aspekte gespalten hat. Das Problem ist, ob die Fragen, die sich dem Prinzip des »forschenden Verstehens« unter dem Horizont der »historischen toteles (der dabei an das Sich-verwirklichen eines denkenden oder eines bildenden Menschen denkt) und Droysen damit meinen, zu übersehen. Der (in neuzeitlichen Begriff des Willens gründende) Gedanke eines »steigernd sich summierenden Wachs­ tums« – so faßt Max Müller (s. o. Anm. 11, Nr. 2, S. 700) Droysens häufige Berufun­ gen auf jene Bestimmung zusammen (s. bes.: Historik, S. 12, 29, 192f., 326 u. 411; vgl. auch 267f.) – entspricht der Denkweise des Industriezeitalters, aber nicht der grie­ chischen. (Ich verweise dazu auf eine Tübinger Dissertation von 1977 über Kants Begriff der ›Urteilskraft‹, Urteil und Eros, von Robert Kudielka.).

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4 Herrschaft des Fachbetriebs über den Sachbezug

Bedeutung« entziehen, nicht gerade diejenigen sein könnten, mit denen man die Maßstäbe des gegenwärtig Bestehenden überwinden müßte, um die jeweils thematisierte Vergangenheit in ihrer eigenen Zeit und das heißt in ihrer Entfernung von dem, was man ›unsere Zeit‹ nennt, erkennen zu können. Umgekehrt formuliert: Es ist die Frage, ob die große »Arbeit« der erstrebten Scheidung von Vergangenheit und Gegenwart in mancher Hinsicht nicht gerade eine Aneignung, ein InBesitz-Nehmen der wissenschaftlich erschlossenen und betretenen Zeiträume durch das Forschungssubjekt ist, natürlich nicht der Person des Historikers, wohl aber des von ihm repräsentierten ›Zeitgeistes‹: eine (ungewollte) historische Kolonialsierung.

4 Herrschaft des Fachbetriebs über den Sachbezug Droysens eigene Vorstellung vom Sinn der Geschichtswissenschaft ist ein Gedanke, in dem er entschieden mit Dilthey übereinstimmt, der sich damit ausführlicher befaßt hat. Seit dem Aufkommen der histori­ schen Selbstreflexion besteht in dieser Frage ein scheinbarer, in seiner Auflösung lehrreicher Widerspruch. Der Zweck der erstrebten Schei­ dung des Vergangenen von der Gegenwart kommt in Rankes Grund­ satz von der »Selbstauslöschung« des Historikers zum Ausdruck. Dem steht scheinbar diametral entgegen der von Droysen wie Dilthey bekannte Grundsatz, durch ihre Arbeit der Selbsterkenntnis zu die­ nen. Droysen erklärt: »Die Geschichte ist das Wissen der Menschheit von sich, ihre Selbstgewißheit« (359). Nach Dilthey hat die Geschichtswissenschaft der »Selbstbesinnung« des Menschen zu die­ nen. Er betont aber, daß »in allen wissenschaftlichen Arbeiten zwei große Tendenzen zur Geltung gelangen« (Gesammelte Schriften, VII, S. 82). Und die zweite, das ist mit seinem eigenen Ausdruck die der »Selbstausschaltung« (a.a.O.). Sind das aber in der Tat zwei gegensätzliche Tendenzen, sind es überhaupt zwei Tendenzen? Was hat die eine, die »Selbstausschal­ tung«, für einen Sinn? Dilthey spricht darüber im Hinblick auf das geschichtliche Bewußtsein in der Philosophie. Er bestreitet die Sorge, daß die Philosophie sich in Relativismus und das heißt überhaupt auflösen müsse, wenn sie mit dem Wandel der Systeme im Laufe ihrer Geschichte ernst macht. Er erklärt, in Wahrheit sei die Geschichte nicht ihr Gegner, sondern ihr Arzt. Sie leiste eben das, was die Phi­ losophie selbst als ihre Aufgabe ansieht: den Menschen vom Schein

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Wissenschaft und Geschichte bei Droysen

zu befreien. Sie befreit ihn auch noch von dem letzten Schein, dem der »Metaphysik« und der »Religion«, von dem Wahn des »Absoluten«. »Schon ist gänzlich abgetan die Souveränität des einzelnen Systems, welche alle Abweichungen als Irrtümer von der leibeigenen Wahrheit absondert. Welch ein Dünkel liegt für den, der die Welthistorie über­ blickt, in diesem Wahn, die Wahrheit gepachtet zu haben. Diese Oberpriester irgendeiner Metaphysik verkennen gänzlich den sub­ jektiven, zeitlich und örtlich bedingten Ursprung eines jeden meta­ physischen Systems. Denn alles, was in der seelischen Verfassung der Person gegründet ist, sei es Religion oder Kunst oder Metaphysik, spreizt sich vergeblich mit dem Anspruch auf objektive Gültigkeit. Die Weltgeschichte als das Weltgericht erweist jedes metaphysische Sys­ tem als relativ, vorübergehend, vergänglich« (VIII, S. 12). Wie positiv diese scheinbar destruktive Macht des historisch-wissenschaftlichen Denkens in der Tat von Dilthey angesehen wird, geht aus einem Nachtrag zu der großen Abhandlung über den ›Aufbau der geschicht­ lichen Welt in den Geisteswissenschaften‹ hervor: »Das historische Bewußtsein von der Endlichkeit jeder geschichtlichen Erscheinung, jedes menschlichen oder gesellschaftlichen Zustandes, von der Rela­ tivität jeder Art von Glauben ist der letzte Schritt zur Befreiung des Menschen. Mit ihm erreicht der Mensch die Souveränität, jedem Erlebnis seinen Gehalt abzugewinnen, sich ihm ganz hinzugeben, unbefangen, als wäre kein System von Philosophie oder Glauben, das Menschen binden könnte. Das Leben wird frei vom Erkennen durch Begriffe; der Geist wird souverän allen Spinnweben dogmatischen Denkens gegenüber« (VII, S. 290f.). Indem wir uns durch die historische Erkenntnis von der Bindung an vergangene »Systeme« befreien, werden wir über die Vergangen­ heit souverän (vgl. VII, 291f.). Gegenüber dieser, von Droysen sich nur im Pathos unterschei­ denden Überzeugung von der aktuell-moralischen, uns emanzipie­ renden Funktion der Vergangenheitswissenschaft als einer Genealo­ gie der Gegenwart, ausgesprochen um 1907, ist die Frage angebracht, weshalb, von Außenseitern wie Nietzsche oder Ausnahmen wie Karl Reinhardt abgesehen, die Diskrepanz dieser Theorie zur geschicht­ lichen Wirklichkeit, damals wie heute, so wenig zu denken gibt. Hängt diese theoretische Selbstsicherheit mit dem zusammen, was J. Burckhardt als die »Spezialisierung unserer Zeit« kritisiert (z. B. in den ›Weltgeschichtlichen Betrachtungen‹, Kapitel 2, Abschnitt 3), und was, in dem von Burckhardt gemeinten Sinn jenes Ausdrucks durch

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4 Herrschaft des Fachbetriebs über den Sachbezug

»interdisziplinäre« Verfahren nicht geändert wird: die Herrschaft des Fachbetriebs über den Sachbezug17, die mit der Historisierung der Gegenstände sich unbemerkt verbindende Verabsolutierung des Ver­ fahrens? Daß die Geschichte überhaupt als Wirkungszusammenhang angesetzt wird, daß die Prinzipien des geschichtlichen Geschehens, die Prinzipien der – von Droysen oft betonten – Zeit-Struktur der Geschichte als »Kontinuität« und »Steigerung« begriffen werden, daß bei der Konzeption der Geschichte als eines Wirkungszusammen­ hangs kein Ereignis anders wahrgenommen wird als durch seine Stelle im Prozeß, die Geschichtsforschung also durch die Konzeption ihres Themas die spätere Geschichtsverleugnung selber angebahnt hat: das sind Vorentscheidungen, die als solche nicht erkannt werden. Der Kern der Diskrepanz zwischen historischer Theorie und geschichtlicher Praxis liegt darin, daß das theoretische Forschungs­ pathos einer Scheidung von Vergangenheit und Gegenwart (bis hin zu Droysens großer Einsicht in die Bedeutung des Wandels der »Anschauungen«) verkoppelt ist mit einer praktischen Gegen­ wartsherrschaft: unserer Unterwerfung unter die Wirklichkeits- und Erkenntnismaßstäbe, die die eigene Zeit für absolut hält. »Objektivi­ tät« postulierend, konstruieren wir, ohne es zu merken, das Vergan­ gene nach den unsere eigene Zeit bedingenden Kategorien, unterwer­ fen das Gewesene, statt uns von ihm verändern zu lassen, dem, was Burckhardt das »Urteil des Egoismus« nennt (›Weltgeschichtliche Betrachtungen‹, letztes Kapitel). In diesem Sachverhalt liegt ein inhaltliches Motiv und eine inhaltliche Funktion des methodologischen Formalismus, den Droy­ sen als Gefahr schon sah, auch wenn ihm der Gedanke fernstehen 17 In einer Reflexion auf Burckhardt selbst gibt dafür ein Beispiel Jörn Rüsen – der Verfasser vorzüglicher Arbeiten über Droysen (s. o. Anm. 10 u. 11, Nr. 5) – in seinem Burckhardt-Beitrag zu der Sammlung Deutsche Historiker, III, 1972, S. 7–28. Es ist der Ausdruck einer aus einer Formalisierung Hegels und Droysens entwickelten Geschichtsdoktrin, deren Arbeit hier zu einem Mühlespiel mit der apodiktischen Alternative: entweder historische Theorie der emanzipativen Aktualität oder ästheti­ sche Fiktion einer apolitischen Mythologie, geworden ist – und die sich, auch abge­ sehen von ihrer moralisch-kritischen Intention, durch ihr historisch-kritisches Ver­ fahren (jeder Punkt entwickelt aus den Zeitbedingungen und bewiesen durch den Wortlaut von Zitaten) für legitimiert ansehen wird. Man kann den Aufsatz Punkt für Punkt an dem Kapitel über Burckhardt in dem ebenfalls 1972 erschienenen Buch des Althistorikers Karl Christ (s. o. Anm. 11, Nr. 6) messen. – Über ›Burckhardt und Droysen‹ s. Werner Kaegi in der Festschrift für Gerhard Ritter, 1950, S. 342–352.

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Wissenschaft und Geschichte bei Droysen

mußte, daß seine eigene Konzeption von Geschichte als des Prozesses eines rastlos fortschreitenden Sichsteigerns die gefürchtete Formali­ sierung und Weltfremdheit fördern könnte. Im hohen Alter (in einem Brief vom 11. März 1881 an den Historiker Hermann Baumgarten) schreibt er: »Ich sehe in der Art und dem Gang, den die Geschichts­ studien allmählich bei uns nehmen, die Gefahr, daß wir vor lauter Methode und Altklugheit und sich selbst bespiegelndem und produ­ zierendem Forschungsvirtuosentum die Sache ... vergessen und ver­ lieren.« »Den Schaden davon«, daß »das Mittel der Zweck und das Instrument ... die Sache ist, die damit gemacht werden will«, »haben zunächst unsere Schulen« (Briefwechsel II, S. 942).

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Natur und Geschichte bei Schelling18

Die Ausbildung der Naturphilosophie und das Interesse an der Geschichte hat für Schelling den gleichen Grund. Dieser Grund macht – trotz aller scheinbaren Ähnlichkeit – den Abgrund zwischen Schelling und Hegel aus: die Natur ist mehr als das bloße ›Außen‹, das darauf wartet, durch die Arbeit des ›Geistes‹ verinnerlicht (›verzehrt‹) zu werden, und die Geschichte ist mehr als der bloße Fortschritt zu dem Ziel absoluter Zeittilgung. Der einheitliche Grundgedanke Schellings besteht aus den folgenden vier Momenten: 1. Schellings Naturphilosophie hat ihren realistischen (historischlegitimen und von der Folgezeit bestätigten) Sinn darin, daß sie das seit Descartes für die Neuzeit maßgeblich gewordene Prinzip der Subjektivität als Prinzip der Wirklichkeit im Ganzen nachzuweisen sucht. Schelling wiederholt damit auf dem Boden und mit den Mitteln der Kantischen Kritik das Unternehmen von Leibniz: Die Wirklichkeit im Ganzen, auch die Materie und das unbewußt Lebendige, ist willensmäßig strukturiert. ›Seiend‹ heißt: autonom. 2. »Auf dem Boden der Kantischen Kritik«, das bedeutet: Diese Konzeption der Wirklichkeit kann nur ausgeführt werden, wenn die von Kant erkannte Schranke der Erkenntnis überwunden werden kann. Wie das möglich ist, wird klar, wenn man sich den Grund der Schranke klarmacht. Keine Schranke besteht, wie Kant gezeigt hat, für physikalische Erkenntnis. Das erkennende Subjekt (der Mensch als der Akteur der Vernunft) kann sich das zu Erkennende, zum Beispiel die Bewegung des Mondes um die Erde, als eine Relation von Gegenständen (von Objekten) vorstellen. Ein Baum dagegen, der erstens aus dem Keim sich selbst hervorgebracht hat, zweitens durch die Wurzeln und das Laubwerk sich selbst als Individuum ständig regeneriert und der drittens durch die Bildung neuer Keime sich selbst als Art reproduziert – ein Baum wird in seiner wahren Erstveröffentlichung: Walter Robert Corti. Worte der Freundschaft und Dankbarkeit zu seinem sechzigsten Geburtstag am 11. September, hg. v. Dino Larese und Hermann Strehler, Amriswil 1970, S. 57–62. 18

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Natur und Geschichte bei Schelling

Verfassung gerade nicht erkannt, wenn er Objekt für ein Subjekt ist. Er ist ja selber Subjekt. Nach Kant muß darum der Mensch nicht erst Gott gegenüber, sondern auch schon einem Grashalm gegenüber auf Erkenntnis verzichten. Es kann nach Kant keinen »Newton des Grashalms« geben, nämlich eine Erkenntnis des Lebendigen, die sich dadurch als Erkenntnis im neuzeitlichen Sinne ausweisen müßte, daß sie das Erkannte selbst hervorbringen kann. (Die Mondrakete gehört, von der Steuerungsautomatik abgesehen, noch ins Zeitalter Newtons.) Die Folgezeit hat, in Gestalt der Genetik, nun bewiesen, daß ein Newton des Grashahns doch möglich ist. (Wobei in diesem Zusammenhang offenbleiben kann, ob dieser Newton des Grashalms Darwin oder Norbert Wiener heißt, das Neue also die Züchtung oder die Steuerung ist.) In der Begründung (Erklärung) dieser neuen Möglichkeit liegt die Bedeutung von Schellings Naturphilosophie. 3. Schelling sah, daß die neue Erkenntnismöglichkeit nur zu gewinnen war, wenn der ganze bisherige Erkenntnisbereich über­ schritten würde. Überschritten werden mußte der immer noch primär rezeptive (oder theoretische) Charakter wissenschaftlicher Erkennt­ nis. Wenn nicht nur die Ortsbewegung von Naturkörpern, sondern die Produktivität der Natur erkannt werden soll, dann kann das nur eine selber produktive Weise von Erkenntnis leisten. Anders gesagt: Wenn das zu Erkennende selbst die Struktur von Subjektivität hat (selbsttätig ist), dann kann das erkennende Subjekt nicht auf seiner Position als Grundlage der Erkenntnis beharren. Das (bleibende) Prinzip von Wahrheit, nämlich Übereinstimmung zwischen Erken­ nendem und Erkanntem, kann dann nur zustande kommen, wenn zwischen beiden ›Systemen‹ ein Wechselverhältnis in Gang kommt – ähnlich dem, das innerhalb der Praxis, im Handeln, zwischen den wissentlich-wollenden ›Subjekten‹ stattfindet. 4. Das Verhältnis der Naturerkenntnis zur Praxis geht aber über diese bloße Analogie noch hinaus. Wenn die Natur (die Wirklichkeit im ganzen) in der Tat so beschaffen ist, wie dies Schelling (auf Kant gestützt) postuliert, dann steht diese postulierte Verfassung der Wirk­ lichkeit in einem Widerspruch zu der bestehenden Vorstellung von Wirklichkeit, zur Wirklichkeitskonzeption der bestehenden Wissen­ schaft, wonach Wirklichkeit pure Objektivität (pure ›Dinglichkeit‹) ist. Dieser – für wahr gehaltene – Anschein, das Weltbild der Theorie, hat nun aber seinen Grund keineswegs in der Theorie selbst, sondern darin, daß der Mensch sich in seinem Handeln (in seinem Wollen) als pures Subjekt erfaßt, indem er sich die Wirklichkeit als Objektivität

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Natur und Geschichte bei Schelling

entgegenstellt. Die Unwahrheit der bestehenden Theorie hat ihren Grund in der bestehenden Form der Praxis. Das besagt: wenn die bestehende Vorstellung der Menschen von der Wirklichkeit: Natur als Objekt der Wissenschaft, als Material des Handelns, in der Tat unwahr ist, dann kann die Überwindung dieser Unwahrheit nur durch eine Veränderung der Praxis zustande kommen. Das Problem der Wahrheit erweist sich für Schelling als ein Problem der Ethik. Die aktuelle, weltgeschichtliche Bedeutung dieses Problems wird Schelling erst seit seiner ›Weltalter‹-Philosophie und in seiner Spätphilosophie klar (darauf soll hier nicht eingegangen werden). Sogleich klar ist Schelling aber der Bereich dieses Problems. Das Außereinander von Subjekt und Objekt und das Nebenei­ nander von Theorie und Praxis ist schon immer ungültig im Bereich der (von Philosophie und Wissenschaft bis zur Zeit Kants ausdrück­ lich ausgeklammerten) Geschichte. Hier nämlich besteht von jeher ein produktives Wechselverhältnis zwischen Natur-Wirklichkeit und menschlicher Freiheit, so nämlich, daß aus beiden ›Faktoren‹ eine zweite, neue Wirklichkeit entsteht. Die Andersartigkeit der zweiten gegenüber der ersten liegt darin, daß das Entstehen hier der eigentliche ›Zustand‹ ist. Die zweite, neue – die geschichtliche – Wirklichkeit ist, im Unterschied zur Natur-Wirklichkeit, immer nur halb ›wirklich‹, in permanenter Veränderung begriffen. Vom Menschen wird die produktive Wechselwirkung zwischen ihm und der Natur erfahren in der Weise eines Widerspruchs. Der Mensch sieht aus seiner Freiheit (aus seinen Absichten und Interes­ sen) Wirkungen hervorgehen (im Guten wie im Schlimmen), die nicht allein in seiner Macht lagen. Die höchsten und insofern lehrreichsten Beispiele dafür sieht Schelling in den alten und neuen Tragödien dargestellt, und er spricht darum von einer »tragischen Dissonanz« (10, 11619): Der Mensch erfährt in der Geschichte, daß in seine Freiheit eine »verborgene Notwendigkeit« eingreift (3, 59520). An diesem Widerspruch ist nun für Schelling das Entscheidende der Widerspruch selbst. Die Erfahrung des nichtgewollten Ausgangs ist kein Einwand gegen die gleich wahre Erfahrung des gewollten Anfangs. Beides zusammen macht die doppelte Bedingung des Han­ 19 Zitiert nach: F. W. J. v. Schellings sämtliche Werke, Bd. I-XIV, Cotta: Stuttgart und Augsburg, 1856–1861. In der Ausgabe der Wiss. Buchgesellschaft: F. W. J. Schelling, Schriften von 1813–1830, Darmstadt 1968, S. 398. D. R. 20 Vgl. die vorige Anmerkung. Seitengleich in: F. W. J. Schelling, Schriften von 1799–1801, Wiss. Buchgesellschaft: Darmstadt 1967. D. R.

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Natur und Geschichte bei Schelling

delns aus: Wo Menschen annehmen (zum Beispiel sich von Philo­ sophen oder heiligen Büchern sagen lassen), daß alles von selbst geschieht, dort gibt es keine Geschichte. »Der Mensch hat nur des­ wegen Geschichte, weil, was er tun wird, sich nach keiner Theorie zum voraus berechnen läßt« (3, 589). Auf der anderen Seite kann der Handelnde nur dann »über die Folgen seiner Handlung ruhig sein«, »wenn er sich bewußt sein kann, daß seine Handlung zwar von ihm, von seiner Freiheit, die Folgen aber oder das, was aus dieser Handlung für sein ganzes Geschlecht sich entwickelt«, nicht von seiner Person abhängig ist (10, 116; vgl. 3, 595). »Ohne diese Voraussetzung«, nämlich eines Zusammenhanges von Freiheit und Notwendigkeit, »würde nie ein um die Folgen seiner Handlung ganz unbekümmerter Mut, zu tun, was die Pflicht gebietet, ein menschliches Gemüt begeis­ tern; ohne diese Voraussetzung könnte nie ein Mensch wagen, eine Handlung von großen Folgen zu unternehmen, wäre sie ihm selbst durch die heiligste Pflicht vorgeschrieben« (a.a.O.). In dieser praktischen Bedeutung versteht Schelling den theologi­ schen Begriff des ›Glaubens‹. Glaube ist nicht ein Für-wahr-Halten dort, wo man nicht mehr »wahrnehmen« kann, sondern der »Mut, zu Handeln« (3, 595). Die Alternative eines theoretischen Wissens hat hier gar keinen Platz. Schelling macht diesen eigentümlichen Sachverhalt an einem Gleichnis klar: »Wenn wir uns die Geschichte als ein Schauspiel denken, in welchem jeder, der daran Teil hat, ganz frei und nach Gutdünken seine Rolle spielt, so läßt sich eine vernünf­ tige Entwicklung dieses verworrenen Spiels nur dadurch denken, daß es Ein Geist ist, der in allen dichtet ... Wäre nun aber der Dichter, unabhängig von seinem Drama, so wären wir nur die Schauspieler, die ausführen, was er gedichtet hat. Ist er nicht, unabhängig von uns, sondern offenbart und enthüllt er sich nur sukzessiv durch das Spiel unserer Freiheit selbst, so daß ohne diese Freiheit auch er selbst nicht wäre, so sind wir Mitdichter des Ganzen und Selbsterfinder der besonderen Rolle, die wir spielen« (3, 602). Die Möglichkeit dieser wirklichen Betätigung der Freiheit besteht in eben dem, was die Geschichte zur Geschichte macht, nämlich wesenhaft Übergang zu sein, darin, daß »der letzte Grund« des Zusammenhangs zwischen Freiheit und Natur »nie vollständig objektiv«, das heißt nie gegenwärtig, wird: »Gott ist nie, wenn Sein das ist, was in der objektiven Welt sich darstellt; wäre er, so wären wir nicht« (a.a.O.).

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Natur und Geschichte bei Schelling

Das zuletzt Zitierte leuchtet unmittelbar ein. Um aber die Abgründigkeit, die hier – in Anbetracht der Geschichte – für die Philosophie entsteht, zu erkennen, muß man das zuvor Zitierte mit hinzunehmen, wonach ohne diese Freiheit, das heißt ohne die menschliche (die im Handeln sich selbst »erscheinende«) Freiheit, auch »Er selbst nicht wäre«. In dem Gleichnis von dem Schauspiel nennt Schelling die menschlichen Spieler »bloße Bruchstücke« des Dramas. Etwas später in der gleichen Schrift (dem ›System des transzendentalen Idealismus‹ von 1800) nimmt er diese Kennzeichnung noch einmal auf, um dadurch den Unterschied des Menschen zu den Naturgebilden zu bezeichnen: »Jede Pflanze ist ganz das, was sie sein soll... Der Mensch ist ein ewiges Bruchstück« (3, 608). Nach dem eben Gesagten ist klar, daß damit keineswegs die negative Beurteilung des Menschen als eines ›Mängelwesens‹ gemeint ist (so sehr auch der Tatbestand damit übereinstimmt). Gerade indem der Mensch – als Individuum und als Gattung –, an der Pflanze wie an Gott gemessen, nur ein Fragment ist, gibt es »Tradition oder Überlieferung«, das heißt »etwas nur durch Vernunft und Freiheit Mögliches« (3, 589). Für Hegel ist die Geschichte »der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit«, wo jede Zeit nur Sinn als Stufe hat. Für Schelling ist sie zu jeder Zeit die Stätte der Freiheit.

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Jacob Burckhardts Gedanke des ökumenischen Maßstabs21

Gegenüber dem, was wir ›die Wirklichkeit‹ nennen: die aktuellen Ereignisse, scheint Burckhardt der zu seiner Zeit unzeitgemäße Pro­ totyp dessen zu sein, was man heute ›Kulturpessimismus‹ nennt. Daß Burckhardt unserer Epoche gleichwohl auch und – gemessen an seinen Maßstäben von ›Welt‹ und ›Leben‹ – sogar in einer unüberbietbaren Weise zustimmte, übersehen wir nur darum, weil uns diese Zustimmung als der Ausdruck seiner Gegenwartsvernei­ nung erscheint, seine Zustimmung nämlich zu der modernen Mög­ lichkeit eines globalen Welt-Verständnisses. Burckhardt sieht eine Auszeichnung unseres, des modernen Zeitalters in der Möglichkeit der »Betrachtenden«, »die ganze vergangene und jetzige Welt in geistigen Besitz zu verwandeln« (SG 284, Z. 4–7)22. Nach seinem 21 Erstveröffentlichung: Umgang mit Jacob Burckhardt. Zwölf Studien, hg. v. Hans R. Guggisberg (Beiträge zu Jacob Burckhardt Bd. 1), Schwabe: Basel 1994, 263–281. Und auch in: Maßstäbe der Kunst- und Geschichtsbetrachtung Jacob Burckhardts (Beiträge zu Jacob Burckhardt Bd. 5), Schwabe Beck: Basel München 2006, S. 15–34. (Die Ver­ öffentlichung des Aufsatzes in dem Band ›Umgang mit Jacob Burckhardt‹ enthält an dieser Stelle folgende Anmerkung:) Der Beitrag stellt Äußerungen Burckhardts zu den Möglichkeiten eines ›universalen‹ Studiums der Geschichte zusammen, für die der Kunstgeschichte eine Schlüsselrolle zufällt. Er geht auf ein Kurzreferat zurück, das der Vf. während des Burckhardt-Symposions im September 1984 in Trier gehalten hat. Es ist (im März 1986) im Gedanken an den Adressaten und das Thema der LützelerFestschrift wesentlich erweitert worden. Mit diesem Beispiel einer Nachbarschaft in der Orientierung der Kunsterkenntnis an den Zeugnissen menschlichen Daseins im Ganzen dieser Welt möchte der Vf. einen Dankesgruß an die Arbeit Heinrich Lützelers erneuern und vertiefen, der schon mit einem Bonner Vortrag: ›Kunst-Erkenntnis bei Jacob Burckhardt‹, von 1983 verbunden war; gedruckt in: DVJS LVIII, 1984, S. 16–37. Dessen Anstoß war ein Gespräch des Vf. mit Wilhelm Perpeet bei Gelegenheit eines noch älteren Vortrags: ›Burckhardts Bedeutung für die Ästhetik‹, auf einer Tagung der Thyssen-Stiftung 1978; gedruckt in: DVJS LIII, 1979, S. 173–190. 22 Verwendete Abkürzungen: SG: J. B., Über das Studium der Geschichte, hg. v. Peter Ganz, München 1982 WB: J. B., Weltgeschichtliche Betrachtungen (Text der von Jacob Oeri hg. Erstausgabe 1905), München 1978

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Urteilsmaßstab wird diese Möglichkeit der »Betrachtung« verkannt, wenn sie als musealer Bildungszusatz und damit nur als Schatten des heute Gegenwärtigen angesehen wird. Burckhardt sieht in der Ermög­ lichung, das Ganze dieser Welt in seiner zeitlichen und räumlichen Erstreckung »geistig« anzueignen, nichts geringeres als die positive Seite dessen, was das Spezifikum unserer Zeit als einer »Weltcultur« (ebd., Z. 1) ausmacht, das Pendant zu deren negativer Seite, die nach seiner Überzeugung in der Wirklichkeit der »Erwerbenden« beruht: der »Beschleunigung des Verkehrs«, der »Rastlosigkeit«, der »Concurrenz« (ebd., Z. 14–18). Wir sehen im »Betrachten« von Vergangenem und Entferntem nur den Rückblick und den Anblick, nur die ›Rezeption‹ und damit das Nichtwirkliche im Unterschied zur Produktion als dem eigentlich Wirklichen. Burckhardt sieht in der modernen Möglichkeit des »Sam­ melns« von Vergangenem und Entferntem eine Gegenwarts- und Zukunftspflicht, die Pflicht nämlich des Versammelns, das mehr ist, anderes ist als die Summe des je und je Gesammelten. Es handelt sich dabei nach seiner Überzeugung um das Annehmen eines Anspruchs, der unser Zeitalter prägt. Zu Beginn der Einleitungsstunde, mit der Burckhardt am 6. Mai 1874 einen viersemestrigen Zyklus zur ›Kunstgeschichte‹ eröffnete,23 skizziert er diesen »neben allen Schattenseiten« bestehenden »Vorzug unserer Zeit« folgendermaßen: »Allein unser Jahrhundert ist einer allseitigen geistigen Aneignung fähig und hat innern und äußern Sinn für alles. Die befördernden Umstände sind: der Weltverkehr in seiner jetzigen Gestalt, die Übersetzungen und die vervielfältigenden Künste jeder Art. Vorhanden waren die herrlichsten Dinge immer; jedes Zeitalter der höhern Kulturvölker hatte seine Blüten getragen, wovon trotz allen Zerstörungen ein gro­ ßer Rest sich behauptete. Nur trat Verständnis und Teilnahme für das Vergangene meist sehr zurück, – sei es: neben einer exklusiven neuen Religion; – sei es: neben einer neuen Barbarei, d. h. einer neuen Naturkraft, welche dazu bestimmt war, mit den vorgefundenen GK: ›Griechische Kulturgeschichte‹ I-IV, Bd. 5–8 der Gesammelten Werke in 10 Bänden, Basel 1955–1959. GA: J. B. Gesamtausgabe, 14 Bände, Stuttgart; Basel 1929–1934. HF: J. B., Historische Fragmente. Aus dem Nachlaß gesammelt v. Emil Dürr (erstmals 1929), Stuttgart 1957. 23 ›Über die Kunstgeschichte als Gegenstand eines akademischen Lehrstuhls‹, GA XIII, 23–28.

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Bildungselementen dereinst eine neue lebensfähige Kultur und Kunst zu erzeugen; – sei es: neben einem wirklich schon erreichten vielleicht sehr hohen künstlerischen, poetischen etc. Betrieb der Gegenwart, welche aufs stärkste von sich selbst überzeugt und mit sich selbst beschäftigt war« (GA XIII, 23f.).24

Burckhardt resümiert damit im Hinblick auf die Geschichte der bil­ denden Künste Überlegungen zur weltgeschichtlichen Sonderstellung des ›19. Jahrhunderts‹ (also unseres Zeitalters), die er in dem zwischen 1868 und 1873 mehrmals vorgetragenen Kolleg, das aus dem Nachlaß unter dem Titel ›Weltgeschichtliche Betrachtungen‹ veröffentlicht wurde, im Hinblick auf das Ganze der Aspekte »geschichtlicher Studien« geäußert hatte. In einem Passus aus der Einleitung dieses Kollegs mit der Überschrift ›Die Geschichte im XIX. Jahrhundert‹ (SG 246–248) kennzeichnet er in verschiedener Hinsicht (»äußere Förderungen«, »innere Förderungen«, Förderungen »negativer Art«, Förderungen »positiver Art«) diese moderne Ermöglichung einer »all­ seitigen geistigen Aneignung«. Das Fazit lautet hier: »So haben die Studien des XIX. Jahrhunderts eine Universalität gewinnen können wie die frühern nie« (SG 248, Z. 26f.). Kurz davor hatte er die neuartige Qualität dieses ›Universalitäts‹Gewinns prägnant bezeichnet: »Das Entfernte wird genähert; statt eines einzelnen Wissens um Curiosa entlegener Zeiten und Länder tritt das Postulat eines Totalbildes der Menschheit auf« (ebd., Z. 21–23). An diesen – generellen und prinzipiellen – »Betrachtungs«Sachverhalt erinnert Burckhardt zu Beginn des Schlußkapitels jenes Kollegs zum ›Studium der Geschichte‹: ›Die Individuen und das Allgemeine‹, das er (weil die Semesterzeit für den Kollegvortrag nicht zureichte) unter dem Titel ›Die historische Größe‹ zum Inhalt dreier öffentlicher Vorträge machte. Ähnlich wie kurz darauf in der Einlei­ tungsvorlesung zu dem ›Kunstgeschichts‹-Zyklus skizziert er hier die »spezielle Befähigung des XIX. Jahrhunderts zur Werthschätzung der Größen aller Zeiten und Richtungen« (SG 379, Z. 9f.). Obwohl der größte Teil des damit eingeleiteten Kapitels von Beispielen politischer Größe handelt, wird dieses Gebiet der Geschichte hier noch gar nicht genannt. Burckhardt beschließt den Eingangspassus, indem er an zwei selber schon den Künsten verpflichteten Schwellentaten der Hermeneutik – der Deutung antiker Kunst bei Winckelmann, 24

Absätze innerhalb von Zitaten sind hier durch Gedankenstriche bezeichnet.

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den frühromantischen Shakespeare-Übersetzungen – das moderne Rezeptions-Spezifikum der »Allseitigkeit« erneut umschreibt. »Auch das Vergangene in den Künsten und in der Poesie lebt für uns neu und anders als für unsere Vorgänger: – seit Winckelmann und seit den Humanisten vom Ende des XVIII. Jahrhunderts sehen wir das ganze Alterthum mit andern Augen als die größten frühern Forscher und Künstler; – seit dem Wiedererwachen Shakespeare's im XVIII. Jahrhundert hat man erst Dante und die Nibelungen kennen gelernt und für poetische Größe den wahren Maßstab gewonnen, und zwar einen öcumenischen« (ebd., Z. 28–35).

Der Schlußpassus des der ›Cultur‹ gewidmeten letzten Abschnitts des Anfangs-Kapitels über die ›drei Potenzen‹ skizziert den Sonderfall der eignen Zeit. Er beginnt (die ersten Wörter als Überschrift des ganzen, eine Seite umfassenden Passus unterstreichend): »Die Cultur des XIX. Jahrhunderts als Weltcultur im Besitz und in Verwerthung der Traditionen aller Zeiten, Völker und Culturen; die Literatur eine Weltliteratur« (SG 284, Z. 1–3).25

Wie steht es mit dieser von Burckhardt erkannten modernen Maß­ stab-Möglichkeit in seiner eigenen Arbeit? Dem regionalen Umkreis der Welt gegenüber: Burckhardts ›antiquarische‹ Beschränkung auf Europa, dem enzyklopädischen Umkreis der Weltkunst und Welt­ geschichte gegenüber: seine ›monumentalische‹ Auswahl weniger Lieblingsthemen; – in seiner eigenen Arbeit scheint sich Burckhardt dem Postulat eines ›Totalbildes der Menschheit‹ eher zu verschließen, als daß er ihm entspräche.

I. Unter den Lehrern, die für Burckhardt in seiner Studienzeit weg­ weisend geworden waren, lassen sich diejenigen, wo der Anstoß zugleich auch Distanz erweckte, von denjenigen unterscheiden, die lebenslang Beispiel und Vorbild blieben. In dem kurzen Lebensgang, den Burckhardt im Alter selbst verfaßte (den ›Personalien‹, die nach Basler Sitte beim Beerdigungsgottesdienst verlesen wurden), werden nach zwei Basler Theologen aus der Zeit des Studienanfangs nur zwei 25 Dieses Zitat und der es einleitende Absatz »Der Schlußpassus ...« fehlen an dieser Stelle in dem Band ›Umgang mit Jacob Burckhardt‹.

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Lehrer aus der Hauptstudienzeit in Berlin genannt: Ranke als Lehrer seiner »nunmehrigen Fachwissenschaft« und Franz Kugler, »welchem er«, wie Burckhardt hier von sich selber sagt, »im wesentlichen seine geistige Richtung zu verdanken haben sollte« (GA I, VIII). Kuglers ›Handbuch der Kunstgeschichte‹, die erste »Zusammen­ fassung der seit Winckelmann’s unsterblichem Werke in fast uner­ meßlicher Ausdehnung erhobenen Schätze« der Weltkunst26, behan­ delt in seinem ersten Kapitel ›Die Denkmäler des nordeuropäischen Alterthums, als Zeugnisse für die ersten Entwickelungsmomente der Kunst‹, ›Die Denkmäler auf den Inseln des großen Oceans‹, ›Die alten Denkmäler Amerikas‹, ›Die Kunst bei den Aegyptern und Nubiern‹, › – bei den alten Völkern des westlichen Asiens‹ sowie › – bei den alten Völkern des östlichen Asiens‹: der ›indischen Kunst‹, der ›Monumente‹ von Ceylon, Nepal, Java und der ›Kunst bei den Chinesen‹. Die ›Geschichte der Baukunst‹ von Franz Kugler, die erste Weltgeschichte dieser Gattung, behandelt im ersten Band vor den ›Hellenen‹ und ›Römern‹: das alte Ägypten und Vorderasien, nach den Römern und der ›altchristlichen Welt‹: ›die Sassaniden‹, ›die Hindus‹ und ›den Islam‹. – Vom ›Handbuch der Kunstgeschichte‹ hat Burckhardt die zweite, erweiterte Auflage herausgegeben. Und das hieß, sie nach der damals außerordentlich rasch voranschreitenden Erweiterung der Denkmälerkenntnis zu ergänzen, zuweilen auch zu korrigieren. Der ›Geschichte der Baukunst‹ hat Burckhardt mit seinem Manuskript zur ›Baukunst der Renaissance in Italien‹ nach Kuglers frühem Tod selber zum Abschluß verholfen. Bei diesem Vorbild-Horizont kann die Konzentration in Burck­ hardts eigner Arbeit auf Europa – in seinen Schriften, Vorlesungen und Vorträgen zur Kunstgeschichte wie zur ›Culturgeschichte‹ – nicht dem gleichen Fach-Kanon zuzuordnen sein, dem die Lehrund Forschungsdisziplinen unserer Kultur- und Humanwissenschaf­ ten zugehören. Verschließt sich Burckhardt dem Ganzen aller ›Welt-Kulturen‹, wenn er nur von einem, seinem Kontinent handelt? Diese geographi­ sche Frage läßt sich in ihrer Fragedimension erkennen, wenn wir sie durch die ›systematische‹ Detailfrage ergänzen: Verschließt sich Burckhardt innerhalb seiner kunstgeschichtlichen Arbeit den anderen 26 Nach dem »prospectus« (zur Beilage über Denkmäler der Kunst), der der zweiten Auflage des ›Handbuchs der Kunstgeschichte‹ von Franz Kugler »mit Zusätzen von Jac. Burckhardt«, Stuttgart 1848, vorgeheftet ist.

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Gebieten der Geschichte? Bei dieser Frage ist die Antwort klar: In der ›Baukunst der Renaissance in Italien‹, im ›Rubens‹-Buch, in den ›Beiträgen zur Kunstgeschichte von Italien‹ aus der Spätzeit, in den ›Aufzeichnungen zur griechischen Kunst‹ aus dem Umkreis des vier­ semestrigen Zyklus zur ›Kunstgeschichte‹ und schließlich im Ganzen dieses Zyklus – von Altägypten und Altmesopotamien bis zum 18. Jahrhundert (so wie wir seinen Inhalt durch Werner Kaegi kennen) – ist stets und in der vielfältigsten Weise das ›Lebens‹-Ganze, das ›Welt‹-Ganze einer Epoche gegenwärtig. In ›systematischer‹ Hinsicht besteht – wie schwierig auch immer das Verhältnis zwischen kunst­ geschichtlicher und weltgeschichtlicher (oder kulturgeschichtlicher) Arbeit bei Burckhardt zu bestimmen ist – ein entschiedener Zug zur Universalität der Sach-Aspekte, die mit jedem der verschiede­ nen Fach-Bereiche historischer Forschungen (Kunst, Politik, Sprache, Wirtschaft, Religion) berührt werden. Das methodologische Gerüst dieses ›systematischen‹ Grund­ zugs von Universalität stellt Burckhardts Lehre von den drei Potenzen dar (›Staat‹, ›Religion‹, ›Cultur‹), – sofern man sie nicht auf die Pro­ blematik eines Zahlendogmas hin verkürzt, vielmehr die Plastizität und Variabilität annimmt, die aus ihrem doppelten Kontrastgefüge resultiert: 1. stabilisierende kontra bewegende Geschichtsfaktoren und 2. (innerhalb der stabilisierenden Gruppe) das Stabilisieren durch Macht im Kontrast zu einem Stabilisieren durch Sinn. Dazu gehört die Praktizierung dieser Potenzenlehre in dem Geflecht der wechselseiti­ gen ›Bedingtheiten‹, die ihre eigene Zuspitzung in den wechselseitigen Gefährdungen findet, die Burckhardt darstellt in seiner Lehre von den geschichtlichen ›Crisen‹. Wenn einem also angesichts der universal-globalen Thematik Kuglers die partikular-europäische Thematik Burckhardts zur Frage wird, dann ist ein erster Weg zur Antwort: die innere Universalität zu beachten, die der eingeschränkten Thematik Burckhardts in seiner Arbeit einer vielseitigen, einer allseitigen Orientierung zukommt. Gegenüber dieser kategorialen Vollständigkeit im Hinblick auf den Umkreis aller Sachaspekte einer Sache erweist sich umgekehrt die globale Vollständigkeit enzyklopädischer Weltgeschichten, enzyklo­ pädischer Welt-Kunstgeschichten, Welt-Religionsgeschichten und auch: Welt-›Kulturgeschichten‹, als partikular: einseitig nämlich in der Eindimensionalität ihrer Gesichtspunkte, in der Beschränktheit ihres Fragehorizontes.

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Wenn Burckhardt zu Beginn seiner Lehre von den drei Potenzen diese Triadik als eine Alternative zu der »fachweise trennenden Geschichtsbetrachtung« einführt, die an die Stelle der Einheit des »Bildes« nur eine Anzahl von »Figuren« setzt (SG 173, Z. 2–12; 254, Z. 5f.), wenn er – fast gleichlautend – noch im Alter (1890, bei der Überarbeitung seiner Notizen zur Vorlesung über die antike Kunst) seine Art der Kunstbetrachtung als eine »zusammenfassende Betrachtung« der »Spezialforschung« entgegenstellt, nach der »jedes Gesamtbild« »unmöglich werden« soll (GA XIII, 12), dann läßt sich seine Skepsis gegenüber der modernen »Arbeitstheilung« (SG 278, Z. 6f.) als eine andere Art, als eine höhere Art der Empirie bezeichnen: Das Verhältnis zwischen der Zentralperspektivität der Fach-Forschung und seiner Polyperspektivität des Sach-Studiums ist das zwischen globaler Einseitigkeit und individueller Allseitigkeit, die den Raum der ›Potenzen‹, die Fülle der Aspekte von Fall zu Fall, von Ort zu Ort, von Zeit zu Zeit erschließt. Mit dieser kategorialen Universalität Burckhardts – SachUmkreis statt Fach-Ausschnitt – ist die Frage der regionalen Parti­ kularität – Europa-Geschichte statt Welt-Geschichte – noch nicht beantwortet, aber doch die Schwelle zur Antwort überschritten. Man kann jetzt nämlich neben dem regionalen und dem kategorialen noch einen dritten Kreis von Universalität, von ›Vollständigkeit‹ beachten, der auf den zur Frage stehenden ersten ein Licht wirft. Das Ganze der ›Welt‹, das ist ja ebenso sehr, wie es die regionale (die geographische) Vollständigkeit aller ›Kulturen‹ im Umkreis der Erde ist, auch die temporale Vollständigkeit aller Epochen der Welt-Geschichte. Hier scheint nun zunächst die Partikularität in Burckhardts Auswahl trotz all seiner imponierenden Breite und Vielfalt am wenigsten bestreitbar zu sein. Stellen Burckhardts große Arbeiten zur Weltgeschichte, zur Kulturgeschichte – vom Konstantin-Buch und der ›Kultur der Renais­ sance‹ bis zur ›Griechischen Kulturgeschichte‹ und der Erörterung des ›Revolutionszeitalters‹ – nicht auch noch innerhalb des Erdteils Europa eine bloße Sammlung großer Ausschnitte dar? Doch was ist das für eine Auswahl? Im Gedanken an ›Die Zeit Konstantins des Großen‹ und die ›Kultur der Renaissance‹ hat Hermann Heimpel daran erinnert, daß Burckhardt sein »Interesse an

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der Geschichte« selber »mit einer Vorliebe für Zeiten« erklärt habe, die »rittlings« »über der Scheide zweier Epochen schweben«.27 Diese Mehrdimensionalität des Studiums von Geschichte in der Konzentration auf solche ›Zeiten‹, die selbst in einer potenzierten Weise die Dreiheit der Zeit versammeln, das Gefüge dessen also, was Burckhardt schlicht ›das Geschichtliche‹ nennt: eine Gegenwart, in der sich im Verwandeln des jüngst Vergangenen wie in der Neuaneignung von Altvergangenem Künftiges entscheidet, würde freilich für sich genommen wieder nur das Merkmal kategorialer Universalität in Burckhardts Art des Studiums bezeugen. Wie steht es aber denn mit diesen Auswahl-Zeiten, diesen ›Paradigmen‹ in Burckhardts Studium der Geschichte selbst, wenn man sie im Ganzen überblickt? In biogra­ phisch-chronologischer Folge aufgezählt: Mit der ›Zeit Konstantins‹ die Schwelle zwischen heidnischer Antike und christlichem Europa; mit der ›Kultur der Renaissance‹ die Schwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit, zwischen der letzten, in ihrer eigenen Epochen-Grundlage vergangenen Ära und der ersten, die Grundzüge unserer Zeit (in der Entdeckung der Objektivität und der Subjektivität) schon vorberei­ tenden ›modernen‹ Epoche; mit dem modernen ›Revolutionszeitalter‹ (dem Kulminationspunkt der Basler Vorlesungen zur ›Geschichte‹, die ihre eigne Kulmination in den Jahren um die preußisch-deutsche Reichsgründung fanden) die Erörterung dieser Gegenwart selbst als einer eigenen ›Crisen‹-Zeit und damit Schwellenzeit in einem höchsten Sinn; und schließlich viertens mit der ›Griechischen Kultur­ geschichte‹ die Schwelle zwischen Orient und Okzident, die Schwelle zwischen den alten Weltkulturen und der Ausbildung derjenigen Zeitund Raum-Ära, die das Potential zur römisch-imperialen, zur christ­ lich-humanen, zur neuzeitlich-rationalen, – zur wissenschaftlichen, ökonomischen und technischen Europäisierung der Erde bereitstellte. Keine dieser vier Schwellenzeiten wäre mit anderen Momenten der Weltgeschichte vertauschbar. Und diese vier zusammen umgren­ zen den Horizont dessen, was wir heute den regionalen und den temporalen Umkreis unserer Welt nennen können. Wenn man die zuvor genannte Art einer universalen Betrachtungsweise Burckhardts mit dem Beispiel der Potenzenlehre (also seiner Art einer von Fall zu Fall »zusammenfassenden Betrachtung« im Gegensatz zu der »fach­ weise trennenden« Geschichtsbetrachtung des »Spezialstudiums«) 27 Hermann Heimpel, Zwei Historiker. Friedrich Christoph Dalmann, Jacob Burck­ hardt, Göttingen 1962, S. 23.

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als kategoriale Universalität bezeichnen kann, so könnte man bei der jetzt genannten Reihe der verschiedenen ›Schwellenzeiten‹ innerhalb der ›Weltgeschichte‹ von einer tektonischen Universalität sprechen: ein »zusammenfassendes Betrachten« im Hinblick auf den Zusam­ menhang des geschichtlichen Gefüges unserer Welt. Vor diesem Horizont einer tektonisch-temporalen Universalität gelangt der Anschein regionaler Partikularität in Burckhardts Arbeit, die Frage also, ob in seinem Fall und im Ganzen seiner Lebensarbeit nicht doch nur von okzidentalgeschichtlichen Betrachtungen gespro­ chen werden dürfte, in ein anderes Licht. In seinem Fall kommt dem Europa-Studium selbst ein ›globales‹ Gewicht zu. Die Einleitung zu dem ›Kunstgeschichte‹-Zyklus vom 6. Mai 1874 (vgl. Anm. 23) beginnt Burckhardt mit einer Abgrenzung seines Planes gegenüber vergleichbaren Forschungen, einerseits der »Kunst­ geschichte« als einer Fachdisziplin, die »den Entwicklungsgang im Einzelnen« darstellt, andererseits »jeder systematischen Ästhetik«, die das »Wesen der Kunst« zu ergründen sucht. Im Unterschied dazu bleibe, wie Burckhardt am Schluß dieser Einleitung sagt, »hier nur von ihrer Stellung in der Weltgeschichte zu reden« (GA XIII, 22 und 28). Dem philosophischen »Wesens«-Anspruch gegenüber handelt es sich damit, wie Burckhardt zu Beginn der Einleitung behauptet, um eine »Beschränkung«. Dem zuerst genannten Vergleichsbereich gegen­ über, einer »Darstellung des Entwicklungsganges im Einzelnen«, ist der Blick auf die Stellung der Kunst in der Weltgeschichte jedoch, trotz des Verzichtes auf Vollständigkeit im Einzelnen, offensichtlich eine Erweiterung. Es handelt sich hier um eine »Betrachtung«, die »zusam­ menfassend« ist, indem sie den »Figuren« »nach Zeiten und Stilen« (ebd., 23) ihren Ort im »Gesamtbild« zuspricht und damit dieses sel­ ber aufschließt. Diese Verbindung von »Beschränkung« (»im Einzelnen«) und »zusammenfassender Betrachtung« (im Ganzen) ist ein Grundzug der geschichtlichen Studien Burckhardts überhaupt, der ›kunstge­ schichtlichen‹ wie der ›kulturgeschichtlichen‹, derjenigen zur ›antiken Kunst‹ wie derjenigen zum ›Revolutionszeitalter‹.28 Der Zeitraum zwischen 1868 und 1886, in dem Burckhardt parallel zu seinen Vorlesungen über die neuere Geschichte Europas zuerst mit dem 28 Zur antiken Kunst: GA XIII, 29–166; Kaegi VI, 275–354. Zum ›Revolutionszeit­ alter‹: HF 261–323; Kaegi V, 248–444; Ernst Ziegler, Jacob Burckhardts Vorlesung über die Geschichte des Revolutionszeitalters in den Nachschriften seiner Zuhörer. Rekonstruktion des gesprochenen Wortlautes, Basel und Stuttgart 1974.

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Kolleg über ›das Studium der Geschichte‹, danach mit demjenigen zur ›griechischen Kulturgeschichte‹ und schließlich, seit 1874, mit dem viersemestrigen Zyklus zur ›Kunstgeschichte‹ beschäftigt ist, stellt allenfalls einen Höhepunkt in Burckhardts lebenslangen Versuchen »zusammenfassender Betrachtung« dar.

II. Das globale Gewicht dieser (mit dem Rubens-Buch zu sprechen) Erinnerungen aus Europa wird erkennbar an der Waage der Moderne. Deren wesentlichstes Merkmal ist nicht eine bestimmte Qualität, sondern die Polarität entgegengesetzter Qualitäten, eine umfas­ sende Doppeldeutigkeit. Erst in unserer Zeit tritt das ›Postulat eines Totalbildes der Menschheit‹ auf. Aber dieser Gewinn an Universalität hat zu seiner Kehrseite die Gefahr eines universalen Zerfalls. Sie besteht in der Autonomisierung der verschiedenen Geschichts-›Potenzen‹. Der von Burckhardt probeweise (in dem Kolleg zum ›Studium der Geschichte‹) erwogenen Dreizahl gemäß läßt sich dieser Gefahrenaspekt des modernen Weltzusammenhangs in dreifacher Hinsicht bezeichnen, auch wenn an jener ›Potenzen‹-Lehre nicht so sehr die Dreiheit als vielmehr die Vielheit und Verschiedenheit das Entscheidende ist. (1) Was Burckhardts Äußerung, »die Macht an sich« sei »böse«29, meint, sagt der erste Abschnitt der ›Kultur der Renaissance‹, ›Der Staat als Kunstwerk‹. Wo der Staat – und damit die Macht – wie seit der Renaissance (nach dem Kolleg zum ›Studium der Geschichte‹: schon seit dem Stauferkaiser Friedrich II.)30 sich von den Möglichkei­ ten, »bedingend« und »bedingt« zu sein, emanzipiert, die »Kunst« (die Technik) seiner Wirkung zu seinem Daseinszweck erhebt und dergestalt ›an sich‹ auftritt, da gelangen, wie das Burckhardt mit besonderer Eindringlichkeit an Ludwig XIV. und Napoleon zeigt, die in der Potenz der Macht enthaltenen Möglichkeiten des Bösen zur Wirklichkeit. Diese Verselbständigung der Macht-Potenz vollendet sich in der Identifikation des ›Staates‹ mit der ›Nation‹, für die in den 29 »Macht aber ist schon an sich böse«: SG 328, Z. 24; ähnlich: SG 260, Z. 10; SG 302, Z. 30; HF 250. 30 Zu Kaiser Friedrich II.: SG 299, Z. 9–23, 39–42 (vgl. SG 42); 133, Z. 35–39.

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Jahren zwischen 1860 und 1870 die politische Einigung Italiens und die preußisch-deutsche Reichsgründung prägnante Symptome waren. Den Grundzug dieses Zentralisierungsstrebens erkennt Burckhardt in dem aus dem 17. und 18. Jahrhundert, also dem Europa der Aufklärung stammenden Einheits-Willen. In dem Kolleg über das ›Studium der Geschichte‹ kennzeichnet Burckhardt dieses Merkmal des modernen Europa im Umkreis der ›Macht‹-Potenz gegen Ende eines jeden der beiden Abschnitte über die wechselseitigen ›Bedingtheiten‹ von ›Staat‹ und ›Cultur‹ inner­ halb des Kapitels ›über die sechs Bedingtheiten‹. In der »Aufhebung des Edicts von Nantes und der großen Huge­ nottenaustreibung« sieht Burckhardt »das große und characteristische Ereignis« der Regierung Ludwigs XIV: »Das größte Molochopfer das je einer ›Einheit‹ gebracht worden, oder eigentlich dem königlichen Machtbegriff« (SG 301, Z. 5–7, 29f.). »Das moderne Treiben der Völker zum Großstaat, zur Einheit ...: In ers­ ter Linie will die Nation (scheinbar oder wirklich) vor Allem Macht; das kleinstaatliche Dasein wird wie eine bisherige Schande perhorrescirt, alle Thätigkeit für dasselbe genügt den treibenden Individuen nicht; man will nur zu etwas Großem gehören und verräth damit deutlich, daß die Macht das erste, die Cultur höchstens ein ganz secundäres Ziel ist. Ganz besonders will man den Gesammtwillen nach außen geltend machen, andern Völkern zum Trotze ... Man kann den Centralwillen gar nicht stark genug haben (SG 302, Z. 10, 20–26, 29). Der Staat soll mindestens die ganze betreffende Nation und noch etwas dazu umfassen; es entsteht ein Cultus der Einheit der Staatsmacht und der Größe des Staatsumfanges« (SG 324, Z. 12–15).

Das »kleinstaatliche Dasein« wird darum »wie eine bisherige Schande perhorrescirt«, weil darin der mit der Staatsmacht gleichgesetzte Maßstab der Einheit nicht das Primäre ist. Diesen Unterschied erläu­ tert Burckhardt, indem er dem modernen Willen zur Einheit das mittelalterliche Lehnswesen gegenüberstellt: »Völlige Eintheilung der Welt in Kasten, zu unterst der hülflose Hörige, vilain; – erst allmälig der Bürger, unter schweren Gefahren heranwachsend; – dann der Adel der durch sein Ritterwesen vollends vom Einzelstaat abstrahirte und ein occidentalisches gesellschaftliches Hochgefühl darstellte, als höher entwickelter allgemeiner Krieger­ stand, der Einzelne von seinem besondern Staat ideell losgesprochen durch eine cosmopolitische Fiction, – dann die Kirche in Gestalt von vielen Corporationen (Stifte, Klöster, Universitäten etc.) – und dieß

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fast alles mit gebundnem Grundbesitz und Gewerbe, – mit einer unbeschreiblichen Unbehülflichkeit jeder politischen Function durch das Weiterverleihen aller Besitzungen und Rechte gegen Pflichten; auf allen Stufen permanentes Vicariren, bis zu völligem Verduften des Begriffes: Amt. – Unserm machttrunkenen Jahrhundert muß ein solcher Zustand als lauter Unglück und Thorheit erscheinen (SG 321, Z. 16–29, 40f.). … regiren im jetzigen Sinn könnte man damit nicht« (SG 132, Z. 16f.).

Befreit man sich jedoch von dem modernen Urteils- und Handlungs­ maßstab, dann bemerkt man die Vorzüge, die ein solcher Zustand »endloser Zerklüftung und Bedingtheit« »in politischer Beziehung« (SG 132, Z. 41f.) in anderer Beziehung gewährt: »Während nun alle Macht in Stücken lag, so standen diese einzelnen Stücke dessen, was seither Staatsmacht geworden ist, unter einem star­ ken Einfluß ihrer Partialcultur, sodaß diese beinah als der bestimmende Theil erscheint; jede Kaste ist von ihrer Cultur aufs Stärkste bedingt, Ritter, Geistliche, Bürger« (SG 321, Z. 35–39).

In einer Bemerkung über den »städtischen Geist des spätern Mittel­ alters«, im Blick also auf das Zusammenspiel zweier jener »Kasten«, des Bürgertums und der »Kirche«, in Städten wie Chartres und Ulm, Straßburg, Basel und Freiburg31, spitzt Burckhardt diese Korrektur unseres modernen Selbstmißverständnisses zu: »Unsere höchst lächerliche Präsumtion, im Zeitalter des sittlichen Fort­ schritts zu leben im Vergleich mit riskirten Zeiten, deren freie Kraft des idealen Willens in hundert hochthürmigen Cathedralen gen Himmel steigt. – Unser abgeschmackter Haß des Verschiedenen, Vielartigen, der symbolischen Begehungen und halb oder ganz schlafenden Rechte. Unsere Identification des Sittlichen mit dem Präcisen, und Unfähigkeit des Verständnisses für das Bunte und Zufällige. – Es handelt sich nicht ums Zurücksehen sondern ums Verständniß. Unser Leben ist ein Geschäft, das damalige war ein Dasein. Das Gesamtvolk existirte kaum; das Volksthümliche aber blühte« (SG 133, Z. 16–26).

(2) Dem »Dasein« »riskirter Zeiten« stellt Burckhardt das »Geschäft« gegenüber, auf das sich bei unserer »Identifikation des Sittlichen mit dem Präcisen« das Leben einschränkt. Die Gleichsetzung von Leben mit Geschäft, das ist die Verbindung des Maßstabs der »Sekurität« Zu Burckhardts Studien gotischer Kathedralen im Zusammenhang mit dem ›Kunstgeschichts‹-Zyklus: Kaegi IV, 291–295; VI, 370f., 415–424.

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mit dem des »Erwerbs« in der modernen Lebensorientierung. Beide Maßstäbe gehören innerhalb der Triadik der ›Potenzen‹ nicht dem ›Staat‹, sondern der ›Cultur‹ zu. Die ›Cultur‹ wird von Burckhardt so wenig glorifiziert, wie der ›Staat‹ (die Politik) von ihm verachtet wird. Die Gefahr, die Burckhardt sieht, ist hier wie dort die Verabsolutie­ rung, der Wille, eine ›Figur‹ des ›Bildes‹ an die Stelle des ›Bildes‹ zu setzen. Der »Macht an sich« entspricht in der Moderne die »Industrie als solche«. Diese sieht Burckhardt zur Zeit des französischen Abso­ lutismus erst im Entstehen begriffen. In einer der Aufzeichnungen »zur Geschichte des 17. und 18. Jahrhunderts« (datiert vom 5. Mai 1873) erläutert er mit der Randbemerkung »Louis XIV. ruinierte beständig, was Colbert baute«, die Notiz: »Das größte Geschäft ist einstweilen der überseeische Handel einiger weniger Kolonialstaaten, und noch nicht die Industrie als solche, als losgebundene Tätigkeit, als unbedingte materielle Ausbeutung der Welt. Und wo sie ist, regiert sie wenigstens noch nicht und kann ihr fürchterliches Konkurrenzwesen noch nicht [wie seit Burckhardts eigener Zeit] über die Völker loslassen« (HF 202f.; vgl. 86f.).

Zwischen dem »modernen, centralisirten Staat«, seit den »König­ thümern von Spanien und Frankreich« (SG 322, Z. 12–15), und dem scheinbar konträren (pluralistischen) »Weltalter des Erwerbs und Verkehrs« (s. u.) seit dem Beginn des eigenen Jahrhunderts sieht Burckhardt also ein Nacheinander und Nebeneinander, das durch sein geistiges Ineinander verständlich wird. Dem staatlichen Absolutismus ist die Relativierung durch die Verabsolutierung der ›Cultur‹-Potenz gewissermaßen schon in die Wiege gelegt. ›Allmacht‹ und ›Crisis‹ sind hier wie dort zwei Seiten desselben Sachverhalts. Zunächst die Bewahrung des Zentralismus auch nach der Abschaffung des Königtums: »In der Revolution, als diese Staatsall­ macht nicht mehr Ludwig, sondern Republik hieß, und als Alles anders wurde, wankt doch Eins nicht: eben dieser ererbte Staatsbe­ griff.« Darauf der Wechsel vom Paradigma Frankreichs zu demjeni­ gen Englands: »Allein im XVIII. Jahrhundert beginnt und seit 1815 eilt in gewaltigem Vorwärtsschreiten der großen Crisis zu: die moderne Cultur; es beginnt das Weltalter des Erwerbs und Verkehrs, und diese Interessen halten sich mehr und mehr für das Weltbestimmende. – Zuerst hatte es der Zwangsstaat mit seinem Mercantilsystem versucht; eine Staatsöcono­ mie in verschiedenen Schulen und Secten war hinterdrein gekommen und hatte sogar schon den Freihandel als Ideal befürwortet – allein

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erst seit 1815 fielen allmälig die Schranken jeder Thätigkeit, alles Zunftwesen, Gewerbszwang etc. (Thatsächliche Beweglichkeit alles Grundbesitzes, und dessen Disponibilität für die Industrie) und Eng­ land mit seinem Welthandel und seiner Industrie wurde das allgemeine Vorbild. – Steinkohle und Eisen; – Die Maschine in der Industrie: die große Fabrication. – Die Maschine im Verkehr: Dampfschiffe und Eisenbahnen. – Dazu eine innere Revolution in der Industrie durch Chemie und Physik; – Und die Herrschaft über das Großconsum der Welt durch die Baumwolle. – Unermeßliche Ausdehnung der Herrschaft des Credits im weitesten Wortsinn. – Ausdehnung der Colonisation Englands über Polynesien (Ausbeutung Indiens), und zugleich der united states über fast ganz Nordamerica; – endlich die Oeffnung des östlichen Asiens« (SG 322, Z. 19–23, 323, Z. 1–20, 34–36).

In der Emanzipation von dem geschichtlichen Gefüge wechselseitiger Bedingtheiten, also im Prinzip der Unabhängigkeit, steht der Wille zur absoluten Autonomie des ›modernen, centralisirten Staates‹ mit dem Bestreben absoluter Beweglichkeit und damit Grenzenlosigkeit im ›Weltalter des Erwerbs und Verkehrs‹ nicht nur in einer faktischen, sondern auch in einer geistigen Analogie. Anders steht es dagegen mit der Art der Gefährdung im einen und im anderen Fall. Die »Macht an sich« schließt in ihrem Willen zur Einheit, in ihrem Zentralisierungswillen die Grundbedingung geschichtlichen Lebens: die Vielfalt, aus. Die »Industrie als solche«, die Verselbständigung also von Erwerb und Verkehr, von Forschung und ›Wachstum‹ kann dagegen – ungewollt – das Gegenteil ihres eigenen Willens befördern. Diese hilfreiche ›Nebenwirkung‹ der modernen ›Cultur‹-Gefahr hebt Burckhardt immer dort hervor, wo er von den Vorzügen unseres Zeitalters spricht. In dem Abschnitt ›Die Geschichte im XIX. Jahrhundert‹ des Ein­ leitungskapitels sieht Burckhardt die Möglichkeiten einer positiven Antwort auf die Frage, »ob wir eine specifisch höhere geschichtliche Erkenntniß besitzen als frühere Zeiten« (SG 246, Z. 8f.), darin, daß »unsere Zeit zur Erkenntniß der Vergangenheit besser ausgerüstet [ist] als irgend eine Frühere« (SG 247, Z. 5f.). Und wenn er hier nun »äußere Förderungen« hervorhebt wie die »Zugänglichkeit aller Lite­ raturen durch Reisen, Sprachenlernen, große Ausbreitung der Philo­ logie; – Zugänglichkeit der Archive; – Zugänglichkeit der Denkmäler durch Reisen; Abbildung, besonders Photographie«, so handelt es sich dabei offenkundig um Nebenwirkungen des modernen europäischen Zusammenhangs von Welthandel, Weltverkehr, ›Colonisation‹ im

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englischen Sinn und industrieller Technik. Die »große Crisis des Staatsbegriffs in welcher wir leben« (SG 324, Z. 3f.) wirkt sich als eine »innere Förderung« »negativer Art« aus: »Die Indifferenz der meisten Staaten gegen die Resultate der Forschung, von welcher sie für ihren Bestand nichts fürchten« (SG 247, Z. 16–19). Dem entspricht »die Machtlosigkeit der bestehenden Religionen und Confessionen gegenüber jeder Erörterung ihrer Vergangenheit und ihrer jetzigen Lage. Eine gewaltige Forschung hat sich der Betrachtung jener Zeiten, Völker und Zustände zugewandt, wo sich die ursprünglichen Vorstel­ lungen bildeten, von welchen die Religionen sind mitbestimmt oder geschaffen worden. Eine große vergleichende Mythologie, Religionsund Dogmengeschichte aller Völker und Zeiten ist auf die Länge nicht auszuschließen gewesen« (ebd., Z. 27–34). Und schließlich nennt Burckhardt hier unter den »inneren Förderungen« »positiver Art« nochmals den modernen Weltverkehr: »Durch den Austausch der Literaturen und durch den cosmopolitischen Verkehr des XIX. Jahrhunderts überhaupt [haben sich] die Gesichtspuncte unendlich vervielfacht« (SG 248, Z. 19–21). Mit diesem Sachverhalt verbindet Burckhardt die eine der beiden Formulierungen seines Gedankens der ›Ökumene‹, von denen wir hier ausgegangen sind: »Das Entfernte wird genähert; statt eines einzelnen Wissens um Curiosa entlegener Zeiten und Länder tritt das Postulat eines Totalbildes der Menschheit auf.« Am Schluß des Kapitels über die drei Potenzen stellt Burck­ hardt in einem Abschnitt über ›die Cultur des XIX. Jahrhunderts als Weltcultur‹ (SG 284, Z. 1) beide Seiten der »modernen Cultur«, den »zweifelhaften Gewinn der Erwerbenden« und den »höchsten Gewinn auf Seiten der Betrachtenden«, einander gegenüber: Die »elementare Leidenschaft« der Erwerbenden, welche »auf 1) noch viel größere Beschleunigung des Verkehrs, 2) völlige Beseitigung der noch vorhandenen Schranken, d. h. auf den Universalstaat hindrängen«, wird bestraft durch »die enorme Concurrenz vom Größten bis ins Geringste, und die Rastlosigkeit« (ebd., Z. 14–19). Zugleich jedoch mit dieser »Verwertung« wird auch ein Verständnis »der Traditionen aller Zeiten, Völker und Culturen«, und zwar auch in der Politik und auch in ihren Religionen möglich, nämlich durch die »großartige allseitige stillschweigende Abrede: ein objectives Interesse an Alles heranzubringen, die ganze vergangene und jetzige Welt in geistigen Besitz zu verwandeln« (ebd., Z. 2, 4–7).

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(3) Die Verabsolutierung des ›Staates‹, also der Macht-Potenz, stellt in ihrer Art des Willens zur Einheit eine Negation der potentiellen Vielfalt und Vielartigkeit dar, in der Burckhardt das ›Geschichtliche‹ der Geschichte sieht. Den Versuchen dagegen, territoriale und tempo­ rale Schranken zu überwinden, wie sie dem modernen Extrem der ›Cultur‹-Potenz, dem Verkehrs- und Erwerbstrieb, zugehören, sind trotz ihrer eigenen Gefahr, der Betäubung und der Nivellierung, dem Vorzug der Moderne verschwistert, der darin besteht, sich dem terri­ torialen und temporalen Kosmos dieser Welt öffnen zu können, indem jede Art von Zentralisierung, auch die religiöse, relativiert wird. Was kann bei dieser Schärfe der Polemik gegen jede Art von Zentralismus Burckhardts berühmtes Diktum bedeuten: »Unser Aus­ gangspunct: vom einzigen bleibenden und für uns möglichen Cen­ trum, vom duldenden, strebenden und handelnden Menschen wie er ist und immer war und sein wird« (SG 226, Z. 32–34)? Die Antwort kann nur lauten: Dieses Diktum ist die äußerste Bekräftigung jener Polemik. Ist nicht nur der handelnde und stre­ bende, sondern auch der duldende Mensch das einzige ›Centrum‹, dann bedeutet das: Nicht einmal der Mensch ist das Zentrum der Geschichte. Ein Studium der Geschichte, das den duldenden Menschen nicht weniger ernst nimmt als den handelnden, das seine Weise der »Betrachtung« – wie Burckhardt in dem Schluß jenes Diktums – »pathologisch« nennt (ebd., Z. 35), also von aller (optimistischen ebenso wie pessimistischen) Evolutionsdeutung der Geschichte Abschied nimmt, hat auch die Zentralperspektive des Humanismus verlassen. Mißt man das Ganze der ›Kultur der Renaissance in Italien‹ an ihrem ersten und ihrem letzten Abschnitt: ›Der Staat als Kunstwerk‹, ›Sitte und Religion‹, dann bemerkt man, daß in diesem 1860 erschie­ nenen Werk der Übergang zwischen Mittelalter und Neuzeit in seiner eigenen Zweideutigkeit erörtert und damit schon diejenige Klärung vorbereitet wird, die mit der sieben Jahre später erschienenen ›Bau­ kunst der Renaissance in Italien‹ an Differenzierungen wie denen zwischen ›Zentralbau‹ (der hier gerade den Gegenzug zur Zentral­ perspektive ausmacht) und Fassade, zwischen Brunelleschi und Alberti in der Frührenaissance, zwischen dem Baumeister Michelan­ gelo und dem Bildhauer Michelangelo in der Hochrenaissance, vor allem aber in Burckhardts ›Ansicht vom Kirchenbau‹ (in § 82 und dem ganzen IX. Kapitel dieses Buches) an der italienischen Renaissance selber entschieden und in der Akzentverschiebung der Studien Burck­

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hardts von der Renaissance zur Kunst und Kultur der Griechen seit eben diesen Jahren fundiert wird. Burckhardts Ausgangspunkt vom Menschen als dem Spannungsfeld zwischen Erwirken und Erleiden, als dem Handeln, das wie bei Odysseus selber schon ein Leiden ist, ein Getroffenwerden ebenso wie ein Treffenkönnen, ist kein Anthropo­ zentrismus. Gegen Ende eines Passus des ›Geschichts‹-Kollegs, der innerhalb des Abschnitts ›Die Cultur‹ (in dem Kapitel über die drei Potenzen) ›die Künste‹ behandelt, vergleicht Burckhardt die ›Poesie‹ mit der Philosophie. In »ihrer Art von Gedanken und Gefühlen« bilde die Poesie den »deutlichsten Gegensatz und die höchste Ergänzung zur Philosophie«. Diese Behauptung erläutert Burckhardt in Gestalt einer Frage, die an den Anfang des ersten Chorliedes der Sophoklei­ schen Antigone gemahnt und mit der Burckhardt den ganzen Abschnitt beschließt: »Wie würden die Gedanken des äschyleischen Prometheus in der Philosophie lauten? – Jedenfalls geben sie uns in der poetischen Darstellung das Gefühl des Ungeheuren« (SG 280, Z. 5–11). Diese in sich selber sehr verschiedenartigen Aspekte einer Doppeldeutigkeit der europäischen Moderne: Verabsolutierung und ›Crise‹ im Falle des ›Staates‹ (und damit der Macht); universale Ausbeutung und universale Differenzierung im Falle der ›Cultur‹; der Mensch, der alles macht, der Mensch, der alles erleidet und damit er-fährt, im Falle der ›Religion‹, kommen in einer Antinomie überein, die man den Kern der Zweideutigkeit nennen könnte, der Antinomie zwischen dem Willen zum Unbedingten auf der einen Seite, der Erkenntnis und damit der Anerkennung des Bedingtseins auf der anderen. Unter diesem Entweder-Oder steht, wie sich vermuten läßt, die ›Europäisierung‹ dieser Welt auf dem Spiel. Verstehen wir ›Größe‹ in dem Sinn, den Burckhardt in dem (ursprünglich) letzten Kapitel des ›Geschichts‹-Kollegs, dem Vor­ tragszyklus über ›Historische Größe‹, meint (im Unterschied zum ›Urteil nach der Größe‹, das er in dem Vortrag ›Über Glück und Unglück in der Weltgeschichte‹ (SG 237, Z. 3–18) verurteilt), nämlich als je und je Unersetzliches, dann werden wir uns nicht zu scheuen brauchen, der Arbeit Burckhardts selber geschichtliche Größe zuzu­ billigen. Und wir werden einen Zug von Größe darin sehen dürfen, daß in seinem Verständnis Europas ein Weg geöffnet wird, der unserer Zeit ein Verständnis der Welt ermöglicht. Was Burckhardt an Europa liebt, was ihn in der Geschichte dieses Erdteils etwas Vorbildliches sehen läßt – unvergesslich beschworen in der Zusammenstellung von

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»Homer und Rubens« als der »beiden größten Erzähler, welche unser alter Erdball bis heute getragen hat«, am Schluß der ›Erinnerungen aus Rubens‹ –, diesem Licht gehört bei ihm doch selber schon das Dunkel der Gefahren zu, die dieser Erdteil birgt. Und wenn, zu seiner Zeit nur ›Unzeitgemäßen‹ bemerkbar, heute aber offenkundig, eben diese Gefahren zu ›globaler‹ Wirklichkeit werden, dann bietet Burck­ hardts Lebensarbeit einer Besinnung auf das Europäische gerade darum die Möglichkeit einer Ausweitung auf das Ganze dieses alten Erdballs, weil sie ihrem Wesen nach ein Grenzenziehen ist. »Europa als alter und neuer Herd vielartigen Lebens, als Stätte der Entstehung der reichsten Gestaltungen, als Heimat aller Gegen­ sätze, die in der einzigen Einheit aufgehen, daß eben hier alles Geistige zum Wort und zum Ausdruck kommt«, – dieses Lob des Europäischen folgt – in einer ›Einleitung in die Geschichte des 17. und 18. Jahrhun­ derts‹ vom 4. Mai 1869 – unmittelbar auf eine der schärfsten Formu­ lierungen des Tadels. Was im Unterschied zum Mittelalter schon den Anfang der ›neueren Zeit‹ kennzeichnet: »dort die unendliche Teilung der Macht und der noch geringe Gegensatz der Nationen, hier die Konzentration der Macht, die Eroberungskriege mit nationaler Machtentwicklung um jeden Preis«, das steigert sich im Fortgang: in der »Manier, den sofortigen und vollständigen Sieg Einer Sache zu verlangen«, in der Unfähigkeit, »das Vielartige zu vertragen«; »Geist­ liche aller Konfessionen, Populärphilosophen, Dynasten und Radi­ kalpolitiker verlangen Eins und dies ganz und sogleich, obwohl die Welt damit tot und farblos würde ...« (HF 191f.). Daß im Unterschied zu dem unausdrücklichen Okzidentalismus Rankes, zu dem ausdrücklichen Droysens (und aller damaligen deut­ schen Geschichtsschreibung) das im betonten Sinn ›weltgeschichtli­ che‹ Interesse Burckhardts nicht in der politischen Geschichtsschrei­ bung, sondern in der Kunstgeschichte, in dem Beispiel und dem Vorbild Kuglers, seinen Anstoß fand, gründet in einem ›kulturge­ schichtlichen‹ Sachverhalt, den Burckhardt selbst erörtert. Der nach seiner Überzeugung wesentlichste Vorzug der europäischen Moderne, ihr ›kosmopolitisches Interesse‹, ihre Bereitschaft und ihre Fähigkeit zu dem ›Postulat eines Totalbildes der Menschheit‹ ist selber aus den Künsten, aus dem Umgang mit den Künsten hervorgegangen. Auf dem letzten der drei Einleitungsblätter zu dem Vortragszy­ klus über ›Historische Größe‹ (›K 3‹, SG 379f.; danach die nächstfol­ genden Zitate) skizziert Burckhardt die »spezielle Befähigung des XIX. Jahrhunderts zur Werthschätzung der Größen aller Zeiten und

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Richtungen«, indem er zunächst gravierende Bedingungen dieser Befähigung nennt, danach exemplarische Merkmale. Den Grundzug dieser Befähigung kennzeichnet er an der Übergangsstelle: »... wir erst beurtheilen den Einzelnen von seinen Präcedentien, von seiner Zeit aus; falsche Größen sind damit gefallen und wahre neu procla­ mirt worden.« In einem Nachtrag erläutert er diesen Grundzug, dessen eigenes Schwergewicht in dem Anspruch des Wahren liegt, an einem elemen­ taren Merkmal: »Und unser Entscheidungsrecht ist nicht getragen von Indifferentis­ mus sondern eher vom Enthusiasmus für alles vergangene Große, sodaß wir zB: auch das Große an entgegengesetzten Religionen aner­ kennen«.

Als erste Bedingung nennt Burckhardt, noch vor einem Verweis auf den »gesteigerten Verkehr« und »die Ausbreitung der europäischen Menschheit über alle Meere«: »den Austausch und Zusammenhang aller unserer Literaturen«. Und das Merkmal der »Objektivität«, des Sachverhaltes also, daß – wie Burckhardt hier auch sagt – »unsere Cultur« »einen hohen Grad von Allempfänglichkeit erreicht« hat, sieht er neben dem zunächst genannten Paradigma, der Anerkennung religiöser Größe, an dieser Stelle darin, daß »auch das Vergangene in den Künsten und in der Poesie« »für uns neu und anders als für unsere Vorgänger« lebt. Worin diese Andersartigkeit allem Vorausgehenden gegenüber besteht, demonstriert er an den zwei geschichtlichen Beispielen, die hier einleitend genannt worden sind: den Altertumsstudien seit Winckelmann, den Übersetzungen seit der frühen Romantik. Und es ist klar, daß der dem zweiten dieser beiden Beispiele entnommene ›Maßstab‹ des ›Öcumenischen‹ ebenso sehr auch dem vorausgehen­ den Beispiel, ja auch schon dem der Anerkennung entgegengesetzter Religionen zukommt. Die geschichtliche Tragweite der zuvor genann­ ten ›Allempfänglichkeit‹ wird mit diesem Maßstab ausgesprochen. »Seit Winckelmann und seit den Humanisten vom Ende des XVIII. Jahrhunderts sehen wir das ganze Alterthum mit anderen Augen als die größten früheren Forscher und Künstler; – seit dem Wiedererwachen Shakespeare’s im XVIII. Jahrhundert hat man erst Dante und die Nibelungen kennen gelernt und für poetische Größe den wahren Maßstab gewonnen, und zwar einen öcumenischen«.

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Der ökumenische Maßstab, den Burckhardt hier an der literatur­ geschichtlichen Arbeit der frühromantischen Hermeneutik hervor­ hebt, in der geschichtlichen Ausrichtung des ›Altertums‹-Interesses Winckelmanns und der deutschen Klassik vorbereitet sieht und in der Anerkennung auch entgegengesetzter Religionen in unserem geschichtlichen Urteil exemplarisch bezeugt sieht, ist nach seiner Einsicht nicht lediglich das strukturelle Spezifikum eines ›Kultur‹Gebietes (also der ›Geistesgeschichte‹), sondern ein epochales Spe­ zifikum des modernen Weltzustandes. Daß dieses allgemein- oder fundamentalgeschichtliche Novum am veränderten Umgang mit alter (griechischer) Bildkunst, mit älterer Dichtung (Shakespeare, Dante, Nibelungen) und entfernten Religionen zuerst hervortritt, liegt nicht daran, daß dieser Redner dem Schönen und dem Alten mehr als dem Wirklichen und dem Heutigen zugetan gewesen wäre, sondern daran, daß die heutige Wirklichkeit in vermeintlichen Randgebieten wie den Künsten seit der Renaissance ihre Herkunft und in der ›Näherung‹ entfernter Zonen, Zeiten und vielleicht auch Religionen ihre Zukunft finden kann. Es handelt sich hier nicht ums Zurücksehen, sondern ums Verständnis. Und dabei wiederum handelt es sich nicht mehr um eine Sache imperialer oder industrieller ›Aneignung‹, sondern um das Gegenteil davon, um das, was Burckhardt – in einer für uns mißverständ­ lichen Ausdrucksweise – »geistige Aneignung« nennt. Der Gegen­ satz zum »Geist« ist für Burckhardt nicht die Natur, sondern der »Erwerb«. Der Ausdruck »geistige Aneignung« ist bei Burckhardt ähnlich wie der des »jezuweilen Ewigen« (SG 285, Z. 15f.) oder der Kennzeichnung »irdisch-unsterblich« (SG 279, Z. 6f.) ein aus­ drücklicher Widerspruch. Das geistige Aneignen besteht in einem Aus-sich-Herausgehen, das ein Schenken und ein Empfangen, aber weder ein Produzieren, noch auch ein Speichern ist. Für diesen postulatorischen Kern des modernen »Postulates«, ein »Totalbild der Menschheit« erlangen zu können, ist der »Enthusiasmus« in der Bereitschaft, entgegengesetzte Religionen anzuerkennen, für Burck­ hardt paradigmatisch. Daß der Gedanke an ›Europa‹ dabei nicht nur die Überwindung der jetzt ›global‹ werdenden europäischen Idee des kalkulierbaren Universums verlangt, sondern selber Möglichkeiten der Nachbarschaft im Pflegen und Bauen (›cultura‹) der Vielfalt bereit hält, dazu kann Burckhardts Gedanke einer »Weltcultur« als der Möglichkeit unseres Zeitalters einen Wink geben.

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Die ›Kehre‹ in Heideggers Verständnis der Geschichte32

1 Philosophie und Geschichte Ein Gespräch mit Gästen aus Japan kann uns, uns deutschen, europä­ ischen, ›westlichen‹ Schülern und Lehrern der Philosophie, auf das Problem dieser Sache, der Philosophie, aufmerksam machen. In wel­ chem Wortsinn ist das überhaupt eine Sache? In Japan ist der Name für Philosophie eine Neubildung aus zwei chinesischen Wörtern: zhe xue, was etwa bedeutet: ›Studium der (überlieferten) Weisheit‹. Diese Neubildung stammt aus der Zeit der Öffnung zu Europa (der Meji-Zeit) in der Mitte des vorigen Jahrhunderts. Und sie wird primär für das Studium der europäischen (und nordamerikanischen) Philosophie gebraucht. Man kann sich an manchen ›Philosophischen Seminaren‹ aber auch mit Konfuzius oder Lao-Tse befassen; und manche Lehrer der europäischen Philosophie, wie Tsujimura oder Ueda in Kyôto, befassen sich auch mit Traditionen des Zen-Buddhismus. China hat die japanische Neubildung übernommen. Hier stehen nun aber zwei Sachgebiete nebeneinander. Einmal handelt es sich um die europäischen Schriften der Philosophie seit der Antike, daneben auch um die kanonischen Schriften aus der Anfangszeit Chinas, deren Studium Konfuzius erneuert hat. Was mit dieser Parallelisierung und damit Europäisierung an Eigenem des Chinesischen verloren geht, kann man schon vermuten, wenn man erfährt, aus was für Themen das Bündel jener ältesten ›kanonischen‹ Bücher (›Buch‹ = Jing), denen die Gespräche des Konfuzius galten, bestehen: Das ›Buch der Wandlungen‹ (das Yi Jing) ist nur eines dieser insgesamt sechs Bücher. Die anderen Buch-Themen: Shu – die Geschichtsdokumente, Shi – die Lieder (oder Gesänge), Li – die Riten, Yue – die Musik und Chun 32 Erstveröffentlichung: Destruktion und Übersetzung. Zu den Aufgaben der Philoso­ phiegeschichte nach Martin Heidegger, hg. v. Thomas Buchheim, Weinheim: VCH acta humaniora 1989, S. 101–125.

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qiu – Frühling und Herbst. Das alles ›Philosophie‹ zu nennen, ist so verfehlt wie schon die Kennzeichnung des von Konfuzius referierten Li-jing (also des Buchs der Riten) mit Kants Begriff des ›moralischen Gesetzes‹ bei dem ersten großen Übersetzer und Entdecker des alten China für Europa Richard Wilhelm. – Die buddhistischen Lehren Chi­ nas werden auch heute noch mit einem eigenen Namen bezeichnet: fo xue. In China käme, wie mir von Sinologen gesagt wird, niemand auf die Idee, den Zen-Buddhismus mit ›Philosophie‹ zu verbinden. – Und das Ganze schließlich der alten Lehren hatte vor der europäischen Invasion (dieser Kultur-Invasion) den eigenen Namen der ›Meister‹: zi (tsi), die nach ihrer Lehrweise gruppiert wurden: Lao-tse war einer der ›Meister des Weges‹ (dao), andere: ›Meister des Gesetzes‹, ›Meister des Namens‹. Diese Hinweise werfen ein Licht auf die Fraglichkeit des uns gewohnten Sprachgebrauchs ›Philosophie‹. Wir denken dabei an ein Verhalten oder eine Art des Wissens, die es ihrer Möglichkeit nach überall und zu allen Zeiten geben kann – ähnlich wie eine der wissenschaftlichen Fachdisziplinen: Astronomie, Jurisprudenz, Veterinärmedizin. Wir meinen, es könnte auch eine japanische, eine chinesische, eine indische Philosophie geben, ohne zu erwägen, ob nicht schon die Art zu denken, ob nicht schon dasjenige Selbstund Weltverständnis, das seit Platon (seit Platons Lehrer Sokrates und dessen Streit mit den ›Sophisten‹) ›Philosophie‹ heißt, eine europäische Errungenschaft ist, die ganz zu Unrecht auf die Gespräche des Konfuzius, die Wege des Lao-tse, die Übungen des Zen-Buddhis­ mus, die Gleichnisse der Upanischaden (dieser – wie der Name sagt – ›aufdeckenden Verehrung‹), das Drama der Bhagavad-Gita übertragen werden, – wobei die Übernahme dieser Übertragung durch die Herkunftsländer ein Ausdruck der Europäisierung ist. Der Befrei­ ungskampf von dieser geistigen Okkupation steht noch aus. Er wird eine ökumenische Hoffnung sein müssen33. Ein Gespräch mit Gästen aus Japan könnte uns die Augen für das Mißverhältnis öffnen, das zwischen dem partikularen Gehalt der Sache und dem universalen Gebrauch des Namens ›Philosophie‹ besteht. Zwar kann der Name ›Philosophie‹ den uns Menschen zu Hilfreiche Auskunft zu den Eingangs- und den Abschlußbemerkungen verdankt der Verf. Angelika Heckel vom indologischen Seminar und Hermann Josef Röllicke vom sinologischen Seminar der Universität Tübingen. Zum Wortsinn von ›upanisad‹ s. Paul Tieme in seiner Auswahlausgabe der Upanischaden bei Reclam (Stuttgart 1979, S. 83). 33

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1 Philosophie und Geschichte

Menschen machenden Zug des Sich-Wunderns, des Staunens mei­ nen, der das Geheimnis der Sprache seit den ersten Zeugnissen des Homo sapiens ausmacht. Dieser – in der Tat universale – Charakter eines Angesprochenwerdens wird aber zumeist von dem zu Unrecht universalen Anspruch einer Welt- und Selbstbegründung überlagert, der den Anfang der Philosophie bei Platon mit den globalen Erfolgen der neuzeitlich-europäischen Wissenschaft verbindet. Man könnte diese Doppeldeutigkeit im Namen ›Philosophie‹ – im Blick auf die griechische Erfahrung der Physis – bezeichnen als den Unterschied zwischen einer physiologischen (im Denken an die Phy­ sis beruhenden) Wesensverfassung des Menschen einerseits und dem meta-physischen (die Physis transzendierenden) Leitmotiv Europas seit dem Beginn der Philosophie bei Platon andererseits. (Man muß dabei nur beachten, daß dieser meta-physische Anfang erst nach dem sogenannten Ende der Metaphysik hervortritt: im Nationalismus und Industriealismus seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, den raumund zeittilgenden Transformations- und Informationssystemen der Verkehrs- und Nachrichtentechnik seit dem 19. Jahrhundert, den kernphysikalischen und genbiologischen Erkenntnissen unseres Jahr­ hunderts.) Wenn es nun zutrifft, daß im Falle der Philosophie zwischen universalem Anspruch und partikularem Bereich ein Mißverhältnis besteht, dann folgt daraus eine Korrektur unserer Alternativen. Es geht nicht darum, ob ›die Philosophie‹ noch sinnvoll oder sinnlos, Luxus oder Hilfe ist, sondern um die Unterscheidung zweier Wege im Gebrauch der Philosophie. Der Streit, ob Philosophie tauglich ist zur Therapie moderner Krisen, – das ist ja allenfalls nur eine Seite. Die andere, viel weniger bestreitbare, nur eben auch viel weniger bemerk­ bare, besteht darin, daß die Philosophie als Gegenstand der Diagnose – zur Anamnese nämlich – tauglich sein kann. Das muß nicht heißen, daß Platon oder Hegel ›Ursache‹ moderner Notlagen wären. (Das Denkschema der Kausalität ist ja selber schon ein Faktor der Krank­ heitsgeschichte.) Wohl aber können im Studium ›der Philosophie‹, im Studium der europäischen Überlieferungen Beweggründe moderner Gefahren zutage treten, die in der theoretischen Analyse der ›Fakten‹, in der praktischen Bekämpfung der Symptome verborgen bleiben, so daß die von solchen Analysen geleiteten Therapien die pathologische Macht des ›Befundes‹ nur noch fördern. Heidegger praktiziert einen solchen veränderten Umgang mit ›der Philosophie‹ seit seinen Vorlesungen und Abhandlungen über

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Nietzsche, man könnte auch sagen, in der Orientierung an Nietzsche: ›Philosophie‹ nicht nur als der eigne Untersuchungsweg, sondern auch als Untersuchungsfeld. Ich wähle hier als Beispiel für diese Art von ›analytischer‹ Arbeit bei Heidegger eine Vorlesung vom Winter 1955/56: Der Satz vom Grund, deren Angelpunkt ein Vortrag mit dem gleichen Titel vom Frühjahr 1956 als den inneren Zusammenhang des ›Atomzeitalters‹ mit der Philosophie von Leibniz herausstellt. Vorlesung und Vortrag erschienen im folgenden Jahr, 1957, als Buch. Das Auszeichnende dieses Buches – Walter F. Otto nannte es »das bedeutendste Buch seit achtzig Jahren« (acht Jahrzehnte vorher waren Die Geburt der Tragödie und die Unzeitgemäßen Betrachtungen Nietzsches erschienen) – das Auszeichnende dieses Buches liegt darin, daß es die drei Arbeitsfelder, in die sich Heideggers Denken seit den dreißiger Jahren entfaltet, an einem ›Paradigma‹ – dem ›Satz vom Grund‹ – verbindet: die Erörterung des »Gewesenen«, das unsere Gegenwart prägt (hier exemplarisch Platon, Leibniz, Kant), die Erläu­ terung dieser Gegenwart selbst (hier an ihrem damaligen eigenen Selbstverständnis als ›Atomzeitalter‹) und drittens die Eröffnung sei­ nes – mit diesem Zusammenhang von Vergangenheit und Gegenwart kontrastierenden – Erörterungs- und Erläuterungsmaßstabs, hier in Gestalt von wenigen und meist nur kurz kommentierten Zitaten (»Winken«, S. 209f.) von Dichtern und einem Musiker. Eines davon ist ein Spruch des Angelus Silesius (s. dazu SvG, S. 68–74, 77–80, 101f.): »Die Ros’ ist ohn warumb / sie blühet, weil sie blühet / Sie achtt nicht ihrer selbst / fragt nicht ob man sie sihet.«

Gegen Ende des gleichnamigen Vortrags (S. 206 im Buch): zwei Aus­ sprüche Goethes, von 1827 und 1812 (also aus seiner späten, nach›klassischen‹ Zeit). Das erste Zitat sind zwei Verse: »Doch Forschung strebt und ringt, ermüdend nie, Nach dem Gesetz, dem Grund, Warum und Wie.«

Es sind dies die beiden Schlußverse aus dem zehnten Gedicht des Zyklus chinesisch-deutsche Jahres und Tageszeiten des fast Achtzig­ jährigen, das beginnt: »Als Allerschönste bist du anerkannt, / Bist Königin des Blumenreichs genannt«, und, ebenso wie zwei weitere Gedichte dieses Zyklus, die Rose besingt. Das unermüdliche Ringen der Forschung nach dem Gesetz, dem Grund, Warum und Wie wird hier konfrontiert dem unwidersprechlichen »Zeugnis«, dem wunder­

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samen »Ereignis« (V. 2 und 3) der Rose. »Du bist es also«, so lauten die Verse, die der Schlußwendung über die »Forschung« vorausgehen, – »Du bist es also, bist kein bloßer Schein, / In dir trifft Schaun und Glauben überein«. – Das andere Goethe-Zitat, ein »Spruch« in Versen, lautet: »Wie? Wann? und Wo? – Die Götter bleiben stumm! Du halte dich ans Weil und frage nicht warum?«

Das »Weil« versteht Heidegger hier in der Bedeutung von »diewei­ len«. »Weilen heißt: währen, still bleiben, an sich und innehalten, nämlich in der Ruhe. Goethe sagt in einem schönen Vers: ›Die Fiedel stockt, der Tänzer weilt.‹ « (SvG, S. 207). In der Abfolge der Vorlesung fiel die neunte Stunde auf den 27. Januar 1956. Das war der zweihundertste Geburtstag Mozarts. Heidegger beginnt diese Vorlesungsstunde mit dem Ausschnitt aus einem Mozartbrief zu der Frage »Wie wird komponiert?« (So über­ schreibt die Musikzeitschrift, auf die sich Heidegger bezieht, ihr Zitat des Passus.) »Etwa auf Reisen im Wagen, oder nach guter Mahlzeit, beim Spazieren und in der Nacht, wenn ich nicht schlafen kann«, so beginnt diese Äußerung, »da kommen mir die Gedanken stromweis und am besten.« Der Passus schließt: »Das Ding wird im Kopf wahrlich fast fertig, wenn es auch lang ist, so daß ich’s hernach mit einem Blick gleichsam wie ein schönes Bild oder einen hübschen Menschen im Geist übersehe, und es auch gar nicht nacheinander, wie es hernach kommen muß, in der Einbildung höre, sondern wie gleich alles zusammen. Das ist ein Schmaus! Alles, das Finden und Machen geht in mir nur in einem schönen starken Traum vor. Aber das Überhören, so alles zusammen, ist doch das Beste.«

Heidegger bemerkt dazu: »Das Hören ist ein Blicken. Dies ›mit einem Blick‹ das Ganze ›übersehen‹ und das ›Überhören, so alles zusammen‹ sind eines und dasselbe.« »Wir würden die angeführte Briefstelle Mozarts zu äußerlich und schief fassen, wollten wir sie nur, psycho­ logisch deutend, als einen Beleg zur Beschreibung des künstlerischen Schaffens nehmen. Die Stelle sagt uns, daß Mozart der Hörendsten

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einer unter den Hörenden gewesen, d. h. west und also noch ist« (SvG, S. 117f.)34. Was in dieser Vorlesung und diesem Vortrag ›ausgetragen‹ wird (um hier mit einem Lieblingswort Heideggers zu sprechen), das ist die Überwindung der inneren, der wesenhaften Ungeschichtlichkeit der Philosophie. ›Philosophie‹ hier nun ausdrücklich als der Name desjenigen Grundzugs europäischen Denkens verstanden, der sich in dem Gang seiner Geschichte als der jeweils zeitgemäße, der jeweils ›epochal‹ verbindliche, zuletzt, seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts (der Meji-Zeit in Japan) als der ›weltweit‹ maßgeblich gewordene herausgestellt hat. Die Erinnerung an die poetischen, die künstlerischen Gegensprüche zu dem wissenschaftlich-philosophi­ schen Begründungsanspruch kann aber jetzt schon darauf verweisen, daß der Name ›Europa‹ selber ähnlich zweideutig ist wie der der ›Phi­ losophie‹. Zu den vier Zitaten aus dem Satz vom Grund. – Angelus Silesius (›Die Ros’ ...‹): Cherubinischer Wandersmann, erstes Buch, Spruch 289 ›Ohne warumb‹. (Hier nach der Kritischen Ausgabe von Louise Gnädiger, Stuttgart 1984, S. 69) – Goethe (›Doch Forschung ...‹): Aus dem Gedicht ›Als Allerschönste bist du anerkannt ...‹ des Zyklus Chinesisch-deutsche Jahres- und Tageszeiten. (Goethes Gedichte in zeitlicher Folge, 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1982, S. 1137.) – Goethe (›Wie? Wann? und Wo? ...‹): Aus der Gruppe Gott, Gemüt und Welt der von Goethe 1815 veröffentlichten Sprüche in Versen. (In der Hamburger Goethe-Ausgabe von Erich Trunz, 10. Aufl. 1974, Band 1, S. 303; Kommentar: S. 645f. – Goethes Gedichte in zeitlicher Folge, S. 612.) – Für aufschluß­ reiche Gespräche zu den beiden Goethe-Stellen (sowie auch zu dem am Schluß erwähnten Sanskrit-Begriff ›tri-loka‹) im Anschluß an den Vortrag in München dankt der Verf. Dr. Ruprecht Paqué (Düsseldorf). – Die Mozart-Äußerung stammt aus einem (auf 1790 anzusetzenden) Brief, der »als zumindest teilweise gefälscht« bezeichnet wird (ein Bedenken, das das Ganze dieses Textes schon in seinem Stil nahelegt). Dieser Einwand (den die Musikzeitschrift, nach der Heidegger zitiert, nicht erwähnt) trifft aber nicht das – auch sonst vielfach bezeugte – Verfahren Mozarts. Dazu hier nur eine frühere Bemerkung Mozarts: Am 30. Dezember 1780 bittet er in einem Bericht über die Arbeit an dem dritten Akt des Idomeneo den Vater um den Ratschlag zu einer Arie; dabei erklärt er: »komponiert ist schon alles – aber geschrieben noch nicht«. (Die ›Auszüge aus Mozartbriefen‹, Das Musikleben, I. Jahrgang, 1. Heft, Mainz 1948, s. Der Satz vom Grund, S. 117, sind an der zitierten Stelle überschrieben: »Wie wird komponiert? Äußerungen von W. A. Mozart«. – Das Ganze jenes ›Briefes‹ jetzt in: Mozart, Briefe und Aufzeichnungen, Gesamtausgabe, hrsg. von W. A. Bauer u. O. E. Deutsch, Bd. IV, Kassel/Basel/Paris u.a. 1963, S. 527–531; zur Überlieferung: S. 673– 675. Auf den von Heidegger wiedergegebenen Ausschnitt hat sich danach bereits C. G. Carus mehrmals berufen. – Die Stelle aus dem Brief vom 30. Dezember 1780: in der gleichen Ausgabe, Bd. III, S. 78.) Der Verf. dankt für Hinweise und Gespräche dazu Prof. Dr. Arnold Feil und Maria Bieler vom Musikwissenschaftlichen Institut der Uni­ versität Tübingen. 34

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1 Philosophie und Geschichte

Ungeschichtlich ist der dominierende Zug des europäischen Denkens von Platon bis zu Hegel und Husserl und auch bis zu Dilthey und dem späteren Nietzsche nicht, weil er (wie zumeist) das Bestehen von Geschichte ignoriert, sondern darum, weil sein Selbst­ verständnis, seine Praxis das Denken von Geschichte ausschließt. ›Die Philosophie‹ ist auch dann, wenn sie von Geschichte handelt, von Heilsgeschichte seit Augustinus, Entwicklungsgeschichte seit der Aufklärung, Systemgeschichte seit Fichte, ›Bildungs‹-Geschichte seit Hegel, selber stets darüber oder darunter, niemals darin. Was Heidegger seit den sechziger Jahren an der Kybernetik so außerordentlich fasziniert hat, daß er über Jahre hin regelmäßig Gespräche mit Fachleuten (z. B. der IBM) geführt hat, das ist der Zug einer Methodologisierung (einer ›Mathematisierung‹) der Zeit auch dort noch, wo das scheinbar Nichtvorhersagbare, also: Nicht­ berechenbare (wie in allen ›offenen Systemen‹), den Anspruch des Rechnens, den Anspruch der Kalkulierbarkeit, den Anspruch also der Begründbarkeit in Frage zu stellen schien. Eine erweiterte Mathe­ matik (Wahrscheinlichkeitsrechnung, Statistik) und eine veränderte Systematik (die Subjekt-Objekt-Rückkopplung im Regelkreis) brin­ gen in der Kybernetik, in der Informatik die Zeit selber noch zur Strecke. (Daß einer der Begründer der Kybernetik, Norbert Wiener, in Leibniz den »Schutzpatron der Kybernetik« sah, konnte Heidegger 1956 noch nicht wissen.)35 Kann man im Falle der Kunst (mit Platon) von einem »alten Streit«, einer Verteidigung der Philosophie gegenüber der Anzie­ hungskraft der Dichtung, sprechen, der in der Historisierung der Künste bei Hegel und dem damit geleisteten Nachweis des Vergan­ genseins ihrer weltgeschichtlichen »Bestimmung« seinen Abschluß findet, so muß man im Falle der Geschichte von einer prinzipiellen Verleugnung sprechen. (Prinzipiell insofern, als hier, anders als bei einem Streit, die Antinomie selber noch verborgen bleibt.) Es ist gewiß kein Zufall, daß die großen Antipoden dieses – platonisch-cartesianischen – Zuges der europäischen Philosophie: Giambattista Vico (in seinem Kampf gegen Descartes), Hamann (in seinem Kampf gegen Kant), Hölderlin (in seinem Kampf gegen Fichte), der frühe Nietzsche (in seinem Kampf gegen Historismus und Herme­ neutik) allesamt erst seit etwa 1910 (den Studienjahren Heideggers) ›entdeckt‹ worden sind. Wobei es für uns heute unerheblich sein 35

S. dazu der Aufsatz Leibniz und die Kybernetik, S. 459-484.

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Die ›Kehre‹ in Heideggers Verständnis der Geschichte

kann, wieweit Heidegger selbst von diesen Nachbarschaften Notiz genommen hat. (Der eigene Ort des späteren Schelling: die Größe sei­ ner Zwiespältigkeit in der Verschränkung von Traditionsüberwindung und Traditionsverhaftung seit der Freiheits-Schrift, den Weltaltern und dem Erlanger Vortrag von 1821 Über die Natur der Philosophie als Wissenschaft, die Tragweite, die von daher seinem Überschreiten der Thematik der Philosophie in der Frage nach der Wahrheit des Mythos als dem Anfang der Hochkulturen, also dem Anfang mensch­ licher Geschichte zukommt, scheint mir bis heute noch nicht erkannt zu sein.)36

2 Der ›Satz vom Grund‹ Der meta-physische Zug der Philosophie entspricht dem Weg Europas (dem Weg der ›westlichen Zivilisation‹), der jetzt ›global‹ geworden ist. Er besteht – woran der Name ›metaphysisch‹ denken läßt – in der Übersteigung (der ›Transzendenz‹) der Natur. (Die Verwirklichung dieses Transzendierens der Natur ist die, sich selbst für antimeta­ physisch, für empirisch haltende neuzeitlich-moderne Naturwissen­ schaft.) Er besteht aber auch in der Leugnung der Geschichte. (Ein Symptom dafür ist das moderne Geschichtsbewußtsein.) Beides – Erhebung über die Natur, Abkehr von der Geschichte – hängt mitein­ ander zusammen. Dieser Zusammenhang spricht sich aus in der Macht (der in ihrer eigenen Fraglosigkeit beruhenden Macht) jenes »obersten Prinzips«, als das Leibniz das »principium reddendae rationis sufficientis«, den »Grundsatz vom zuzustellenden (und) zureichenden Grund« erkannt hat. Im Hinblick auf diese beiden Merkmale: des Zustellens und des Zureichens, läßt sich dieser ›Grund-Satz‹ als der Grund-Zug des europäischen Willens zur Begründung fassen. Er hat sich realisiert in der »Gabelung«, die der spätere Heidegger als die »ontotheologische« Verfassung der Metaphysik bezeichnet: einerseits dem Anspruch auf Erfaßbarkeit der Einheit alles Seienden (Ontologie), andererseits dem auf Erfaßbarkeit der Einheit selber in Gestalt eines ersten oder höchsten Seienden (zu Leibniz’ Zeit noch ›Gott‹ genannt). Zwei Ausnahmen: Hideki Mine, Ungrund und Mitwissenschaft. Das Problem der Freiheit in der Spätphilosophie Schellings, Frankfurt a. M./Bern/New York 1983. Joseph P. Lawrence, Schellings Philosophie des ewigen Anfangs. Die Natur als Quelle der Geschichte, Würzburg 1989. 36

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2 Der ›Satz vom Grund‹

Diesen doppelten Einheits-Anspruch: Erfassung der Allseitig­ keit und Erfassung der Ursächlichkeit, erfüllt Leibniz’ Gedanke der Monade. Jede Monade ist Individualität und Universalität zugleich, indem sie in je eigener Perspektive das ›All‹ spiegelt, d. h. vorstellt (perzipiert). Das aber ist kein reflektiver Zusatz zur ›Wirklichkeit‹ (ein ›Überbau‹), sondern der eine von zwei Faktoren der Wirklichkeit selbst: Von dem Spiegel des Ganzen, dem »Bild« der »Welt«, geht die Triebkraft des Handelns einer jeden Monade aus. Die »Vorstellung« ist der Antrieb des »Triebes«. (Die perceptio motiviert den appetitus.) Die Einheit beider Faktoren, die innere Zusammengehörigkeit von Vorstellung und Trieb, dieses Energie-Verständnis von Wirklichkeit läßt sich in das Fazit bringen: Wirklichkeit (Sein des Seienden) verstanden als Monade – das heißt: die Wirklichkeit (das Sein des Seienden) ist Wille. Was hat das Verständnis der Wirklichkeit als Wille mit dem ›Satz vom Grund‹ zu tun, also einem Satz, der, wie wir meinen, nur auf Wirklichkeits-Erkenntnis abzielt? Was hat das irrational klingende Moment des »Triebes« oder »Dranges« mit dem höchsten Prinzip der Rationalität zu tun? Die Hilfe, die für Heidegger zu seiner Erläuterung unserer, der heutigen Wirklichkeit Leibniz bedeutet, besteht in der Antwort auf diese Frage. Der ›Satz vom Grund‹ verstanden als Wille – das besagt: das Erkennen in den Dienst des Erzeugens stellen. Das Denken wird zum Vorstellen, wo die Wirklichkeit des Wirklichen zum Herstellen geworden ist. Dieses Vorverständnis von Wirklichkeit nach dem Muster des Herstellens sieht Heidegger schon im alten Rom (in dessen Abwand­ lung des Griechischen) erlangt: in dem Verständnis von aition (der Schuld an etwas) als causa, mit der Dominanz der causa efficiens, der Wirkursache. An einem Ausspruch Ciceros hebt Heidegger den inneren Zusammenhang von Kausalität und Effektivität als den Grundzug der ratio hervor: »Cicero sagt (Part. 110): Causam appello rationem efficiendi, eventum id quod est effectum. Gewohnterweise übersetzt, heißt dies: ›Als Ursache spreche ich an den Grund des Bewirkens, als Ausgang und Erfolg das, was das Bewirkte ist‹. Was sollen wir mit dieser Aussage des Cicero? ... Eventus ist das, was herauskommt; efficere ist das Heraus- und Hervorbringen ... Der Bezug auf das efficere kennzeichnet die ratio als causa. Diese causa

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gehört in den Bereich des Hervorbringens, dabei etwas herauskommt. Inwiefern gehört die causa dahin? Insofern sie den Charakter der ratio hat. Was heißt hier ratio? ... Ratio gehört zum Zeitwort reor, dessen leitender Sinn ist: etwas für etwas halten; das, wofür etwas gehalten wird, wird unterstellt, suppo­ niert. Bei solchem Unterstellen wird dasjenige, dem etwas unterstellt wird, auf das zugerichtet, was ihm unterstellt wird. Dieses: etwas nach etwas richten, ist der Sinn unseres Zeitwortes ›rechnen‹. Mit etwas rechnen, heißt: es im Auge behalten und sich danach richten. Auf etwas rechnen, heißt: es erwarten und es dabei als solches zurichten, worauf zu bauen ist.... Ratio heißt Rechnung.... Wir sagen: eine Rechenschaft ablegen. Die Sprache der Römer sagt: rationem reddere ... Daß das principium rationis ein principium red­ dendae rationis ist, liegt im Wesen der ratio selbst.« (SvG, S. 166–168.)

Was den neuzeitlich-europäischen Fortgang von dem römischeuropäischen Ansatz unterscheidet, das läßt sich an dem anderen der beiden Merkmale des ›Satzes vom Grund‹ bei Leibniz zeigen: neben dem reddendum, dem Anspruch auf Rechenschaft, das suffici­ ens, der Anspruch auf Vollständigkeit. Auch dieser Anspruch ist kein bloßer Zusatz. Er ist die Konsequenz des neuzeitlichen Ansatzes im Verständnis der Wirklichkeit nach dem Maßstab des »ich denke« als des fundamentum inconcussum, des unbedingt, des ohne Zweifel Sicheren. Dieser Anspruch auf unbedingte Sicherheit hat zu seiner Konsequenz den Anspruch auf zureichende Begründung, auf Voll­ ständigkeit, auf Perfektion. Diesen cartesianischen Grundzug der neuzeitlichen Wirklich­ keitserfahrung, dem Leibniz im Gedanken der Monade nachgeht, bringt Kant auf den Begriff. Es ist die Produktivität der Subjektivität in der »transzendentalen Methode« als der »Zustellung des zureichen­ den Grundes für die Gegenstände« (SvG, S. 137, s.a. 148–150). Damit gewinnt auch das zuerst genannte Merkmal, das redden­ dum, einen neuen Gehalt. Der Anspruch auf Rechenschaft wird jetzt erst zu dem des vorstellend-agierenden Ich, des »seiner selbst gewis­ sen Subjekts« (S. 169). Nur was vollständig repräsentierbar, was per­ fekt konstruierbar ist, ist kalkulierbar. Heidegger beschließt die Vorlesung Der Satz vom Grund (im Frühjahr 1956), indem er einem Ausspruch von Leibniz eine Äuße­ rung Heraklits gegenüberstellt. Der Ausspruch von Leibniz: »Cum

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2 Der ›Satz vom Grund‹

Deus calculat ... fit mundus« (wenn Gott rechnet, wird Welt). Die Äußerung Heraklits (der Anfang von Fr. 52): αἰὼν παῖς ἐστι παίζων (die Weltzeit – das Spiel eines Kindes)37. In einer viel früheren ausführlichen Behandlung von Leibniz, einer Vorlesung vom Sommer 1928 (der letzten in Marburg) mit dem Titel Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, steht das Wort »Cum Deus calculat fit mundus« ganz am Anfang (fast wie ein Motto) als Zeugnis der Nachbarschaft zwischen der ›Ontolo­ gie‹ von Leibniz und der ›Fundamentalontologie‹ von Sein und Zeit, der diese Vorlesung gewidmet ist. Das Wort »Cum Deus calculat fit mundus« steht (im Druck der Vorlesung) auf der ersten Seite des ers­ ten der beiden Hauptstücke, das überschrieben ist: »Destruktion der Leibniz’schen Urteilslehre auf die metaphysischen Grundprobleme« (S. 35). Hier nun ist mit dem Zitat nicht das besondere, das europä­ isch-neuzeitliche Seinsverständnis nach dem Maßstab des Rechnens angesprochen, sondern die philosophische Grunderfahrung einer Zugehörigkeit des Denkens zum Sein überhaupt, die in dieser Vorle­ sung an der Zugehörigkeit der Logik zur Ontologie bei Leibniz (also des ›Satzes vom Grund‹ zur Monadologie) als der geheime Grundzug von Leibniz’ Philosophie herausgearbeitet wird – und eben dies als Bestätigung, Bekräftigung von Sein und Zeit. Dieses Herausarbeiten des im Gesagten Angelegten (des im Geschriebenen Ungeschriebenen) nennt Heidegger »Destruktion«. An Zeugnissen aus Leibniz’ Logik und Ontologie (in Schriften und Briefen) – größtenteils schon denselben, die dann auch in den späte­ ren Leibniz-Interpretationen 1941 und 1956 behandelt werden – arbeitet Heidegger hier (1928) die von Leibniz selbst vorausgesetzte und darum von ihm nicht ausdrücklich thematisierte Grundlage jener beiden Bereiche, des ›logischen‹ und des ›ontologischen‹, als die intentional-transzendentale Reichweite der Subjektivität heraus. Das ›Willens‹-Konzept der Monadologie: das Sein des Seienden begriffen als »existiturire«, als ein ständiges Auf-Wirklichkeit-Aussein (vgl. Heidegger, Nietzsche II, S. 447), wird hier von Heidegger begriffen als eine Grundlage der eigenen Fundamentalontologie, deren ›Funda­ mental‹-Charakter eben darin besteht, daß sie das der Überlieferung Zugrunde-liegende ergründet, das an dieser selbst noch Verschlüs­ 37 Ergänzendes zu diesem Passus über den Satz vom Grund: in dem Vortrag des Verf. Selbstentfremdung – Weltentfremdung (1979 in Dubrovnik), hier S. 487-508.

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Die ›Kehre‹ in Heideggers Verständnis der Geschichte

selte entschlüsselt. Der eigene ›Grund‹ des ›Satzes vom Grund‹ ist – wie es hier (z. B. S. 194) heißt – die »Urtranszendenz«. In ihr glaubt Heidegger hier, 1928, auf einen Zusammenhang zwischen Leibniz’ Konzeption der Wirklichkeit als Wille und seinem ›Existential‹ der ›Sorge‹ gestoßen zu sein. In der Abhandlung Vom Wesen des Grundes aus dem gleichen Jahr 1928 lautet die Antwort auf die Titelfrage: »Die Freiheit ist der Grund des Grundes« (S. 53; WM, S. 171). Diese absichtlich paradoxe Formel, wonach das Problem der Logik (also der Sachverhalt der Gesetzlichkeit) seine Antwort im Sachverhalt der Freiheit (dem Entwurfscharakter des ›Daseins‹) findet, entspricht dem ›monadologischen‹ ›Wesensbezug‹ der Wahrheit zum Grund bei Leibniz (vgl. den Titel von § 9 der Vorlesung von 1928), also dem Grund der Wahrheit im Willen, dem Projektions- und Produktions­ charakter, in dem das Verfahren des Erkennens mit der Verfassung seiner Sache übereinkommt. Daß dieses – dieses ›monadologische‹ – Wirklichkeitsverständ­ nis nur eine unter ganz verschiedenen Weltauslegungen, Welterfah­ rungen ist, exemplarisch für uns heute zum Verständnis der eignen Weltepoche, der ›Neuzeit‹, der ›Moderne‹, aber eben darin alles andere als mustergültig, das ist in der Leibnizauslegung von 1928 weder gedacht noch auch nur denkbar. Die späteren Leibnizauslegungen (seit 1941) stellen in ihrer Kritik des Begründungswillens, in der Konfrontation des ›Warum‹ mit dem ›Weil‹ den Horizont der ersten Auslegungen in ein anderes Licht. Sie zeigen jetzt deren eigene Gebundenheit an eben diejenigen Strukturgesetze, die maßgeblich epochenprägend sind. Für den Unterschied der früheren zur späteren Phase in Heideggers ›Denkweg‹ hat sich der Gebrauch eines Ausdrucks ein­ gebürgert, den Heidegger selbst für eine Wende des Denkens schon mit Sein und Zeit und in Sein und Zeit gebraucht: die Rede von der ›Kehre‹. Die ›Kehre‹ nun von der einen zur anderen, der früheren zur späteren Weg-Richtung Heideggers läßt sich an dem Beispiel der frü­ heren und späteren Erläuterung von Leibniz kennzeichnen als eine Wende im Verhältnis zur Überlieferung, eine Wende nämlich von der Destruktion zur Konfrontation. Die Destruktion von Leibniz in der Vorlesung von 1928 ist die Arbeit des Begründens. Zwei Formulie­ rungen Heideggers aus dieser Vorlesung: Diese »Destruktion der Logik« ist eine »Begründung der Metaphysik« (S. 70). Die Frage nach den »metaphysischen Anfangsgründen der Logik« vollzieht sich als ein »kritischer Abbau der Überlieferung auf ihre verborgenen Funda­

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mente hin« (S. 27). Im Falle dieser Vorlesung entspricht das Verfahren dem Thema. Die Destruktion des ›Satzes vom Grund‹ bringt Leibniz’ eigene Intention als den ›Grund‹ des Grundes ans Licht. Eben diese ›Hinterfragung‹ auch noch des Willens zum Grund, eben diese Poten­ zierung des europäisch-neuzeitlichen Begründungsanspruchs ist kennzeichnend für das damalige Selbstverständnis von Sein und Zeit als einer ›Fundamentalontologie‹. Der Bezug auf Platon in dieser Vorlesung von 1928 bestätigt das. Die höchste Idee, ›das Gute‹, ist das alles bewegende und leitende ›Umwillen‹, dem die Erfahrung des ›Grundes‹ als ›Wille‹ bei Leibniz verwandt ist. Im Falle Platons nun macht die Wendung in der Deutung den Beginn der ›Kehre‹ aus. Die Wendung in Heideggers Weg-Richtung beginnt mit einer Verlagerung von der Destruktion zur Konfrontation bei der Auslegung des Höhlengleichnisses in dem Vortrag Platons Lehre von der Wahrheit. Dieser Vortrag ist zwar erst 1940 geschrieben (1942 veröffentlicht) worden; er geht aber auf eine Vorlesung aus dem Winter 1931/32 zurück. Seit einem halben Jahr ist auch der Text dieser Vorlesung ediert: Vom Wesen der Wahrheit. Zu Platons Höhlengleich­ nis und Theätet. Erkennbar wird die Wendung hier freilich erst an den ›Zusätzen‹ (›Beilagen zum Manuskript‹ s. S. 323), zu denen der Her­ ausgeber, Hermann Mörchen, vermerkt, sie seien »ohne größeren zeitlichen Abstand zur Vorlesung« angefügt worden (S. 334). Klar entschieden ist die Wendung in der Deutung Platons mit der Vorlesung Einführung in die Metaphysik vom Sommer 1935, die in Erörterungen zu Heraklit, Parmenides und Sophokles einerseits, zu Platon und der Sophistik andererseits ihr Leitmotiv hat. Zur Schlüsselfrage dieser Vorlesung wird eine Wendung bei den Griechen selbst in den Jahren um 400 v. Chr., eine Wendung, die sich an dem (vom jungen Nietzsche schon bemerkten) Generationseinschnitt zwischen Sophokles und Euripides in der Gestaltung der Tragödie genauso zeigt wie an dem Umschlag von der ›Hochklassik‹ (Phidias und Polyklet) zum ›Reichen Stil‹ (der Vorbereitung der ›Spätklassik‹ und des Hellenismus) in der griechischen Plastik seit dem Jahrzehnt zwischen 420 und 410 v. Chr. oder dem Beginn der Poliskrise und deren Darstellung bei Thukydides (also dem Umbruch nach dem Ende der Perikleszeit). Heidegger erkennt diesen Umschlag als einen Wandel des Denkens, der mit der Sophistik und Sokrates’ und Platons

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Die ›Kehre‹ in Heideggers Verständnis der Geschichte

Auseinandersetzung mit ihr den Anfang dessen ausmacht, was seither und bis heute ›Philosophie‹ heißt. Im Falle des Höhlengleichnisses: Das Viele und sich Verändernde verbirgt das Eine und Höchste, das Licht der Sonne, woraus der Philo­ sophie die Aufgabe zuwächst, dieses Verborgene als das in Wahrheit Wahre, ›das Gute‹, zum Leuchten zu bringen und das heißt, erstrebens­ wert, zur Sache der Paideia (der Erziehung) werden zu lassen. (Das meint Heidegger mit seiner Behauptung, die ›Seinsvergessenheit‹ bestehe darin, daß ›das Sein‹ als ein Seiendes aufgefaßt werde.) Dieser Wendung vom Innestehen im Spiel der Welt zur Auf­ teilung in eine Innenwelt und Außenwelt, die wir erringen und erleiden, entspricht im Falle der Plastik die Wendung von dem durchs Werk eröffneten Spielraum zu dem am ›Betrachter‹ festgemachten Perspektivraum. (Der platonische Begriff der Kunst als Mimesis ist Konsequenz und Ausdruck dieser Wendung zur Welt-Betrachtung: der Zurichtung der Welt auf den Menschen hin, der nun erst zum Betrachter geworden ist.) – Im Falle der Tragödie ist das die Wen­ dung von der ›Kosmologie‹, der Erneuerung der Weltordnung durch die Erkenntnis ihrer Gefährdung in der Hybris des Menschen, zur ›Psychologie‹ in der Verselbständigung menschlicher Konflikte bei Euripides. – Und in der Politik tritt an die Stelle des verbindenden Agons die Konkurrenz von Machtzentren. Diesen ›kulturgeschichtlich‹ nachweisbaren Umschlag um 400 v. Chr. analysiert Heidegger in dieser Vorlesung von 1935 in der Kon­ frontation der ›vorsokratischen‹ Physis mit der platonischen Idee (bes. S. 133–148 der Erstausgabe), das heißt: als den Gegensatz von Daste­ hen und Darstellen (S. 45–48). Der Titel dieser Vorlesung: Einführung in die Metaphysik zeigt, wie wenig sich Heidegger bei ihrer Planung selber schon der damit angebahnten ›Kehre‹ bewußt war. In Wahrheit ist mit dieser »Einfüh­ rung« bereits der Schritt getan, den Heidegger dann später (seit dem Krieg) ›Überwindung der Metaphysik‹ nennt. Im Falle Nietzsches tritt die Wendung von der Destruktion zur Konfrontation mit Entschiedenheit erst im Fortgang der Nietzsche­ vorlesungen ein. Die erste (vom Winter 1936/37): Der Wille zur Macht als Kunst, hebt analog zu dem ersten Kant-Buch (von 1929) die Bekräftigung des eigenen Denkens durch Nietzsches ›Metaphysik‹ hervor; in diesem Fall: die intentionale Zusammengehörigkeit von Rezeption und Produktion, den schöpferischen Grundzug des Den­ kens in Nietzsches Einsicht in den »Zwiespalt zwischen Wahrheit und

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2 Der ›Satz vom Grund‹

Kunst« (S. 166f.) und dessen Nachbarschaft zu dem Sein und ZeitGedanken von dem Handlungs-Horizont, dem ›Entwurfs‹-Charakter in der Welt-Erfahrung. In der dritten Vorlesung (vom Sommer 1939): Der Wille zur Macht als Erkenntnis dagegen wird am Denken Nietz­ sches (nach intensiven Handschriftenstudien übrigens, während der vorausgegangenen Semesterferien in Weimar), an seiner Lehre vom ›Willen zur Macht‹, die damit uns gegebene Möglichkeit einer Ein­ sicht in die besondere, die geschichtliche Verfassung unseres Zeital­ ters, also (und dies nun ganz gegen Nietzsches Überzeugung) im Unterschied zu anderen Zeitaltern, von Heidegger eröffnet. Nietz­ sches Glaube, mit seinem Gedanken vom ›Willen zur Macht‹ einen Grundzug von Erkenntnis (einen Wesenszug von Welt und Mensch) entdeckt zu haben, wird von Heidegger – seit 1939 – einerseits auf eine Ära der Geschichte (eben unsere) eingeschränkt, damit anderer­ seits aber auch ›verifiziert‹, nämlich als eine Möglichkeit zur Diagnose unserer Gegenwart in ihrer eigenen Gefährdung, – mit Nietzsches Wort: als »Nihilismus«. Eine Vorbereitung dieses Schrittes der ›Kehre‹ im Falle Nietz­ sches stellt die Verlagerung in Heideggers Descartes-Verständnis dar. Nach der ›Kehre‹ tritt das eigentümliche Pendant-Verhältnis zwischen Platon und Descartes hervor: So wie Platon der Anfang der Philoso­ phie, so ist Descartes der Anfang der neuzeitlichen Philosophie. Hier nun zeigt sich die Wende, der Unterschied also zur Descartes-Ausle­ gung von Sein und Zeit, erstmals in dem Vortrag Die Zeit des Welt­ bildes vom Sommer 1938. Der (erst nachträglich formulierte) Titel nennt das Resultat dieses Vortrags vor der »Kunstwissenschaftli­ chen«, der »Naturforschenden« und der »Medizinischen Gesell­ schaft« (s. HW, S. 369) zu Freiburg. Die neuzeitliche Wissenschaft – hier exemplifiziert am NaturBegriff in der Physik von Galilei und Newton sowie an der historischkritischen Methode in den Geisteswissenschaften – ist mit ihren Erfolgen, mit ihren empirischen Wahrheitsbeweisen ein Symptom des spezifischen ›Weltbild‹-Charakters unserer Epoche: Erst seit dem 17. und 18. Jahrhundert wird als wirklich (als erkennbar) nur noch zuge­ lassen, was dem ›Blickpunkt‹ unserer Perspektive angemessen ist. (Erst zu Leibniz’ Zeit begann die Herrschaft der schon von der Renais­ sance ›entdeckten‹ Zentralperspektive.) Was sich diesem ›Blickpunkt‹ öffnet, das ist derjenige – bis dahin unbeachtet gebliebene – Faktor der Wirklichkeit (der Naturgegebenheiten ebenso wie der kulturellen Leistungen), der das prinzipiell Herstellbare an ihr ausmacht. Das

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Die ›Kehre‹ in Heideggers Verständnis der Geschichte

Erkennbare ist seither – diesem theoretischen Erkenntnisansatz nach – das Machbare. In dieser Fundierung der Wirklichkeit in der Subjekti­ vität, in dieser Zurichtung des Seienden auf Begreifbarkeit und damit Machbarkeit hin (das ›Objekt‹ ist der ›Blickpunkt‹ des Erkenntniswil­ lens) sieht Heidegger jetzt das von Descartes zu Lernende und damit den modernen, durch den technischen Erfolg der Naturwissenschaften verifizierten Sinn der Rede: »der Mensch ist das Maß aller Dinge«, – ganz im Unterschied zu dem noch immer griechischen und damit tragischen Sinn dieser Rede bei dem Sophisten Protagoras. Im Falle von Descartes liegt nun im Verhältnis zu dem »Destruk­ tions«-Plan aus dem Gesamtprojekt von Sein und Zeit weniger eine Wende vor (wie bei Leibniz oder auch bei Kant) als vielmehr eine Klärung. Die Wende besteht hier in der Klärung. Der Plan des – historischen – zweiten Teils von Sein und Zeit sollte an Descartes das »ontologische Fundament« des »cogito sum« erörtern: eine Kritik also an Descartes’ Verständnis des Seins der »res cogitans« nach dem Muster der »res extensa« (dem Vorhandenen) in einer »phänomenologischen Destruktion« der »res cogitans« (vgl. SuZ, S. 39f.). Heidegger kritisiert hier also lediglich die Ausführung, legitimiert aber dabei – ganz ähnlich wie vor ihm Leibniz oder neben ihm Husserl in ihrer Descartes-Kritik – den cartesianischen Versuch, die Wirklichkeit, das Seiende im Ganzen an der Sicherheit der Selbst­ gewißheit festzumachen. Die ›Kehre‹ in Heideggers Verhältnis zu Descartes besteht dem­ nach darin, daß die in Sein und Zeit noch ungeklärt gebliebene Anti­ nomie zwischen »Dasein« und Subjektivität von Heidegger erkannt wird, – die Antinomie zwischen dem In-der-Welt-sein des Menschen und dem Sich-die-Welt-Verfügbarmachen durch den Menschen, die Antinomie also zwischen »Sorge« und »Wille«. Erst jetzt – seit etwa 1938 – wird Heidegger klar, daß das carte­ sianische Vorstellen nicht lediglich eine Substantialisierung ist, die man daseinsanalytisch »verflüssigen« muß, sondern der Anfang jenes »nach-stellenden« »Zu-stellens«, das sich im »Ge-stell« der Technik vollendet. Dieser geschichtlichen Gegebenheit, diesem »Geschick« gegenüber ist kein Auflösen und Abtragen, ist keine ›Archäologie‹ mehr angebracht, sondern nur noch eine Abkehr: ein Erläutern und Erörtern, das diese Macht der Tradition entmachtet38. Für die Unterscheidung von ›Destruktion‹ und Konfrontation sei hier auf fünf Beispielpaare verwiesen, von denen in dem Vortrag nur eines – Leibniz – ausführlicher, 38

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3 ›Seinsgeschichte‹ als Welt-Geschichte

3 ›Seinsgeschichte‹ als Welt-Geschichte Das Bild der ›Kehre‹, das Heidegger selber für die Wendung von dem Titelgedanken Sein und Zeit zu dem Titelgedanken Zeit und Sein gebraucht, eine Wendung also, die schon mit Sein und Zeit angebahnt ist, ist mehrdeutig. Es kann einerseits die Bedeutung einer Umkehr haben, die ein bestimmter Weg – z. B. der des Bauern auf dem Feld, der des Jägers im Wald oder auch der eines Bergsteigers – von Anfang an verlangt. Es kann aber auch den einer Abkehr von der Ausgangsrichtung haben, die – unvermutet, unerwartet – erst unterwegs notwendig wird. Diese Mehrdeutigkeit macht den eines – Kant – gar nicht behandelt worden ist. – Den Einschnitt bezeichnet jeweils der Gedankenstrich. Die zeitliche Folge der Einschnitte markiert das Übergangsfeld der ›Kehre‹ Heideggers. Platon. 1931/32: Vom Wesen der Wahrheit. Zu Platons Höhlengleichnis und Theätet (HGA Bd. 34, 1988). – Nach 1932: Die ›Zusätze‹ ebd., S. 324–332; zwischen 1931 und 1940: Platons Lehre von der Wahrheit; SS 1935: Einführung in die Metaphysik (bes. IV, 3: ›Sein und Denken‹). Descartes. 1927: Sein und Zeit, Plan des zweiten Teils, S. 24–26. – 1935/36: Die Frage nach dem Ding (B. I. 5. ›Die neuzeitlich-mathe­ matische Naturwissenschaft ...‹); 1938: Die Zeit des Weltbildes (in: ›Holzwege‹); 1940: Der europäische Nihilismus (in: ›Nietzsche‹, Bd. 2). Leibniz. SS 1928: Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz (HGA Bd. 26, 1978). – 1941: Die Metaphysik als Geschichte des Seins (in: ›Nietzsche‹, Bd. 2); 1955/56: Der Satz vom Grund. Kant 1927/28: Kant und das Problem der Metaphysik. – 1935/36: Die Frage nach dem Ding. Zu Kants Lehre von den transzendentalen Grundsätzen; 1950: Das Ding (in: ›Vorträge und Aufsätze‹); 1955/56: Der Satz vom Grund. Nietzsche. 1936/37: Der Wille zur Macht als Kunst (in: ›Nietzsche‹, Bd. 1; HGA Bd. 43), – SS 1937: Die ewige Wiederkehr des Gleichen (in: ›Nietzsche‹, Bd. 1; HGA Bd. 44); SS 1939: Der Wille zur Macht als Erkenntnis (in: ›Nietzsche‹, Bd. 1). Hilfreiche Beiträge dazu aus der Heidegger-Literatur. Zum Verfahren der ›Destruk­ tion‹ und Heideggers eigener ›Kehre‹: O. Pöggeler, Der Denkweg Martin Heideggers, Pfullingen 1963 (bes. VI ›Metaphysik als Geschichte‹ und VII ›Verwindung der Meta­ physik‹). Dieter Sinn, ›Heideggers Spätphilosophie‹, in: Philosophische Rundschau 14, 1967, S. 81–182, bes. die erste Hälfte (bis S. 125). F.- W. von Herrmann, Das Ende der Metaphysik und der andere Anfang des Denkens. Zu Heideggers Kehre (Vortrag in Meß­ kirch 1988; der Verf. dankt Prof. Dr. von Herrmann für die Möglichkeit der Ms.-Lek­ türe). – Aus der Sammlung ›Durchblicke‹, 1970. Zwei Beiträge zur Wende: Walter Hirsch, Platon und das Problem der Wahrheit. Hansgeorg Hoppe, Wandlungen in der Kant-Auffassung Heideggers. Zwei Beiträge zur Eigenart der jeweils ersten Phase: F.W. von Herrmann, Sein und Cogitationes – Zu Heideggers Descartes-Kritik. Wolfgang Janke, Die Zeitlichkeit der Repräsentation – Zur Seinsfrage bei Leibniz. – Zur Wendung in der Nietzsche-Auslegung: s. die Gegenüberstellung im 3. Absatz des Nachwortes von Marion Heinz in der von ihr besorgten Ausgabe der ›Nietzsche‹-Vorlesung vom SS 1937, HGA Bd. 44, 1986, S. 247f., und O. Pöggeler a.a.O. unter VI.

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Die ›Kehre‹ in Heideggers Verständnis der Geschichte

Ausdruck ›Kehre‹ geeignet, ihn für die Wendung zu gebrauchen, die Heideggers Denken nach Sein und Zeit von diesem Werk (und den in seinem Horizont verfaßten Vorlesungen und Vorträgen) unterschei­ det: eine von Anfang an (seit den Vorbereitungen zu Sein und Zeit zu Beginn der Zwanziger Jahre) inaugurierte Wendung innerhalb der philosophischen Tradition und eine Wendung auch noch gegen diesen Plan des eignen ersten Anfangs (ein eigener ›anderer Anfang‹ also) sind hier ineinander verschränkt. Während nun Heidegger selbst in seinen späteren Rückblicken auf Sein und Zeit fast immer nur den ersten dieser beiden Akzente hervorhebt, der den Fortgang als Erfüllung der mit Sein und Zeit schon angelegten ›Kehre‹ erscheinen läßt, steht es uns, den Lesern Heideggers, zu, zuerst einmal den zweiten Akzent zu klären, die Frage also, was Heidegger selber meinen könnte, wenn er von einer Wen­ dung der Blickrichtung spricht: ›Ausgang vom Dasein‹ im Umkreis von Sein und Zeit, ›Ausgang vom Sein selbst‹ danach. Für einen Zugang zum Verständnis dieser Wendung eignet sich die Gegenüberstellung solcher Interpretationen, in denen Heidegger sich sowohl im Umkreis von Sein und Zeit als auch nach der eignen ›Kehre‹ mit demselben Philosophen, demselben Werk oder, wie im Falle von Leibniz, denselben Äußerungen befaßt hat. Das hier ausführlicher behandelte Beispiel Leibniz, die Hinweise auf Platon, Descartes und (als Grenzfall) Nietzsche lassen die ›Kehre‹ Heideggers als einen Wechsel zwischen zwei – antipodisch verschiedenen – Arten von Traditionsverarbeitung erkennen. Die ›Destruktion‹ im Umkreis von Sein und Zeit ist noch von der Überzeugung geleitet, aus dem Tradierten nur herausholen zu müssen, was da schon untergründig, unausdrücklich angelegt ist: In allen Reden vom Überzeitlichen der Metaphysik verbirgt sich doch eine – insgeheim fundierende – Erfah­ rung der Zeit. Diese freizulegen kann darum ›Fundamentalontologie‹ heißen. Sie bringt den ›Grund‹ – im Falle von Leibniz den Grund des ›Satzes vom Grund‹ – ans Licht. Die ›Kehre‹ Heideggers besteht in der Erkenntnis, daß dieser Glaube an die Möglichkeit einer her­ meneutischen Einverwandlung der metaphysischen Tradition in den Neuanfang der eignen Zeiterfahrung, dieser Glaube an die Transpo­ nierbarkeit der Tradition in das jetzt Aufgegangene und vielleicht auch Aufgegebene ein Irrtum war. Es sind gerade die Beweggründe selbst: die Konzeption des Seins als ›Idee‹ bei Platon, der Maßstab der Wirk­ lichkeit in dem ›Ich denke‹ bei Descartes, die Konsequenz Descartes’ in der Monadologie von Leibniz, der ›Wille zur Macht‹ als Horizont

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der Erkenntnis bei Nietzsche, – es ist gerade das metaphysische Fundament, was die Erfahrung des Zusammenhangs von ›Sein‹ und ›Zeit‹ verwehrt, worin also die ›Seinsvergessenheit‹ besteht. Dieser Unterschied läßt sich auch so formulieren, daß es gerade der Wille zum Grund, das Prinzip also des Fundierens selber ist, worin der Seinsentzug besteht. Der metaphysischen Tradition gegenüber bedeutet Heideggers eigene ›Kehre‹ die Wendung von der anfänglichen – der ›destruieren­ den‹ – Einkehr zur späteren – der konfrontierenden – Abkehr. Jenem eignen – ersten – Anfang gegenüber, also dem Umkreis vom Sein und Zeit im Ganzen gegenüber bedeutet die Wendung zu der späte­ ren Ausrichtung des Denkwegs, dem ›anderen Anfang‹ Heideggers, dagegen keine Abkehr. Hier handelt es sich um die nachträgliche Einsicht in einen während der Abfassung von Sein und Zeit noch ungedacht gebliebenen Sachverhalt, die Einsicht in die Zweideutigkeit der Rede vom ›Dasein‹, die damalige Unentschiedenheit in dem eigenen Gedanken der Zeit als dem ›Horizont‹ des ›Seins‹. Die eigne ›Kehre‹ Heideggers – frühestens seit 1931, spätestens seit 1938 –, das ist die Einsicht in die Zweideutigkeit von Sein und Zeit, die während der Abfassung und in ihrem Umkreis noch ungeklärte, unentdeckte Verschränkung zweier Wegrichtungen: der Selbst-Behauptung und der Welt-Befreiung. Achten wir nun auf die Wendung in Heideggers Weg-Richtung in seinen Leibniz-, Platon-, Nietzsche- und Descartes-Erläuterungen, dann läßt sich seine eigne Kennzeichnung der ›Kehre‹: Ausgang ›vom Dasein‹ – Ausgang ›vom Sein selbst‹, umschreiben als: Ausgang vom Entwurf der Zeit – Ausgang von der Zeit, oder: Ausgang von der Geschichtlichkeit des Menschen – Ausgang vom Geschehen der Welt. Diese Konsequenz der eignen ›Destruktion‹ von Sein und Zeit nach dem neuen Lesen Platons und Descartes’, dem ›Zusammen‹Lesen des Einschnitts am Beginn der Metaphysik bei den Griechen mit dem Einschnitt am Beginn der Philosophie der Neuzeit, hat selber zwei Aspekte: die Einsicht in die Epochen-Struktur der überlie­ ferten Geschichte einerseits, die Einsicht in das Epochale des eigenen Zeitalters andererseits, im einen Fall: die Epochengliederung, das Diskontinuierliche im Gang der Geschichte, im anderen Fall: die Wirklichkeit und Möglichkeit (das ›Geschick‹) des Heutigen in seiner geschichtlichen Konstellation.

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Die ›Kehre‹ in Heideggers Verständnis der Geschichte

Erst seit den Wendungen, wie sie 1935 an Platon, 1938 an Descartes, 1941 an Leibniz erkennbar werden, realisiert Heidegger diejenige Verfassung der Welt-Geschichte, die die Geschichtserfahrung der Menschheit schon so lange kennt, wie es menschliche Geschichte gibt, also seit dem Beginn der ›Hochkulturen‹: die Verschiedenartigkeit von Epochen und Regionen, – bei den alten Griechen z. B. das aus­ drücklich von der eignen Zeit abgeschiedene Zeitalter der ›Heroen‹ (also das mykenische und minoische Zeitalter), die Region der ›Bar­ baren‹ (der Perser) und das – sowohl andere als auch ältere – Reich der Ägypter. Dieses dem jeweils ›Eignen‹ gegenüber – im Großen oder Schlimmen, im ›Klima‹ wie in den ›Sitten‹ – unvergleichlich Andere, diese wesenhafte ›Andersartigkeit‹, die das Sichwandeln der Geschichte ausmacht, klingt in unserm Sprachgebrauch in dem Begriff des ›Epochalen‹ an. Diese epochale Verfassung der Geschichtszeit tritt in Fällen wie der Wendung am Ende der Perikleszeit (dem Beginn der Metaphysik in Griechenland), der Verwandlung des Griechischen durch die Römer, der Verbindung des Christlich-Hebräischen mit dem Römischen und Nordalpinen im Mittelalter, der – noch immer geheimnisvollen – Begegnung von ›Norden‹ und ›Süden‹ im Zeitalter der ›Renaissance‹ und ›Reformation‹, dem Beginn der Neuzeit im 17. Jahrhundert und schließlich der – ihrer zu großen Nähe wegen am schwersten zu erkennenden – Eigenart ›unseres Zeitalters‹, – dieser epochale Wesenszug der Geschichte tritt erst nach der ›Kehre‹ in Heideggers Denken ein. In dieser Wendung von der ›Geschichtlichkeit‹ des ›Daseins‹ zur Epochalität der Welt-Geschichte besteht die ›Kehre‹ Heideggers. Ent­ wicklungsunterschiede zwischen Platon und Hegel und auch schon zwischen Platon und Aristoteles, zwischen dem Früh- und Spätwerk Platons berücksichtigt Heidegger natürlich von Anfang an. Aber es gibt in Sein und Zeit noch nicht den Einschnitt zwischen ›Vorsokrati­ kern‹ einerseits und Sophistik plus Sokrates und Platon andererseits, oder auch – umgekehrt – die weltgeschichtlichen Zusammenhänge zwischen Descartes und Leibniz, zwischen Kant und Nietzsche, so wie dies im Falle der Griechen seit der Einführung in die Metaphysik, im Falle des ›Abendlandes‹ im Ganzen seit der Vorlesung innerhalb des Nietzsche-Zyklus Die Metaphysik als Geschichte des Seins (von 1941) der Fall ist. (In dieser Vorlesung wird Leibniz erstmals als ein Angelpunkt des Geschichtsgangs behandelt.) Dieser weltgeschichtlich-epochalen ›Seinsgeschichte‹ gegenüber sind die Analysen der ›Geschichtlichkeit‹ des ›Daseins‹ im Umkreis

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3 ›Seinsgeschichte‹ als Welt-Geschichte

von Sein und Zeit noch eigentümlich ungeschichtlich, übergeschicht­ lich, – noch eigentümlich ›formal‹. In dieser Hinsicht stellt Sein und Zeit (ähnlich wie auch Husserl) einen Rückfall hinter die historische und hermeneutische Arbeit Diltheys oder Hegels dar – trotz der Berufung auf beide am Ende des veröffentlichten Teils von Sein und Zeit. Das Wahrnehmen und Ernstnehmen der Geschichte in ihrer Epochenstruktur ist aber nur der eine Aspekt der ›Kehre‹. Der andere, das ist die erst jetzt, zwischen 1931 und 1938, zur Sprache kommende, ins Denken tretende Fragwürdigkeit der eigenen Epoche, der Gegen­ wart also als einer geschichtlichen Epoche. Die Freiburger Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik? von 1929 war noch eine Deutung der Philosophie als der metaphysischen Grundlegung der Wissenschaften. Das ›Nichts‹: der Raum des For­ schens als des Fragens nach dem Seienden in seinen einzelnen Erstrec­ kungen. Ein kritischer Akzent richtete sich hier allenfalls gegen die Zeichen des Verfalls: den Abfall des aktuellen Wissenschafts-Betrie­ bes von der weltverändernden Macht, die dem wissenschaftlichen Entwurf von Haus aus zukommt, – von Haus aus: aus seinem philo­ sophischen Fundament. Dieses Fundament ›fundamentalontologisch‹ freizulegen, darin sah Heidegger damals, bei dieser Rückkehr in die »Gemeinschaft von Forschern, Lehrern und Studierenden« der Hei­ matuniversität, noch die Chance und den Auftrag, die Wissenschaft als »Daseins«-Element zu reformieren39. Etwas ganz anderes, in ethi­ Je zwei Bemerkungen aus dem Anfang und dem Ende des Vortrags Was ist Meta­ physik? von 1929. (Zitate nach der 5. Aufl. 1949 und den Wegmarken.) (I,1) Das Ansatzproblem: »Unser Dasein – in der Gemeinschaft von Forschern, Lehrern und Studierenden – ist durch die Wissenschaft bestimmt. Was geschieht Wesentliches mit uns im Grunde des Daseins, sofern die Wissenschaft unsere Leidenschaft geworden ist?« (22/103) (1,2) Die Ausgangssituation (die heutige Not): »Die Gebiete der Wissenschaften liegen weit auseinander. Die Behandlungsart ihrer Gegenstände ist grundverschieden. Diese zerfallene Vielfältigkeit von Disziplinen wird heute nur noch durch die technische Organisation von Universitäten und Fakul­ täten zusammen- und durch die praktische Zielsetzung der Fächer in einer Bedeutung gehalten. Dagegen ist die Verwurzelung der Wissenschaften in ihrem Wesensgrund abgestorben« (22f./104). – (II,1) Die Konsequenz der Antwort auf die Titelfrage für das Ansatzproblem: »Metaphysik ist das Hinausfragen über das Seiende, um es als ein solches und im Ganzen für das Begreifen zurückzuerhalten« (35/117). (II, 2) Was das konkret besagt, haben die Hörer des Vortrags mit dem unmittelbar Vorausgegangenen im Ohr: »Die Angst«, die als die Erfahrung des »Nichts« »das Da-sein allererst vor das Seiende als solches« bringt (31/114), ist damit, daß sie »nur in seltenen Augenblicken« geschieht (32/115), nicht fern. »Sie schläft nur. Ihr Atem zittert ständig durch das 39

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Die ›Kehre‹ in Heideggers Verständnis der Geschichte

scher Hinsicht fast eher noch das Gegenteil, ist die ›seinsgeschicht­ liche‹ Aufklärung der neuzeitlich-modernen Wissenschaftsstruktur als des unheimlichen Schlüssels dieser Epoche. Hier – seit dem ›Weltbild‹-Vortrag von 1938 – geht es nun (ganz im Unterschied zu 1929) gerade um die Problematik des philosophisch-schöpferischen ›Ursprungs‹ dieser Art von Weltveränderung. Damals: das Pathos der Erneuerung, jetzt: der Einspruch des Erschreckens. Die Freiburger Rektoratsrede von 1933 steht noch ganz in eben jenem Pathos der ›Naherwartung‹, der ungeschichtlichen ›Geschicht­ lichkeit‹ des ›Daseins‹-Ethos, aus der Heidegger glaubte, eine meta­ physische Erneuerung der Universität im Rückgang auf den »Grund«, den Praxis-Grund der Wissenschaften selber proklamieren zu kön­ nen. Eben diesen Praxis-Grund – diesen Willens-Grund – erkennt er bald darauf, in der Belehrung durch Descartes und Nietzsche und der erneuten Beachtung von Leibniz wie von Kant, als die ›Seinsvergessen­ heit‹ der Subjekt-Perspektivität. Die ›Kehre‹ ist also auch eine Abkehr von der eigentümlichen Neutralität der Ethik von Sein und Zeit (deren Unentschiedenheit im Wie des Entscheidungs-Pathos) zu einem verbindlichen Ethos. Was damit über Heidegger und den Nationalsozialismus zu sagen ist, besteht in einem Zusammenhang von, wie mir scheint, vier Momenten. 1. Die Wendung gegenüber Sein und Zeit ist keine Abkehr, sondern der Beginn der Unterscheidung dessen, was in Sein und Zeit noch unentschieden blieb: eine Überschreitung – aber eben damit auch Realisierung – der Schwelle, die Sein und Zeit bedeutet. An der Entschiedenheit dieser ›Destruktion‹ kann kein Zweifel bestehen. 2. Mit Sicherheit waren die politischen Bekenntnisse um 1933/34 ein Irrtum. Was Heidegger den Vorkommnissen und Pro­ klamationen zwischen ›Machtergreifung‹ und ›Triumph des Willens‹ unterstellte, war diesen selber fremd. 3. Wohl dagegen besteht in dem, was Heideggers Ruhm aus­ machte, den Ruhm des Lehrers schon seit etwa 1920 und dann den des Autors seit dem Erscheinen von Sein und Zeit, eine Affinität zu der Dasein: am wenigsten durch das ›ängstliche‹ und unvernehmlich für das ›Ja, Ja‹ und ›Nein, Nein‹ des betriebsamen; am ehesten durch das verhaltene; am sichersten durch das im Grunde verwegene Dasein. Dieses aber geschieht nur aus dem, wofür es sich verschwendet, um so die letzte Größe des Daseins zu bewahren« (34/116).

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damals (in Deutschland und auch außerhalb Deutschlands) weit ver­ breiteten Infektionsbereitschaft für diesen ebenso verhängnisvollen wie uns heute unbegreiflichen Irrtum. Diese Infektionsbereitschaft war vielleicht in keinem Motiv so konzentriert wie in dem Pathos der Freiheit – unter Arbeitern wie Intellektuellen, unter Monarchisten wie unter Sozialisten. Dieses Pathos war damals vereinbar mit der Rede von ›Einsatz‹, ›Opfer‹ und ›Dienst‹. Die Hörer, die sich in Heideggers Leibniz-Vorlesung Anfangsgründe der Logik 1928 von solchen Forderungen angesprochen fühlten, gehörten wahrscheinlich zu den moralisch Engagiertesten. Und schließlich 4. Aus Heideggers eigner Wendung, der Entfal­ tung seiner ›Kehre‹ in den Jahren zwischen 1935 und 1941 resultiert (in Gestalt der Nietzsche-Vorlesungen und des Beginns der TechnikAnalysen vor dem Hintergrund der ›totalen Mobilmachung‹) ein Beitrag zur Erkenntnis der geschichtlichen Struktur des deutschen Nationalsozialismus, des Zusammenhangs von weltweit Vorgegebe­ nem und unvergleichbar Eigenem, der damit, daß er allein nicht zureicht, noch lange nicht entbehrlich wird. Heidegger umschreibt die eigne ›Kehre‹ durch die dunkle (›mystisch‹ klingende) Rede: statt ›Ausgang vom Dasein‹ Ausgang ›vom Sein selbst‹, statt ›Seinsverständnis‹ ›Seinsgeschichte‹. Mit dem einen dieser beiden Wende-Zeichen ist die endgültige Befreiung von der Tradition der Subjektivität genannt, in die Sein und Zeit mit dem ›tran­ szendentalphilosophischen‹ Aspekt seiner Sprach- und Denkweise noch verstrickt geblieben war. Was ›Ausgang vom Sein selbst‹ meint, erklären am besten die Aufsätze in der Sammlung Unterwegs zur Sprache: Das Entwurfsmoment des Daseins bleibt, aber es dominiert nicht mehr, wenn der Ort des Menschen – wie in allen alten Kulturen vor der ›Achsenzeit‹ (bei den alten Griechen in der Rede von der Göttin Mnemosyne als der Mutter der Sprache) – im Hören und nicht im Machen gesehen wird. Zu der Verstrickung des Versuchs von Sein und Zeit noch in die Macht der Tradition gehört die Unentschiedenheit in der Deutung des Menschen. Für den Leser der Schriften Heideggers nach der ›Kehre‹ – also im Rückblick – läßt sich diese Verstrickung als Fortwirkung des ›Seinsgeschicks‹ der Subjektivität, also der um 1700 (in mehreren ›Schüben‹ zwischen 1650 und 1750) beginnenden Epoche der ›Neu­ zeit‹, auch noch auf das Denken von Sein und Zeit kennzeichnen,

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Die ›Kehre‹ in Heideggers Verständnis der Geschichte

wobei ›Subjektivität‹ ebenso die ›westliche‹ Selbstbegründung in der Individualität wie die ›östliche‹ im Kollektiv meint, die Selbstbehaup­ tung im Machtkampf der nationalen Subjekte, wie die Selbstsicherung im Konkurrenzkampf der ökonomischen Subjekte. Auswirkung und Vollzug dieses ›Geschicks‹ der Subjektivität sind die antipodischen Machtbegründungen, die Legitimation des ›Eigenen‹ durch die Nega­ tion des Anderen: die ›Feindbild‹-Identitäten. Nietzsches Prophezei­ hung: »Die Zeit kommt, wo der Kampf um die Erdherrschaft geführt werden wird – er wird im Namen philosophischer Grundlehren geführt werden«40, illustriert, was Heidegger meint, wenn er die Epoche der europäischen Neuzeit mit der Berufung auf Descartes und Kant durch das ›Seinsgeschick‹ der ›Subjektivität‹ bestimmt sieht. Diesem Ansatz des Menschen als Zentrum und Grund, diesem Willen der Zentrierung und Begründung bleibt Sein und Zeit noch mit dem Anspruch des Verstehens verhaftet. In diesem Anspruch schwingt noch immer der Zugriff, der auf Aneignung aus ist, ein – wie sublim auch immer – Verfügbarmachenwollen des Zu-Verste­ henden; die geheime Nachbarschaft der Hermeneutik zur Axiomatik der von ihr gemiedenen Naturwissenschaft. Erst nach der ›Kehre‹ beginnt das Gespräch mit Gedichten. Die Erläuterung des ›Sommer­ abends‹ von Joh. P. Hebel (1960)41 bringt den Leser, den Hörer vor das Wunderbare, Rätselhafte einer solchen Dichtung. Bei anderen Gedichten – von Celan, von Trakl42 – antwortet das Wort dem Aus­ maß des Schreckens, des Schmerzes, vor dem alles Verstehenwollen verstummen muß. Zu Heideggers ›Kehre‹, Heideggers ›Verständnis der Geschichte‹ gehört also auch die Einsicht in die Problematik des Verstehenwollens43.

40 KGW V, 11 (273) (Frühjahr – Herbst 1881). (S. auch: Jenseits von Gut und Böse, n. 208.). 41 In dem Vortrag ›Sprache und Heimat‹, in: Aus der Erfahrung des Denkens (HGA Bd. 13), S. 155–180. 42 Zu Heidegger und Trakl: s. Gerhard Faden, Der Schein der Kunst. Zu Heideggers Kritik der Ästhetik, Würzburg 1986, S. 189–221; zu Heidegger und Celan: Heino Schmull, »Das erschwiegene Wort«. Dichtung als Gespräch bei Paul Celan und Martin Heidegger. (Magisterarbeit an der Philosophischen Fakultät der Universität Tübingen, 1989.). 43 In einer »Kritik der Vorlesung« Einführung in die Metaphysik, die (leider undatiert) aus dem Nachlaß veröffentlicht worden ist, notiert Heidegger: »Der Zug des Ganzen geht vom Seinsverständnis zum Seinsgeschehnis – also Überwindung des Seinsver­ ständnisses insofern entscheidend!« (HGA Bd. 40, 1983, S. 218).

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3 ›Seinsgeschichte‹ als Welt-Geschichte

Das dunkle Wort vom ›Seinsgeschehen‹, das ärgerliche von dem ›Seinsgeschick‹ umschreiben den neuen Ansatz nach Sein und Zeit. Jetzt erst wird das Feld betreten, vor das die Frage nach der Zeitlichkeit in Sein und Zeit geführt hat. Der Gang der Geschichte, die Welt-Geschichte, die für Heidegger jetzt erst zur Sache des Denkens wird, erscheint ihm nicht als eine (lineare oder dialektische) Entwicklung. Das Geschehen wird nicht zu einem Prozeß vergegen­ ständlicht; es wird als das je und je Geschehende, als das sich je und je Ereignende zugelassen. Dieses Zulassen ist insofern etwas anderes als das – historische oder hermeneutische – Zurichten, als es »die Jähe«, d. h. den nicht vorhersehbaren, den nicht ableitbaren, den nicht begründbaren Ein­ bruchs- und Einschnittscharakter des Epochalen (im Geschichtsgang der Welt wie auch in dem eignen ›Denkweg‹) annimmt. Damit wird die Kontinuität, die Historizität, der Raum der Bedingungen also, nicht geleugnet. Es wird nur aus der früheren Einsicht in die Differenz von Wirklichkeit und Möglichkeit jetzt erst die Konsequenz gezogen: Mit dem ›Ereignis‹-haften der Geschichte ist an den Spielraum des jeweils Möglichen gedacht, kraft dessen die Erkenntnis des daraus zum Anwesen Gelangten, des ›faktisch‹ in Erscheinung Tretenden immer auch zu einer Anerkennung des ›Dunklen‹, des Rätsels, des Unerklärlichen wird. Mit dem Namen ›Geschick‹ ist zwar das Nicht-von-uns-zuMachende am Geschehen der Geschichte angesprochen, das über­ haupt nicht Herstellbare von Geschichte – weder vom ›Einzelnen‹, noch vom Kollektiv –, zugleich aber auch der Abstand von aller Determination. Der Einbruchs- und Aufbruchscharakter, der Gesche­ hens-Charakter der Geschichte desavouiert zwar die Scheinfreiheit des Selbermachens, zu ihm gehört aber die wirkliche Freiheit und damit die Verantwortung des Handelns, dessen Glanz das Erinnern, dessen Schmerz der Verlust ist. Für ein solches Ernstnehmen des Epochalen der Geschichte als des sich je und je Ereignenden im Unterschied zum bloß Verlaufen­ den stellt die formale (in gewisser Weise überzeitliche) Analyse der ›Geschichtlichkeit‹ des Daseins in Sein und Zeit nun allerdings die Grundlage dar, – die Grundlage zum Denkenkönnen des NichtBegründbaren, zur Realisation des In-der-Welt-seins als einem Inder-Zeit-sein. ›In ihr‹, das heißt: an der Physis ihres Spannungs- und Schwingungsgefüges beteiligt, statt meta-physisch (und fachwissen­ schaftlich) vor und über ihr zu stehen. Insofern ist die Schwelle, die

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Die ›Kehre‹ in Heideggers Verständnis der Geschichte

Sein und Zeit darstellt, nicht nur ein Weniger gegenüber der weltge­ schichtlichen Differenzierung des Denkens durch die Geschichtsphilo­ sophie (seit Hegel, Droysen und Dilthey), sondern zugleich auch ein Mehr gegenüber der metaphysischen Nivellierung des Geschehens durch die Geschichtsphilosophie.

4 Das geschichtliche Gespräch Was bleibt von der ›Kehre‹, wenn Sein und Zeit das Hauptwerk ist? Die Antwort resultiert aus einer Umkehr der Frage: Was wird aus Sein und Zeit, wenn der Fortgang eine Wendung ist? Die Ant­ wort darauf muß dann nämlich lauten: Die Wende besteht in der Abkehr von demjenigen Konzept eines ›Hauptwerks‹, das in der Unterscheidung von Haupt- und Nebenwerken liegt. Danach ist das Hauptwerk den Nebenwerken gegenüber das, was das ›Haupt‹ für ein Lebewesen (ein Wirbeltier z. B.) ist: das Organisationszentrum, das von Zulieferungsorganen und Ausführungsgliedern umgeben ist. Diese – traditionelle – Unterteilung einer wissenschaftlichen und philosophischen Lebensarbeit klingt noch in dem ›Hauptwerk‹ Sein und Zeit, seinem Gesamtplan nämlich, an. Der geplante »zweite Teil« mit den drei »Destruktionen« exemplarischer Überlieferungen (Kant, Descartes und Aristoteles) wäre immer noch so etwas wie eine historische Vorbereitung und Anwendung des systematischen Kerns gewesen. Im Gedanken nun an den – nicht gelungenen – dritten Abschnitt des ersten Teils: Zeit und Sein, kann man sagen: Das gesamte Werk seit der ›Kehre‹ (also seit der Einsicht in den weltgeschichtlichen Einschnitt, der mit Platons Ideenlehre den Beginn der Philosophie ausmacht) stellt die Erfüllung des Plans von ›Zeit und Sein‹ dar, dergestalt nämlich, daß sich unterwegs die alte Einteilung als unbrauchbar erweist. Es gibt jetzt keine Hierarchie mehr zwischen einer – inneren oder oberen – Systematik und einer – äußeren oder unteren – Historik. Es gibt jetzt nur noch das geschichtliche Gespräch. – Auch der Vortrag aus der allerletzten Arbeitsphase mit dem Titel des alten Planes Zeit und Sein (in der Sammlung Zur Sache des Denkens, 1969) bestätigt und erläutert nur diese Abkehr von dem ganzen – cartesianischen – Raumgefüge, in dem so etwas wie ein ›Hauptwerk‹ noch Platz finden könnte. Dafür aber gibt es jetzt eine ganz andere, eine DimensionsUnterscheidung. Die Konfrontation, die seit der ›Kehre‹ an die Stelle

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4 Das geschichtliche Gespräch

der ›Destruktion‹ tritt, ist ja nur die eine Seite dieses neuen, bewegten Raumgefüges. Die andere Seite wird durch Namen wie Hölderlin oder Heraklit und durch die jetzt erst eigens aufgenommene Mehrdeutig­ keit fast aller von Heidegger interpretierten Werke der Philosophie bezeichnet. Dem Aspekt der Konfrontation – von Platon bis zu Nietz­ sche (und Rilke) –, der dem Inhalt der Wirkungsgeschichte entspricht, steht das im Fortgang Vergessene, das in der Tradition nie zur Wir­ kung Gelangte der großen Denker gegenüber. Dieser uns vorbildlich werdende, Zukunft öffnende Aspekt der Überlieferung verlangt eine neue ›Ärchäologie‹: ein ›Andenken‹, das zum ›Vordenken‹ wird, keine Konfrontation, sondern eine jetzt erst und ›jäh‹ möglich werdende Explikation. Dieser Aspekt der philosophischen Tradition, diese Seite des ›Gesprächs mit der Überlieferung‹ tritt für Heidegger mit ganz besonderer Entschiedenheit an der Freiheitsschrift Schellings und der Physik des Aristoteles hervor. Eine Bedeutungshierarchie – so als würden mit dem Maß der ›Seinsvergessenheit‹ eines Gedankens, einer Schrift deren Kenntnis und deren Studium diskreditiert – ist mit diesem Zwiespalt in der Überlieferung aber nicht verbunden. Die Diagnose ist so unerläßlich wie die Therapie. Und für diesen diagnostisch-therapeutischen Dop­ pelbezug zur Überlieferung ist von Heidegger zu lernen, daß dem, was uns heute bedrängt, nur beizukommen, dem, was kommen könnte, nur entgegenzugehen ist, wenn man weit genug zurückgeht. Nicht nur, was selten genug ist, bis zu der Wende um 1700. Auch die bleibt unerkannt, auch die bleibt in ihrer uns, die europäisch-globale Gegenwart prägenden Bedeutung undurchschaut ohne eine Einsicht in die andere große Wende: die um 400 v. Chr. Ohne diesen ›Blick zurück‹ bleiben wir gebunden an das, was uns heute fesselt. Heideggers Rede von dem andenkenden Vordenken meint einen so einfachen Sachverhalt wie seine Erklärung, das Den­ ken nach der Metaphysik sei insofern wesenhaft geschichtlich, als es ein Über-liefern, ein Über-tragen der Überlieferung sei, ein Übersetzen also, das angesichts derjenigen Überlieferung, die erstarrt ist, also das Geschehen der Geschichte hemmt, zu dem echten ›Liefern‹ des liberare, der Befreiung wird (SvG, S. 161–173). Dem Weit-genug-zurück entspricht ein Weit-genug-hinaus. Der Geschichte gegenüber bedeutet die ›Kehre‹ Heideggers eine Über­ windung des Eurozentrismus (zu der auch die Gleichsetzung von Denken mit Philosophie gehört) auf das Ganze unserer Welt hin.

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Die ›Kehre‹ in Heideggers Verständnis der Geschichte

Auch hier stellt Sein und Zeit in doppeltem Sinn die Schwelle dar, einmal insofern, als mit diesem Werk der Eurozentrismus in der Kanonisierung des Griechischen einerseits, des Deutschen anderer­ seits auf die Spitze getrieben wird, zum anderen aber auch, indem hier mit dem Gedanken des In-der-Welt-seins das ›ekstatische‹ Wesen des Menschen neu erschlossen wird. Damit ist die Möglichkeit zu der späteren Verbindung der beiden Wortbedeutungen von ›Welt‹ eröff­ net: jeweilige Einheit einer Epoche (›Weltzeit‹, Äon) und das Ganze dieser für den Menschen bewohnbaren Erde in ihrer Kugelgestalt (der ›Sphäre‹), die die Vielfalt der Ökumene umgrenzt. Ein Weg, der sich mit dieser Schwellenüberschreitung öffnet, würde zugleich auch das Beispiel eines zweiten Brückenschlages sein, nämlich dem zwischen dem Fachbereich der Philosophie und den Fachdisziplinen. Es handelt sich um das Beachten und Bedenken des­ sen, was in den vorgriechischen und außereuropäischen Kulturen dem ›Seins‹-Gedanken Heideggers, der Physis- und Logos-Erfahrung der Griechen entspricht. Drei Hinweise – zum alten Ägypten, zu China und zu Indien – möchten diese Möglichkeit einer wechselseitigen ›Über-setzung‹ nur anzeigen. Zu den verschiedenen Gedanken des alten Ägypten zur Welt­ schöpfung gehört neben denen des Bildens und des Zeugens auch der des Sagens. Der Schöpfergott Ptah (in der Götterlehre von Mem­ phis) schafft Welt durch das Wort, das ordnet, indem es ›trennt‹. Dieses weltstiftende Unterscheiden hat seine eigene Deutung in der Gestalt des Schu, des Gottes der Luft und des Lichtes (wörtlich: der ›Leere‹), der den Himmel (die Göttin Nut) von der Erde (dem Gott Geb) trennt (bildlich: emporhebt). Die Welt selbst ›besteht‹ in der Spannung zwischen dem Gefüge der ›Weltordnung‹ (Maat) und der ständigen Gefährdung dieser Ordnung, wodurch diese gleichermaßen Zustand wie Gebot ist. Die Göttin Maat (Tochter des Sonnengottes Re) verkörpert die ›wahre‹ oder ›richtige‹ Verfassung von Natur und Staat. (Mit der koptischen Bildung dieses Namens: me, wurde das griechische Wort aletheia wiedergegeben.)44 44 S. dazu Eberhard Otto, Ägypten. Der Weg des Pharaonenreiches (erstmals 1953, hier nach der 3. Aufl. Stuttgart 1958); Siegfried Morenz, Ägyptische Religion, Stuttgart 1960; Erik Hornung, Der Eine und die Vielen. Ägyptische Gottesvorstellungen, Darm­ stadt 1971. – Zur Gottheit Ptah: Otto, S. 60; Morenz, das Kapitel »Weltschöpfung und Weltwerden«, S. 167–191, bes. S. 182f. – Zur Gottheit Schu: Otto, S. 58f.; Hornung, S. 68 (Abb. S. 59) und S. 278f. – Zur Maat: Otto, S. 56; Morenz, S. 120f., S. 177; Hor­ nung, S. 209–212. – Zum Ganzen s. jetzt auch Erik Hornung, Der Geist der Pharao­

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4 Das geschichtliche Gespräch

Das chinesische Wort, das im Lexikon mit ›Welt‹ (manchmal auch mit ›Universum‹) übersetzt wird: Tian di (›Tién di‹ ausgesprochen), ist ein Doppelname, der die Zusammengehörigkeit des Gegensatzes von Himmel und Erde (Tian und Di) nennt, – eine Polarität, die zugleich auch als Dreiheit verstanden werden kann: erstens Himmel, zweitens Erde, drittens das ›und‹, das den Ort des dazwischen befindlichen Menschen ausmacht. Nach der dharma-Lehre Indiens gibt es die Welt überhaupt nicht als etwas Bestehendes. Es gibt nur einen Wandel von Zeitaltern, an dem die Menschen beteiligt sind, am Untergang ›der Welt‹ wie auch an ihrer Erneuerung. Diese Zusammengehörigkeit von Indivi­ dualität und Universalität entspricht derjenigen von dharma (dem individuell-epochalen Gesetz des jeweils ethisch Gebotenen) und sat-ya (dem ›Seienden‹, der ›Wahrheit des Seins‹). Ein indischer Name für Welt (aus dem Sanskrit): tri-loka, nennt ursprünglich die Einheit in der Dreiheit von Erde, Himmel und dem Zwischenbereich des Lebens. (Loka ist verwandt mit engl. ›to look‹, alemannisch ›lueg‹ und wird demgemäß auch mit ›Lichtung‹ übersetzt.) In den rituellen Handlungen – der Feste, des Opfers –, im Tempelbau, im Pilgerweg vollziehen die Menschen die Einheit in dem Unterschied von Himmel und Erde im Bunde mit den Elementen: dem Wasser, dem Feuer, der Luft. Zu diesen beiden Feldern einer Ausführung (musikalisch gesprochen: einer ›Durchführung‹) der Thematik des späteren Heidegger: dem Weit-genug-zurück (in die Anfänge der Herkunft) und dem Weitgenug-hinaus (in das Ganze der Welt) kommt als Drittes noch ein Weit-genug-heraus, – heraus nämlich aus dem Anthropozentrismus, der die Gleichsetzung von Geschichte mit politischer Geschichte (seit Thukydides) und ›Geistesgeschichte‹ (seit dem Humanismus) prägt. Hier besteht die ›Überwindung‹ natürlich nicht in einer Deklassie­ rung des Menschen, wohl aber in so etwas wie einer ›kopernikani­ schen Wende‹: Der Mensch rückt aus dem Zentrum. Zur ›Weltge­ schichte‹, zur ›Kulturgeschichte‹ gehören die Wandlungen im Bezug des Menschen zur Natur. Die Unterschiede der Epochen (und Regio­ nen) – das sind die Unterschiede im Verhältnis des Menschen zu dem, was Heidegger seit der ›Kehre‹ ›Erde‹ nennt, und an dem gemessen nenzeit, Zürich/München 1989, besonders die Kapitel II (Vom Ursprung der Dinge), VIII (Maat – Gerechtigkeit für alle?) und IX (Geschichte als Fest).

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Die ›Kehre‹ in Heideggers Verständnis der Geschichte

schon unsere Reduktion ›der Geschichte‹ auf das intern ›Humane‹ dem epochalen Sonderfall der neuzeitlichen Selbstbegründungsära verhaftet bleibt. Die altjapanische Selbsterfahrung des Menschen, ausgesprochen in dem Namen für Mensch: Nin gen, der dazwischen Stehende, ver­ weist auf ein Gefüge des Geschehens, den Polyperspektivismus in der Form wie im Inhalt der altchinesischen und altjapanischen Tuschma­ lerei (also dem Spannungs- und Schwingungsbezug in der Polarität von shan und shu, Berg und Wasser), den die Zentralperspektive unsres Horizontes von Geschichte von vornherein verfehlen muß45. Es sind wahrscheinlich die Umschläge im Bezug zum Vorgegebe­ nen – wie etwa schon in der ›Übersetzung‹ der griechischen Physis in die römische Natur –, was den Zeitaltern in ihren Unterschieden zueinander das Gepräge gibt. Ich beschließe diesen Versuch mit einem Heidegger-Zitat, aber einem solchen, das selber aus einem Zitat besteht. In der Vorlesung Der Satz vom Grund unterscheidet Heidegger zwei Weisen, zwei Bedeutungen des Wortes »Satz«: die normalerweise mit ›Grundsatz‹ gemeinte, ein Ansetzen und Grundlegen, und die, auf die er selber zugeht, ein Absetzen, Abspringen (und damit sich dem ›Abgrund‹ aussetzen). Den Gehalt nun dieser Wendung von einer begründend-rechnenden zu einer ›andenkend‹-hörenden Haltung kennzeichnet er mit einer dritten Bedeutung des Wortes »Satz«, der des musikalischen Satzes. So gibt es den ›Sonatensatz‹ seit der ›vorklassischen‹ und Wiener klassischen Musik, also z.B. derjenigen Mozarts und Beethovens. Dazu zitiert er Bettine von Brentano, wobei wir auch an den Bericht Bettines von einem Gespräch mit Isaak von Sinclair über Hölderlins Gedanken des Rhythmus denken können, also die »Satz«-Technik der »Vaterländischen Gesänge«46. Die Äußerung Bettines (SvG, S. 151) lautet: 45 S. dazu bei Dietrich Seckel, Einführung in die Kunst Ostasiens. 34 Interpretationen, München 1960, den letzten Teil: ›Landschaft, All, Nicht‹, S. 307–365; bei Dieter Rahn, Raumdarstellung und Zeitbezug in der Malerei. Zur Kunst und Kunstgeschichte André Massons, Mittenwald 1982, den Abschnitt ›Weltoffenheit und Gegenwärtigkeit: Chi­ nesische Tuschmalerei‹, S. 126–180. 46 Bettine von Arnim, Goethes Briefwechsel mit einem Kinde, Frankfurt a.M. 1984, S. 145 (der Brief vom »11. November« 1807). – Zu Hölderlin. Bettine von Arnim, Die Günderode, Frankfurt a. M. 1983, S. 290–297. (Der letzte Brief des ersten Teils. Er bezieht sich auf Gespräche Isaak von Sinclairs – »St. Clair« – mit Hölderlin während

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4 Das geschichtliche Gespräch

»Wenn man von einem Satz in der Musik spricht und wie er durchge­ führt ist, oder von der Begleitung eines Instruments und von dem Verstand, mit dem es behandelt ist, da meine ich gerade das Gegenteil, nämlich daß der Satz den Musiker durchführt, und daß der Satz sich so oft aufstellt, sich entwickelt, sich konzentriert, bis der Geist sich ganz in ihn gefügt hat.«

dessen Aufenthalt bei ihm 1804 bis 1806 sowie Hölderlins Sophokles-Übertragungen und die beiden Kommentare dazu.).

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Philosophie und Kunst47

1 Nacheinander (Hegel) Die ›Ästhetik‹ ist in ähnlicher Weise ein Spezialgebiet der Philosophie wie die Logik oder die Ethik, natürlich nicht in ähnlich bedeutender Weise. Ohne Logik und Ethik gäbe es keine Philosophie. Ohne Ästhetik hat es fast immer Philosophie gegeben. Wohl aber in ähn­ licher Verfassung: als Ästhetik ist ein bestimmter Ausschnitt, ein besonderes Gebiet, ein einzelner ›Sektor‹ der Wirklichkeit Thema der Philosophie. An der Logik und der Ethik, den beiden Fundamen­ taldisziplinen der Philosophie, gemessen, sind die anderen Spezial­ gebiete, Naturphilosophie und Rechtsphilosophie oder Geschichtsund Sozialphilosophie, Zusatzgebiete sekundären Ranges. Wie groß ihr jeweiliges Gewicht ist, hängt von der jeweiligen Konzeption der Philosophie überhaupt ab. Eine Sonderstellung im positiven Sinn nehmen in unserer Zeit die Spezialgebiete der Sprachphilosophie und der Anthropologie ein. Die Sprachphilosophie ist so etwas wie eine angewandte Logik, die Anthropologie nimmt zuweilen den fundamentalen Platz ein, der von alters her der Ethik zukommt. In der weitesten Entfernung von diesen unerläßlichen Grunddisziplinen ist das entbehrlichste von allen Spezialgebieten die Ästhetik. Das gilt sowohl de facto, im Hinblick auf das Lehrangebot (zumindest in der Bundesrepublik), als auch de jure, im Hinblick auf die Studienvorschriften. Und das ist durchaus legitim: Von Sokrates bis zu Hegel und Hus­ serl gibt es keines der großen, der unabdingbaren philosophischen Hauptwerke, das man nicht in seinen Fundamenten verstehen und vermitteln könnte, auch wenn man von jedem Gedanken an ästheti­ sche Momente absieht. Bei den meisten der ›klassischen‹ Philosophen 47 Erstveröffentlichung: Kulturwissenschaften. Festgabe für Wilhelm Perpeet zum 65. Geburtstag, hg. von Heinrich Lützeler in Zusammenarbeit mit Gerhard Pfafferott und Eckart Strohmaier, Bouvier Verlag Herbert Grundmann: Bonn 1980, S. 229–244.

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Philosophie und Kunst

spielen ästhetische Momente überhaupt keine Rolle; bei den anderen spielen sie keine fundamentale Rolle. Die berühmteste Ausnahme scheint der frühe Schelling zu sein, mit seiner Behauptung, die Kunst sei das ›Organon‹ der Philoso­ phie. Doch davon ist er selbst in den mittleren und späten Phasen seines Denkens wieder abgerückt. Und denkt man an die SchellingRezeption, so ist auch der frühe Schelling eher ein Beweis für die Entbehrlichkeit der ästhetischen Momente als dagegen. Die beiden anderen scheinbaren Ausnahmen sind Kants ›Kritik der Urteilskraft‹ und Nietzsche. Was Nietzsche betrifft, so ist hier, nach wie vor, die Frage: ist das überhaupt ein ›echter‹ Philosoph oder nicht eher ein halber Dichter? Und was Kant betrifft, so bleiben von dieser dritten Kritik die beiden früheren, die seit je Kants große Wirkung ausmachen, unberührt. Wo von Kants Denken im Ganzen die Rede ist, ist die ›Kritik der Urteilskraft‹, wenn sie überhaupt beachtet wird, stets nur ein Zusatz und zumeist auch nur wegen des erkenntnistheo­ retisch-ontologischen Problems der Teleologie interessant, das der naturphilosophischen Hälfte dieses rätselhaften Buches zugehört. Was das Gewicht der Ästhetik im Ganzen der Philosophie betrifft, so scheint es erst in jüngerer Zeit Verschiebungen gegeben zu haben. In Frankreich spielte sowohl im Surrealismus wie im Existentialismus und jetzt spielt beim Strukturalismus und seinen Nachwirkungen die Philosophie der Kunst eine größere Rolle. In Eng­ land und den USA beschäftigt sich die linguistische Erweiterung der analytischen Philosophie zuweilen mit ästhetischen, insbesondere literaturästhetischen Problemen. Und im deutschen Sprachbereich war die Erneuerung des gesellschaftskritischen Denkens von Marx bei Bloch, Adorno und Marcuse von einer systematischen Rezep­ tion der ästhetischen Tradition (insbesondere Schiller, Hegel und Schopenhauer) und einer außerordentlich ergiebigen Aufnahme der literarischen und musikalischen Praxis der modernen Welt (seit der Romantik) auch in ihren philosophischen Grundgedanken geprägt. Wenn man freilich auf die universalphilosophische Wirkung achtet, dann scheinen unter den Nachfolgern auch hier die ästhetischen Thesen und Interessen der Lehrer das Entbehrlichste zu sein. (Sie haben eine weitaus größere Wirkung unter den literatur-, musikund kunsthistorischen Fachdisziplinen und vor allem in der Literatur und Musik selbst als in der Philosophie gefunden.) Bei Heidegger zeigt sich eine Zuwendung zu Inhalten der Ästhetik (der Frage der Schönheit, dem Phänomen der Kunst) seit dem Beginn des Spätwerks,

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1 Nacheinander (Hegel)

dem gegenüber die philosophische Diskussion im allgemeinen keinen Zuwendungsgrund mehr sieht. Überblickt man das Ganze der Philosophie, von den Vorsokrati­ kern bis zur Nachwirkung Heideggers, von der Kritischen Theorie bis zum Kritischen Rationalismus, dann wird man sagen müssen: Ästhetik gibt es zwar, aber von Seiten der Philosophie aus brauchte es sie nicht zu geben. Ästhetik ist (wie beispielsweise in Baden-Würt­ temberg) kein philosophisches ›Pflichtfach‹. Die Frage freilich, ob sich das Studium philosophischer Gedan­ ken zur Kunst – bei Plato und Aristoteles, bei Cusanus und Vico, bei Kant und Hegel, bei Schelling und Nietzsche – dennoch lohnt, ob ein solches Studium vielleicht sogar aus anderen Gründen als denen des Fach-Studiums ›Philosophie‹ eine fundamentale, eine überdisziplinäre Bedeutung haben könnte, ist mit dem philosophie­ geschichtlichen, mit dem wirkungsgeschichtlichen Tatbestand der Fachentbehrlichkeit noch nicht entschieden. Diese Frage hängt nicht allein vom Inhalt des Spezialgebiets ›Ästhetik‹ ab (dem altertüm­ lichen Phänomen der Schönheit, dem neuzeitlichen Problem der Künste und der Kunst), sondern auch von seinem Ort. Der Tatbestand, daß das Phänomen des Schönen, die Werke und Betätigungen der Kunst für die Philosophie entbehrlich sind – und erst recht für die Wissenschaft (bei der man an so ausgefallene Disziplinen wie die drei Kunst-Wissenschaften: Literaturwissenschaft, Musikwis­ senschaft und die Wissenschaften von den bildenden Künsten der verschiedenen Kulturen, zuallerletzt denkt) –, dieser Tatbestand hat ja zwei Seiten. Und nur weil wir, die Diskutanten eines solchen Sach­ verhaltes, im Umkreis wissenschaftlichen Forschens und Lehrens, im Element der Wissenschaften uns bewegen, unter der Perspektive der Philosophie das ›Thema‹ Kunst befragen, beachten wir die zweite Seite nicht, die Frage nämlich, wie es denn mit der Wissenschaft, der Philosophie stehen würde, wenn man diese aus dem Element der Kunst heraus oder aus dem Maßstab dessen, was die alten Griechen Schönheit nannten, zum Thema einer Prüfung machen würde. Allein wie sollten wir mit einer solchen Frage etwas anfangen können? Sollten wir uns bei Freunden, die Maler, Musiker oder Dichter sind, erkundigen? Doch die haben entweder überhaupt kein Verhältnis zur Wissenschaft, zur Philosophie. Oder sie sind, sobald sie über ihr Metier reflektieren, selber schon in unserem Element. Ist diese Frage nicht auch ohnedies schon von vornherein verfehlt? Sie macht doch künstlich zu einem Nebeneinander, was ganz offenkundig

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Philosophie und Kunst

ein Nacheinander ist. So wie der Mythos durch den Logos, so ist die einstige Weltorientierung an Zeichen der Kunst durch die philoso­ phische und wissenschaftliche Beurteilung der Wirklichkeit abgelöst worden. Den Platz, den einstmals, im alten Athen, in Ravenna, in Chartres und vielleicht auch noch in Florenz und Venedig Dichtung, Bild und Bau eingenommen hatten, nimmt jetzt die Einheit von Wissenschaft und Technik ein. Dieses Verhältnis umkehren zu wollen, hieße, die Zeit umkehren zu wollen. Die Einsicht, daß ›die Wissenschaft‹ an die Stelle getreten ist, an die wirklichkeitsprägende Stelle, die einstmals ›die Künste‹ ein­ genommen hatten, diese Einsicht hat Hegel zuerst ausgesprochen. Die antiken Epochen der Geschichte (Ägypten, Indien, Griechenland) sieht er im Ganzen ihrer geschichtlichen Verfassung auf den Bereich der Künste bezogen, insbesondere der Architektur, der Skulptur und des großen Epos. In den nachantiken, der ›Innerlichkeit‹ und der Überwindung des Äußeren zugewandten Weltepochen spielt die Kunst nur noch eine sekundäre Rolle: illustrierend in der Malerei, begleitend in der Musik, selbst schon reflektierend in der neueren Poesie. Die mit der Aufklärung und der modernen Dominanz des Staates zu Hegels eigener Zeit beginnende moderne Weltepoche sieht Hegel durch die methodologische Reflexion und Produktion dessen geprägt, was er kurz ›Wissenschaft‹ nennt, und was wir vielleicht als die allgemeine Dominanz der Theorie bezeichnen könnten. In dieser aktuellen Weltepoche ist so etwas wie ›Kunst‹ nur noch ›Luxus‹ – oder allenfalls, wie nach Hegels Deutung des modernen Romans, Zuarbeit zur Wissenschaft. Die Folgezeit hat diese These Hegels als einen geschichtlichen Tatbestand verifiziert. Geändert hat sich lediglich der Inhalt des Namens ›Wissenschaft‹. Was zu Hegels Zeit noch gleichlautend mit dem Namen ›Philosophie‹ war: das Gefüge eines universalen Begründungs- und Entwurfssystems, hat sich seither in den Plura­ lismus eines unendlichen Konstruktions- und Forschungsprozesses aufgeschlossen. Diese Veränderung ist ein Aufschließen und kein Ablösen. Norbert Wiener sieht in Leibniz den ›Schutzpatron‹ der Kybernetik – der Dynamisierung der Logik, der Universalisierung des Informationsprinzips.48 ›Die Wissenschaft‹ ist an den Ort getreten, den einstmals ›die Kunst‹ einnahm. Und dieser Ortswechsel ist der Norbert Wiener, Kybernetik. Einführung zur ersten Ausgabe von 1948, in der deutschen Ausgabe der 2. Auflage, 1963. S. 40–42.

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1 Nacheinander (Hegel)

Grundzug der modernen Welt. Das ist der Leitgedanke von Hegels Vorlesungen über die Ästhetik, die er in eben den Jahren, den Zwan­ ziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, hielt, wo der technologische Forschungspluralismus das Erbe des rationalen Deutungsabsolutis­ mus endgültig angetreten hatte. Mit ›endgültig‹ ist der geschichtliche Sachverhalt gemeint, der den Anfang des 19. Jahrhunderts kennzeichnet. ›Wissenschaft‹ in dem modernen Sinn des Wortes als methodische Wirklichkeitser­ forschung gab es natürlich auch schon vor Hegel. Aber was mit Galilei begonnen, mit Newton einen ersten Höhepunkt erreicht hatte, das war bis zum Ende des 18. Jahrhunderts nur ein Ausschnitt der Wirklichkeit. Die lebendige Natur, die menschliche Geschichte, die Politik, die Wirtschaft und beispielsweise auch: die Überlieferung der bildenden Künste, der Musik, der Literatur, – also die verschiedenen Bereiche dessen, was uns als Inhalt der Biologie, der Geschichts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften und der Kulturwissenschaf­ ten bekannt ist, das sind erst seit Anfang des 19. Jahrhunderts Forschungsgegenstände; umgrenzte und gegliederte Themen metho­ disch durchgeformter Forschungsdisziplinen. Erst seit dieser Zeit gibt es so etwas wie einen universalen Forschungsanspruch, das Univer­ sum der ›Natur‹- und ›Geisteswissenschaften‹. Symptomatisch dafür ist die Erschließung der Geschichte (und ihrer einzelnen Abteilungen: Staatsgeschichte, Rechtsgeschichte, Altes und Neues Testament, Alte und Neue Sprachen) zu einem legi­ timen Wissenschaftsgebiet analog zu dem ›klassischen‹, dem muster­ haften Wissenschaftsgebiet der Neuzeit: der anorganischen Natur. Dieser Universalisierungsschritt des modernen Wissenschaftsprin­ zips, diese Verwissenschaftlichung der Wirklichkeit im ganzen hat ihre Grundlage einerseits in dem einheitsstiftenden Forschungsthema der Geschichtswissenschaften: der Genetik (dem Äquivalent zu dem Forschungsthema der neuzeitlichen Naturwissenschaften: der Ener­ gie), andererseits in der methodologischen Basis der Geschichtswis­ senschaften: der Quellenkritik (die das Äquivalent der methodologi­ schen Basis der Naturwissenschaften: des Experimentes, darstellt). Diese Grundlegung der geschichtlichen Wissenschaften durch die Kombination des inhaltlichen Erkenntnisschemas: der Genetik (der Frage nach der Entwicklung, nach dem Entstehungsprozeß), mit der formalen Erkenntnisbasis in Gestalt der Quellenkritik (in Gestalt der ›historisch-kritischen‹ Methodik) erfolgt in den verschiedenen historischen Disziplinen während der gleichen Jahre, in denen Hegel

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Philosophie und Kunst

seine großen Vorlesungen zur Geschichte hielt, zur Weltgeschichte, zur Religionsgeschichte und (unter dem Namen ›Ästhetik‹) zur Geschichte der Künste. Während Hegel aber nun keinen Zweifel hatte, daß die Erkenntnis der ›Weltgeschichte‹ einen eigenen praktischen Sinn hat: Geschichts-Erkenntnis ein Faktor des geschichtlichen Geschehens, hatte er ebenfalls keinen Zweifel, daß im Falle der Kunst die geschicht­ liche Erkenntnis das Ende der geschichtlichen Praxis ausspricht. Die Philosophie der Kunst, die Wissenschaft von der Kunst, die KunstTheorie besiegelt den Untergang der einstigen weltgeschichtlichen Funktion der Kunst. Hegel erläutert seine These, die Kunst sei »nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes«, mit der Feststellung, damit habe sie für uns »die ächte Wahrheit und Lebendigkeit verlo­ ren«. »Was durch Kunstwerke jetzt in uns erregt« werde, sei – im Unterschied zu der einstigen Wahrheit und Lebendigkeit der Kunst – die »Wissenschaft der Kunst«.49 Hegels ›Vorlesungen über die Ästhetik‹, also zur Geschichte der Künste, sind keine Ergänzung oder gar Erweiterung seiner Vorle­ sungen zur ›Weltgeschichte‹, sondern deren Kehrseite. Der Prozeß, der dort zum Bewußtsein gebracht und damit in das Stadium seiner Vollendung versetzt wird (die Dimension der absoluten Selbstbestim­ mung), braucht zu seiner eigenen Entfaltung die endgültige Befreiung von den alten (einstmals selber befreiend gewesenen, jetzt aber nur noch fesselnden) Bindungen an die Emotionen, die Statik, die Undurchdringlichkeit, kurz gesagt: an die Entäußerungen, die das archaische Weltgefüge der Bauten und Bilder, der Lieder und Tänze dem menschlichen Autonomiebedürfnis jetzt in den Weg legt. Und wo diese Bindungen ausnahmsweise auch schon in der Kunst überwunden werden, in der ›romantischen Ironie‹ zum Bei­ spiel, da hat die Kunst aus sich selbst heraus das Postulat ihrer Verabschiedung erhoben. Die Intention der ›modernen‹ Kunst sieht Hegel in den Zeichen einer Überwindung der Kunst durch sich selbst. Die musikalische Innerlichkeit des Gemüts zielt schon auf den Umschlag zu der reflektierten Innerlichkeit des Bewußtseins, d.h. der Herrschaft des Inneren auch noch über das Äußere. Die Einbildungskraft der Poesie, die die Dinge der Außenwelt bereits zu ›Vorstellungen‹ unserer Selbsttätigkeit verflüssigt hat, zielt schon auf 49

G.W. F. Hegel, Vorlesungen über die Aesthetik. Ed. Hotho. Bd. 1. S. 16.

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1 Nacheinander (Hegel)

die ›Prosa der Wissenschaft‹, die das vor uns Stehende auf seine Ent­ stehung und damit auf seine Erzeugbarkeit durch uns hin aufschließt. Mit dem ›Ende der romantischen Kunstform‹ beendet die Kunst ihre Stellung in der Weltgeschichte, ihre Funktion nämlich, in dieser Geschichte eine Zeitlang eine ›absolute‹ Rolle gespielt zu haben. Sie beendet sie, indem sie sich selber der Wissenschaft übergibt. Hegels Vorlesungen über die Ästhetik werden in ihrer Intention verkannt, wenn sie lediglich als ein Beitrag zur ›Ästhetik‹ aufgenom­ men werden. Das sind sie in sekundärer Hinsicht natürlich auch – und oft in der großartigsten Weise. Primär sind sie aber nicht eine Behandlung des Schönen und der Kunst als eines Themas der Philo­ sophie, sondern die Selbstbestätigung und die Selbstvergewisserung der Philosophie schlechthin durch die ausdrückliche Emanzipation von ihrer Konkurrenz. ›Die Kunst‹ – das ist für Hegel primär nicht ein Thema, sondern eine Alternative zur Philosophie. Und es ist nicht eine Alternative unter anderen, sondern es ist die Alternative. ›Die Religion‹, scheinbar eine zweite Alternative, ist in Wahrheit (nach Hegels Verständnis) halb noch Kunst und halb schon Wissenschaft. Halb noch Kunst, sofern sie noch mythisch ist, z.B. bei den Griechen, halb schon Wissenschaft, sofern sie schon – ›moralisch‹ ist, wie in der protestan­ tischen (und puritanischen) Modernisierung des Christentums. Indem Hegel das System der Künste deutet, indem er das Überlieferte auf seine Geschichte hin zurückführt (die Mannigfaltig­ keit von Architektur, Skulptur, Malerei, Musik und Poesie als ein Nacheinander einheitlich begreifbar macht), macht er dieses erste ›Absolute‹ endgültig unschädlich. Er bringt den aktuellen Tatbestand der faktischen Bedeutungslosigkeit der Kunst für das Ganze der heutigen Wirklichkeit – wie wir das nun, im Rückblick auf den Beginn der Industrialisierung seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, noch klarer sehen als Hegels romantische Zeitgenossen –, er bringt diesen aktuellen Tatbestand auf den Begriff und damit die Philosophie so endgültig zu sich selbst, daß sie von da an (wieder auf das Ganze der Wirklichkeit hin gesehen) ihre Früchte für sich wirken lassen kann. Der Blick auf Hegel verweist darauf, daß der Inhalt der Ästhetik, das Schöne und die Kunst, nicht nur ein spezielles Thema der Philo­ sophie ist, eines ihrer Spezialgebiete, sondern auch noch so etwas wie eine Alternative zur Philosophie sein könnte, eine Alternative zu demjenigen Begriff von Philosophie, der sein Wesen darin erfüllt, daß er – wie Hegel das ausdrückt – ›Wissenschaft‹ wird. Das pri­

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Philosophie und Kunst

märe Motiv von Hegels Ästhetik, die Vergangenheit eben derjenigen Daseinsart zu demonstrieren, die einstmals den Ort eingenommen hatte, den jetzt die Philosophie (als ›Wissenschaft‹) einnimmt, besagt, daß zwischen Kunst und Philosophie nicht nur das Verhältnis von Erklärungsobjekt und Erklärungssubjekt besteht, sondern das zweier (analoger oder sogar antipodischer) ›Subjekte‹. Daß ein solches Verhältnis freilich selber mehr sein könnte als das einer bloßen Nachordnung, etwa nach dem Schema ›vom Mythos zum Logos‹ oder: von der ›Einbildungskraft‹ zur ›Vernunft‹, diese Möglichkeit hätte zu ihrer Voraussetzung, daß wir das Haus, in dem wir arbeiten (und aus dem heraus wir alles andere ›verstehen‹), das Haus der Wissenschaften also, selber noch zu einer Frage werden lassen könnten. Ein solches Fragen wäre das Gegenteil eines Rückfalls in den Irrationalismus, der uns gewöhnlich als ›Kunst‹ vorgestellt wird, ein Rückfall etwa aus der Höhe ›intellektueller‹ in die Tiefe ›visueller Kommunikation‹. Auch noch den Raum, in dem man steht, als fraglich, als erstaunlich anzusehen, ist vielmehr der Grundzug dessen, was Phi1osophie ›von Haus aus‹ ist, in derjenigen angestamm­ ten Dimension, die sie weniger mit den Wissenschaften als mit den Künsten teilt – seit Homer und Thales, seit Aischylos und Sokrates, bei Shakespeare und Leibniz, bei Hegel und Hölderlin, bei Husserl und Beckett.

2 Gegeneinander und Miteinander (Aristoteles und Kant, Schelling und Nietzsche) Kann ein Philosoph, kann ein einzelnes philosophisches ›System‹ so etwas wie ein Paradigma für das Verhältnis zwischen Philosophie und Kunst überhaupt sein? Wo ist in Kants ›Kritik der Urteilskraft‹ von einer Ablösung der Kunst durch die Philosophie die Rede? Wie könnte Schelling in der Kunst eine Alternative zur Philosophie sehen? Und Nietzsche? Propagiert er nicht eher eine Einheit von Philosophie und Kunst als eine Antinomie? Durch Nietzsche wird erkennbar, daß Hegel eine Tradition zum Abschluß bringt, die mit Plato begonnen hat. Der Staat muß, um sein Maß der Gerechtigkeit erfüllen zu können, ein Staat der Philosophen, d.h. er muß vernünftig werden. Und um das werden zu können, muß er die alte Erziehung durch die Kunst – Pindar, Sophokles, Homer

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2 Gegeneinander und Miteinander (Aristoteles und Kant, Schelling und Nietzsche)

– zurückweisen. Damals eine utopische Forderung. Hegel sieht sie in seiner Zeit als nahezu erfüllt und endgültig erfüllbar an. Nicht, daß es kein Gedicht, kein Lied, kein Bild mehr geben dürfte. Aber der eigene pädagogische Eros der Philosophie, den Hegels Zeit mit dem Namen ›Idealismus‹ meinte, sah zu Platos Zeit in der Kunst die Gefahr des schlechten Vorbilds, zu Hegels Zeit die Gefahr einer unverantwortlichen Nostalgie. Hier wie dort nimmt die Philosophie den einstigen Platz der Kunst ein, so wie – um mit dem Hesiodischen Bild zu sprechen, an dem Hegel selber die Struktur der ›Klassik‹ zu zeigen versuchte50 – Zeus den Platz des Kronos einnimmt. Und Aristoteles? Der hohe Rang der Wahrheitsdeutung, den Aristoteles dem alten Epos, der hohe Rang der Wahrheitsbefreiung, den er dem Drama zuspricht, unterscheidet sich erheblich von der Dichterkritik der Politeia. Aber wo befindet sich das hier Gewürdigte? Während Platos Jugend, am Ende des 5. Jahrhunderts, war die Polis Athen noch fasziniert von den Aufführungen der Tragödie, erschüttert von den Rezitationen der homerischen Epen. Das war, eine Genera­ tion später, als sich in der Ausstrahlung der makedonischen Mon­ archie die Polisstruktur des alten Griechenland aufzulösen begann, Vergangenheit geworden. Die Kunst, von der Aristoteles handelt, ist genauso vergangen wie die, eine ›höchste Bestimmung‹ erfül­ lende, ›klassische Kunst‹ für Hegel. ›Genauso‹: nicht im historischen Umfang, aber im Ausmaß der geschichtlichen Wandlung. Der Schritt von der Polisvielfalt innerhalb des Archipelagus (für Plato immer noch der Hintergrund seiner Staatsvision) zur expansiven Weltein­ heit des Alexanderreiches ist so etwas wie ein Muster en miniature jener großen Weltveränderung von Ost nach West, von Süd nach Nord, die für Hegel den Horizont der Vergangenheitsthese abgibt. Aristoteles wie Hegel interpretieren im Falle der Kunst etwas substanziell Vergangenes, Aristoteles mit einer gewissen oppositio­ nellen Akzentuierung gegenüber seinem Lehrer: so, daß dieses Ver­ gangene (dessen Präsenz sich Plato noch unmittelbar zu erwehren hatte) in seinem einstigen Glanz erschien; bei Hegel: die historische Begründung dieses Glanzes in den Passagen über die ›klassische Kunst‹ mit der ausdrücklichen Betonung und Begrüßung des Vergan­ genseins.

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G.W.F. Hegel, ›Der Kampf der alten und der neuen Götter‹, Ästhetik Bd. 2. S. 37–

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Philosophie und Kunst

Nach Aristoteles gibt es so etwas wie Epos und Gesang, wie Tanz und Theater, Götterbilder und Porträtstatuen, Heiligen-, Marien- und Heroenbilder, von Kirchenbauten, Rathäusern, Marktplätzen, Stadt­ anlagen nicht zu reden, in der an Aristoteles und Plato orientierten europäischen Philosophie nicht mehr – bis, nach dem Ansatz bei Baumgarten, im Spätwerk Kants die Anschauung des Schönen in der Natur und in der Kunst zur Frage wird, zu einer Frage, die fast ebenbürtig neben die Erkenntnis der Natur und den Anspruch der Freiheit rückt. Freilich auch nur ›fast‹, denn was für Kant zum Anstoß dieses dritten Hauptwerks wird, das ist gerade die Abwehr eines Sachver­ halts, dessen Annahme die Philosophie selber (die Philosophie in dem Horizont der platonisch-cartesianischen Tradition) in Frage stellen würde. Kant sieht sich nach dem Abschluß seiner beiden ›kritischen‹ Grundfragen: was können wir erkennen, und wie sollen wir handeln, noch zu einer dritten Kritik veranlaßt, um zwei Sachverhalte zu erörtern, die den Gültigkeitsanspruch der beiden ersten Kritiken zu begrenzen drohten. Im Falle der organischen Natur liegt eine reale (erfahrbare) Einheit dessen vor, was sonst – in der objektiven Natur und der Moral – getrennt ist, eine Einheit von objektiver Gesetzlichkeit und jeweiliger Selbsttätigkeit. Ein Baum, eine Biene sind einerseits zwar wie ein Stern oder ein Stein die Produkte von Naturgesetzen; aber sie bringen jeweils, als Individuen und als Art, sich selbst hervor. Sie bewegen sich, als wenn sie, wie das bewußte Handeln des Menschen, von Zwecken geleitet wären. Und im Falle der ›schönen Künste‹ ist der Mensch in Freiheit – nicht nur, wie sonst (beim Handeln) etwas wollend, sondern, wie sonst nur die Natur – produzierend. Im einen Falle (bei den Lebewesen) ist die Objektivität zugleich auch Subjektivität, im anderen, bei der Hervorbringung von Kunstwerken, ist die Freiheit zugleich auch ›unbewußt‹ wie die Natur. Aus den gleichen Gründen, die hier das höchste Denkinteresse hervorrufen, versagt – nach Kant – hier das Erkennen. Denn das ist auf die Scheidung von Objektivität und Subjektivität angewiesen: entweder die objektive (die physikalische) Natur oder das freie Wollen, entweder die gegenständliche oder die moralische Seite der Welt. Im Falle der organischen Natur erklärt Kant: es gibt keinen Newton des Grashalms. Im Falle der schönen Künste macht er klar: es ist nicht möglich, eine Grundlegung zur Metaphysik des Genies zu schreiben. In dieser dritten Kritik Kants besteht die Hauptarbeit darin,

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aufzuzeigen, inwiefern die beiden angesprochenen Sachverhalte sich dem Denken entziehen. Die Philosophie muß hier, da es sich bei der organischen Natur und den Erscheinungen der Schönheit im Unter­ schied zu den Themen der ›Metaphysik‹ um Erfahrungen handelt, eine Einschränkung ihres universalen Erkenntnisanspruchs konsta­ tieren. Die organische Natur und die schönen Künste stellen ›die Philosophie‹ in Frage. Das gesehen und gesagt zu haben, macht die philosophiegeschichtliche Bedeutung von Kants ›Kritik der Urteils­ kraft‹ aus. Schelling nimmt den Stachel dieses Werkes in der Weise auf und glaubt ihn in der Weise bewältigen zu können, daß er den einen der beiden Aspekte, die Kunst, zu einem Partner der Philosophie erklärt, der dieser helfen soll, den anderen Aspekt, die organische Natur (für Schelling: die organische Struktur der gesamten Natur) unter Wahrung der ›kritischen‹ Methode Kants erkennbar zu machen. Konkret besteht diese Kombination von Erkenntnisverfahren und Erkenntnisziel, Methode und Thema darin, daß Schelling mit Hilfe des Bezugs der Philosophie zur Kunst (zum Schaffen der Kunst und zum Wahrnehmen von Kunst) die Methode des genetischen Denkens in die philosophische Naturerkenntnis einführt, eben das­ jenige Erkenntnisverfahren also, das uns von der empirischen Natur­ erkenntnis der Molekularbiologie und der Verhaltensforschung her vertraut ist. Schelling glaubt zwar, im Unterschied zu Kant, einen Newton des Grashalms könne es geben (und darin ist er durch Darwin und Norbert Wiener bestätigt worden). Aber er sieht, er übernimmt von Kant, daß die Philosophie – um das zu können – ihren Autono­ mieanspruch nicht länger aufrechterhalten kann. Sie braucht nach Schellings Ansicht einen ihr gleich gestellten Partner. Das ist für ihn zuerst die Kunst, am Ende, in seiner letzten Denkepoche, das Ganze der Geschichte. In der mittleren Epoche fundiert Schelling diese Relativierung des philosophischen Begründungsanspruchs in seinem Gedanken der menschlichen Freiheit. Seine Frage: haben wir die menschliche Freiheit nicht beseitigt, wenn wir des Glaubens sind, daß menschliches (also geschichtliches) Handeln, sich vollständig transzendental »demonstrieren« lasse (9, 228)? Im Falle Schellings ist die Kunst einer der Wahrheitsbereiche, die die Philosophie begrenzen, indem sie sich mit ihr verbinden. Nietzsche ist, von Hegel her gesehen, ein Rückfall ins Irratio­ nale, von Schelling her eine erneute Vorbereitung jenes Ernstneh­

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mens ›unbewußter‹ Vernunftbedingungen, dessen Recht durch Freud erwiesen worden ist. Denkt man aber nicht allein von Schelling und von Hegel, sondern auch von Kant her, dann gelangt Nietzsches Kritik an der neuzeitlichen Idee der Vernunft in einen größeren Horizont. Wo Nietzsche im Gedanken an das, was er den »europäischen Nihi­ lismus« nennt, die Logik kritisiert, ist das eine Radikalisierung des Aufklärungsimpulses. Liegt der Logik – das ist Nietzsches Frage – ein überlogischer, ein außerlogischer, ein irrationaler Antrieb zugrunde? Wird sie nicht gebraucht als Mittel zur Macht? Was ist Wahrheit? Erfüllt sie ihr Ziel, die Angleichung an das, was erkannt werden soll? Kann sie dieses Ziel überhaupt erfüllen? Kann das, was in Wahrheit ist, in die Form ›der Wahrheit‹ eingehen, ohne unwahr zu werden? Den eigenen Stachel dieser Frage kann ein Hinweis auf Nietz­ sches Erstlingswerk ›Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik‹ erläutern. Die Schrift ist kein Beitrag zur Ästhetik in dem fachwissenschaftlichen Sinn, als wolle Nietzsche eine neue Theorie der attischen Tragödie vorlegen (oder das Musikdrama der Zukunft propagieren). An dem Phänomen der griechischen Tragödie in seiner Duplizität von ›dionysischer‹ Ekstatik des Chores und epischer Plas­ tizität der Dialoge, an diesem antiken Kunstphänomen sieht Nietz­ sche einen Maßstab, um das moderne Phänomen der ›Wissenschaft‹ befragbar machen zu können. Mißverständlich nennt er das in diesem Buch mit einer antiken Metapher »das Sokratische«. Die Metapher soll jedoch nur sagen: so, wie sich im Kleinen eine Wandlung zwischen dem 5. und dem 4. Jahrhundert innerhalb Griechenlands abgespielt hat, so hat sich im Großen eine Wandlung abgespielt auf dem Wege zu unserer Wirklichkeit. Ihr macht Nietzsche nun nicht, wie man häufig meint, »die Wissenschaft« zum Vorwurf – etwa mit der Alternative: wir müssen wieder zu dem »dionysisch«-mythischen Rausch zurück. Er macht ihr vielmehr ihre eigene Irrationalität zum Vorwurf, ihren »Glauben« an »die Wissenschaft«. (In der Tragödien-Schrift handeln davon besonders der 15. und der 18. Abschnitt). Zwei Generationen später, 1919, kennzeichnet Max Weber diesen Glauben in seinem Vortrag ›Wissenschaft als Beruf‹: »Die zunehmende... Rationalisierung bedeutet also nicht eine zunehmende allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen, unter denen man steht, sondern sie bedeutet etwas anderes: das Wissen davon oder den Glauben daran: daß man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, daß es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenba­

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ren Mächte gebe, die da hineinspielen, daß man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne. »51 Nietzsche nennt den Glauben an die »Ergründlichkeit der Natur der Dinge« den »Optimismus« des »theoretischen Menschen«.52 An diesem theoretischen Optimismus (der die Praxis, das Handeln selbst zu seinem Material macht) stellt Nietzsche seit den ›Unzeitgemäßen Betrachtungen‹ eine eigene Handlungskonsequenz heraus. In einem der Aphorismen aus der Spätzeit (›Der Wille zur Macht‹, n. 677) spricht er von dem »Ausbeutbarmachen« der Welt durch die »wissen­ schaftliche Weltansicht«. Zu einer solchen Art der Selbstinfragestellung bedarf die Phi­ losophie eines Maßstabs, der nicht selber schon das ist, was hier zur Frage steht. In dem späten Rückblick mit dem Titel ›Versuch einer Selbstkritik‹ von 1886 sagt Nietzsche über die ›Geburt der Tragödie‹: »Was ich damals zu fassen bekam, etwas Furchtbares und Gefährliches, ein Problem mit Hörnern, nicht notwendig gerade ein Stier, jedenfalls ein neues Problem: heute würde ich sagen, daß es das Problem der Wissenschaft selbst war – Wissenschaft zum ersten Mal als problematisch, als fragwürdig gefaßt ... Aufgebaut aus lauter vorzeitigen übergrünen Selbsterlebnissen, welche alle hart an der Schwelle des Mitteilbaren lagen, hingestellt auf den Boden der Kunst – denn das Problem der Wissenschaft kann nicht auf dem Boden der Wissenschaft erkannt werden...53« Nietzsches Lebensfrage könnte man in die Formel fassen: »Was ist Wahrheit?« und den Stachel dieser Frage in die andere Formel: was ist das, was uns der Inbegriff, der Prototyp der Täuschung überhaupt ist, das Theater? Einerseits ist es Täuschung. In Nietzsches mittlerer Periode, zu Beginn seiner Polemik gegen Wagner, der Vorwurf, der heutige Mensch, der Mensch der ›Gründerzeit‹, macht nur Theater. Aber andererseits – in der Basler Zeit und zuweilen auch in den Jahren von Sils Maria – die Frage: was ist denn die Welt? mit dem Zeichen einer Antwort, das er im 24. Abschnitt der ›Geburt der Tragödie‹ durch die Erinnerung an einen der frühesten Philosophen ausspricht, wenn er sagt, daß »von Heraklit dem Dunklen die weltbildende Kraft

51 Nach der Kröner-Ausgabe: Max Weber, Soziologie, Weltgeschichtliche Analysen, Politik. 3. Aufl. Stuttgart 1964. S. 317. 52 F. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie. Kröner-Ausgabe 1964. S. 129 und 147. 53 F. Nietzsche: a.a.O. (Anm. 52). S. 31.

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einem Kinde verglichen wird, das spielend Steine hin und her setzt und Sandhaufen aufbaut und wieder einwirft.«54 Platos Einwand gegen die Kunst: die Kunst ist nicht wahr. Hegels Einwand: sie ist nicht wahr genug. Nietzsche erklärt in einem späten Rückblick auf die ›Geburt der Tragödie‹,55 der Verfasser dieses Buches wisse, »daß die Kunst mehr wert ist, als die Wahrheit«. Wenn wir mit Hegel auch Schelling und mit Nietzsche auch Kant vor Augen haben, dann wird ein Weg erkennbar, der zwar nicht auf eine Besiegelung von Platos Forderung einer Ablösung der Kunst durch die Philosophie verweist, wohl aber auf eine Kontinuität der anfänglichen Konfrontation. Der Anfang der Philosophie und ihr Ende, der Anfang und das Ende der überlieferten und unsere Wirklich­ keit prägenden Form der Philosophie vollziehen sich in einem teils feindlichen, teils aber auch liebenden Streit mit der Kunst.

54 55

F. Nietzsche: a.a.O. (Anm. 52). S. 188. F. Nietzsche in der Nachlaßsammlung ›Der Wille zur Macht‹ n. 853, IV.

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Vicos verum-factum-convertuntur-These56 Vico-Vorlesung 8 vom 7.12.1984

Heute zunächst der Abschluß von Teil II ›Die Idee des Werkes‹, dann noch einmal zur Einleitung im ganzen. Beginn mit dem III. Teil: Vicos Verständnis und Vicos Praxis philosophischer Erkenntnis – anhand der verum-factum-convertun­ tur-These. Die ›Neue Wissenschaft‹ ist darum neu, weil sie dem Wissen einen neuen ›Stoff‹ zuweist: dieser neue ›Stoff‹ ist das Alte (und das Älteste): Neu daran ist die ›Entdeckung‹, daß wir das, was jetzt ist, zum Beispiel unsere eigene Zeit und auch, was immer ist, zum Beispiel die Natur – nicht erkennen, nicht verstehen, wenn wir nicht den Wandel verstehen, wenn wir nicht die Einheit der Verschiedenartigkeit – wenn wir nicht das Gefüge, den Gang der Zeit verstehen. Das Resultat dieser Entdeckung die Einsicht in die Andersartig­ keit des Alten, des Entfernten im Unterschied zum Heutigen und Nahen – aber eben so, daß dieses Andere, Entfernte dem Denken, dem Verstehen nahe kommt: und zwar auf die Weise, daß dieses Denken, also wir, nicht etwa jenes Andere uns aneignen (in uns hineinziehen), sondern so, daß wir aus uns heraus gehen, daß wir uns auf den Weg machen, auf den Weg, der zwischen heute und einst, zwischen hier und dort Räume stiftet. Was da nun, als uns Neues, nahe kommt, das ist die eigene Art des Selber-Räume-Stiftens, des Selber-Zeiten-Öffnens dieser älteren, entfernten Epochen in der Form der Sprache und der Form der Dichtung. In diesem doppelten Sinn: sowohl in der Form der Wendung zur Geschichte, als auch in Gestalt der Einsicht in den eigenen geschicht­ lichen, den weltgeschichtlichen Aspekt der Dichtung, bezeichnet Vico als den Schlüssel dieser ganzen neuen Wissenschaft die ›Entdeckung 56 Die achte Doppelstunde aus der im Wintersemester 1984/85 gehaltenen Vorle­ sung: Giambattista Vico – Philosophie als Geschichtsphilosophie.

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des wahren Homer‹. Ich lese die Stelle aus dem Schluß Passus des einleitenden ›Ideen‹-Teils (mit dessen einzelnen Momenten wir uns die beiden letzten Male beschäftigt hatten) jetzt im ganzen vor: »Als Grundprinzip der Ursprünge sowohl der Sprachen wie der Buch­ staben erweist sich der Umstand, daß die ersten Völker des Heiden­ tums, nach einer von uns aufgezeigten natürlichen Notwendigkeit, Dichter waren, die in poetischen Charakteren sprachen; diese Entde­ ckung, die der Hauptschlüssel zu dieser Wissenschaft ist, hat uns die hartnäckige Forscherarbeit unseres ganzen literarischen Lebens gekos­ tet, weil es unserem heutigen, zivilisierten Wesen ganz unmöglich ist, sich die dichterische Natur solcher ersten Menschen vorzustellen, und es uns nur mit großer Mühe gestattet ist, sie zu verstehen.« (NW 66)57

Mit dem Blick auf die ›älteste Überlieferung‹: die Entdeckung der Geschichte; im Gedanken an das Gefüge der Geschichte die Entde­ ckung Homers. Dieses Paradigma, dieser Schlüsselpunkt der ›Neuen Wissenschaft‹, sein Zugangsort, den Vico eigens und gesondert mit dem Titel des »Zweiten Buches«: ›Von der poetischen Weisheit‹ anspricht, ist seinerseits nach zwei Aspekten hin aus der Verborgen­ heit, die nun unserem Denken so große ›Mühe‹ macht, herauszuho­ len: Das eine ist die historische Beachtung des eigenen WahrheitsRanges der Poesie (der ›Phantasie‹), die in dem Zusammenhang von Dichtung und Mythos gründet. Diesen Gesichtspunkt brauche ich nur in Erinnerung zu rufen: ich hatte schon darauf hingewiesen, daß sich Vico wiederholt auf den ursprünglichen Sinn des Wortes ›Mythos‹: die ›wahre Rede‹, der ›wahre Bericht‹ zu sein, beruft (S. 67, 168, 324). Und dies sieht Vico auch historisch bestätigt: die ›mythischen‹ Reden der Ilias oder der Odyssee erklären, eröffnen) dem Volk der Griechen seine Welt, sie ›machen‹ dieses Volk überhaupt erst zu einem ›Volk‹, zu einer ›Nation‹. Und ineins damit eröffnete dieser Mythos, eröffnete die ›poetische‹ Sprach- und Denkweise Homers den Spielraum der griechischen Philosophie: wenn man Parmenides oder Heraklit als Kritiker des homerischen Mythos hinstellt, so darf man doch nicht vergessen, das diese ›Kritik‹ ihre eigenen Impulse und ihre eigenen 57 Die Seitenangaben »NW« beziehen sich auf die Ausgabe: Giambattista Vico, Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker. Nach der Ausgabe von 1744 übersetzt und eingeleitet von Erich Auerbach. Fotomechanischer Nachdruck Walter de Gruyter: Berlin 1965. Die Angaben »rk« beziehen sich auf die in der Reihe »Rowohlts Klassiker« erschienene Ausgabe, die 1966 erschienen ist.

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Maßstäbe auch Homer verdankt: dem nämlich, was man den eigenen Λόγος dieser ersten griechischen Dichtung nennen kann. Ich verweise dazu nochmals auf den Aufsatz von Wolfgang Schadewaldt ›Die homerische Gleichniswelt und die kretisch-myke­ nische Kunst‹, der an dem Unterschied zu der kretisch-mykenischen Kunst die eigene Λόγος-Struktur der homerischen Gleichnisse und deren eigene Struktur-Verwandtschaft mit der gleichzeitigen ›geome­ trischen‹ Bild-Kunst aufzeigt. Die erste der Tübinger Vorlesungen Schadewaldts (in der Reihe Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 1978) hat den Titel: ›Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen. Die Vorsokratiker und ihre Voraussetzungen.‹ Die vier ersten Vorle­ sungen behandeln Homer, Hesiod, Solon, Die Sprache. Der Sprache ist auch noch ein Anhang gewidmet: ›Sprache als vorphilosophi­ scher Denkvorgang‹. Ausgerechnet in der ›Kritik der reinen Vernunft‹ stößt Kant bei seiner Frage, wie denn nun die beiden Faktoren der Erkenntnis, die Anschauung und der Verstand, das Rezeptions-Vermögen und das Produktions-Vermögen des Menschen vermittelt werden, in der Frage also, was denn den Grund der Einheit dieses unter sich Ent­ gegengesetzten ausmacht, auf das Phänomen des transzendentalen Schematismus: also auf den Sachverhalt einer ›transzendentalen‹, einer die Erkenntnis ermöglichenden Bedeutung der Einbildungskraft: Die Auf-Klärung: – eine Sache der ›Phantasie‹. Was Kant damit gewissermaßen unterschwellig aufdeckt – das stand, wie Vico seinerseits, am Ende der letzten großen Kunst-Peri­ ode, am Ende des Barock, an vergangenen Geschichtsepochen zeigt: das stand damals (einstmals!) im Vordergrund des Handelns und des Denkens: prägte das Ganze der cose civile, der politischen Dinge, dieser Anfangs-Zeiten der menschlichen Geschichte. Dieser geschichts-prägende, dieser eigene politische Grundzug dessen, was wir Poesie oder Dichtung nennen, beruhte, wie Vico aufgrund seiner Studien der ihn belastenden ältesten Zeugnisse von ›Literatur‹ und der darin bezeugten noch älteren Denk- und Lebensweisen klar wird, in dem eigenen dichterischen Grundzug der Sprache. In dem Resümee über die ›Idee des Werkes‹ sagte er von der ›heroischen Sprache‹ Es zeige sich, »daß die Sprachen bei den Assyrern, Syrern, Phöniziern, Ägyptern, Griechen und Lateinern mit heroischen Versen begonnen haben.« (NW 68)

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und in der umfangreichen zweiten Abteilung des ersten Buches, die ›Von den Elementen‹ handelt, präzisiert Vico seine Erklärung, »alle heidnischen Völker« seien »in ihren Anfängen poetisch« gewesen (NW 93),

etwas später (NW 98) in dem Satz (mit der Nummer 56): »Die ersten Schriftsteller unter den Orientalen, Ägyptern Griechen und Lateinern, und zur Zeit der wiedergekehrten Barbarei, die ersten Schriftsteller in den neuen europäischen Sprachen waren Dichter.«

Und kurz danach (NW 100, am Ende des Satzes Nummer 62): »Bei allen Völkern« habe es »zuerst eine Sprache in Versen« gegeben »und später erst eine solche in Prosa«.

Der andere Aspekt in Vicos ›Entdeckung‹ der ›poetischen Weisheit‹ ist seine Einsicht in die eigenartige Verfassung, die dieses dichterische Gepräge der anfänglichen Sprache bezeugt, also seine Einsicht in die Dimension des Zusammenhangs von ›Phantasie‹ und Wahrheit, von Mythos und Geschichte: Dichtung kann für ihn ein Schlüssel für die Sache der Philosophie werden, weil er den Schlüssel zum Verständnis der Dichtung in deren eigenem Extasis-Charakter sieht, mit einem anderen griechischen Ausdruck, einem Ausdruck, der durch Vicos Lieblingsphilosophen Plato auch ein allerhöchstes philosophisches Gewicht erlangt hat: darin, daß Sprache dort Dichtung ist, wo sie der Dimension der Mania zugehört. So sehr Plato auch in seiner ›Politeia‹, in seinem ›Staat der Philosophen‹ die Bild-Kunst kritisiert, sofern sie – wie die Plastik seiner Zeit (und ähnlich auch die damals beginnende Psychologisie­ rung im Drama), bloß ›Nachahmung‹, bloß täuschender Schein ist, so entschieden sieht er doch – in anderen Zusammenhängen – zum Beispiel dem Dialog ›Phaidros‹ – die Nähe der Philosophie zur Dichtung, die darin liegt, daß beide auf das angewiesen sind, was Jacob Burckhardt später (im Gedanken an den Umkreis der Künste) das Außerordentlichste nennt und was sich eben darin bezeugt, daß es als das Erstaunliche, als das Wunderbare, das Unheimliche, als das Erschreckende oder als das Bezaubernde zur Sprache kommt. (Denken Sie an den Anfang der Duineser Elegien.) Diese Mania-Dimension der Dichtung und die dichterische Form in der Sprache des Mythos wird in dem ›Ideen‹-Abschnitt, in diesem einführenden Resümee des ganzen Werkes so dargelegt, daß Vico ihn als Gegenpol zu dem herausstellt, was seine Zeit ›Vernunft‹

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nennt (Seite 67). Er scheint zwar hier das Fortschrittspathos der beginnenden ›Aufklärung‹ zu übernehmen, wenn er sagt, die »Stärke der Phantasie« in jenen frühen Zeiten gehörte »Menschen mit ganz schwacher Vernunft« zu, doch schon der Folgesatz schränkt diesen Ausdruck wieder ein: was uns in der Größe der frühesten Dichtungen und in der Tiefsinnigkeit der noch älteren Mythen bekannt ist – (Vico spricht hier von der »Ausdrucksgewalt der heroischen Sprache«), das habe eben darum zu seiner Bildung die stärksten Phantasien gebraucht, weil es sich hier um ein Höchstmaß an Erregung in der Erfahrung gehandelt habe: »Es müssen«, sagt Vico, »in ungeheuere Leidenschaften gekleidete Gefühle gewesen sein, und daher voll Erhabenheit und das höchste Staunen erregend.« (NW 67)

Ich hatte am letzten Mal im Hinblick darauf an die Gestalt der ›Phi­ losophie‹, der geflügelten Frau auf der Tabula, erinnert, die auf ihre Weise zwischen Himmel und Erde steht: Sie betrachtet, wie Vico ganz zu Beginn hervorhebt, den »Blick der Vorsehung« »mit ekstatischer Haltung«, in atto di estatica. Jetzt möchte ich erneut an die große Dichtung Hölderlins erinnern: die Oden, Elegien und Hymnen um 1800, um die Sache Vicos anzuzeigen: den an den Überlieferungen uns befremdenden und doch gleichwohl zu erkennenden Sachverhalt. Die Ode ›Dichterberuf‹ beginnt mit einer Erinnerung an Diony­ sos: »Des Ganges Ufer hörten des Freudengotts Triumph, als allerobernd vom Indus her Der junge Bacchus kam, mit heilgem Weine vom Schlafe die Völker wekend.«

Was Hölderlin hier, im Gedanken an den Einzug des Dionysos aus ›Indien‹, den die Griechen jedes Jahr im Frühjahr feierten, sagt, das sagt er, im Gedanken an den das Weltgebäude eine Weile auf seinen Schultern tragenden Herakles und zugleich im Gedanken an die Wochen des schweigenden Wartens auf dem Berggipfel, die der Verkündung der Gesetze durch Mose vorausgegangen sind: in der ersten (der ersten vollendeten) seiner großen Hymnen ›Am Quell der Donau‹: Der Richtung dieses Flusses folgend, der »vom Schwarzwald dem Orient entgegengeht«, grüßen wir »die Mutter Asia«, wir geden­ ken ihrer »Patriarchen« und »Propheten« – dieser »Starken«.

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»Die furchtlos vor den Zeichen der Welt, Und den Himmel auf Schultern und alles Schiksaal, Taglang auf Bergen gewurzelt, Zuerst es verstanden, Allein zu reden Zu Gott.« (StA II 1, 133)

Gemäß dem Gang der Geschichte (dem Gang zumindest der europä­ ischen Geschichte ausgehend vom Zweistromland und Ägypten – über Kleinasien nach Griechenland und zum römischen Reich und über Jerusalem zum mittelalterlichen Rom und von da »über die Alpen « »zu uns«) – gemäß dem Gang dieser Geschichte sieht Hölder­ lin Wege der Zeit, Wege des Raumes in den epochalen Begegnungen dem Wechsel von Stille und Sturm, von Schlaf und Erwachen, der das Element der Sprache ausmacht, der – wie Hölderlin in dieser Hymne sagt: der »menschenbildenden Stimme«. In dem Satz Nr. 59 seiner Aufzählung der ›Elemente‹ im I. Buch sagt Vico (NW 99): »Die Menschen lassen den großen Leidenschaften Lauf, indem sie in Gesang ausbrechen, wie man es bei solchen erprobt, die von höchstem Schmerz oder höchster Freude ergriffen sind.«

In dem II. Buch (über die ›poetische Weisheit‹) hat die zweite Abteilung die Überschrift: ›Poetische Logik‹. Das sechste Kapitel dieser Abteilung enthält, wie die Überschrift sagt: ›Zusätze über die Ursprünge der poetischen Redeweise, der Episoden, der Inversion, des Rhythmus, des Gesangs und des Verses.‹ (NW 196) Einer dieser ›Zusätze‹, etwa in der Mitte dieses Kapitels, lautet (NW 200): »Der erste Vers entstand, wie wir eben bewiesen haben, so, wie er der Sprache und dem Zeitalter der Heroen entsprach; es war der heroische, der erhabenste von allen Versen, und der der heroischen Dichtung eigentümlich ist; er entsprang aus heftigsten Erschütterungen des Schreckens und des Jubels, wie überhaupt die heroische Dichtung nur wildeste Leidenschaften behandelt.«

Damit beschließe ich die Erläuterung der Idee des Werkes. Auf den Zusammenhang von Sprache und Dichtung und den Ort der Sprache in der Geschichte werde ich im letzten (IV.) Teil zurückkommen. –

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Jetzt, am Übergang vom II. zum III. Teil erst noch die Einteilung im ganzen. Ich hatte schon zu Beginn des vorigen Males auf die Einteilung der Vorlesung verwiesen. Jetzt, nach dem Abschluß des II. Teils zur ›Idee‹ der ›Neuen Wissenschaft‹ kann ich diese Einteilung noch ver­ deutlichen: In den beiden, mittleren Teilen wird die Angabe des Themas mit der Angabe des Resultates verbunden: Einteilung I

(Erörterung des Themas:) Der Titel ›Neue Wissenschaft‹ II (Die ›Idee‹ der ›Neuen Wissenschaft‹:) Philosophie als Philosophie der Überlieferung III (Die ›Neue Wissenschaft‹ und ›De nostri temporis studio­ rum ratione‹) Philosophische Erkenntnis als Geschichtserkenntnis IV (Geschichts-Aspekte:) Recht, Sprache, Dichtung Dabei steht es nun so, daß diese Einteilung selber aus der Erörterung der ›Idee‹ des Werkes (dem Einleitungsstück mit dem allegorischen Bild, dem I. Buch über die ›Prinzipien‹ und dem Abschnitt ›Zusätze über die Hauptgesichtspunkte dieser Wissenschaft‹ in dem II. Buch ›Von der poetischen Weisheit‹) – daß aus diesem Weg meines II. Teiles die Gesamteinteilung plausibel wird: Diese Erörterung von der Idee des Werkes hat drei Hauptge­ sichtspunkte erkennbar werden lassen, die sich selber so voneinander unterscheiden: wie bei einer Wanderung das Ziel, die Landschaft und der Weg. 1. Das Ziel ist Vicos Frage nach den Anfängen, wobei das Entschei­ dende nicht die Archäologie des chronologisch Ersten, sondern die Topologie des Horizont-Gefüges ist: nur wer die Arché zur Frage macht, hat Aussicht, den Wandel zu erkennen, nur wer den Wandel erkennt, hat Aussicht zu erfahren, was je und je der Ort ist. 2. Die Landschaft (der Sache): aus der Frage nach den Anfängen resultiert als Vicos Fund: eine Wandlung unseres Welt-Gefüges: was uns nur als ›Phantasie‹ und nicht als Wirklichkeit erscheint, die ›Dich­ tung‹, tritt als ein eigenes Geschichts-Element hervor: und dies unter

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zwei Aspekten: ihr eigener Mythos-Bezug und ihr Enthusiasmus, der Mania-Charakter. 3. Der Weg: das ist die Konsequenz, die dieses Ziel: die Frage, was Geschichte ist, und diese Landschaft, die ›Entdeckung des wahren Homer‹, für die eigene Verfassung der Philosophie (ihren eigenen Wissens-Charakter) selber haben: also Vicos eigene ›Erkenntnistheo­ rie‹. Ein Zugang zu dem Ziel, zu Vicos Frage lag in der Erörterung des Titels ›Neue Wissenschaft‹ und unserer Frage, was ist denn das Neue in Vicos Frage nach der »gemeinschaftlichen Natur der Völker« (der Inhalt des I. Teils). Über die eigentümliche Sach-Verfassung (die ›Landschaft‹) habe ich mich zuletzt – im Anschluß an die Tabula – befaßt (das war der II. Teil). Die Beschaffenheit des Weges: die Frage, was heißt hier überhaupt Weg (das Wort ›Methode‹, μέϑοδος, ist ja auch ein Name für Weg): was heißt hier überhaupt Weg – wenn es sich bei dieser Art des Fragens und des Sehens, des Erkennens und des Sagens, vielleicht um etwas ganz anderes als eine Methodologie handelt? – Diese Frage ist Vicos eigenes Thema in der Rede über die Studienart unserer Zeit: ›De nostri temporis studiorum ratione‹. Weil sich aber nun unter diesem Gesichtspunkt noch deutlicher als bisher schon zeigen wird, daß in Vicos Fall nicht eine ›methodo­ logische‹ Fundierung der Ausführung vorausgeht oder ein übergrei­ fendes Einheitsresultat nachfolgt, verlangt in diesem Fall die Sache selbst am Schluß noch eigens ins Detail zu gehen: hier natürlich nur in Form von Beispielen (die durch die drei Namen Geschichtsbezug des Rechtes, der Sprache und der Dichtung angedeutet sein sollen). Ich möchte heute nun – nach der Pause – das besondere Thema des III. Teils, Vicos eigene Reflexion auf seine neue Art von philosophischer Erkenntnis zuerst in ihrer eigenen Schwierigkeit verdeutlichen (also sozusagen einen eigenen Weg zu der ›studiorumratione‹-Rede erst zu öffnen), indem ich auf die nun schon so oft genannte verum-factum-convertuntur-These (und dies noch direkt mit Gedanken aus der ›Neuen Wissenschaft‹) eingehe. *

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Vicos verum-factum-convertuntur-These

Obersatz

Man kann erkennen, was man selbst gemacht hat (verum factum convertuntur)

Untersatz

die Geschichte ist von Menschen gemacht. che questo mondo civile (diese historisch-politische Welt) egli certamento è stato fatto dagli uomini (ist ganz gewiß von den Menschen gemacht)

Schlußsatz

Also können wir Menschen sie auch erkennen. onde se ne possono ... ritruovare i principi dentro ... mente umana (Und darum können ... ihre Prinzipien im ... menschlichen Geist gefunden werden.)

Ich hatte vor der Pause an drei Grundzüge der ›Idee des Werkes‹ erin­ nert: I. Vicos Wendung zu den ›Anfängen‹ II. sein Fund des ›wahren Homer‹ Das Dritte ist Vicos Reflexion auf den eben damit (mit dieser neuen Sache der Philosophie und für diese selber) neu geöffneten Weg, genauer noch: die neu beschrittene Art von Weg überhaupt: die Frage, die diese Weg-Wendung bezeugt (nicht nur eine andere Richtung, sondern auch ein anderer Sinn von Weg!), die läßt sich als ein Einleitungs-Exkurs des III. Teils, aufzeigen: an dem eigentümlichen Grenzfall, den die verum-factum-convertuntur-These Vicos darstellt, die These also, die in den Vico-Diskussionen (seit Karl Marx) ganz besonderen Anklang gefunden hat. Vicos Behauptung, wir könnten die Geschichte eben darum erkennen, weil wir sie selbst gemacht hät­ ten. Ich hatte schon angekündigt, daß ich auch hier wieder auf Auerbach verweisen möchte, diesmal ist es die Vorrede zu seiner Übersetzung der ›Neuen Wissenschaft‹. Auf einige Detailpunkte in Vicos Formulierung dieser These komme ich erst später. Erst dann wird diese Tafel Anschrift gebraucht, die mit einem weiteren, späteren Auerbach-Text zusammenhängt. Auerbach bemerkt das Problematische, das Mißverständliche von Vicos Formulierung. Er hebt das Mißverständnis (dieses moderne Mißverständnis) in diesem Fall am Beispiel Croces – und damit im Gedanken an Hegel – von Vicos eigenen Intentionen ab. (Insofern

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Vicos verum-factum-convertuntur-These

handelt es sich hier um eine Parallele zu dem Vergleich Vicos mit Herder am letzten Mal.) Gleich zweimal wird diese These – und in ganz ähnlichen Formulierungen – in dem I. Buch der ›Neuen Wissenschaft‹, das von der ›Feststellung der Prinzipien‹ handelt, als ein Grundprinzip dieser ›Neuen Wissenschaft‹ postuliert: das einmal gleich zu Beginn der dritten Abteilung, die ›Von den Grundzügen‹ (De’ principi), überschrieben ist, das andere Mal gegen Ende der letz­ ten, der IV. Abteilung, die ›Von der Methode‹ handelt (del metodo). Ich lese zuerst die zweite Formulierung vor, die Vico selber als eine Wiederholung der ersten deklariert. Für uns hat die vor­ ausgehende Kenntnis von Vicos eigener Wiederholung dann, beim Lesen der ersten, der entscheidenden Formulierung den Nutzen, daß wir da schon deutlicher die Schwerpunkte in Vicos Argumentation bemerken. Diese zweite Formulierung von Vicos Anwendung der verum-factum-convertuntur-These auf sein Konzept geschichtlicher Erkenntnis folgt unmittelbar im Anschluß an den Kernpunkt sei­ nes Postulates, Philosophie müsse »Philosophie der Überlieferung«, »Philosophie der Philologie« sein: (Sie erinnern sich – NW 137 ganz unten und NW 138 oben): »Diese Königin der Wissenschaften beginnt nach dem Grundsatz, daß die Doktrinen da einsetzen müssen, wo der Stoff, den sie behandeln, entsteht, zu jener Zeit, als die ersten Menschen begannen, menschlich zu denken; nicht erst, als die Philosophen anfingen über die menschli­ chen Gedanken zu reflektieren.« [rk 59]

Dieser Grundsatz, der Vicos Forderung an das Thema der Philosophie bezeichnet, impliziert die Frage: wie ein solcher Anfang, ein Anfang beim Fernsten und Fremdesten, ein Anfang außerhalb des eigenen Theorie- und Praxis-Horizontes, außerhalb der eigenen Denk- und Handlungs-Konventionen überhaupt möglich sein kann. Es bedürfe dazu, sagt Vico zunächst, einer eigenen »kritischen Kunst«. Und dieses Kriterium ist: »Der allgemeine Sinn (il senso commune) des menschlichen Geschlechts«. Was es damit konkret für eine Bewandtnis hat, wird von Vico an dieser Stelle (im Gedanken an andere Stellen, genau genommen: im Gedanken an die ganze Ausführung der ›Neuen Wissenschaft‹) vorausgesetzt. Ich werde darauf im Fortgang dieses III. Hauptteils eingehen. Jetzt erst einmal Vicos Behauptung, was damit gewon­ nen wird. Vico erklärt, dieser »allgemeine Sinn des menschlichen Geschlechts« (dieser senso commune) einzig habe uns gegenüber

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Allem, was Geschichte zur Geschichte macht: dem Gewesenen, dem Gegenwärtigen wie dem Kommenden, zu philosophischer Erkennt­ nis zu gelangen, vermehrt (wie er sich hier, der Tradition gemäß ausdrückt) allen drei Zeit-Dimensionen gegenüber: »Notwendigkei­ ten« zu entdecken: Die Möglichkeit, »beweisen« zu können, »daß die Dinge, so wie sie [unsere Wissenschaft] es darstellt, geschehen mußten, geschehen müssen und werden geschehen müssen«. (NW 138) [rk 59] Für uns erinnert eine solche Formulierung natürlich sofort an Hegel: aha, metaphysischer Determinismus; daß Vico jedoch gerade daran nicht denkt (so nahe das einem Zeitgenossen wie Leibniz auch gelegen haben könnte), daß er sich vielmehr gerade dem logischen Widerspruch zwischen menschlicher Denkart im Handeln und gött­ licher »Vorsehung« stellt: darauf habe ich bisher schon mehrmals hingewiesen und ich werde darauf (an Hand der ›Studiorum-ratione‹Rede) zurückkommen. Hier wird nun mit diesem Anspruch einer Erkenntnis der Epo­ chen- und der Zeit-Verschiedenheiten die Berufung auf die verumfactum-These verknüpft. Und es ist hilfreich, wenn man sogleich beachtet, daß damit der genannte Widerspruch noch unterstrichen wird. Im Falle der Geschichte ist das »Wahre« darum für uns auch erkennbar, weil es – auch als das Älteste, Entfernteste und Fremdeste – ein Zeugnis derselben Freiheit ist, die auch unser freies Handeln, die auch unsere »geschichtliche Natur« ausmacht: »Ja, wir getrauen uns zu sagen, daß, wer diese Wissenschaft überdenkt, insofern sich selbst die ewige ideale Geschichte erzählt, als er sie mit jenem Beweis: es mußte, es muß, es wird müssen, sich selbst schafft – da doch, nach unserem ersten unbezweifelbaren Prinzip, die historische Welt ganz gewiß von den Menschen gemacht worden ist und darum ihr Wesen in den Modifikationen unseres eigenen Geistes zu finden sein muß; denn es kann nirgends größere Gewißheit für die Geschichte geben als da, wo der, der die Dinge schafft, sie auch erzählt.« (NW 139) [rk 59]

Dieses Prinzip glaubt Vico am Beispiel der Geometrie erläutern zu können: ein gleichschenkliges Dreieck zum Beispiel »sehen« wir auf dem Papier nur, weil wir schon wissen, was ein Dreieck und was Gleichheit ist: wir sehen das Dreieck indem wir es (unwillkürlich) nachschaffen: mit dieser Vergleichbarkeit in der Struktur verbindet sich für Vico ein Unterschied im Rang:

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»So verfährt diese Wissenschaft geradeso wie die Geometrie, die die Welt der Größen, während sie sie ihren Grundsätzen entsprechend aufbaut und betrachtet, selbst schafft; doch mit umso mehr Realität, als die Gesetze über die menschlichen Angelegenheiten mehr Realität haben als Punkte, Linien, Flächen und Figuren.« (NW 139) [rk 59f.]

Der darauf noch folgende, der abschließende Satz dieses Gedankens klingt für unser Ohr ganz ›barock‹: »und dies wieder«, (also dieses Erkenntnis-Konzept als eines Nachvoll­ zugs) »ist ein Grund, daß solche Beweise von göttlicher Art sind und dir, o Leser, ein göttliches Vergnügen gewähren müssen; denn in Gott ist Erkennen und Tun dasselbe Ding.« [rk 60]

In der früheren Stelle, der ersten und maßgeblichen Stelle dieses verum-factum-convertuntur-Argumentes zu Beginn der 3. Abteilung des I. Buches, die ›Von den Grundzügen‹ handelt, leitet Vico diesen – seinen Erkenntnis-Grundzug damit ein, daß er auf die Dunkelheit verweist, vor die den Erkennenden die Geschichte stellt: wenn Erken­ nen heißt: auch das Älteste, auch zum Beispiel die Heiden zu erkennen. Das bezeugen, sagt Vico S. 124, ebenso die Anmaßungen einzelner »Völker« in ihrem Geschichtsbewußtsein: Sie sahen zumeist sich, also ihr eigenes Volk, als den Mittelpunkt der Geschichte an (jedes wollte »das älteste der Welt« gewesen sein), darum besteht keine Hoffnung, das zu-Wissende unmittelbar »bei den Philologen«, d.h. in der bloßen (historisch-kritischen) Textanalyse finden zu können. Andererseits bezeugen diese Dunkelheit: die »Anmaßungen der Gelehrten«, die (wie Vico das am Beispiel der drei berühmten RechtsPhilosophen des 17. Jahrhunderts: Grotius, Selden, Pufendorf S. 164/165, erläutert hat) der Meinung sind, ihre Sache sei nicht älter als ihre eigenen Kategorien – die »Anmaßung der Gelehrten«, also der Philosophen, »die glauben, daß das, was sie wissen, seit dem Beginn der Welt vollständig bekannt sei«. Vico meint damit, daß das, was sie an Grundsätzen, an »Prinzipien«, an Wertschätzungen ihres Forschens schon wissen, immer schon die Grundsätze, die Prinzipien, die Wertschätzungen gewesen seien. Darauf folgt nun der berühmte Passus: »Doch in dieser Nacht voller Schatten, die für unsere Augen das entfernteste Altertum bedeckt, erscheint das ewige Licht, das nicht untergeht, von jener Wahrheit, die man in keiner Weise in Zweifel ziehen kann: daß diese historische Welt ganz gewiß von den Menschen gemacht worden ist: und darum können (denn sie müssen) in den

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Modifikationen unseres eigenen menschlichen Geistes ihre Prinzipien aufgefunden werden. Dieser Umstand muß jeden, der ihn bedenkt, mit Erstaunen erfüllen: wie alle Philosophen voll Ernst sich bemüht haben, die Wissenschaft von der Welt der Natur zu erringen; welche, da Gott sie geschaffen hat, von ihm allein erkannt wird; und vernachlässigt haben nachzudenken über die Welt der Nationen, oder historische Welt, die die Menschen erkennen können, weil sie die Menschen geschaffen haben.« (NW 125) [rk 51f.]

Liest man diesen Passus unvorbereitet (oder gar nur durch ähnliche Zitate aus anderen Stellen – zum Beispiel ›De Antiquissima Italorum sapientia‹ – vermehrt), dann muß man glauben, Vico erkläre hier die Erkenntnis der Geschichte (das philosophische Verständnis von Geschichte) mit dem gleichen Argument, mit dem er dem Schöpfer aller Dinge (›Gott‹) die Erkenntnis der Natur vorbehält: Jeder kann das erkennen, was er selbst geschaffen hat. Das ganze dieses Argumentes versteht man dann als einen Syl­ logismus: Der Obersatz: Man kann erkennen, was man selbst gemacht hat (verum factum convertuntur). Der Untersatz: Die Geschichte (il mondo civile – Auerbach übersetzt bei einer späteren Gelegenheit noch genauer:) die historisch-politische Welt (è stato fatto dagli uomini) ist vom Menschen gemacht. Der Schlußsatz: Also können wir Menschen sie auch erkennen. Auf Vicos wörtliche Formulierungen komme ich später. Für eine solche logische Interpretation ist nun dieser Drei-Satz (das kursiv Geschriebene) ein unauflösbarer Widerspruch. Und dies darum, weil der Obersatz (verum factum convertuntur) keineswegs falsch ist, aber nur gerade dort im Recht ist, wo ihn Vico ablehnt: nämlich in der Naturerkenntnis (genauer noch: in der modernen Naturwissenschaft), die zu Vicos eigener Zeit ihre Fundamente auszuarbeiten begann: zum Beispiel bei Leibniz, und ihre ersten großen Erfolge feiern konnte, zum Beispiel bei Newton. Dessen Gravitationsgesetz, das die Kreisbewegungen der Plane­ ten im Himmel mit der Schwere (dem Fall) der Körper auf der Erde auf die gleiche Anziehungskraft: die konstante Relation zwischen Massen und ihrer Entfernung, zurückführt, oder die Maxwellschen Gleichungen der Elektrodynamik, die (in der Weiterführung der Optik Newtons), die elektrischen, die akustischen und die optischen

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Vorgänge in das eine Spektrum der elektro-magnetischen Feldeinheit zusammenfassen – das sind Gesetze, deren Machbarkeit die auf ihnen aufbauende industrielle Technik ständig neu erweist: seit Galilei und Newton ist die Natur für die Menschen machbar geworden. Die moderne Technik ist doch nicht (wie man naiver Weise von sogenann­ ten ›Kultur‹-philosophen reden hört – (früher von Fortschrittsapos­ teln heute von ›Kulturkritikern‹) ein Mittel zur Beherrschung der Natur, sondern ein Weg des Menschen, mit dem er ›die Natur‹ dazu bringt, ihre eigenen (bislang nur verborgen gewesenen) Kräfte selbst hervortreten zu lassen: Im Falle der klassischen Physik (und Chemie) durch die Erfor­ schung der Gesetze der Orts-Bewegung (und deren Umwandlungen): in der Anwendung mathematischer Regeln auf vorgegebene EnergieFaktoren, im Falle der modernen Physik, sowie ihrem Korrelat, der Genetik, und beider Synthese: der Kybernetik oder Informatik: in einer Auflösung der klassischen Dichotomie von mathematischer Regel und energiegeladenem Stoff in die noch ursprünglichere Einheit der Informations-Strukturen: Naturerkenntnis heißt seit dem Beginn der Neuzeit mit Koperni­ kus und Galilei bis zu der Vollendung dieses Beginns in unserer Zeit, die Natur auf diejenigen Aspekte hin zu befragen, sie auf diejenigen Vorentscheidungen von Forschungs-Relevanz hin zum Gegenstand zu machen, die uns ihre Produktiv-Kräfte erschließen und d.h. die uns in den Stand setzen, selber so, wie sie produzieren zu können: Der Mensch der alter Deus: dieser von dem erstem Renaissance Philosophen, Nikolaus Cusanus, erstmals gedachte Gedanke, hat die neuzeitliche Naturwissenschaft in ihrem eigenen Theorieansatz erfüllt: wenn wir mit dem Namen ›Gott‹ die eigene Produktivkraft der Natur bezeichnen, dann ist der moderne Mensch in der Tat zu einem zweiten Gott geworden; was sich darin ausspricht, daß wir, die modernen Menschen, ein solches Wort wie Gott – im Ganzen dessen, was unsere Wirklichkeit begründet und steuert – gar nicht mehr benötigen. Die verum-factum-convertuntur-These Vicos ist nicht falsch – nur: die Anwendung bei Vico (der Ort, den sie bei ihm erhält) ist falsch: seine Folgerung also: »Geschichts-Erkenntnis statt NaturErkenntnis«. Das ist der eine Widerspruch seiner verum-factum-convertun­ tur-These. Der andere besteht in dem Verhältnis dieser These zu seiner eigenen Erkenntnis-Praxis: an keiner Stelle nämlich wird in

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dieser Praxis damit Ernst gemacht, daß »der Mensch« der »Schöpfer« (der »Produzent«, der »Macher«) der Geschichte sei – so wie dann, fast genau seit dem Abschluß der ›Neuen Wissenschaft‹, um 1750 herum, die moderne Industriegesellschaft – bis zu einem gewissen Grad – als ein Sich-selber-Produzieren auch der geschichtlichen Wirklichkeit angesehen werden kann. Die Menschen stehen zwar nach Vicos Überzeugung frei in der Geschichte: il modo civile (die historisch-politische Welt) ist eben insofern die Menschen-Welt, als sie ihrem Handeln zugehört: Nur ist dieses Handeln, dieses Element des Menschen – der Zorn und die Freundesliebe des Achill ebenso wie der Schmerz und die Situationsklugheit des Odysseus – kein Geschichte-Machen: es ist ein Element der Geschichte, ohne das es keine Geschichte gäbe, was aber Städte baut, was Völker gründet, Epochen verändert: das ist in den meisten Fällen nicht das Ziel des Handelns: Was sich – im Nachhinein – als »Vorsehung« begreifen läßt, das ist nicht der Mensch als ›alter Deus‹, sondern das, was man im Doppelsinn des Wortes Welt »Meine Welt« und: »Die Welt«, den Zeitraum nennen kann, der sich nicht ohne uns, aber auch nicht allein durch uns entfaltet. Es ist nicht: ›unser Raum‹, weil wir ihn ›machen‹, sondern ›unser Raum‹, weil wir es sind, die ihn bewohnen. Im Widerspruch zu der verum-factum-convertuntur-These ist das Thema der Geschichte in Vicos philosophischer Praxis gerade der Bezug, der unterschiedliche Bezug zwischen dem, was man zu Vicos Zeit noch ohne Sprach- und Sagenot Mensch und Gott nennen konnte. Es bleibt hier (wie Auerbach sagt) »ein unentwirrbarer Wider­ spruch«. Freilich, – so fährt Auerbach dabei (NW 27) im Gedanken an die Rezeption dieser These fort – »Gibt man diesem Gedanken Vicos« – die Geschichte könne erkannt werden, weil sie von Menschen gemacht sei – »eine ganz leichte, kaum merkliche Färbung, so wird er ganz und gar neunzehntes Jahrhundert«. Und das demonstriert er durch ein Zitat nach Benedetto Croce: »Während in der Mathematik, so schreibt Croce, die Konversion von Tat und Erkenntnis nur scheinbar anzuwenden ist, – da der Mensch den Punkt nicht schafft, sondern fingiert –, ist sie in den moralischen Wissenschaften so logisch, daß man sie geradezu Übereinstimmung nennen muß. Das menschliche Wissen ist qualitativ das gleiche, wie das göttliche, nur quantitativ verschieden, weil Gott auch die Natur erkennt. … Der Mensch schafft die menschliche Welt, indem er sich in die staatlichen Formen verwandelt; indem er sie überdenkt, schafft er

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von neuem die eigene Schöpfung … und erkennt sie mit vollkommener Wissenschaft. Dies ist wirklich eine Welt, und der Mensch ist ihr Gott.« (NW 27f.)

Soweit das Croce-Zitat. Auerbach bemerkt dazu: »So denkt Croce; aber Vicos Meinung war es nicht. Für ihn ist die Vor­ sehung, nicht der Mensch, der Gott der Geschichte, und auf der zweiten Seite der neuen Wissenschaft nennt er sein Werk ›una Theologia civile ragionata della Provedenza divina‹.« (NW 28)

»Eine vernünftige Theologie der göttlichen Vorsehung in der Geschichte.« Während Croce Vico zum Vorwurf macht, daß ihm seine Bindung an die Theologie den freien Blick für die Empirie versperrt habe, weist Auerbach darauf, daß diese Bindung nur die Kehrseite von Vicos Realismus ist: »Was Vicos freien Blick betrifft, so erscheint er uns wenigstens neben all denen, die nach ihm ähnliches versuchten, als ein Gigant an Weit­ räumigkeit und Horizontgröße; Herders Humanität, der Gefühlskon­ servatismus der Romantiker und auch Hegels absoluter Geist tragen, an Vico gemessen, das Gepräge eines häuslichen Wohlgeordnetseins, indem das Ich einen behaglichen Ruhepunkt entweder gewonnen zu haben glaubt oder doch erstrebt und erträumt.… Denn sie sind nach Analogie des Menschen, um das so sehr wichtig gewordene Ich herum gebildet; in dem Bestreben, die Welt in das Ich einzubeziehen, um es in ihr heimisch zu machen; so daß die Atmosphäre einer Stube entsteht, in der viele zusammensitzen, um kluge Dinge zu besprechen – während Vico, heißer als sie alle, allein steht, in der eisigen Luft eines Gletschers, und über ihm wölbt sich der ungeheure barocke Kuppelho­ rizont des Himmels. Es ist wahr, er hat eine dynamische, ›organische‹ Geschichtsauffassung, und ist in dieser Hinsicht Descartes und dem gesamten achtzehnten Jahrhundert entgegenzustellen. Man sollte ihn aber darum doch nicht in allzu nahe Verbindung mit den romantischen und nachromantischen Geschichtsphilosophen bringen. Vico ist allem Gefühlspantheismus und Gefühlskonservatismus vollkommen fremd, und würde sich den Versuchen, Gott in die warme Atmosphäre des Menschen einzubeziehen, widersetzt haben: seien sie nun rationalis­ tisch oder dialektisch, mechanisch oder dynamisch.« (NW 30f.)

Vicos These über das Erkennenkönnen von Geschichte, sein Versuch also, die von ihm praktizierte und propagierte Wendung der Philoso­ phie zur Geschichte durch so etwas wie ein erkenntnistheoretisches Grundprinzip zu fundieren ist mißverständlich. Und dem modernen

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Leser – dem Leser des 19. und 20. Jahrhunderts, legt dieser Satz durch die scheinbare Übereinstimmung mit seinem eigenen Erwartungsho­ rizont dieses Mißverständnis eigens nahe. Doch damit ist dieser vielzitierte Passus über das Licht, das uns die »Nacht voller Schatten« erhellt, keineswegs hinfällig geworden: man muß ihn nur so lesen, wie ihn – Vico sagt. Noch einmal kann ich mich dazu auf Erich Auerbach berufen. In einem kleinen Festschriftbeitrag von 1937 mit dem Titel ›Sprachliche Beiträge zur Erklärung der Scienza Nuova‹ findet sich ein dreiseitiger Essay mit dem Titel: ›Paraphrase eines Satzes‹. In der Ausgabe der ›Gesammelten Aufsätze‹ von Auerbach (von 1967) sind das die Seiten 251–253. Wenn man sich darauf einläßt, wie Vico hier spricht, dann bemerkt man, daß die Form des Syllogismus – also der Dreischritt: 1. 2. 3.

Man kann erkennen, was man selbst gemacht hat; die Menschen haben die historisch-politische Welt gemacht; also: können sie sie erkennen

– man bemerkt dann, daß diese Form des Syllogismus nicht das sein kann, was dieser Passus, diese ›Periode‹ zur Sprache bringen will: Nicht nur, daß der Obersatz (»man kann erkennen, was man selbst gemacht hat«) gar nicht eigens ausgesprochen wird: Vico war es hier »nicht um logische Vollständigkeit, sondern um den Durchbruch eines Gedankens zu tun, der mit plötzlicher Übermacht sich offenbart« (NW 252): Entscheidend ist nicht jene allgemeine Prämisse des Obersatzes, sondern die besondere des Untersatzes Die Geschichte: Die Natur des Menschen. »Und mit einer mehr als nur logischen Kraft, mit einem elementaren Kontakt schließt sich die Folgerung an; und zwar, wie man nun leicht einsieht, nicht in der nur logischen Form: also kann die Geschichte von den Menschen erkannt werden – die auf den fortgefallenen Obersatz hinweisen würde – sondern in einer konkret-körperlichen Weise, fast imperativisch: dort, an jenem Orte, muß das aufzufinden sein, wonach wir suchen, dort müssen wir nachforschen; in jener Werkstatt, in der das Gebilde entstand, muß auch die Verfahrensweise zu ermitteln sein, die für seine Herstellung verwendet wurde. Es zeigt sich also gleich beim ersten Schritt der stilistischen Betrach­ tung, was jedem Leser ohnehin als unmittelbarer Eindruck aus dem Buche entgegenschlägt, nur freilich hier genauer und schärfer: die drängende Leidenschaft des vichianischen Geistes in diesem Alters­

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werk – denn Vico war über 60 Jahre alt, als er die Periode schrieb, die wir untersuchen –; eine Leidenschaft, die anstelle der abstrakten Ableitung eine konkrete Vorstellung, anstelle der logischen Verkettung der Gedanken ein Sich-aneinander-Entzünden hervorruft.« (NW 252)

Diesen ›imperativischen‹, diesen ›leidenschaftlichen‹ Zug hebt Auer­ bach darum in dieser Stiluntersuchung nach zwei Seiten hin heraus: einmal nach dem, was er den »Ausdruckswert« dieser Sätze nennt: das certamente: »ganz gewiß« »von Menschen« »gemacht«; und nicht registrierend »il mondo civile«, sondern che questo mondo civile: diese historisch-politische Welt. »Schon das questo an dieser Stelle – hier diese, die uns gehört, die irdische, vorliegende, unsere Heimat, das Feld unserer Taten – erregt in seinem Geist und in dem des verstehenden Lesers die Erinnerung an eine ganze mühe- und arbeitsvolle Entwicklung des vichianischen Denkens, die zur Scheidung der gottgeschaffenen Welt der Natur von der menschengeschaffenen Geschichtswelt führte, und berechtigt uns, mondo civile so zu übersetzen, wie wir es taten, als geschicht­ lich-politische Welt, ja als Welt des menschlichen Geistes; und die Wiederaufnahme des Objektes mit egli verstärkt die Heraushebung in einer Weise, die etwas von dem Pathos des lehrenden Propheten besitzt.« (NW 252)

Und ähnlich dann im zweiten Satz: »In ihm ist zunächst das bejahte Verb der Möglichkeit – onde se ne possono – durch seine Vorwegnahme herausgehoben; diese Stellung wird alsdann noch durch das eingeschobene perchè se ne debbono energisch unterstrichen, sowohl rhythmisch wie inhaltlich; [sie können gefunden werden – perchè se ne debbono –, weil sie es müssen] noch bevor man erfährt, was eigentlich geschehen kann, hört man die Beteuerung: es ist möglich, denn es muß so sein, und zugleich wird die Erwartung auf das, was eigentlich geschehen kann, aufs äußerste gespannt; und nun erst entrollt sich, zum Schluß der ganzen Periode, der Ort, nach dem gefragt wurde: unser eigener menschlicher Geist. Dieser aber wird nicht nur einfach genannt, sondern in den Worten dentro le modificazioni liegt das Suchenmüssen im Raum des Geistes, in dem die Prinzipien der Menschengeschichte gleichsam verborgen und nur durch Forschung auffindbar sind; und schließlich liegt die eifrigste, pathetische Betonung in der nur ganz leise gegeneinander abgetönten dreimaligen Wiederholung desselben Inhalts durch die Worte nostra, medesima und umana.« [unseres, selbst und menschlichen] (NW 253)

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Auf den zweiten Aspekt, den Auerbach heraushebt, verweise ich nur noch: »die Stellung dieses Satzes im Ganzen der Periode«:

die Emphase der Bild-Sprache: angefangen mit Nacht und Licht: »Die Ausmalung geschieht jedes Mal durch erregte Pleonasmen; dichte Nacht von Schatten, erstes, von uns entferntestes Altertum, ewiges Licht, das nicht untergeht, Wahrheit, die man nicht in Zweifel zie­ hen kann.«

Und der Eindruck, den der rhythmische Ablauf vermittelt: »Dreißig Silben dauert die tiefe Nacht, deren Dichte gedrängten Inhalts voll ist (la prima da noi lontanissima antiquità), während das Aufgehen des Lichtes, von dem Verb apparisce eingeleitet, zweimal von den Fanfarenstößen der pleonastischen Nebensätze unterbrochen wird (11 + 5 + 6 + 17 Silben); das ganze sich steigernd in Sinn und Tonintensität bis zu dem Doppelpunkt, hinter dem die Hauptsache hervorstößt: daß diese geschichtliche Welt ganz gewiß von den Menschen gemacht worden ist.« (NW 253)

Auerbach beschränkt sich hier auf eine ›Sprach-Analyse‹: aber es ist klar, daß damit eben auch das, was hier zur Sprache kommt, hervortritt: nicht das Machen als unser Produkt, sondern (wie hier nun auch die Übersetzung noch verdeutlicht) es handelt sich auch in dem Entferntesten: um Modifikationen unseres menschlichen Geistes – es handelt sich (in allen Fällen) – noch einmal in Auerbachs Über­ setzung: »um die Gestaltungsmöglichkeiten unseres menschlichen Geis­ tes selbst«.

Das Erregende, das dieser Ton der Sprache Vicos ausspricht, das ist die Entdeckung der Verwandtschaft in der Fremdheit: wir haben hier die Chance der Erkenntnis, aber nur, wenn wir die Mühe auf uns nehmen: uns nämlich so zur Weite ›unserer‹ Möglichkeiten zu befreien, daß wir aus der Enge unserer – der uns jeweils beherrschenden und fesselnden ›Wirklichkeiten‹: dem jeweils gerade Zeit-gemäßen herauskommen. Vicos Grundsatz der geschichtlichen Erkenntnis ist nicht der Maßstab des ›Machens‹ – als eines Produzierens. Er zielt vielmehr auch hier auf die Erfahrung, die die andere (und in den Vico-Dis­ kussionen viel weniger behandelte) These: Philosophie müsse Phi­ losophie der Überlieferung, filosofia dell’ autorità, sein, ausspricht:

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Gerade darum, weil Geschichte, weil die Taten der menschlichen Freiheit, der Raum der göttlichen »Vorsehung« nicht »konstruierbar«, nicht schlechthin a priori systematisierbar sind, braucht die Philoso­ phie – die Philologie: die Geschichte der Sprachen seit der Renaissance, die Rechtsgeschichte seit dem alten Rom die Vermittlung der politischen Geschichte seit Thukydides und Tacitus die Geschichte des Mythos bei Homer und Hesiod, die Geschichte fremder Weltkulturen wie Persiens oder Ägyp­ tens seit Herodot: Wir brauchen ja nur darauf zu achten, wie Vico sich in seiner philoso­ phischen Praxis von seinen Studien der griechischen und römischen Literatur über Zeiten und Räume, über Elemente und Prinzipien belehren läßt, um seinerseits wiederum uns belehren zu können – unter seiner Frage, was denn »die gemeinschaftliche Natur der Völker« ist: was denn Geschichte ist. Ein solches Sich-belehren-lassen ist auch schon sein Achten auf das eigene Sagen der Sprache in Form der Etymologie (wie oft er dabei auch in Einzelheiten fehlgreift): Vicos eigene philosophische Praxis zeigt, wie bei ihm der verum factum convertuntur-Satz gemeint ist: die historische Welt kann, weil sie aus menschlichem Handeln, menschlichem Leiden hervorgegan­ gen ist – seit dem Beginn von Ackerbau und Begräbnis, seit dem Zorn des Achill und dem Heimweh des Odysseus – von Menschen auch erkannt werden. Weil seit den ersten Malereien eines Jagdtieres in den francokantabrischen Höhlen, seit den ältesten Bauten und Versen die histo­ rische Welt die Welt des menschlichen Geistes ist, darum können »in den Modifikationen unseres eigenen menschlichen Geistes ihre Prinzipien aufgefunden werden.« (NW 125)

Es sind – wie schwer auch immer die Abkehr von der eigenen Konventions- Gebundenheit sein mag – doch Modifikationen dessen, was wir selber sind, die uns beim Studium der Überlieferung die Erkenntnis des Anderen, des Fremden als Anamnesis, als das Wunder der Erinnerung erfahren lassen. Die verschiedenen Sprachen – der Schrift genauso wie der Kunst – können noch so fremd sein: es sind doch auf jeden Fall Sprachen: Nicht die Machbarkeit sondern die Hörbarkeit ist der Grundsatz

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Vicos verum-factum-convertuntur-These

von Vicos Geschichtserkenntnis. Wie sehr er sich gerade damit von demjenigen verum factum convertuntur-Sinn entfernt, der der neu­ zeitlich-technischen Naturwissenschaft zugrundeliegt – das wird sich dann, am nächsten und wahrscheinlich auch noch übernächsten Mal (nach Weihnachten) in Verbindung der ›Neuen Wissenschaft‹ mit der ›Studiorum- ratione‹-Rede noch genauer zeigen lassen.

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Leibniz und die Kybernetik58

1 Universalisierung der Technik a Die ›Logische Maschine‹ Der Systembegriff in Naturwissenschaft und Sozialwissenschaft, in Genetik und Linguistik hat darin seine Anziehungskraft, daß er den Antagonismus von Subjektivität und Objektivität und vielleicht sogar den von Theorie und Praxis (von Reflexion und Produktion) überwin­ det. Das zu erkennende Objekt wird in seiner eigenen Subjekt-Struk­ tur erfaßt, in seinem eigenen Sich-selbst-Erzeugen und Sich-selbstErhalten. Und dies gelingt, indem sich das Erkenntnis-Subjekt als einen Faktor der objektiven Systematik ansetzt. Im Regelkreis der Natur, im Regelkreis der Gesellschaft steht das erkennende, das forschende Subjekt nicht unbeteiligt ›draußen‹, sondern wird ebenso gesteuert, wie es selber steuernd ist. Es ist ein Partner im System-Pro­ zeß. Die Theorie wird zu einem Faktor der Praxis in der BewegungsEinheit, in der Projekt-Einheit, in der Erzeugungs-Einheit des Regel­ kreises Natur, des Regelkreises Gesellschaft und Natur. Zur gleichen Zeit, wo das ganze aller Wissenschaften endgültig kein Ganzes mehr ist, wo die ›Universität‹ nichts anderes mehr als Diversität ist, hat sich in einzelnen Gebieten das Konzept eines wis­ senschaftlichen Verfahrens entwickelt, das Universalität beansprucht: in der Biophysik eine solche Art von ›Grundlagenforschung‹, die das ganze der Erfahrung vom Einfachsten bis zum Differenziertesten, vom Atomkern bis zur menschlichen Geschichte, von der Astronomie bis zur Neurologie als die Einheit einer Genese erforscht, in der 58 Erstveröffentlichung: Parabel. Schriftenreihe des Evangelischen Studienwerkes Vil­ ligst, Bd. 1: Natur-Wahrheit-Wissenschaft. Naturwissenschaftler in der Krise ihrer Wissenschaft, Münster: edition liberación 1984, S. 42–58. Vortrag – gehalten am 8. März 1982 im Seminar: Kybernetik – neue Universalwissenschaft? des Evangelischen Studienwerks Villigst. Zitate aus: Norbert Wiener, Kybernetik, 2. Aufl. Düsseldorf/ Wien 1963. D.R.

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Leibniz und die Kybernetik

Linguistik eine solche Art von ›Verhaltensforschung‹, die das Spezial­ gebiet der Anthropologie zu einem Paradigma (einem Spiegel) der Wirklichkeit im ganzen transformiert hat. An beiden Universal-Disziplinen beteiligt zu sein: das Univer­ sal-Konzept der Biophysik genauso wie das der Linguistik als ein einheitliches Grundkonzept von Wissenschaft überhaupt erkannt zu haben, macht den eigenen ›universalen‹ Rang der Kybernetik aus. Dieses einheitliche Grundkonzept von Einheit, von Einheit über­ haupt, nennt der Name, den die Begründer dieses Konzepts einer Einheit von Grundlagenwissenschaft und technischer Praxis, von forschender Einsicht und geschichtlichem Verändern selbst vorge­ schlagen haben: kybérnesis, das Steuern – eine Metapher aus der Seefahrt, aus dem praktischen Wissen der Seemannskunst (kyberné­ tes, der Steuermann). Dieser Name (Kybernetik) trifft die Einheit des Ganzen von physikalisch-biologischer und linguistisch-anthropolo­ gischer Orientierung besser als die anfänglich erwogene Metapher des Botengangs, des Boten. Damit hätte man (mit griechisch aggelos, römisch angelos) einen Namen verwenden müssen, der schon vom Umkreis einer älteren, einer der allerältesten, einer mittelalterlichen Disziplin präokkupiert war. Mit dem Begriff ›Botschaft‹ wäre zwar ein grundlegender Aspekt dieses neuen Konzepts von Wissenschaft getroffen worden, derjenige des Informations-Prinzips (der Kom­ munikations-Struktur), den die Kybernetik mit der Linguistik und diese ihrerseits mit der Biophysik (den mathematisch-physikalischen Grundlagen der Genetik) teilt. Es wäre damit aber noch nicht ein anderer; mit dem Prinzip der Botschaft zwar eng verbundener, aber doch nicht ganz in ihm aufgehender (nicht ›analytisch‹ mit ihm ›identischer‹) Aspekt genannt gewesen, der ebenfalls grundlegend ist, nämlich der der kontinuierlichen oder diskontinuierlichen Pro­ gression, des ›Wachstums‹, der Steigerung. Die Infinitesimalrechnung ist ein Sonderfall von Rechnung. Nicht jede Rechnung ist progressiv – es sei denn, man versteht schon das Wort »Rechnung« so wie im neuzeitlichen Sprachgebrauch, nämlich als »berechnend«: auf Planung, auf Folgewirkung, auf das Resultat von Speicherungen hin. Und umgekehrt ist nicht jede Progression, nicht jedes Wachstum schon ein Fall von Information (und Kommunikation). Es gibt ein Sammeln und Versammeln (griechisch légein), in dem aus Spannung Fülle hervorgeht, so wie bei der Arbeit eines großen Malers oder Architekten. Was da ›wächst‹, hat nichts mit Information zu tun.

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1 Universalisierung der Technik

Der Begriff des »Steuerns« umfaßt sowohl den linguistischen (und logisch-mathematischen) Begriff der »Information« als auch den genetischen (und entwicklungsgeschichtlichen) Begriff der »Progres­ sion«. (Bei dem Bild, dem das Wort »Steuerung« entnommen ist, wird man unterscheiden müssen zwischen dem Steuern nach Sonne und Sternen im Kampf mit den Wellen, im Spiel mit dem Wind der älteren Seefahrt und dem Steuern mit Funk bei Motorschiffen oder an Bord eines Raumschiffes. Der antike Name steht hier für den neuzeitlich-modernen Gebrauch des Wortes: Der Regler steuert die Heizautomatik, die Nukleinsäure-Codes steuern den ›Lebenspro­ zeß‹.) Erst die Einheit beider Aspekte: Information als Methode der Progression und Progression als Horizont der Information, macht den Einheitsgrundzug im Universalitätsaspekt der Kybernetik aus. Auf die Entscheidungen, die mit diesem Konzept einer Einheit von Wissenschaft und Wirklichkeit realisiert werden, die Entschei­ dungen also in der Frage, was hier überhaupt mit ›Wissenschaft‹ und ›Wirklichkeit‹ gemeint ist, weist einer der Begründer dieses Wissen­ schaftskonzeptes, Norbert Wiener, hin, wenn er als den »Schutzpa­ tron der Kybernetik« Leibniz nennt. Lehrreich an diesem Hinweis ist nicht so sehr die historische Ausweitung einer Vorgeschichte der Kybernetik: von der jüngsten Schwelle, den Grundlegungen der Quantentheorie, der Genetik und der Informationstechnologie (um 1925), und der vorhergehenden: der Einführung der ›Zeit‹ in die Wissenschaft der Thermodynamik oder in die Philosophie Bergsons (vor und nach der letzten Jahrhundert­ wende), zu einer noch älteren: dem Gedanken eines mathematischen Kalküls der göttlichen Weltschöpfung (am Ende des 17. Jahrhun­ derts – also zur Blütezeit der Barockkunst, der Vollendungszeit des Absolutismus, dem Beginn des Merkantilismus und einer ersten systematischen Verkehrspolitik). Nicht eine solche Ausweitung in der Datierung ist das Lehrreiche an Norbert Wieners Berufung auf Leibniz, sondern die Zuspitzung im Sachverständnis. Mit dem Schutzpatron der Kybernetik nennt dieser weitsich­ tigste ihrer Begründer den Grundzug der Kybernetik selbst: »Die Phi­ losophie Leibniz’ kreist um zwei engverwandte Begriffe – den einer universalen Symbolik und den eines Kalküls der Vernunft« (S. 40). Was N. Wiener mit dieser Dichotomie verwandter Begriffe meint, sagt – einerseits – das ganze dieses Buches (nicht zuletzt die beiden »ergänzenden Kapitel« zur zweiten Auflage), andererseits auch schon die knappe Erläuterung, die N. Wiener an dieser einen Stelle gibt. Der

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Leibniz und die Kybernetik

nächste Satz sagt – für sich genommen – noch wenig, der darauffol­ gende – genau genommen – alles. Von jenen beiden Begriffen (jenen beiden Begriffsaspekten), dem einer »universellen Symbolik« und dem eines »Kalküls der Vernunft«, seien (wie Wiener zunächst sagt) »die mathematischen Bezeichnungen und die symbolische Logik der heutigen Zeit hergeleitet«. Das klingt – für sich genommen – sehr speziell und sehr exklusiv. Die eigene Universalität und Wirklich­ keitsnähe dieses Erklärungsansatzes nennt der erläuternde Zusatz, der mit einem paradigmatischen Vergleich beginnt, dem Fortschritt der Rechenmaschinen nämlich, um daran, in einem neuen Begriffs­ paar, den Zusammenhang der Philosophie von Leibniz mit dem Grundzug der Kybernetik auszusprechen: »Genau wie der Kalkül der Arithmetik eine fortschreitende Mechanisierung, ausgehend vom Rechenschieber und der Tischrechenmaschine bis zum ultraschnellen Rechenautomaten des heutigen Tages, durchlaufen hat, enthält der calculus ratiocinator von Leibniz die Keime der machina ratiocinatrix, der logischen Maschine.« Der calculus ratiocinator (der logische Kal­ kül) enthält die Keime der machina ratiocinatrix (der logischen Maschine). Diesen Zusammenhang von ›Keim‹ und ›Frucht‹, von Theorie und Praxis sieht Wiener bei Leibniz selbst schon angelegt: »Leibniz war tatsächlich selbst, wie sein Vorgänger Pascal, an der Konstruktion von mechanischen Rechenmaschinen interessiert.« (Leibniz war der Erfinder der ersten Rechenmaschine, mit der man nicht nur addieren, sondern auch substrahieren konnte.) Deshalb sei es (setzt N. Wiener noch hinzu) »nicht im mindesten überraschend, daß der gleiche intellektuelle Impuls, der zur Entwicklung der mathe­ matischen Logik geführt hat, gleichzeitig zur ideellen oder tatsächli­ chen Mechanisierung der Prozesse des Denkens geführt hat.« Mit der »ideellen oder tatsächlichen Mechanisierung der Pro­ zesse des Denkens«, die sich dem gleichen »intellektuellen Impuls« verdankt, der zur Entwicklung der mathematischen Logik geführt hat, meint N. Wiener offenbar dasselbe, was er vorher kurz – im Anschluß an den Begriff des calculus ratiocinator – die machina ratiocinatrix genannt hat, die »logische Maschine«. Und was damit gemeint ist, sagt das ganze Buch – vor allem die beiden, der zweiten Auflage (von 1961) beigefügten letzten Kapitel (die Hervorhebungen von mir): IX. ›Über lernende und sich selbst reproduzierende Maschinen‹; und X. ›Gehirnwellen und selbstorganisierende Systeme‹. Daß in der Tat erst mit diesen beiden Nachtragskapiteln der Grundzug der Kybernetik ausdrücklich (und endgültig) formuliert ist,

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zeigt ihr Zusammenhang mit dem Untertitel des Buches, den auch schon die erste Auflage (von 1948) hatte: ›Regelung und Nachrich­ tenübertragung im Lebewesen und in der Maschine‹, (control and communication in the animal and the machine). Man bemerkt, was Kybernetik ist, wenn man in den beiden Hälf­ ten dieses Untertitels den jeweiligen Sinn des »und« verstanden hat. »Lebewesen und Maschine« heißt: eine solche Maschine zu konstru­ ieren, die eine Analogie des Lebewesens ist; und das heißt: der selber das zukommen müßte, was N. Wiener (in der Einleitung zur zweiten Auflage) »das zentrale Phänomen des Lebens« nennt (S. 16), das ist: die Vererbung. Was an diesem Phänomen entscheidend ist, um eine Maschine herstellen zu können, der dieses zentrale Phänomen des Lebens selber zukommt, das erörtert N. Wiener speziell in dem IX., dem ersten jener beiden neuen Kapitel: ›Über lernende und sich selbst reproduzierende Maschinen‹. Damit ist gesagt – dies wird für uns dann das Entscheidende sein –, was zu tun wäre, wenn man eine solche Maschine herstellen wollte, noch nicht, ob wir tatsächlich auch (wie N. Wiener im Fortgang der Einleitung zur zweiten Auflage sagt) die Mittel »besitzen, mit welchem technische Gebilde andere Gebilde erzeugen können, deren Funktion ihrer eigenen gleich ist«. Darauf geht erst das letzte Kapitel ein (also das zweite der beiden Nachtragskapitel): ›Gehirnwellen und selbstorganisierende Systeme‹, in dem (wie N. Wiener in der Einleitung zur zweiten Auflage ankündigt) »im einzelnen« erörtert werden soll, »wie schwingende Systeme mit einer gegebenen Fre­ quenz andere schwingende Systeme auf die gleiche Frequenz bringen können« (a.a.O.). Das »zentrale Phänomen des Lebens« (von dem speziell das IX. Kapitel handelt), das Phänomen der Vererbung, der Selbst-Repro­ duktion ist entschlüsselt durch die Biogenetik. N. Wiener schreibt in der Einleitung zur zweiten Auflage: »Damit eine Erblichkeit über­ haupt möglich ist, damit sich Zellen vermehren können, ist es nötig, daß die Erbeigenschaften tragenden Komponenten einer Zelle – die sogenannten Gene – fähig sind, weitere gleiche, Erbeigenschaften tragende Strukturen nach ihrem eigenen Vorbild zu schaffen« (a.a.O.). Die Biogenetik hat die eigene Mechanik, die eigene Maschinerie des ›Lebens‹ entschlüsselt. Sie hat das eigene ›Denken‹, den calculus ratiocinator der Natur entschlüsselt und damit den maschinebauen­ den Menschen, die Technik, in den Stand gesetzt, ›denkende‹ – und das heißt hier: sich selbst reproduzieren könnende –, also: lebensähnliche

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Leibniz und die Kybernetik

Maschinen herstellen zu können. Der calculus ratiocinator hat zu seiner Konsequenz die machina ratiocinatrix. Den Schlüsselpunkt nimmt in dieser Parallelität (in diesem Spiegelverhältnis) von Erkenntnis und Herstellung, von calculus und machina, von Rechnung und Erzeugung der eigene zentrale Faktor des zentralen Lebensphänomens, der Selbsterzeugung (der »Vererbung«) ein: die Code-Struktur der Gene. Der Schlüsselpunkt der Parallelität ist die Informations-Struktur der »Lebens«-Erscheinungen. Die Vorform, wenn nicht sogar selbst die Grundform der sich selbst reproduzierenden ›Maschine‹, ist die ›lernende Maschine‹; berühmtes Beispiel dafür: der Schachspiel-Automat, der kontinuier­ lich die individuelle Strategie des menschlichen Gegenspielers in seine eigene Strategie einbaut, also im Prozeß des Spielens an dem Gegenspieler lernt. Der Prozeß des Spielens ist – auch für die Spiel›Maschine‹ – ein Lernprozeß. Das »und« der zweiten Dichotomie des Untertitels (die wir jetzt zuerst beachtet haben): animal and machine, »Lebewesen und Maschine«, bezeichnet also ein Spiegelverhältnis: Die Kybernetik hat es nicht einerseits mit Lebewesen und andererseits mit Maschinen zu tun, einerseits mit Biologie und andererseits mit Technologie, sondern sie hat es mit einer solchen Technologie zu tun, die der eigenen Technologie der lebendigen Natur gleichkommt. »Animal and machine«, d. h. lebendige Maschinen (sich selbst reproduzierende Apparate) herstellen zu können, indem man die eigene Mechanik des ›Lebens‹ (das Sich-selbst-Reproduzieren der Natur) durchschaut. Das »und« bezeichnet hier nicht eine Nachbarschaft von Gegenständen oder Gegenstandsgebieten, sondern eine Identität der Produktion. Die vorausgehende Dichotomie: »Regelung und Nachrichten­ übertragung«, control and communication, nennt den Weg (die ›Methode‹) dieser produktiven Produktionserkenntnis. Die Technik lebens-ähnlich werden zu lassen, das gelingt, wenn man die eigene Lebens-Technik der Natur erkennt. Lebendige Maschinen herzustellen, das gelingt, wenn man den Mechanismus des Lebens durchschaut. Dieser Mechanismus ist die Nachrichten­ technik. Ihr kommt das Merkmal der Regelung (der ›Kontrolle‹) ebenso zu wie das Merkmal der Nachrichtenübertragung (der ›Kom­ munikation‹). Im Falle der ›Kontrolle‹ liegt das Gewicht auf der Bewegung. In diesem Fall handelt es sich nicht um ein Spiegel-, sondern um ein Wechselverhältnis: Kommunikation (Information)

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ist zugleich Innovation: Sendung und Empfang von Zeichen, die Veränderung bedeuten, ›Sollwerte‹ sind. Wenn N. Wiener bemerkt, »daß die Probleme der Regeltechnik und der Nachrichtentechnik untrennbar waren« (S. 35), so hätte er statt dessen auch sagen können, daß zur »Nachrichten-Technik« außer der Nachricht (dem Aktions-Code) auch die Regelung (die Kopplung und Rückkopplung) gehört. Für den fundamentalen Begriff der »Nachricht«, also: der Übertragung, kommt es nicht auf die Beschaf­ fenheit der Übertragungs-Mittel an: Es ist gleichgültig, »ob die Nach­ richt nun durch elektrische, mechanische oder nervliche Mittel über­ tragen wird« (a.a.O.). »Die Nachricht ist eine zeitlich diskret oder stetig verteilte Folge meßbarer Ereignisse – genau das, was von den Statistikern ein Zufallsprozeß genannt wird. Die Vorhersage der Zukunft einer Nachricht geschieht durch irgendeine Operation auf ihre Vergangenheit, gleichgültig, ob dieser Operator durch ein mathe­ matisches Rechenschema oder durch einen mechanischen oder elek­ trischen Apparat verwirklicht wird« (S. 35). Bei der Nachrichtentech­ nik handelt es sich darum um den Zusammenhang von Übertragung und Regelung, weil es sich um die Einheit eines Prozesses, weil es sich um eine Ereignis-Folge handelt. Das Spezifikum der Kybernetik ist nicht die Nachrichtentechnik überhaupt (die gibt es natürlich schon viel länger als Genetik, Lingu­ istik und Kybernetik), sondern die Einsicht in die Generalisierbarkeit der Nachrichtentechnik auf alle Bereiche der ›Erkenntnis‹, d. h. ihre Brauchbarkeit für die Aufgabe einer Universalisierung der Technik.

b ›Lösung‹ des Problems der lebendigen Natur für die Wissenschaft Das Problem einer Universalisierung der Technik im Hinblick auf das Universum aller Dimensionen der Wirklichkeit stellte sich angesichts der lebendigen Natur. Sie schien sich einer Erkenntnis, die im neuzeit­ lichen Sinn von Erkenntnis exakte Erkenntnis wäre, zu entziehen. Der Maßstab der Exaktheit liegt – seit Galilei und Descartes – in der Sicherheit der Methode; und der Maßstab dafür ist die prinzipielle Herstellbarkeit des Erkannten. Exakt erkannt (mit sicherer Methode erkannt) ist, was mit dieser Erkenntnis machbar ist. Die lebendige (die organische) Natur schien sich diesem Erkenntnisanspruch zu entziehen, weil hier Entstehung

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Leibniz und die Kybernetik

und Entstandenes (Bewegung und Bewegtes) derselben Substanz zukommen. Das eindrucksvolle Beispiel des Baumes in Kants ›Kritik der Urteilskraft‹ (§ 64): Ein Baum bringt sich – in dreifacher Weise – selbst hervor. Seine Früchte enthalten die Keime zu einem neuen Baum: Selbsthervorbringung als Arterhaltung. In der Formulierung Kants: Der Baum »erzeugt sich selbst der Gattung nach«. – Kant fährt fort: »Zweitens erzeugt ein Baum sich auch selbst als Individuum. Diese Art von Wirkung nennen wir zwar nur das Wachstum; aber dieses ist in solchem Sinn zu nehmen, daß es von jeder anderen Größenzunahme nach mechanischen Gesetzen gänzlich unterschie­ den und einer Zeugung ... gleich zu achten ist.« Seit der modernen Genetik wissen wir, daß es sich und wie es sich hier wirklich um Zeugung handelt und daß dem ein eigener Mechanismus zukommt, eben derjenige, der sich mit einem Ausdruck, den Kant in seiner eig­ nen Phänomenanalyse selber gebraucht (§ 65, 6. Absatz), als »Selbst­ organisation« definieren läßt. – Und drittens schließlich (sagt Kant) »erzeugt ein Teil dieses Geschöpfes auch sich selbst so, daß die Erhal­ tung des einen von der Erhaltung der anderen wechselweise abhängt«. Die Blätter des Baums sind zwar Produkte ›des Baums‹, sie erhalten ihn aber auch umgekehrt ihrerseits. ›Der Baum‹ ist ein System. (Zu diesem dritten Aspekt der ›Zeugung‹ zählte Kant das Phänomen des »Pfropfreises«: Ein kleiner Ausschnitt kann sich zu einem ganzen neuen Baum der alten Baumart auch am Körper einer anderen Baum­ art entwickeln.) Ein solcher Fall von Wirklichkeit, wie ihn die organische Natur dem Erkennenwollen darstellt, das Phänomen des »Lebens« also, schien sich für Kant eben diesem Erkennenwollen zu entziehen, weil man – wie er meinte – doch nicht etwas machen kann, was sich selber macht. Die organische Natur schien sich (wie Kant am Schluß dieser ›Analytik der teleologischen Urteilskraft‹, im letzten Absatz des § 68, erklärt) der »theoretischen Naturwissenschaft«, d. h. der eigentlichen, nämlich begründenden Wissenschaft zu entziehen, weil diese »das Studium der Natur nach ihrem Mechanismus an demjenigen festzu­ halten hat, was wir unserer Beobachtung oder den Experimenten so unterwerfen können, daß wir es gleich der Natur, wenigstens der Ähnlichkeit der Gesetze nach, selbst hervorbringen könnten; denn nur soviel sieht man vollständig ein, als man nach Begriffen selbst machen und zu Stande bringen kann.« Da wir – nach Kants Überzeu­ gung – das sich selbst Machende nicht unsererseits machen können, kann – wie Kants berühmter Ausspruch lautet – nicht zu hoffen sein,

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»daß noch etwa dereinst ein Newton aufstehen könne, der auch nur die Erzeugung eines Grashalms ... begreiflich machen werde« (im letzten Absatz von § 75, wiederholt am Schluß von § 77). Seit Darwin ansatzweise, seit N. Wiener, C. E. Shannon und W. Ross Ashby, seit Francis Crick und James D. Watson endgültig gibt es diesen Newton des Grashalms. Und innerhalb des kybernetischen (Quantenmechanik, Genetik, moderne Mathematik und moderne Technik verbindenden) Konzeptes von Wissenschaft kommt N. Wie­ ner der zusätzliche Vorzug zu, den Schlüssel dieser Innovation am klarsten erkannt und genannt zu haben: Es ist das Problem der Präsentation der Zukunft; anders formuliert: das Problem der Mathe­ matisierung der Zeit. Der Erkenntnisansatz der europäischen Neuzeit (den Kant nicht erfunden, sondern nur – im analytischen Teil der ›Kritik der rei­ nen Vernunft‹ – unübertrefflich analysiert hat): erkennen heißt, das Erkannte (dem Begriff nach zumindest) selber machen können. Dieser Erkenntnisansatz war von Galilei bis zu Newton und ist weithin bis heute scheinbar zwar auf nichts anderes als auf Zeitvorgänge aus, nämlich die Erforschung von Bewegungsgesetzen – von der Gravitation bis zu den Energieumwandlungen in der Physik und den Stoffumwandlungen in der Chemie –, doch da war nie die Zeit als Zeit ein Problem, da die Folge stets in der Ursache angelegt war. Erkennen hieß Machen-können als Vorhersagen-können. Der Zeitparameter war eine Linie, die an jedem Punkt (nach vorwärts wie nach rückwärts) präsentierbar war. (Der Genauigkeitsunterschied zwischen Astronomie und Meteorologie liegt so gesehen nur an dem Unterschied zwischen Einfachheit und Differenziertheit der ursächli­ chen Faktoren.) Das wissenschaftliche Problem des »Grashalms« ist – dem Prinzip nach – dasselbe wie das militärtechnische der Flugabwehr (des Urparadigmas der Kybernetik): In beiden Fällen handelt es sich um die Frage der Objektivierbarkeit von Subjektivität. Wenn ein U-Boot auf ein Schiff schießt, kann es dessen Geschwindigkeit in die Zielsteuerung einprogrammieren. Ein Flugzeug dagegen kann (ganz abgesehen von der viel höheren Geschwindigkeit) auch Ausweichbe­ wegungen machen. Das heißt aber nicht, daß nun außer exakter Wissenschaft auch noch Psychologie notwendig wäre. Es verlangt nur, einen neuen Weg von Exaktheit zu eröffnen, der vordem nicht im Blick stand. Den ersten Schritt einer solchen Erweiterung des Zugangs zum Ziel der Exaktheit ging die Quantentheorie (um 1925) mit ihrem Gebrauch der Wahrscheinlichkeitsrechnung, der Statistik, die dort

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Leibniz und die Kybernetik

funktioniert, wo Partikel, die als einzelne nicht definierbar sind, als Menge definierbar werden. Im Fall der Flugabwehr: ein Pilot kann seine Position nicht beliebig verändern. Der zweite Schritt besteht in der Informationstechnik der Rückkopplung. Wenn die Flugzeuge auf den Beschuß reagieren, dann kann die Steuerung der Flugabwehr (die Steuerung des Flugabwehr-Systems) auf diese Reaktion ihrer­ seits reagieren. Sie kann sich darauf ›einpendeln‹; sie kann die hier nicht geradlinig prognostizierbare Zukunft ›krummlinig‹ prognosti­ zieren. Sie kann eine Zukunft, die echte Zukunft ist (nämlich aus dem jeweiligen Ausgangszeitpunkt noch nicht definiert), gleichwohl ›in den Griff‹ bekommen. Und wodurch geschieht das? Indem sie aus der Vergangenheit lernt. Es gibt hier – zum ersten Mal in der neuzeitlichen Wissenschaft – auch echte Vergangenheit: Entscheidun­ gen (im Beispielfall: des Flugkapitäns), die sich erst während des ›Erkenntnis‹-Prozesses abspielen und – für den Erkennenden dieses Erkenntnisprozesses (die Flugabwehr) – nicht ›objektiv‹ vorherseh­ bar waren. Um ein dem analoges Spiel von Aktion und Reaktion, um ein dem analogen Systemhorizont im Verhältnis zwischen Vorher und Nachher (ebenso wie im Verhältnis zwischen ›Innen‹ und ›Außen‹: die Biologie spricht seit Mitte der zwanziger Jahre von »offenen Systemen«) – um einen analogen Systemhorizont handelt es sich auch bei der Erforschung eines »Grashalms« (in der Genetik ebenso wie in der Verhaltensforschung). Diesem Zeit-Problem als dem Schlüssel-Problem der Kybernetik ist in N. Wieners ›Kybernetik‹-Buch das – grundlegende – erste Kapi­ tel gewidmet: ›Newtonscher und Bergsonscher Zeitbegriff‹. Der Titel verweist auf den Unterschied zwischen »reversibler« und »irreversi­ bler« Zeit. Veränderungen, »in denen ›unterwegs‹ erst Entscheidun­ gen fallen, sind nicht umkehrbar«. Solche Entscheidungen haben (mit Bergson zu reden) »schöpferischen« Charakter. Hier, wo »Zukunft« je und je entsteht, gibt es überhaupt erst Zeit als Zeit. Die Erklärung des Namens »Kybernetik« innerhalb der umfang­ reichen ›Einführung‹ des Buches von N. Wiener folgt unmittelbar (als die zweite Hälfte desselben Absatzes) auf eine Erläuterung dessen, was N. Wiener selbst die Bedeutung einer »Auslegung der Natur der Zeit« für die »Nachrichtentechnik« nennt (S. 37). Diese Erläuterung besteht in dem Hinweis auf die »Entropie« (also die Möglichkeit des »Wärmetods« der Welt durch die Zunahme an »Unordnung«) und die Arbeit der »Enzyme« und »Katalysatoren« (also den spontanen Ord­ nungsstiftern der organischen Natur). In beiden – polar entgegenge­

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setzten – Fällen handelt es sich um irreversible Prozesse, um den ZeitProzeß des Vergehens in dem einen, den Zeit-Prozeß des Entstehens in dem anderen Fall (S. 38f.). Und unmittelbar auf diese Namensbe­ gründung der Kybernetik folgt der Hinweis auf den »Schutzpatron der Kybernetik«: Leibniz (S. 39). Nach diesem Hinweis kreist »die Philosophie Leibniz’« um die beiden »engverwandten Begriffe« einer »universellen Symbolik« und eines »Kalküls der Vernunft«, und danach enthält der »calculus ratiocinator« die Keime der »machina ratiocinatrix, der logischen Maschine«. Davon war hier schon die Rede. Ich kann aber jetzt erst die »enge Verwandtschaft« zwischen der »universellen Symbolik« und dem »Kalkül der Vernunft« und damit den Grundzug der »Schutzpa­ tron« -Bedeutung, die Leibniz für die Kybernetik zukommt, erläutern.

2 Selbsterzeugung und Selbstorganisation a Künstliches Gedächtnis Im Fortgang dieser Erinnerung an Leibniz gibt N. Wiener – ohne nochmals Leibniz zu nennen – selber eine Erläuterung dieses Zusam­ menhangs. Er sagt, was mit einer »universellen Symbolik« gemeint ist: die Lösung nämlich des Problems der Präsentation der Zukunft, der Mathematisierung der Zeit. N. Wiener deutet das Problem hier an in der Antithetik von Endlichkeit und Unendlichkeit. Bei seiner Andeutung der Lösung können wir uns nun daran erinnern, daß in der sukzessiven Analyse einer Folge von Vergangenheitsentscheidungen eine mathematische Vorhersage auch von echten Zukunftsentscheidungen möglich wird. Nach dem Passus der ›Einführung‹, der auf den Leibniz-Absatz folgt, wird eine Lösung der Antithese von Endlichkeit und Unendlichkeit möglich durch die Symbolstruktur der Information, wenn diese sich mit der Prozeßstruktur (mit der Aufstiegstendenz) der Produktion verbin­ det. Diese Bemerkung N. Wieners, die unmittelbar an den LeibnizHinweis anschließt (S. 40), besteht aus zwei Gedanken: 1. »Ein mathematischer Beweis, dem wir folgen können, ist einer, der in einer endlichen Anzahl von Symbolen geschrieben werden kann.« Und 2. »Diese Symbole können tatsächlich einen Hinweis auf den Begriff der Unendlichkeit enthalten, aber dieser Übergang ist ein solcher, den wir

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in eine endliche Anzahl von Stufen zusammenziehen können.« Also: Eine endliche Anzahl von Symbolen leistet den Übergang zur Unend­ lichkeit, wenn diese endliche Anzahl in die Perspektive eines Stufen­ gangs gebracht wird. Das Unendliche wird dann durch das Endliche symbolisiert. Auf die Frage, wie die mathematische Form einer solchen Sym­ bolik ihrerseits beschaffen sein muß, um praktikabel, um operabel zu sein, geht N. Wiener gleich im Fortgang dieser Einführungsstelle ein. Er nennt zunächst die Bedeutung, die für die endgültige Begründung der Kybernetik (1943) dem »Kontakt« zukam, in den damals »mathe­ matische Logik« und »Neurophysiologie« mit dem »Ingenieurwesen« getreten waren, insbesondere »mit den Möglichkeiten der Elektro­ nik«. Entscheidend an diesem Kontakt: der Modellcharakter, der der »ultraschnellen Rechenmaschine« für das Verständnis der »Kreise« und »Systeme« der Nervenfunktionen zukam: »Der Alles-odernichts-Charakter der Neutronenentladung ist völlig analog zur Aus­ wahl einer binären Ziffer; und schon mehr als einer von uns hatte das binäre Zahlensystem als beste Basis des Rechnens in der Maschine erkannt. ... Das Problem, die Natur und Möglichkeiten des tierischen Gedächtnisses darzustellen, hat seine Parallele im Problem des Kon­ struierens künstlicher Gedächtnisse für die Maschine« (S. 42f.). Die Aufgabe einer sich selbst steuernden Maschine (einer machina ratio­ cinatrix) wird lösbar durch die Mathematik einer symbolischen Errechnung des Unendlichen in der Form eines Kontinuums endlicher Stufen. Und eine solche Mathematik wird praktikabel vermittels des binären Zahlensystems.

b ›Subjektivität‹ der Natur Der Entdecker des binären Zahlensystems (in der Aufnahme von Anstößen eigener Lehrer der Mathematik) ist Leibniz. – Die Philo­ sophie, die das ganze der Natur in ein Kontinuum mit dem Geist (dem menschlichen Bewußtsein, der Vernunft) gestellt sah, indem sie erstens jedes Lebewesen durch »Perzeption«, also eine Informa­ tions-Verfassung, gekennzeichnet sah, und zweitens die tierischen Lebewesen im Hinblick auf ihr Gedächtnis (ihr Lernvermögen) als der Rationalität (dem Geist) verwandt ansah, war ebenfalls die Philoso­ phie von Leibniz.

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Diese ›barocke‹ Integration der ›Lebens‹-Phänomene (der BioPhänomene) in das ganze der Wirklichkeitsdeutung war kein früher ›Vitalismus‹ oder sonst ein Irrationalismus, sondern umgekehrt die höchste Ausweitung (die vor der Kybernetik höchste Ausweitung) des Rationalismus. Leibniz löste das Problem, vor das die Philosophie durch Descartes gestellt worden war. Diese Lösung ist ebensosehr eine Überwindung wie eine Konsequenz Descartes’. Zuerst die Konsequenz: Wenn die Frage der Erkenntnis die Frage der Erkenntnissicherheit ist, dann kann dies nur – das war die seither maßgeblich gebliebene Einsicht Descartes’ – das cogito cogitare, das Wissen des Sich-selbst-Wissens sein. Dieses muß die Basis sein, um das eigentlich Erkennenswerte, die Natur, wißbar zu machen. Diese selber scheint nun – als Wissens-Thema – das Gegenteil der res cogitans zu sein. Sie scheint – für Descartes wie für die ›klassische Physik‹ – Objekt zu sein (res extensa). Diesen Zwiespalt zweier, antithetisch verschiedener Seins-Ver­ fassungen zu überwinden, wurde die Lebensaufgabe von Leibniz. Hinter die res cogitans war nicht mehr zurückzugehen. Das Problem »Descartes«: die Subjekt-Objekt-Differenz, konnte nur mit Descar­ tes: auf dem fundamentum inconcussum des cogito cogitare, zu lösen sein. Wenn nun aber die Frage der Philosophie die Frage der Einheit alles Seienden ist, dann bot sich nur die Möglichkeit, alles Seiende als der res cogitans des menschlichen Bewußtseins, alles Seiende als der Vernunft analog zu begreifen. Man mußte dann freilich das Sein des Seienden so begreifen, daß der Unterschied von Stern und Stein, von Stein und Pflanze, von Pflanze und Tier, von Tier und Mensch durch das Postulat einer substantiellen Einheit nicht getilgt wird. Der Begriff der Einheit mußte also erstens die Struktur der Unterschei­ dung in sich aufnehmen; und er mußte zweitens der Grundstruktur, der Fundamentalstruktur des cogito cogitare, der Grundstruktur der Subjektivität auch im Falle der Objektivität, auch im Falle von Stern und Stein, von Pflanze und Tier angemessen sein. Die Lösung dieser doppelten Aufgabe: 1. eine Einheit, die in jedem Einzelfall (in jedem Individuum) die Vielheit des Universums selber ist; und 2. eine Einheit, die in jedem Einzelfall dem Gewißheits­ grund des Seienden, dem Bei-sich-selbst-Sein des cogito cogitare entspricht, stellt Leibniz’ Monaden-Lehre dar. Jede Monade ist das Universum, und jede Monade ist gleichwohl von jeder anderen unter­ schieden. Jede Monade ist durch Individualität und Universalität zugleich gekennzeichnet.

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Leibniz und die Kybernetik

Diese Behauptung klingt abstrus. Sie würde für weniger belesene und weniger belehrbare Naturwissenschaftler als N. Wiener oder die erste Generation der Quantentheoretiker das typische Beispiel von Spekulation sein, also eben: von ›Philosophie‹, wo schon mit dem Namen das Gegenteil von Wissenschaft (das Gegenteil von ›Empirie‹) gemeint ist. Aber Leibniz ist nicht weniger realistisch als die Kyber­ netik. Diese ist nicht weniger philosophisch als Leibniz. Leibniz löst sein Lebensproblem, indem er (modern gesprochen) die Vorstellung vom Seienden als dem Bestehenden durch den Gedan­ ken vom Seienden als dem Werdenden ersetzt. Eine Monade ist nicht das, was wir – als Raumausschnitt – wahrnehmen, – als Stofflichkeit – wiegen können. Natürlich ›ist‹ sie das auch. Aber was ist denn in Wahrheit ein Baum oder ein Pferd, wenn ich beim Ernten des Kirschbaums oder beim Anblick des Schimmels bedenke, daß die Samen tragenden Kirschen am Baum ja auch dieser Baum sind, daß die Stute, die einst den Schimmel geboren, das Fohlen, das der Hengst zeugen wird, ja auch zur Wirklichkeit dieses Pferdes gehören, daß Baum und Pferd auch das sind, was sie waren und sein werden? Sie sind in Wahrheit dieser Prozeß. Und wie sind sie das? Indem sie auf das, was sie jeweils faktisch nicht ›sind‹, zugehen, indem sie von der einen Faktizität zur anderen Faktizität übergehen. Sie sind als Übergang, als »changement«, wie einer der Grundbegriffe der ›Monadologie‹ lautet (§ 12).

c Existenz als ›Existiturire‹ Das Sein des Seienden ist das Sich-Verändern. Das zwischen ›Wirk­ lichkeit‹ und ›Möglichkeit‹ Stehen ist hier die Wirklichkeit. Das Aussein-Auf ..., das ständige Nicht-Stehen, das ständige Zu-Gehen auf das Ausstehende, das Sich-Verwirklichen, das »Wirklichkeit«-Anstre­ ben ist hier die eigentliche Wirklichkeit. Abgründig-tiefsinnig und nüchtern-phänomenpräzis zugleich spricht Leibniz von dem »Existi­ turire« (dem Wirklichkeit-Anstreben), dem »conatus ad Existentiam« (dem Streben nach Existenz) als der eigentlichen Existenzform der Monade, der monadologischen Weltverfassung59. In einem (undatierten) kurzen Text von 24 Sätzen (Leibniz, Die philosophischen Schriften, ed. Gerhardt, VII, 1890, 289–291) sagt Leibniz im 4. Satz: »Ens necessarium est Existentificans«, erläuterte dies im 5. Satz: »... omne possibile habeat conatum ad

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2 Selbsterzeugung und Selbstorganisation

Dieser ›barocke‹ Wirklichkeitsbegriff läßt sich in vielerlei Hin­ sicht thesenartig erläutern (wobei das Nacheinander der Mitteilung ein Nebeneinander bezeichnet; die Reihenfolge wäre vertauschbar): 1. der Zusammenhang von Descartes-Überwindung und DescartesErfüllung im Begriff der Aktion, 2. der Zusammenhang von Informa­ tion und Produktion, 3. der Zusammenhang von Individualität und Universalität (also von Endlichkeit und Unendlichkeit) und 4. das Prinzip der Automation.

Aktion Wirklichsein heißt aktiv sein. Die Grundlage für Leibniz’ Überwindung des Natur-Geist-Dualismus liegt darin, daß er mit der cartesianischen Deutung dieses Dualismus als des Gegensatzes von Objekt und Subjekt ernst macht. Warum muß denn die ›Wirklichkeit‹, die ›Welt‹ (modern gesprochen: die ›Umwelt‹) so sein, wie sie uns erscheint? Warum kann sie nicht auch so sein, wie wir selber sind? Warum kann sich der Schein einer res extensa nicht in das Sein einer res cogitans auflösen lassen? Was ist denn das Sein der res cogitans? Doch das allem Be-den­ ken zugrundeliegende Ich-denke, also: der Grundzug der Selbstheit, des ego, des moi. Und was ist der Grundzug dieses Grundzugs? Was zeichnet ihn vor anderen Seinsvorstellungen aus? Die res cogitans ist im Unterschied zur res extensa nicht etwas Vorliegendes, sondern etwas Vorgehendes. Der Name »ich«, »ego«, »moi« nennt nicht ein Erwirktes, sondern etwas Wirkendes. Eben darin liegt der Grundzug der Selbstheit. (Fichte definiert später das »Ich« als »Tathandlung«.) In diesem Maßstab-Horizont wird zum Angelpunkt für Leibniz’ Lösung des Descartes-Problems der Gedanke der Tier-Seele. Mag das Tier auch kein Selbst-Bewußtsein haben wie wir; in der res extensa ist es erst recht nicht unterzubringen. Ich kann ein totes Tier in viele Teile zerlegen. Das lebende Tier, also: das wirkliche Tier, das existierende Tier, ist eine Einheit. Und worin besteht seine Einheit? Wir können sagen (mit einem traditionellen Ausdruck): in seiner »Seele«. Nur wird alles, was hier zu sagen ist, verfehlt, wenn wir die Seele in ein Jenseits der Körperlichkeit, also der »Materialität« verbannen. Existentiam«, und erklärt im 6. Satz: »Itaque dici potest Omne possibile Existiturire«. (S. dazu M. Heidegger, in der am Schluß vermerkten Abhandlung S. 446–448; die ›24 Sätze‹ dort: S. 454–457.).

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Leibniz und die Kybernetik

Sie ist ja gerade das alle Materie-Erzeugung und -Verwandlung (das Wachstum, den Stoffwechsel) Erwirkende. Diese Wirkeinheit (die das lebende Tier vom Kadaver unter­ scheidet), die die Wirklichkeit des ›Lebens‹ ausmacht, nennt Leibniz vis, la force, die Kraft. Und an diesem Begriff ist ihm das Entscheidende der Unterschied zu dem traditionellen, dem ›mechanischen‹ Begriff von Kraft (wir er zum Beispiel für die anorganischen Naturbewegun­ gen, die Ortsveränderungen gültig ist): Kraft als Anstoß von außen, wo etwas Wirkendes und etwas Erwirktes verkoppelt werden müssen. Leibniz spricht darum von seiner »Kraft« (als der Seinsverfassung einer jeden Substanz) als von der vis activa, der Selbst-Tätigkeit eines Lebewesens, oder den forces primitives, den ursprünglichen Kräften. Mit vis activa glaubt Leibniz den Aristotelischen Begriff der ent­ elécheia übersetzen zu können. Und er übernimmt dieses Wort. »Sein« besagt für ihn »Entelechie«, Verwirklichungsstreben. Die »vis activa« ist insofern »Entelechie«, als sie »ein Streben« ist (conatum), das »durch sich selbst in Tätigkeit gesetzt wird und keiner Hilfe (von außen) bedarf« (›De primae philosophiae ...‹, S. 198f.). Im Unterschied zu einer »künstlichen Maschine« (z.B. einer Uhr) ist die einheitstiftende Verfassung eines Lebewesens die Selbsttätig­ keit, modern gesprochen: die »Selbstbestimmung«, kybernetisch gesprochen: die »Selbststeuerung« oder (mit einem Wort, das N. Wiener genauso wie Kant in der ›Kritik der Urteilskraft‹ braucht) die »Selbstorganisation«. Und dem entspricht, wie Leibniz wörtlich sagt, »was man in uns das Ich nennt« (qu’on apelle moy en nous; ›Systeme nouveau ...‹, S. 214f.). Sein heißt: Selbstsein. (Das Wort »Selbstsein« wäre für Leibniz eine Tautologie.) Und Selbstsein heißt: die Selbst­ verwirklichung selbst anstreben; sich in »Aktivität«, in »Wirksamkeit« (S. 206f.) befinden.

Information und Produktion Was hat dieser Grundzug des Agierens, des Erwirkens, des Erstre­ bens mit dem kybernetischen Grundzug der Information zu tun? Diese Frage beantwortet die ›Monadologie‹. Der Übergang von einem Zustand zum nächsten kann nur stattfinden, die strebende Aktivität kann nur agieren, wenn ihr das jeweils zu Erstrebende – als das zu Erstrebende – ansichtig wird. Das muß kein bewußtes Wissen, keine Apperzeption sein. Aber ihm kommt auf jeden Fall der wis­ sens-analoge Zug der Perzeption zu. (Schelling spricht später, ohne

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dabei an Leibniz zu denken, von der »unbewußten«, »werktätigen Wissenschaft« der Natur, die alles Leben leitet; VII, 299f.) Die einzig angemessene Übersetzung des (meist unübersetzt wiedergegebenen) Ausdrucks »perceptio« ist Vorstellung; so wie das deutsche Wort Streben die angemessenste Übersetzung für das Pen­ dant dazu, den »appetitus«, ist. Beide zusammen: perceptio und appe­ titus, Vorstellung und Streben, machen das einheitliche Ganze des »Kraft«-Charakters der Monade aus. Die perceptio ist der wirkungs­ leitende code des Veränderungsdrangs, des appetitus. Der appetitus ist das Streben, die wirkungstreibende Energie der code-Erfahrung.

Individualität und Universalität Der Zusammenhang von Individualität und Universalität läßt sich an jedem dieser beiden Aspekte, die die Einheit der Monade kennzeich­ nen, gesondert erläutern. Jeder Monade gehört die Universalität der Entwicklung zu. Und in jeder Monade spiegelt sich das Universum; also a: die Einheit der Evolution, b: die Einheit der Repräsentation. – Der Gedanke der Evolution ist der Ausgangspunkt von Leibniz’ Kritik an Descartes; der Gedanke der Repräsentation ist der Angelpunkt seiner Übereinstimmung mit Descartes. a) Einheit der Evolution: Diesen Aspekt der Einheitskonzeption von Leibniz kann man mit einem Zitat N. Wieners wiedergeben. Der Zielpunkt des ersten Kapitels seines ›Kybernetik‹-Buches, ›Newton­ scher und Bergsonscher Zeitbegriff‹, ist sein Hinweis auf den Zusam­ menhang zwischen automatischer Rechenmaschine und irreversiblen Prozessen. Das Ideal eines Lebens-gleichen, eines Gott-gleichen Automaten, also: des »arbeitenden Abbildes eines lebenden Organis­ mus« (S. 75), habe sich in der Neuzeit mit drei jeweils zeittypischen Mustern verknüpft: um 1700 herum mit dem der Uhr: »eine Taschen­ uhr ist nichts anderes als ein Taschenplanetarium« (S. 74); im 19. Jahrhundert mit dem der Dampfmaschine: »der lebende Organismus« wird als eine »Wärmekraftmaschine« begriffen (S. 78); und in unse­ rem Jahrhundert mit der automatischen Rechenmaschine: »der gegen­ wärtige Automat« öffnet »die Türen mittels Fotozellen oder richtet Geschütze auf die Stelle, an welcher ein Radarstrahl ein Flugzeug erfaßt, oder errechnet die Lösung einer Differentialgleichung« (S. 76). Liest man diesen Passus flüchtig, dann scheint Leibniz nicht anders als Newton nur der untersten jener beiden älteren, durch die

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Nachrichtenautomatik überwundenen Stationen der modernen Tech­ nik zuzugehören: der der Uhrwerksautomatik, auf die zunächst die Kraftwerksautomatik folgte. Liest man die Stelle aber genauer, liest man sie im Kontext des ganzen Buches, dann bemerkt man, daß dem ersten dieser drei Stadien, also dem der Uhrwerksautomatik im Hin­ blick auf das dritte, also die Nachrichtenautomatik, ein gewisser Vor­ rang gegenüber dem zweiten, der Dampfturbinenautomatik, zukommt. In ihr nämlich ist schon auf denjenigen Abschluß-Zustand der Automatisierung abgezielt, der die Informationstechnik von der (bloßen) Energietechnik unterscheidet und damit erst den Traum erfüllt, den N. Wiener hier (zu Unrecht) schon dem antiken »Dädalus« und (zu Recht) dem barocken »Begriff des Golem« (S. 75) zuspricht, den Traum, das »arbeitende Abbild eines lebenden Organismus« zu schaffen. (Dieses Bild des »Golem« ist um 1600 in Prag entstanden.) Der Automatik des Lebens beizukommen ist nur informations­ technisch möglich; und das heißt: Es ist nur mathematisch möglich. Die Materie muß sich auf ihre eigenen Steuerungsstrukturen, auf ihre eigene Ordnungssystematik hin begründen lassen, wenn die ›materiellen‹ Grundlagen des ›Lebens‹ ergründet werden sollen. Es ist der calculus ratiocinator, der die Keime der machina ratiocinatrix enthält. Und da besteht nun die Tragweite der ›Monadologie‹ darin, das Fundament von Automatik überhaupt gelegt zu haben. Die Auto­ matik, die Einheitskonzeption der ›Monadologie‹ berührt sich nicht so sehr mit dem Spieluhr-Enthusiasmus von Leibniz’ Zeitgenossen als mit ihrer Golem-Sehnsucht60. Diese Fundamentalstruktur des neuzeitlichen Automatismus bei Leibniz beruht in demjenigen Grundzug seines Denkens, der selber schon ein zweites Stadium der ›Moderne‹ ausmacht, ein ihm noch vorhergehendes überwindet, nämlich dasjenige von Descartes. Leibniz’ ›Monadologie‹ ist die Überwindung jener Kluft, vor die sich der Beginn des europäisch-neuzeitlichen Sinns von Wissenschaft Daß Leibniz selber seinen Grundgedanken einer Erweiterung des cartesianischen »Ich« auf das ganze alles Seienden (des »Lebens«) nicht am Muster der Uhrwerksau­ tomatik mißt, kann die folgende Bemerkung aus dem ›System nouveau de la nature‹ zeigen (S. 214f.): Es gibt »vermittels der Seele oder Form eine wahre Einheit, die dem entspricht, was man in uns das Ich nennt (par le moyen de l‘ame ou forme, il y a une veritable unité qui repond à ce qu’on appelle moy en nous). Das kann weder bei den künstlichen Maschinen noch bei der einfachen Materiemasse statthaben, die man sich, wie organisiert sie auch sein mag, wie eine Armee oder einen Haufen vorstellen kann oder wie einen Teich voll von Fischen oder wie eine aus Federn und Rädern zusam­ mengesetzte Uhr.« 60

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und Wirklichkeit gestellt sah: die Kluft zwischen Subjektivität und Objektivität, res cogitans und res extensa, die Kluft zwischen Ich und Umwelt. Eben diesen Sachverhalt formuliert Wiener, wenn er sagt: Die Frage, die von Descartes aufgeworfen, aber »nicht geklärt« worden war, sei die der »Kopplung zwischen der menschlichen Seele in Emp­ findung und im Willen« (einerseits) »und ihrer materiellen Umge­ bung« (andererseits) gewesen (S. 76). N. Wiener erinnert zunächst an den unbrauchbaren Lösungsversuch von Spinoza, wonach diese Gegensätze »zwei in sich abgeschlossene Eigenschaften« der Ursub­ stanz (also, wie man damals sagte, »Gottes«) seien. Der Fehler Spi­ nozas: mit dieser Statik (dem jeweils »in sich abgeschlossenen« Zustand beider »Attribute«) dem Dilemma Descartes’ verhaftet zu bleiben. »Spinoza denkt nicht dynamisch und schenkt dem Mecha­ nismus dieser Verbindung ... keine Aufmerksamkeit« (S. 77). Mit dieser Formulierung vermeidet N. Wiener von vornherein die viel gebrauchte Antithese zwischen »dynamisch« und »mecha­ nisch«. Es kommt ja eben gerade darauf an, eine dynamisch verfaßte Wirklichkeit dadurch zu erkennen, dadurch selber herstellen zu kön­ nen, daß man ihre Mechanik erkennt. Diese doppelte Denkleistung, erstens: die Einheit der Welt besteht in ihrer Dynamik, und zweitens: diese Dynamik ist kalkulier­ bar, läßt Leibniz zum Schutzpatron der Kybernetik werden. Leibniz steht vor der gleichen Situation wie Spinoza, dem Dilemma Descartes’. Aber – so fährt N. Wiener nun fort (S. 77) –: »Leibniz denkt ebenso dynamisch wie Spinoza geometrisch denkt.« Und worin besteht nach N. Wiener dieser Schritt von Leibniz? Er »ersetzt das Paar der korrespondierenden Elemente, Geist und Mate­ rie, durch ein Kontinuum von korrespondierenden Elementen: die Monaden. Obwohl diese nach dem Vorbild der Seele aufgefaßt wer­ den, schließen sie viele Fälle ein, die sich nicht auf den Grad des Selbstbewußtseins der echten Seelen erheben und die einen Teil jener Welt bilden, die Descartes der Materie zugeschrieben haben würde.« In den Paragraphen 19–29 der ›Monadologie‹ zeigt Leibniz, wie er das Problem von Einheit und Vielfalt löst, das für ihn an die Stelle der cartesianisch-antithetischen Zweiheit tritt. Die Unterschiede vom Sternsystem bis zum Menschen sind solche von verschiedenen Gra­ den der Perzeption. Wir kennen sie ja auch an uns: wenn wir Schlaf, Instinkt, Erfahrung und Berechnung unterscheiden. Schon die SinnesWahrnehmungen, »Geruch, Geschmack, Berührung«, zeigen, daß die

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Natur den Tieren »ausgezeichnete Perzeptionen« gegeben hat (§ 25). Und im Gedanken an höhere Tiere fährt Leibniz (mit § 26) fort: »Das Gedächtnis liefert den Seelen eine Art von Schlußfolgerung (consecution), die die Vernunft schon imitiert, wenn sie auch von ihr noch unterschieden werden muß. So sehen wir, daß die Tiere, wenn sie irgend etwas perzipieren, das sie beeindruckt und wovon sie früher schon eine ähnliche Perzeption hatten, kraft ihres Gedächtnisses (de leur memoire) dasjenige erwarten, was früher mit dieser Perzeption verbunden war, und daß sie zu ähnlichen Gefühlen (sentiments) wie damals veranlaßt werden. Zeigt man z.B. den Hunden den Stock, so erinnern sie sich des Schmerzes, den er ihnen damals verursacht hat, heulen und laufen davon.« Die höchste Stufe der Perzeption (die Apperzeption) macht Leibniz (in § 28) am Beispiel unseres Verständ­ nisses des Sonnenlaufs klar. Daß die Sonne morgens auf- und unter­ geht, ist eine Erfahrungsperzeption, die wir mit höheren Tieren teilen. »Nur der Astronom urteilt darüber nach Vernunftgründen (par rai­ son).« Wissenschaft heißt: Einsicht in die Vernunftgründe. Erst »die Erkenntnis der notwendigen und ewigen Wahrheiten« (wie sie nach dem Vorhergesagten den Astronomen vom Kind oder die physikali­ sche Optik vom Farbengedächtnis des Malers unterscheidet) »unter­ scheidet uns von den bloßen Tieren und setzt uns in den Besitz der Vernunft und der Wissenschaften (la Raison et les Sciences), indem sie uns zur Selbst- und Gotteserkenntnis erhebt« (§ 29). (Dabei meint »Gotteserkenntnis«: Erkenntnis der letzten Gründe.) Also: Die höchste Stufe der Perzeption – das ist die Selbsterkenntnis und Begründungserkenntnis. Die Vielheit der Monaden hinsichtlich ihrer unterschiedlichen Perzeptionsweisen ist kein Einwand gegen eine substantielle Einheit des Universums, sofern die einheitliche Verfassung der Welt dyna­ misch und nicht »geometrisch«, als Aufstieg und nicht als Stand begriffen wird. b) Einheit der Repräsentation: Die Individualität ist auch insofern kein Widerspruch zur Universalität, als jedes Individuum ein »Spiegel« des Universums ist. Dieser berühmte (aber wenig bedachte) Gedanke Leibniz’ läßt sich aus der barocken Perspektivität verstehen. Ein baro­ ckes Deckenbild »spiegelt« die Einheit des Universums von Himmel und Erde, indem es die Unendlichkeit des Welt-Raums perspektivisch auf das Auge, auf den »Blickpunkt« des Betrachters hin zentriert. Das

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Entscheidende ist dabei ja auch (im Verein mit den Möglichkeiten der Illusions-Technik) die Mathematik der Zentralperspektive61. In den Wandbildern eines barocken Schlosses wird das Univer­ sum der »vier Weltteile« (den fünften kannte man damals noch nicht) »gespiegelt«, indem es die vier Seiten des Raums ausfüllt. Zusammen mit der Perspektivität ist hier das Wesentliche die Präsentation. Im Bild, richtiger muß man sagen: als Bild, kommt die Einheit in der Monade zustande. So läßt sich ganz nüchtern-exakt definieren: In dem Doppelakt der Präsentation und der Zentralisation ist jede Monade die Einheit des Universums. Beides zusammen: Zentralisation des Universums in die Vorstellung des Subjekts und Präsentation des Universums als die Vorstellung des Subjekts – beides zusammen meint das eine Wort Repräsentation. Mit diesem Prinzip der Repräsentation macht Leibniz den eige­ nen Fundamentalgedanken Descartes’ für die Überwindung seiner Schwierigkeit nutzbar. Das fundamentum inconcussum bleibt das »ego cogito, sum«, das »ich bin, indem ich denke«. Die Welt ist ihre Repräsentation. Das Sein der Welt: das Bild der Welt. Die Wirklichkeit der Welt: ihre Vorstellbarkeit; die Wirklichkeit der Welt: Dazu sei hier auf das zwischen 1705 und 1713 erbaute Bibliotheksgebäude zu Wol­ fenbüttel verwiesen. (Abbildungen und Baugeschichte: in dem in den Literaturhin­ weisen (hier S. 481) angegebenen Beitrag von Hans Reuther.) Man kann (mit Sedl­ mayr und Reuther) in Leibniz, der zwischen 1690 und 1716 Oberbibliothekar in Wolfenbüttel war, »den geistigen Urheber der grundlegenden Wolfenbüttler Bauidee sehen» (Reuther, S. 355f.). Diese »erste als selbständiger Baukörper errichtete Biblio­ thek der Neuzeit« (S. 349) bestand aus einem kubischen Hauptbaukörper von drei Geschossen, in dessen Mitte ein aus zwölf quadratischen Pfeilern gebildeter, vierge­ schossiger, durchgehender Ellipsenzylinder eingestellt war. Dieser Ellipsenzylinder, der dem Bibliotheksgebäude zu seinem Namen »Rotunde« verhalf, war in seinen bei­ den unteren Geschossen von Bücherregalen umstellt (mit der Wirkung eines doppel­ schaligen Raumeindrucks). Das dritte Stockwerk des Ellipsenzylinders durchstieß den Dachraum und bildete eine durchgehende Mantelfläche. Das vierte Geschoß öffnete sich in 24 Bogenfenstern zu einer lichtspendenden Laterne. Die Decke dieses Zen­ tralraums war in ihrem seitlichen Umlauf ursprünglich durch ein Fresko ›Planeten­ zeichen und Planetengötter‹ geziert, während sich im obersten Abschluß eine Platt­ form befand, auf der bis 1729 ein Himmelsglobus angebracht war (vgl. Reuther, S. 350–352). »Das Wesentliche des Wolfenbüttler Bibliotheksgebäudes« war »die architektonische Gesamtkomposition: die Einstellung eines Ellipsenzylinders in einen rechteckigen Kubus, wobei ersterer in Betonung seiner Vertikalen das Dachwerk des mehr horizontal gelagerten letzteren durchdrang und dadurch den zentralisierenden Charakter eines Bibliotheksrundtempels in der Gesamtkonzeption erheblich ver­ stärkt« (S. 353f.). 61

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ihre Informationsstruktur. Die machina ratiocinatrix gründet in dem calculus ratiocinator.

d Automation Zu diesem Punkt schließlich muß – um auch hier die primäre Nähe N. Wieners zu Leibniz zeigen zu können – ein sekundärer Einwand korrigiert werden. Bei dem zuletzt genannten Hinweis auf die ›Monadologie‹ im ersten Kapitel der ›Kybernetik‹ (S. 78), kann N. Wiener nicht ganz seine Befremdung über Leibniz’ Gedanken der »Fensterlosigkeit« der Monade unterdrücken (die er freilich mit vielen Leibnizkennern teilt). Wie kann ein solcher Philosoph von »Fensterlosigkeit« sprechen, der doch die perceptio- (und appetitus-)Bedeutung der Sinnesfunktionen aller Lebewesen hervorhebt? Der Gedanke der Fensterlosigkeit ist aber – recht gelesen – gerade die Konsequenz der perceptio- und appetitus-Verfassung der Monade, also der monadischen Einheit von Vorstellen und Streben. Lebewesen berühren sich nicht als Objekte, sie »kommunizieren«: Sie bleiben Subjekte. Auch die Reizbarkeit (die N. Wiener als das dritte »fundamentale Phänomen des Lebens« neben dem Stoffwechsel und der Fortpflanzung anführt; S. 38) ist ein Fall (ein Ausdruck) von Aktion; auch die Rezeption ist ein Fall von Produktion. »Denkt man sich«, sagt Leibniz in § 17 der ›Monadologie‹, »eine Maschine, die so beschaffen wäre, daß sie denken, empfinden und perzipieren könnte, so kann man sie sich derart proportional vergrößert denken, daß man in sie wie in eine Mühle eintreten könnte. Dies vorausgesetzt, wird man bei der Besichtigung ihres Inneren nichts weiter als einzelne Teile finden, die einander stoßen, niemals aber etwas, woraus eine Perzep­ tion zu erklären wäre.« Was hier aufeinander stößt, das kann nicht das sein, was denkt, empfindet, perzipiert. Eine lebende Maschine könnte zwar ähnlich aussehen wie eine Dampfmaschine; aber wenn man sie so beschrei­ ben, ihre Funktionen so erklären wollte, wie man eine Dampfma­ schine erklären kann, würde man das Spezifikum dieser Maschine gerade verfehlen. Und meistens sehen solche – solche »Lebens«-ana­ logen – Maschinen ja auch ganz anders aus als Kraftmaschinen. Wenn man einem Hochleistungscomputer gegenüber ganz genau sein wollte, müßte man sagen, »er sieht gar nicht aus«. Was man

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sieht, das könnte auch ganz anders aussehen. Was diese ›Maschine‹ zu dieser Maschine macht, das ist der Zusammenhang der machina ratiocinatrix mit dem calculus ratiocinator. Bei einer solchen Erwägung bemerkt man: Schon der Klang des Namens »Maschine« hat bei Leibniz viel mehr mit dem zu tun, was in der Kybernetik bei diesem Namen anklingt, als mit dem uns noch immer geläufigen Klang, der von der Wärmekrafttechnik des 19. Jahrhunderts geprägt ist – obwohl ja genaugenommen schon die Wirklichkeit eines Düsenflugzeugs oder eines ›Raumfahrzeugs‹ nicht das ist, was wir als Gegenstand (auf dem Flugplatz oder im Fernse­ hen) ›sehen‹; denn da sehen wir gerade von dem ab, was solchen ›Maschinen‹ ihre Wirklichkeit verleiht: der dynamischen Regelungsund Nachrichtenautomatik des jeweiligen Luftfahrt- oder RaumfahrtSystems. Leibniz’ Gedanke der »Fensterlosigkeit« berührt sich mit der kybernetischen Erfüllung des barocken Wunschtraums der Autono­ matik. Das Pan-theon ist Unitas als die Aktion der Selbsterzeugung.

3 Kybernetisches Dual-System und die chinesische Polarität von Yin und Yang In den Streitigkeiten um Wissenschaftswelt und ›Lebenswelt‹, um Naturwissenschaft und Natur, um Technologie und ›Ökologie‹ stehen wir zumeist noch immer in dem alten Kirchenstreit (den man fälsch­ licherweise ›mittelalterlich‹ nennt, während er in Wahrheit – mit den Symbolen Kopernikus und Galilei – schon ein Symptom für den Beginn der europäischen Neuzeit ist). Dieser Streit hat zwei Bereiche: einen ›theoretischen‹: Dreht sich die Erde wirklich um die Sonne? Ist die Heilige Schrift wahr, oder ist die methodische Forschung wahr? Und einen ›praktischen‹: Wenn schon die Forschungswahrheit nicht zu leugnen ist (die Kernenergie beweist die Quantentheorie), braucht man dann nicht eine dieser Wahrheit gewachsene neue Ethik? Angesichts der Kybernetik lauten die Fragen dieser beiden Berei­ che: 1. Kann sie denn wirklich »Leben« produzieren? Kann es wirklich lebensähnliche Maschinen geben? Kann man »Leben« herstellen? Und 2. Wenn das tatsächlich möglich sein sollte, braucht eine solche Wissenschaft dann nicht im Hinblick auf ihre Anwendbarkeit eine moralische Zensur (am besten eine Selbst-Zensur)?

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Was in den meisten Fällen nicht gefragt wird, nicht beunruhigt, ist das Sachverständnis unseres Begriffs von Wissenschaft und For­ schung: Wissenschaft ist Wissenschaft – und außerdem gibt es (oder gab es) vielleicht noch so etwas wie Religion und Ethik, gibt es auf jeden Fall noch so etwas wie Politik und Gesellschaft. Daß die Sonne sich um die Erde dreht, ist ein Glaube; daß die Erde sich um die Sonne dreht, ist die wissenschaftlich erwiesene Wirklichkeit. Das älteste ›Weisheits‹-Buch des alten China, die Sammlung von ›Orakel‹-Sprüchen unter dem Namen I Ging (»Buch der Wandlung«) lebte von dem ›Glauben‹, daß unten die Erde ist, das Yin, und oben der Himmel, das Yang. Dieser Unterschied von Unten und Oben war zugleich auch der Unterschied von Dunkel und Licht, von Schwere und Flug, von Empfängnis und Zeugung. Leibniz war einer der ersten Europäer, die auf das I Ging auf­ merksam wurden und darauf aufmerksam machten. Er stand in ausführlichem Gesprächs- und Briefkontakt mit den China-Missio­ naren des Jesuitenordens, darunter dem Pater Grimaldi, einem der ersten großen Vermittler altchinesischen Denkens nach Europa – der ein halbes Leben lang in China war, in Gesprächen auch mit dem chinesischen Kaiser –, und dessen Vorgänger (den Begründer der China-Mission Matteo Ricci) Leibniz gegen Angriffe der römischen Kurie verteidigte. Leibniz glaubte, in dem Gegensatz-Gefüge des ›I Ging‹ einem großen Vorläufer seiner mathematischen Entdeckung des Dual-Systems begegnet zu sein. Er konnte nicht bemerken, daß er darin der In-Frage-Stellung seines Denkens begegnet war – einer In-Frage-Stellung, die weder experimentell noch moralisch ist. Sie besteht weder darin, daß sie etwa der Leibnizschen Mathematik Fehler unterstellen würde, noch auch darin, daß sie etwa seine Theogonie durch einen anderen ›Glauben‹ bestreiten würde. Man kann die Welt berechnen; man kann sogar den Grund der Welt, seine Schöpfungskraft, seine Produktivitätskräfte errech­ nen – wenn nämlich das Rechenverfahren, der calculus ratiocina­ tor, so dynamisiert und so vereinfacht wird, daß es der eigenen machina ratiocinatrix des Weltgrundes äquivok wird. Die Verifika­ tion dieses Könnens ist die Herstellung maschineller ›Schöpfungs‹oder ›Zeugungs‹-Äquivalente. Man kann die Welt als Produktivi­ tät verstehen. Man kann, was ist, als vis, la force, als Kraft, als das ewige Zum-Sein-Streben, Auf-die-Verwirklichung-Abzielen, Indie-Verwirklichung-Übergehen, als »tendentia« und »appetitus«, als »nisus« und »conatus« deuten. Man wird dann zu beweisbaren und

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beweisenden Resultaten gelangen – Resultaten nämlich, die diese selbe Verfassung haben: das Gesuchte als gefunden erweisen, indem es selber produziert, indem es selber hergestellt wird. Cum Deus calculat fit mundus. Wenn Gott rechnet, wird Welt. Dieses Verständnis der »Schöpferkraft« Gottes erläutert Leibniz in seinem Neujahrsbrief von 1697 an den Herzog Rudolf August von Braunschweig durch eine bildliche Darstellung (einen Münzbild-Ent­ wurf) des Dual-Systems; und er schreibt dazu: »Die Erschaffung aller Dinge aus nichts durch die Allmacht Gottes«, das lasse sich demons­ trieren »als der Ursprung der Zahlen« »durch deren Ausdrückung bloß und allein mit Eins und Null oder Nichts«, daher er dieses Bild betitle: »IMAGO CREATIONIS«. Gott, der Schöpfergott, das heißt hier: Geist der Ordnung, der Regel, der Gesetzmäßigkeit. Und das heißt, wie Leibniz in seiner Bilderläuterung des weiteren sagt: Über den Zahlen sei Licht und Finsternis angegeben, »weilen die leere Tiefe und wüste Finsternis zu Null und Nichts, aber der Geist Gottes mit seinem Licht zum allmächtigen Eins gehöret«. Für das ›Buch der Wandlungen‹ ist nicht die Perspektive des Finsternis vernichtenden Helligkeits-Prozesses das Entscheidende, sondern die Wandlungen zwischen Licht und Dunkel, Oben und Unten, Ferne und Nähe, Schwere und Flug – nicht das produzierende »Gedächtnis«, sondern das sich öffnende Erinnern, nicht die FortBewegung des appetitus, in der die »action« das Freudige schlechthin und die »passion« das Traurige schlechthin sind, wie Leibniz aus­ drücklich feststellt (›Metaphysische Abhandlungen‹, n. 15), sondern das rhythmische Bewegtsein des Tanzes, in dem Leisten und Leiden, der Schmerz des Hervorbringens und das Glück des Empfangens verschwistert sind, nicht das Dual-System der unendlichen Zentrie­ rung, sondern das Spannungs-Gefüge, das Schwingungs-Gefüge einer vergehenden Gegenwart. Der Zentralismus des Dual-Systems schließt das Spiel der Polarität aus. Die Tiefe ist leer, die Finsternis wüst. Die Frage ist nur, ob dieser Absolutismus des unendlichen Herstellens seine wahre Verifikation nicht in der Welt-Verwüstung hat. Die Ordnung Gott gleichzusetzen: das könnte der Anfang eines Wachstums-Prozesses sein, dessen Symptome Nietzsche schon in das Wort gefaßt hat: »Die Wüste wächst.« In dem Doppelsinn des Ausdrucks »Kalkulation« (nicht anders als in dem angelsächsischen und französischen Gebrauch des Namens »Steuermann« – Governor, Gouverneur –, ursprünglich nämlich, zu Leibniz’ Zeit: der Steuer­

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einnehmer) kommt der untergründige Zug des Merkantilismus in dieser, in der cartesianisch-neuzeitlichen Konzeption von rechnen­ der Weltauslegung schon in der Sprache ans Licht. Dessen eigener Grundzug ist die Zerstörung des Reichtums in der Angst vor dem Nichtkalkulierbaren, der Verlust des Nächsten in dem Willen, auch noch das Fernste zu besitzen. Der Glaube, man bekomme die Welt ›in den Griff‹, wenn man das erkannt hat, was sich rechnend erkennen läßt, übersieht in der Faszination vor den Herstellungsmitteln die Vielfalt und die Fülle dessen, was je und je zum Stand gelangt ist. Literaturhinweise zu: Leibniz und die Kybernetik Norbert Wiener 1 Kybernetik, 2. revidierte und ergänzte Auflage, Düssel­ dorf/Wien 1963 (danach die Zitate). 2 Mensch und Menschmaschine, Frankfurt a.M. 1958. 3 Mathematik – Mein Leben, Frankfurt a.M. 1962. 4 Gott & Golem Inc., Düsseldorf/Wien 1965. In den beiden Büchern von Ilya Prigogine: ›Vom Sein und Werden‹ (1979) und ›Dialog mit der Natur‹ (1980), wird N. Wie­ ners ›Kybernetik‹-Buch (insbesondere dessen erstes Kapitel »New­ tonscher und Bergsonscher Zeitbegriff«) nicht einmal erwähnt. Leibniz 1 Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade. Monadologie, hrsg. v. H. Herring, Hamburg 1956. 2 Metaphysische Abhandlung, hrsg. v. H. Herring, Ham­ burg 1958. 3 Kleine Schriften zur Metaphysik (zweisprachig), in: Leibniz, Philosophische Schriften, hrsg. v. H. H. Holz, Bd. I, Darmstadt 1965; darin S. 194f. und 200f.: ›De primae philosophiae Emendatione‹ von 1694; S. 200f. u. 226f.: ›Systeme nouveau de la Nature‹ von 1695. 4 Zwei Briefe über das binäre Zahlensystem und die chinesische Philosophie, aus dem Urtext neu ediert, übersetzt und kommentiert von R. Lossen und F. Vonessen; mit einem Nachwort von Jean Gebser, 1968. 5 Protogea (lateinisch-deutsch), übersetzt von W. v. Engelhardt, in: Leibniz Werke, hrsg. v. W.E. Peuckert, Bd. 1,Stuttgart 1949.

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Zu Leibniz (Auswahl) 1 Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (1936), hrsg. v. E. Ströker, Hamburg 1977. 2 Martin Heidegger, Die Metaphysik als Geschichte des Seins, in: M. Heidegger, Nietzsche, Pfullingen 1961, S. 399–457, (zu Leib­ niz: S. 429–457). 3 Wolfgang Janke: Leibniz. Die Emendation der Metaphy­ sik, 1963. 4 W. Totok und C. Haase (Hrsg.), Leibniz. Sein Leben, sein Wirken, seine Zeit, Hannover 1966; darin besonders: H. Reuther: Das Gebäude der Herzog August Bibliothek zu Wolfenbüttel und ihr Oberbibliothekar G. W. Leibniz. – W. Janke: Leibniz als Metaphysi­ ker. – J.E. Hoffmann: Leibniz als Mathematiker. – A. Timm: Leibniz im Vorfeld der Kybernetik. 5 Erich Hochstetter u. a., Herrn von Leibniz’ Rechnung mit Null und Eins, Berlin/München ²1966. 6 Jean Gebser, »Zur fünftausendjährigen Geschichte des binären Zahlensystems: Fuh-Hi, G. W. Leibniz, N. Wiener«, in: Zwei Briefe über das binäre Zahlensystem und die chinesische Philosophie, a.a.O. 7 Hans J. Zacher, Die Hauptschriften zur Dyadik von G. W. Leib­ niz. Ein Beitrag zur Geschichte des binären Zahlensystems, 1973. (zum I Ging: S. 72f.) 8 Enno Rudolph, Einleitung, in: G.W. Leibniz, Specimen Dyna­ micum, hrsg. u. übers. v. H. G. Dosch u.a., Hamburg 1982.

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Selbstentfremdung – Weltentfremdung. Über den Zusammenhang zwischen europäischer Philosophie und moderner Technik62

Bei dem Titel dieses Referats wird man zu allererst eine Erläuterung des Themas erwarten. Das möchte ich in einem Einleitungspassus tun. Dazu gehört auch eine Erklärung, warum es mir sinnvoll erscheint, mit Problemen, die für uns zu einer Not geworden sind, auf eine Philosophie zu achten, die lange Zeit nur Gegenstand von Kritik war, die des späteren Heidegger (1). In beiden Hauptstücken werde ich zunächst die Frage behandeln, wie das neuzeitlich-europäische Selbstverständnis des Menschen mit der modernen Technik zusam­ menhängt (2), danach, wie dieser Zusammenhang seinerseits mit einem Grundzug der europäischen Philosophie zusammenhängt (mit (Erstveröffentlichung: Technik als Weltverhältnis. Eine Sammlung von Beiträgen zum Studententag Pfingsten 1981, hg. vom Evangelischen Studienwerk e. V. Villigst, Villigst 1982, S. 28–56. Dann auch in: Parabel. Technik und Kunst. Heidegger: Adorno, Schriftenreihe des Evangelischen Studienwerks Villigst, Bd. 9, hg. v. Hartmut Schröter, Münster 1988, S. 41–53. D.R.) Diesem Referat liegt der Text eines Vortrags zugrunde, den der Verfasser als Beitrag zu einem zweiwöchigen Kursus Kritik und Krise. Philosophische Wege menschlichen Selbstverständnisses vom 26. März bis zum 7. April 1979 innerhalb des Inter-University Centre of postgraduate studies in Dubrovnik ausgearbeitet hatte. Zitate und Hinweise beziehen sich auf folgende Schriften: Von Martin Heidegger: Der Satz vom Grund (Pfullingen, Neske, 1957); Was heißt Denken (Tübingen, Niemeyer, 1954); Vier Seminare (Frankfurt, Klostermann, 1977), darin besonders: S. 105–109 und S. 124–132; zu Leibniz: Nietzsche, Bd. II (Pfullingen, Neske, 1961), S. 436–457, S. 474; zur ›Theorie‹: der Vortrag ›Wissenschaft und Besinnung‹ in: Vorträge und Auf­ sätze (Pfullingen, Neske, 1954), S. 45–70; im gleichen Band der Passus Nr. XXVI innerhalb der Notizen ›Überwindung der Metaphysik‹, S. 91–97. Zu Galilei: der Vor­ trag von Werner Heisenberg ›Zur Geschichte der physikalischen Naturerklärung‹ von 1932, in der vielfach aufgelegten Sammlung von Vorträgen Heisenbergs: Wandlungen in den Grundlagen der Naturwissenschaft (zuletzt Stuttgart, Hirzel, 1980). Norbert Wiener: Kybernetik (Düsseldorf, Econ) 1963 Vgl. zu diesem Vortrag Bernhard Schmincke, ›Physikgeschichtliche Anmerkungen zu einer philosophischen These über die Wissenschaft von der Energie‹, in: Technik als Weltverhältnis. Evangelisches Studienwerk Villigst 1981, S. 175–185. 62

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dem Beispiel Leibniz) (3). Dann noch ein Schlußstück mit Thesen zur Frage der Brauchbarkeit solcher historisch klingenden Hinweise (4).

1 ›Subjektität‹ Gegenüber der früheren unreflektierten Bewunderung moderner tech­ nischer Erfolge (mit dem Glauben einer stetigen Lebensverbesserung) und den heutigen Zweifeln an dieser Bewunderung angesichts der ersten Beweise ihrer Kehrseite von den Wasser-, Luft- und Erd­ vergiftungen bis zu Harrisburg besteht eine Gemeinsamkeit darin, daß man – innerhalb wie außerhalb der Wissenschaft – prinzipiell immer schon weiß, was ›Technik‹ ist. Es gibt zwar viel (und kon­ trovers) zu ›hinterfragen‹: Was für ›Interessen‹ sind da im Spiel, was für ›Konsequenzen‹ werden ignoriert oder bagatellisiert. Aber was Technik selber ist – da gibt es wenig zu fragen: Sie hängt mit dem Aufkommen der Industrialisierung zusammen, und sie ist eine Folgeerscheinung der neuzeitlich-modernen Wissenschaft. Von ›der Philosophie‹ erwartet man, wenn man überhaupt noch etwas von ihr erwartet, entweder Bestands-Analysen (Wissenschafts-Theorie, Technik-Geschichte) oder kritische ›Alternativen‹ (moralisches, sozia­ les, politisches Engagement). Daß ›die Philosophie‹ in dem und als das, was sie selber ist, eine europäische Erscheinung nämlich, die mit den späteren Griechen (seit Plato) begonnen und zwischen Descartes und Hegel ihre Kulmination (das, was man ihre Weltgeltung nennt) errungen hat, an dem heutigen Weltzustand, der heutigen Europäisie­ rung der Erde, selber mit beteiligt war und mit beteiligt ist, wird kaum gefragt und kaum bedacht. Die Rahmenthese dieses Referates ist der Gedanke, daß es sich um dieser Frage willen lohnt, die große Selbst-Befragung dieser europäischen Philosophie durch einen europäischen Philosophen – nach Nietzsche – den späteren Heidegger (denjenigen Heidegger also, der die Erfahrung seines anfänglichen politischen Irrtums verarbeitet hat) aufzunehmen. Einen Grundzug der europäischen Philosophie (dessen also, was zumeist – auch in Japan – schlichtweg ›Philosophie‹ heißt) bemerkt man, wenn man darauf achtet, daß die griechische Frage nach dem höchsten Seienden (die philosophische Frage nach ›Gott‹) und die neuzeitliche Frage nach dem letzten Grund (dem ›Absoluten‹) seit dem 19. Jahrhundert (genau genommen schon seit Kant) eingemün­

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1 ›Subjektität‹

det ist in die Frage nach dem Menschen: wer sind wir, wo kommen wir her, was können wir tun? Dieses Wir (zuweilen zugespitzt in das ›transzendentale‹ oder das ›psychologische‹ Ich) macht, wenn man von anderen Kulturen her auf Europa blickt, das neuzeitlich-moderne Lebensthema aus. Marx’ Gedanke der Selbst-Entfremdung ist eine der großen, die Moderne in ihrer eigenen Problematik treffende und sie damit von Grund auf in ihrer eigenen Selbstsicherheit verunsichernde Antwort auf diese Frage. Auch Kierkegaards ›Entweder – Oder‹, seine Einsicht in das grundlose Ausgesetztsein des Menschen (Gott ist kein ›fun­ damentum inconcussum‹) deckt den Entfremdungszug, der gerade die im 19. Jahrhundert herrschend gewordenen Unternehmungen der absoluten Sicherung kennzeichnet, auf. Und ähnliches gilt von Nietzsches Wort »Der Mensch ist das nicht festgestellte Tier«. Das ist ja keine anthropologisch-gelehrte Strukturbezeichnung, sondern eine Geschichtseinsicht, zu der sein anderes Wort »Die Wüste wächst« hin­ zugehört. Meine Kernthese (innerhalb jener Rahmenthese) möchte ich in die Formel fassen: Die Notlage, die jetzt erkennbar wird, ist dadurch gekennzeichnet, daß sich die Erfahrung, die sich im 19. Jahrhundert als ›Selbstentfremdung‹ des Menschen formulieren ließ, jetzt noch zugespitzt hat: zur Erkenntnis einer Weltentfremdung des Menschen. Mit dieser Behauptung ist zunächst einmal zweierlei gesagt: erstens, daß Heidegger, wenn sich sein Spätwerk in einer solchen Formel fassen läßt, unter seinen Zeitgenossen auf taube Ohren stoßen muß (zumindest bis vor kurzem noch auf taube Ohren stoßen mußte), und zweitens: daß die Frage des menschlichen Selbstverständnisses nicht mehr ohne die Frage nach dem Verhältnis des Menschen zu den Dingen, nicht mehr ohne die Frage nach dem Verhältnis des Menschen zur Natur erörtert werden kann. Diese beiden Voraussetzungen der Behauptung von der Welt­ entfremdung des Menschen möchte ich zunächst ganz kurz – noch innerhalb ihres bloßen Behauptungs-Status – erläutern. Der erste Punkt betrifft die Frage der Rezeption. Die These von der Weltentfremdung muß unserer Zeit ähnlich ungereimt erschei­ nen wie die These von der Selbstentfremdung für das 19. Jahrhun­ dert. Die Weltentfremdungsthese erscheint uns, den Zeitgenossen, genausowenig ›zeitgemäß‹ wie für die Generation des beginnenden Empirismus, der ersten großen technischen Erfolge der Naturwissen­ schaften, also der Aneignung der Natur durch den Menschen und

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damit, wie man glaubte, der höchsten Befreiung des Menschen, eine Behauptung wie die von der Selbst-Entfremdung geklungen haben muß; – zumindest für diejenigen Zeitgenossen, die gelehrte Schriften lasen (die geschundenen Arbeiter verstanden Marx dann schnell). In den heutigen Industrienationen, in der ›ersten‹ und ›zweiten Welt‹, und unter Studenten und Akademikern müßte nun die These von der Welt-Entfremdung grotesk erscheinen: Noch bessere, vollständigere und kritisch geprüfte Grundlagen einer theoretischen Welterkenntnis hat es noch nie vorher gegeben. Noch bessere, noch perfektere, noch erfolgreichere Methoden der praktischen Welterschließung hat es auch noch nie gegeben. Der Inbegriff einer ›Weltentfremdung‹ war doch eher umgekehrt die längst überwundene Zeit des Mythos, wo man sich – wie uns gesagt wird – eine objektive Erkenntnis der Welt durch subjektive Märchen über sie verbaut hatte. Seit der Renaissance begann der europäische Mensch vereinzelt, seit dem 18. Jahrhundert begann er methodisch und seit dem 19. Jahrhundert begannen mit ihm alle übrigen Zivilisationen die alten mythisch-religiösen Weltverschleie­ rungen abzubauen und die Welt so zu erfassen, sie so zu gebrauchen, wie sie wirklich ist. Wie kann man da von einer modernen Welt-Entfremdung reden? Oder gibt es heute auch Betroffene, die vielleicht nur noch weiter von den Kreisen, die normalerweise eine gelehrte, eine philosophische Schrift in die Hand nehmen, eine philosophische Diskussion führen, entfernt sind? Zum Beispiel die zweihundert Millionen Kinder, die in unserer Zeit innerhalb eines Jahrzehnts verhungern müssen. Im Falle unseres Jahrhunderts geht es freilich gar nicht nur um soziale oder um lokale Außenseiter des wissenschaftlichen und philosophischen Milieus. Die alte Rede: geh’ erst mal in eine Fabrik, eh’ du ökonomisch philosophierst, ist in ihrem modernen Äquivalent noch viel schwerer zu realisieren. Denn diejenigen Ausgeschlossenen und Unterdrückten, die wir gar nicht sehen und nicht hören, wenn wir über die Lage ›unserer Zeit‹ handeln, die leben nicht nur in anderen Kontinenten, sondern vor allem in anderen, in späteren Zeiten. Wir sind zwar – wir Europäer, Russen, Amerikaner und Japaner, jetzt wohl auch die Chinesen – mit nichts anderem beschäftigt als der Programmation, der Organisation, der Perfektion der nächsten zehn und zwanzig Jahre. Aber wir merken nicht, wir lassen uns nicht sagen, daß wir damit immer nur fortsetzen, was schon seit zweihundert

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1 ›Subjektität‹

Jahren zu einem Dauerzustand geworden ist: das unentwegte, das atemlose Produzieren. Daß nicht nur die Zeiten vorbei sind, wo man ohne Rücksicht auf die Untertanen, ohne Rücksicht auf die Nichtbesitzenden sich nur um seinen eigenen Stand, um seine eigene Klasse zu kümmern brauchte, sondern daß auch die Zeiten vorbei sind, wo man sich nur um den Fortgang (um das ›Wachstum‹) des uns Präsenten (des für uns Aktuellen) zu kümmern brauchte, daß wir auch verantwortlich sein könnten für Zeiten, für Generationen, die nicht die unseren sind, für die Zeitalter nämlich, denen gegenüber unsere ›Zuwachsraten‹ Vernichtungsraten sind, dieser neuartige Tatbestand ist dort, wo verantwortlich geforscht, wo verantwortlich gehandelt wird, noch nicht relevant geworden. Die Behauptung von der Weltentfremdung hört sich für einen verantwortlich Tätigen – in der Politik, im Labor – in den 80er Jahren ähnlich unrealistisch an, wie für einen damals verantwortlich handelnden Bürger um 1850 die Behauptung von der Selbstentfremdung. Die zweite Eingangsfrage war inhaltlicher Art: Was hat die Behauptung von der Weltentfremdung überhaupt mit dem mensch­ lichen Selbstverständnis zu tun? Wird da nicht eine Sache der Wis­ senschaftstheorie, der Naturphilosophie, der Technologie unzulässig mit dem vermischt, was die angestammte Sache der Psychologie, der Anthropologie, der Ethik ist? In einem solchen Einwand äußert sich derjenige Tatbestand, auf den der spätere Heidegger mit seiner Philosophie-Kritik abzielt. Die Behauptung der Weltentfremdung läßt sich in ihrem Anspruch auf die Formel zuspitzen: Der moderne Mensch unterliegt insofern einem Irrtum über das Ganze der ›Wirklichkeit‹, als er sich mißversteht. Und dieses falsche Selbstverständnis besteht bereits darin, daß er glaubt, man könne die Sache des Menschen isoliert behandeln: als Anthropologie, als Psychologie, als Soziologie. Man könnte dabei von dem absehen, was man mehr oder weniger gedan­ kenlos – ›Natur‹ nennt und den dafür zuständigen Praktiken (der Wirtschaft) und Theorien (den Naturwissenschaften) überläßt. Der Grundzug des modernen Irrtums: Das Selbstverständnis des Menschen, das glaubt, der Mensch – als Individuum, als Gruppe, als Volk, als menschliche Gesellschaft – habe sein Wesen darin, es mit sich selbst zu tun zu haben. Die Behauptung dieses Irrtums faßt der spätere Heidegger in die Formel der ›Subjektität‹. (Dieses Kunstwort verwendet er, um nicht mit den verschiedenen – lobenden

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und tadelnden – Begriffen des Wortes ›Subjektivität‹ verwechselt zu werden.) Und in diesem Maßstab der ›Subjektität‹ sieht Heidegger die europäische Tradition der Philosophie kulminieren. Die Weltentfremdung: ein Korrelat der europäischen Philoso­ phie, die das moderne Selbstverständnis des Menschen vorbereitet, formuliert, geleitet hat. Die beiden Aspekte: Philosophiekritik und menschliches Selbstverständnis, möchte ich noch in zwei Thesen präzisieren, die sich beide auf die Hauptthese beziehen. Diese Haupt­ these: die moderne Krise ist eine Weltentfremdung des Menschen, läßt sich nach zwei Richtungen hin erläutern. Die eine lautet: Die moderne Weltentfremdung des Menschen ist die Konsequenz der abendländisch-europäischen Weltauslegung, die sich in der Philoso­ phie seit Plato, seit Descartes entfaltet hat. Die andere Fragerichtung läßt sich in der These wiedergeben: die neuzeitliche (die Neuzeit selber begründende) Dominanz der Natur­ wissenschaften von Galilei bis zur Kybernetik (deren Ausdruck das Zusammenspiel von Wissenschaft und Technik und deren globaler Erfolg ist) gründet in der neuzeitlich-europäischen Selbsteinschät­ zung des Menschen, deren Anfang der Humanismus, deren Ende die Anthropologie ist. Nach diesen beiden Fragerichtungen möchte ich die folgenden Hinweise gliedern, und zwar so, daß ich zunächst an Heideggers Deu­ tung der neuzeitlich-modernen Selbsteinschätzung des Menschen direkt zu erklären versuche, was das mit der Welt-Entfremdung zu tun haben kann (2). Im Gedanken daran läßt sich zweitens dann Heideggers Kritik der europäisch-neuzeitlichen Philosophie begreifen als ein Schritt der Aufklärung über den Zusammenhang von Naturerschließung und Weltentfremdung im modernen Selbstbewußtsein.

2 Metaphysik des Atomzeitalters In dem 1956 in Bremen und Wien gehaltenen Vortrag ›Der Satz vom Grund‹ (vgl. Anmerkung 62) sagt Heidegger: die heutige Menschheit sei dadurch gekennzeichnet, daß sie »in das Zeitalter« eintrete, »dem sie den Namen ›Atomzeitalter‹ gegeben hat« (S. 198). Die Menschheit folge damit »dem Fortriß zu etwas«, »was bisher in ihrer Geschichte nicht hervorkommen konnte«. Dieses absolut, dieses schlechthin Neuartige illustriert Heidegger an einem damals gerade erschienenen

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Buch mit dem Titel: Wir werden durch Atome leben. Heidegger refe­ riert: »Das Buch ist mit einem Geleitwort des Nobelpreisträgers Otto Hahn und mit einem Vorwort des jetzigen Verteidigungsministers Franz Joseph Strauß versehen. Am Schluß der Einführung schreiben die Verfasser der Schrift: ›Das Atomzeitalter kann also ein hoffnungs­ volles, blühendes, glückliches Zeitalter werden, ein Zeitalter, in dem wir durch Atome leben werden. Auf uns kommt es an!‹ « (S. 198) Heidegger bemerkt dazu: »Allerdings – auf uns kommt es an; auf uns und einiges andere kommt es an, darauf nämlich, ob wir uns noch besinnen, ob wir uns überhaupt noch besinnen wollen und können.« Wenn wir – ohne Vorbereitung – ein Wort wie ›Besinnung‹ hören, noch dazu mit dem Unterton, als läge darin eine Art von Heilsgewißheit, dann sind wir natürlich gleich mit dem Einwand der Kontemplation bei der Hand, die sich der schlechten Wirklichkeit allenfalls verweigern kann, aber niemals das wirklich Gute befördern, das wirklich Schlimme verändern kann. Mit Vorbereitung gibt uns aber vielleicht schon das Thema zu denken, das Heidegger hier zur Sache einer ›Besinnung‹ macht. Es ist der Mittelteil dieses Vortrags von 1956, der seinem Titel nach einen Grundsatz – den obersten aller Grundsätze – der Logik, seinem Anfangsteil nach einen Kerngedanken der Philosophie von Leibniz behandelt. Das Thema, das den Mittelteil dieses Vortrags ausmacht und von dem Heidegger behauptet, es werde hier zur Sache einer Besinnung, ist die Frage, »was sich denn in der anscheinend harmlo­ sen Namensgebung verbirgt, die ein Zeitalter das Atomzeitalter nennt. Was ist daran besonders?« (S. 199) ›Besinnung‹ heißt hier: etwas, das den Betroffenen, den Agie­ renden (den Grundlagenforschern genauso wie den Ingenieuren, den Politikern, den Wählern) als etwas Selbstverständliches erscheint, in die Distanz der Verwunderung zu rücken, das Normale erstaunlich zu finden: »Zum ersten Mal in seiner Geschichte deutet der Mensch eine Epoche seines geschichtlichen Daseins aus dem Andrang und der Bereitstellung einer Energie der Natur. Und es sieht bereits so aus, als fehlten schon die Maßstäbe und die Kraft des Nachdenkens, um das Befremdende und Unheimliche einer solchen Auslegung des gegen­ wärtigen Zeitalters noch frei genug zu erfahren, damit wir unablässig und immer entschiedener davon betroffen werden. – Das Dasein des Menschen geprägt durch die Atomenergie!« (S. 199) Was Heidegger mit dem uns suspekten Wort Besinnung meint, fängt hier damit an, daß er – in jenen Jahren, die einerseits auf

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die Absicherung gegen den kriegerischen Mißbrauch der Atomener­ gie (also auf die Abwehr der Atombombe) gerichtet waren, und andererseits auf die Nutzung ihrer ›friedlichen‹ Kräfte (also auf die Erforschung und Errichtung dessen, was man jetzt ›Kernenergie‹ oder ›Nukleartechnologie‹ nennt). Die Besinnung fängt in einer solchen Zeit schon damit an, daß sie den Optimismus einer solchen Unterteilung fraglich macht: »Ob die Atomenergie friedlich genutzt oder kriegerisch mobilisiert wird, ob das eine das andere stützt oder herausfordert, dies bleiben Fragen zweiten Ranges. Denn allem zuvor und weit hinaus und noch weiter zurück müssen wir fragen: Was heißt es denn, daß ein Zeitalter der Weltgeschichte durch die Atomenergie und deren Freisetzung geprägt wird?« Daß dieser Sachverhalt etwas Erstaunliches sein soll, leuchtet uns zunächst nicht ein. Der Name ›Atomzeitalter‹ bringt doch – wie wir meinen – nur zum Ausdruck, was sich überall bestätigt. Erstens: die Erkenntnis der Wirklichkeit ist mit der Atom-Theorie auf so etwas wie ihren allerletzten Grund gelangt. Die seither vergangenen zwanzig Jahre der biologischen Forschung: die Grundlagenforschung der Genetik in Gestalt der Biophysik und der Informationstheorie seit der Entdeckung der DNS-Struktur durch Watson und Crick (1953) bestätigt die universale Tragweite der Atomphysik, was die Wirk­ lichkeitserkenntnis angeht. – Und was die Wirklichkeits-Erzeugung angeht, so hat in den letzten Jahren jedes Kind gelernt, daß wir (jetzt schon und erst recht in Zukunft) in unserem Leben – so oder so, friedlich oder kriegerisch – durch die industrielle Auswertung der Kernphysik und der mit ihr verwandten Genetik rund herum geprägt werden. – Was also soll an der Benennung einer Epoche nach dem Resultat einer Naturerkenntnis so erstaunlich sein? Wer dieses Mittelstück in dem ›Satz-vom-Grund‹-Vortrag kennt, wird bemerkt haben, daß Heidegger den Akzent seiner Ver­ wunderung nicht unmittelbar auf diejenigen Tatsachen legt, die all­ gemein bestaunt worden sind: einerseits der Schrecken über die vernichtende Wirkung der Atombombe und dann die Faszination von der hilfreichen Wirkung der Kerntechnik. Daß es der Wissenschaft, daß es uns Menschen gelungen ist, ein derartig unvorhersehbares, ein derartig riesiges Kräftereservoir der Natur ausfindig und zugäng­ lich zu machen, erfüllt die Zeugen dieser Entwicklung mit einer Mischung von bewunderndem Stolz und bewunderndem Schrecken. Was Heidegger als erstaunlich ansieht, ist nicht diese Art von Bewun­ derung, als gehe hier, in unserer Zeit, ein alter Menschheitstraum in

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Erfüllung – allenfalls mit der sekundären Gefahr des Zauberlehrlings verbunden. Seit 1945: wir müssen darauf achten, daß die Atombombe nicht in die Hände von Kriegstreibern fällt, – seit den letzten Jahren außerdem noch: wir müssen uns Gedanken machen, wie wir auch bei der friedlichen Nutzung den gefährlichen Nebenwirkungen beikom­ men. Heidegger sieht hier überhaupt keinen Menschheitstraum. Er sieht vielmehr, daß schon die bloße Faszination, das bloße Gebannt­ sein von dem, was hier – kriegerisch und friedlich – freigesetzt wird, etwas wesentlich Modernes ist. Der Akzent der Erstaunlichkeit liegt für Heidegger nicht erst beim Atom, sondern schon bei der Energie. Heidegger findet das Verwunderliche unseres Zeitalters in eben dem Denk- und Handelnsmaßstab, der uns – vom ersten Schuljahr, oft schon vom Kindergarten an – als der natürliche Lebens-Inhalt mitge­ teilt wird: ›Leben‹ ist ›struggle for life‹, es ist Höchstleistung im Stär­ kersein als andere, in der Tier- und Pflanzenart, beim menschlichen Individuum, bei der Nation, bei den ›östlichen‹ und ›westlichen‹ Welt­ anschauungen, in der Verifikation und Falsifikation wissenschaftli­ cher Theorien. Der ›Stärkere‹ (der, der über mehr physische oder intellektuelle Energie verfügt) ist der, der ›überlebt‹. Das beweist die Genetik genauso wie die Verhaltensforschung in den modernen Wis­ senschaften vom ›Leben‹ (der Biologie); das beweist die Theorie der freien Marktwirtschaft genauso wie die gewerkschaftliche Praxis für das menschliche Leben, dessen ›Güte‹, dessen ›Glück‹ oder ›Unglück‹, dessen Richtigkeit oder Falschheit am Lebenserfolg gemessen wird. In solchen Begriffen spricht: die Gleichsetzung von ›Leben‹ mit Energie. In dieser Deutung des Lebens nach dem Maßstab der Energie, nach dem Maßstab der Wirkung, nach dem Maßstab der Produktivität sieht Heidegger das Erstaunliche der modernen Welt. Wir glauben, das Wissen sei nun eben – nach seinen Anfängen bei Thales und Aristoteles – jetzt so weit gekommen, die Grundge­ setze, die Elementarstrukturen der Wirklichkeit erkannt zu haben, so daß sie uns verfügbar werden. Wir fragen dabei nicht, wir finden es nicht einmal einer Frage wert, ob denn diese ›Elementarstrukturen der Welterkenntnis‹ so sehr das schlechthin Elementare sind, daß man, wenn man Wissen sucht, nur auf dieses Wissen abzielen kann. Das moderne Wissen hat seit seinem Anfang, seit Kopernikus und seit Galilei, in der Tat nur darauf abgezielt. Gesetz hieß von diesem Anfang an Bewegungsgesetz, Energiegesetz. Alle ›Revolutio­ nen‹ innerhalb der neuzeitlichen Naturwissenschaften waren Revolu­

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tionen innerhalb dieses Horizonts, der Frage, wodurch wird etwas bewegt, worauf läuft eine Bewegung hinaus. Das ist die Frage, die Leibniz auf den Begriff gebracht hat, die Frage nach dem Grund, – die Frage nach der Entstehung, die Frage nach der Wirkung. Der Leser Heideggers wird sich hier fragen: Was sollte es für ein Erkenntniswollen denn anderes zu fragen geben? Heideggers Erläuterungen seiner These, der Energiemaßstab, der Wirkungsmaßstab sei keineswegs die einzig mögliche Art, in ein erkennendes und handelndes Verhältnis zur Welt zu gelangen, ja, dies sei sogar der Weg, sich der Wahrheit der Welt zu verschließen, besteht nicht etwa darin, daß er diesem Maßstab Fehler nachweisen wollte. Eines kann man diesem Maßstab, der Frage nach den Wirkungsge­ setzen, der Frage nach den Bewegungs- und Erzeugungsstrukturen der Wirklichkeitserkenntnis ja gerade nicht unterstellen: daß sie sich nicht ›empirisch‹ bewährt hätten. Die Atombombe, zehn Jahre vor Heideggers Vortrag, Seveso, einige Jahre vor diesem Referat, sind dafür nur besonders eindrucksvolle Beispiele. Heideggers Verwunde­ rung bezweifelt nicht den neuzeitlich-modernen Forschungsansatz; sie relativiert nur seinen eigenen Absolutheitsanspruch. Heidegger sieht, daß der wahrheitsbeweisende Erfolg der moder­ nen Wissenschaft seit Galilei erkauft ist um den Preis einer Aus­ klammerung, eines Nicht-mehr-Sehen-Wollens von Lebensbezügen, denen eine andere Art von Wahrheit zukommt. Diese anderen Lebensbezüge sind erstens – wie sich sehr leicht zeigen läßt – alles andere als ein Randgebiet des Daseins oder gar eine Mystifikation Heideggers; und sie sind zweitens – was sich sehr viel schwerer zeigen läßt – keine überholten, sondern befreiende Bezüge. Ausgeklammert ist aus dem Umkreis dessen, was uns als wirklich gilt, das, was sich nicht begründen läßt, und das, was sich nicht als Grund erweist (was sich nicht aus dem, was es bewirkt oder was es bewirken könnte, beurteilen läßt). Ausgeklammert ist in einer Zeit, die nur respektiert, was heute, früher oder künftig als präsent erwiesen werden kann, alles das, was – in den Gestalten des Abschieds, der Hoffnung, der Verwandlung – sein Wesen darin hat, Gegenwart zu sein. Wir sind nie bei dem, was ist, am wenigsten bei dem, was als Verlust, als Schmerz oder als Erinnerung im Element der Ferne bei uns ist oder auch als Erwartung, als Angst, als die Dunkelheit des Rätsels, als der Glanz der Vorfreude im Element der Zukunft bei uns ist. Wir sind immer nur damit beschäftigt, das, was uns betreffen könnte,

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in einen vorgestellten Entwicklungsgrund und eine vorgestellte Ent­ wicklungsfolge aufzulösen. Wir lassen das, was uns betreffen könnte, gar nicht zu, indem wir, ehe es uns erreicht, schon immer – vorwärts oder rückwärts – darüber hinaus sind. Diese unerkannte, diese gar nicht ausdrücklich als Lebens-Flucht erfahrene Verweigerung dessen, was Heidegger das menschliche Wohnen nennt, vollzieht sich als der neuzeitliche ›Realismus‹, der darin nur den ›Idealismus‹ zu sich selber bringt. Indem wir ›Wirklichkeit‹ sagen, meinen wir denjenigen Aspekt der Welt, der mit Sicherheit begründbar ist, denjenigen Aspekt der Welt, vor dem man gegen ›subjektive‹ Täuschung abgesichert ist. Der Mond dreht sich ›in Wirklichkeit‹ um den Globus, er geht nicht – wie uns das scheint – auf und unter. ›Wasser‹ ist eine Kombination von zwei Teilen Wasserstoff und einem Teil Sauerstoff. Das Rauschen eines Baches, das Spiegeln eines Teiches, der Salzgeruch des Meeres, der Nahrungsreichtum, in dem der Lebensreichtum von Fluß, Teich, Meer sich abspielt, das sind veränderliche, umstandsbedingte Zusätze zur Wirklichkeit des ›Wassers‹, im Falle von Klang und Wärme und Farbigkeit außerdem noch subjektive Eindrücke des Menschen, die sich ihrerseits in anderen Forschungsdisziplinen – der Physiognomie, der Psychologie – auf ihre spezielle ›Wirklichkeit‹ zurückführen las­ sen. Das Meer – das gibt es ›in Wirklichkeit‹ gar nicht, genausowenig wie die Wolken. In der Vorlesung Was heißt denken? vom WinterSemester 1951/52 weist Heidegger auf das Beispiel eines blühenden Baumes, der vor uns steht: »Wenn wir dem nachdenken, was dies sei, daß ein blühender Baum sich uns vorstellt, so daß wir uns in das Gegenüber zu ihm stellen können, dann gilt es allem zuvor und end­ lich den blühenden Baum ... erst einmal dort stehen zu lassen, wo er steht. Weshalb sagen wir ›endlich‹? Weil das Denken ihn bisher noch nie dort hat stehen lassen, wo er steht.« (S. 18) Daß es die Atome und ihre ›Teilchen‹, die Elektronen, die Protonen, die Neutronen, wirklich gibt, das wissen wir durch die Experimente und jetzt durch die Wirkung der Atomteilungen in den Kernreaktoren (das sind sozusagen Experimente im großen). ›Wirklich‹: das haben uns schon Einstein und die Quantenmechanik gelehrt, ›wirklich‹ ist da genaugenommen gar nichts mehr, was für Galilei und Newton zur Wirklichkeit noch hinzugehörte, die Masse fester Materie; ›wirklich‹ ist jetzt nur noch das, was seit Galilei und Newton schon das Thema der Erkenntnis war: der Grund der

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Bewegung dieser Materie, die Energie. Und selbst das ist noch nicht ganz angemessen gedacht. Die Energien sind ihrerseits noch einmal zurückführbar auf die Anordnungen, auf die Anordnungs-Gesetze, die ihr Auftreten regeln: Gesetzmäßigkeiten, Wahrscheinlichkeitsre­ geln, die sich in mathematischer Form ausdrücken lassen: Die Materie gründet in der Energie, die Energie gründet in der Information. In dieser ist die Einheit von anorganischer und organischer Natur als ein Potenzierungs-Prozeß der Elementar-Information zu gewinnen: in dem Schema von Rückkopplung und Regelkreis, den die Kybernetik entwickelt hat. Darin ist zugleich die alte Dichotomie von Natur und Geist überwunden. Die Vorgänge im Gehirn lassen sich informations­ theoretisch als ein Rückkopplungsprozeß im Regelkreis erklären. Mit der Quantenmechanik hat sich der Mensch die Freisetzung der ›kosmischen‹ Energie verschafft, mit der Genetik und Kybernetik die ›Steuerung‹ der Lebens-Energien, das heißt der Selbsthervor­ bringung; -- beides Produktivitäten, die der Mensch bis dahin als nicht-erkennbar, d.h. als nicht von ihm zu machen angesehen hatte. Damit tritt der Grundzug der neuzeitlichen Wissenschaft zu Tage. Erkennen heißt: denjenigen Aspekt der Welt zu erforschen, der ihre Bewegungsgesetze, der ihre Erzeugungsgesetze betrifft. Und das heißt: dasjenige zu erforschen, was uns in den Stand setzt, es, wenn es erforscht ist, selbst zu bewegen, selbst hervorzubringen. Wir können natürlich keine Planeten oder Fixsterne selber machen. Aber mit den Gesetzen der Schwerkraft und Gravitation haben wir uns die Macht der planetarischen Bewegung verschafft, die sich in der Raumfahrt bezeugt; mit der Quantentheorie die Macht der Sonnen-, also der Fixsternenergie, die sich in der Kerntechnik bezeugt; mit der Informationstheorie, mit dem Dual-System der Genetik haben wir uns die Macht der ›Lebens‹-Produktion verschafft, die sich – derzeit noch im Anfangsstadium – in den ersten gezielten Gen-Umwandlungen bezeugt. Was zeigt sich in dieser Gemeinsamkeit von Galilei bis zu Niels Bohr, von Newton bis zu Norbert Wiener? Diese Gemeinsamkeit zeigt den Ansatz des neuzeitlichen Begriffes der Natur bei dem Maßstab der Aneignung. Erkennen heißt – seit Galilei und Descartes – das Finden, das sich in den Stand setzt, das Gefundene selbst hervorzubringen. Der Ansatz der neuzeitlichen Naturerkenntnis ist von Anfang an der Maßstab der Produktivität. In der späteren techni­ schen Verwertbarkeit dieser Art von theoretischer Erkenntnis (die so bewunderungswürdige Forscher wie Einstein oder Heisenberg so

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sehr erschreckt hat) äußert sich – gleichsam gegen die persönliche Mentalität ihrer größten Vertreter – der geschichtliche Ansatz dieser Art von Erkenntnis. Das Interesse an der ›Objektivität‹ (ein Wort, ein Begriff, den es erst seit Kant gibt), das Interesse an der ›res extensa‹ – um mit Descartes zu sprechen – war von Anfang an das Korrelat der Subjek­ tivität, der ›res cogitans‹: Selbstbewußtsein heißt seit dem Beginn der Neuzeit Selbstbestimmung. Und Selbstbestimmung, Autonomie, kann es in Wahrheit nicht geben, wenn da noch irgend etwas uns, den Menschen, Fremdes – die ›Natur‹ – unverfügbar außerhalb steht. Der neuzeitliche Ansatz des menschlichen Selbstverständnisses bei der Idee der Autonomie zwingt – gewissermaßen automatisch – zu einer Einverleibung auch noch des nicht-menschlichen Bereichs der Welt in die menschliche Verfügbarkeit. Das ist der – von so moralisch vorbildlichen Geistern wie Galilei oder Kepler, Einstein oder Niels Bohr geleistete – Prozeß, den wir jetzt im Nachhinein als den der Mathematisierung, dann: der Energetisierung, und zuletzt: der Informationierung der Natur bezeichnen können und der darin besteht, den neuzeitlichen Traum der Autonomie zu der in ihm angelegten Perfektion gebracht zu haben: Der Mensch kann nur dann in Wahrheit sich selbst bestimmen, wenn er imstande ist, auch alles das, was er selbst nicht zu sein scheint, zu bestimmen, die Natur. Zur Autonomie des Menschen gehört – als deren eigene Konse­ quenz – die Automobilisierung der Bewegung und die Automatisie­ rung der Produktion. Vor hundert Jahren hätte eine solche Reflexion (von so unzeit­ gemäßen Leuten wie Nietzsche oder Jacob Burckhardt abgesehen) nur freudige Zustimmung hervorgerufen. Warum liegt heute in einer solchen Reflexion etwas Beklemmendes – so sehr, daß man sich wahrscheinlich spontan gegen die Verbindung von Autonomie und Automation zur Wehr setzen möchte? Stellt jemand, der so eine Reflexion anstellt, nicht die menschliche Freiheit in Frage? Die Frage, die der spätere Heidegger stellt, stellt nicht die Freiheit in Frage, sondern unsere cartesianisch-neuzeitlich-philosophische Deutung der Freiheit. Er zeigt die von uns immer nur verdrängten Zwänge, die dieser Freiheitsdeutung innewohnen; er zeigt – ähnlich wie hundert Jahre früher, zur Zeit der 48er Revolution in Deutschland der damalige Bakunin-Freund und Dresdner Revolutionär Richard

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Wagner – die neue Versklavung, in die man auch im Namen der Freiheit geraten kann. Die fünf Seiten in dem ›Satz-vom-Grund‹-Vortrag von 1956, die Heidegger als eine ›Besinnung‹ auf den Namen ›Atomzeitalter‹ ankündigt, zeigen dies durch einen Hinweis auf das Phänomen der atomaren Technik. Sie erinnern sich: gegen den Optimismus von 1956: »Wir werden durch Atome leben«, stellt Heidegger sein Postulat von einer wesen­ haften Nicht-Unterscheidbarkeit von kriegerischer Mobilisierung und ›friedlicher‹ Nutzung im Falle der Kernenergie. Er erläutert dieses Postulat durch den Hinweis darauf, daß sich das ›Atomzeitalter‹ als die Konsequenz unserer Unterwerfung unter dasjenige neuzeitliche Prinzip von ›Wissen‹ herausstellt, das Leibniz als die Macht des ›Satzes vom Grund‹ analysiert hat, die Macht nämlich, die darin liegt, daß dieser ›Satz‹ die absolute Perfektion verlangt: das ›princi­ pium reddendae rationis sufficientis‹, das Prinzip des zuzustellenden, zureichenden Grundes zu sein, zuzustellend: uns, den Menschen; zureichend: in absoluter Vollständigkeit, in unbegrenzter Sicherheit. Dieses Prinzip besagt: Wir Menschen müssen darauf drängen, daß es nichts geben darf, was unserem Begründungs-, d.h. unserem Selbständigkeitswillen entzogen bleiben könnte. Dieser geheime Zwang im neuzeitlichen Wissensansatz realisiert sich einerseits, vom Inhalt her gesehen, in der vorausgesetzten Auswahl -Richtung unseres Erkenntnis-Interesses auf den von sich aus schon mathemati­ sierbaren Aspekt der Natur, zuerst: die Bewegungsgesetze der Sterne, zuletzt: die Informationsregeln der Gene – Regeln und Gesetze, die es als Phänomene gar nicht gibt. Schon die Fallversuche Galileis gibt es ja strenggenommen nur im außerirdischen Raum. Hier, auf der Erde, muß man die Luft wegdenken. Aber diese moderne Art von Transzendenz: aus der sichtbaren ›Schein‹-Welt in das ewig Kalkulier­ bare, stimmte. Dieses Unsichtbare, Unanschauliche bewährte sich in seiner Wirkung. Energien und Informationen sind die Schlüssel, mit denen sich der Mensch die außer- und untermenschliche Natur zu eigen machen, in seinen Besitz bringen konnte. Das ist der eine, der inhaltliche Aspekt. Das andere ist der metho­ dische Aspekt. Der neuzeitliche Wissenschafts-Ansatz: Die Natur von der Seite aus zu erkennen, wo sie uns verfügbar werden kann, realisiert sich in dem neuzeitlichen wissenschaftlichen Begriff von Einheit. Wis­ senschaftliches Forschen heißt: überwinden der Widersprüche. Ohne diesen Antrieb hätte es weder die Überwindung der Anschauung bei

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2 Metaphysik des Atomzeitalters

Kopernikus noch die Überwindung der Anschauung bei Einstein oder Heisenberg gegeben. Heidegger verweist zu diesem methodischen Antrieb auf einen Vers Goethes: »Doch Forschung strebt und ringt, ermüdend nie, nach dem Gesetz, dem Grund, Warum und Wie«. (S. 206) Und er bemerkt dazu zweierlei. Erstens: »Goethe ahnte wohl, wie das Unermüdliche der Forschung, falls sie nur blindlings ihrem Fortriß folgt, den Menschen und die Erde in ihrem innersten Wesen abmüdet.« Und zweitens: »Indeß konnte Goethe nicht voraussehen, wohin das Unermüdliche der neuzeitlichen Forschung führt, wenn sie sich der Herrschaft des gewaltigen Grundsatzes vom zuzustellenden, zureichenden Grund als der alleinigen Maßgabe ohne Vorbehalt aus­ liefert.« Diese uns erst mögliche Antwort auf die Frage: »Wohin hat dies geführt«, gibt Heidegger – 1956 – in dem folgenden nicht emotionalappellierenden, sondern phänomenal-zeigenden Passus (S. 202f): »Durch Freisetzung der riesenhaften Atomenergien wird jetzt die von der modernen Technik gesteuerte Wissenschaft davon entbun­ den, fernerhin nach neuen Energiequellen zu forschen. Aber diese Einbindung schlägt sogleich in eine noch gewaltigere Bindung an den Machtanspruch des Grundsatzes vom Grund aus. Jetzt muß nämlich die Forschung ihr ganzes Ansehen in einem neuen Stil darauf richten, die freigesetzten Naturenergien zu bändigen. Was heißt dies? Es heißt: Die Nutzbarkeit der Atomenergie und dem zuvor ihre Bere­ chenbarkeit auf eine Weise sicherstellen, daß diese Sicherstellung ihrerseits ständig das Einschalten neuer Sicherungen herausfordert. Dadurch steigert sich die Gewalt des Anspruchs auf die Zustellung des zureichenden Grundes ins Unabsehbare. Unter dieser Gewalt des Anspruchs festigt sich der Grundzug des heutigen menschlichen Daseins, das überall auf Sicherheit arbeitet. Die Arbeit an der Sicher­ stellung des Lebens muß jedoch selber ständig sich neu sichern. Das Leitwort für diese Grundhaltung des heutigen Daseins lautet: Informa­ tion. Information besagt einmal die Benachrichtigung, die den heutigen Menschen möglichst schnell, möglichst umfassend, möglichst eindeu­ tig, möglichst ergiebig über die Sicherstellung seiner Bedürfnisse, ihres Bedarfs und dessen Deckung unterrichtet. Demgemäß gewinnt die Vorstellung von der Sprache des Menschen als einem Instrument der Information in steigendem Maße die Oberhand. Denn die Bestimmung der Sprache als Information verschafft allererst den zureichenden Grund für die Konstruktion der Denkmaschinen (also der Computer)

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und für den Bau der Großrechenanlagen. Indem jedoch die Information informiert, d.h. benachrichtigt, formiert sie zugleich, d.h. sie richtet ein und aus. Die Information ist als Benachrichtigung auch schon die Einrichtung, die den Menschen, alle Gegenstände und Bestände in eine Form stellt, die zureicht, um die Herrschaft des Menschen über das Ganze der Erde und sogar über das Außerhalb dieses Planeten sicher­ zustellen. In der Gestalt der Information durchwaltet das gewaltige Prinzip des zuzustellenden zureichenden Grundes alles Vorstellen und bestimmt so die gegenwärtige Weltepoche als eine solche, für die alles auf die Zustellung der Atomphysik ankommt.«

3 Die Automatik der Autonomie Heidegger, der sich seit seinem Freiburger Studium mit Mathematik und Physik auch fachwissenschaftlich beschäftigt hatte, in regem Kontakt mit Heisenberg und in ständiger Gesprächsverbindung mit Carl Friedrich von Weizsäcker stand, konnte 1956 noch nicht die Schriften Norbert Wieners kennen, des einen der beiden Begründer der Kybernetik. In dem erst 1963 ins Deutsche übersetzten Buch Kybernetik, mit dem Untertitel Regelung und Nachrichtenübertragung im Lebewesen und in der Maschine, schreibt Norbert Wiener: »Wenn ich nach Betrachtung der Geschichte der Wissenschaft einen Schutz­ patron für die Kybernetik wählen sollte, würde ich Leibniz nennen. Die Philosophie Leibniz’ kreist um zwei engverwandte Begriffe – den einer universellen Symbolik und den eines Kalküls der Vernunft.« Diese Verwandtschaft nennt Wiener mit einem Satz »Der calcu­ lus ratiocinator enthält die Keime der machina ratiocinatrix, der logi­ schen Maschine.« (S. 40) Diesen einen Zusammenhang: die Antwort auf die Frage, wie wir nicht nur das Prinzip der Sternbewegung uns zu eigen machen können (die hatte Newton beantwortet) und auch nicht nur die Umwandlung von Materie in Energie: die hatten Einstein und Niels Bohr gelöst, sondern auch noch die, die das Problem der ›Lebens-Kraft‹ ausmacht: die der Selbstproduktion, der Selbsterzeugung, gibt die Kybernetik. Der Zusammenhang des calculus ratiocinator mit dem der machina ratiocinatrix ist der rote Faden, unter dem der Mathematiker und Nachrichtentechniker Norbert Wiener seine Erfindung und Weiter­ führung der Kybernetik in dem genannten Buch darlegt. Leibniz – das

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3 Die Automatik der Autonomie

sieht Wiener genauso wie Heidegger (und fast zur gleichen Zeit) – ist das Vorbild für eine Interpretation der Welt nach dem Maßstab ihrer Produktion. Diesen Maßstab hat Leibniz als Anspruch übernommen von Descartes. Wenn der Mensch damit ernstmachen will, daß sein Wesen darin besteht, Selbstbewußtsein zu sein, res cogitans, dann hat das zur Konsequenz, daß als res extensa, als Welt, nur zugelassen ist, was sich der Autonomie des Menschen unterwerfen läßt: das heißt in Descar­ tes’ Formulierung dieses fundamentalen Anspruchs: als wirklich darf nur gelten, was mit mathematischer Sicherheit begründbar ist. Diesen Anspruch konnte Descartes mit seinem Dualismus von Selbstbewußtsein und Außenwelt noch nicht erfüllen. (Er mußte zur Überbrückung der Kluft noch auf Gottesbeweise zurückgreifen.) Erst Leibniz erfüllte den Cartesianischen Anspruch. Einerseits durch die Revolution der Mathematik in Form der Infinitesimalrechnung: woraus man dann, in unserer Zeit, die ›Wahr­ scheinlichkeits‹-Rechnung entwickeln konnte, die dort, wo die Kau­ salität nicht zureicht – bei der Flugabwehr z.B. – mit der Statistik weiterkam. Mit dieser Bewältigung auch noch bis dahin unberechen­ barer Momente der ›Subjektivität‹ durch die Mathematik, d.h. mit der Bewältigung auch noch der ›Zukunft‹, mit der Bewältigung ›der Zeit‹ durch die Vernunft (das unaufgelöste Problem von Kants Kritik der Urteilskraft) war die Möglichkeit gegeben, die traditionellen Begriffe der Verursachung und Zeugung aus der Starre ihrer Statik zu lösen und zur Beweglichkeit der Steuerung zu ›verflüssigen‹. (Die ›Steuerung‹ beherrscht den ›Regelkreis‹ der Subjekt-Objekt-Einheit). Das andere Moment, mit dem Leibniz den Anspruch von Des­ cartes erfüllt, war seine Fundierung des Selbst-Bewußtseins in der Selbst-Bestimmung. Als ein Fall von Selbstbestimmung läßt sich auch die Selbstbewegung, die Selbst-Organisation der Pflanzen und Tiere begreifen. Damit war der Übergang vom Menschen zur Natur geschaffen. Das Ganze der Welt ließ sich als ein einheitlicher Ent­ wicklungsprozeß begreifen: von der primitivsten Perzeption bis zur höchsten Apperzeption, – modern gesprochen: von dem anfänglichen Dual-System der Urmaterie bis zur Struktur der Ratio selbst. (N. Wiener behandelt dieses Abschlußstadium im letzten, erst 1961 geschriebenen Kapitel seines Buches unter dem Titel ›Gehirnwellen und selbstorganisierende Systeme‹.) Beide Lösungsmomente von Leibniz: die futurologische Mathe­ matik und die genetische Kosmologie, haben ihren Kern in dem neuen

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Wirklichkeitsbegriff von Leibniz. ›Wirklich‹ ist nicht mehr ein vorlie­ gendes ›Ding‹, sondern dessen Entwicklungsdrang. Die Wirklichkeit der Monade ist: ihr Verwirklichungs-Wille: la force, die ›Kraft‹. In Wahrheit wirklich ist nicht das Produkt, sondern der ›progressus‹ der Produktivität. Die Einheit ist die Bewegungstendenz. In Wahrheit sein heißt: perspektivisch sein. Damit ist die höchste Potenz der Rückkopplung (um nun wieder kybernetisch zu sprechen), diejenige nämlich des Menschen in seinem Verhältnis zur Natur schon von Anfang an (und ohne jede theolo­ gische Teleologie), nämlich in der Struktur der Wirklichkeit selbst einprogrammiert. Der Mensch entspricht der Einheit der Wirklichkeit, indem er das Produktionsprinzip der Wirklichkeit auf diese selbst zurückwendet, deren Produktivität zum Material seiner Produktivi­ tät macht. Heidegger formuliert dieses Verhältnis in einem Vortrag vom April 1967 in Athen: »Gemäß der neuzeitlichen Vorstellung vom Menschen ist der Mensch das Subjekt, das sich auf die Welt als das Ganze der Objekte bezieht und von daher bestimmt wird. Die Subjekt-Objekt-Beziehung ist, kybernetisch vorgestellt, die Wechsel­ beziehung der Information in der Rückkopplung im Regelkreis, der heißt: Mensch und Welt.«

4 Der Weltraum der Erde Warum soll das eine Welt-Entfremdung sein? Die Antwort läßt sich kurz durch eine Kennzeichnung von Heideggers Alternative geben. Ich umschreibe sie – ähnlich wie in dem Vorblick zu Beginn – nun wieder in der Form bloßer Thesen. These 1: Die neuzeitliche Welt-Auslegung ist nicht erst in einigen modernen Anwendungen – die man korrigieren könnte –, son­ dern von Anfang an, in ihrer eigenen Wesensverfassung WeltAusbeutung. Heidegger zeigt das in dem (u.a. aus Gesprächen mit Heisenberg) hervorgegangenen Aufsatz ›Wissenschaft und Besinnung‹ von 1953 an einer Analyse des neuzeitlich-moder­ nen Begriffs der Theorie. Die Theorie setzt ›Welt‹ im vorhinein so an, daß nur das von uns Berechenbare und das heißt eben: das von uns selber Machbare, als wirklich, als wißbar zugelassen ist.

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4 Der Weltraum der Erde

These 2: Der Mensch der Neuzeit (die moderne menschliche Gesellschaft – in Moskau nicht anders als in New York, in Ostberlin nicht anders als in Frankfurt) glaubt, sich durch die Aneignung der Welt den Traum der Autonomie erfüllen zu können. (Fehler von alten Experten werden von neuen Exper­ ten korrigiert werden. Die Wissenschaft, die Theorie fungiert – nach unserem Glauben – als ein sich selbst regulierendes System.) Dieser Selbstbestimmungs-Glaube, dieser Glaube an die eigene Macht der Rationalität hat den modernen Menschen zum Sklaven der Macht gemacht, zum Sklaven der Sicherungs­ zwänge, zum Sklaven dessen, was wir bis jetzt noch immer nur für unerwünschte Nebenwirkungen halten, ohne deren eigene Integral- und Transformations-Automatik wahrhaben zu wollen. Im Traum der Produktionsziele werden wir die Sklaven der Produktionsmittel (ganz gleich, wie die Produktionsverhältnisse sind). Die Zwecke, die pathetischen Motive, sind in Wahrheit nur die ideologischen Antriebe, mit denen die vermeintlichen Mittel uns, die Menschen, zu Mitteln gemacht haben. Am Beispiel des Fernsehens hat das schon vor Jahren – wenn auch damals noch als großen Fortschritt – McLuhan auf die Formel gebracht: »The medium is the message.« Die Kinderärzte wissen, viele Eltern und Lehrer merken, daß der Befund zutrifft – aber ein Krankheitsbefund ist. Der Filmregisseur Antonioni zeigt schon seit langem, daß unsere Zeit im ganzen die Reportage über die Welt an die Stelle der Welt gerückt hat. Das Medium hat die Sache ersetzt. Wir sind nur noch Reportage, – der Mensch, wie Norbert Wiener sagt, ist ›eine Nachricht‹. Wir sind nur noch Ersatz. These 3: Wo als Welt nur gültig ist, was in der Verschränkung von unendlicher Steigerung und schrankenloser Sicherung (von ›Wachstum‹ und ›Speicherung‹) aufgeht, wird der Wille zur Aneignung der Natur zur Beseitigung der Natur. Die (seit zehn Jahren für jeden erkennbare, aber noch immer nicht ernsthaft zur Kenntnis genommene) Aussicht auf die endgültige und irre­ parable Zerstörung der sogenannten ›Lebensbedingungen‹ auf dieser Erde ist nur die letzte Konsequenz der lange schon – seit dem Beginn der neuzeitlichen Naturwissenschaften in Europa, seit der modernen Religion des cogito sum – praktizierten Tran­ szendierung der Daseins-Elemente durch den Menschen.

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Der Grundzug dieser modernen (sich empirisch wähnenden) Trans­ zendenz ist der Ansatz der Welt als räumliche und zeitliche Unend­ lichkeit – seit den geographischen Weltentdeckungen im 16. Jahr­ hundert, den kolonialen Welteroberungen im 17. Jahrhundert, den geologischen Erd-Erschließungen im 18. Jahrhundert. Die beiden Vorläufer dieses Unendlichkeits-Glaubens der Neu­ zeit sind der römische Geschichtsbegriff: die Zurichtung des Handelns nach dem Wirkungs-Prozeß, und der Platonische Idealismus: der Ansatz des Menschen bei der Forderung: alles Vergängliche und d.h. alles Irdische zu überwinden. (Noch Aristoteles fällt gleichsam hinter Plato zurück, wenn er damit Ernst macht, daß zum wahren ›Wachstum‹ auch der Untergang gehört: daß nicht die unendliche Richtung des Prozesses, sondern der Glanz des Rhythmus das Wesen der Bewegung, die ›Kinesis‹ der ›Physis‹, und damit auch die der menschlichen ›techne‹ ausmacht.) These 4: Das 20. Jahrhundert unterscheidet sich dadurch vom 19. Jahrhundert, daß an die Stelle der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen die Ausbeutung der Erde durch den Men­ schen getreten ist. Diese Universalisierung des neuzeitlichen ›Imperialismus‹ ist zugleich auch ein neuer Klassenkampf, ein einseitiger freilich, weil die jetzt ausgebeuteten Menschenklassen wehrlos sind: die künftigen Generationen, die mit unseren Doktrinen infizierten Bewohner der ›Entwicklungs‹-länder und, bei uns (in Deutschland, in Nordamerika, in Rußland und wohl bald auch in China), alle ›Klassen‹, die nicht ›produktiv‹ sein können, die Kinder, die Alten, die Kranken. Sie bekommen zu spüren, daß sie keine ›vollwertigen‹ Menschen sind, die einen (Dritte Welt und Kinder) noch nicht, die anderen nicht mehr. Wir haben den Rhythmus der Zeit durch den Dauerzustand eines niemals Gegenwart erlangenden, niemals Gegenwart erlangen dürfenden Willens zum Ziel ersetzt, der in Wahrheit, wie Heidegger bemerkt, darin aufgeht, ein Wille zum Willen zu sein. Der Verkehr, die Fort-Bewegung, ist zum Selbstzweck geworden.

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4 Der Weltraum der Erde

These 5: Wenn die zweihundertjährige, erst europäische, jetzt globale Selbsteinschätzung des Menschen, als animal rationale dazu berufen zu sein, die ›Animalität‹ durch ›Rationalität‹ zu überwinden, an Grenzen stößt, dann zieht eine neue Ideolo­ gie daraus den Schluß, man müsse die Animalität gegen die Rationalität verteidigen. Doch damit wird der Ansatz bei der wechselseitigen Isolierung, der Ansatz bei der Theoretisierung nur noch zementiert. Der Übermensch und der Untermensch sind Brüder. Der Naturalismus ist keine Alternative zum Rationalismus, sondern nur seine Kehrseite (genauso wie der Irrationalismus ein Produkt des Rationalismus ist). Das Zentrum bekommt nur einen neuen Inhalt; der Zentralismus bleibt. Das Verständnis der menschlichen Freiheit als Autonomie wird nicht durch höhere Gesetze der Natur widerlegt, sondern durch die Gewalt der selbsterzeugten Zwänge und die Leere seines eigenen Formalismus in Frage gestellt. Daß wir nicht Herr sein können, besagt – wie wir alle wissen – nicht, daß wir Knecht sein müßten. Was bedeutet diese Einsicht aber für das Verhältnis zwischen Mensch und Welt, zwischen Mensch und Erde? Es bedeutet, in der Erfahrung der Moderne überhaupt erst wieder ein Verhältnis zu dem, was unser Ort ist, zu gewinnen. Heideggers Vorwurf der Besinnungslosigkeit hat nichts mit ›meditativer‹ Wirklichkeits-Flucht zu tun. Heidegger wirft dem modernen Menschen eine Flucht vor, die Flucht vor dem, was ist, weil sie sich nur fortreißen lassen, statt auf die Wirklichkeit einzugehen. Das ist keine Sache von Theorien, sondern eine Sache der Übung, der Übung im Sehen und Hören. Daß wir Menschen nicht das Zentrum der Welt sind, ist das Gegenteil einer Herabsetzung, wenn die Welt selber keine zentra­ listische Verfassung hat. In einer Ellipse z.B. ist keiner der beiden ›Brennpunkte‹ entbehrlich. Diese Würde des Menschen hat der alte Sinn des römischen Wortes ›cultura‹ gemeint, noch mit einem Anklang an das griechische Physis-Techne Verhältnis: die Unent­ behrlichkeit und Unersetzlichkeit des menschlichen ›Pflegens‹ und ›Bauens‹. Zu dieser Art von Welt-Bewegung gehört die Fähigkeit des Menschen zur geschichtlichen Unterscheidung, die Heidegger mit ›Besinnung‹ meint.

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Selbstentfremdung – Weltentfremdung

Den angestammten Ort des Menschen als des Bauens, Pflegens, Verwandelns; als des Hütens und Förderns dessen, um dessentwillen er da ist, das Freisein, das wir finden, wenn wir im Freien stehen, diesen Ort in der Situation zu gewinnen, zu der der Weg der Technik uns Menschen dieser Zeit die Chance gibt, könnte ein Traum sein, auf den auch die Natur wartet, das Wort ›Traum‹ hier nun in dem Sinn genommen, den Hölderlin meint, wenn er sagt: »Im Zustand zwischen Seyn und Nicht-seyn wird aber überall das Mögliche real und das Wirkliche ideal, und dieß ist in der freien Kunstnachahmung ein furchtbarer, aber göttlicher Traum.«63

In dem Aufsatz ›Das untergehende Vaterland‹ (oft ›Das Werden im Vergehen‹ betitelt), Große Stuttgarter Ausgabe Bd. IV 1, S. 283. 63

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›Die falsche Größe‹ Jacob Burckhardts Kritik der Verwechslung von Größe mit Macht64

Seit 35 Jahren, lieber Mihailo, ist unsre Freundschaft nur immer noch gewachsen. Und so sehr die »Wandelung«, für Burckhardt »das Wesen der Geschichte« (SG 151 und 15265), auch uns, im Leben wie im Denken, prägt, so dankbar dürfen wir doch beide sein, daß wir den Anfängen unsrer Freundschaft in allen Wandlungen treu bleiben konnten. Das gilt von den Fragen wie von den Wegen. Die Fragen: mit dem Ziel, das jeweils aktuell Bedrängende nach seinem Ort im Horizont der Raum- und Zeitbezüge aufzuklären. Dazu gehört, ähnlich wie für Nietzsche oder Jacob Burckhardt, die Präsenz der Antike ebenso wie der Umgang mit anderen, uns fremd gewordenen Kulturen. Die Wege: nicht nur in einer Richtung und auch nicht nur im Gang des Nacheinander, sondern auch in den Kontrasten mit dem daneben Stehenden. Es war die Zeit um 1970, wo wir uns in Korčula das erstemal begegnet sind, daß mir, nach der Beschäftigung mit dem jungen (dem Basler) Nietzsche, an den Schriften Jacob Burckhardts das Unersetzli­ che dieser Einblicke in das Gefüge der Geschichte aufging. Ein Beispiel der damals begonnenen Grabungs-Versuche ist der Aufsatz ›Der Ort Erstveröffentlichung: Das Denken in den Wirren unserer Zeit. Festschrift zum 80. Geburtstag von Akademiker Mihailo Djuric, hg. von Danilo Basta und Caslav D. Kopri­ vica, Beograd: Gutenbergova Galaksia 2005, S. 197–213. 65 Verwendete Abkürzungen: SG: J. B., Über das Studium der Geschichte. Der Text der ›Weltgeschichtlichen Betrachtungen‹ auf Grund der Vorarbeiten von Ernst Ziegler nach den Handschriften herausgegeben von Peter Ganz, 1982 (582 S.). WB: Hinweise hier nach der mit einem Nachwort von Werner Kaegi versehenen dtv-Ausgabe der ›Weltgeschichtlichen Betrachtungen‹ 1979. HF: J. B., Historische Fragmente. Aus dem Nachlaß gesammelt von Emil Dürr, mit einem Nachwort von Werner Kaegi, 1929; seitengleiche Neuauflagen, hier die von 1957 (350 S.). Kaegi: Werner Kaegi, Jacob Burckhardt. Eine Biographie, Band I, 1947 – Band VII, 1982. 64

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›Die falsche Größe‹

der Künste in der Cultur‹ in der Gratulation der Freunde vor zehn Jahren, ein anderes Beispiel nun die hier dem Freund gewidmete Kritik des gebräuchlichen Begriffs der ›historischen Größe‹, zugespitzt an der Wendung in Burckhardts Verhältnis zu seinem einstigen (in der Berliner Studienzeit bewunderten) Lehrer Gustav Droysen in den Jahren der preußisch-deutschen Reichsgründung. Zur Grundlage meiner Burckhardt-Studien sind mir die Vorle­ sungsentwürfe geworden, die, erst aus dem Nachlaß veröffentlicht, unter dem (vom Herausgeber gewählten) Titel ›Weltgeschichtliche Betrachtungen‹ berühmt geworden sind. Sie liegen in zuverlässiger, die verschiedenen Entstehungsdaten dieser Vorbereitungsnotizen zum (wie immer bei Burckhardt) freien Vortrag nach den Manuskrip­ ten erkennbar machenden Edition des Londoner Germanisten Peter Ganz unter Burckhardts eignem Titel Über das Studium der Geschichte seit 1982 vor. Burckhardt hatte die Vorlesung, sowie, vom zweiten Male an, einen dazu gehörigen Vortragszyklus in den Jahren zwischen 1868 und 1872 dreimal in Basel vorgetragen. Das Kolleg gliederte sich in der erstmals vorgetragenen Fassung in fünf Kapitel (SG. 7f., die Zählung von mir): I Einleitung Über Glück und Unglück in der Weltgeschichte Die Geschichte im XIX. Jahrhundert Unsere Aufgabe II Von den drei Potenzen Der Staat Die Religion Die Cultur III Betrachtungen der sechs Bedingtheiten Die Cultur in ihrer Bedingtheit durch den Staat Die Cultur in ihrer Bedingtheit durch die Religion Der Staat in seiner Bedingtheit durch die Religion Der Staat in seiner Bedingtheit durch die Cultur Die Religion in ihrer Bedingtheit durch den Staat Die Religion in ihrer Bedingtheit durch die Cultur IV Die geschichtlichen Crisen [Schlußstück] Ursprung und Beschaffenheit der heutigen Crisis V Die Individuen und das Allgemeine (Die historische Größe)

In der Ausgabe der ›Weltgeschichtlichen Betrachtungen‹ wird der (19 Druckseiten umfassende) Passus ›Glück und Unglück in der Weltge­ schichte‹ gesondert, als ein letztes Kapitel, angeführt. Burckhardt hat

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ihn aber selber zum Ende der Einleitung gerechnet. Nach dem Maß­ stab von Glück und Unglück sind wir gewohnt »in unserem eigenen Leben« »das Gewordene« aufzufassen. Übertragen wir aber »diesen Maßstab« »auf die vergangenen Zeiten« wird das »Urtheil« verfälscht. Zum angemessenen Verständnis eines jeden der fünf Kapitel die­ ses Kollegs ist die Einsicht in den inneren Zusammenhang aller fünf Kapitel unerläßlich. Und dazu wiederum zeigt das Einleitungskapitel den angemessenen Zugang, indem es – wie zuletzt in der Skizze der falschen »Urtheile« – die falschen Erwartungen aufführt. Hier gilt die generelle Kritik zwei – sich korrelativ fördernden – methodologischen Prinzipien: der »fachwissenschaftlichen Trennung« der Sachbereiche in Forschungsthemen hier, der philosophischen »Systematik« dort. In beiden Fällen ist schon mit dem Forschungs- und Deutungs-Anspruch der geschichtliche Grundzug alles Geschichtlichen verlassen: sein Zeit-Charakter. Was im Horizont der Zeit steht, ist mehr als der Zusammenhang von Fakten, aber weniger als ein System. Dieser – zugangsöffnende – Grundzug des in dieser Einleitung umschriebenen ›Studien‹-Feldes: der Geschichte, macht die Tragweite von Burckhardts Lehre von den drei Potenzen aus, die im zweiten Kapitel dargestellt, im dritten auf den Umkreis ihrer Bezugsmöglich­ keiten hin differenziert, im vierten an den Phasen revolutionärer Umbrüche, der ›Crisis‹ ihrer ›Bedingtheiten‹, hin, charakterisiert und aktualisiert werden, und schließlich in dem – aus dem ursprünglichen Schlußkapitel hervorgegangen – (dreiteiligen) Vortragszyklus als das Rätsel der ›Verdichtung‹ des weltgeschichtlich Allgemeinen in einem Individuum zum Thema der Erörterung ›historischer Größe‹ werden. Diese Vorlesungen (und Vorträge) zum Studium ›der Geschichte‹, diese ›weltgeschichtlichen‹ Betrachtungen behandeln nicht den Wirk­ lichkeits- und Erkenntnis-Bereich, den wir beim Gebrauch des Namens ›Geschichte‹ im Sinn haben, sondern (erst einmal mißver­ ständlich gesagt) außer der Weltgeschichte auch die Religionsge­ schichte und auch die Geschichte dessen, was Burckhardt mit ›Cultur‹ meint (wozu er freilich auch so ›reelle‹ Gebiete wie Wirtschaftsge­ schichte zählt). Maßgeblich an dieser thematischen Trias ist aber nicht irgendeine Art von ›interdisziplinärer‹ Gebietsverschränkung, sondern der andersartige Anspruch an geschichtliche Erfahrung. Diese »Winke zum Studium des Geschichtlichen in den verschie­ denen Gebieten der geistigen Welt« (wie es gleich zu Beginn der Einleitung heißt) verweisen auf die Eigenart der Bezüge, die zwischen den verschiedenen ›Potenzen‹ bestehen. Und dabei ist das Ausschlag­

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gebende das Studium der Verschiedenheit selber. An den drei Poten­ zen: ›Staat‹, ›Religion‹ und ›Cultur‹, ist das Wesentliche nicht die Systematik der Dreizahl, sondern die Plastizität und Variabilität, die aus deren doppeltem Kontrastgefüge resultiert, erstens: ›Staat‹ und ›Religion‹, die beiden stabilisierenden Potenzen, im Unterschied zur ›Cultur‹ als der bewegenden Potenz; und zweitens, innerhalb der sta­ bilisierenden Gruppe: das Stabilisieren durch Macht im Unterschied zu einem Stabilisieren durch Sinn. In diesem triadischen Gefüge eines einheitlichen Sachbezugs geschichtlicher Studien besteht (wie Burckhardt in der Einleitung betont) neben der Distanz zur ›Geschichtsphilosophie‹ diejenige zu der »fachweise trennenden Geschichtsbetrachtung«, die so verfährt, »als nähme man aus einem Bild eine Anzahl von Figuren heraus und ließe den Rest stehen« (SG 254; diese Stelle ist in der Formulierung der WB in ihrer Bedeutung verfälscht). Es handelt sich hier also nicht um die Synthese einer höheren oder tieferen ›Ganzheit‹, sondern um die Möglichkeit regionaler und epochaler Differenzierung; »Die drei Potenzen unter sich höchst heterogen und nicht coordinierbar, – und ließe man auch die beiden stabilen, Staat und Religion, in Einer Reihe gehen, so wäre doch die Cultur etwas wesentlich Anderes« (SG 254). Das Manco der ›fachweisen Trennung‹ ist nicht die Unvollständigkeit angesichts aller registrierbaren Fakten, sondern die Zurichtung der ›Bild‹-Faktoren zu isolierbaren Gegenständen, die Zementierung der Dimensionsver­ mögen zu Tatsachenfeldern. Das Potenzielle der ›Potenzen‹ besteht doch eben in der Varia­ bilität des jeweils Möglichen. Die Religion z.B. kann stärker und schwächer sein, ja auch verschwinden, sie kann sich mit der MachtPotenz des Staates heilsam, aber auch zu ›heiligen Kriegen‹ verbinden. Das ›kritisch‹-hinterfragende Vermögen der ›Cultur‹ kann im Falle einer tödlichen Stagnation der »beiden stabilen Lebenseinrichtun­ gen« befreiend wirken, es kann aber auch zu einem lebensbedrohen­ den Selbstzweck werden. Die Macht kann böse, sie kann aber auch gut sein. Das ›Geschichtliche‹ ist immer das Bezugsgefüge eines solchen ›potentiellen‹ Welten-Spiels. (An Heraklits Spiel eines Kindes, Diels B 52, wird man hier denken dürfen.) Auch dann, wenn eine dieser drei Potenzen ein Zeitalter lang nicht präsent ist, gehört doch dieses Fehlen mit zum Verständnis des Zeitalters.

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In dem Maße, wie man sich an der ›weltgeschichtlichen‹ Bei­ spielsfülle Burckhardts in diesen Spiel-Charakter der wechselnden ›Bedingtheiten‹ eingeübt hat, wird man Burckhardts immer neue Betonung des Rätselcharakters geschichtlicher Erscheinungen als eine Konsequenz und nicht etwa als Grenze seines Erkenntniswillens akzeptieren können. Das gilt zumal von dem Vortragszyklus zum Begriff der ›historischen Größe‹. Die vielfache Differenzierung des Begriffsgebrauchs in der Aufzählung der ›Fraglichkeiten‹, – wie etwa im Falle von Alexander und Caesar im Unterschied zu Napoleon oder in Burckhardts Unterscheidung zwischen ›Seelengröße‹ als eines Grundzugs von historischer Größe und ›Seelenstärke‹ als einer selte­ nen Ausnahmeerscheinung. Anders aber als mit diesen Abwägungen von Akzenten und Perspektiven, von mehr oder weniger sicheren Urteilen innerhalb des diskutablen Bereichs von historischer Größe steht es für Burckhardt mit dem einen »fraglosen Irrtum«: der »Verwechslung von Größe mit Macht«. Den Vortragszyklus ›Die Individuen und das Allgemeine‹ lei­ tet Burckhardt mit einer Vorbemerkung ein, die die Doppeldeutigkeit ›historischer Größe‹ anspricht: Fraglichkeit des Begriffs einerseits, Unentbehrlichkeit der Sache andererseits. Die unüberwindbare Frag­ lichkeit zwingt dazu, auf »alles Systematische und Wissenschaftliche« zu verzichten (SG 377). Dem entspricht der Sachverhalt, daß »die Größe ein Mysterium« ist (SG 378). Vor der Erörterung der sachbe­ dingten »Schwierigkeiten«, denen dieser Zyklus im ganzen gewidmet ist, stellt Burckhardt zu Beginn der Einleitung (in den Absätzen 5 bis 8 bei Ganz) vier Kreise von »Täuschungen« heraus, die offensichtlich falsch sind, – wobei trotz der Einschränkungen mit »Ferner« und »Endlich« auf den beiden mittleren Fehlerkreisen das Schwergewicht der Abgrenzung liegt. »[1] Unser Urtheil und unser Gefühl können je nach Lebensalter, Erkenntnisstufe etc. sehr schwanken, beide unter sich uneins und mit dem Urtheil und Gefühl aller Andern im Zwiespalt sein, weil eben unser und aller Andern Ausgangspunkt die Kleinheit eines jeden ist. [2] Ferner entdecken wir in uns ein Gefühl der unechtesten Art, nämlich ein Bedürfnis der Unterwürfigkeit und des Staunens, ein Verlangen, uns an einem für groß gehaltenen Eindruck zu berauschen und darüber zu phantasieren. Ganze Völker können auf solche Weise ihre Erniedrigung rechtfertigen, auf die Gefahr, daß andere Völker und Culturen ihnen später nachweisen daß sie falsche Götzen angebe­ tet haben.

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›Die falsche Größe‹

[3] Endlich sind wir unwiderstehlich dahin getrieben, diejenigen in der Vergangenheit und Gegenwart für groß zu halten, durch deren Thun unser specielles Dasein beherrscht ist und ohne deren Dazwi­ schenkunft wir uns überhaupt nicht als existierend vorstellen können. D. h. wir riskiren, Macht für Größe, und unsere Person für viel zu wichtig zu nehmen. [4] Und gar die zu häufig nachweisbar unwahre, ja unredliche schriftli­ che Überlieferung durch geblendete oder direct bestochene Scribenten etc., welche der bloßen Macht schmeichelten und sie für Größe ausga­ ben« (SG 377f.).

Zuerst also nennt Burckhardt die unvermeidlichen, naturgegebenen Unsicherheiten: die Schwankungen von Urteil und Gefühl je nach Lebensalter und Erkenntnisstufen, die Uneinigkeit zwischen Urteil und Gefühl, den Zwiespalt zwischen dem Urteilenden und dem Fühlenden. Den Superlativ der zweiten Fehlerquelle »ein Gefühl der unechtesten Art« schränkt er nur in dem Geltungsbereich ein. Ein Zusatz lautet: »Dies gilt freilich nur von politisch und militärisch Mächtigen: denn den intellectuell Großen (Dichtern, Künstlern, Philosophen) macht man die Anerkennung bei Lebzeiten oft beharrlich streitig« (SG. 377).

Das Bedürfnis der Unterwürfigkeit gehört dem Umkreis politischer und militärischer Macht zu und berührt in seiner Neigung zur Sakra­ lisierung der Macht den Bezirk der Religion, eine wechselseitige Verfälschung zweier Potenzen. Die dritte Fehlerquelle besteht, im Unterschied zu dem Bedürfnis der Unterwerfung, in einer Selbsterhöhung. Die Größe der Väter und Vorväter – von den Hohenstaufen bis zu den Hohenzollern – erhöht uns selbst. In dem zuvor genannten Bedürfnis der Unterwürfigkeit verbinden wir uns mit dem gegenwärtig Mächtigen, in dem der Selbsterhöhung genießen wir, was in der ›Vergangenheit und Gegen­ wart‹ das Unsrige erwirkt hat. Daß jener aktuelle ›Götzendienst‹ der Größe im Bedürfnis der Unterwürfigkeit mit diesem historischen Trieb der Selbsterhöhung zusammenhängt, ist schon mit dem Zusatz Burckhardts zu der ersten dieser beiden Fehlerquellen angedeutet: sie gelte nur »von politisch und militärisch Mächtigen«. Die Aus­ übung von Macht ist schon ein Wesensmerkmal der ›staatlichen‹ Geschichtspotenz. Die mit »D. h.« eingeleitete Schlußnotiz zu der zweiten dieser beiden mittleren Fehlerquellen gilt so auch für das Gemeinsame beider.

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»D. h. wir risciren, Macht für Größe, und unsere Person für viel zu wichtig zu nehmen.«

Diejenige »Fraglichkeit des Begriffs Größe«, die in »Täuschungen« besteht, in »falschen Götzen«, wurzelt demnach in der Gefahr »Macht für Größe« zu nehmen. Eine Bekräftigung dieser Vermutung kann man bereits daraus entnehmen, daß Burckhardt nicht nur aktuelle Fehlerquellen der »Unterwürfigkeit« mit der historischen der Selbst­ erhöhung verbindet, indem er schon den ersten dieser beiden Feh­ lerkreise auf das »politisch und militärisch Mächtige« einschränkt, sondern auch die zuletzt genannte, vierte Fehlerquelle, die »so häufig nachweisbaren« Irrtümer und Fälschungen der »Quellen«, ausdrück­ lich mit jener gravierenden Gefahr verbindet. Auch die Täuschungen der »schriftlichen Überlieferung« haben im Zuwichtignehmen der eigenen Person ein wesentliches Motiv: »geblendete oder direct besto­ chene Scribenten etc., welche der bloßen Macht schmeichelten und sie für Größe ausgaben«. Einer solchen Fälschung der Vergangenheit durch die »Überlieferung« gleicht in unsrer Zeit die Verfälschung der Gegenwart durch die Medien. Auch da wirken die geblendeten und die direkt bestochenen »Scribenten« zusammen. Eine Notiz, die Burckhardt der Bemerkung über die historisie­ rende Selbsterhöhung beigefügt hat, gilt auch für den abschließenden Hinweis auf die Erfindung von Größe unter dem Geheiß der Macht bei den Informatoren: »Besonders blendet uns das Bild derjenigen, deren Dasein zu unserm nunmehrigen Vortheil gereicht hat. Aber auch das Gegentheil. Der gebildete Russe mag Peter den Großen verabscheuen, kann sich aber doch ohne dessen Einwirkung nicht denken und wird ihn (trotz harter Anfechtung seines Ruhms bei Neuern) für einen großen Mann halten« (SG 377 f.).

Burckhardt skizziert also im ersten Stück der ›Einleitung‹ die »Täu­ schungen und Schwierigkeiten«, die uns bei der Frage nach der Größe in der Geschichte »umgeben«. Die Vermutung, daß Burckhardt den Kern der Täuschungen darin sieht, daß wir »Macht für Größe« nehmen, wird durch eine Notiz aus dem letzten, ›Zum Wesen der Größe‹ überschrie­ benen Abschnitt dieses Vortragszyklus bestätigt (Die ›Überschrift‹: SG 394). Er wiederholt an dieser Stelle mit ausdrücklicher Berufung auf das erste Einleitungsstück dessen Inhalt in einer Weise, die wir als dessen Resümee ansehen können:

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›Die falsche Größe‹

»Die Schwierigkeit: Größe zu unterscheiden von bloßer Macht, welche gewaltig blendet wenn sie neu erworben oder stark vermehrt wird. S. oben (am Anfang des Abschnitts) unsere Neigung, diejenigen in Vergangenheit und Gegenwart für groß zu halten, ohne deren Thun wir uns nicht existirend denken können, oder durch deren Thun unser Dasein wenigstens stark bedingt ist« (SG 397, Z. 26–32).

»Wir risciren, Macht für Größe [...] zu nehmen.« »Die Schwierigkeit: Größe zu unterscheiden von bloßer Macht.« Und der Antrieb dieses Fehlers: »unsere Person für viel zu wichtig zu nehmen«. Bei einem flüchtigen Lesen dieses Vortragszyklus vom Novem­ ber 1870 könnte dieser Vorwurf der Verwechslung von Größe mit Macht so verstanden werden, als beklage Burckhardt damit nur eine Schwäche der menschlichen Natur, die so alt ist wie die menschliche Geschichte selbst. Die Hörer der Vorträge aber wußten, sofern sie zugleich auch Hörer des Kollegs zum ›Studium der Geschichte‹ waren, daß Burckhardt diesen Irrtum, auch wenn er zu allen Zeiten der Geschichte am Werke war, in der besonderen Virulenz seiner Ausprägung als ein Spezifikum der Neuzeit ansah. Der Abschnitt über die ›Cultur in ihrer Bedingtheit durch den Staat‹ im dritten Kapitel schließt mit Bemerkungen über den modernen Zentralismus: »Das moderne Treiben der Völker zum Großstaat, zur Einheit« (SG 302). Der Grund: »In erster Linie will die Nation (scheinbar oder wirklich) vor Allem Macht [...] man will nur zu etwas Großem gehören... Man kann den Centralwillen gar nicht stark genug haben« (ebd.). Auf diese Bemerkung folgt die vielzitierte Behauptung: »Und nun ist die Macht an sich böse, gleichviel wer sie ausübt. Sie ist kein Beharren, sondern eine Gier und so eo ipso unerfüllbar, daher in sich unglücklich und muß Andere unglücklich machen« (ebd.).66

Die daran anschließende Notiz wird seltener zitiert: »Unfehlbar geräth man dabei in die Hände sowohl ehrgeiziger und erhaltungsbedürftiger Dynastien als einzelner ›großer Männer‹ etc., d.h. solcher Kräfte welchen gerade an dem Weiterblühen der Cultur am wenigsten gelegen ist« (302 f.). 66 Zu Burckhardts Diktum ›Macht aber ist schon an sich böse‹, SG S. 328 (WB 102). Parallelstellen: SG 260 (WB 25), SG 302 (WB 70); HF 250. – Dazu vom Verfasser: ›J. Burckhardts Gedanke des ökumenischen Maßstabs‹, in: Umgang mit Jakob Burck­ hardt, zwölf Studien, hg. v. Hans R. Guggisberg, S. 263–281, darin: S. 271–273. (Hier S. 380-382. D. R.).

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›Die falsche Größe‹

Warum ist die Gleichsetzung von Größe mit Macht eine Verwechs­ lung? Warum handelt es sich dabei um einen »Irrthum« (SG. 397)? Die größere Hälfte des Vortragszyklus über ›Historische Größe‹ han­ delt von der politischen Größe; und kein Beispiel nennt Burckhardt häufiger als dasjenige Napoleons. Dieser Beispielvorzug gründet zwar in erster Linie darin, daß sich hier an einer Person verschiedenartige Unterscheidungen zwischen wahrer und falscher Größe und verschie­ denartige Merkmale der ›wirklichen Größe‹ selbst gegenüberstellen lassen. Und in manchen Aspekten des Nachruhms wie auch in seinem Selbstverständnis liefert Napoleon Zeichen des Irrtums. Aber im Unterschied etwa zu Ludwig XIV. billigt Burckhardt Napoleon ohne Zweifel den Rang ›wirklicher Größe‹ zu. Für den Leser kann das Bei­ spiel Napoleon darum auch den Ernst in Burckhardts Unterscheidung wirklicher Größe von bloßer Macht bezeugen. Ganz besonders merkwürdig muß einer flüchtigen Lektüre der ausführlich dargelegte Einwand Burckhardts gegen das ›heutzutage‹ herrschende Verhältnis zur Größe erscheinen, der den größten Teil des Abschlußpassus ausmacht (ab SG 404, Zeile 25). Merkwürdig zunächst schon darum, weil dieser Passus nach seiner Einleitung und seinem Ende das leistet, was man von dem Abschluß dieses Zyklus erwartet, nämlich eine zusammenfassende Würdigung wirkli­ cher Größe. Doch acht Zeilen der Würdigung zu Beginn und sieben Zeilen am Ende dieses Passus stehen achtundvierzig Zeilen an Ein­ wänden gegenüber. Diese nun müssen ihrerseits für einen ersten Blick als merkwür­ dig erscheinen, denn Burckhardt macht darin der eigenen Zeit einen Widerwillen gegen Größe zum Vorwurf: Man habe »zunächst eine Schicht von Leuten auszuscheiden welche sich und die Zeit vom Bedürfnis nach großen Männern emancipiert erklären« (SG. 404). Die zweite Hälfte dieses Einwands gegen das heutige Verhältnis zur Größe scheint das Gegenteil zu sagen. Denn was darin nun nicht weniger scharf verurteilt wird, ist ein »bisweilen heftiges Begehr nach großen Männern«, ein Begehr nach großen Männern »hauptsächlich« »im Staat« und in einer Zeit, die »sehr geneigt« ist, »sich zeitweise durch Abenteurer und Phantasten imponieren zu lassen« (SG 403). Der Schluß dieser Klage, ein eigener größerer Absatz, der diese Anfälligkeit der Moderne für Abenteurer und Phantasten kommen­ tiert, erläutert einem ›hörenden‹ Lesen auch den Zusammenhang mit der zuvor beklagten Feindschaft der Moderne gegen Größe. Es ist eben jene Aversion gegen die Größe – sei es mit dem Motiv, sich gegen

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ihre Gefährlichkeit zu schützen, sei es im Bedürfnis »allgemeiner Garantie der Mediokrität« (SG 404) –, die in ihrer Verbindung von Geschäftigkeit und Langweile das eigentlich Gefährliche, das »heftige Begehr nach großen Männern« schürt: »Das vorherrschende Pathos unserer Tage (das Besser-Leben-wol­ len der Massen)« kann sich »unmöglich zu einer wahrhaft großen Gestalt verdichten. Was wir vor uns sehen, ist eher eine allgemeine Verflachung, und wir dürften das Aufkommen großer Individuen für unmöglich erklären, wenn uns nicht die Ahnung sagte, daß die Crisis einmal von ihrem miserablen Terrain ›Besitz und Erwerb‹ plötzlich auf ein anderes gerathen und daß dann ›der Rechte‹ einmal über Nacht kommen könnte. Worauf dann Alles hinterdrein läuft« (SG 405).

Wenn Burckhardt von da aus zu der Schlußbemerkung überleitet: »Denn die großen Männer sind zu unserm Leben nothwendig ...« (Z. 34), dann wird man den Abgrund der Doppeldeutigkeit wahrnehmen müssen, die mit dem Ganzen dieses Passus angesprochen ist. Gerade weil die Größe unentbehrlich ist, läßt sich dort, wo sie für entbehrlich gehalten wird, mit der befreienden Wirkung einer ›Crisis‹ zugleich auch die zerstörende Wirkung voraussehen, die mit der Machtergrei­ fung falscher Größen im Sog der legitimen Hoffnung droht. Der Passus über »das Urtheil nach der Größe« in dem Abschnitt ›Glück und Unglück in der Weltgeschichte‹ (SG 237) nimmt im Druck kaum eine halbe Seite ein. Aber in ihm gipfelt die Aufzählung ein­ zelner ›Quellen‹ von Fehlurteilen im Geschichtsverständnis (vom »Urtheil aus Ungeduld«, SG S. 233, Z. 28, bis zum »Urtheil nach der Securität«, S. 236, Z. 4); daran anschließend nennt Burckhardt nur noch die »gemeinsame Quelle, die durch alle diese Urtheile hin durch­ sickert«: »das Urtheil des Egoismus« (SG 237). Im Fortgang des Abschnitts erinnert Burckhardt noch mehrmals an den Fehler des Urteils nach der Größe. Politische Verbrechen werden damit ent­ schuldigt, daß sie für spätere Zeiten Gutes bewirkt haben oder daß eine (vermeintlich) höhere Notwendigkeit die böse Tat erzwungen habe. (»Daraus daß aus Bösem Gutes, aus Unglück relatives Glück geworden ist, folgt noch gar nicht daß Böses und Unglück nicht anfänglich waren was sie waren. Jede gelungene Gewaltthat war böse und ein Unglück und allermindesten ein gefährliches Beispiel« SG 240. Ähnlich: zu dem »geheimnisvollen Gesetz der Kompensation«, SG 242 f.). Der genannte Passus lautet:

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»Das Urtheil nach der Größe, in jetzigen Zeiten sehr beliebt. Man kann zwar dabei nicht leugnen, daß rasch und hoch entwickelte politi­ sche Macht herrschender Völker und Einzelner nur zu erkaufen war durch das Leiden von Unzähligen, allein man veredelt das Wesen des Herrschers und seiner Umgebung nach Kräften, und legt in ihn alle möglichen Ahnungen derjenigen Größe und Güte, welche später sich an die Folgen seines Thuns angeknüpft hat. Endlich setzt man voraus, der Anblick des Genius habe verklärend und beglückend auf die von ihm behandelten Völker gewirkt. Mit dem Leiden der Unzähligen aber verfährt man als mit einem ›vorübergehenden‹ Unglück äußerst kühl; man verweist auf die unleugbare Thatsache, daß dauernde Zustände, also nachheriges ›Glück‹, sich überhaupt fast nur dann gebildet haben, wenn schreck­ liche Kämpfe die Machtstellung so oder so entschieden hatten; in der Regel beruht Herkommen und Dasein des Urtheilenden auf so gewonnenen Zuständen und daher seine Nachsicht.«

In den Vorlesungsnotizen zur neueren Geschichte befaßt sich ein Pas­ sus mit der Auflösung des »mittelalterlichen Lehensstaates« »in den zentralisierten modernen Staat« (HF S. 84–91). Der vorletzte Absatz dieses Passus (S. 90) beginnt mit der Erklärung: »Wir lehnen die eudämonistische, sogenannt fortschrittliche Betrachtungsweise ab.« Der letzte Absatz dieses Passus (S. 90 f.) lautet: »Gemein ist die Illusion, als ob das Neue, was einmal, oft unter den furchtbarsten Rechtsbrüchen und Gewalttaten geschehen ist, des­ halb gerechtfertigt oder daß es geschichtlich ›notwendig‹ gewesen sei, weil später ein neuer irgendwie haltbarer und scheinbar neue Rechtsverhältnisse begründender Zustand darauf gebaut worden ist. Die Menschheit hat ganz einfach zu dem Gewaltakt ihre heilen Kräfte herbeigebracht und sich wohl oder übel darauf eingerichtet.«

*** Das Urteil nach der Größe verwechselt Größe mit Macht; und dies darum, weil die ›historischen‹ Folgen einer Handlung bis auf ›uns‹ hin und damit eben ›wir‹ der Urteilsmaßstab sind. Das Urteil nach der Größe urteilt ›historisch‹ in einem Sinn, der seit der Entstehung des

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modernen Geschichtsbewußtseins für ›historisch‹ schlechthin gilt. Ein Zeugnis dafür ist Droysens Begriff der ›historischen Bedeutung‹.67 In der Vorlesung ›Historik oder Methodologie und Enzyklopädie der historischen Wissenschaften‹ behandelte der (nach dem ›Grund­ riß‹ und den späteren Fassungen) letzte, der dritte Teil der ›Methodik‹ die ›Interpretation‹ und davon wieder der letzte Abschnitt (d) ›die Interpretation nach den sittlichen Mächten oder Ideen‹. Dieser höchs­ ten Stufe der Interpretation obliegt es, »die Entwicklungsstufe der Ideen von Staat, Familie, Recht, Kirche usw., so wie sie sich in dem noch vorhandenen Material ausprägt, zu erkennen« (ed. Hübner S. 182 f.; vgl. hier und zum folgenden in der ›Rekonstruktion der ers­ ten vollständigen Fassung der Vorlesungen‹ durch Peter Leyh: S. 204 f.). Bei diesem obersten Zweck historischer Arbeit kommt der eigene methodologische Grundzug Droysens in der folgenden Unter­ scheidung von ›Geschichte‹ und ›Geschäft‹ zur Sprache: »Was der einzelne will und tut und schafft, ist sein Geschäft und auf seine Gegenwart gerichtet durch die Art der Betrachtung, in die wir es stel­ len und auffassen. Erst für die Geschichte ist sein Tun ein Moment in der Kontinuität des Werdens und in diesem Zusammenhang des Wer­ dens... faßt es die historische Forschung« (ed. Hübner S. 183). In dem darauf folgenden Absatz erläutert Droysen diese Unter­ scheidung und damit den Kerngedanken seiner ›Methodologie‹ an einem Beispiel, bei dem das dialektische Verhältnis von Gegenwart und Entwicklung zugleich auch auf das Ineinandergreifen von Politik und Religion ein Licht wirft. Damit, daß sie das überlieferte ›Material‹ in der ›Kontinuität des Werdens‹ betrachtet, erhält die historische Forschung »sich kreuzende Linien, feste Punkte. Wenn jener utraquis­ tische Böhmenkönig Georg Podiebrad sich gegen Rom wehrte, so tat er, was sein königliches Amt und die Umstände ihn zu tun ver­ anlaßten, wie uns die pragmatische Interpretation seiner Regierung und das Verständnis seiner persönlichen Motive erwiesen hat. Aber Gustav Droysen, Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, hg. von Rudolf Hübner, 1936; unveränderte Neuauflagen (hier nach der WBG, 1967), ed. Hübner G. Droysen, Historik. Historisch-kritische Ausgabe von Peter Leyh, 3 Bände 1977/78. G. Droysen, Briefwechsel, hg. v. R. Hübner, 2 Bände, 1929. Dazu vom Verfasser: ›Der Ort der Künste in der Cultur bei Jacob Burckhardt‹, in: Kriza i perspektive filozofije (Mihailu Djuricu za sedamdeseti rodjendan), 1995, S. 181–200. ›Wissenschaft und Geschichte bei Droysen‹, in: Wirklichkeit und Reflexion (Walter Schulz zum 60. Geburtstag), 1973, S. 313–337. (Hier S. 345-364. D. R.). 67

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dieselben Vorgänge zeigen uns, daß er das Recht des Staates gegen die Anmaßung der Kirche verteidigte, daß, was er vertrat und mit Bewußtsein vertrat, der erste akatholische christliche Staat war, daß er damit zugleich die nationale Selbständigkeit Böhmens gründete. Die Idee des Staates, der Kirche, der Nation gewannen durch ihn völlig neue Gestalt, erstiegen eine neue Stufe der Entwicklung, die dann mit Luther sich über die ganze abendländische Welt verbreitete. Erst in diesem Zusammenhang, in dieser Kontinuität verstehen wir ganz, was König Georgs Regierung geschichtlich bedeutet. In diesen beiden Linien, der seiner Gegenwart und seiner Gleichzeitigkeit und der der weiteren Gestaltung von Staat, Nation, Kirche, in der Kreuzung dieser beiden Linien, finden wir den historischen Punkt für diesen König. Freilich sagt man dagegen: das steht ja gar nicht in den Quellen, wie will man dem Podiebrad so große Kombinationen andichten? Er hat sich nur eben gegen seine Feinde wehren wollen, wie es der Tag gab. Aber indem er die nationale, die utraquistische Stimmung der Böhmen aufrief und benutzen konnte, um sich zu wehren, zeigt sich, daß diese Stimmungen, diese Ideen da waren und wirkten; und Podiebrads historische Bedeutung ist nicht in dem, was er von heut auf morgen in seinen Geschäften getan, sondern wie sein Tun in den Zusammenhang jener großen Entwicklungen eingriff. Wir wollen nicht seine persönliche Bekanntschaft machen, sondern seine historische Bedeutung erforschen und klarstellen.« Die hermeneutische Aufgabe ›historischer Forschung‹ hat dem­ gemäß eine doppelte ›Fassung‹: Entweder »wir beobachten« die vor­ liegenden »Materialien« daraufhin, »wie sie in jener Gegenwart und bis zu ihr hin sich gestaltet zeigen«, um damit »das Maß für jeden einzelnen Vorgang in diesem Volk, in dieser Zeit« zu gewinnen. »Oder wir suchen und fassen in dem Material über den damaligen Zustand die darin hervortretenden Momente der fortschreitenden Bewegung und setzen sie in Beziehung zu dem, wohin sie geführt haben und was daraus geworden ist. Damit gewinnen wir, was die Bewegung in jener Zeit, das Streben und Ringen der Menschen damals, ihr Wettkampf, ihre Siege und ihre Niederlagen bedeutet« (S. 184). Wir können hier offen lassen, ob dieses Entweder-Oder nicht eher verbindend als scheidend gemeint ist. In jedem Fall besteht zwi­ schen beiden ›Fassungen‹ sowohl die Analogie als auch die Relation des die ›Gegenwart‹ übergreifenden Entwicklungsstromes. Und auf jeden Fall liegt das Maßstab setzende Gewicht in der ›fortschreiten­ den Bewegung‹.

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Droysen weitet das Beispiel Podiebrads in seiner Tragweite aus, indem er den dort schon genannten Orientierungspunkt ›Luther‹ mit zwei – ›materiell‹ ganz anderen, strukturell aber ähnlichen – Bei­ spielen verbindet: »Der Gedanke der kirchlichen Reformation, wie ihn Luther ausspricht, der nationale Gedanke, der die Hellenen in der Zeit des Themistokles zum erstenmal politisch einigt, der Gedanke des Staates, den Richelieu zum erstenmal in seiner ganzen Schärfe und Reinheit durchzuführen sucht, das sind in ihrer Zeit die motorischen Momente: es tut da Luther in der Sphäre des kirchlichen Lebens, The­ mistokles in der des nationalen, Richelieu in der des staatlichen Lebens den weiterführenden Schritt« (S. 185). In dem darauf folgenden Absatz präzisiert Droysen den damit skizzierten Kerngedanken seiner ›Methodologie‹: »Solcher Gedanke, der Gedankenkomplex, den die Interpretation erfaßt und verfolgt, ist der geschichtlichen Betrachtung dann das Wesentliche und Bezeich­ nende für jenen Mann, jenes Volk, jene Zeit. Sie sieht in diesem Gedanken die bewegende Macht jenes Sachverlaufs, die geschichtli­ che Wahrheit desselben« (ebd.). Im Unterschied zu dem, was eine Sache – eine Tat, ein Werk, ein Wort – in ihrer Gegenwart bedeuten, bemißt sich die ›historische Bedeutung‹ nach deren Wirkung im Fortgang des historischen Pro­ zesses. Wenn auch das moralische Pathos Droysens späteren Zeiten fremd geworden ist, die generelle Intention dieses Gedankens der ›historischen Bedeutung‹ hat eine Fraglosigkeit gewonnen, die bis in den Trivialgebrauch reicht. Einer Ansprache, einem Beschluß, einer Begebenheit und auch einem Werk wird Größe zugesprochen, indem ihm historische Bedeutung zugesprochen wird. An dem nachantik-europäischen Gang ›unserer‹ Geschichte, also – zuletzt – an ›uns‹ gemessen, stellt die Endzeit des griechi­ schen Geschichtsgangs seit Alexander eine eigene große und von der (eigentümlich in sich abgeschlossenen) ›klassischen‹ Epoche zu unterscheidende und insofern eigenständige Geschichts-Epoche dar. Die epochale Eigenständigkeit tritt hier also gerade dadurch hervor, daß der Interpret das Kontinuum des historischen Prozesses bis auf uns hin zu seinem Horizont macht. Es ist diese Entdeckung des ›Hel­ lenismus‹, die in dem Lebenswerk Droysens, der mit Aischylos- und Aristophanes-Übersetzungen begonnen hatte, zu bleibendem Ruhm gelangt ist. Sie ist mit Burckhardts späterer Entdeckung der italieni­ schen Renaissance als einer eigenen – vom europäischen Mittelalter ebenso wie von der eigentlichen ›Neuzeit‹ zu unterscheidenden –

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Geschichts-Epoche vergleichbar. Was aber neben der ›historischen‹ Ähnlichkeit den ›strukturellen‹ Unterschied ausmacht, das tritt bei einer auf den ersten Blick belanglos erscheinenden Gelegenheit her­ vor, die ›materiell‹ dem Beginn des ›Hellenismus‹ zugehört, also ihrem Inhalt nach mit Burckhardts Zuwendung zur Cultur und Kunst der Renaissance nichts zu tun hat: Burckhardts Verteidigung des Demosthenes gegen das Urteil der ›historischen Bedeutung‹. Während Burckhardts Berliner Studienzeit mußte sich Droysen mit seinem Programm einer »wahrhaft historischen Ansicht« noch mit der »vorherrschenden Auffassung des klassischen Altertums« im Widerstreit sehen.68 Dieser Ansicht wird er bei seiner Darstellung des Übergangs zwischen ›Klassik‹ und Hellenismus in seinem Berliner Kolleg vom Winter 1839/40 (Burckhardts Studienbeginn in Berlin) nicht weniger eindrücklich entgegengetreten sein als in jenem Vorwort zu dem letzten der drei Bände seiner Geschichte des späteren Grie­ chentums (von 1843), in dem man das geheime Verbindungsglied zwischen seinen damaligen Forschungen zur antiken Geschichte und den späteren zur preußischen Geschichte sehen kann. Das in seiner Darstellung der Alexanderzeit und des Hellenismus maßgebliche neue Konzept von Weltgeschichte und Weltgeschichtsschreibung versinnbildlicht Droysen in diesem (nur für einen kleinen Kreis ›wissenschaftlicher Freunde‹ geschriebenen) Vorwort in einer Kritik der humanistischen Bewunderung des Demosthenes. Diese Vorliebe verkenne den Wandel der historischen ›Ideen‹, die der makedonischen Monarchie das ›Recht der Geschichte‹ gegenüber der alten Polis Zu Burckhardt und Droysen: Kaegi II, S. 36–48, VI, S. 114–116, VII S. 91f. Droysen war seit 1833 an der Berliner Universität. Burckhardt hörte in seinem ersten Berliner Semester, im Winter 1839/40, (neben dem Kunsthistoriker Franz Kugler und einer Vorlesung August Boeckhs über griechische Altertümer) ein Kolleg des damals Ein­ unddreißigjährigen über alte Geschichte. Von dem tiefen Eindruck dieser Vorlesung zeugt Burckhardts – freilich bald wieder aufgegebener – Beschluß, »Vorderasien« zu seinem zentralen Studienfach zu machen; von dem damaligen Verhältnis zu Droysen selbst zeugt ein Briefbericht: »Bei Droysen bin ich, obschon nicht empfohlen, doch sehr gut aufgenommen worden und besuche und berate ihn nun öfters«. (Brief vom 15. Juni 1840; Kaegi II, S. 37.) Droysen wird damals am zweiten Band seiner Geschichte des Hellenismus, gearbeitet haben, der 1842 erschien. Die Geschichte Alex­ anders des Großen war 1836 erschienen. Zum Sommer 1840 erhielt Droysen einen Ruf nach Kiel. 1859 kam er nach Berlin zurück. Hier wurde die Geschichte Preußens zu seinem hauptsächlichen Forschungsgebiet. Dieses neue Arbeitsfeld verband er mit der alten Neigung zur ›Systematik‹: Zwischen 1857 und 1882/83 hielt er siebzehnmal das Kolleg, das er kurz ›Historik‹, ausführlicher, im Anklang an das Vorbild Boeckhs ›Methodologie und Enzyklopädie der historischen Wissenschaften‹ nannte. 68

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geben, die der große Redner verzweifelt und zuletzt vergeblich gegen Philipp II. zu retten suchte. Den Angelpunkt dieses Beispiels hatte Droysen schon neun Jahre früher, in einem Brief vom 1. September 1834 an den Bonner Gräzis­ ten Friedrich Gottlieb Welcker genannt. Dieser hatte ihm von dem großen Eindruck des ›Alexander‹-Buchs geschrieben. »Außer dem hohen Begriffe von dem Helden selbst« habe ihn »nichts mehr beschäftigt als Ihre Beurteilung der Demosthenischen Politik«. Im Gedanken daran schreibt Droysen: »Sie wissen schon, daß ich Vereh­ rer der Bewegung und des Vorwärts bin; Cäsar, nicht Cato, Alexander und nicht Demosthenes ist meine Passion. Alle Tugend und Moralität und Privattrefflichkeit gebe ich gern den Männern der Hemmung hin, die Gedanken der Zeit aber sind nicht bei ihnen. Weder Cato noch Demosthenes begreifen mehr die Zeit, die Entwicklung, den unauf­ haltsamen Fortschritt, und der Historiker, meine ich, hat die Pflicht, diese Gedanken einer Zeit als den Gesichtspunkt zu wählen, um von dort aus das andere alles, denn es gipfelt sich dorthin, zu über­ schauen.«69 Aus einer der Vorlesungen Burckhardts über alte Geschichte in den Jahren um 1870 stammt die folgende Äußerung über Demos­ thenes, die der Byzantinist Heinrich Gelzer aus seinen Basler Vorle­ sungsnachschriften mitgeteilt hat: »Wenn ich gesagt habe, daß Philipp von Makedonien der Mann seiner Zeit und seine Politik die der Zukunft war, so bin ich weit entfernt, Demosthenes auch nur den Schatten eines Vorwurfs zu machen, weil er sein politischer Gegner war. Demosthenes war noch ein echter Bürger der sterbenden Polis. Monarchie und Polisgedanke lassen sich aber so wenig vereinigen als Feuer und Wasser. Jeder dieser Faktoren kann nur siegen oder sterben. Demosthenes war Athener, mit Leib und Seele eingespannt in sein heimatliches Gemeinwesen, und als Bürger hat er seinen Mann voll gestanden. Das Altertum hatte Bürger, wie es heute keine mehr gibt. Ein solcher war Demosthenes. Darum haben in der Franzosenzeit Niebuhr und Jacobs sich in Demosthenes versenkt und diesen übersetzt; durch nichts vermochten sie besser wahre vaterländische Begeisterung dem deutschen Volke einzupflan­ zen. Droysen sagt: ›Die Geschichte kennt wenig so traurige Gestalten Das Stück aus dem Briefwechsel Droysens mit Welcker vom 1. September 1834 (»Sie wissen schon...«): Briefwechsel, Bd. I, 1929, S. 65 und 66. Vgl. zu dem Zitat: Karl Christ in dem Droysenabschnitt seines Buches Von Gibon zu Rostovtzeff. Leben und Werk führender Althistoriker der Neuzeit, 1972, S. 54–56. 69

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als den großen Redner von Athen; er mißkannte seine Zeit, sein Volk, seine Gegner und sich selbst. Mit dem Eigensinn der Ohnmacht und Gewohnheit ließ er selbst mit dem vollkommenen Siege Makedoniens nach dem Beginn einer neuen, die Welt umgestaltenden Ära seine alten Pläne und Hoffnungen nicht, die mit ihm sich selbst überlebt hatten.‹ Hier macht niemand eine traurigere Figur als der vir eruditis­ simus Johann Gustav Droysen selbst. Ob Demosthenes den Philipp wissentlich falsch taxierte, ist ganz gleichgültig. Es gibt im Völkerleben ganz desperate Momente, wo die Wahrheit zu sagen ein patriotisches Verbrechen ist. Hätte sich Demosthenes hingestellt und gesagt: ›Ihr andres Athenaioi seht, Ihr seid politisch und moralisch vergeldsagt [in Konkurs geraten], Eure Republik ist ein leros [eine Schwatzbude], heute ist es das monarchische Prinzip, das vom Zeitgeist getragen wird. Ordnet Euch als verständige Leute ihm unter und macht dem großen König Eure Reverenz‹, so stünde er gebrandmarkt vor der Nachwelt, wie Aeschines, Philokrates und die ganze verworfene Gesellschaft. Die Minorität, ob sie siegt oder stirbt, sie macht allezeit die Weltge­ schichte. Das eben erfüllt die Menschenbrust mit Hochgefühl, wenn wir sehen, wie eine hochangelegte Persönlichkeit, ein großer Charakter gegen seine Zeit, gegen die unabänderliche Schicksalsordnung der Geschichtsentwicklung dem Titanen gleich sich stemmt und lieber untergeht als seine Überzeugungen verleugnet.«70

Es wäre falsch zu sagen, »Droysen: ein Bewunderer der Macht, Burckhardt: ein Verächter der Macht«. Die Potenz des ›Staates‹ wird von Burckhardt niemals einer der beiden anderen Geschichtspoten­ zen untergeordnet. Ohne stabilisierend-schützende politische Macht gelangte die culturelle ›Geselligkeit‹ ebenso wie die ›metaphysische‹ Orientierung zu keinem, auch keinem vorübergehenden Bestand. Wie kann man Burckhardt unterstellen, er habe mit der Feststellung, die Macht sei »an sich böse«, sagen wollen, Macht sei als solche böse? Die Macht ist böse, wenn sie »an sich«, wenn sie um ihrer selbst willen auftritt. »Es ist thatsächlich noch gar nie Macht gegründet worden ohne Verbre­ chen« (SG 401).

Der Passus aus der Nachschrift einer Vorlesung Burckhardts um 1870 »Wenn ich gesagt habe...« ist hier nach den Ausgewählten kleinen Schriften Heinrich Gelzers (1907, S. 326–328) zitiert, mit Berücksichtigung einer Korrektur (›Geschichte‹ statt ›Gesell­ schaft‹) und der ›Übersetzung‹ zweier Wendungen (einer schweizerischen und einer griechischen) durch Werner Kaegi, der diesen Passus zweimal leicht gekürzt zitiert: II, 44 f., VII, 91 f. 70

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›Die falsche Größe‹

Diese Zusatznotiz Burckhardts zu seinem Verweis auf »die merkwür­ dige Dispensation von dem gewöhnlichen Sittengesetz«, wo es um »die Gesamtheit« geht, ist nur die Hälfte seines Urteils über die Macht. Die andere Hälfte jener Zusatznotiz lautet: »Und doch entwickeln sich die wichtigsten materiellen und geisti­ gen Besitztümer der Nationen nur an einem durch Macht gesicher­ ten Dasein«.

Nicht ›die Macht‹, sondern die ›Monopolisierung der Macht‹ greift Burckhardt an, wenn er zu Beginn der Einleitung und in der Mitte des Schlußabschnitts dieses Zyklus über ›historische Größe‹ das Risiko, »Macht für Größe« zu nehmen, die »Schwierigkeit, Größe zu unter­ scheiden von bloßer Macht«, als den Angelpunkt der Gefahr im Umgang mit Größe herausstellt, der Gefahr der Zuwendung nicht weniger als der Abwendung. Mit einer (wieder gestrichenen) Notiz: »Zur Monopolisirung der Macht:« (SG 454) hatte Burckhardt ver­ mutlich eine Kontrastbemerkung zu seinem Lob Wilhelms III. von Oranien einleiten wollen. Innerhalb eines Passus über die Bestim­ mung der Größe nach dem Maßstab des »Gesamtwillens« schreibt Burckhardt: »Eine secundäre Rechtfertigung des Verbrechens der gro­ ßen Individuen [neben der primären des ›Gesamtwillens‹] scheint dann darin zu liegen, daß durch dieselben den Verbrechen zahlloser Andrer ein Ende gemacht wird« (SG S. 402, Z. 14–16). Dieser Bemer­ kung hat er später noch die Notiz hinzugefügt: »Monopolisirung des Verbrechens« (Z. 39). Und mit Bezug auf diesen Passus schreibt er in den Übersichtsblättern: »Monopolisirung des Bösen« (SG 427, Z. 20).

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Erinnerung an Wolfgang Schadewaldt (1974)71 Am vergangenen Sonntag ist Wolfgang Schadewaldt gestorben. Was Schadewaldts Arbeit für seine Wissenschaft, die Philologie, bedeutet, das wird innerhalb und außerhalb Tübingens aus diesem Anlaß von den Schülern, Freunden und Lesern bedacht werden. Ich möchte hier auf einiges verweisen, wodurch die Arbeit Schadewaldts auch für Nichtphilologen eine Bedeutung hat, die man epochemachend nennen kann. Zuerst: Schadewaldts neue Ilias-Deutung; das zweite: seine Erkenntnis-Praxis (seine Konzeption von Wissenschaft), das dritte: sein Begriff der Übersetzung, und das vierte: seine Korrektur an dem uns gewohnten Begriff des »Humanismus«. (1) Schadewaldts erste Schriften sind Sophokles und Pindar gewidmet. 1939 erschien die erste Auflage des Buches, das den Titel ›Ilias-Studien‹ hat. Darüber zuerst ein paar Worte. Die Ilias-Studien von Schadewaldt beenden und überwinden (parallel zu den Homer­ interpretationen seines Lehrers und Freundes Karl Reinhardt) den bis dahin gültigen Begriff des antiken Epos und damit zugleich eine ganze Epoche der Literaturwissenschaft (wie lange auch immer es dauern mag, bis solche Veränderungen erkannt werden). Diese Epo­ che begann 1795 mit den ›Prolegomena ad Homerum‹ von Friedrich August Wolf und dessen Grundsatz, die überlieferten Texte histo­ risch-kritisch auf ihre Entstehung hin zu analysieren. Für Wolf und die ihm folgende wissenschaftliche Philologie bestand die Methode dieser analytischen Erforschung in der Hinterfragung des vorliegen­ den Textes auf die Basis seiner Verursachung hin, d.h. in der Frage: wer hat hier was hervorgebracht? ›Analyse‹ – das heißt: Genealogie: ich muß erforschen, aus was für ganz verschiedenen Quellen dieses Endprodukt, das man ›Ilias‹ nennt, eigentlich entstanden ist. (Fr. 71 Bisher unveröffentlicht. Vorgetragen in der Vorlesung vom WS 1974/75 ›Zur Geschichte der Ästhetik‹ anläßlich des Todes von Wolfgang Schadewaldt am 10. November 1974.

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A. Wolf ist mit diesen Homer-Forschungen zum Inaugurator des historisch-kritischen Denkens in den Sprach- und Geschichtswissen­ schaften geworden.) Schadewaldts Bedeutung besteht darin, daß er den wissenschaft­ lichen Anspruch dieses Ansatzes übernimmt, seine Ausführung aber selber noch hinterfragt. Er übernimmt den Anspruch des Analytikers, sich an die Sache selbst zu halten, sich nicht an die Gewohnheiten und Traditionen der eigenen Umgebung zu binden. Schadewaldt sieht aber, daß die analytische Eposerforschung von einem selber gar nicht sachgemäßen Begriff der epischen Dichtung ausgeht. Der Ansatzpunkt jener Forschungsarbeit (die Genese der ver­ schiedenen Ilias-Ursprünge) gründet sich auf zwei Voraussetzungen: erstens, daß der überlieferte Text nicht einheitlich sein kann; und zweitens, daß er auch nicht einheitlich zu sein braucht. Er kann nicht einheitlich sein, weil ganz verschiedene Handlun­ gen durcheinander laufen. Um nur den allgemeinsten Widerspruch zu nennen: Am Anfang heißt es, hier solle der »Zorn des Achill« besungen werden, und dann folgen viele Gesänge (fast die Hälfte des Gesamtbestandes), in denen von Achill überhaupt keine Rede ist. Der Gesamtkomplex der 24 Gesänge besteht aus mehreren in sich selbständigen Handlungseinheiten, – ein Tatbestand, der sich nach dieser Voraussetzung nur erklären läßt, wenn man ihn genetisch auf ältere Einzeldichtungen zurückführt. Und zweitens (die andere Voraussetzung): ein solches großes Epos braucht auch gar nicht einheitlich zu sein. Man kann vom Epos nicht einen Zusammenhang der Teile verlangen, wie man ihn zu Recht vom Drama fordert. Ein Epos besteht in einer gewissen »Selbständigkeit der Teile«. Ein durchgehender, kontinuierlicher, gesetzmäßiger Zusammenhang der Bestandteile braucht hier nicht gesucht zu werden, – so wie ja auch das Ende des überlieferten Textes ein Abschnitt mitten in dem Leben des Haupthelden, Achill, und mitten in dem Kampf um Troja ist, in keiner Weise also ein einheitstiftendes Ziel des erzählten Geschehens zu erkennen ist. Diese beiden Voraussetzungen hat Schadewaldt in Frage gestellt. Zuerst die zweite: Der eigene Ansatz Schadewaldts bei seiner IliasArbeit läßt sich in die Frage fassen: kann ich denn im Ernst davon ausgehen, daß eine Dichtung, die als Dichtung so ungeheuer gewirkt hat – erst in der Begründung einer ganzen Kultur, der griechischen, und dann in ihrer Nachwirkung, als Vorbild späterer Dichter, von Vergil bis zu Goethe, kann ich denn da im Ernst davon ausgehen,

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daß es sich hier nur um eine späte Kompilation ganz verschiedener Ur-Dichter handelt, daß also, mit einem Wort gesagt, der Aufbau dieses Textes etwas Sekundäres, wenn nicht gar etwas Zufälliges ist? Muß ich den vorliegenden Aufbau des Ganzen nicht als genauso wesentlich, genauso ursprünglich ansehen wie jede einzelne Heldenund Götterperson, jeden einzelnen Vorgang? Die Frage also: muß ein Text wie die Ilias nicht in einem konstitutiven, einem ursprünglichen Sinn einheitlich sein? Mit dieser Frage läßt sich dann weiterkommen, wenn man die andere, die zuerst genannte Voraussetzung der analytischen Methode ebenfalls in Frage stellt, wenn man nämlich fragt: ist denn der Umstand, daß die Ilias keine Handlungs-Einheit hat, schon ein Beweis dafür, daß sie überhaupt keine konstitutive Einheit, keine grundlegende, jedem Gesang, jedem Vers und auch der Abfolge von Vers zu Vers, von Gesang zu Gesang zugrundeliegende Einheit haben könnte? Schadewaldts Ergebnis: mit der Ausnahme eines einzigen Gesangs (dem 9.) läßt sich der überlieferte Iliastext als von einem Autor so entworfen und ausgeführt, wie er vorliegt, erklären. Mit der sachlichen Strenge, die von der analytischen Methode verlangt wird, läßt sich an jedem Gleichnis, an jedem Handlungsteil, an jedem Ausspruch zeigen, warum er im Ganzen und an dieser Stelle nötig ist. Ich muß mich nur von diesem Werk selber erst darüber belehren lassen, was hier als einheitsbildend anzusehen ist. Die Einheit muß ja nicht die eines Handlungsablaufes, nicht die einer dramatischen Zuspitzung und einer dramatischen Lösung sein. Es kann ja auch die einer bestimmten und nur in der vorliegenden Vielfalt und den vorliegenden Veränderungen – z.B. denen zwischen Achill und Patroklos oder denen zwischen Achill und Hektor – realisierbaren Welterkenntnis sein. Gesetzt, die Dichtung sollte – wie ihr Herodot das später zusprach – den Griechen zeigen, wer ihre Götter sind, dann konnte sie (an Stelle dessen, was anderswo der Theologie oblag) einen Zusam­ menhang, einen Aufbau, eine Architektur von Situationen darstellen, die in dieser Architektur eine ganz bestimmte Weltorientierung rea­ lisieren. Nur eine Illustration dazu. Wer – etwa als Germanist – noch auf Emil Staigers ›Grundbegriffe der Poetik‹ stößt, der kann sehen, daß die Theorie von der epischen »Selbständigkeit der Teile« sich ganz besonders von dem Schluß des Ilias-Textes inspiriert fühlt. Die überlieferte Dichtung scheint »mitten drin« abzubrechen. Was ist das

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denn aber für ein Abbruch? Vor das Grab des Patroklos hat der noch immer zornentbrannte Achill den Leichnam Hektors geschleift. Apoll verhütet, daß Achill sich an dem Leichnam vergreift. Eine Waffenruhe tritt ein. Achill empfängt den Vater seines Todfeindes – und trauert mit ihm, als hätte er in Hektor einen nahen Verwandten verloren. Der Gesang schließt mit der Beschreibung des Trauergesangs und des Festmahls derer, die dem Gestorbenen zugehören.- Daß Achill in Troja sterben wird, das weiß jeder, der die Dichtung hört, von Anfang an. Auch daß die Griechen zuletzt den Sieg erringen werden. Die Dichtung schließt, indem sie diese Kenntnis auf das Schicksal des Menschen, auf das für ihn Bestimmte und das – in der Versöhnung und in dem Gesang – von ihm Geforderte hin deutet. Eine solche architektonische Einheit verlangt freilich, mit dem gerade Ernst zu machen, was uns am schwersten fällt: mit dem mythischen Gehalt dieser Dichtung. Das führt aber schon auf das Problem der Übersetzung, worauf ich hier im 3. Punkt verweisen möchte. Zuvor der 2. Punkt: (2) Schadewaldts Erkenntnis-Praxis. Schadewaldt hat sich mit Entschiedenheit seiner Wissenschaft zugehörig gefühlt (so etwa auch stets seinen Stolz, Wilamowitz-Schüler gewesen zu sein, bekräftigt). Was bedeutet dann seine ständige Beschäftigung mit Goethe, also mit dem Dichter, der für unsere, Schadewaldts eigene Sprache ein Grund und ein Gipfel ist? Die Antwort lautet: diese Beschäftigung hatte die gleiche Bedeutung wie sein ständiger Umgang mit dem gegenwärti­ gen Theater, also etwa seiner Freundschaft mit Gustav Rudolf Sellner, mit Carl Orff, mit Wieland Wagner. Hier, in der Beschäftigung mit der gegenwärtigen Dichtung, im Umgang mit dem Theater sah er und hörte er das, was man das Element seiner Griechenstudien nennen könnte: kein Bildungsgut, sondern ein Teil der Wirklichkeit zu sein. Die Wissenschaft, die Arbeit seit Fr. A. Wolf und Wilamowitz nahm er auf und nahm er an: als ein Mittel zum Zweck, ein Mittel zur Erkenntnis. Sie war ihm aber nicht der Sinn des Erkennens, für den die Gegenstände nur noch Mittel sind, – so wenig, wie er auf die Idee gekommen wäre, in der optimalen Informationstauglichkeit den Sinn der Sprache zu suchen. Dann hätte er nicht die Errichtung des Goethewörterbuches zu einem Hauptinteresse seiner Lebensarbeit gemacht, die Errichtung also einer Hilfe dafür, daß etwas von dem Reichtum unserer Sprache (so wie das im Verhältnis der Franzosen zur Tradition ihrer großen Dichtung selbstverständlich ist) auch zur Sprache, zu unserer Umgangssprache kommen kann.

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An Beispielen wie Goethe oder Wagner (über den er drei Auf­ sätze geschrieben hat, die zum Besten gehören, was es über Wagner gibt), – an solchen Beispielen konkretisiert sich das von ihm nun auch in der Wissenschaft praktizierte Verhältnis zur ›Antike‹, das man die Überwindung der Alternative Historisierung oder Aktualisierung nennen könnte. Das führt zum 3. meiner Punkte: (3) Schadewaldts Praxis und Begriff des Übersetzens. Ein Thea­ termann wie Sellner verstand sich darum so gut mit Schadewaldt, weil er sah: hier sind Übersetzungen, mit denen sich Sophokles aufführen läßt. Wer von Ihnen die Odysseus-Übersetzung Schade­ waldts kennt, wird das Entsprechende für das Epos bemerkt haben: da ist der Klassizismus, die Märchenstimmung weg. – so wenig das für uns Befremdliche, das für uns Unheimliche einer solchen Dichtung vertuscht wäre. Es ist aber zugleich das freigelegt, was uns direkt angehen kann: die Einsicht: das sind ja wir, wir Menschen. Und die Übersetzung vermittelt etwas von dem, in der Erinnerung an die alten ›Heroen‹, das alte Mykene steckende Aufbruchsgefühl, dem in der Sprache, in der Baustruktur dieser Dichtung realisierten Zusammenhang mit dem Anfang einer Weltepoche, – der ja auch die bildende Kunst dieses ›geometrischen‹ Zeitalters kennzeichnet, mit Schadewaldts eigener Homer-Erklärung gesprochen: etwas von dem Beginn des Logos. Dieses von antiquarischer Historisierung wie von künstlicher Aktualisierung gleich weit entfernte Prinzip der Übersetzung hat Schadewaldt in einem Aufsatz über ›Hölderlins Übersetzung des Sophokles‹ herausgestellt. Hölderlins Problem: wie mach’ ich uns heutigen Deutschen gerade das Griechische klar? Seine Antwort: ich kann einerseits gar nicht streng genug, gar nicht wörtlich genug übersetzen; ich muß andererseits aber auch übersetzen! Wenn ich den Namen Zeus mit ›Zeus‹ wiedergebe, habe ich für den deutschen Hörer nichts wiedergegeben. So übersetzt Hölderlin ›Zeus‹ an manchen Stellen mit »Vater der Zeit« und begründet das (in den ›Anmerkun­ gen zur Antigone‹): um den Namen »unserer Vorstellungsart mehr anzunähern«. »Wir müssen die Mythe nemlich überall beweisbarer darstellen.« Erst die »Transponierung« – so sagt Schadewaldt in dem Aufsatz über Hölderlin – kann das Griechische »auch für uns – echt bewahren« (›Antike und Gegenwart‹, 158).

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Einen Absatz, der an diese Bemerkung anschließt, möcht’ ich im ganzen vorlesen: »In diesem ihrem an die Aussage gebundenen Nachsprechen und Neusprechen des tragischen Schriftworts der Griechen steht die Über­ setzung Hölderlins allen andern Übersetzungen aus dem Sophokles, die wir im Deutschen haben, als eine Leistung eigenen Ranges gegen­ über. Sie mag in ihrer sehr weitgehenden sprachlichen Unkorrektheit ... auch weitgehend nicht an den genauen Wortlaut des Sophokles heran­ gelangen. Allein in jener Gesinnung, aus der die Übersetzung Hölder­ lins gemacht ist, ist sie wirklich zur Sphäre des Sophokles hingelangt, und da Gesinnung, wie wir dies Wort hier verstehen wollen, sowohl Erkenntnis in sich faßt, wie auch die Gestaltung von innen bedingt und steuert, ist seine Übersetzung auf den rechten Klang und den rechten Ton, Grundton gestimmt – Ton, Klang als das eigentliche Element des Worts wie auch des Sinns verstanden; es macht sich bis in die letzte Verästelung der Sprache hinein bemerkbar. Jene andern Übersetzungen aus dem Sophokles dagegen, vielfach rechtschaffene, ernst bemühte Leistungen, mögen in ihrer größeren sprachlichen Richtigkeit uns besser das vermitteln, was bei Sophokles geredet wird und im konkreten Weltverstand gemeint ist, doch transponieren auch sie, und zwar im ganzen. Das Entscheidende dabei: die eigentliche Sphäre des Sophokles, der religiöse Grund seiner Tragik, bleibt ihnen als Kindern ihres Jahrhunderts fast durchweg verschlossen. Und indem sie, eben im Sinne ihrer Zeit, die Tragik des Sophokles, sei es aufkläre­ risch-philanthropisch moralisieren, sei es klassizistisch humanisieren oder auf die personal individuelle Konfliktstragik des neunzehnten Jahrhunderts hin verengen, oder sie schließlich, neuromantisch, bis in ein Letztes der Innerlichkeit hinein psychologisieren und dynami­ sieren – so übertragen diese Übersetzungen in aller Richtigkeit im einzelnen die hohe notwendige Geschehenswelt des Dichters in eine ihm wesensfremde Atmosphäre. Und das zieht nach sich, daß auch die gesamte Perspektive: Geschehen, Handlung, Charaktere in ihrer Eigenart wie ihrem Zusammen- und Gegeneinanderstehen, die Har­ monie des formalen Gefüges verbogen und verschoben wird. Zumal das tragische Wort des Sophokles ist dann nicht mehr faktisches Wort, das, ›mehr Zusammenhang als ausgesprochen-, schicksalsweise, vom Anfang bis zu Ende gehet‹, sondern mit mehr oder weniger Ausdruck geredetes, mehr oder weniger geschmücktes Wort. Es gilt für die vier Haupttypen der Übersetzungen des Sophokles, die die letzten hundertundfünfzig Jahre gesehen haben: die klassizistische ausgeglichene (mit ihrer Tendenz, den Ernst der Tragik zu verschönen), die schulmeisterlich gewissenhafte (die gar zu oft zu bürgerlich haus­

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backen ausfällt), die sprachmeisterlich ziselierende (deren zugeordnete Gefahr die Manieriertheit ist), die ›frische‹, aktualisierende (mit ihrem Ausgleiten ins Alltägliche).« (158f.)

Schadewaldt demonstriert das, indem er verschiedene Übersetzungen einer gleichen Stelle gegenüberstellt (S. 159-164). Das Fazit aus die­ sen Beispielen ist ein Bekenntnis Schadewaldts zu seinem eigenen Prinzip des Übersetzens. (In den letzten Jahren hat er, wie berichtet wird, seine Übersetzung der Ilias noch abschließen können.) »Der Überblick mag als ganzer nachdenklich stimmen: wie vielfältig sich in den Facetten der Übersetzungen das Eine und gleiche Wort des Dichters bricht. Im besonderen könnte eine eingehende vergleichende Analyse vielfachen Aufschluß geben. Wir beschränken uns auf den Hinweis darauf, wie die Übersetzung Hölderlins von den andern, in sich nach Art und Rang verschiedenen Versuchen zunächst vor allem durch das Negative hervorsticht, daß ihr Ausdruck so viel weniger will, sucht und sich anmaßt als bei jenen andern. Hölderlin bevorzugt fern vom Pathos hoher Worte und geschraubter oder geschwollener Vorstellungen das einfache Wort, den eigentlichen Ausdruck, dem er indessen, rein wie er ihn hinstellt, die volle Kraft des Sagens abgewinnt. Sodann keine Spur bei ihm von jenen pseudopoetischen Emblemen, mit denen die übliche Übersetzersprache die Farbe des ›Dichterischen‹ geben will und dabei doch nur rhetorisiert. Bei Hölderlin der Verzicht auf jeden – sprachlichen oder bühnenmäßigen – Effekt und somit nirgends bei ihm ein falscher Gestus, sondern die große gewachsene Gebärde. Und, seltsam genug, bei allem, was er der Fügung des deutschen Worts und Satzes an Kühnem, Neuem abverlangt, die um soviel größere Deutlichkeit des Ausdrucks. Sieht man ihn auf dem Hintergrund jener Andern, ist schließlich er der so viel Einfachere. Vor allem, einzig das Wort Hölderlins ist unmittelbares, aktives Wort. In ihm allein gewinnt die Sprache jene Realität, auf Grund derer er selbst mit Recht den Glauben äußern durfte: ›gegen die exzentrische Begeisterung geschrieben zu haben und so die griechische Einfalt erreicht‹.« (164f.)

(4) Mit einem Beispiel aus Schadewaldts Übersetzungen möcht’ ich zum Schluß den vierten Punkt illustrieren: Schadewaldts Korrektur des modernen Humanismus-Gedankens. Schadewaldt hat in Werner Jaeger, dem Autor des großen Wer­ kes ›Paideia‹ den Versuch einer Erneuerung des humanistischen Antiken-Ideals in den zwanziger und dreißiger Jahren miterlebt: den Versuch also, einem älteren christlichen und dem modernen

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technologischen Erziehungsideal so etwas wie eine Norm des großen Menschentums entgegenzustellen. Diesen Intentionen gegenüber gehört Schadewaldt (zusammen mit Karl Reinhardt) zu den Philolo­ gen, die die Differenz des griechischen Begriffs vom Menschen von dem neuzeitlichen Humanismus klar gemacht haben: Prometheus hat das Stigma der Größe erkauft um den Preis eines Fluches. Der Mensch kommt für die Griechen dem, was er selbst als das höchste Glück erfährt in griechischer Redeweise: dem Theios, dem Göttlichen, zuweilen nahe, aber er steht ihm gerade dann am fernsten, wenn er glaubt, es selber sein zu können. (Man könnte das die tragische Erkenntnis der Griechen nennen, in Ödipus zum Thema gemacht.) Der Mensch hat für die Griechen sein Wesen darin, der Sterbliche zu sein. In einer kleinen Schrift von 1965, also aus dem Jahre seines 65. Geburtstages, ›Der Gott von Delphi und die Humanitätsidee‹, hat Schadewaldt das durch einige Hinweise auf die Bedeutung des Apoll für das gnothi seauton, das erkenne dich, der Griechen erläutert. Daraus zum Schluß vier Pindarstellen in Schadewaldts Übersetzung (S. 22-24). Zunächst Schadewaldts Einleitung: »Ein Dichter, der tief von Delphi her bestimmt ist, ist Pindar. Sein Blick, dessen Geschäft vor allem das Preisen der großen Siege in den Wettspielen ist, ruht bewundernd und begeistert auf den Höhen der Menschlichkeit, den Höhen der großen, begnadeten Leistung. Aber eben indem der Dichter diese Gipfel der menschlichen Leistung preist, lenkt er stets zugleich den Blick auf den Horizont der Sterblichkeit, der Hinfälligkeit und Vergänglichkeit des Menschen. So bewegt der Gedanke Pindars sich in einem Auf und Ab der Stimmung, und das gibt seinen Gedichten mit der Mischung von Glanz und Dunkelheit die eigene Schönheit.«

In der elften Nemeischen Ode: »Wenn aber einer Segen erlangt hat und übertrifft an Schönheit Andere und hat in Wettkämpfen als Bester erwiesen seine Stärke Er denke daran: mit sterblichen Gliedern ist er angetan, Und am Ende von allem wird Erde ihn umkleiden.«

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In der achten Pythischen Ode: »Wenn aber einer Schönes erlangt hat: Auf großen Üppigkeiten fliegt er auf aus Hoffnungen Auf geflügelten Mannhaftigkeiten ... Doch nur für ein Kleines mehrt sich den Sterblichen das Ergötzen, Dann fällt es auch zu Boden durch Abwegigen Sinn erschüttert. Eintagswesen. Was ist einer? Was ist einer nicht? Schattens Traum der Mensch. Aber wenn ein Glanz, ein gottgegebener, kommt ist helles Licht auf den Männern und lieblich das Leben. «

In der dritten Pythischen Ode: »Man muß das den sterblichen Sinnen Angemessene von den Göttern Erstreben, das erkennend, was vor dem Fuß ist; welchen Teiles wir sind. Nicht, meine Seele, nach unsterblichem Leben strebe! Nein, das schöpfe aus, was in dem Bereich des Handelns liegt.«

(Und zuletzt:) aus der fünften Isthmischen Ode: »Zwei Dinge allein weiden des Lebens erfreulichste Blüte: Wenn einem der Sieg gelang und er selbst Ruhm hat. Suche nicht Zeus zu werden! Alles hast du, Wenn dich das Teil dieses Schönen erreicht. Sterbliches Sterblichen geziemt! – Thnata thnatoisi prepei.«

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Einige Thesen zur ›Funktion der Geisteswissenschaften‹ in der ›Produktionsgesellschaft‹ (um 1985)72 1. 2.

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In gleicher Weise wie die Naturwissenschaften müssen die Geis­ teswissenschaften (in ihrer Ausprägung, die sie im 19. Jahrhun­ dert erfahren haben) als Problem gesehen werden. Die historisierenden Geisteswissenschaften konstituieren durch ihren Begriff des Verstehens oder des Begreifens der Geschichte überhaupt erst die Geschichte. Welche Gesichtspunkte, Grund­ voraussetzungen, Vorentscheidungen diesen Vorbegriff von Geschichte leiten, muß gefragt werden; denn in diesen Vorbegriff werden alle Vergangenheiten, die Gegenwart und die Art der Erwartung der Zukunft eingetragen und konstituiert. Die Art des Verstehens in den historisierenden Geisteswissen­ schaften ist dort, wo nicht ein hohes Bewußtsein seiner Proble­ matik besteht (so z.B. bei Jakob Burckhardt, Nietzsche, z.T. bei Dilthey) eine Aneignung von Geschichte im fragwürdigen Sinn, wie die Naturwissenschaften Aneignung der Natur im Dienste des neuzeitlichen Subjektes sind. Die Vereinheitlichung der Geschichte (Vorbegriff von Geschichte) unterwirft sie dem Vorbegriff von Wirklichkeit in der Neuzeit, indem sie Wirklichkeit als Wirkung (als Ursa­ chefolgezusammenhang), Geschichte als Wirkungszusammen­ hang (Gadamer), als Entwicklung, als fortschreitenden Pro­ zeß begreift. Sie ist mit diesem Wirklichkeitsmaßstab die Kritik der vergan­ genen Vorstellungsweisen, ihre Art der Weltinterpretation (am auffälligsten als Kritik des Mythos, der religiösen Geschichtsin­ terpretation), indem sie das Vergangene von ihrem Vorbegriff von geschichtlicher Realität her deutet. Dies geschieht in der ›Quellenkritik‹ (in der Auslegung von Droyesen), die gegenüber den vergangenen Vorstellungsweisen in der Sicht der jeweiligen Gegenwart die ›richtige Vorstellung‹ der Vergangenheit erarbei­ tet. Nicht so wie die Vergangenheiten sich selbst gesehen haben, sondern so wie sich ihre Wirklichkeit nach unserem Maßstab ›historischer Realität‹ zeigt, faßt sie die Geschichtswissenschaft.

72 Thesenpapier anläßlich einer zu diesem Thema geplanten Ringvorlesung für Hörer aller Fakultäten an der Universität Tübingen.

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Einige Thesen zur ›Funktion der Geisteswissenschaften‹

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Der praktische Impuls zu dieser Erkenntnisarbeit ist selbst ent­ sprungen aus dem Weltbeherrschungs- und Weltsteuerungsin­ teresse neuzeitlicher Subjektivität. (vgl. dazu den Text zu Droy­ sen: Hartmut Schröter, Historische Theorie und geschichtliches Handeln. Zur Wissenschaftskritik Nietzsches. Mäander 1982, München, S. 154 ff, in den Anlagen) 7. Fehlen solche praktischen Orientierungen, wie scheinbar in den verstehenden Geisteswissenschaften, die den Voraussetzungen jederzeit gerecht werden wollen, tragen sie bei zur Desorientie­ rung gegenwärtigen Handelns (Relativismusproblem). Deutlich erkannt ist dies bei Wilhelm Dilthey, Die Philosophie des Lebens, eine Auswahl aus seinen Schriften, ausgewählt von Her­ mann Nohl, Vandenhoeck 1961, darin: Die Kultur der Gegenwart und die Philosophie, S. 23 ff, bes. S. 26-27, vgl. Anlagen. 8. Beide Arten der Geschichtsinterpretation (Droysens Prozeßkon­ zeption wie das historisierende, relativierende Verstehen in den Geisteswissenschaften) kommen einer Beseitigung der Geschichte (als Vergangenheit) gleich und bestätigen darin den Anspruch moderner Subjektivität auf ›Souveränität‹ (Freiheit von jeder Art Begrenzung oder Maßstab seines Wollens). In die­ sem Sinne deutet Dilthey die Möglichkeit des souveränen Umgangs mit den Vergangenheiten (am angegebenen Ort S. 37-38, vgl. Anlagen). 9. Der Relativismus (auch Pessimismus und Nihilismus in bezug auf die vergangenen und zunehmend auch gegenwärtigen Sinn­ horizonte) fungiert als Intonisation der Souveränität, ›Werte‹ zu setzen (Subjektivität). Der Gesichtspunkt dieser Souveränität ist nach Nietzsche der ›Wille zur Macht‹, dessen eine Gestalt diese Souveränität, Werte zu setzen, darstellt (vgl. Arbeitsgruppe von Brigitte Gensch zu Nietzsche). 10. Der Relativismus bereitet geschichtlich die Beweglichkeit des ständigen Wechsels der Perspektiven vor, den der Wille zur Macht braucht, um sich als oberste Instanz, als Wille, der keinem Kriterium (Wahrheit) unterliegt, zu behaupten (Funktionalisie­ rung des Sinns). 11. Darin ist er eingebaut in die geschichtliche Struktur der Produkti­ onsgesellschaft, die diese Beweglichkeit braucht, um jede Art von Schranke/Begrenzung ihres Willens zur Ausnutzung der durch sie erschlossenen Möglichkeiten abzubauen.

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12. Soweit der Relativismus als Sinndestruktion erfahren wird, bie­ ten sich die Geisteswissenschaften und der Kulturbetrieb im Sinne dieser Verhältnisse an, wenn sie sich selbst und ihre The­ menbereiche als Kompensation anbieten, ohne eine Verbindlich­ keit ihrer Gegenstände oder ihrer Erkenntnisse zu beanspruchen, die die Grundlagen der Produktionsgesellschaft infragestellen wollten oder könnten, was von ihren Quellen her, der kulturellen Überlieferung, sehr wohl möglich wäre. Diese Neutralisierung ihrer Quellen geschieht meist schon durch die Methode ihrer Behandlung, nicht erst durch eine erklärte Absicht. 13. Diese Zusammenhänge sind in Nietzsches Frühschrift: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben gesehen, wes­ wegen sie in den Geisteswissenschaften kaum eine Rezeption erfahren hat. 14. Es käme darauf an, die Auflösung der Verbindlichkeitshorizonte durch die historisierenden Geisteswissenschaften, die ja auch in bezug auf die jeweilige Gegenwart stattfindet, nicht nur als Befreiung, sondern als Destruktionsprozeß zu begreifen, der die ständige Steigerung der Machtmöglichkeiten als einzige Verbindlichkeit ungeschoren läßt, insofern diese die ständige Horizontauflösung und willentliche (strategische) Konstitution von Horizonten als Ermöglichungsgrundlage braucht. Dagegen gilt es, einen Begriff von ›geschichtlicher Verbindlichkeit‹ zu gewinnen, der weder den Maßstab der Absolutheit, noch dem ihm zugehörigen Relativismus anheim fällt. Es gibt die »andere Moderne«, die um dieses Problem einer »zeitlichen Verbindlich­ keit ohne Negierung der Zeit« kreist.

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Zum Seminar: Adolf Portmann – Anthropologie und Biologie WS 1973/74

Zum Seminar: Adolf Portmann – Anthropologie und Biologie WS 1973/74 Seminar – Verlauf Das Seminar gliederte sich in zwei Hälften: I. Zur Lehre vom Menschen Hauptthemen: Das Problem der Evolution; Portmann’s Interpre­ tation des ersten Lebensjahres; Haupttext: Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen (Dritte Aufl.1969). In den Sitzungen 3 – 9 (Nov. Dez. 73). II. Zur Tiergestalt Hauptthema: Portmann’s Interpretation des Gestaltcharakters der organischen Natur; Haupttext: Die Tiergestalt (1960). In den Sitzungen 10 – 15 (Jan. Febr. 74). Die beiden ersten Sitzungen hatten Einleitungscharakter. (1) 23. 10. 73 1) Einleitungsreferat (des Seminarleiters): Was soll eine philosophi­ sche Beschäftigung mit Adolf Portmann? Die Fragebereiche (Themen-Plan). I. Der anthropologische Aspekt: Die Sonderstellung des Menschen im Vergleich mit den nächstverwandten Tierarten: a) Die Stellung des Menschen in der Evolution, b) die Bedeutung des ersten Lebensjahres. II. Der morphologische Aspekt: Die Bedeutung des Gestalt-Charak­ ters der organischen Natur. Dazu Hinweise auf die Problematik unserer fachwissenschaftli­ chen Disziplinierung. Die Blindheit für das Phänomenale. (Dies leitet über zu:) III. Der wissenschaftsgeschichtliche Aspekt: Die Frage, inwieweit ein bestimmter Erwartungshorizont, bestimmte Grundvorstellungen über die Struktur der Wirklichkeit das Erkennen bevormunden, – positiv formuliert: was es für Denkveränderungen sind, die Portmann’s Einsichten verlangen, um angemessen aufgefasst zu werden. Die

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Differenz zwischen der Wirklichkeit und wissenschaftlicher Gegen­ ständlichkeit. Ist ›der Mensch‹ nur das, was den Gegenstand der Fachdisziplin ›Anthropologie‹ ausmacht (so daß z.B. die Tiere und Pflanzen nur genetische Vor- und Unterstufen darstellen)? Ist ›das Tier‹ nur das, was die Gegenstände der Zoologie ausmacht (und in denen der Mensch nur eine – chronologisch noch dazu ganz winzige – Entwick­ lungsstufe darstellt)? Das in dem Seminartitel ›Anthropologie und Biologie‹ hier ganz betont gemeinte ›und‹. Der Fragekreis III. ist im Folgenden an verschiedenen Stellen der Teile I. und II. behandelt worden, speziell in den beiden letzten Sitzungen in Bezug auf die ›Tiergestalt‹. 2) Themen-Plan. Texte (Ausgaben), Literaturhinweise ... (Erläuterungen zu den hektografierten Listen und dem ›Appa­ rat‹.) (Auf das schöne Buch von G. v. Wahlert über Portmann bin ich leider erst nach dem Seminar aufmerksam geworden.) (2) 30. 10. 73 1) (Seminarleiter) Portmann’s eigene wissenschaftliche ›Ontogenese‹ (Der Wandel der Forschungsakzente. Das ständig gleich große Gewicht der Meeresforschung.) 2) Vorbereitung des I. Teiles I. Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen (3) 6. 11. 73 1) Referat von N. N. (7. Sem. Medizin, Psychologie): Portmann’ s Gedanke des ›sekundären Nesthockers‹ 2) Diskussion a) Bestimmung und Gliederung der Kern-Phänomene; b) Bedeutung dieses Gedankens. Dabei: Auseinanderhalten der Resultate (Konsequenzen) von den Argumenten (den empiri­ schen Grundlagen). (4) 13. 11. 73 1) Referat (N. N., aus Luzern, Doktorrand mit einer Arbeit über Georges Bataille): Über den argumentativen Aufbau des Buches ›Biolo­ gische Fragmente‹.

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2) Diskussion 1. Woran liegt Portmann? (›Sonderstellung‹ nicht Exklusivität, sondern: Der prinzipielle, nicht genetisch auflösbare, Unterschied zwischen Tier und Mensch.) 2. Was bedeutet die These: Die Lebensform des Menschen ist ›geschichtlich‹? 3. Was ist an Portmann’s Denkweise neu? a) ›Umfassenderes Beobachtungsfeld‹ b) Sehen statt konstruieren. Gegen die Ansicht, Portmann sei nicht empirisch genug, sondern zu ›spekulativ‹ – die Gegenthese: genau umgekehrt: die (übliche) Evolutionswissenschaft ist nicht empirisch genug, sondern geht von oft unerkannten Voraussetzungen und metaphysischen Erklärungs­ maßstäben aus. Lange Diskussion, ob Portmann’s Denken ›teleologisch‹ ist? Dagegen: Frage, ob diese Ansicht nicht nur darum entsteht weil Portmann sich nicht bedingungslos dem Kausalitäts-Schema unterwirft, das keineswegs den Phänomenen entnommen ist. (Dazu dann die folgenden Sitzungen zum Problem der Evolution.) (5) 20. 11. 73 Referat (N. N.; 1. Sem. Philosophie; gründliches Studium palä­ ontologischer Schriften, besonders Heberer, v. Koenigswald, (Camp­ bell): Zur Abstammugslehre. (6) 27. 11. 73 Diskussion zu den Erkenntnisproblemen der Evolution (der Unterschied zwischen Dokumenten und Theorie). An Portmann besonders hervorgehoben: 1. seine Kritik an dem Zauberwort ›allmähliche Entwicklung‹; unser prinzipielles Nichtwissen (die ›Missing links‹). 2. Der Unterschied zwischen Makro- und Mikroevolution (Beispiele: Reptilien – Vögel; Elefanten; Wale; Palmen; Nadelhölzer). 3. Die Stadien vor der Geburt und bald nach der Geburt zeigen: der Geist ist schon im Leib (Beispiel: Wirbelsäule). Hauptthese dieser Sitzung: Das Kausal-Schema ›Mutation – Selektion‹ ist nicht falsch, aber es ist (um einen Ausdruck Schellings hier anzuwenden) lediglich die ›negative Bedingung‹ der Evolution. An der Tafel: Tabelle der großen Einschnitte von den Australopi­ thecinen bis zum Cro-Magnon-Menschen. Dazu – in (5), (6), (7) –:

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Besprechung der entscheidenden Einschnitte mit der Frage, was ist denn für den Unterschied zwischen Tier und Mensch entscheidend (dies ausdrücklich und in vielfach wiederholtem Aussprechen als Frage stehen gelassen.) 1. Was bedeutet der aufrechte Gang? Mehr als eine nur zoologi­ sche Qualität. Die Stellung zwischen Erde und Himmel. (Schelling: Der Mensch verbindet die Vertikale des Tieres mit der Horizontale der Pflanze.) 2. ›Werkzeugherstellung‹ (tool making) . Problematik dieses – indus­ triell gedachten – Begriffes. Hand-Werk ist etwas von Grund auf anderes als ein technisches Produzieren; ›Handeln‹ der Bezug zu den ›Stoffen‹ der Erde. 3. Was heißt ›Sprache‹? a) – Physiologisch: Beachtung des Hinweises von J. Illies (Kos­ mos 1942 S. 241-247) auf den Unterschied zwischen Neandertaler und Homo sapiens in der Kehlkopf-Ausbildung. (Erst seit dem Homo sapiens, also gleichzeitig mit der Höhlenmalerei, ist die Lautbildung des Sprechens möglich.) b) Ontologisch: Sprache ist etwas anderes als ein Spezialfall von Information.(Seit dem Beginn der Sprache: 1. Gräber, 2. Tanz.) Der Zusammenhang von Sprache und Musik. These – im Anschluß an W. F. Otto: Die Sprache hat mit dem ›Gesang‹ der Singvögel und selbst dem der Grillen mehr zu tun als mit den Mitteilungsges­ ten der Menschenaffen. (Und von den höheren Tieren stehen die Spiele der Delphine, die Cousteau mit dem Tanzen von Naturvölkern vergleicht, dem Menschen näher als das Verständigungsinstrumenta­ rium der Primaten.) 4. (Seit ca. 10.000 vor Christi) Bauten, Arbeit, Geschichte. (7) 4. 12. 73 Scheler, Plessner, (Gehlen) 1) Referat (N. N.): Max Scheler, ›Die Stellung des Menschen im Kos­ mos‹ – im Zusammenhang mit Portmann’s Biologischen Fragmenten (Kap. IV). Diskussion (mit ergänzenden Hinweisen auf Plessner und Geh­ len). Bedeutung Schelers: der Begriff der ›Weltoffenheit‹; die damit gewonnene Befreiung von dem Homo-faber-Maßstab (dem z. B. A. Gehlen weiterhin huldigt). Problematik Schelers (von der Portmann frei ist, während der – sich selber für antimetaphysisch haltende – Neodarwinismus ihr

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verhaftet bleibt): Der Mensch – eine höhere Entwicklungsstufe, die Tier und Pflanze unter sich läßt; – während er in Wahrheit den Tieren wie den Gewächsen, ihre Endlichkeit teilend, sie aber zugleich erkennend, verbunden bleibt. (Wer ist Prometheus?). Im Zusammenhang mit Scheler wäre (trotz ständigen Vorhabens leider immer wieder versäumt) Portmann’s Hinweis auf die mensch­ liche ›Einbildungskraft‹ zu erwägen gewesen. (8) 11. 12. 73 1) Fortsetzung der Frage: was bedeuten die drei Einschnitt-Merkmale: aufrechter Gang, Hand-Werk und Sprache? Besonderer Verweis auf den Zusammenhang von Sprache und Bild an ihrem Beginn (nach den Zeugnissen der franko-kantabrischen Höhlenmalerei und im Anschluß an die Interpretationen von Georges Bataille, ›Lascaux‹, Scira, Genf, 1955) . (9) 13. 12. 74 Zusammenfassung ›Fragmente‹ 1) Rückwirkung von Portmann’s Interpretation des Menschen auf die Biologie: Die Biologie ist hier anderes als nur (wie in der MikroBiologie und der Verhaltensforschung) eine Vorbereitung oder eine Fundierung von Anthropologie. Sie ist ein Vollzug der menschlichen Verfassung, Sprache zu sein. Der Mensch erfüllt gerade dann seine menschliche Verfassung (seine ›Sonderstellung‹), wenn er sich – als Individuum wie als Kollektiv – dem zuwendet, was nicht Ich ist. 2) Die Bedeutung des ›extrauterinen Frühjahrs‹ erläutert an den pädagogischen Konsequenzen. Daß der Mensch das Wesen der Sprache ist, heißt: er ist das Wesen der Tradition; und das heißt: er ist ebenso frei wie ›autoritäts‹-bedürftig. Das eine bedingt hier das andere. Die Erbfolge ist eine selbstverständliche, unerläßliche Bedingung für die Entstehung von Individuen und Gesellschaften, aber noch nicht deren Element. Das ist die Freiheit der Sprache, das Angespro­ chen werden durch die Überlieferung, der Vollzug dieses Gesprächs, das mit der genuin menschlichen Weise des Mutter-Kind-Bezuges beginnt. (Hinweise auf die Aufsätze des einstigen Leiters der Tübinger Kinderklinik Alfred Nitschke, ferner auch auf R. A. Spitz.) Mit dem Bezug zur Mutter beginnt bei jedem Menschen seine gesellschaftliche Wirklichkeit. Die Mutter bringt ihn nicht nur ›auf die Welt‹, sie bringt ihm (und dies auch dann, wenn es ›nur‹ die Pflegemutter ist) überhaupt erst eine Welt: eine Geschichte, eine Gesellschaft. Mit

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Portmann’s Einsicht in die Bedeutung des ersten Lebensjahres ist die Grundlage des menschlichen Sozialbezugs erschlossen. Der Mensch entsteht – und das heißt: er besteht – weder als Objekt eines Erbprozesses: ohne das liebende Vertrauen zur Mutter verliert das Kind die Lebensfähigkeit, – noch als Subjekt: Freiheit heißt hier nicht Sich-selber-machen. (Das metaphysische Schema, das der ›Antiautoritäts‹-Idee zugrundeliegt, ist die Verwechslung von Freiheit mit Autonomie, der Glaube an die selbstständige Entfaltung des ›Angeborenen‹, – es ist ebenso wie das genetische Schema der Ver­ erbungsapostel die Rehabilitation eines deterministischen Denkens.) II. Die Tiergestalt (10) 8. 1. 1974 1) Einleitung zu Teil II.: Der Unterschied und der Zusammenhang beider Teile. 2) Referat (N. N. und N. N., Assistenten am Lehrbereich Mikrobiolo­ gie): Der Aufbau des Buches ›Die Tiergestalt‹. 1. Kurze Inhaltsangabe zu den einzelnen Kapiteln, -- in Verbin­ dung damit: 2. Versuch, die einheitliche Intention des Buches herauszustel­ len (vorläufig: Portmann’s Kritik am Utilitarismus; die Problematik des Kausal-Erkenntnis-Willens). 3. Andeutung von Fragen (u.a. welche Bedeutung kommt der Unterscheidung von ›indifferenter‹ und ›semantischer‹ Gestaltung in dem Kapitel ›Die optische Gestaltung‹ zu?) (11) 15. 1. 74 An der Tafel: Die Kapitel-Überschriften der ›Tiergestalt‹, von I bis XI nummeriert. Diskussion des Aufbaus. Worin besteht das jeweilige Spezifikum jedes einzelnen Kapitels? (Was ist im jeweils folgenden der neue Akzent?) Dabei: Die Zusammengehörigkeit der Kapitel I bis V und VII bis X, die beiden ›Fazit-Kapitel‹: VI (›Die optische Gestaltung‹) und XI (›Vom Verstehen tierischer Gestaltung‹). Bei verschiedenen Gelegenheiten in dieser und in folgenden Sitzungen: Diskussionen und kleinere Exkurse zu Lorenz, Tinbergen, v. Frisch, E. v. Holst (und die Lorenz-Schüler Eibl-Eibesfeldt und vor allem O. Koenig). Bei Lorenz (habe ich) die unbedingt bewunderns­ werten Interpretationen zur Tierpsychologie von der ontologischen

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Problematik abzuheben versucht (sein Neukantianismus). Daneben: die durch Portmann zu ermessende Bedeutung von ›Praktikern‹ wie H. Hediger oder Cousteau (neuerdings vielleicht auch die Fernsehver­ suche von Frédéric Rossif) anzudeuten versucht. (12) 22. 1. 74 1) Etwa einstündiger Vortrag folgender Erwägungen: 1. Wozu Biologie? (Abgesehen von der Fachimmanenz) Was bedeutet für uns (für Nichtbiologen) die Erforschung (das Verstehen) der organischen Gestaltung? (Beispiele: Molusken, Vogel­ flügel = Falterflügel). Zusatzgedanke dabei: die mir wichtige Hilfe bei der Überwin­ dung des modischen Ästhetizismus. Eine Tiergestalt verstehen heißt: den Bezug zwischen Gestalt (oder Bewegungsweise) und ›Innerlich­ keit‹ zu erkennen, den man nicht nur optisch wahrnehmen kann. Portmann (S. 186): »die Bedeutung der Erscheinungen«. Wissenschaft ist hier so viel wie Exegese (Portmann in der Einführung zur ›Tierge­ stalt‹). Die beliebte Dichotomie von ›intelektuell‹ und ›visuell‹ zerstört den Vollzug des (menschlichen) Sehens. Die weltgeschichtliche ›Chance‹ der Naturwissenschaften seit dem 18. und 19. Jahrhundert ist mit der Chance der Geschichtswis­ senschaften zu vergleichen, die Jacob Burckhardt – im Gegenzug gegen die (dem naturwissenschaftlichen Genetizismus vergleichbare) Selbstgefälligkeit des Historismus – ausspricht, wenn er den »Vorzug des 19. Jahrhunderts« in der ökumenischen Universalität des wissen­ schaftlichen Bewußtseins sieht (›Weltgeschichtliche Betrachtungen‹, 1.Kap., 2.Hälfte; 5.Kap., 4.Seite). 2. ›Tier‹ und Tier a) Der Unterschied der Lebens-Erhaltung von dem Leben selbst. (Beispiel: Die Liebesspiele, s. das Kapitel ›Die Gestaltung der Geschlechter‹.) Der Unterschied zwischen dem (ökonomischen Prin­ zip des Wachstums und Portmann’s (sachgemäßem) Maßstab der Viel­ falt. b) Der primäre Bezug des tierischen (und pflanzlichen) ›Lebens‹ zu den Elementen (der von der traditionellen Objektivierung ver­ drängt und auch in Uexküll’s ›Umwelt‹-Begriff – wie schon der Name ›Umwelt‹ sagt – noch immer sekundär bleibt). (Hinweis auf Rachel L. Carson’s ›Geheimnisse des Meeres‹. Hier ist der Sachverhalt aufgenommen, daß ein Meerestier nicht ›im Meer‹, sondern etwas vom Meer ist, – ein Sachverhalt der sich

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dann in dem ›Stummen Frühling‹ ausgewirkt hat, der so lange es ging, von einer unbewußt Industrie-hörigen Fachwissenschaft als ›unwissenschaftlich‹ verketzert wurde.) 3) Nochmals Diskussion zum Aufbau der ›Tiergestalt‹, – mit Zuspit­ zung jetzt auf die Kapitel VII-X (›Von Mustern ...‹ bis ›... Innerlich­ keit‹) – hier: Die Stufung und Steigerung in Richtung der Individu­ ierung. Nochmals besondere Akzentuierung der Lebensstruktur des ›Reichtums‹ (der ›Vielfalt‹) und deren Ferne zu dem (technologischen) Funktions-Schema. – Das Moment der Rang-Verschiedenheiten (Tiergestalt, S. 123). (13) 29. 1. 74 J. H. Fabre 1) Vorbemerkungen (in der Diskussion nach dem Referat wieder auf­ genommen): 1. Fabre’s Werk erläutert Portmann’s Begriffe der ›Selbstdarstel­ lung‹ und der ›Vielfalt‹. 2. Konsequenzen für die Erkenntnis-Weise: a) Erkennen heißt hier nicht (genetisches) Einordnen (d.h. Beherrschen), sondern Stehen lassen (Anerkennen). b) Erkennen ist hier nicht der Prozeß auf der (vom Erkennen­ den ausgewählten) Bahn des eindeutig Begreiflichen, sondern eine (an der Sache orientierte) Kombination von Einsicht und Rätsel. 3. Konsequenzen für den Erkenntnis-Anspruch: a) Befreiung von der Selbstbespiegelung innerhalb der Dis­ ziplin. b) Befreiung von dem (meist unerkannten) Ökonomismus der Maßstäbe. 2) Referat (N. N., Staatsexamen Französisch und Theologie; Zweitstudium Philosophie) über J. H. Fabre. Dabei besonders hervorgehoben: 1. Der Zusammenhang von Erkenntnis und Sprache bei Fabre. 2. Fabre’s Naturkonzeption: Lebenserhaltung ist nicht der Zweck des Lebens, sondern nur das Mittel zu einem ›Zweck‹, der sich in der Lebensfreude bekundet. 3. Fabre’s Interesse an dem jeweils Besonderen 4. Der Reiz des Fremden (dabei zugleich »ein neuer Gulliver« in der geheimen Sozialkritik). 5. Der Irrtum des Einwandes der ›Vermenschlichung‹ und die Wahrheit der Menschlichkeit.

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(14) 5. 2. 74 Portmann’s Wissenschafts-Korrektur Referat (N N.; 8.Sem., Philosophie, Germanistik, Kunstge­ schichte): Zu dem Schlußkapitel ›Vom Verstehen tierischer Gestal­ tung‹ und vorausgehenden Kapitelabschlüssen. Im Mittelpunkt: das Bühnengleichnis vom Schluß des Kapitels ›Jugend- und Reifezeit‹. Die beiden Zielpunkte: 1. Portmann’s Kritik am Funktionalismus. (Die Konsequenz des Gedankens der ›Selbstdarstellung‹ für den Erkenntnis-Ansatz.) (›Abschluß‹, I.Teil, Seit 232-236.) 2. Erwägung des Zusammenhangs zwischen der (seit dem 18. und 19. Jahrhundert) maßgeblichen Art von Wissenschaft (die sich selbst für rein empirisch hält) mit dem Aspekt der »Abendländischen Geistesart« der in der Ausrichtung auf eine »Beherrschung der Natur­ kräfte« besteht. (›Abschluß‹, II.Teil, S. 236-240.) (15) 16. 12. 74 Diskussion zu den Fragen (14). 1. Wieso kommt der rein theoretischen Wissenschaft (die aus­ drücklich ›zweckfrei‹ ist) dennoch ein Zug zur Naturbeherrschung zu? Der Zusammenhang der neuzeitlich-modernen Wissenschaft mit der Technik im Cartesianismus: Die (in der Ich-Gewißheit beruhende) Vorentscheidung darüber, was überhaupt als Thema von Erkenntnis gelten darf. 2. Warum ist das Sichtbare (das ›zwischen‹ dem molekular Kleinsten und dem astronomisch Größten in der Mitte steht) das Schwerste für die Erkenntnis? (Die Problematik der – prinzipiell genetisch orientierten – Verhaltensforschung, der Zusammenhang von Historismus = Aktualismus und Darwinismus: zu erkennen ist und erkannt werden soll – früher: die Energie jetzt: die Information. Beiden gemeinsam ist die Effektivität d. h. der Maßstab der Ökonomie. 3. Nochmals gegen den Vorwurf, Portmann denke ›teleologisch‹. Teleologisch ist in Wahrheit die Kategorie des (Neo-) Darwinismus: Die Kausalität. Im Unterschied dazu fragt Portmann phänomenolo­ gisch nach Beziehungen. 4. (Wie schon zu Anfang angedeutet:) Der Bezug zwischen Mensch und Natur. Ist der Mensch das, wofür ihn die Anthropologie ansetzt: etwas, das primär – sei es als Individuum, sei es als Kollektiv – für sich da ist?

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Freiwillige schriftliche Hausarbeiten: 1. N. N. (2. Sem.; Germanistik, Kunstgeschichte, Philosophie, (in Bezug auf Portmann’s Begriff des ›extrauterinen Frühjahrs‹) R. A. Spitz und Alfred Nitschke (Ähnlichkeiten und Unter­ schiede). 2. N. N. (in Tübingen Lehrer für griechische Gastarbeiterkinder, daneben Studium der Philosophie): Portmann’s Begriff der ›physiologi­ schen Frühgeburt‹. 3. N. N. (2.Sem.; Philosophie, Germanistik, Geschichte): Der Gedankengang des Buches ›Die Tiergestalt‹.

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Hartmut Schröter zu: ›Die Natur der Erde‹

Hartmut Schröter zu: ›Die Natur der Erde‹ Projekt aus dem Nachlaß von Dieter Jähnig vorgestellt von Hartmut Schröter ›Die Natur der Erde‹ ist einer der Titel, die Dieter Jähnig einer umfassenden Abhandlung geben wollte, an der er über ein Jahrzehnt zuletzt gearbeitet hat. Leider ist es aus lebensgeschichtlichen Gründen nicht mehr zu einer Ausformulierung gekommen. Aber im Nachlaß­ archiv in der Universitätsbibliothek in Tübingen befindet sich ein umfangreicher Bestand an Ordnern mit Entwürfen, Notizen und Quellenstudien. Im folgenden möchte ich nach einer ersten flüchtigen Durchsicht anhand einer Gliederung und einer Auswahl von notierten ›Hauptgesichtspunkten‹ einen Eindruck von diesem Vorhaben geben. Es scheint mir deshalb so wichtig, weil in dieser Fragestellung sein ganzes Denken kulminiert und er darin auf die weltgeschichtliche Situation eingeht, die inzwischen als Gefährdung dieser Erde im Sinne eines Wohnraums für das Leben erkannt wurde. Es ist deutlich hervorgehoben, daß für ihn im Zeitraum um 1750 die Paradigmen­ wechsel stattgefunden haben, die in diese Situation geführt haben. Ganz allgemein gesagt geht es um die spezifische Art der Histo­ risierung von Natur und Kultur, die in der Folge sowohl die Naturwie die Kultur- und Geschichtswissenschaften geprägt hat. Diese Wende zur Geschichte des Kosmos und der Erd-Natur sowie der menschlichen Lebenswelt soll keineswegs zurückgenommen werden. Sie soll vielmehr von einseitigen Voraussetzungen befreit werden, um Natur und Kultur in einen Zusammenhang zu bringen, der sich am Maßstab der Situation, des Wandels und des Zeithorizonts eines endlichen Daseins auf einer begrenzten Erde orientieren möchte. Und zwar nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Selbsterhaltung und des Überlebens, sondern dem der gelebten, erfahrenen und vollzogenen Weltbeziehung wider die moderne Weltentfremdung. Eine Hauptintention seiner Vorträge und Aufsätze wird damit auf das Ganze unserer Lebenswirklichkeit bezogen. Seine Grundfrage lautet in verschiedenen Formulierungen: »Was ist das: Die Erde? Die Natur der Erde? Die Eigenart der Erde?« Die ›irdische Natur‹ im Unterschied zum ›Makro- und Mikrokosmos‹, die die modernen Naturwissen­ schaften erschlossen haben? Was ist das Recht der ›Alltagserfahrung‹ der Erde in Bezug auf die sichtbare Welt? Im Unterschied zur kosmisch

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generalisierbaren Definition als Planet oder Globus? Wie ist die Geschichtsstruktur der Erde verfaßt? In der geplanten Einleitung sollten ›1. Grenzen des Gaia-Prin­ zips, 2. Grenzen des Evolutions-Schemas (nur Wachstum und Ent­ stehen) und 3. das Problematische des (mathematischen) ‘Chaos’ – Prinzips‹ bestimmt werden. Zu der Einseitigkeit des Paradigmas der Evolution gehört, daß in seinem Horizont immer nur auf die Entstehungsbedingungen zur Erklärung der jeweiligen Gegenwart und auf die daraus abzuleitenden Wirkungen: auf die ›ständige Ent­ wicklung‹ und ihren ›Erfolg‹, geblickt wird. Ein Hinweis auf Heraklit zur Kennzeichnung der Grenzen des ›Gaia-Prinzips‹ soll wohl sagen, daß die Erde nicht nur in Hinsicht auf ihren ökologisch abgestimm­ ten Systemcharakter ausgelegt werden könne, sondern ebenso in Bezug auf einen offenen, nicht zu sichernden Streit von ›Polaritä­ ten und Synergien‹, die unterschiedliche Rhythmen und disruptive Beschleunigungen im Zeitcharakter der Evolution hervorbringen. Der verabsolutierten Evolution, dem Paradigma des ›Genetischen‹ in allen Lebensbereichen und speziell der ›Genesis (Darwin)‹ der Natur wird die Gegenwart der erscheinenden Welt in der altgriechischen Auffassung der ›Physis‹ bei Hesiod oder Heraklit entgegen gehalten. So ist der Einwand gegen die Mathematisierung des ›ChaosPrinzips‹ nicht gegen dieses selbst gerichtet, sondern ganz im Gegen­ teil wider die Mathematisierung und Berechenbarkeit des Unvorher­ sehbaren und des nur Wahrscheinlichen, die dem Chaotischen seinen zerstörenden und zugleich eröffnenden Ereignischarakter nimmt. Durch seine Formalisierung wird zudem von der Betroffenheit abge­ sehen, die seine Auswirkungen dem Lebendigen zumuten. Was z.B. in der öfters erwähnten Theogonie Hesiods in der Weise anerkannt bleibt, daß die titanischen Mächte der ›Unterwelt‹ durch die Weltord­ nung des Zeus nur untergeordnet, aber nicht beseitigt werden können. Wenn aus chaotischen Milieus über Rückkopplungsschleifen ›Selbst­ organisation‹ der Materie stattfindet, dann ist diese eben zugleich auch Reaktion auf sich wandelnde Umwelten und nicht nur selbstbe­ züglich. Diese Diskussion der grundlegenden Paradigmen, die den Aufbruch in die Natur- und Weltgeschichte kennzeichnen, werden in weitreichenden Forschungen in Bezug auf die Wissenschaftsge­ schichte von Geologie, Paläontologie, Biologie und Anthropologie ausgearbeitet, ihre Erkenntnisse aufgegriffen und in Hinblick auf die Problematik der Leitparadigmen angeeignet und umorientiert. Um auf diese Weise die Wurzeln der heutigen Erdgefährdung durch den

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Hartmut Schröter zu: ›Die Natur der Erde‹

wissenschaftlich ermöglichten technischen Weltzugang zu ergründen und die Erde als Wohnraum des Lebens zurückzugewinnen. Wenn die Erde von vornherein als Lebensraum einschließlich des Menschen angesprochen wird, so soll ein Paradigma zurückge­ nommen werden, das die neuzeitlich physikalische Definition eines homogenen, materiellen, stellaren und planetarischen Weltraums geleitet hat. Letztlich die Vorstellung eines überall homogenen abso­ luten Raums und einer absoluten Zeit. In einer Reflexion auf die Einsteinsche Relativitätstheorie und die Konsequenzen der Quanten­ theorie wird die Relativität von Zeit und Raum, deren Verbindung, die Endlichkeit sowie die ›Unvorstellbarkeit‹ schon der physikalischen Welt erhoben und diskutiert (Zweideutigkeit von Welle und Teil­ chen oder die Heisenbergsche Unschärferelation z. B.). Mit Einsteins Grundformel Energie sei gleich Masse x Lichtgeschwindigkeit werde die ungeheure »Dynamik (Energie) der Materie selbst«, das besagt: der »Zeit im Raum«, aufgedeckt. In einer Notiz wird herausgestellt, daß die »Quantenkohärenz nur in isolierten Systemen« gegeben ist, aber durch den »Einfluß von Umgebungen und Wechselwirkungen zerstört« wird. Auch hier schon verändert die Wechselwirkung mit einer Umwelt die Situation grundlegend. So bestätigt sich die zeitlichgeschichtliche Struktur sowohl der Epochen der Naturgeschichte und des organischen Lebens bis in die menschliche Kulturwelt. Wenn man von der Erde als Lebensraum ausgeht, dann wird für die Frage nach ihrer besonderen Eigenart die »Erdoberfläche (der Boden)« in der Beziehung zu den Elementen der Atmosphäre und der Hydrosphäre maßgeblich. Von der »Hülle«, der Biosphäre, von ihrem eigentümlichen Zeit-Raum müsse man ausgehen. Was aber nicht bedeutet, daß andere Dimensionen ausgeblendet würden. Die so verstandene »Erde« ist danach nicht Grund, sondern »Pol« im »Spiel der Sphären«. Auch diese werden in Bezug auf diese eigentümliche, vielleicht einmalige Konstellation der »irdischen Natur« bestimmt. In vielen Notizen wird die »Triadik von Erde-Himmel und Unterwelt« eingeführt, die in vielen Kulturen als »Bau der Welt« auftauche. Der Mensch sei in diesem Feld das Wesen, das deren Beziehungen realisiere, herstelle und zur Sprache bringe. Er hat sein Dasein im »Dazwischen«, wie es insbesondere im asiatischen und indischen Kul­ turkreis gesehen wird. Er ist also nicht gegenständlich zu bestimmen, sondern als Beziehungswesen, das im Gefüge der Sphären der Erde existiert. Die Konstellation dieser unterschiedlichen Dimensionen wird gelegentlich als die »erste umfassende raumzeitliche chemische

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Verbindung« bezeichnet. Für die Konstellation der Erde ist das Modell chemischer Verbindungen und ihrer vielschichtigen Kombinatorik von (allerdings anders gedachten) Elementen besonders geeignet. Diese Triadik erhält auch eine naturgeschichtliche Auslegung. So gibt es weitreichende Gedankengänge zum Verhältnis der Festigkeit der Erdkruste zu den titanischen Energien der ›Unterwelt‹, die die Dynamik der Erdgeschichte bewirken. Untersucht werden z.B. die Gebirgsbildung und die Kontinentaldrift, durch die sich die Stabili­ tät der Materie, des Gesteins, der Kruste verflüssigt. Beide Tenden­ zen: Verfestigung und Verflüssigung, Dynamik und Gestaltbildung, bewirken und bestimmen die Wandlungen in der Erdgeschichte. Auflösendes Chaos und Gestaltbildung bleiben aufeinander bezogen. Erinnert wird dazu an die altgriechische Theogonie von Hesiod ebenso wie an die Bedeutung des Feuers im Streit der Gegensätze bei Heraklit. Vor allem aber nimmt die Auseinandersetzung mit Goethes Natur­ philosophie im Streit zwischen Neptunisten und Plutonisten einen breiten Raum ein. Es geht nicht um eine Bestätigung im einzelnen, sondern um den anderen Ansatz bei den in Erscheinung tretenden »Phänomenen«, die unsere Lebenswelt bilden. Die Beziehungen im »Bau der Erde« und deren Verwandlungen stehen in Frage. So werden Goethes Gedankengänge zum ›Granit‹ als Beispiel für eine Reflexion auf die Festigkeit des Bodens und der Erdkruste aufgenommen. Die ›Plattentektonik‹ und die ›Drift der Erdschollen‹ manifestieren die »Gegenwart der Tiefe«. Vor allem Goethes Denkfigur der Polarität wird fruchtbar gemacht. Sie bietet ein Modell für die Beschreibung des Tatbestands, daß die Konstellationen von gegensätzlichen Elementen, wie die von Meer und Land, von Verflüssigung und Verfestigung, von Dauer und Wandel, von Gestalt und Chaos, von Licht und Dunkel unsere Erdwirklichkeit bilden und ausmachen. Entscheidend sei »das Spiel der Sphären« im Horizont der »Polarität von Dauern und Zerbre­ chen«. Im Unterschied zu harmonisierenden oder vereinheitlichen­ den Theorien interessiert insbesondere der Bezug im Kontrast: der »Kontrastbezug« an den »Grenzregionen« der Sphären bis in die Landschaftserfahrung hinein. Dazu wird die ›Generaleinteilung‹ zwischen ›Geosphäre‹ (Gra­ nit) und ›Biosphäre‹ vorgenommen. Wobei der ›Boden‹ nicht nur als komplexe ›Materie‹ der Geosphäre zugerechnet, sondern als Teil der ganzen Biosphäre eingeführt wird, in der z. B. der Wald entste­ hen konnte. Die Bildung beider unterschiedlichen Sphären seien die

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Hartmut Schröter zu: ›Die Natur der Erde‹

zwei wesentlichen Revolutionen in der Erdgeschichte. Wobei für das Bauprinzip der Pflanzen deren Photosynthese, die ja das außerterres­ trische Sonnenlicht anverwandelt, als die entscheidende ›Erfindung‹ gewürdigt wird. Eine »Emergenz des je qualitativ Neuen«, wie es die Biosphäre und das organische Leben darstellen, bilde sich durch »Differenzierung, Kombination und veränderte Konstellationen«, also durch die Begegnung und Verbindung von unterschiedlichen Elementen. Statt ›Reduktion‹ auf die Vorstufen und die Einzelfaktoren herrsche das Prinzip der ›Kommunikation‹ des Unterschiedlichen. Gefragt wird deshalb u.a. danach, was es geschichtlich angerichtet habe, daß die einheitlich gedachte Materie als das Element der Geo­ sphäre zur Grundlage gemacht wurde, aus der auch die Gestaltungen der Biosphäre abgeleitet werden sollten. Die Frage nach der Geschichte der Erde, des zeitlichen Charakters des Lebens, und der Geschichtlichkeit der menschlichen Kulturen verweist letztlich auf die Verfassung des Zeit-Raums in kosmischen, planetarischen und irdischen Dimensionen. Ein Passus sollte über­ schrieben sein: ›Die Zeit in der Erd- und in der Welt-Geschichte‹. Dieser Ausgangs- und Zielpunkt der geplanten Untersuchung sollte in ihrem Schlußkapitel zur ›Zeit‹ wohl das Fazit bilden. Als Auswir­ kung der Zeit wird »die Vielfalt und Variabilität in der Dauer« notiert. Besondere Aufmerksamkeit wird dem Phänomen der ›Akzeleration‹ der Zeit schon in der Naturgeschichte geschenkt. Ihr entspricht die Beobachtung der Beschleunigung der Epochendauer in der Erdge­ schichte und die Polarität zwischen der »Langsamkeit von Entwick­ lungen und der Plötzlichkeit« von beschleunigten Umbrüchen zu bestimmten Zeiten auch in der Natur. Möglicherweise als Analogie zur Geschichtszeit gedacht. Verwiesen wird auch auf die Annahme des Biologen Karl Ernst von Baer, daß die ›Zeiten‹ einer kurzlebi­ gen Eintagsfliege und eines langlebigen Elefanten in jedem Zeitab­ schnitt doch sehr unterschiedlich sein könnten. Zu der menschlichen Erfahrung, daß Zeit schneller und langsamer vergehen kann, gäbe es ein natürliches Korrelat: »ein Ineinander verschiedener Zeiten«. Im gegenwärtigen Querschnitt existieren auch unterschiedliche Epo­ chen und Zeitlichkeiten der Erd- und Weltgeschichte nebeneinander. Gegenwart ist immer auch gleichzeitige Präsenz von Neuem und Altem. Gedacht wird auch an die von dem Biologen Adolf Portmann herausgearbeitete Unterschiedlichkeit und Charakteristik der indivi­ duellen Lebensphasen.

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Der Schlüsselpunkt für die Unterscheidung zwischen der wis­ senschaftlichen Historisierung der Natur und der Geschichte seit 1750 und der Geschichtlichkeit des Lebens im Horizont der Erd­ sphäre sollte aber die Art der Manifestation der Gegenwart sein. Im aufkommenden Entwicklungsdenken ginge es immer nur um die »Evolution selbst«. Die Gegenwart ist nur mehr der Durchgangspunkt der Entstehungsbedingungen (Genese) im Blick auf die zukünftige Entwicklung. Auch Vergangenheit und Zukunft werden im vorhinein als ein Fortschreiten vorgestellt. Der Längsschnitt als Erklärung des Bestehenden dominiert den Querschnitt der gegenwärtig waltenden Weltbezüge, in denen die Dinge, die Elemente und das Leben in einer jeweiligen Gegenwart »im Horizont des Vergehens« stehen. »Wirklichkeit ist das, was je und je ist«. Besonders hervorgehoben wird: Gegenwart ist. Von dieser Basis aus ist das Ganze der Erde und des Kosmos zu denken, vielleicht auch – wie eine Notiz zu deuten wäre – der Ort der Antwort auf »das Weil und das Warum«. Dies bedeutete, das Dasein der je besonderen Lebensgestalten in ihrer begrenzten Lebenszeit ist als Zweck und Sinn ihrer Entstehung und Bedingtheit ernst zu nehmen, wie der Biologe Adolf Portmann sinngemäß formuliert hat. Der Daseins-Vollzug in gelebter und dann auch erlebter Gegenwart im Beziehungs- und »Wegfeld der Erde« kann und soll der Ausgangspunkt für die Einordnung und für das Verständnis der Erd-Welt werden: Dasein in endlicher, vergänglicher, auch individueller Gestalt im Übergang und in den Metamorphosen des jeweiligen ›Hier und Jetzt‹ statt ›Funktionalität‹ in einem poten­ ziell unendlichen Evolutionsprozeß. Als Kerngedanke wird in verschiedenen Ausprägungen das ›In-der Welt-sein‹ angesprochen und wohl auch in seinen verschie­ denen Auslegungen des ›Irdischen‹ durchdacht, die es in der Kul­ turgeschichte gefunden hat. Die Bedingungen, Notwendigkeiten, Herkünfte und Funktionalitäten im Gesamtleben sollen nicht unter­ schätzt werden, auch nicht die schmerzlichen Begrenzungen, die sie jedem Wesen abnötigen, sie bilde aber nur den einen, zur Möglichkeit und Erhaltung des Lebens notwendigen Pol. Das Dasein im »Geflecht der Erde« ist vom Eros bewegt. Sein Beziehungs- und Daseinsenthu­ siasmus ließe sich schon im Blühen der Pflanzen, im Reichtum der Tiergestalt, der Laute, Gerüche und Farben und im Spielverhalten der Tiere vermuten. Vielleicht auch in ihrer leidenschaftlichen Hingabe an die Anregungen ihrer jeweiligen Umwelt oder an der Erregung durch Sinneswahrnehmungen, an der Jagdlust, an den überreichen Tänzen

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Hartmut Schröter zu: ›Die Natur der Erde‹

und Zeremonien im Balzverhalten. Daß überhaupt nicht nur die Selbsterhaltung im Prozeß des Werdens, sondern die ›Selbstdarstel­ lung‹ in Erscheinung, Gestalt, Färbung, Verhalten einen Grundzug des Lebendigen darstellt, sollte mit Bezug auf den Biologen Adolf Portmann belegt werden. Mit den Sinnen lebt man aber im Erscheinungsbereich der sich zeigenden Phänomene. So läßt sich an die altgriechische Auffassung der ›Physis‹ anschließen, für die das Erscheinen in begrenzter Gestalt zu deren Grundzug gehört. Auch der Gedanke des Aristoteles, daß schon die Pflanzen in ihren Blüten oder Wachstumshöhepunkten ihren Kulminationspunkt erreichen, dessen Möglichkeit mit der Samenbildung weiter gegeben wird, ließe sich gegen ihre Beschrän­ kung auf die Fortpflanzung erneuern. Mit diesen Hauptgesichtspunkten wäre man vorbereitet, die Stichworte einer Gegenüberstellung nachvollziehen zu können, mit der dieser Ansatz bei den Konstellationen der Erde von den Para­ digmen der Historisierung der Natur und der Kulturwelt um 1750 unterschieden werden soll. Es geht also offensichtlich nicht um eine Rücknahme dieser Veränderung des Weltverständnisses, sondern auf seinem Boden um ein anderes Verständnis vom geschichtlichen Zeit-Raum der Erde im Horizont eines endlichen Kosmos. Auch der abstrakte, homogene, absolute Raum entspricht nicht dem, was die »Natur der Erde« und sogar des Kosmos ist. Es wird erwogen, ob sie nicht im ganzen eher »ein Ort« als ein Gebilde in einem homoge­ nen Raum sei. Damit sei der »Erd-Kreis« jedoch angemessener als »Bezug von Orten« zu verstehen. Statt eines Systemdenkens wäre ein topologisches Verständnis von einem ›Geflecht‹ oder ›Gefüge‹, wie es das ›Plastische‹ in der Kunst verkörpere, angemessen. Entspre­ chend bilden sich auf der Erde verschiedene Orte und Landschaften, Klimazonen, Wechselfälle, die auch das kulturelle Leben der Mensch­ heit maßgeblich prägen. Die Dichtungen Hölderlins hätten diese Orts-Bezüge mit der Dimension der Geschichte in Vergangenheit und Gegenwart sinnvoll verbunden (›Der Archipelagus‹). Der Mensch steht in der Natur oder »auf der Erde zwischen Erde und Himmel mit den Elementen«, geschützt vor, aber auch gefährdet durch die ungeheuren Energien, die sich im Kosmos entfalten und in der Tiefe des Erdinnern noch gestaltend wirken. Er ist diesen Bedingungen der Erdnatur ausgesetzt, aber zugleich kann er auf sie im Bauen, Sorgen, Sprechen, Dichten und Denken, Forschen und Bearbeiten »antworten«. Dies geschieht in der Neuzeit in der Absicht

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auf Beherrschung durch Berechnung der Naturbedingungen, kann und sollte aber wieder geschehen im »Wohnen« in der Erd-Welt und in schöpferischen Antworten auf die Erfahrungen mit ihr. In diesem Sinne werden die verschiedenen Antworten der Architekturen, der Künste, des Städtebaus, der Lebensformen in der Mannigfaltigkeit der Gegenden, Epochen und Kulturen ins Auge gefaßt und die Verleug­ nung oder Verkehrung dieser Bezüge in den modernen, von der wis­ senschaftlich-technischen Zugangsweise beherrschten Lebensweisen angesprochen. Gedacht wird dabei an herausragende Städte wie Rom, Venedig, Paris, aber auch an japanische Städte wie Nara und andere in ihren Bezügen zu den Elementen, zu Flüssen, Meeren, Gebirgen, Landschaften und Klimabedingungen. Die angekündigte Gegenüberstellung von wesentlichen Gesichtspunkten in der Auseinandersetzung mit dem modernen Weltzugang seit 1750 findet sich in folgender Ausführung: Evolution  Dasein Energie  Gestalt Information  Ereignis Gesetz  Geschichte Auf der linken Seite stehen jeweils die Begriffe, die seit der Zeiten­ wende um 1750 herrschend geworden sind und bestimmen, wie die andere Seite zu verstehen ist. Eine darunter stehende Notiz verlangt nur die Umkehr der Bezüge. Die linke Seite soll von der rechten Seite her verstanden werden. Nach dem bisher Gesagten dürfte die Inten­ tion klar geworden sein. Da die Information zum Grundparadigma der Digitalisierung aller Lebensbereich geworden ist, sei auf dieses Gegensatzpaar von Information und Ereignis weiter eingegangen. Viele Bemerkungen weisen darauf hin, daß dabei z. B. an den Code der Erbsubstanz in der Genetik gedacht wird. Er ist das Überdauernde im Vergehen der Gestalten. Das Genetische verkörpert wiederum das Grundprinzip der Herleitung und Erklärung aus der Evolution, um sie in die Zukunft prolongieren zu können. Die Information gehört in den Bereich der ›Vorstellung‹ über das Gegebene, während die Sprache ursprünglicher verstanden aus der Betroffenheit und dem Angesprochensein im ›In-der Welt-sein‹ entspringt. Die Sprache ist Antwort auf diese Anregung durch die Welterfahrung und nicht nur Information über sie. Dagegen werden Überlegungen dazu angestellt, die Sprache als Welteröffnung zu ver­

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stehen. Die Welt zeigt sich, ereignet sich, weckt Betroffenheit, Abwehr oder Staunen. So findet man auch den, vermutlich als Gesamttitel gedachten Vorschlag: ›Das Gespräch mit der Erde‹. Mit dieser Vorstellung der Hauptgesichtspunkte sollte ein Zugang zu den Entwürfen der Gliederung der geplanten Veröffentli­ chung geschaffen werden. Unter der Datierung 17. 5. 95 (Reinschrift vom 28. 4. 95) findet sich ein ausgearbeiteter Vorschlag, in dem auch wieder Streichungen vorgenommen wurden, die hier nicht anführt werden. Die Natur der Erde Vorbemerkung (z. Titel?) Einleitung (A) I. II. III.

Das Weltall und der Erdraum Vorstellung und Erfahrungen Natur = Physis? Erde = Gaia? (oder) Gaia – Physis – Kosmos

Hauptteil (B) I.

II.

III.

IV.

Die Sphären (in einer Notiz: »Das Wechseln und Werden ver­ stehen«) 1. Das Leben der Gesteine 2. Die Kontinente und das Meer 3. Der Boden Die Zonen 1. (Klimaunterschiede und Klimaänderungen) 2. Küsten und Ströme 3. Der Wald, (und) die Stadt Das Leben 1. Entwicklung und Wandlung 2. Energie und Eros 3. Informatik und (Erscheinung) Ereignis Die Zeit

Schlußteil (C) Der Eintritt der Geschichte in die Naturerkenntnis

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(1) (2) (3) (4) (5)

Im Anschluß werden noch Titel zu Exkursen notiert: ›Blut und Boden‹ Das Mißverständnis der Subjekt-Objekt-Trennung Identität, Ganzheit / Universitas (antitheologische Weltformel?) ›Elemente‹ und ›Strukturen‹ Der Weltentzug im Weltbild

Einer weiteren Erläuterung bedarf noch die Wichtigkeit der Unter­ scheidung von Vorstellung und Erfahrung (A.II). Unter dem Titel ›Erfahrung‹ ist die dargestellte Welt- und Erdbeziehung angespro­ chen, die sich in der immer wieder betonten Situation des »DrinStehens« des Lebens und unseres Daseins in der Erdwelt ergibt. Sie rechtfertigt, die Erdwirklichkeit von ihrer Verobjektivierung als Gestirn oder Planet im ›Weltall‹ zu unterscheiden (A.I.). Damit ist auch der Ausgangspunkt bei der jeweiligen Gegenwart im Hori­ zont der Wandlung und der Vergänglichkeit (Metamorphosen) der Erscheinungen (Phänomene) gewählt (vgl. Erinnerung an die ›Physis‹ bei den Griechen A.III. / B.III.1.). Der jeweilige Aufenthalt in der ›Außenwelt‹ eröffnet das Angesprochensein und das Betroffensein von ihr im Unterschied zu bloßer Information über sie (B.III.3.). Das widersprechende Korrelat zur modernen Konzeption von Energie als Aktivitäts-, Wirkungs- und Erfolgsmaßstab ist der ›Eros‹ als Bele­ bung, Vollzug und Realisation des Beziehungsgeflechts eingeführt. Er bezieht sich auf das ›Gestalthafte‹ (B.III.2.) Ebenso soll damit die Subjekt-Objekt-Trennung überwunden werden (Ex. 2). Individuelle oder kulturelle Identität sind jeweils Weisen des Bezugs zum ›Gan­ zen‹ und bezeichnen nicht nur die Emanzipation von allen Bezügen im Horizont der Selbstbestimmung des Subjekts (Ex. 3). In den speziellen Konstellationen und Wandlungen der Erd­ sphäre mit ihrer Wechselbeziehung der verschiedenen ›Sphären‹ sind auch die Gesteine (und der Boden) nicht bloße Materie, son­ dern mitgestaltende und beeinflussbare ›lebendige‹ Formationen (B. I.1./3.). Das chemische Element Wasser wird ebenso in seinen kon­ kreten Daseinsformen in der Biosphäre und als Gestaltungs- und Bezugsraum der Kontinentalbildung gesehen (B.I.2.). Erdtiefe und Erdoberfläche, wie die Elemente des Wassers und der Luft, bedingen das Gesamtgefüge und halten es durch die »Drift der Schollen« oder »das Spiel der Sphären« in Bewegung. Die elementaren ›Zonen‹ der Erde werden zunächst auf ihre Verschiedenheit und Wandelbarkeit in ihrer Stabilität hin exponiert: ›Klimaunterschiede und Klimaänderungen‹ (B.II.2.), um dann auch

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die Grenzregionen zwischen Wasser und terrestrischer Sphäre – wohl auch in der menschlichen Kulturgeschichte – in den Blick zu nehmen. Ein besonderes Augenmerk gilt deshalb den Grenzregionen. Gedacht wird dabei auch an die »Küsten des Lichts« der griechischen Inseln oder an den Bezug Venedigs zum Meer. Ebenso ist die Zone des Waldes – wohl im Sinne einer nicht vom Ackerbau erschlossenen ›Wildnis‹ – mit der Erfahrung der Stadt als Inbegriff des menschlichen Bauens und Gesellschaftsbildung polar in Beziehung gesetzt (B.II.3.). Der Begriff der ›Vorstellung‹ umfaßt dagegen die neuzeitliche Grundhaltung der Subjektivität, sich der Welt und diese sich gegen­ über zu stellen und damit das ›In-der-Welt-sein‹ zu transzendieren. Gelegentlich weisen die Notizen auf eine durchgängige Zuschauer­ haltung hin, die durch die Medien zur Grundhaltung zu werden droht. Das bloße ›Registrieren‹ oder Informieren dominiert gegenüber der Teilhabe und Anteilnahme. In den Bereich der Welt-Vorstellung gehören aber auch alle Verhaltens- und Erkenntnisweisen, die sich im Gegensatz zur existentiellen Teilhabe am Da-sein in der Welt ein Welt-Bild erstellen und nach seinen Vorgaben handeln. In diesem Sinne wird vom »Welt-Entzug im Weltbild« gesprochen. Der Sozio­ loge Hartmut Rosa hat dieses Problem in seiner Untersuchung zur ›Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung‹ ausführlich entfaltet. Wie Dieter Jähnig in seinem Vortrag von 1982, ›Selbstentfremdung – Weltentfremdung. Über den Zusammenhang zwischen europäischer Philosophie und moderner Technik‹, will auch er damit der modernen Weltentfremdung entgegen wirken. Deutlich geworden sein dürfte, daß der im Schlußteil genannte ›Eintritt der Geschichte in die Naturerkenntnis‹ (um 1750) nicht zurückgenommen, sondern entschieden durchgeführt werden soll. Und zwar gegen ein Verständnis der Natur- und Menschheitsge­ schichte, die die Kultur von der Natur, das Subjekt von seiner Welt abtrennt und sowohl die Menschheitsgeschichte wie die Naturge­ schichte verobjektiviert. Mit der Folge, daß die Erde und das Spiel der Sphären auf separate Gegenstandsbereiche, in chemische Elemente und physikalisch definierte Energien jenseits der Phänomene redu­ ziert wird. Die Reduktion auf Gesetze, Strukturen, auf die Entstehung und Fortsetzung von Prozessen, das Übergehen der gelebten und erlebten Gegenwart, der implizite Unendlichkeitsmaßstab in der Kon­ zeption von Wachstum, Fortschritt und Evolution werden daraufhin ausgelegt, was in ihnen übergangen oder verfehlt wird. Es handele sich geradezu um eine ›Beseitigung der Geschichte‹, wie es im Titel zu

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einer Auseinandersetzung mit Hegel behauptet wird. Stattdessen sol­ len die Konsequenzen aus der auch in der modernen Physik erkannten Endlichkeit des Zeit-Raums der Welt und des Da-seins in ihr gezogen werden und die Geschichtlichkeit von Erd-Natur und Geschichte in ihrer Zugehörigkeit zum Ausgangspunkt gemacht werden. Verwirklicht sich in dem eindimensionalen Weltzugang die wis­ senschaftlich-technische Weltvorstellung und Welteroberung, so in der anderen die Antwort der ›Kunst‹ auf die Erfahrung der Welt im Sinne eines plastischen Gefüges im Wandel. Die hier versammelten Vorträge und Aufsätze von Dieter Jähnig zu Kunst und Geschichte führen diese Konstellation aus.

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Editorische Notiz

Editorische Notiz Nach dem Tod von Dieter Jähnig im Jahr 2016 erscheint nun eine zweibändige Auswahl seiner Aufsätze und Vorträge. In dieser Aus­ gabe sind vor allem solche Aufsätze aufgenommen, die an weniger leicht zugänglicher Stelle veröffentlicht wurden oder vergriffen sind. Darüber hinaus fanden sich in seinem Nachlaß Arbeiten, die, wie im Falle Burckhardts, Ergänzungen zu den bereits bekannten Texten darstellen, aber auch solche, die neue Schwerpunkte setzen und die Konstitution einzelner Kulturwissenschaften ansprechen wie in den Vorträgen vor dem Leibniz-Kolleg in Tübingen 1988: ›Fachbetrieb und Sachbezug‹. Grundlegend bleiben in allen Veröffentlichungen Dieter Jähnigs die Fragen, die er bereits in der ersten Sammlung seiner Aufsätze 1975 (im Klappentext) formuliert hat: Was macht die Wirk­ lichkeit von Geschichte aus und worin besteht die Geschichtsstruktur von Kunst? Zwischen beiden Fragen besteht seiner Überzeugung nach ein Zusammenhang derart, »daß die Geschichtsstruktur der Kunst zu einer Korrektur unserer (der neuzeitlich-wissenschaftlichen) Begriffe von ›Geschichte‹ und ›Wirklichkeit‹ Anlaß gibt«, und »daß unsere Zeit – mehr als sie in ›empirischen‹ wie ›kritischen‹ Denkweisen glaubt – der eigenen Vergangenheit im 18. und 19. Jahrhundert noch verhaftet ist«. Daraus ergibt sich die Aufteilung der Aufsätze in zwei Bände, eine Aufteilung des im Grunde Zusammengehörigen. Im ersten Band geht es darum, an ausgewählten Beispielen prähistorischer, asiatischer und moderner europäischer Kunst überhaupt sehen zu lernen, die Sprachen der Kunst in ihrer unterschiedlichen Struktur wahrzunehmen. Themen sind prähistorische Höhlenmalereien, alt­ chinesische Bronzen, die griechische Tragödie in der Auseinander­ setzung zwischen Nietzsche und Wagner, Plastiken von Giacometti, Brancusi und Chillida sowie Malereien von Picasso, Braque und Tàpies. Es geht dabei nicht um eine vereinheitlichende Theorie, die Unterschiede sind vielmehr das Inspirierende: »Eine Theorie der Kunst blendet mit ihrer Art durchdringender Helligkeit die Plastizität ebenso wie die Farbigkeit weg, die dem Raum der Kunst zueigen ist. Sie raubt der Kunst ihren Raum. Der Raum der Kunst ist nicht in einem Allgemeinbegriff zu fassen. Er ist allenfalls von der Folie

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dessen abzuheben, was er nicht ist, nämlich dem homogenen Raum der neuzeitlichen Wissenschaft, der Theorie.« 73 Wenn so dezidiert von der ›Sprache der Kunst‹ die Rede ist, dann führt das auch zu der Frage, was das denn ist, die Sprache. Und die führt bei Dieter Jähnig weg von dem, was mit ihr in der Regel allein im Blick ist, Information und Mitteilung. Die dichterische Erfahrung mit der Sprache rückt einen anderen Aspekt in den Vordergrund: das, was mich anspricht, was bei mir ›ankommt‹. Es sind darin Situatio­ nen im Blick, die den Vorgangscharakter von Kunst unterstreichen, nicht nur im Theater oder Konzert, sondern auch bei der Aufnahme von Werken der bildenden Kunst: »Das Werk ist, nicht anders als das "Schau-Spiel" einer attischen Tragödie, das "Hör-Spiel" eines barocken Oratoriums, erst dann und nur dann, wenn es, gewaltig oder still, als Resultat langer Mühe des Verstehens oder auch in der Erschütterung plötzlicher Einsicht, ankommt. Ob der Vorgang dieser Ankunft mit dem ästhetischen Begriff der "Rezeption" getroffen ist, das ist so fraglich, wie es der Korrelationsbegriff der "Produktion" für das Verständnis des Hervorgehens ist. Beide Begriffe verfälschen den Sachverhalt der Kunst, indem sie ihn dem Schematismus des uns Gewohnten unterwerfen: der Relation von Herstellung und Nut­ zung, die in dem technischen Denken der europäischen Neuzeit zur Allmacht gelangt ist.« (a.a.O.) In dem zweiten Band liegt der Schwerpunkt auf dem, was ›Geschichte‹ heißen kann. Fraglich wird hier vor allem das Verständ­ nis von Geschichte als historischer Entwicklung in der Philosophie Hegels oder der Begriff der historischen Bedeutung bei Droysen. Fraglich daran ist, daß alles, was nicht unter diesen Begriff des Prozesses subsumiert werden kann, als ungeschichtlich, unbedeutend gilt. Für Hegel ist es klar, daß es die Kunst zwar noch gibt, daß sie im Grunde aber für die Entwicklung der modernen Welt nicht mehr gebraucht wird. Für Dieter Jähnig wird die Konzentration auf chronologische Zusammenhänge der Vielfalt geschichtlicher Phänomene nicht gerecht. Ihm scheint Jacob Burckhardts Vorgehen näher an dem, was geschieht. Für Burckhardt ist Geschichte »das sich ständig wandelnde Spiel der verschiedenartigen ›Bedingtheiten‹ zwischen den – unter Dieter Jähnig in dem Vorwort der in Japan 1993 erschienenen Sammlung von sechs Aufsätzen: Der Raum der Kunst. Wege zur Sprache der bildenden Kunst, Seikyusha: Tokyo 1993, S. 7. Hier im Anhang von Band 1, S. 277. 73

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Editorische Notiz

sich konträren – ›Potenzen‹, unter denen der ›Religion‹ oder der ›Cul­ tur‹ (zu der für Burckhardt auch die Wirtschaft oder der Verkehr gehö­ ren) der gleich unentbehrliche Rang wie der ›Politik‹ zukommt«74. Zu den kritischen Stimmen gehört für Dieter Jähnig aber auch schon ein Autor aus der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert, Giambattista Vico (1668-1744), mit seiner grundsätzlichen Kritik an den neuzeitlich-wissenschaftlichen Maßstäben, die von Descartes ihren Ausgang genommen haben. Im Umgang mit Vico zeigt sich ein durchgehender Zug der Arbeit Dieter Jähnigs: wo in der Regel nach Vorläufern der eigenen Auffassungen gesucht wird, hebt er die Unterschiede hervor. Vico gilt ›in der Regel‹ als der erste neuzeitli­ che Philosoph, der die Möglichkeit der Erkenntnis von Geschichte erschlossen hat mit seinem Dictum: ›Verum et factum convertuntur‹. Man kann erkennen, was man selbst gemacht hat. Geschichte ist vom Menschen gemacht. Also können wir Menschen sie auch erkennen. In der Vico-Vorlesung heißt es dazu bei Dieter Jähnig: »Liest man diesen Passus unvorbereitet ..., dann muß man glau­ ben, Vico erkläre hier die Erkenntnis der Geschichte (das philosophi­ sche Verständnis von Geschichte) mit dem gleichen Argument, mit dem er dem Schöpfer aller Dinge (›Gott‹) die Erkenntnis der Natur vorbehält: Jeder kann das erkennen, was er selbst geschaffen hat.« (Hier S. 445) Doch die so einfach klingende Schlußfolgerung stößt auf einen Widerspruch in Vicos eigener Erkenntnispraxis: »An keiner Stelle nämlich wird in dieser Praxis damit Ernst gemacht, daß ›der Mensch‹ der ›Schöpfer‹ (der ›Produzent‹, der ›Macher‹) der Geschichte sei.« »Die Menschen stehen zwar nach Vicos Überzeugung frei in der Geschichte« (S. 447) und formen mit ihrem Handeln die historischpolitische Welt mit. Nur ist dieses Handeln offenbar noch »kein Geschichte-Machen«. Was daraus entsteht, entzieht sich zumeist den Zielen dieses Handelns. Vico spricht von ›Vorsehung‹. Geschichte entfaltet sich nicht ohne uns, aber auch nicht allein durch uns. Dieser Umstand erfordert eine Veränderung der Erkenntnisart. Erkenntnis der Geschichte ist nicht mit derselben Methode zu erreichen, wie sie in der Erkenntnis der Natur praktiziert wird. Dieter Jähnig hat schon in mehreren Fällen eine VorlesungsDoppelstunde als Aufsatz veröffentlicht. Das ließ es erlaubt erschei­ 74 Im Vorwort zu Dieter Jähnig, Maßstäbe der Kunst- und Geschichtsbetrachtung Jacob Burckhardts, Schwabe: Basel 2006, S. 9f.

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nen, eine Doppelstunde aus der bisher unveröffentlichten Vico-Vor­ lesung vom Wintersemester 1984/85 in diese Aufsatz-Sammlung aufzunehmen. Der Zusammenhang der Thematik der Vico-Vorlesung mit dem Vortrag am Leibniz-Kolleg, ›Fachbetrieb und Sachbezug‹, ist unübersehbar. Um die Erkenntnisart der Neuzeit näher zu kennzeichnen, beruft Dieter Jähnig sich auf eine weitere wenig beachtete Schrift aus dem Spätwerk Martin Heideggers: ›Der Satz vom Grund‹ (1957). Heidegger diskutiert dort das Selbstverständnis der Zeit als ›Atom­ zeitalter‹, wie es in dem Buch ›Wir werden durch Atome leben‹ von Josef Löwenthal zum Ausdruck kam und für das der Physiker Niels Bohr und der damalige Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß ein Vorwort geschrieben hatten. »Zum ersten Mal in seiner Geschichte«, schreibt Heidegger, »deutet der Mensch eine Epoche seines Daseins aus dem Andrang und der Bereitstellung einer Energie«.75 In diesem Selbstverständnis kulminiert das methodische Sicher­ heitsstreben der klassischen Naturwissenschaft (seit Descartes, New­ ton und Galilei) und die Überzeugung, sich die Natur dienstbar machen zu können. Es geht vor allem um die Menge der zur Verfü­ gung stehenden Ressourcen, quantitative Beziehungen durchdringen und deuten alle Lebensbereiche. Doch für Dieter Jähnig zeigt sich seit längerem, daß die vermeintliche Naturbeherrschung einhergeht mit einer für den Menschen bedrohlichen Naturzerstörung. »Das 20. Jahrhundert unterscheidet sich dadurch vom 19. Jahrhundert, daß an die Stelle der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen die Ausbeutung der Erde durch den Menschen getreten ist.« »Die Notlage, die jetzt erkennbar wird, ist dadurch gekennzeichnet, daß sich die Erfahrung, die sich im 19. Jahrhundert als ›Selbstentfrem­ dung‹ des Menschen formulieren ließ, jetzt noch zugespitzt hat: zur Erkenntnis einer Weltentfremdung des Menschen.«76 Der Ruf nach einer neuen Ethik, um die negativen Auswirkungen der Wissenschaf­ ten zu begrenzen, reicht nicht zu. »Wenn wir mit der Frage, was sich im Verhältnis zwischen Mensch und Natur verändert hat, weiterkommen wollen«, dann In dem gleichnamigen ›Vortrag‹, der den Schluß des Buches bildet. Martin Heidegger, Der Satz vom Grund, 4. Aufl. Neske: Pfullingen 1971 (1957), S. 199. 76 In dem Aufsatz ›Selbstentfremdung – Weltentfremdung. Über den Zusammen­ hang zwischen europäischer Philosophie und moderner Technik‹, hier S. 502 und S. 485. 75

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müssen wir »das gegenwärtig herrschende Naturverhältnis in seiner eigenen geschichtlichen Bedingtheit« erkennen. »Und das verlangt, daß die Geschichte selbst, das Verhältnis des Menschen zum Vergan­ genen, neu durchdacht wird.«77 Weder die Beziehung zur Natur, noch die Beziehung zur Geschichte kann darin ihre Erfüllung finden, daß Natur und Geschichte als bloßes Objekt, als bloßer Gegenstand der Erkenntnis betrachtet werden. Die eigene geschichtliche Bedingtheit des gegenwärtigen Natur­ verhältnisses erkennen heißt, den absoluten Geltungsanspruch dieser Art von Erkenntnis infragezustellen. So wie es beim frühen Nietzsche geschehen ist, der seine Zeitkritik mit einer neuen Wertschätzung der Kunst verbindet. Nietzsche sieht den Antagonismus von Kunst und Gegenwartswirklichkeit, so wie Hegel auch, aber er interpretiert ihn anders als Hegel: nicht als Begrenzung der Kunst, sondern als Begren­ zung der Metaphysik, deren logisch-mathematischer Grundzug das Schema der modernen Technik ausmacht.78 Der frühe Nietzsches kon­ statiert: »Das Problem der Wissenschaft kann nicht auf dem Boden der Wissenschaft erkannt werden«79, man müsse erst von diesem Boden der Erkenntnis zurücktreten, um ihn selber noch erkennen zu können. (›Geburt der Tragödie‹, KGW III-1,7) Und Dieter Jähnig fährt fort: »Zu dieser Art von ›Rück-Schritt‹, zu dieser Art von Rück-Tritt könne die Kunst eine Hilfestellung geben. Ein Rückschritt also, der gerade dem dient, was er scheinbar verdunkelt: der Erkenntnis, – und der gerade dort einen Ausweg ins Freie öffnet, wo das neuzeit­ liche Fortschrittspathos sich in sich selbst verrannt hat. – Dazu gehört auch die Konzentration auf das Prinzip der ›Energie‹ als ›Wissenschaft und Geschichte bei Droysen‹, hier S. 346. »Dieser Zwiespalt im Verhältnis zwischen ›Kunst‹ und ›Philosophie‹ verliert den mit dem Namen ›Philosophie‹ für uns verbundenen Anschein der Unverbindlichkeit: der Unverbindlichkeit des bloß noch ›Antiquarischen‹, wenn man sich klar macht, was in diesem Zusammenhang ›Philosophie‹ heißt: Der nach Kants Kritik der Urteilskraft und Schellings Frühwerk von der Erfahrung des Schönen, von der Bildung der Kunst begrenzte logisch-mathematische Grundzug der europäischen Philosophie macht jetzt das Schema der modernen Technik aus. Die ›Philosophie‹ braucht als eine eigene ›Weltmacht‹, wie sie das bis zu Hegels Tod war, nicht mehr selber in Erscheinung zu treten (sie kann sich von den Einzel-Wissenschaften ablösen lassen), weil sie sich – wie Hegel sah – in der geschichtlichen Wirklichkeit, in dem wissenschaftlichen – modern gesprochen: digitalen – Gepräge der Wirklichkeit, realisiert hat.« (Dieter Jäh­ nig, Der Weltbezug der Künste, Alber Verlag: Freiburg 2011, S. 28f.) 79 In dem ›Versuch einer Selbstkritik‹ von 1886, die der ›Geburt der Tragödie‹ vorangestellt ist. 77

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Weltsubstanz und Weltsubjekt, das die Weltmacht der Energie, die Kernenergie, freigelegt hat. Diese beiden Titanenschwestern: Energie als Sich-Erhalten im Sich-Steigern (verstanden als höchstes Prinzip, dem Maßstab menschlichen Handelns) und Energie als Substanz der Materie (verstanden als letzter Grund der Natur), sind jetzt dabei, sich wechselseitig selber aufzuheben.«80 Das Zitat stammt aus einem Buch, das 2011 im Alber Verlag in Freiburg erschienen ist und in dem die Selbstbegrenzung des philo­ sophischen Erkenntnisanspruchs eine entscheidende Rolle spielt: ›Der Weltbezug der Künste‹. Dieter Jähnig erörtert das an den Philo­ sophen Schelling, Nietzsche und Kant. Auch hier spricht ihn in erster Linie nicht das an, was zu den jeweiligen Hauptwerken führt, sondern was in kritischen Situationen ihrer jeweiligen philosophischen Arbeit geschieht. Es sind Situationen, in denen ihnen die Kunst begegnet. Die Überraschung dabei: Es gibt Erfahrbares, das sich nicht erkennen läßt – mehr noch: die Kunst selbst kann zur Erkenntnisquelle werden. Voraussetzung war, wie gesagt, daß sich in dem Fragehorizont dieser Philosophen der Absolutheitsanspruch der traditionellen Philosophie nicht durchhalten ließ. Zuerst – für ihn selbst überraschend – bei Kant. Bei dem Schönen und bei der organischen, lebendigen Natur ist keine objektive Erkenntnis möglich, so wie er sie in der Kritik der rei­ nen Vernunft begründet hatte. Die Kritik der Urteilskraft ist »die erste große Tat einer philosophischen Selbstbegrenzung«. (a.a.O. S. 28) Oder bei Schelling: Schelling erklärt die Kunst zum Organon der Phi­ losophie. Die Kunst (etwas Philosophiefremdes!) hat damit den Sta­ tus für die Philosophie, den sonst die Logik einnahm. Hier erfolgt die Begrenzung der Philosophie dadurch, daß sie selber nur ein Pol inner­ halb eines Kommunikationsgeschehens ist (a.a.O.). Bisher unveröffentlicht sind die Aufsätze ›Die moderne Kunst­ blindheit‹ und ›Das einzig irdisch Bleibende‹ in Band 1, Der Aus­ schnitt aus der ›Vico-Vorlesung‹ und der Vortrag ›Fachbetrieb und Sachbezug‹ in Band 2. Der Aufsatz ›Die moderne Kunstblindheit‹ stammt aus dem ersten Band der lediglich als Typoskriptkopie in eini­ gen Universitätsbibliotheken vorhandenen Arbeit zu Jacob Burck­ hardt: ›Kunstgeschichtliche Betrachtungen. Jacob Burckhardts Topo­ logie der Künste‹ von 1984, S. 155-169. Aus dem zweiten Band dieses Werks, das mit 1987 datiert ist, stammt der Aufsatz ›Das einzig irdisch Bleibende‹, S. 44-103. Im Unterschied zu den Abschnitten (den ›Para­ 80

D. J., Der Weltbezug der Künste, S. 29f.

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graphen‹) in Band I sind die anderen Abschnitte des zweiten Bandes fast alle in dem Sammelband enthalten, der 2006 im Schwabe-Verlag in Basel erschienen ist: ›Maßstäbe der Kunst- und Geschichtsbetrach­ tung Jacob Burckhardts‹. Erstveröffentlichungen sind auch die Inhalte der ›Anhänge‹ der beiden Bände, mit einer Ausnahme in Band 1. Das ›Vorwort‹ ist Bestandteil der Aufsatzsammlung, die 1993 in Japan veröffentlicht worden ist: ›Der Raum der Kunst. Wege zur Sprache der bildenden Kunst‹, Seikyusha Verlag: Tokyo. (Bd. 1, S. 275-280.) Den Vertrieb einer Sonderauflage mit dem ›Vorwort‹ auch in deutscher Sprache hatte der konkursbuch Verlag Claudia Gehrke in Tübingen übernom­ men. Beim zweiten Titel: ›Der musikalische Aspekt der Sprache‹, handelt es sich um ein Einleitungsreferat von Dieter Jähnig zu dem gleichnamigen Seminar, das er zusammen mit dem Musikwissen­ schaftler Arnold Feil im Wintersemester 1979/80 gehalten hat. Die Titel im ›Anhang‹ von Band 2 sind bisher alle unveröffent­ licht: ›Zum Fall Bayreuth (1954)‹, ›Erinnerung an Wolfgang Schade­ waldt (1974)‹, ›Einige Thesen zur ‘Funktion der Geisteswissenschaf­ ten’ in der ‘Produktionsgesellschaft’‹, vermutlich 1985 geschrieben, und die Nachbereitung zu dem Seminar ›Adolf Portmann – Anthropo­ logie und Biologie‹ vom Wintersemester 1973/74. Die Nachbereitung ist vielleicht verfaßt worden, um sie Adolf Portmann selber zuschicken zu können. Es ist die einzige in dieser Weise angefertigte Nachberei­ tung zu einem Seminar. Die in Japan 1993 erschienene Aufsatzsammlung enthielt einen Aufsatz, der in dieser Ausgabe nicht enthalten ist: ›Das Haus, der Turm, der Platz (Hölderlin und die Architektur)‹. Die deutsche Ver­ sion befindet sich aber in der erst 2019 erschienenen Hölderlin-Vor­ lesung von Dieter Jähnig: ›Dichtung und Geschichte. Beiträge Höl­ derlins zur Geschichtsphilosophie und zur Philosophie der Künste‹, im Georg Olms Verlag Hildesheim. Aufsätze zu Hölderlin fehlen in der vorliegenden Ausgabe ganz, für den sachlichen Zusammenhang aber ist er unverzichtbar, deshalb der Hinweis auf die Hölderlin-Vor­ lesung. Die Vorlesung ist von der Überzeugung getragen, daß Hölderlins Dichtung gerade als Dichtung die Philosophie angehen muß und daß ihr eigener Anspruch verfehlt wird, wenn sie nur als Gegenstand der Ästhetik Thema wird. Was dann übersehen wird, ist der ausdrückliche Bezug dieser Dichtung zur Geschichte. Hölderlin sagt, daß die Dich­ tung, die er nach dem Abbruch an dem Empedokles-Drama begonnen

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Anhang

hat, ›unmittelbar das Vaterland angehn soll oder die Zeit‹. Der Suche nach dem, was Hölderlin in dieser Wendung vom Drama zur Lyrik bewegt hat, führt auf ein neuartiges Verständnis der Sprache, das sich allerdings von etwas Altem, von der sophokleischen Tragödie, betreffen ließ. Die Sprache des Gedichts soll jetzt die dramatische Präsenz hervorbringen, die bei den Griechen zur Aufgabe des Büh­ nengeschehens gehört hatte. Realisiert wird das durch den ›Wechsel der Töne‹, durch den triadischen Bau der Gedichte. In ihm bekundet sich der spezifische Bezug dieser Dichtung zur Geschichte. Geschichte ist nicht der chronologische Ablauf innerhalb des Rahmens von Vergangenheit und Zukunft, sondern der ständige Umschlag dieses immer ineinandergreifenden Gefüges, das Hölderlin das ›Dreifach-leben‹ nennt. »Das Alte ist weder darum zu studieren, weil es eine Norm für uns enthält, noch auch darum, weil es als das uns Vorausgehende unsere eigene Vorgeschichte darstellt« – wir brauchen diesen Weg vielmehr, wie Dieter Jähnig betont, »weil wir ohne ihn – ohne Sprache wären« (a.a.O., S. 184f.). Es geht um die ›sprachliche‹ Verfassung der Geschichte – und die hat mit ihrem ineinandergreifenden Gefüge von ›Tönen‹ (vergleichbar Burckhardts ›Potenzen‹) die Offenheit der Geschichte im Blick – im Unterschied zu einem Weg, der einer gerichteten Entwicklung folgt. Zum Schluß ein Blick auf ein Konvolut im Nachlaß Dieter Jähnigs, das er ›Die Natur der Erde‹ genannt hat und etwa zwei Meter Ringbücher mit Exzerpten, Notizen und Entwürfen umfaßt. Hartmut Schröter hat dankenswerterweise versucht, einen Eindruck davon zu vermitteln, was dort abgehandelt werden sollte. »Ganz allgemein gesagt geht es um die spezifische Art der Historisierung von Natur und Kultur, die in der Folge sowohl die Natur- wie die Kultur- und Geschichtswissenschaften geprägt hat. Diese Wende zur Geschichte des Kosmos und der Erd-Natur sowie der menschlichen Lebenswelt soll keineswegs zurückgenommen werden. Sie soll vielmehr von einseitigen Voraussetzungen befreit werden, um Natur und Kultur in einen Zusammenhang zu bringen, der sich am Maßstab der Situation des Wandels und des Zeithorizonts eines endlichen Daseins auf einer begrenzten Erde orientieren möchte. Und zwar nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Selbsterhaltung und des Überlebens, sondern dem der gelebten, erfahrenen und vollzogenen Weltbeziehung wider die moderne Weltentfremdung.« (S. 549) Der Titel der Aufsatzsammlung, ›Die Zeit der Kunst und der Bau der Geschichte‹, geht auf einen Plan von Dieter Jähnig selbst

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Editorische Notiz

zurück, den er Anfang der neunziger Jahre ins Auge gefaßt hatte, um seine Aufsätze neu herauszugeben. Der Titel umfaßte damals die Aufsätze, die nicht zu den in Japan erschienenen gehörten. Die in Japan veröffentlichten sechs Aufsätze hatten einen eigenen Titel: ›Die Kunst und der Raum. Wege zur Sprache der bildenden Kunst‹. Das Vorwort dafür ist hier im Anhang von Band 1 enthalten. Es blieb damals bei der Aufsatzsammlung für Japan 1993, 2006 sind dann die Burckhardt-Aufsätze gesondert herausgegeben worden. Dafür verweise ich auf die Liste der Aufsätze am Schluß dieses Bandes. Hartmut Schröter möchte ich besonders danken für sein uner­ müdliches Engagement beim Zustandekommen dieser Edition und auch Robert Kudielka, der vor allem am Anfang für das Weiterleben dieses Projekts geworben hat. Dieter Rahn

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Vorstudien zur Erläuterung von Hölderlins Homburger Aufsätzen, Masch. Diss. Tübingen 1955 Das ›Reich des Gesangs‹. Hölderlins Aufsatz ›Über die Religion‹. In: Tijdschrift voor Philosophie, 17, 1955, S. 409–476 Hegel und die These vom ›Verlust der Mitte‹. In: Spengler-Studien. Festgabe für Manfred Schröter zum 85. Geburtstag, hg. v. Arthur Koktanek, München 1965, S. 147–176 Zum Werk von Antoni Tapies. In: Ausstellungskatalog Antoni Tapies. Das gesamte graphische Werk. Kunstverein St. Gallen, 1967, S. 3–5 Schelling. Die Kunst in der Philosophie, Neske: Pfullingen Band I: Schellings Begründung von Natur und Geschichte, 1966 Band II: Die Wahrheitsfunktion der Kunst, 1969 Natur und Geschichte bei Schelling. In: Walter Robert Corti. Worte der Freund­ schaft und Dankbarkeit zu seinem sechzigsten Geburtstag am 11. September, hg. v. Dino Larese und Hermann Strehler, Amriswil 1970, S. 57–62 Nietzsches Kritik der historischen Wissenschaften. In: Praxis, 6, 1970, S. 223– 236 Klassik und Historie. In: Argo. Festschrift für Kurt Badt zu seinem 80. Geburtstag am 3. März 1970. Hrsg. von Martin Gosebruch u. Lorenz Dittmann, Köln: DuMont Schauberg 1970, 35–49 Philosophie und Weltgeschichte bei Schelling. In: Studia Philosophica. Jahrbuch der Schweizerischen Philosophischen Gesellschaft, Basel, Vol. XXX / XXXI, 1970/71, S. 126–166 Die Beseitigung der Geschichte durch ›Bildung‹ und ›Erinnerung‹ (zu Hegel). In: Praxis 7, 1971, S. 63–72 Nietzsches Kunstbegriff (erläutert an der ›Geburt der Tragödie‹). In: Beiträge zur Theorie der Künste im 19. Jahrhundert, hrsg. v. H. Koopmann und J. A. Schmoll gen. Eisenwerth, Bd. 2, 1972, S. 29–68 Kunst und Wirklichkeit. In: Praxis, Zagreb, 8, 1972, S. 79–92. (Eine schwedische Übersetzung erschien in der Zeitschrift Horisont, Stockholm, Jg. 20, 1973, S. 69–81.) Wissenschaft und Geschichte bei Droysen. In: Wirklichkeit und Reflexion. Walter Schulz zum 60. Geburtstag, hg. v. Helmut Fahrenbach, Pfullingen: Neske 1973, S. 313–333

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Welt-Geschichte: Kunst-Geschichte. Zum Verhältnis von Vergangenheitser­ kenntnis und Veränderung, DuMont Schauberg: Köln 1975. I Kunst und Wirklichkeit, S. 8–28 II Die Beseitigung der Geschichte durch »Bildung« und »Erinnerung« (zu Hegel), S. 29–37 III Philosophie und Weltgeschichte bei Schelling, S. 38–67 IV Der Nachteil und der Nutzen der modernen Historie nach Nietzsche, S. 68–111 V Klassik und Historie, S. 112–121 VI Die Befreiung der Kunsterkenntnis von der Metaphysik in Nietzsches ›Geburt der Tragödie‹, S. 122–160 VII ›Die Kunst in der Zeit der Arbeit‹ (Nietzsches ›Bayreuth-Gedanke‹), S. 161–196 VIII Realisation (Zum Kubismus von Georges Braque), S. 197- 218 Die Kunst und der Raum. In: Erinnerung an Martin Heidegger, hrsg. v. Günther Neske, Pfullingen 1977, S. 131–148 Jacob Burckhardts Bedeutung für die Ästhetik. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 53, 1979, Heft 2, S. 173–190 Philosophie und Kunst. In: Kulturwissenschaften. Festgabe für Wilhelm Perpeet zum 65. Geburtstag, hg. v. Gerhard Pfafferott, Bouvier: Bonn 1980, S. 229–243 Selbstentfremdung – Weltentfremdung. Über den Zusammenhang zwischen europäischer Philosophie und moderner Technik. In: Technik als Weltverhält­ nis. Eine Sammlung von Beiträgen zum Studententag Pfingsten 1981, Evangeli­ sches Studienwerk Villigst e. V., Villigst 1982, S. 28–56 Das Interesse des interesselosen Wohlgefallens. In: Das Denken am Ende der Philosophie. In memoriam Dusan Pirjevec, hg. v. Mihailo Djuric und Ivan Urbancic, 1982, S. 96–101 Leibniz und die Kybernetik. In: Parabel. Schriftenreihe des Evangelischen Studi­ enwerkes Villigst, Band 1: Natur-Wahrheit-Wissenschaft, Naturwissenschaft­ ler in der Krise ihrer Wissenschaft, edition liberacion: Münster 1984, S. 42–58 Kunst-Erkenntnis bei Jacob Burckhardt. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Lite­ raturwissenschaft und Geistesgeschichte, 58, 1984, S. 16–37 Jacob Burckhardts Gedanke des ökumenischen Maßstabs. In: Wege zur Kunst und zum Menschen, Festschrift für Heinrich Lützeler zum 85. Geburtstag. Hrsg. v. Frank-Lothar Kroll, 1987, Bouvier Verlag Herbert Grundmann Bonn, S. 427–443 Selbstentfremdung – Weltentfremdung. Über den Zusammenhang zwischen europäischer Philosophie und moderner Technik. In: Parabel. Schriftenreihe des Evangelischen Studienwerks Villigst, Bd. 9: Technik und Kunst. Heidegger: Adorno, hg. v. Hartmut Schröter, edition liberación: Münster 1988, S. 41–53 ›Der Ursprung des Kunstwerkes‹ und die moderne Kunst. In: Kunst und Technik. Gedächtnisschrift zum 100. Geburtstag von Martin Heidegger, hg. v. Walter Biemel und Friedrich-Wilhelm v. Herrmann, Klostermann: Frankfurt/M. 1989, S. 219–254

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Die ›Kehre‹ in Heideggers Verständnis der Geschichte. In: Destruktion und Über­ setzung. Zu den Aufgaben der Philosophiegeschichte nach Martin Heidegger (Acta humaniora), hg. v. Thomas Buchheim, VCH acta humaniora: Weinheim 1989, S. 101–125 Der Zusammenhang zwischen dem Ende der Kunst und dem Beginn der Kunst­ wissenschaft bei Hegel. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwis­ senschaft, 34/1, 1989, S. 82–89 On Schelling's Philosophy of Nature. In: Idealistic Studies 19 (3) Sept. 1989, S. 222–230. Ein vergessenes Paradigma. Über das Buch von Dieter Rahn: ›Die Plastik und die Dinge. Zum Streit zwischen Philosophie und Kunst, (Freiburg: Rombach 1993)‹. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, 38/2, 1993, S. 207–236 Geijutsu no kukan. zoukeigeijutsu no gengo e no michi. Der Raum der Kunst. Wege zur Sprache der bildenden Kunst (Aufsatz-Samm­ lung, mit der Erstveröffentlichung von: ›Das Haus, der Turm, der Platz. Hölderlin und die Architektur‹- in Japanisch), Tokyo: Seikyusha 1993 Vertrieb der Sonderauflage mit deutschem Teil: konkursbuch Verlag Claudia Gehrke: Tübingen Jacob Burckhardts Gedanke des ökumenischen Maßstabs. In: Umgang mit Jacob Burckhardt. Zwölf Studien, hg. v. Hans R. Guggisberg (Beiträge zu Jacob Burckhardt Bd. 1), Schwabe: Basel 1994, 263–281 Sprache als ›Überschuß‹. Gedanken Jacob Burckhardts zum Sprach-Charakter der Künste. In: Festschrift Lorenz Dittmann, hg. v. Hans-Caspar Graf von Both­ mer, Klaus Güthlein und Rudolf Kuhn, Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang 1994, S. 27–35 Ewigkeit und Hinfälligkeit. Der Ort der Künste in der ›Cultur‹ nach Jacob Burckhardt. In: Kriza i Perspektive Filozofije. Mihailu Djricu za sedamdeseti rodendan, hg. v. Danilo N. Basta u.a., Tersit, Beograd 1995, S 181–200 La connaissance de l'art chez Jacob Burckhardt. In: La Part de l'Œil 15–16, 1999– 2000, S. 9–25. Hölderlins Elegie ›Brod und Wein‹. Gegenwart und Mythos. In: Friedrich Höl­ derlin zu seiner Dichtung, hg. v. Christophe Fricker und Bruno Pieger. Castrum Peregrini, Amsterdam, Bd. 54, 2005, H. 266/267, S. 35–56 ›Die falsche Größe‹. Jacob Burckhardts Kritik der Verwechslung von Größe mit Macht. In: Das Denken in den Wirren unserer Zeit. Festschrift zum 80. Geburts­ tag von Akademiker Mihailo Djuric, hg. von Danilo Basta und Caslav D. Kopri­ vica, Beograd: Gutenbergova Galaksia 2005, S. 197–213

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Maßstäbe der Kunst- und Geschichtsbetrachtung Jacob Burckhardts (Beiträge zu Jacob Burckhardt Bd. 5), Schwabe Beck: Basel München 2006 (Gesammelte Aufsätze mit den Erstveröffentlungen von ›Das Verhältnis der Cultur zur Sitt­ lichkeit‹ und ›Das musikalische Gleichnis‹.) Jacob Burckhardts Gedanke des ökumenischen Maßstabs, 15–34 Jacob Burckhardts Bedeutung für die Ästhetik, S. 35–54 Der Zusammenhang zwischen dem Ende der Kunst und dem Beginn der Kunstwissenschaft bei Hegel, S. 55–62 Kunst-Erkenntnis bei Jacob Burckhardt, S. 63–88 Der Ort der Künste in der ›Cultur‹, S. 89–110 Sprache als ›Überschuß‹, S. 111–130 ›Das Verhältniß der Cultur zur Sittlichkeit‹, S. 131–166 Das musikalische Gleichnis, S. 167–202 Der Weltbezug der Künste. Schelling, Nietzsche, Kant, Alber: Freiburg 2011 (147 S.) Dichtung und Geschichte. Beiträge Hölderlins zur Geschichtsphilosophie und zur Philosophie der Künste, hg. v. Dieter Rahn. Germanistische Texte und Studien Bd. 98, Georg Olms: Hildesheim Zürich New York 2019 (362 S.)

Nur zum Teil veröffentlichte Texte Kunstgeschichtliche Betrachtungen. Jacob Burckhardts Topologie der Künste. Bd. I + II, Typoskriptkopien Tübingen 1984 und 1987

Inhalt Band I (1984): Vorbemerkung 4 Einleitung: ›Über das Studium der Geschichte‹ (1868–1873) 8 § 1 ›Das Geschichtliche‹ 8 § 2 Die Vereinbarkeit von Wandel und Bestand 34 § 3 Der Maßstab im Gedankengang der Vorlesung 48 § 4 Über das Studium der Künste? 63 Erster Teil: ›Über die Kunstgeschichte als Gegenstand eines akademischen Lehrstuhls‹ (1874) § 5 Der Unterschied der ›Anleitung‹ zur Forschung 75 § 6 Die Ambivalenz der Moderne: Epochenkrise und Weltoffenheit 83 § 7 Kunst-Wissenschaft 102 a Die verschiedenen Motive im modernen Studium alter Kunst 102 b ›Bewunderung‹ und ›Belehrung‹ 106 c ›Aneignung‹ 110

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§ 8 Exkurs I Die Phasen in Burckhardts Rubens-Studium 117 1 Der Dramatiker 119 2 Der Erzähler 123 3 Der Architekt 126 4 Der Maler 132 5 ›Aneignung‹ bei Burckhardt 148 § 9 Die moderne Kunstblindheit 155 a Die Reduktion aufs Wünschbare 158 b Die Reduktion aufs Nutzbare 161 c Die Reduktion aufs Lesbare 167 § 10 Die Stellung der Kunst in der Weltgeschichte 170 § 11Exkurs II Die Stellung der griechischen Kunst in der Weltgeschichte 175 1 Burckhardts ›Betrachtung der griechischen Kunst‹ 175 2 Plastizität 181 3 Schönheit und Agon 190 4 Das Paradigmatische der Griechen 194 Zweiter Teil Die Kunstaspekte der Italienbücher Burckhardts § 12 Kunstgeschichte und Geschichte 198 § 13 ›Der Cicerone‹ (1855): Italien 206 a Das Vorbild Kuglers 206 b Vier Architektur-Beispiele 212 c ›Anleitung‹ zur ›Anschauung‹ 225 § 14 ›Die Cultur der Renaissance in Italien‹ (1860): Das Zeitalter der ›Kunst‹ 232 a ›Renaissance‹: Name und Epoche 232 b Die Poesie im Spiel von ›Mensch‹ und ›Welt‹ 239 1 Poetische Selbstentdeckung 239 2 Poetische Weltentdeckung 243 3 Dichtung als ›Bildung‹ 255 c Die Feste in der Renaissance 259 d Exkurs III Heroenverehrung? Aby Warburg über Burckhardt 267 1 Der Renaissancekult des fin de siècle 268 2 Kaufleute und Künstler in der Frührenaissance 277 3 ›Mediceisches Festwesen und bildende Kunst‹ 284 e ›Der Staat als Kunstwerk‹ 303 1 Die ›berechnete Schöpfung‹ 303 2 Die ›absolute Machtvollkommenheit‹ 312 3 Die ›unbedingte Sachlichkeit‹ 318

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§ 15 ›Die Baukunst der Renaissance in Italien‹ (1867) I: Anschauung und Darstellung 324 a ›Es ist nicht zum Lesen‹ 324 b ›rasend schwer‹ 333 c Die Textgeschichte 338 d ›Systematik‹ bei Burckhardt e Das ›Fachwerk‹ der Einteilung I Teilungen 1 Die Zweiteilung (Architektur und Dekoration) (363) 2 Kapitelgruppen (364), Paragraphenfolgen (366) II Verbindungen Einleitung: Gartenarchitektur und Festarchitektur 381 1 Spiegelungen (384), 2 Verflechtungen (401), 3 Verlagerungen (403), 4 Überlagerungen (406), 5 Orientierungen (411) f Renaissance – Italien – Baukunst 414 § 16 ›Die Baukunst der Renaissance in Italien‹ II: Der Bild-Raum Einleitung: Die ›Prosa der Kunst‹ 421 a Die ›Baulust‹ 424 1 Gegensätzliche Präzedentien 424 2 ›Der mächtigste monumentale Wille‹: Florenz (Dombau, Rusticafassade) 434 3 Der Sinn für Größe: Rom (Palastbau, S. Peter) 447 b Die ›Kunst‹ 466 1 Die Kennerschaft der Auftraggeber 466 2 Vielseitigkeit und Originalität der Künstler 469 3 Das Baumodell 473 c Schönheit 477 I ›Raumschönheit‹ 477 1 Die Kunst der Renaissance: ein ›abgeleiteter Stil‹ 478 2 Die Anfänge der Renaissancebaukunst bei Brunellesci 485 3 ›Organische Stile‹ und ›Raumstile‹ II ›Allgemeine Ansicht vom Kirchenbau‹ 1 ›Der Mangel eines besonderen kirchlichen Formensystems‹ 510 2 Die ›architektonische Gesamtwirkung‹ 517 3 Die ›religiöse Unsicherheit unserer Zeit‹ 530 III ›Musikalische Proportionen‹ 536 d Schmuck (Bauform und ›Zierform‹) 552 1 Das Rahmen von Flächen; die Wirkung der Stoffe und der Glanz der Geräte 555 2 Dekoration als Gefahr, Dekoration als Gewinn (Raffaels Loggien im Vatikan) 563 3 ›Künstlerische Absicht der Scena‹ 572 Anmerkungen A 1 -A 92. Bildbeispiele B 1- B 48

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Inhalt Band II (1987): 30. September 1987. Fragmentabschluß Dritter Teil: Die Zeitstruktur der Kunst § 17 Die Zugehörigkeit der Künste zur ›Cultur‹ 1 a Sind ›Cultur‹ und Kunst ›das Höchste‹? 1 b ›Cultur‹: Reflexion und Situation 6 c Die Künste: Ewigkeit und Hinfälligkeit 11 § 18 Kunst: Sprache als ›Überschuß‹ 20 a Der Tauschcharakter der Sprache 20 b Der Reichtum des Anfangs 25 c Der Weltgehalt des Schmucks 31 § 19 ›Das einzig irdisch Bleibende‹ 44 a ›Rätselhafter als die Wissenschaften‹ 44 b Weder ›Verewigung‹ noch ›Nachahmung‹ 49 1 Die Autarkie der Kunst 50 2 ›Irdisch-unsterblich‹ 55 3 Das Paradigma der Architektur 60 4 Kunst und Religion 72 Inwiefern ›Dienst‹? 73 Die Kunst in ihrer Bedingtheit durch die Religion 77 Die Religion in ihrer Bedingtheit durch die Kunst 83 5 Das Merkmal der ›Poesie‹ 89 c ›Allgültige Bilder‹ 93 § 20 ›Das Verhältnis der Cultur zur Sittlichkeit‹ 104 a Die Künste und der Erwerbssinn 105 b Unser Maßstab der ›Sekurität‹ 108 c ›Unser abgeschmackter Haß des Verschiedenen‹ 119

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Vierter Teil: Der Geschichtsbezug der Kunst § 21 ›Die historische Größe‹ 139 a Die falsche Größe (Die Verwechslung von Größe mit Macht) 140 b ›Fraglichkeit des Begriffes Größe‹ 160 1 ›Große Verschiedenheit‹ der Merkmale 160 2 Das Geflecht der Vortragsgliederung 166 3 Die Problematik des ›Gesamtwillens‹ 177 4 Einteilungsprinzipien (Die Erweiterung des Schlußkapitels zum Vortrags­ zyklus) 184 5 ›Die Individuen und das Allgemeine‹ 191 6 Das ›Weltganze‹ und die ›Weltgeschichtliche Bewegung‹ 198 c Größe in den Künsten Einleitung: Die Verschiedenartigkeit des ›Primären‹ 204 Exkurs I Das musikalische Gleichnis 212 1 Flüchtigkeit 213 2 Gesetzlichkeit 219 (1) Der Rhythmus 221 (2) Instrumentalmusik 230 (3) ›Ein Comet‹ 236 3 Persönliche Größe 242 (-248) Anmerkungen A 1 – A 16

Vorgesehen, aber wohl nicht ausgeführt, waren hier noch der Schluß zu § 21: § 21 c II-IV: Burckhardts Bemerkungen zur ›Größe‹ der Poesie, der Architektur, sowie der Malerei und Plastik. und ein § 22: ›Zur geschichtlichen Betrachtung der Poesie‹ mit einem Exkurs: ›Weltstellungen altgriechischer Lyrik‹.

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