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German Pages 751 Year 2013
© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525310106 — ISBN E-Book: 9783647310107
Wege der Totalitarismusforschung Herausgegeben von Günther Heydemann
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Jacob L. Talmon
Die Geschichte der totalitären Demokratie Band III Der Mythos der Nation und die Vision der Revolution: Die Ursprünge ideologischer Polarisierung im zwanzigsten Jahrhundert
Herausgegeben und eingeleitet von Uwe Backes unter Mitarbeit von Silke Isaak und Annett Zingler
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Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-31010-6 ISBN 978-3-647-31010-7 (E-Book)
Umschlagabbildung: Jacob L. Talmon, ca. 1970 Foto: privat
© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: Hannah-Arendt-Institut, Dresden Druck und Bindung: h Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
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Für Bertel, meine Frau, und Danielle und Maya, meine Töchter
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L’histoire ne servirait a rien, si l’on n’y met les tristesses de présent Jules Michelet
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Vorwort Das folgende Buch entstand – auch, um als abschließender Band einer Trilogie zu dienen – im Zuge der Untersuchung des Zusammenspiels der Ideologie des Nationalismus und der Er wartung einer totalen, universellen Revolution im letzten Viertel des 19. und ersten Viertel des 20. Jahrhunderts. Die beiden vorangegangenen Werke, Die Ursprünge der totalitären Demokratie und Politischer Messianismus. Die romantische Phase, verfolgten die Ursprünge und die Entwicklung der Tradition des revolutionären Messianismus mit seinen Grundprämissen, die sich von der Aufklärung herleiten, seiner Inspiration und seinem Vorbild aus der jakobinischen totalitär-demokratischen Diktatur und Babeufs kommunistischer Verschwörung sowie deren Vision eines vorherbestimmten und allumfassenden Musters historischer Unvermeidbarkeit, das zu klassenloser Einmütigkeit ( der totalitären Demokratie), abgeleitet aus dem sozialistischen Gedankengut des 19. Jahrhunderts, führen sollte. Dieses Buch befasst sich mit den vor 1914 liegenden Ursprüngen der Spaltung der europäischen, vor allem russischen, sozialistischen Bewegung in Reformismus und revolutionären Radikalismus, die anscheinend auf einer tieferen Ebene dem Unterschied entsprach zwischen der Akzeptanz der historischen nationalen Gemeinschaft als natürlichem, politisch-sozialem Rahmen und der Vision einer sozialistischen Weltgesellschaft, die durch einen universellen revolutionären Durchbruch erreicht wird. Es untersucht dann, wie die russische Variante des revolutionären und internationalistischen Messianismus in der Feuerprobe des Ersten Weltkrieges siegreich aus ihrer Konfrontation mit dem Mythos der Nation her vorging, aber nicht das unvermeidliche Endprodukt der sozioökonomischen Entwicklung darstellte. Fortan diente die bolschewistische Revolution als neue Inspiration und Vorbild und Russland als prometheischer Führer – oder Schutzmacht – aller Gläubigen der Religion der Revolution, vor allem auch derer, die sie außerhalb Europas praktizierten. Am anderen Ende verband sich das Gespenst des revolutionären Internationalismus mit anderen Stimuli, um die hasserfüllten und verängstigten Anhänger des kämpfenden integralen Nationalismus in den besiegten oder unzufriedenen Nationen in die Arme des totalitären Faschismus und des rassistischen Nazismus zu treiben. Im Verlauf der langen Jahre, die es brauchte, um dieses Buch zu schreiben, und die sich durch eine Reihe von Hindernissen und misslichen Umständen umso schwieriger gestalteten, wurde mir durch einige Stiftungen und akademische Institutionen großzügige Hilfe zuteil. Danken möchte ich – in chronologischer Reihenfolge – der Rockefeller Stiftung für das Forschungsstipendium,
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Vorwort
das sie mir in einem frühen Stadium bewilligte; dem St.-Catherine’s-College und seinem Leiter Lord Bullock, einem Freund und ausgezeichneten Historiker und Kollegen, für das mir 1962/63 bewilligte Gastforscherstipendium; dem Institute of Advanced Study in Princeton, wo ich 1967/68 das Glück hatte, den damaligen Leiter der Historischen Fakultät, Felix Gilbert, und die mit ähnlichen Interessen befassten Mitstreiter Karl Dietrich Bracher und Carl Schorske als Kollegen zu haben; dem Massachusetts Institute of Technology dafür, dass man mich dort 1968/69 als Gastprofessor auf den Ford-Lehrstuhl für Internationale Geschichte berief; dem Netherlands Institute for Advanced Study in Wassenaar für seine Gastfreundschaft 1971/72; dem St.-Anthony’sCollege, Oxford, und dessen Rektor, meinem Freund Raymond Carr, für die dort verbrachte Zeit; dem Wolfson College und dessen erstem Präsidenten, Sir Isaiah Berlin, einem alten Freund, dessen Fähigkeit zur Inspiration und Stimulierung keine Grenzen kennt, für das Gastforschungsstipendium 1974/75; der Yeshiva University dafür, dass man mich einlud, 1976 die GottesmannVorlesungsreihe zu übernehmen – eine Aufgabe, die mir nach einer Phase, in der ich aufgrund schlechter Gesundheit beinahe die Ner ven verlor, die Kraft gab, diese Arbeit zur Vollendung zu bringen; und schließlich noch dem National Humanities Center am Research Triangle Park in North Carolina dafür, dass man es mir ermöglichte, im ersten Jahr der Existenz des Centers die Arbeit abzuschließen, deren letzte Arbeitstage, nach den glücklichsten Vorzeichen, durch den erschütternden Tod des hingebungsvollen und großzügigen ersten Präsidenten des Centers, Charles Frankel, getrübt wurden. Es wäre schwierig, all jene zu nennen, die mir in der einen oder anderen, manchmal unbestimmten und unmerklichen Weise dabei halfen, das Projekt durchzuführen. Besondere Er wähnung verdienen jedoch meine direkten Assistenten, an erster Stelle Lily Polliack, meine Langzeit-Assistentin, die mit der ihr eigenen Loyalität darauf bestand, das ganze Buch allein abzutippen, zusätzlich zu ihrem wichtigen Anteil an der Forschungsarbeit. Amos Hoffman stand mir als Lehr- und Forschungsassistent in der Abschlussphase 1977/78, einem weiteren Jahr mit Gesundheitsproblemen, treu zur Seite. Ich möchte Maya Asheri danken, deren Forschungen über Mussolini und den Aufstieg des Faschismus eine bedeutende Hilfe darstellten, und meinen anderen Doktoranden, deren Sprachkenntnisse von großem Nutzen waren, Rachel Heuberger, Alex Dan, Mordechai Zeldon und Enzio Nepi. Meine Kollegen Dr. Hedva Ben-Israel, Professor S. N. Eisenstadt und Dr. Jonathan Frankel lasen Teile des Manuskripts und gaben wertvolle Hinweise. Die Diskussionen mit Professor Zeev Sternhell und Dr. Baruch Knei-Paz waren eine wertvolle Hilfe. Sternhells Buch La Révolution Nationale 1855–1914 und dasjenige von Knei-Paz über The Social and Political Thought of Leon Trotsky kamen zu spät heraus, um in diesem Buch zitiert zu werden, so sehr sie es auch verdient hätten. Ich
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Vorwort
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zog großen Gewinn aus den Unterhaltungen mit meinen Jerusalemer Kollegen und Freunden, den Professoren Joshua Arieli und Emanuel Sivan, und Dr. Benjamin Kedar, und nicht weniger aus den Kontakten zu den Professoren Perez Zaprin und Norman Fiering am National Humanities Center. Melvin J. Lasky, dem Herausgeber des Encounter, gilt mein Dank dafür, dass er mir für dieses Buch den Wiederabdruck des Essays über Die Hinterlassenschaft von Georges Sorel – Mar xismus, Gewalt, Faschismus erlaubte, der in seiner Zeitschrift erschien, und für die Erlaubnis, großzügig aus Professor Michael Confinos Buch Daughter of a Revolutionary zu zitieren, namentlich die darin enthaltene Bakunin-Netschajew-Korrespondenz, die bei Alcove Press erschienen ist. Schließlich möchte ich David Farrer, dem Leiter des Literaturressorts im Verlag Secker und Warburg, und meiner Freundin Bernadette Folliot für ihre unverzichtbare und gewissenhafte Hilfe bei der Überarbeitung und Redaktion des Textes meine tiefe Dankbarkeit aussprechen. Unnötig zu er wähnen, dass der Autor die alleinige Verantwortung für die in diesem Buch zum Ausdruck gebrachten Ansichten trägt.
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Inhalt Einleitung
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1. Die Entfaltung einer Dichotomie 2. Sekte und Kirche 3. Auf Konfrontationskurs 4. Die Ursprünge ideologischer Polarisierung 5. Das Verwischen der Grenzen
Erster Teil Marx, Engels und die Nation I. II. III. IV. V. VI.
17 27 28 32 36
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Marx’ und Engels’ chiliastische Periode Europa am Beginn der Revolution Die einzige und unteilbare Revolution Polnische Schwärmerei Recht und Gewalt in der globalen Revolutionsstrategie Die unvollständige Theorie 1. Revolutionäre Diplomatie 2. Prototyp zukünftiger Realitäten VII. Schlussfolgerungen
41 50 54 56 61 76 77 83 92
Zweiter Teil Die Emanzipation des Proletariats und das Schicksal der Nation – das Wilhelminische Deutschland
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I. II. III. IV. V.
Zwei Gesinnungen – Rosa Luxemburg und Eduard Bernstein Revolutionäre Orthodoxie und reformistische Häresie Porträt der internationalistischen Revolutionärin als junge Frau Antwort an eine Prophetin Eine polarisierte Nation – das Zweite Reich 1. Der „preußische Mythos“ 2. Eine autoritäre Philosophie von Staat und Gesellschaft 3. Weimar ante litteram – die SPD VI. Die Lektionen von 1905 in Russland
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99 103 112 123 131 131 138 142 150
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Inhalt
VII. Die einzige und unteilbare Weltrevolution – im Zeitalter des Imperialismus VIII. Nationalistischer Separatismus oder revolutionärer Klasseninternationalismus im polnischen Sozialismus
Dritter Teil „Die Hexenküche“ und ihr Gebräu: das Nationalitätenproblem – Österreich I. Österreich als historischer Musterfall II. Klasse oder Nation? III. Die Bürde der irrationalen Geschichte gegenüber der Modernisierung IV. „Ein Kampf auf Leben und Tod“ V. Die vom Nationalismus ausgehöhlte Demokratie VI. Das Scheitern des sozialistischen Internationalismus VII. Eine sozialistische Theorie der Nationalität
Vierter Teil Die jüdische Dimension I. II. III. IV.
Das fremde Ferment und der Schatten des Berges Der Vorreiter und der Usurpator Testfall und Prüfstein Die Begegnung von Juden und Nichtjuden in der modernen Gesellschaft V. „Die soziale Frage ist die jüdische Frage“ – „jüdischer Kapitalismus“ und „jüdischer Marxismus“ als Hebel des nationalen Sozialismus VI. Der Weg nach Auschwitz – Rassismus VII. Die Begegnung mit der Revolution
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156 164
173 175 181 187 192 198 205 210
217 219 229 235 240
248 262 274
Inhalt
Fünfter Teil Russland – heilig, entweiht und auserkoren I. II.
Russland – heilig, entweiht und auserkoren Die Geburt einer Revolutionsideologie – Belinski und Herzen 1. Das Porträt eines Pilgers 2. Die universelle Idee und die Versöhnung mit ihr 3. Die Erziehung eines Rebellen 4. Ein Nest von Revolutionären 5. „Die Algebra der Revolution“ 6. Russland: die Nation als Messias 7. Die Ernüchterung über den Westen 8. Kultur oder Gerechtigkeit 9. Erlösung durch die Slawen III. Der Verlust der spirituellen Geheimnisse der Herrschaft – Tschernyschewski und Dobroljubow 1. Der schüchterne Wohltäter der Menschheit 2. Die Metaphysik der Revolution: Materialismus und Utilitarismus 3. Sozialistischer Realismus in den Künsten 4. Totale Hingabe 5. Elite und Gewalt IV. Die Widersprüchlichen – Bakunin und Lawrow 1. Massenspontaneität und revolutionärer Voluntarismus 2. Anarchie und diktatorische Führung 3. Die Abschaffung des Staates V. Eine russische Version totalitärer Demokratie – Tkatschow 1. Der Kommissar 2. Ökonomischer Determinismus und menschliche Entschlossenheit 3. Jetzt oder nie 4. Die revolutionäre Diktatur der minoritären Avantgarde 5. Die soziale Revolution von oben VI. Wenn „Beständigkeit den Punkt der Monstrosität erreicht“ – Netschajew und Bakunin 1. „Ist alles erlaubt und nichts verboten?“ – Zwecke und Mittel 2. Der Prototyp eines Revolutionärs 3. Absolute Konsistenz oder menschliche Pathologie? 4. Die Spinne im Netz – Bakunin und Netschajew
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297 299 304 304 307 313 317 319 323 325 327 333 336 337 340 345 347 355 359 359 366 374 378 378 382 384 389 390 395 395 396 403 405
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Inhalt
Sechster Teil Lenin – internationaler Revolutionär und Architekt des neuen Russlands 417 I.
II.
Die Lehrjahre 1. Erbe und Erneuerer 2. Der Prophet des Krieges ( Lenin ) und der Prophet des Friedens ( Jaurès ) 3. Paranoia und selbsterfüllende Prophezeiung – der Kampf zwischen Autokratie und Revolution 4. Die Metaphysik einer belagerten und zum Untergang verdammten Autokratie 5. 1905 – der Vorhang geht auf 6. Lenin – Spalter und Revolutionsstratege Krieg und Revolution 1. Die zweite internationale Debatte a ) Kolonialismus b ) Bürgerliche Koalitionsregierungen c ) Das Gespenst des Krieges 2. Die Stunde der Wahrheit a ) Die Katastrophe vom August 1914 b ) Märtyrertum und Erlösung 3. Lenin: „Sozialismus oder Nationalismus“ a ) Nation, Klasse und das Recht auf nationale Selbstbestimmung b ) Imperialismus c ) Der Versuch eines revolutionären Sozialisten einer Unterdrückernation d ) Vom internationalen Krieg zum Bürgerkrieg 4. 1917 a ) Vaterlandsverteidigung und Neigung zum Aufgeben – die entscheidende Frage der Revolution b ) Ein bewusster Plan und die Macht der Umstände – Bolschewiki und Jakobiner c ) Die Revolution polarisiert d ) Der Allgemeine Wille und das revolutionäre Proletariat e ) Proletarische Diktatur und klassenlose Einstimmigkeit f ) Nationalrevolutionäre Verteidigung
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419 419 423 439 446 455 465 483 483 484 488 489 497 498 501 505 505 507 509 514 518 519 524 526 528 531 533
Inhalt
Siebenter Teil Der Allgemeine Wille des weltweiten Proletariats – universelle totalitäre Demokratie I. II. III. IV. V.
Die nationale und die internationale Revolution Die Bolschewisierung der Dritten Internationale Ost und West Das Mutterschaf – die osteuropäischen Nationen unter dem roten Schatten Die Wiedereinsetzung der Zweiten Internationale und die Vollendung des Schismas
Achter Teil Von Georges Sorel zu Benito Mussolini I.
II.
Die Hinterlassenschaft von Georges Sorel – Marxismus, Gewalt, Faschismus 1. Der heroische Sprung 2. Die Revolte gegen die Politik 3. Gewalt, Terror und Erneuerung 4. Zwischen Marx und Mussolini 5. Nihilismus: von Sorel zu Valois Mussolini und das faschistische Endziel 1. Die Besonderheiten der Vergangenheit Italiens – die Abwesenheit eines italienischen nationalen Mythos 2. Das Risorgimento – ein „verstümmelter“ Traum 3. Auf der Suche nach einem Mythos und Macht 4. Die offenkundige Bestimmung Italiens 5. Krieg als Revolution 6. Mussolinis sozialistisches Credo – Revolution und Gewalt 7. Der Bruch mit dem Internationalismus 8. Die Suche nach einer Mission – vom sozialen Messianismus zum Imperialismus 9. „Die Philosophie des Faschismus“ 10. Die Unzulänglichkeiten der Demokratie und die Fehler des Sozialismus 11. Das Imperium
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541 543 555 559 562 565
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569 570 574 581 589 594 600 601 602 605 609 611 613 619 624 628 633 635
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Inhalt
Neunter Teil Die deutsche Revolution von 1918 und Hitler in den Startlöchern I.
II.
Die Dilemmata der deutschen Revolution von 1918 1. Eine reizbare Nation 2. Eine problematische Demokratie 3. Richtig oder falsch – es ist meine Revolution Hitler in den Startlöchern 1. Ein bedrückendes Erbe: das Wiener „granitene Fundament“ von Hitlers Weltanschauung 2. Neurosen werden mörderischer Wahnsinn 3. Über den Nationalismus hinaus 4. Die Geführten und ihr Führer 5. Die fernen Grundsteine 6. „Rom und Judäa“
639 641 641 642 646 652 652 658 664 666 670 674
Schlussfolgerungen
677
Anhang
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Literaturverzeichnis Personenverzeichnis
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Einleitung
Dieses Buch ist das Ergebnis langen Nachdenkens über die Entwicklung und den Einfluss der zwei mächtigsten ideologischen Kräfte der letzten zweihundert Jahre, man könnte sie auch säkulare Religionen nennen : der Vision einer totalen sozialen Weltrevolution und dem Mythos der Nation. Ihr Verhältnis zueinander war immer schwankender Natur und zahlreichen Wandlungen unter worfen, von der Allianz und geradezu Quasi - Identität über Mehrdeutigkeit, Rivalität und direkten Konflikt bis hin zu tödlicher Konfrontation. Diese Dialektik spielte sich auf lokaler Ebene gemäß den Orts - und Zeitumständen sowie auf globaler Ebene ab. Die folgenreichste und alles bestimmende Begegnung fand im Verlauf und in der Folge des gewaltigen Umbruchs statt, den der Erste Weltkrieg darstellte. Der beispiellose Schock und das Leid, das der Krieg erzeugte, verliehen diesen zwei Glaubensbekenntnissen furchtbare Wirkmacht : Denn sie schienen der Katastrophe Bedeutung zu verleihen und Hoffnungen auf eine entsprechende Entschädigung in Form eines heilbringenden dénouement zu nähren. Daher befassen wir uns hier aus methodischer wie inhaltlicher Sicht mit der dialektischen Interaktion zwischen Ideen und historischen Realitäten. Der Erste Weltkrieg und, davor, der Aufstieg und die Verbreitung der globalen imperialistischen Formen ethnisch - sozialer Unterdrückung brachten die Religion der universellen messianischen Revolution und totalitären Demokratie auf die Tagesordnung, da sie eine Botschaft höchster Bedeutung und Dringlichkeit enthielt; dies galt umso mehr, nachdem sie in der bolschewistischen Revolution zum Tragen gekommen waren. Gleichzeitig hatte die Idee der Nation als Quelle und Fokus aller Werte, als wichtigstes Vehikel kollektiver Verwirklichung, ihre unvergleichliche Macht im größten aller bisher dagewesenen Kriege unter den Nationen bewiesen. In den besiegten und unzufriedenen Nationen wurde diese Idee zu einem Absolutum in Form des FaschismusNationalsozialismus und Rassismus, der auch mit früher entstandenen Ideen verknüpft war, nun mit morbiden Leidenschaften durchtränkt.
1. Die Entfaltung einer Dichotomie Der „Tod Gottes“ im 18. Jahrhundert schickte viele Menschen auf die Suche nach Brennpunkten kollektiver Identität, die sich völlig von der Kirche und der Bruderschaft christlich Gläubiger distanzierten. Solch einen Ersatz fand man
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Einleitung
in der Nation.1 Das Auseinanderreißen der traditionellen Bindungen, die so lange vom Feudalismus, dem Zunftsystem und hierarchischen Strukturen aufrechterhalten worden waren, vereinte sich mit sozialer Mobilität und Städtebildung, die aus Menschen Atome machte – Individuen, die nur durch ein einziges Ganzes zusammengehalten wurden : die nationale Gemeinschaft. Diese Gemeinschaft fassten jene ins Auge, die aufgewachsen waren mit den Ideen der Aufklärung und der Französischen Revolution als Gesellschaft von freien und gleichen Bürgern, die in ständiger Beratung am gemeinsamen Wohlergehen teilnahmen. Für diejenigen, die an organische Ganzheiten glaubten, nahm die Nation die Form eines primären Bezugspunktes an, den Individuen übergeordnet, aus denen sie sich zusammensetzte. Ihr einzigartiger Besitz, die Sprache, grenzte die Nation von allen anderen ethnischen Einheiten ab. Keine willkürliche Erfindung irgendeines Individuums oder einer Gruppe, die bewusst eines zum anderen fügte, sondern die Frucht unendlich langsamen Tastens zahlloser Menschen nach einer Ausdrucksform, mit Wörtern und Sprachformen, die wie eine elementare Kraft her vorbrachen, schien der Kollektivcharakter der Sprache die Vorrangstellung und Überlegenheit der Gruppe über das Individuum zu beweisen. Der wunderbare Zusammenhalt des ausgereiften Produkts konnte auch als Beweis für eine Seele angesehen werden, die ein besonderes natürliches Geschenk des Volksstammes und nicht nur die Spiegelung eines abstrakten universalen Verstandes war. Eine unergründliche nationale Seele bedingte alle Reaktionen der Mitglieder der Volksgruppe. Als solche bestimmte sie historische Tradition, Geschicke und Schicksal der kollektiven Entität. Die erste Version – wir könnten sie die Rousseau’sche nennen – neigte zu rationalistischen, egalitären und allumfassenden Schemata : Mit der Freiheit der Wahl ausgestattet, bestimmten die Menschen ihr eigenes Leben gleichsam immer aufs Neue auf der Basis eines Vertrages. Die zweite Version, die von Herder inspiriert wurde, ließ sich nicht leicht mit der Idee von der Einheit der Menschheit und der objektiven Wahrheit vereinbaren. Sie enthielt konser vative Möglichkeiten wegen ihrer Tendenz, die besondere Vergangenheit und die einzigartigen Traditionen der Nation als Ausdruck einer wert1
Siehe folgende Liste von Arbeiten über den Nationalismus: Akzin, Nations and Nationalism; Carr, Nationalism and After; Deutsch, Nationalism and Social Communication; Girardet (Hg.), Le Nationalisme français; Hayes, The Historical Evolution of Modern Nationalism; ders., Nationalism; Henry, Le Problème des nationalités; Ionescu / Gellner (Hg.), Populism; Kamenka (Hg.), Nationalism; Kedourie, Nationalism; Kohn, Nationalismus; ders., Propheten ihrer Völker; Koyré, La Philosophie et le problème national; Lemberg, Nationalismus; Minogue, Nationalism; Mosse, Die Nationalisierung der Massen; d’Assac, Doctrines du nationalisme; Pouthas, Le Mouvement des nationalités; Schafer, Faces of Nationalism; Schapiro, Rationalism and Nationalism; Smith, Theories of Nationalism; Szacki, Ojczyzna; Talmon, Romaticism and Revolt; ders., The Unique and the Universal, S. 11–63.
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Die Entfaltung der Dichotomie
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vollen Gruppenauthentizität und - integrität zu heiligen, was auch immer deren politischer und sozialer Inhalt war. In einer Nation mit einer erfolgreichen und expansionistischen Vergangenheit hat eine solche Auffassung von Nationalität tatsächlich den herrschenden Klassen, dem Adel und den militärischen Kasten oft bei der Behauptung geholfen, sie seien die Urheber ihrer Größe und ihr eigener, privilegierter Status sei daher sowohl eine Belohnung für historische Verdienste als auch eine Bedingung für die dauerhafte Größe der Nation.2 Die historische Erfahrung hat jedoch auch gezeigt, dass in Zeiten nationaler Unterdrückung und sozialer Spannung die wahre Natur einer Nation über einen emphatischen Volksgeist definiert werden kann. Die Massen werden als natürlicher Aufbewahrungsort und treuer Wächter der nationalen Tugenden verstanden. Von ihrer makellosen Spontaneität und Unmittelbarkeit, ihrer Weltabgeschiedenheit wird erwartet, dass sie sie gegen die Ansteckung mit verfälschenden Einflüssen immun machen, denen die oberen Schichten vorgeblich ausgesetzt sind, da sie mit fremden Göttern huren. Die anspruchslose Einfachheit der niederen Stände und deren standhafte Loyalität gegenüber einheimischen Traditionen und Tugenden der Vorfahren, so glaubt man, fördern eine kompromisslose Gegnerschaft und den Entschluss zum Aufruhr gegen fremde Eindringlinge und Herren. Auf der anderen Seite verführt die kraftlose und subtile Selbstsucht die Oberschicht leicht zur verräterischen Kollaboration mit fremden Herren, die es ihr möglich macht, ihren Wohlstand und ihre Privilegien zu bewahren. Der nationale Mythos der unterdrückten Nationen entwickelte sich zu einer Mischung aus Nostalgie nach vergangenem Ruhm und der Vision einer nicht minder glorreichen Restauration, der eine spirituelle Wiedergeburt und eine gerechte soziale Ordnung Dauer verliehen. Von den beiden Alternativen wählte die Französische Revolution entschieden die rationalere, als die Nationalversammlung die Generalstände ablöste, dem König von Gottes Gnaden, der über Jahrhunderte der Mittelpunkt des Nationalbewusstseins gewesen war ( so wie in England und Holland der Protestantismus und in Spanien der kreuzzüglerische Katholizismus ), die souveräne Macht entriss und ein zentralisiertes Regime auf Kosten der Autonomie der Provinzen und regionalen Institutionen schuf. Die „Erklärung der Menschenund Bürgerrechte“ erwähnt Frankreich mit keinem Wort, noch bezieht sie sich auf besondere französische Traditionen. Obwohl ihre Verfasser ohne Zweifel die besonderen Übel ihres Landes und Zeitalters vor Augen hatten, als sie sie verfassten, wurde die Erklärung wie ihre früheren amerikanischen Gegenstücke in Form von Vorschriften über politische und soziale Prinzipien verfasst, 2
Vgl. Berlin, Vico and Herder; Cobban, Edmund Burke and the Revolt against the Eighteenth Century; ders., Rousseau and the Modern State; Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat; Talmon, Herder and the German Mind, S. 91–118.
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Einleitung
die auf alle Nationen zu allen Zeiten anwendbar waren. Sie war darauf angelegt, die Gesellschaft als solche wieder aufzubauen.3 Die frühen französischen Revolutionäre waren nicht an Auslandsfragen interessiert, da sie annahmen, alle Rivalität und Kriege der Vergangenheit gingen auf den Ehrgeiz und die Raffgier der herrschenden Kasten, der Könige und des Adels zurück. Sie glaubten, Völker hegten als solche von Natur aus keine aggressiven Triebe gegen andere Nationen, nur spontane Sympathie, außer sie wurden durch verdeckte Interessen, die auf alte Vorurteile anspielten, aufgehetzt. Und so verpflichteten die französischen Gesetzgeber der Nationalversammlung Frankreich dazu, niemals auf den Krieg als Mittel nationaler Politik zurückzugreifen. Nichtsdestotrotz brach ein Krieg zwischen dem revolutionären Frankreich und dem alten, dynastischen Europa aus, der 25 Jahre dauern und das Gesicht Europas verändern sollte. Er war das Ergebnis der fatalen Inkompatibilität beider Seiten. In Vorahnung einer Situation, die infolge der Oktoberrevolution etwa 130 Jahre später aufkommen sollte, fühlte sich jede Seite getrieben, die Legitimität der antagonistischen Regierungsform schlichtweg zu leugnen sowie überhaupt das Recht ihrer Vertreter, im Namen der Nation zu sprechen. Da sie den Volkswillen als alleinige Basis politischer Legitimierung betrachteten, konnten die französischen Revolutionäre die dynastischen Könige nicht als Väter ihrer Nationen ansehen, als wären diese deren Vormunde. Auch fühlten sie sich nicht bedingungslos an die Zusagen gebunden, die von den Herrschern von Gottes Gnaden des französischen Ancien Régime gegenüber anderen Königen gemacht worden waren. Die dynastischen Regierungen des alten Europa ihrerseits fühlten sich gezwungen, die Macher und Anführer der Französischen Revolution als Rebellen und Thronräuber zu behandeln, die Umstürze in ganz Europa zu verbreiten beabsichtigten. Für die Könige und Staatsmänner der alten Schule, die kein Interesse am reinen Theoretisieren hatten, immer noch in Begriffen des alten diplomatischen Wettstreits dachten und eine gewisse Schadenfreude über die Niederlage des Höchstchristlichen Königs des stolzen und mächtigen Frankreichs empfanden, das nun durch Zwietracht und inneren Aufruhr so geschwächt war, waren die abstrakten Prinzipien, die den unüberbrückbaren Differenzen zugrunde lagen, nicht sogleich klar ersichtlich. Autoren wie Burke und Gentz lieferten bald die ideologische Begründung.4 Frankreichs Angst vor konterrevolutionärer Inter vention aus dem Ausland, die von den Aktivitäten der aristokratischen Emigration verstärkt wurde, und 3 4
Vgl. Lefebvre, Quatre - vingt - neuf; ders., The Coming of the French Revolution, S. 169–181; Aulard, Histoire politique de la Révolution française, S. 39–48. Vgl. Droz, L’Allemagne et la Révolution française; Lefebvre, La Révolution française, S. 198 ff.; Sorel, L’Europe et la Révolution française, Band 1, S. 537–552; Band 2, S. 144 ff., 154 ff.
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Die Entfaltung der Dichotomie
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die Furcht der Dynastien vor revolutionärer Ansteckung standen einander bald in direkter und tödlicher Konfrontation gegenüber. Die revolutionäre Proselytenmacherei erhielt weiteren Auftrieb durch den Wunsch der verschiedenen französischen Splittergruppen, die in erbitterter Zerrissenheit aneinander gebunden waren, aus der Sackgasse herauszukommen und die Aufmerksamkeit von den internationalen Schwierigkeiten abzulenken. Im radikalen wie auch im konser vativen Lager entwickelte sich eine weit verbreitete verzweifelte Entschlossenheit zur Polarisierung der Nation und dazu, die Menschen zu zwingen, Stellung zu nehmen und sich zur einen oder anderen Seite zählen zu lassen, unwiderruf lich zwischen König und Revolution zu wählen. Beide Seiten appellierten an den Vorrang von nationalem Interesse und Freiheit. Die Linke war darauf aus, die neu gewonnenen Freiheiten der wiederhergestellten französischen Nation zu verteidigen. Die Rechte sprach von den althergebrachten Traditionen des ewigen Frankreichs. Durch die Offenbarung und Betonung der sozialen Spannungen in einer von der Revolution zerrissenen Gesellschaft und die große Belastung eines totalen Krieges ums Überleben polarisierte diese Feuerprobe die sozialen Kräfte unter denjenigen, die durch die Revolution verlieren würden oder sich durch Instabilität und Radikalisierung bedroht fühlten, und jenen, die inbrünstig auf das neue Regime schauten, das mit seinen Heilsansprüchen hier und jetzt perfekte soziale Gerechtigkeit herstellen, das ihre formelle Freiheit und Gleichheit wahr machen wollte, indem es Wohlergehen, Arbeit, soziale Absicherung und ökonomische Gleichheit für sie sicherstellte. Die Verzweif lung der Letzteren war umso größer, als Hoffnungen dieser Art durch die Härten des Krieges und Mangel, Spekulation, Inflation und Arbeitslosigkeit, die dessen unvermeidbare Begleiter sind, zerstört wurden. Aus dieser Konvergenz eines externen ideologischen Krieges mit internem Klassenkampf und Bürgerkrieg ging eine terroristische Diktatur hervor. Sie sah sich getrieben, Strukturen forcierter Einmütigkeit durchzusetzen, eine rudimentäre, ineffiziente und belastende Wirtschaftsdiktatur und eine Klassenpolitik, die dazu neigte, das Konzept des Franzosen auf die Anhänger des radikalen Zweigs der revolutionären Ideologie zu beschränken. Diese Politik war dazu ausersehen, die armen Patrioten auf Kosten der Reichen leben und den Krieg führen zu lassen. Letztere wurden der Illoyalität gegenüber der national-sozialen Sache der Revolution verdächtigt. Manch einer – besonders SaintJust mit seinen Ventôse-Gesetzen – fasste sogar ins Auge, ganze soziale Schichten zu ächten, zu enteignen und auszuweisen, um Frankreich von Verrätern zu befreien und einen sozialen Umsturz durch die Verteilung ihres Eigentums an die bedürftigen Anhänger der Revolution vorzunehmen.5 5
Vgl. Soboul, Die Pariser Sansculotten; ders., La Ière République, S. 35 ff., 124 ff.; Jaurès, L’Histoire socialiste, Band 5; Mathiez, La Vie chère; ders., La Révolution française, Band 2, S. 130 ff.; Band 3, S. 65–77; 147 ff.
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Einleitung
Babeuf ging einen Schritt weiter, wenn er schloss, dass wahre Gleichheit nicht ohne Gütergemeinschaft und die Auferlegung einer geeigneten Weltanschauung aufrechterhalten werden konnte. Diese Schlussfolgerung wurde dadurch gestärkt, dass die Erfahrungen der Französischen Revolution auf eine Vision des Klassenkampfes als Antriebskraft der Geschichte übertragen wurden, auf die Doktrin der geschichtlichen Unvermeidbarkeit einer revolutionären Konfrontation zwischen den Massen der Unterprivilegierten und der privilegierten Minderheit und auf die Notwendigkeit – und nach Babeufs Ansicht die erwiesene Umsetzbarkeit –, dass eine revolutionäre Diktatur den sozialen Wandel und die totale Umerziehung der Nation hin zum vorherbestimmten Sieg des Aufstands der unterdrückten Klassen vollziehe. Das Ergebnis würde eine einige und unteilbare Nation sein, die auf einmütigem, Freiheit mit Gleichheit vereinigendem Konsens gründete.6 Die Französische Revolution hinterließ einen Mythos gewaltigen Ausmaßes, der weiterhin unabsehbare Auswirkungen als Inspiration und Beispiel auf der ganzen Welt hat : die Vision des revolutionären Krieges eines Volkes, in dem Patriotismus und ideologisch - revolutionäre Begeisterung verschmelzen. Die Verteidigung des Heimatbodens wurde dann identifiziert mit dem Kampf für ein politisch - soziales Ideal gegen eine konterrevolutionäre Riege von eigennützigen Verrätern und ausländischen reaktionären Mächten. „Patrie“ ( Heimat ) wurde in Frankreich zum Synonym von „La Révolution“, revolutionäre „Liberté“, „die eine und unteilbare Republik“. Schlagwörter wie „die Heimat in Gefahr“, „Massenerhebung“ und Symbole wie die Trikolore, die „Marseillaise“ und die rote Kappe riefen schließlich eine fast religiöse Reaktion her vor. Im Fall der bolschewistischen, chinesischen, kubanischen, vietnamesischen und anderer Revolutionen erwiesen sich Erinnerung und Legenden ähnlicher Kämpfe als weitaus mächtigere und kohärentere Einflüsse denn sozial - ökonomische Doktrinen und das Streben nach Erneuerung. Wegen der halbherzigen Erwiderung auf die französische Botschaft seitens der Völker, die befreit werden sollten, der dringenden ökonomischen Bedürfnisse des bankrotten Frankreichs und des Eroberungsfiebers, das ehrgeizige Generäle packte, entwickelte sich der Bekehrungseifer der Grande Armée zu reinem Imperialismus. Die eroberten Nationen kehrten dann das demokratische französische Prinzip der Selbstbestimmung in ein heiliges Recht um, ihre nationale Persönlichkeit und Besonderheit, wie sie Natur und Geschichte geformt hatten ( im Sinne Herders ), gegen rationalistische pseudo - universelle Vorbilder zu verteidigen, besonders solche Vorbilder, die von tyrannischen und räuberischen Ausländern von oben oktroyiert worden waren, selbst wenn diese Verteidigung bedeutete, einen Mangel an politischer Freiheit, die Herrschaft 6
Vgl. Talmon, Die Geschichte der totalitären Demokratie, Band 1, Dritter Teil.
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Die Entfaltung der Dichotomie
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des ererbten Privilegs und tief ver wurzelte soziale Ungerechtigkeiten zu akzeptieren. Paradoxer weise waren es die rückständigen, ungebildeten und brutal unterdrückten Bauernmassen in Russland und Spanien, die Napoleon – dem Erben der Französischen Revolution – den hartnäckigsten und effektivsten Widerstand entgegensetzten. Diese Form des Nationalismus wurde von feudalen und klerikalen Schriftstellern in ganz Europa, wie Gentz, Adam Müller, Arnim und anderen, gepredigt, doch in Deutschland auch von rassistischen Populisten revolutionärer Färbung wie Arndt, Kleist und Jahn zwischen dem Debakel von Jena und dem vaterländischen Erwachen unterstützt, das nicht in geringem Maße zum Sieg der Nationen über Napoleon in der Völkerschlacht bei Leipzig 1813 beitrug. Von verhängnisvoller Bedeutung war die Geburt des teutonischen Mythos – eine Radikalisierung und Universalisierung von Burkes Ideen zur präskriptiven Tradition –, der den deutschen Widerstand gegen Napoleon als Nachbildung der Verteidigung der deutschen Authentizität durch Hermann den Cherusker gegen Roms Versuche darstellte, im Namen des universellen Naturrechts Uniformität aufzuerlegen.7 Komplizierter war die Position der französisch - theokratischen Reaktionäre wie de Maistre und de Bonald. Sie mussten irgendwie das Postulat einer endgültigen absoluten moralischen Sanktion – katholischer Universalismus und päpstliche Unfehlbarkeit – als Antwort auf die rationalistische Apotheose der abstrakten Vernunft mit der Besonderheit des nationalen geschichtlichen Erbes in Einklang bringen – einem etwas relativeren Paradigma. In Anlehnung an Burke machten sie die religiöse Vergangenheit zu einem wesentlichen Teil der historischen Persönlichkeit der Nation. Die große Debatte zwischen dem revolutionären und dem konterrevolutionären Lager über die Bedeutung der Nation ließ künftige Entwicklungen vorausahnen. Die erste Position implizierte, dass die wahre Nation in ihrer sozusagen prädestinierten Form nur als Gemeinschaft auf der Basis von Gleichheit und Einmütigkeit entstehen konnte, nachdem – anachronistisch gesprochen – Klassenunterschiede und die Herrschaft der Klassen eliminiert und all jene, denen es an kultureller Nahrung mangelte, in die Lage versetzt worden waren, am kulturellen Streben der Nation teilzuhaben. Die zweite Position stellte die Nation als pluralistisches Phänomen dar : Historische Unterschiede mussten als Äußerungen eines organischen Wesens hingenommen werden. Auf dialektische Weise wurden die rationalistischen Theoretiker der Freiheit dazu getrieben, die zwanghafte Auferlegung ideologischer und sozialer Muster zu verfechten, während es den Befür wortern von Privilegien zu behaupten ermöglicht 7
Vgl. Droz, Le Romantisme politique; Aris, History of Political Thought; Meinecke, Das Zeitalter der Deutschen Erhebung; Schnabel, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert, Band 1, S. 283–315.
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Einleitung
wurde, dass sie die Freiheit konkreter Individualität verteidigten, wenn sie auch von einer Hecke sozialer Ungleichheit umgeben war. Von den beiden Strömungen des sozialen Wandels, die mit der Französischen Revolution entstanden – revolutionärer Radikalismus und sozialistische Ideologie –, verband die erste ihre Forderungen nach sozialpolitischem Wandel mit aufrührerischem Nationalismus, während die zweite dem Nationalismus gegenüber gleichgültig blieb oder ihm ( zumindest in der Theorie ) sogar feindlich gegenüberstand. Die „Kräfte der Bewegung“ – Jakobiner, Babouvisten, Blanquisten, Radikale verschiedener Art wie auch die demokratischen Patrioten aus Europas unter worfenen Völkern – sahen sich nach 1815 als allein dastehende Partei, aufgeboten gegen die Kräfte des autoritären, reaktionären „Widerstands“ gegen den Wandel unter Führung der Heiligen Allianz. Der gemeinsame Feind, behaupteten die Progressiven, hatte eine geschlossene Front gegen eine Änderung der Verfassung, soziale Reformen und nationale Bestrebungen gebildet. Die Anführer der konterrevolutionären Front waren dieselben Männer, die für die Demütigung Frankreichs 1815 verantwortlich waren. Frankreich war daher aus Gründen der Ehre zu dem Versuch gezwungen, sich an ihnen zu rächen und gleichzeitig die Entscheidungen des Wiener Kongresses rückgängig zu machen. Dadurch würde es seine revolutionäre Mission fortsetzen, die Nationen zu befreien, die von den feudal - despotischen, nördlichen Imperien unterdrückt wurden. Die unterdrückten Völker wurden als natürliche Verbündete eines revolutionären, revitalisierten Frankreichs gesehen : An erster Stelle sehnten sich ihre patriotischen Elemente, die von der Kollaboration mit ausländischen Invasoren nicht korrumpiert und durch deren Vergünstigungen nicht bestochen waren, kurz : die Volksmassen, nach Freiheit und erstrebten Gleichheit. Selbst ein Nationalist wie Mazzini, der sich der Bevormundung durch die Franzosen entgegenstellte, die Führung der unterdrückten Völker für Roma Terza – das „Dritte Rom“ – forderte und sich die nationale Erweckung insgesamt eher als spirituelle, religiöse Wiedergeburt denn als sozial - ökonomische Transformation vorstellte, äußerte sich auf hochradikale, egalitäre, soziale und antikapitalistische Weise. Auf der anderen Seite waren extreme, vom Naturrecht inspirierte Radikale und Kommunisten wie Blanqui leidenschaftliche Propheten der nationalen Befreiung; tatsächlich sahen einige von ihnen keine Unstimmigkeit zwischen Frankreichs universaler Mission und dem französischen Anspruch auf natürliche Grenzen am Rhein auf Kosten Deutschlands. Revolutionäre verschiedener Art, zum Beispiel Michelet, der die französischen Truppen anflehte, ihre leuchtenden Bajonette rein zu halten, da sie die einzige Hoffnung auf europäische Zivilisation und Freiheit seien, oder Mazzini, Blanqui und der Rest wurden schließlich Militaristen, die sich nach dem Krieg sehnten; hingegen waren feudale und liberale Konser vative wie Louis Philip-
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pe und Lamartine ( von den Staatsmännern der Heiligen Allianz ganz zu schweigen ) bestrebt, den Frieden zu bewahren und den Krieg zu verhindern, weil der Krieg eine Bedrohung der internationalen und sozialen Ordnung war.8 Dieses Muster zeigte sich 1848 auf eklatante Weise. Utopische Sozialisten, Saint - Simon mit seiner Schule, Fourier, Proudhon und viele andere befassten sich alle in erster Linie mit der Wirkung des technologischen Wandels und des industriellen Fortschritts. Saint - Simon sah die Industrialisierung und Modernisierung als Vorboten der ersehnten gerechten und rationalen Gesellschaft an, während Fourier und Proudhon sie als großes Hindernis betrachteten. In beiden Fällen schien den politischen Institutionen geringe Bedeutung zuzukommen. Saint - Simon hoffte, die Regierung des Menschen durch den Menschen mit Unterstützung einer „neuen Christenheit“ durch eine „Ver waltung von Dingen“ zu ersetzen – eine revitalisierte pantheistische Botschaft von der Brüderschaft der Menschen und der Erlösung der „zahlreichsten und ärmsten Klasse“ von Proletariern. Seine Schüler träumten von einer gütigen Herrschaft von Künstler - Priester - Technokraten über die Seelen und Handlungen der Menschen. Fourier und Proudhon hätten jedoch am liebsten alle Staaten abgeschafft und die Erde mit einer losen Föderation von freien, sogenannten Phalanstères oder Kommunen überzogen. Saint - Simon und Fourier konnten mit Nationalismus nichts anfangen : Saint - Simon entwickelte Entwürfe für eine europäische Föderation und gemeinschaftliche, internationale, gigantische Entwicklungspläne für Europa und die anderen Kontinente und war ( wie übrigens auch Robert Owen ) uneingeschränkt bereit, entweder mit den westlichen parlamentarischen Regimen oder mit der Heiligen Allianz zusammenzuarbeiten. Der eigensinnige Proudhon verdammte alle nationalistischen Bewegungen, selbst die der Polen und Italiener, als Ablenkungen von der sozialen Frage, die wahrscheinlich den Sieg des Etatismus beförderten; dennoch rühmte er wie ein guter Populist die französischen Traditionen der Provinz und die Mission Frankreichs als eines Lichtes für die Nationen ( eine Mission, so dachte Proudhon, die durch das Aufkommen eines starken italienischen Staates an der Türschwelle Frankreichs bedroht würde ). Die späteren Fourieristen, besonders Considérant, wurden zu standhaften Pazifisten und Internationalisten.
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Studien über Radikale von vor 1848 und über Nationalismus: Plamenatz, The Revolutionary Movement in France; Weill, L’Éveil des nationalités; Dommanget, Les Idées politiques; Spitzer, The Revolutionary Theories of Louis Auguste Blanqui; Bernstein, Blanqui; Mazzini, Scritti editi ed inediti; ders., Life and Writings; Salvemini, Mazzini; Kohn, Propheten ihrer Völker; Talmon, Die Geschichte der totalitären Demokratie, Band 2, Zweiter Teil : Messianischer Nationalismus, S. 253–328; Tchernoff, Le Parti républicain.
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Einleitung
Auf die eine oder andere Weise, ob es ihnen bewusst war oder nicht, dachten alle französischen Radikalen und Sozialisten von allen Nationen, die sie befreien oder auf den Pfad der Sozialreform führen wollten, in der Form von eifrigen und dankbaren Kandidaten für die französische Zivilisation, die in ihren Augen die Zivilisation der gesamten aufgeklärten Menschheit war.9 Marx und Engels fuhren fort, den Faden des utopischen sozialistischen Denkens über die entscheidende Bedeutung von technologischen und sozial ökonomischen Faktoren für die Geschichte zu spinnen. Doch bis zum Schluss hingen sie dem Mythos an, den die Ereignisse von 1789–1794 in Frankreich hinterließen. Die Dialektik mit ihrer Botschaft von geschichtlicher Unvermeidbarkeit und ihrer Vision einer Endlösung des Konflikts versöhnte mit Leichtigkeit beide Geisteshaltungen miteinander. Unter dem Gesichtspunkt der Doktrin gab es in Marx’ historischer Dialektik keinen Raum für die Nation als kollektive Persönlichkeit. Das Grunddogma des Vorrangs der Technologie und des sozial - ökonomischen Wandels bei der Bestimmung der historischen Entwicklung und der Bildung spiritueller Phänomene passte weder mit der Vorstellung von der Nation als etwas ewig Gegebenem zusammen noch mit einem unergründlichen nationalen Geist, der in jeder Facette des Lebens Ausdruck finde, noch mit der Idee eines nationalen Geschicks und Schicksals, das alle Mitglieder der Nation, gleich welcher Klasse, betraf und von der Klassenstruktur nur zufällig beeinflusst wurde. Darüber hinaus gab es implizit oder sogar explizit die Annahme, dass die Geschichte ohne Unterlass auf eine weltweite historische Auf lösung und soziale Transformation zusteuerte, die den Menschen, welcher Rasse, Religion oder Nationalität auch immer, per se von allen Formen der Entfremdung und Versklavung erlösen würde. Letzten Endes war die ersehnte prädestinierte totale Wandlung nur machbar, wenn sie die ganze Welt, oder was damals als die Welt galt, umfasste. Schließlich war der Mar xismus nicht besonders an Nationalität, Volkstraditionen und Besonderheiten um ihrer selbst willen interessiert; er sah sie als archaische Überbleibsel an, die dazu bestimmt waren, durch universelle zivilisatorische Einflüsse zerstört zu werden. Nicht dass Marx und Engels sie von fremden, nationalen Unterdrückern geknechtet sehen wollten. Sie waren zutiefst davon überzeugt, dass nationale Unterdrückung nur eine Form von 9
Siehe zum utopischen Sozialismus und Nationalismus: Saint - Simon, Selected Writings; ders., New Christianity; Leroy, Le Socialisme des producteurs; Manuel, The New World of Henri Saint - Simon, chapter 14: The Reorganization of Europe; Charléty, Histoire du Saint - Simonisme; Talmon, Die Geschichte der totalitären Demokratie, Band 2, S. 313 ff.; Proudhon, La Fédération; ders., Nouvelles observations; ders., Du Principe fédératif; ders., La Guerre; Considérant, Destinée sociale; ders., Principe du socialisme; ders., Le Socialisme.
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Sekte und Kirche
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sozial - ökonomischer Ausbeutung war. Wenn diese Ausbeutung erst einmal beseitigt wäre, würde alle nationale Unterdrückung und schließlich auch nationale Besonderheiten und Feindseligkeiten mit ihr verschwinden.
2. Sekte und Kirche Als Erben der jakobinischen Tradition, die sie waren, mussten Marx und Engels zwangsläufig ihr Zeitalter des ständigen Wandels – besonders der industriellen Revolution und des zunehmenden sozialen Konflikts – als Beweis dafür ansehen, dass die große, wahre Revolution, die Babeuf als unvermeidbaren Abschluss und letzten Akt der Revolution von 1789 ausgerufen hatte, nun heranreifte. Der apokalyptische Glaube an das Bevorstehen jener zweiten Wiederkunft, der vom Ausbruch der Revolutionen von 1848 so machtvoll beeinflusst wurde, gab den Überlegungen zur revolutionären Strategie einen höheren Stellenwert. Aktivismus schien auf unmittelbarere Weise relevant als die objektive historische Unvermeidbarkeit, die der Arbeitsweise der sozial - ökonomischen Dialektik innewohnte. Sie fingen tatsächlich an, den Krieg als Hebamme der Revolution zu sehen. Die durch Macht geschaffenen Tatsachen ersetzten die Verteidigung des Rechts, und Gewalt wurde zur Folge des Einsatzes der sozial - ökonomischen Kräfte. Auf dem Marsch zum sozialistischen Durchbruch schien das starke, fortschrittliche, industrialisierte und deshalb auch stetig weiter demokratisierte Land – oder die große Nation, die danach strebte, sich zu einem zentralisierten Staat dieser Art zu vereinen – sich als weitaus effektivere, der Revolution den Weg ebnende Kraft zu erweisen, als es kleine, rückwärts gewandte, landwirtschaftliche oder ländliche Volksgruppen – die von den großen historischen Nationen beherrschten unhistorischen Völker – sein konnten. Es gab keine unveräußerbaren, ewigen, natürlichen Ansprüche auf nationale Unabhängigkeit, die bedingungslos zu gewähren und als absolutes Ziel zu erkämpfen waren. Nationale Bestrebungen sollten nach dem Beitrag beurteilt werden, den sie wahrscheinlich für den revolutionären globalen Kampf leisten würden – unter den obwaltenden Umständen gegen despotische Monarchien, darunter besonders Russland. Daher rührten zum Beispiel die herausfordernde Gültigkeit der Sache Polens – wie auch immer dessen sozial - ökonomische Struktur oder ethnische Beschaffenheit aussahen – als Kitt für die Heilige Allianz wie auch die Ablehnung jeglicher nationaler Rechte der Südslawen, der Stützen der dynastischen Regierung der Habsburger, und später der Balkanvölker, der Marionetten des Zarismus. Der Umstand, dass die messianische Erwartung sich nicht erfüllte, die daraus folgende Auf lösung des Eindrucks einer bevorstehenden Erfüllung und
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Einleitung
das Gefühl einer Notsituation, die alles Übrige provisorisch erscheinen ließ, zersplitterten wie auch bei anderen apokalyptischen Bewegungen die revolutionäre Bruderschaft. Marx gelangte nach und nach von der Vorstellung eines simultanen revolutionären Durchbruchs zur Beachtung der konkreten Lage einzelner Staaten. Die lokalen sozialistischen Parteien ihrerseits, die nun die Zugeständnisse genossen, die ihnen eine selbstbewusstere und wohlhabendere Bourgeoisie machte, die nicht mehr vom roten Gespenst verfolgt wurde, begannen sich mehr wie Mitglieder einer losen internationalen Föderation zu fühlen denn als Abteilungen einer militanten Kirche – der sozialistischen Internationale. Sie bekämpften den Klassenfeind zu Hause nach den parlamentarischen Spielregeln und versuchten jene nationale Partei zu werden, die den Charakter der vom Klassenkampf befreiten Nation bestimmte, anstatt auf den Ruf eines revolutionären Hauptquartiers zu warten, einen konzertierten Angriff auszuführen, den eine internationale proletarische Strategie festgelegt hatte.
3. Auf Konfrontationskurs Nachdem die Revolutionen von 1848 den Menschen klargemacht hatten, wie unlösbar nationale Konflikte und wie inkompatibel letztlich der Drang nach nationaler Selbstbehauptung und die demokratische Pflicht, die Rechte anderer Völker zu respektieren, waren, verließen die Bewegungen für nationale Befreiung und Einigung das Feld der allgemeinen Revolution. Bis 1880 hatten die meisten nationalen Bewegungen in Europa ihre Ziele erreicht – nicht als Ergebnis einer internationalen Revolution, sondern durch die pragmatische Ausnutzung diplomatischer Möglichkeiten oder durch internationalen Krieg. Das traf besonders auf Deutschland zu, das Marx und Engels große Sorgen bereitete. Die mitleiderregende Ausnahme waren jene unglücklichen und heldenhaften Kämpfer für die nationale Freiheit : die Iren, die zu der Zeit, als Britannien die Meere beherrschte, keine Verbündeten hatten, und die Polen, die der Gnade jener allzu mächtigen antipolnischen Interessen der nordeuropäischen Mächte überlassen wurden. Der moderne Nationalismus fand seinen charakteristischen Ausdruck nicht mehr in Visionen von kultureller Renaissance und sozial - spiritueller Regeneration, sondern im Imperialismus und folglich in der Aufrüstung, im Kult von Vitalität und Kraft und in der Selbstvergötterung, die sich als integraler Nationalismus oder sogar beginnender Rassismus maskierte. Diese Entwicklungen führten solche radikalen Elemente – meist Russen und osteuropäische Juden, deren derzeitige Lage und ererbte messianische Sehnsüchte sie veranlassten, das universelle revolutionäre Versprechen mit einer im glücklicheren Westen unbekannten Frische und Intensität zu erfah-
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Auf Konfrontationskurs
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ren – zu einer leidenschaftlichen Wiederbestätigung der ursprünglichen, monistischen mar xistischen Vision. Der Imperialismus, so behaupteten sie, reite auf der Welle einer zweiten industriellen Revolution, wobei er die Welt zu einer einzigen ökonomischen Größe vereine und soziale mit nationaler Unterdrückung vermische, besonders in den unter worfenen Ländern und Kolonien. Er sei dabei, die Welt in einen internationalen Raubtierkapitalismus auf der einen und ein globales Proletariat auf der anderen Seite zu polarisieren. Er treibe den Klassenkampf über die Grenzen des Nationalstaates hinaus bis in die Randzonen des Planeten. Der Krieg sei Teil des imperialistischen Wettkampfes, und ein imperialistischer Weltkrieg sei dazu bestimmt, zur Hebamme der internationalen Revolution zu werden. Für manche, wie etwa Rosa Luxemburg, erschienen die Kämpfe um die nationale Befreiung in diesem Kontext als eine schädliche und gefährliche Ablenkung wie auch als Kapitulation gegenüber den bürgerlichen Konzepten der primären und allumfassenden Realität des Nationalen. Andere, wie Lenin, entschieden, es sei viel weiser, den nationalistischen Groll zu sublimieren, indem man ihn legitimiere, anstatt ihn zu frustrieren und dadurch zu einem Reiz zu verschlimmern, der die internationale Kooperation mit dem allgemeinen Lager der Revolution behinderte, wie es in Österreich geschah. Dort zerfiel die vereinigte Sozialdemokratische Partei – und schließlich auch die Gewerkschaftsbewegung – in die verschiedenen Volksgruppen. Die ethnischen sozialdemokratischen Parteien wurden oft zur Speerspitze im Kampf um die nationale Befreiung, die als Grundvoraussetzung für eine sozialistische Transformation angesehen wurde, wie Marx und Engels tatsächlich am Ende ihres Lebens dachten. Als mächtige Waffe im Angriff auf den feudalen Absolutismus konnte der Zorn unterdrückter Völker in Ländern wie Russland und Öster reich - Ungarn Ver wendung finden, wo die ethnische Unterdrückung tatsächlich fast immer auch soziale Unterdrückung mit sich brachte und die unter worfenen Rassen in einer anhaltenden Kampagne der Reconquista gegen die Herrscher nationen engagiert waren, die verzweifelt an dem hingen, was sie als ihr nationales Ver mögen betrachteten und für das sie bereit waren, alle demokratischen Prozeduren über Bord zu werfen. Lenin drängte die Sozialisten aus den Herrscher nationen dazu, das Recht der unterdrückten Völker auf Selbstbestimmung und Unabhängigkeit anzuerkennen. Er hoffte, dies werde eine vereinte proletarische Front im Revolutionskampf fördern und diese Wer te – Selbstbestimmung und Unabhängigkeit – würden von den Sozialisten der unter worfenen Nationen nicht eingefordert, wenn der Sozialismus erst einmal gewonnen hätte und damit jede Art von Unterdrückung abgeschafft wäre. Aus demselben Grund lehnte Lenin austromar xistische Theorien der national - kulturell - persönlichen Autonomie für einzelne Volksgruppen in Vielvölkerstaaten ab. Nach seiner Ansicht neigten sie dazu, den ethnischen
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Einleitung
Separatismus auf Kosten des proletarischen Inter nationalismus aufrechtzuerhalten. Während koloniale Rivalitäten, der Russisch - Japanische Krieg und der Hexenkessel des Balkans einen Weltkrieg näher und näher zu bringen schienen, begannen einflussreiche Kreise in den verschiedenen betroffenen Staaten, die bedrängt und wegen der sozialen Unruhen sowie dem scheinbar unaufhaltsamen Fortschritt des Sozialismus besorgt waren, zu spekulieren, ob der Krieg nicht als Mittel geeignet sei, ihre Nationen zu einen und als Teil der Kriegsanstrengung antipatriotische Elemente zum Schweigen zu bringen und sogar zu beseitigen. Die Radikalen unter den Sozialisten reagierten mit einer entschlossenen Kampagne gegen den nationalen und imperialistischen Militarismus. Sie bezeichneten ihn als die bürgerliche Antwort auf den Sozialismus. Der Nationalismus begann für sie wie ein sehr gefährlicher Köder auszusehen, der den Massen angeboten wurde. Ob sie ihre revolutionäre Strategie auf einen internationalen Krieg stützten oder nicht : Sie betrachteten die Agitation gegen den Krieg als Mittel, die Massen von der bürgerlich - spirituellen Bevormundung zu entwöhnen, wobei sie die Machtgrundlagen und die Instrumente der Klassenherrschaft – das militärisch - industriell - feudale Establishment – untergruben und die Massen darauf vorbereiteten, dem Krieg zu widerstehen, indem sie, sobald er ausbrach, den nationalen Krieg zu einem Bürgerkrieg machten. Dies waren die Ursprünge des fatalen Schismas in der europäischen Arbeiterbewegung. Die reformistische Sozialdemokratie war zerrissen zwischen dem tief eingegrabenen, im Kriegsfalle fast instinktiv - gewohnheitsmäßigen Gedanken : „Es ist mein Land, ob im Recht oder im Unrecht“,9z wer auch immer es zufällig anführte, und dem kategorischen Imperativ der internationalen proletarischen Solidarität und dem Klassenkrieg. Daher die verzweifelten Anstrengungen, das Gespenst des Krieges zu vertreiben, und der leidenschaftliche Pazifismus, wie er in der internationalen Rhetorik seinen Ausdruck fand. Weit davon entfernt, einfach eine Eigenschaft der herrschenden Elite zu sein, wurde der Nationalismus zu einer breiten Bewegung, sobald er von der unteren Mittelschicht aufgegriffen wurde, die vom doktrinären Mar xismus allzu leicht abgeschrieben worden war. Rekruten aus den Barrikaden - Brigaden der früheren Zeiten, kleinbürgerliche Ladeninhaber, Handwerker, Angestellte und andere begannen, sich eingequetscht zu fühlen zwischen einem das
9z
A. d. Ü.: Talmon spielt hier auf Stephen Decatur, den US - Flottenkommandanten, an, der den Ausruf 1816 nach seinem Sieg über algerische Piraten prägte. Die Kurzfassung wurde zum geflügelten Wort, wenn es um Fragen des Patriotismus geht. Im Original: „Our country! In her intercourse with foreign nations, may she always be in the right; but our country, right or wrong.“
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Auf Konfrontationskurs
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Gesicht der Welt verändernden Großbürgertum und einem Proletariat, das zu einer organisatorischen Einheit zusammengewachsen war und einen Sinn für seine Bestimmung sowie den Glauben entwickelt hatte, es sei seine Aufgabe, die Welt zu übernehmen. Jeder erzählte dem Kleinbürgertum, dass es eine lächerliche und dem Untergang geweihte Klasse sei. Die Vorstellung von der Nation übernahm die Aufgabe eines Rettungsrings : Die Reichen waren selbstsüchtig und erschöpft, die Arbeiter dienten fremden Anliegen – das Kleinbürgertum war der Kern der Nation und hatte kein anderes Interesse als das allgemeine nationale. Fremdenfeindlichkeit verstärkte das Gefühl von gleichwertiger Bruderschaft unter den Auser wählten und rief autoritäre Haltungen gegenüber ausländischen Nationen und wenig bedeutenden Rassen her vor, während sie zu Hause ein Verlangen nach hierarchischer Disziplin förderte. Dar winismus, Rassismus, antirationalistische und antiliberale Trends trugen dazu bei, dem imperialistischen Nationalismus die Züge einer wissenschaftlichen Weltanschauung zu verleihen. Der unergründliche und trügerische Volksgeist wurde mit Hilfe der quasi - wissenschaftlichen Bezugsgröße „Blut“ fasslich gemacht : Es wurde dazu herangezogen, im dialektischen Materialismus die Rolle der Materie zu spielen. Die Vorstellungen vom ewigen Kampf ums Überleben, den die verschiedenen Rassen führten, waren solcherart, dass sie die Prämisse von der Einheit des objektiven Verstandes, die Forderung nach menschlicher Gleichheit, ja die Lehre von der Einheit der Menschheit verdrängten. Das Versprechen einer Theodizee, die Vision eines endgültigen Triumphs der universellen Gerechtigkeit, die Judentum, Christentum, Liberalismus, Demokratie und Sozialismus gestützt hatte, wurde von Nietzsche als Trost und schlaue Erfindung der Schwachen und Verunstalteten bezeichnet. Er ersetzte es durch das Bild eines ewigen Kampfes, der Feuerprobe der überlegenen Arten und Eliten, die das Ziel und der Stolz der Natur seien. Das war das Saatbeet jener Art von Rassismus und Antisemitismus, der um 1880 her vortrat und die meisten Bewegungen des integralen Nationalismus in Europa beeinflusste. Über wältigt von den unverständlichen Abläufen der Hochfinanz, des Kapitalismus, der Warenherstellung und der Warenhausketten einerseits und aufgeschreckt von den sozialistischen Lehren, setzte das Kleinbürgertum all diese Übel mit dem Judentum gleich. Der rassistische Antisemitismus konzentrierte sich auf den Juden als jemanden, der die Integrität der Nation ( oder Rasse ) auf löste und ihren unfehlbaren Instinkt zerstörte. Als Kapitalist oder Sozialist war der Jude der Träger fremdartiger, abstrakter Werte, der Zerstörer der nationalen Solidarität, Anstifter von Klassenkampf und innerem Unfrieden, ein kosmopolitischer Ausbeuter, der eine Verschwörung zur Weltherrschaft betrieb. Die Eliminierung der Juden nahm die Dimension einer sozialen und nationalen Revolution und einer moralischen Renaissance an. Auf der universellen Ebene wurde der Jude als ewiger Hetzer – bereits seit
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Einleitung
Moses’ Zeiten – hingestellt, der alle Zusammenrottungen niederer Rassen gegen die nationalen Eliten der überlegenen Rassen aufwiegelte. Die Reaktionen auf das Zeitalter des Imperialismus gaben damit einen Vorgeschmack auf das, was am Vorabend des Ersten Weltkrieges der Menschheit bevorstand.
4. Die Ursprünge ideologischer Polarisierung Der Ausbruch des Krieges im August 1914 war eines der schicksalsträchtigsten Ereignisse der Geschichte. Ein Jahrhundert noch nie da gewesenen Fortschritts auf allen Gebieten der menschlichen Betätigung – Wissenschaft, Technik, Wirtschaft, Lebenskunst, Rechtsstaatlichkeit, Kontrolle über die Umwelt – endete schlagartig in einer Orgie aus Blut und Zerstörung. Diese furchtbaren Ereignisse erschütterten die Selbstsicherheit und Zuversicht der Menschen, pervertierten alle akzeptierten moralischen Werte und beseitigten Hemmungen, die aggressive Impulse in Schach gehalten hatten. Die mitleiderregendste Entwicklung war vielleicht der Zusammenbruch der Zweiten Internationale. Trotz aller Schwüre und Proteste wurden die Ideale der arbeitenden Klassen noch beim letzten Mann hinweggefegt. Sie wurden von instinktivem Patriotismus überwältigt. Von allen messianischen Botschaften der Erlösung und Belohnung für die unaussprechlichen Leiden des Krieges, die von sich hören machten – wie „ein Krieg, der alle Kriege beendet“, „die Welt für Helden würdig machen“, „eine Heimstatt für die Demokratie“ – waren die prägnantesten die einander genau entgegengesetzten Reaktionen auf die Katastrophe von 1914 bis 1918 : jene Lenins und jene Mussolinis und Hitlers. Lenin ( wie auch Rosa Luxemburg ) erklärte, der Krieg bedeute die lange vorhergesagte Krise der bürgerlichen Zivilisation und den Todeskampf des Kapitalismus. Es sei die Pflicht der Arbeiterklasse, den Krieg unter den Nationen in einen internationalen Bürgerkrieg zu ver wandeln und die Bajonette gegen die zivilen und militärischen Anführer zu richten. Die Propheten der Weltrevolution waren nicht nur davon überzeugt, dass der Imperialismus der Supermächte den Nationalstaat jeglicher Realität und die nationale Souveränität jeglicher Bedeutung beraubt hatte. Sie hielten an Marx’ idealisiertem Bild der Pariser Kommune von 1871 als Modell einer direkten Demokratie fest, die den Staat ersetzen sollte, und an Marx’ Beschreibung des Staates als Überbau aus monopolistischen Grundbesitzern, Kapitalisten, Generälen, Bürokratie, Armee, Polizei, Kirche und intellektuellen Opportunisten, die der Masse der Menschen, der Masse der Nation oktroyiert wurden. Die historische Realität in Russland und eine revolutionäre Ideologie hatten enorm dazu beigetragen, diese Bilder in Lenins Geist einzuprägen, und tat-
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sächlich ver vollständigten sie die Entfremdung aller Intellektuellen sowie, zu gegebener Zeit, weiter Teile des Landvolks und des Proletariats vom historischen russischen Staat und seiner Führung. Über mehrere Generationen hinweg hatten revolutionäre Propheten daran gearbeitet, die spirituellen Bande bloßzulegen und zu lockern, die – um Marx’ Vokabular zu ver wenden – die Mythen von Zar und orthodoxer Kirche in die Herzen der Massen gelegt hatten, und ihnen beizubringen, den Aufstand zu wagen, denn „ist erst das Reich der Vorstellung revolutioniert, so hält die Wirklichkeit nicht aus“ ( G. W. F. Hegel ). Lenins Antikriegspropaganda zielte nicht nur darauf ab, das Establishment und seine Hauptstütze, die Armee, zu entwaffnen und zu stürzen, sondern auch, als vorbereitende Aufgabe, die Verteidigung des Landes zu einem Testfall zu machen : Wer war für die bestehende Ordnung und wer für die Revolution ? Die Frage der nationalen Verteidigung sollte die Angstschwelle sein, die stärkste Hemmung, die nicht ohne vollkommene Hingabe über wunden werden konnte. Wenn irgendjemand den Sprung nicht schaffte, weil er vor dem Verrat zurückschreckte, so bewies das, dass er der kleinbürgerlichen Verirrung schuldig war. Doch wenn er den Sprung schaffte, erwies er sich als einer der Bürger der prädestinierten proletarischen Himmelsstadt, ja eines regenerierten Heiligen Russlands, das man sich als Erlöser eines dekadenten Europas vorstellte. Die folgenden Gewissenskrisen zwischen Loyalität gegenüber der Nation, wie sie durch ihre leitende Elite repräsentiert wurde, und Treue zu einem abstrakten Ideal, das auch als endgültige Rettung des eigenen Vaterlandes aufgefasst wurde, sollten wieder zu Situationen führen, die aus der Zeit der Religionskriege bekannt waren. Am anderen Ende des Spektrums fiel Hitler, wie er uns überlieferte, auf die Knie, als er die Nachricht vom Kriegsausbruch hörte, um der Vorsehung zu danken, dass er eine solch feierliche Stunde für die deutsche Nation erleben durfte. Mussolini, der extreme Sozialist, Antimilitarist und Kritiker des Patriotismus, wurde von dem völligen Zusammenbruch des sozialistischen Internationalismus und der Lüge, der die heiligsten Prinzipien des Mar xismus gestraft wurden, zutiefst erschüttert. Er entdeckte die außerordentliche Macht des Gefühls für die Heimat sowie die gewaltige Bedeutung der Nation und ihres Überlebenswillens. Für einen leidenschaftlichen revolutionären Aktivisten war die feige Sorge der italienischen sozialistischen Partei, dass Italien ein neutraler Beobachter blieb – zu einer Zeit, als das Schicksal der Welt durch Millionen entschieden wurde, die ihr Leben opferten –, ein empörender Verrat. Und so überführte Mussolini nach und nach seine revolutionäre Dynamik, wie es so viele andere ebenfalls tun sollten, in den Dienst der Nation, ihrer Authentizität sowie ihrer Macht und Ehre. Der frustrierte Traum einer nationalen Erweckung, sozialen Revolution und moralischen Wiedergeburt, die das Risorgimento als eine Einheit wahrzunehmen fähig gewesen war, sollte im Kampf
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Einleitung
der benachteiligten, unerfüllten proletarischen Nation gegen die gesättigten plutokratischen Länder und jenen kosmopolitischen Mar xismus, der den nationalen Nerv zu zerstören drohte, ver wirklicht werden. Die bolschewistische Revolution wurde im Namen des revolutionären Internationalismus geführt. Ihr Wagemut selbst war das Ergebnis des unerschütterlichen Glaubens an eine bevorstehende internationale sozialistische Revolution, von der man tatsächlich glaubte, sie sei die notwendige Bedingung für den Erfolg der russischen Revolution. Als diese Erwartung sich nicht erfüllte, begann die gestutzte und ruinierte Sowjetunion ihre Karriere mit der demütigenden Unter werfung unter ein deutsches imperialistisches Diktat. Ihre nächste Aufgabe bestand darin, die reichen Grenzregionen daran zu hindern, in Übereinstimmung mit dem ( bolschewistischen ) Prinzip des Rechts auf nationale Selbstbestimmung und Sezession vom Mutterland abzufallen. Die Bolschewiki beschworen die heilige Pflicht, ein aufrührerisches Proletariat davor zu retten, unter das Joch eines national - bürgerlichen Klassenstaats und Verbündeten des Imperialismus zu fallen; in demselben Geist behaupteten sie, die Sowjets besäßen einen fortschrittlicheren Inhalt als eine konstituierende, durch allgemeine Wahlen zustande kommende Versammlung. Die Lehre von der höheren, allumfassenden und ausschließlichen Gültigkeit des Allgemeinen Willens des Weltproletariats, das eine sozialistische Revolution wolle, wurde zur Grundlage der Dritten Internationale. Ihr demokratischer Zentralismus beließ im Gegensatz zu der locker errichteten föderalen Struktur der alten und rekonstruierten Zweiten Internationale kaum eine Spur von den nationalen Parteien in den programmatischen 19 ( oder 21) Punkten. Schnellstens wurden alle Sozialimperialisten von der Mitgliedschaft in der Komintern ausgeschlossen, einschließlich der Sozialisten, welche einen Wilson’schen Frieden ohne Annexionen und Reparationen befür worteten; einen Frieden, der auf den Prinzipien der Selbstbestimmung, internationaler Schiedsgerichtsbarkeit und Abrüstung gründete. Denn eine solche Haltung einzunehmen bedeutete auch, den existierenden Klassenstaat mit seiner Saat aus Imperialismus und Krieg hinzunehmen. Die Komintern sollte nicht zu einer Föderation aus nationalen Parteien werden, sondern, wie Lenins eigene Partei, eine mobilisierte Kraft, die versessen auf einen kurz bevorstehenden internationalen Durchbruch war. Doch weil die sozialistische Revolution auf ein einziges, wenn auch enorm großes Land begrenzt geblieben war und das Hauptquartier der Weltrevolution in dessen Hauptstadt aufgeschlagen wurde, fanden sich all jene Sozialisten außerhalb Russlands, deren schlummernder internationaler Messianismus durch die Oktoberrevolution entflammt worden war, in der Position von Nationalisten einer fremden Macht. Der bittere Kampf ums Überleben, den die Bolschewiki gezwungen waren gegen die konterrevolutionären Armeen und die ausländi-
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sche Inter vention zu führen – so halbherzig und wirkungslos sich diese auf lange Sicht auch erwies –, schuf einen mächtigen revolutionären Mythos. Wie Rosa Luxemburg prophezeit hatte, wurde in den neuen Ländern an Russlands Türschwelle eine verzweifelte Angst vor dem Erzfeind und Unterdrücker, der nun beanspruchte, eine universelle Botschaft der Erlösung zu verkörpern, zur Quelle für morbiden Nationalismus und zur Grundlage für autoritäre Regime. 1918/19 stand die Sozialdemokratische Partei Deutschlands ( SPD ) vor der Wahl, eine soziale Revolution unter Spaltung der Nation durchzuführen oder die Verantwortung dafür auf ihre Schultern zu nehmen, das zerstörte Vaterland wieder aufzubauen. In Übereinstimmung mit dem über wältigenden Mandat, das sie von den Arbeitern dafür erhielt, die Revolutionären Arbeiter - und Soldatenräte aufzulösen und eine Nationalversammlung einzuberufen, übernahm die SPD die Rolle der nationalen Partei Deutschlands. Von dem Moment an entwickelten sich die Kommunisten zur Hauptgefahr. Doch die Weimarer Republik war umso stärker den Überfällen aus dem rechten Spektrum ausgesetzt. Sozialisten, Demokraten, Pazifisten, Juden, Weimar allgemein wurden von Hitler als willige oder unbewusste Komplizen der internationalen Versailler Verschwörung gegen Deutschland dargestellt – eine Kopie seiner frühen Besessenheit von einem slawisch - sozialistisch - jüdischen Plan, im Namen des demokratischen Prinzips „one man, one vote“ gegen die Vorherrschaft der rassisch überlegenen deutschen Minderheit in einem Österreich zu stimmen, das um sein Überleben kämpfte : „der Kampf auf Leben und Tod“ – wie es Theodor Mommsen zu dieser Zeit nannte. Die latente Kriegslüsternheit auf der ideologischen wie politischen Ebene, die von den polarisierten Ideologien gestützt wurde, propagierte und rechtfertigte beide Arten des Totalitarismus – den der Linken und den der Rechten. Eine Politik, die auf dem Glauben an eine einzige, allumfassende und ausschließliche Wahrheit basierte, erhob den Mar xismus einerseits und Staat und Rasse andererseits zur Würde des Absoluten. Sie wurden durch Vorreiter - Parteien verkörpert, doch auch und vor allem durch unfehlbare Führer, die allein als fähig galten, den Willen der Geschichte, das Schicksal der Nation oder Rasse, die wahren Interessen des internationalen Proletariats auszulegen. Die Diktatur des Proletariats wurde von Kommunisten als eine provisorische Phase dargestellt, die schließlich zu einer besonderen Einmütigkeit bestimmt war, die gleichzeitig Frieden und Gleichheit bringen, allen Zwang überflüssig machen und als Folge den Staat veranlassen würde, dahinzuwelken. Im Faschismus und Nationalsozialismus wurden kriegerische Selbstbehauptung und Wettkampf um den überlegenen Status innerhalb der Gesellschaft und innerhalb der Familie aus Rassen und Nationen als ewige Ordnung der Dinge verkündet.
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5. Das Ver wischen der Grenzen Trotz ihrer Ansprüche auf Exklusivität erzeugten beide Strömungen eine verquere Synthese aus Nationalismus und Internationalismus. Interne Gründe, die Dialektik der Ideologie und im Zweiten Weltkrieg die akute Gefährdung von außen vereinten sich, um eine großrussische nationalistische Mythologie her vorzuheben. Doch als offizieller Träger der radikalsten Ideologie ihrer Zeit fuhr die Sowjetunion fort, die Sympathien aller nationalen Befreiungsbewegungen anzuziehen, und warb ihrerseits um Unterstützung für diese, besonders in Asien und Afrika als Teil des globalen Kampfes zwischen internationalem Proletariat und Imperialismus. Nationalsozialismus und Faschismus bildeten ihrerseits eine Art nazi - faschistische „Internationale“ gegen den „Judäo - Bolschewismus“. Der Hass gegen die „jüdisch - mar xistische Internationale“ wurde dadurch zum Bindemittel für grundsätzlich ultra - nationalistische Bewegungen und im Zweiten Weltkrieg für den Weg zum nationalen Verrat. Die zweite Nachkriegsperiode erlebte den Abbau aller europäischen Reiche durch die imperialistischen Mächte selbst. Es stellte sich damit die Frage, ob das Zeitalter des Imperialismus tatsächlich den Höhepunkt des westlichen Kapitalismus gebildet oder eher dazu gedient hatte, die kolonisierten Völker für die unabhängige Staatenbildung vorzubereiten. Viele von ihnen fühlten sich dem Sozialismus auf dieselbe Weise verpflichtet, wie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts europäische nationale Befreiungsbewegungen zum europäischen Lager der jakobinischen Revolution neigten. Doch es sieht so aus, als ob die kürzlich emanzipierten Nationen Asiens und Afrikas eher mit der Nationenbildung als mit der internationalen proletarischen Solidarität beschäftigt wären. Sozialistische Maßnahmen scheinen als Instrumente Anwendung zu finden, um eine kohäsive Nation außerhalb der Stammesanhäufung, eine rasche Industrialisierung sowie Staatszentralismus zu bilden und als Elemente eines nationalen Mythos zu dienen. Die militärische Konfrontation zwischen den neuen Staaten in Afrika und Asien führt zur Frage, ob sie letzten Endes nicht die Geschichte der europäischen Nationen nachbilden. Gleichzeitig scheint die Bewegung für europäische Einheit, die immer noch durch isolationistischen Nationalismus behindert wird, über ihr Schicksal im Unklaren zu sein : Wird sie zu einem Kern echten Internationalismus oder zu einer vergrößerten, abgeschlossenen Einheit, wie die frühen modernen Nationalstaaten, die durch mächtige Dynastien wahr gemacht wurden ? Oder zu einer Allianz gegen den kommunistischen Block ? Vielleicht sind die Spaltungen im kommunistischen Lager für unsere Zwecke bedeutender, die gerade zu einer Zeit entstanden sind, als Sowjetrussland die Macht für einen ernstzunehmenden Versuch erlangt zu haben schien, die verbliebenen Klassenstaaten in eine einzige sozialistische Welt einzugliedern.
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Das Verwischen der Grenzen
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Wie es jeder Doktrin mit dem Anspruch einer Botschaft von ausschließlicher Gültigkeit eigentümlich ist, die jedermanns Konsens erhalten muss, wird dieser einstimmige Konsens schließlich durch überlegene Gewalt aufgezwungen. Doch die Tatsachen der Geschichte, der geographischen, ökonomischen und psychologischen Verschiedenheiten, die Mar xisten gewöhnlich als Zeitdifferenz bezeichnen ( und von denen sie behaupten, es handle sich nur um eine zeitliche Ungleichheit im Entwicklungstempo, die dazu bestimmt sei, ausgeglichen zu werden ), neigen dazu, sich früher oder später dem vereinheitlichenden Entwicklungstrend entgegenzustellen. Vor unseren Augen nimmt das die Form von Regimekritik innerhalb eines einzelnen Landes an; auf globaler Ebene wird es zu einer Form von Nationalismus, der sich gegen eine alles nivellierende, überlegene Macht zu wehren versucht. Das Verhältnis zwischen dem Mythos der Nation und der Vision einer Revolution wirft zum gegenwärtigen Zeitpunkt viele Fragen auf; auf einige werden wir in der Schlussfolgerung zurückkommen. Ist es nicht mehr als eine Lektion über Ambivalenz und mehrdeutige Verhältnisse ? Stellt es die Entfaltung einer Dialektik dar, die zu einer Entfesselung führt ? Wie sieht das Problem im Lichte der Einstellung aus, wonach Geschichte die Geschichte der Freiheit ist? Welche Perspektiven eröffnen sich durch das gleichzeitige Aufkommen des Rassenproblems als die akuteste soziale Frage unserer Zeit, mit dem Aufstieg der internationalen und kosmopolitischen Neuen Linken auf der einen und der wachsenden weißen Gegenreaktion auf der anderen Seite ? Ist das schismatische maoistische China neben dem Titoismus und der Unruhe in den ( sowjetischen ) Satellitenstaaten als eine Kraft zu sehen, die nationale Einzigartigkeit und Separatismus bekräftigt ? Könnte China als potentieller Brennpunkt für die farbigen Rassen gegen die weiße rassische und wirtschaftliche Vormachtstellung her vortreten ? Und schließlich : Bedeutet der Eurokommunismus ein Wiederauf leben des Nationalismus in Form einer erneuten Bestätigung demokratischer Prinzipien, oder muss er als Taktik aufgefasst werden ? Ist der politische Messianismus dabei, sich in zwei Lager zu spalten : totalitäre Demokraten und Pragmatiker ?
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Ers ter Teil Marx, Engels und die Nati on
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I. Marx’ und Engels’ chi lias ti sche Peri o de Die Hauptkategorien im Denken der jungen Marx und Engels waren der Mensch, das Individuum und die Gattung.1 Die Vorstellung einer Nation als Primärphänomen aus eigenem Recht und mit eigenen Entwicklungsgesetzen fehlt in ihrem Denken der frühen 1840er Jahre völlig. Die soziale Evolution wird von ihnen als die Geschichte der Entfremdung des Menschen von seiner wahren Natur, einer Entfremdung vom Wesen seiner Gattung und deren klarer Berufung, beschrieben. Diese Verzerrungen wurden durch die fortschreitende Abhängigkeit des Menschen von seinen eigenen Schöpfungen her vorgerufen. Statt Aufgaben zu vereinfachen und verschiedene Bedürfnisse zu stillen, entmenschlichte die Arbeitsteilung die Arbeiter und unter warf den Menschen dominanten und ausbeuterischen Klassen. Statt seine Würde zu betonen, seine Existenz zu sichern und seine Bewegungsfreiheit zu ermöglichen, wurden Eigentum und Geld zu den Quellen unersättlicher Habgier auf der einen und unerträglicher Entbehrung auf der anderen Seite. Sie säten allgemeine Anarchie und Unfrieden. Gott, Religion, Staat, Ideologien und per verse Philosophien, die von unpersönlichen Wesenheiten und kategorischen moralischen Imperativen sprachen, wurden vorgebracht, um Unterdrückung natürlich wirken zu lassen, und Ungleichheit und Ausbeutung wurden zu Garanten für Gesetz und Ordnung. All diese schädlichen Institutionen und falschen Lehren vereinten sich, um die natürliche und direkte Beziehung zwischen dem Menschen und seiner Spezies zu per vertieren. Sie entfremdeten den Menschen von der Natur, seinen Mitmenschen, der Gemeinschaft, sich selbst und den Früchten seiner Arbeit. Der Kommunismus war dazu bestimmt, den Menschen wieder zu seiner Art zurückzuführen, ihn in die Lage zu versetzen, sein menschliches Schicksal in all den mannigfaltigen und verschiedenen Begegnungen mit der Natur, Gesellschaft, Arbeit, Freude zu ver wirklichen, selbst zu einem Zweck zu werden statt zu einem Sklaven, einem bloßen Werkzeug oder einer betäubten und getäuschten, von einem Gefühl der Schuld und Unwürdigkeit geplagten Kreatur. 1
Siehe für die Schriften der jungen Marx und Engels Marx Engels Werke ( MEW ), 41 Bände; dies., Die heilige Familie, Band 2, S. 3–223; dies., Die deutsche Ideologie, Band 3, S. 9–530; Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie; Landshut (Hg.), Karl Marx. Sekundärquellen : Rubel, Karl Marx; Cornu, Karl Marx et Friedrich Engels; Ramm, Die künftige Gesellschaftsform; McLellan, Marx before Mar xism; Avineri, The Social and Political Thought of Karl Marx; Althusser, Pour Marx; Schlacht, Alienation; Fetscher, Karl Marx; Mayer, Friedrich Engels ( dt. Ausgabe ). Arbeiten zu Marx, Engels und den Nationen : Berki, On Mar xian Thought, S. 80–105; Bloom, The World of Nations; Davis, Nationalism and Socialism.
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Marx, Engels und die Nation
„Und endlich bietet uns die Teilung der Arbeit gleich das erste Beispiel davon dar, dass, solange die Menschen sich in der natur wüchsigen Gesellschaft befinden, solange also die Spaltung zwischen dem besondern und gemeinsamen Interesse existiert, solange die Tätigkeit also nicht freiwillig, sondern natur wüchsig geteilt ist, die eigne Tat des Menschen ihm zu einer fremden, gegenüberstehenden Macht wird, die ihn unterjocht, statt dass er sie beherrscht. Sowie nämlich die Arbeit verteilt zu werden anfängt, hat jeder einen bestimmten ausschließlichen Kreis der Tätigkeit, der ihm aufgedrängt wird, aus dem er nicht heraus kann; er ist Jäger, Fischer oder Hirt oder kritischer Kritiker und muss es bleiben, wenn er nicht die Mittel zum Leben verlieren will – während in der kommunistischen Gesellschaft, wo jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden.“2 Wo findet in diesem Schema die Nation ihren Platz ? Der Gebrauch des Wortes „Nation“ in den frühen Schriften unserer Autoren deutet darauf hin, dass sie die Ausdrücke „Nation“ und „Staat“ in austauschbarer Weise ver wendeten: Die Nation war die Bevölkerung eines Gebietes, die durch und in dem Staat, wie er existierte, organisiert war oder – ein Problem, das später zu diskutieren sein wird – die es verdiente und dazu bestimmt war, in einem aufkommenden Staat organisiert zu werden. Sofern es sich um eine ethnische Gruppe innerhalb eines Staates mit mehreren Völkern ( nach Ansicht unserer Autoren ohne Aussicht oder guten Anspruch darauf, zu einem unabhängigen Staat zu werden ) handelte, war es nur eine Nationalität, ein Fossil oder ein abgetriebener Fötus. Der Staat, was so viel wie Nationalstaat bedeutet, wird von Marx und Engels mit Nachdruck als die entfremdende und unter werfende Kraft par excellence bezeichnet, die aus einem gegebenen Moment in der historischen Entwicklung her vorgeht und dadurch dazu bestimmt ist, mit den anderen Kräften der Entfremdung und der Klassenausbeutung – oder sogar noch bevor diese zu existieren aufgehört haben – unterzugehen. „Dieses Sichfestsetzen der sozialen Tätigkeit, diese Konsolidation unsres eignen Produkts zu einer sachlichen Gewalt über uns, die unsrer Kontrolle entwächst, unsre Erwartungen durchkreuzt, unsre Berechnungen zunichte macht, ist eines der Hauptmomente in der bisherigen geschichtlichen Entwicklung, und eben aus diesem Widerspruch des besondern und gemeinschaftlichen 2
Marx / Engels, Die deutsche Ideologie, S. 33.
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Marx’ und Engels’ chiliastische Periode
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Interesses nimmt das gemeinschaftliche Interesse als Staat eine selbstständige Gestaltung, getrennt von den wirklichen Einzel - und Gesamtinteressen, an, und zugleich als illusorische Gemeinschaftlichkeit, aber stets auf der realen Basis der in jedem Familien - und Stamm - Konglomerat vorhandenen Bänder, wie Fleisch und Blut, Sprache, Teilung der Arbeit im größeren Maßstabe [...], der durch die Teilung der Arbeit bereits bedingten Klassen, [...] von denen eine alle andern beherrscht.“3 Marx und Engels würden aufgehört haben, an den historischen Materialismus zu glauben, wenn sie weitertheoretisiert hätten, ohne die realen Umstände zu berücksichtigen, die sich von Nation zu Nation unterscheiden. Was sie von Nationalisten trennt : Sie maßen dem universellen Charakter des Prozesses, durch den ein Staat als Joch, als illusorisches Gemeinwesen und Werkzeug der Klassenherrschaft entsteht, unendlich mehr realen Wert zu. Die objektiven „nationalen“ Aspekte mochten die Form und den Prozess der Klassenbildung innerhalb der Nation / Klasse beeinflussen, doch sie besaßen nicht Charakter, Macht und Würde eines primären, ewigen, formenden Einflusses. Die kosmopolitischen, universellen, materiellen und technischen Kräfte folgten Entwicklungsgesetzen, die alle Nationen betrafen, und vernichteten oder neutralisierten besonders seit dem Aufkommen der Maschine und der kapitalistischen Produktionsweise die lokalen und nationalen Besonderheiten. „Mit der Entwicklung der kapitalistischen Produktion“, schreibt Marx in den Theorien über den Mehrwert, „wird ein average Niveau der bürgerlichen Gesellschaft und damit der Temperamente und dispositions in den verschiedensten Völkern geschaffen. Wesentlich kosmopolitisch wie das Christentum.“3a Die universelle, bürgerliche Warenökonomie musste alle Grenzen überschreiten, alle lokalen, traditionellen, nationalen Produktionsweisen wegfegen, die Welt zu einer Werkstatt, einem einzigen Markt und einer Weltkultur vereinen. Die universelle Bourgeoisie konnte nicht anders, als durch ihren Fortschritt das universelle besitzlose Proletariat, ihren Totengräber, zu erschaffen. „Die Bourgeoisie hat durch ihre Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet. Sie hat zum großen Bedauern der Reaktionäre den nationalen Boden der Industrie unter den Füßen weggezogen. Die uralten nationalen Industrien sind vernichtet worden und werden noch täglich vernichtet. Sie werden verdrängt durch neue Industrien, deren Einführung eine Lebensfrage für alle zivilisierten Nationen wird, durch Industrien, die nicht mehr einheimische Rohstoffe, sondern den entlegensten Zonen angehörige Rohstoffe verarbeiten und deren Fabrikate nicht 3 3a
Ebd. Marx, Theorien über den Mehr wert ( Vierter Band des „Kapitals“), Band 26.3, S. 441.
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Marx, Engels und die Nation
nur im Lande selbst, sondern in allen Weltteilen zugleich verbraucht werden. An die Stelle der alten, durch Landeserzeugnisse befriedigten Bedürfnisse treten neue, welche die Produkte der entferntesten Länder und Klimate zu ihrer Befriedigung erheischen. An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander. Und wie in der materiellen, so auch in der geistigen Produktion. Die geistigen Erzeugnisse der einzelnen Nationen werden Gemeingut. Die nationale Einseitigkeit und Beschränktheit wird mehr und mehr unmöglich, und aus den vielen nationalen und lokalen Literaturen bildet sich eine Weltliteratur. Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterten Kommunikationen alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation. Die wohlfeilen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt, mit der sie den hartnäckigsten Fremdenhass der Barbaren zur Kapitulation zwingt. Sie zwingt alle Nationen, die Produktionsweise der Bourgeoisie sich anzueignen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen; sie zwingt sie, die sogenannte Zivilisation bei sich selbst einzuführen, d.h. Bourgeois zu werden. Mit einem Wort, sie schafft sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde.“4 Nationale Geschichten gehen in der universellen Geschichte auf, nicht mehr nationale Individuen dieses oder jenes besonderen Landes, sondern Menschen als universelle Individuen, deren Schicksal voneinander abhängt, begegnen sich im weltgeschichtlichen Austausch. Wir lesen in Die deutsche Ideologie: „Die große Industrie universalisierte trotz dieser Schutzmittel die Konkurrenz [...], stellte die Kommunikationsmittel und den modernen Weltmarkt her. [...] Sie erzeugte insoweit erst die Weltgeschichte, als sie jede zivilisierte Nation und jedes Individuum darin in der Befriedigung seiner Bedürfnisse von der ganzen Welt abhängig machte und die bisherige natur wüchsige Ausschließlichkeit einzelner Nationen vernichtete.“5 „Es zeigt sich schon hier, dass diese bürgerliche Gesellschaft“ – mitsamt ihren Verhältnissen – „der wahre Herd und Schauplatz aller Geschichte ist“, und nicht die vorgeblichen „hochtönenden Haupt - und Staatsaktionen“.5w Durch die „Aufhebung des Privateigentums [ wird ...] die Befreiung jedes einzelnen Individuums in demselben Maße durchgesetzt [...], in dem die Geschichte sich vollständig in Weltgeschichte ver wandelt“.5x Weil „ferner nur mit dieser universellen Entwicklung der Produktivkräfte ein universeller Verkehr der Menschen gesetzt ist, daher 4 5 5w 5x
Marx / Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, S. 466. Marx / Engels, Die deutsche Ideologie, S. 60. Ebd., S. 36. Ebd., S. 37.
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Marx’ und Engels’ chiliastische Periode
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einerseits das Phänomen der ‚eigentumslosen‘ Masse in allen Völkern gleichzeitig erzeugt ( allgemeine Konkurrenz ), jedes derselben von Umwälzungen der andern abhängig macht, und endlich weltgeschichtliche, empirisch universelle Individuen an die Stelle der lokalen gesetzt hat“.5y Wenn die notwendigen Bedingungen für die universelle Entwicklung von Produktivkräften und des damit einhergehenden Weltverkehrs Wirklichkeit geworden sind, wie wird dann der Kommunismus auf praktischer Ebene realisiert werden ? „Die deutsche Ideologie“ stellt sich das „als die Tat der herrschenden Völker ‚auf einmal‘ und gleichzeitig“5z vor, womit Engels England, die Vereinigten Staaten, Frankreich und Deutschland meinte. Das Manifest der Kommunistischen Partei erklärt : „Vereinigte Aktion, wenigstens der zivilisierten Länder, ist eine der ersten Bedingungen seiner Befreiung.“6 Es ist anzunehmen, dass die führenden Staaten fähig sein werden, die schwächeren Brüder mitzuziehen. Die Betonung liegt auf dem internationalen Charakter der großen sozialen Transformation und des gleichzeitigen Handelns durch die entscheidenden Länder. Ein isolierter kommunistischer Staat wäre eine Missgeburt und nicht Teil eines vorherbestimmten Weltprozesses und universellen Durchbruchs. Dessen kommunistisches Regime könnte nicht bestehen und in einer von Verbindungen und Beziehungen verschiedener Art regierten Welt seine Integrität bewahren. Solch ein „Kommunismus könnte nur als eine Lokalität“ existieren, die nicht in die universellen Verhältnisse integriert wäre. Die sozialen Kräfte in Aktion würden nicht den Charakter universeller, unvermeidlicher und unaufhaltsamer Kräfte besitzen, sondern den von „heimisch abergläubische[ n ] ‚Umstände[ n ]‘ [...], und [...] jede Erweiterung des Verkehrs [würde ] den lokalen Kommunismus aufheben“.7 1858 machte sich Marx über diese Probleme noch Sorgen und schrieb am 8. Oktober an Engels : „Die eigentliche Aufgabe der bürgerlichen Gesellschaft ist die Herstellung des Weltmarkts [...] und einer auf seiner Basis ruhenden Produktion. [...] mit der Kolonisation von Kalifornien und Australien und dem Aufschluss von China und Japan [... ist die ] schwierige question für uns [...] die : auf dem Kontinent ist die Revolution imminent und wird auch sofort einen sozialistischen Charakter annehmen. Wird sie in diesem kleinen Winkel nicht notwendig gecrusht werden, da auf viel größerm Terrain das movement der bürgerlichen Gesellschaft noch ascendant ist ?“8
5y 5z 6 7 8
Ebd., S. 35. Ebd., S. 35. Marx / Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, S. 479. Marx / Engels, Die deutsche Ideologie, S. 35. Marx an Engels, 8.10.1858, S. 360.
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Marx, Engels und die Nation
Dieser Auszug scheint der Überzeugung zu entspringen, der Kommunismus werde weltweit oder gar nicht zustande kommen. Würden jene Staaten, die die Initiative übernommen hatten, einen Staatenbund mit all denen bilden, die sie für die kommunistische Sache gewonnen hatten ? Würden sie zu einem einzigen Weltstaat verschmelzen ? Würde der Stärkste seinen Willen mit Gewalt durchsetzen oder die anderen durch sein Beispiel anleiten ? Man erfährt es nicht. Es wird einem zu verstehen gegeben, dass alle Rivalität zwischen den Nationalstaaten und alle nationale Unterdrückung zum Ende kommen wird, wenn erst einmal der universelle Kommunismus etabliert ist. Diese Überzeugung speist sich aus der Ansicht, nationale Feindschaft und Unterdrückung seien tatsächlich Ausdruck derselben kapitalistischen Habgier, die innerhalb der Grenzen eines einzigen Landes in den Arbeitern und anderen, schwächeren Klassen ihre Beute suche. Derselbe Virus greift dann auf andere, schwächere Nationen über. „Was sind die ganze innere Organisation der Völker“, fragt Marx in seinem Brief an P. W. Annenkow vom 28. Dezember 1846, „alle ihre internationalen Beziehungen anderes als der Ausdruck einer bestimmten Arbeitsteilung ? Und müssen sie sich nicht verändern mit der Veränderung der Arbeitsteilung ?“8y „Die Beziehungen verschiedener Nationen untereinander hängen davon ab, wie weit jede von ihnen ihre Produktivkräfte, die Teilung der Arbeit und den innern Verkehr entwickelt hat.“8z Das Ende der Ausbeutung des Individuums und des Klassenkampfes wird auch ein Ende der Feindseligkeiten unter den Nationen bringen. „In dem Maße, wie die Exploitation des einen Individuums durch das andere aufgehoben wird, wird die Exploitation einer Nation durch die andere aufgehoben. Mit dem Gegensatz der Klassen im Innern der Nation fällt die feindliche Stellung der Nationen gegeneinander.“9 Es scheint Grund zu der Annahme zu geben, dass die Beziehungen zwischen den Nationalitäten im multiethnischen Einzelstaat auf dieselbe Weise wahrgenommen werden. „Die kommunistische Revolution“, so lesen wir in Die deutsche Ideologie, hebt „die Herrschaft aller Klassen mit den Klassen selbst [ auf ], weil sie durch die Klasse bewirkt wird, die in der Gesellschaft für keine Klasse mehr gilt, [...] schon der Ausdruck der Auf lösung aller Klassen, Nationalitäten etc. innerhalb der jetzigen Gesellschaft ist“.10 Die Frage lautet, ob die Auf lösung von Nationalitäten bedeutet, dass sie durch allgemeine Vermischung verschwinden könnten, ihre politische Bedeu8y 8z 9 10
Marx an Pawel Wassiljewitsch Annenkow, 28.12.1846, S. 550. Marx / Engels, Die deutsche Ideologie, S. 21. Marx / Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, S. 479. Marx / Engels, Die deutsche Ideologie, S. 69 f.
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Marx’ und Engels’ chiliastische Periode
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tung verlieren würden, wie beispielsweise ( bis vor kurzem ) die Sonderidentitäten der Bretonen und Basken oder der Walliser und Schotten in der Homogenität Frankreichs oder Großbritanniens aufgingen; oder ob Marx und Engels die graduelle Aufnahme angrenzender Fürstentümer und halbautonomer Provinzen durch die großen Nationalstaaten in der frühen Moderne im Sinn hatten. Man darf bezweifeln, dass Marx und Engels in ihren frühen Schriften Größen wie Nation, Staat und Nationalstaat in der mehr oder weniger allgemein akzeptierten Weise im Blick hatten. Sie erklären : „Die nationalen Absonderungen und Gegensätze der Völker verschwinden mehr und mehr schon mit der Entwicklung der Bourgeoisie.“11 Es fällt schwer, sich vorzustellen, was von der Nation und dem Nationalstaat als Institutionen in der sozialistischen Ordnung übrig bliebe. Die zum Albtraum gewordenen Institutionen der Zentralregierung verschwänden mit all der bürokratischen Maschinerie, der Armee und der Polizei. Die Trennung zwischen Stadt und Land würde aufgehoben. Dieser eminent wichtige Schritt in Richtung der Eliminierung jener Arbeitsteilung, welche die Gesellschaft in Klassen unterteilte und eine herrschende Klasse über alle anderen erhob, würde mit Hilfe der Maschine – dem einstigen Unterjocher – großen Wohlstand schaffen und den Menschen von entwürdigenden, stumpfen Aufgaben befreien. Zufriedene Menschen, frei, ihre Möglichkeiten zu ver wirklichen, all ihre legitimen Wünsche wahr zu machen, bedürften nicht länger des Regierungszwangs, um sie von Schaden fernzuhalten, ihre Vergehen zu ahnden und sie von kriminellen Handlungen abzuhalten. Trotz all ihrer Abscheu vor einer anonymen Regierung oder Bevormundung und ihrer auf den ersten Blick beinahe Fourier’schen Vorliebe für kleine, autonome Kommunen prophezeien Marx und Engels jedoch nicht – wie es die Anarchisten tun – die bevorstehende Auf lösung der Zentralregierung und all ihrer Aufgaben. Allerdings scheint deren Rolle von ihnen auf ein Minimum reduziert zu werden. Sie erscheint als Ver waltung der Dinge ( à la Saint - Simon), als eine koordinierende Behörde und nicht als Regierung von Menschen durch Menschen. Selbst wenn dies das Überleben des großen, vereinigten Staates impliziert, scheint die lokale Gemeinde dennoch als natürlicher sozialer Rahmen eingestuft zu werden. Es ist jedoch nicht leicht, diese utopischen Erwartungen mit der Tatsache in Einklang zu bringen, dass Marx in den Kategorien von moderner Technik, totaler Mobilisierung und Koordinierung von Ressourcen, von Planung, Organisation der Produktion und Verteilung auf großer, nationaler und – wie es manchmal scheint – globaler Ebene dachte.
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Marx / Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, S. 479.
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Marx, Engels und die Nation
Überdies scheinen nicht nur die organisierten, institutionalisierten Formen der Nation, sondern auch deren Gruppencharakter bei aller Betonung der Entfaltung des Individuums als Mitglied der Gattung und deren Ebenbild bis hin zum Ausschluss der verdummenden, die Menschheit versklavenden und per vertierenden kollektiven Muster in der Luft zu hängen. Gleichzeitig ist es theoretisch möglich, eine klassenlose Gesellschaft mit dem Werden der wahren Nation gleichzusetzen : einer einzigen und unteilbaren Nation von Gleichen anstatt einer von Ungleichheit, Gegensatz und Unfrieden zerrissenen Klassengesellschaft. Dies führt uns zur berühmten Textstelle im Kommunistischen Manifest über das Proletariat ohne Vaterland und die Arbeiter als universelle Klasse mit der Aufgabe und dem Schicksal, zur Nationalklasse zu werden.12 Was die Autoren nahezulegen scheinen, ist Folgendes : Die Arbeiter konnten das Land, in dem sie lebten, schufteten und litten, nicht als ihr Vaterland ansehen, da sie wie Sklaven keinerlei Anteil an seinen Früchten und kein Mitspracherecht bei der Gestaltung des Allgemeinwohls hatten, sie keine Rolle in der Landeskultur spielten und der Staat ihre Rechte nicht schützte. Ihrer Grund - und Bürgerrechte beraubt, ließen sich die unterdrückten Arbeiter eines Landes eben wegen dieses entscheidenden Umstands nicht von denen eines anderen Landes unterscheiden. In diesem Sinne bildeten sie eine universelle Klasse, ungebunden, ohne besondere nationale, sie tatsächlich von der gleichartigen Universalität der Sklaverei absondernde Prägung. „Die Proletarier aber“, schrieb Engels 1847, „haben in allen Ländern ein und dasselbe Interesse, einen und denselben Feind, einen und denselben Kampf vor sich; die Proletarier sind der großen Masse nach schon von Natur ohne Nationalvorurteile, und ihre ganze Bildung und Bewegung ist wesentlich humanitarisch, antinational. Die Proletarier allein können die Nationalität vernichten, das erwachende Proletariat allein kann die verschiedenen Nationen fraternisieren lassen.“13 Doch der sich entfaltende, auf seinen Untergang zurasende Kapitalismus und die Pauperisierung der Massen bei gleichzeitiger Zunahme ihres revolutionären Bewusstseins brachten die Stunde näher, in der das Proletariat – wie 1789 der Dritte Stand – plötzlich zu einer Klasse würde, die berufen wäre, das Land zu erben, die geschwächten und bankrotten Parasiten der herrschenden Klassen hinwegzufegen und das Steuerruder des Schiffes zu übernehmen, das die unterdrückten, nun jedoch aufstrebenden Klassen lange Zeit unter dem tyrannischen Befehl ausbeuterischer Herren bemannt und über Wasser gehalten hatten. Sie würden die Nation begründen oder zur nationalen Klasse wer12 13
Vgl. ebd. Engels, Das Fest der Nationen, S. 614.
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Marx’ und Engels’ chiliastische Periode
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den; sie würden nicht nur die lebenswichtige soziale Rolle erfüllen, sondern von allen anerkannt werden. Wenn jeder zum Arbeiter geworden wäre, würde das Proletariat aufhören, eine Klasse zu sein, und zur Nation werden. Doch das hieße nicht, dass eine neue Nation mit einem besonderen Volksgeist und Schicksal entstünde. Die neue nationale Klasse und Nation würde, soweit die Arbeiter anderer Staaten ihrem Beispiel folgten, weiterhin eine universelle Klasse sein. Die herausragende Eigenschaft aller wiedergeborenen Nationen – oder besser klassenlosen Gesellschaften – wäre universelle Gerechtigkeit und nicht irgendein besonderes nationales Ethos. Würden sie sich also vermischen und einen universellen Weltstaat bilden ? Das wird von Marx und Engels nicht besonders betont. Doch es lässt sich schlussfolgern.
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II. Euro pa am Beginn der Revo lu ti on Als Europa am Vorabend von 1848 begann, zunehmend revolutionsschwanger zu wirken, gewann das Problem der konkreten nationalen Lage gegenüber der erwarteten internationalen Revolution im Denken von Marx und Engels immer größere Dringlichkeit. Die „ganze europäische soziale Bewegung von heute“, erklärte Engels, sei „nur der zweite Akt der [ Französischen ] Revolution, nur die Vorbereitung für das Denouement des Dramas, das 1789 in Paris anfing und jetzt ganz Europa zu seinem Schauplatz hat“.14 Eine Polarisierung und direkte Konfrontation auf europäischer Ebene zwischen dem Revolutionslager und den Kräften der Gegenrevolution waren bereits Tatsache. Der Kampf schien daher einfacher : Es war nur ein einziger mächtiger Schlag notwendig, wobei ein Land dazu bestimmt war, als erstes die Initiative zu ergreifen, das Signal zu geben, und durch seinen erfolgreichen Anfang die anderen Länder in Bewegung zu setzen. In seiner Rede vom 29. November 1847 auf dem Londoner Treffen anlässlich des Jahrestages des polnischen Aufstands von 1830 erklärte Marx : „Polen ist [...] nicht in Polen, sondern in England zu befreien.“15 In England befand sich der Klassenkampf bereits auf dem Höhepunkt. Die Chartisten - Bewegung war sich sicher, den ersten Schlag für die internationale Demokratie („Die Demokratie, das ist heutzutage der Kommunismus.“16) und für die Befreiung der Nationen zu führen. „Der Sieg des Proletariats über die Bourgeoisie ist zugleich der Sieg über die nationalen und industriellen Konflikte, die heutzutage die verschiedenen Völker feindlich einander gegenüberstellen“, und würde „darum zugleich das Befreiungssignal aller unterdrückten Nationen“ sein.16z Umgekehrt schrieb Marx dem Ausdruck „Fraternisierung der Nationen“ eine soziale Bedeutung zu, welche die politischen Aspekte mit abdeckte.17 Marx und Engels waren in ihren Ansichten über die Pionierrolle des englischen Proletariats inkonsistent. Nicht dass die nationale Identität des wegbereitenden Proletariats dermaßen wichtig gewesen wäre. Die beiden jungen Revolutionäre lehnten alle Ansprüche auf eine besondere Mission von Seiten der sozialistischen Partei irgendeiner einzelnen Nation ab. Wichtig war nur, dass irgendein Land den Anfang machte. Deutschland seinerseits schien ein 14 15 16 16z 17
Ebd., S. 613. Marx, Reden über Polen, S. 417. Engels, Das Fest der Nationen, S. 613. Marx, Reden über Polen, S. 416. Vgl. Engels, Das Fest der Nationen, S. 611.
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Europa am Beginn der Revolution
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wahrscheinlicher Kandidat, nicht weil es unter den entwickelten Ländern in erster Reihe stand, sondern gerade wegen seiner sozial - ökonomischen und politischen Rückständigkeit. Denn seine Rückständigkeit war auf widersprüchliche Weise mit einer theoretischen Reife verknüpft, die jene aller anderen Nationen übertraf.18 Es besteht wenig Grund, patriotischen Chauvinismus hinter dieser Bevorzugung Deutschlands zu vermuten, umso weniger als Marx und Engels die Aufgabe, das erste Signal zu geben, tatsächlich Paris zuteilten – dem gallischen Hahn. Auf Deutschland fiel die Wahl aller Wahrscheinlichkeit nach schlicht aufgrund der besseren Kenntnis der deutschen Lage und höheren Empfänglichkeit für seine Probleme. Dennoch musste diese Wahl die beiden Propheten dazu zwingen, eine extrem nationalistische Haltung anzunehmen, paradoxer weise als Teil der globalen Revolutionsstrategie. Sie wurden tatsächlich zu glühenden Verfechtern eines einigen und unteilbaren Deutschland, genauer : einer deutschen Republik. „Die Arbeiter müssen diesem Plane gegenüber nicht nur auf die eine und unteilbare deutsche Republik, sondern auch in ihr auf die entschiedenste Zentralisation der Gewalt in die Hände der Staatsmacht hinwirken“,19 sagten Marx und Engels 1850 in ihrer Ansprache an die Kommunistische Liga. Der Föderalismus jeder Art hing in ihrer Vorstellung mit feudalem Partikularismus, Herrschern von Gottes Gnaden, dynastischen Traditionen, sozialer Hierarchie, beschränkten Sichtweisen und Interessen, Zerstückelung, unsauberen asymmetrischen Überbleibseln lokaler Bräuche, alten Privilegien, Immunitäten und Ungleichheiten aller Art, schließlich Ehrfurcht vor Vorgesetzten und Respekt vor altem Hochadel und alteingesessenen Patriziern zusammen. Im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten entsprach „in Deutschland [...] der Kampf der Zentralisation mit dem Föderativwesen de[ m ] Kampf zwischen der modernen Kultur und dem Feudalismus“.19z Doch in anderen Ländern, insbesondere in der Schweiz, war die „Zentralisation [...] der allerstärkste Hebel der Revolution“.20 Ein mächtiger Besen war nötig, um all diese Spinnweben wegzufegen und den Weg für einen totalen und rationalen Wiederaufbau Deutschlands frei zu machen. Es sollte ein einziges Gesetz geben, dem alle Deutschen in gleicher Weise unterstellt wären, an dessen Ausformung alle auf gleicher Grundlage teilhaben und dessen garantierte Rechte alle gleichermaßen genießen würden. Alle Ressourcen Deutschlands sollten für die Bildung einer einzigen, modernen Industriewirtschaft mobilisiert werden, die auf höchster Zentralisierung 18 19 19z 20
Vgl. Talmon, Die Geschichte der totalitären Demokratie, Band 2, S. 236–239. Marx / Engels, Ansprache der Zentralbehörde an den Bund, S. 252. Marx / Engels, Programme der radikal - demokratischen Partei, S. 42. Marx / Engels, Ansprache der Zentralbehörde an den Bund vom März 1850, S. 252 f., Anmerkung von Engels zur Ausgabe von 1885.
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Marx, Engels und die Nation
beruhte. Im November 1847 schrieb Engels in Der Schweizer Bürgerkrieg : „Schon die Bourgeoisie arbeitet durch ihre Industrie, ihren Handel, ihre politischen Institutionen darauf hin, überall die kleinen, abgeschlossenen, nur für sich lebenden Lokalitäten aus ihrer Vereinzelung herauszureißen, sie miteinander in Verbindung zu bringen, ihre Interessen miteinander zu verschmelzen [...] und aus den vielen bisher voneinander unabhängigen Lokalitäten und Provinzen eine große Nation mit gemeinsamen Interessen, Sitten und Anschauungen zu bilden. Schon die Bourgeoisie zentralisiert bedeutend. [...] Das demokratische Proletariat [...] wird sie sogar noch viel weiter durchführen müssen. Während der kurzen Zeit, in der das Proletariat in der Französischen Revolution am Staatsruder saß, während der Herrschaft der Bergpartei, hat es die Zentralisation mit allen Mitteln, mit Kartätschen und der Guillotine durchgesetzt. Das demokratische Proletariat, wenn es jetzt wieder zur Herrschaft kommt, wird nicht nur jedes Land für sich, sondern sogar alle zivilisierten Länder zusammen so bald wie möglich zentralisieren müssen.“21 Im Licht der Schwäche, Furchtsamkeit und politischen Untauglichkeit der deutschen Bourgeoisie stellten sich Marx und Engels vor, die bürgerlich - demokratische Revolution werde dereinst von der deutschen Arbeiterklasse geführt. Doch die Idee der permanenten Revolution vor wegnehmend, die über fünfzig Jahre später von Par vus - Helphand und Trotzki verbreitet werden sollte, fanden sich Marx und Engels nicht damit ab, die deutsche Arbeiterklasse wieder in die Rolle des passiven und zufriedenen Beobachters zurückfallen zu sehen, nachdem die neue bürgerlich - liberale Regierung ihr die Zügel aus den siegreichen Händen genommen und begonnen haben würde, die Bedingungen für freies Versammlungsrecht, politische Betätigung und einen konventionellen Klassenkampf zu schaffen. Der revolutionäre Impuls sollte erhalten werden und der Übergang von der bürgerlich - liberalen Demokratie zur proletarisch - sozialistischen Gesellschaft ohne unangemessen lange Unterbrechung zwischen dem feudalen Absolutismus und dem Sozialismus stattfinden, auf teilweise konspirative Art, nach den Sitten der bürgerlichen Gesellschaft und mit Methoden sorgsam dosierter Sabotage und Provokation, die dazu bestimmt waren, die Stellung des herrschenden Kleinbürgers zu unterminieren.22 Dies war die Mission und große Chance, welche die Geschichte dem deutschen Proletariat vorbehalten hatte. Während die Arbeiterklassen der anderen westlichen Länder lange vorher von den unnötigsten, beschwerlichsten und erniedrigendsten Bürden befreit worden waren, hatte die Geschichte alle diese Bürden unvermindert und unverändert auf dem Rücken des deutschen Proletariats belassen. Zur gleichen Zeit gewährte sie dem deutschen proletarischen 21 22
Engels, Der Schweizer Bürgerkrieg, S. 396 f. Vgl. Marx / Engels, Ansprache der Zentralbehörde an den Bund, S. 246–248.
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Europa am Beginn der Revolution
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Geist ein tieferes Verständnis der gegenwärtigen Lage des Proletariats und der absoluten Gewissheit der schlussendlich anstehenden Emanzipation der Arbeiterklasse. Inzwischen war auch Europa an einen Punkt gelangt, an dem die politische Demokratie unbarmherzig weiter auf ihre Erfüllung in Form einer Sozialdemokratie, das heißt des Kommunismus, zusteuerte. Es war folglich das Schicksal des deutschen Proletariats, auf das Krähen des gallischen Hahns hin alle Bürden in einer einzigen, mächtigen Woge abzuschütteln und dann damit fortzufahren, eine Welt der Vernunft und Gerechtigkeit zu errichten.23
23
Vgl. Talmon, Die Geschichte der totalitären Demokratie, Band 2, S. 238 f.
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III. Die ein zi ge und unteil ba re Revo lu ti on 1848 schien zunächst eine wunderbare Rechtfertigung des revolutionären Internationalismus darzustellen. Und so sahen es auch Marx und Engels.24 Wie um die Prophezeiungen der extrem - revolutionären Doktrinäre zu bestätigen, löste der Ausbruch der Februarrevolution in Paris ( die früheren Unruhen in Italien nicht mitgezählt ) eine Kaskade von Revolutionen in ganz Europa aus. Ihr beklagenswerter Zusammenbruch, als sich das Blatt im Juni 1848 – wieder um in Paris, der Hauptstadt der europäischen Revolution – wendete, machte die unauf lösliche gegenseitige Abhängigkeit aller nationalen Revolutionen sichtbar. Ihr aller Schicksal hing vom Sieg oder der Niederlage der Revolution in einem einzigen Land ab, und der Sieg der Gegenrevolution über eine Revolution war der Triumph der Reaktion in ganz Europa. Europa schien tatsächlich in zwei Lager gespalten und die Revolution eine einzige und unteilbare zu sein. Nationale, demokratische und sogar sozialistische Bestrebungen verschmolzen zu einer einzigen Bewegung für die allgemeine Befreiung der Menschen, Klassen und Völker. Engels schrieb, „dass der große Entscheidungskampf angebrochen sei, dass er ausgefochten werden müsse in einer einzigen langen und wechselvollen Revolutionsperiode, dass er aber nur enden könne mit dem endgültigen Sieg des Proletariats“.25 Während die meisten Revolutionäre darüber jubelten, wie rasch die alten Eliten kapitulierten und wie leicht Revolutionen an so vielen Orten fast ohne Blutvergießen einen Sieg errangen, waren die beiden wichtigsten Vertreter der Revolution, Auguste Blanqui und Karl Marx, über den Verlauf der Dinge bestürzt.26 Wie es für echte Revolutionäre nur natürlich war, misstrauten sie den besiegten Gegnern zutiefst. Eine von alters her etablierte Herrscherklasse konnte nicht so leicht aufgeben. Ihre rasche Kapitulation musste ein berechnender taktischer Rückzug gewesen sein, „reculer pour mieux sauter“.26z Sie mussten alles in ihrer Macht Stehende tun, zu jeder Art List und Gewalt greifen, um wieder an die Macht zu kommen. Die scheinbare Hinnahme der Ver-
24
Siehe zu den Revolutionen von 1848 : Rosdolsky, Friedrich Engels, S. 87–282; Molnár, Marx, Engels et la politique internationale, S. 17–20; Mayer, Friedrich Engels, Band 1, Kapitel 11 f.; Droz, Les Révolutions allemandes; Valentin, Geschichte der deutschen Revolution; Stadelmann, Soziale und politische Geschichte. 25 Engels, Einleitung zu Karl Marx „Klassenkämpfe in Frankreich 1848–1850“, S. 512. 26 Vgl. Talmon, Die Geschichte der totalitären Demokratie, Band 2, S. 484–520. 26z A. d. Ü. : Zurückweichen, um besser springen zu können ( bzw. um mehr Anlauf zu haben ).
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Die einzige und unteilbare Revolution
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änderungen war ein Trick, um die Liberalen zu täuschen, die naiv an Rechtmäßigkeit, an das Prinzip vom Geben und Nehmen, an Verträge und Kompromisse glaubten, die die Gewalt des Pöbels und die Gesetzlosigkeit verabscheuten, die sich mit ihren proletarischen Verbündeten unwohl fühlten und deren Bestrebungen nicht weniger als ihre Methoden fürchteten. Als sie von den Königen ihre Ministerposten erhielten, waren die liberalen Anführer nur zu erpicht darauf, die wahren Hebel der Macht – Armee, Polizei, Gerichtshöfe und Bürokratie – unberührt unter der Autorität der Könige und deren direkten Helfershelfern zu belassen. Die extreme Rechte und Linke teilten diese Denkweise und verstanden einander gut. Für beide war Gewalt die letzte Instanz zwischen Klassen und Parteien. Macht war der entscheidende Faktor. Während Friedrich Wilhelm IV., und mit ihm Männer wie Bismarck, glaubten : „Gegen den Demokraten helfen nur Soldaten“, proklamierte Blanqui die Parole, die Mussolini übernehmen sollte, als er sich gegen die Position seiner eigenen sozialistischen Partei für ein Eingreifen Italiens in den Ersten Weltkrieg aussprach : „Wer Eisen [ d. h. Waffen ] hat, hat Brot.“27 Weder Marx noch Blanqui waren bereit, eine parlamentarische Mehrheitsentscheidung als endgültigen Urteilsspruch hinzunehmen. Ebenso wenig würden sie das allgemeine Wahlrecht als Allheilmittel und unfehlbaren Richter akzeptieren. Die Frage, die sie sich stellten, war, wie man die Rückkehr des besiegten Klassenfeindes verhindern konnte, wie der Untergang des revolutionären Impulses und das Verebben der idealistischen Erhebung angesichts der wachsenden Bereitschaft, sich mit den Dingen so zu arrangieren, wie sie zuvor bestanden, aufgehalten werden konnten. Ihre Antwort : durch einen revolutionären Volkskrieg nach dem Vorbild von 1793. Es gab ein gemeinsames revolutionäres Anliegen, das für jedes der aufständischen Völker zu einem nationalen Anliegen gemacht werden konnte : ein Krieg gegen das zaristische Russland, das einzige Land auf dem europäischen Kontinent, das von der Welle der Revolution unangetastet geblieben war. Russland war der unerbittliche Feind und die größte Gefahr für jede Revolution an jedem Ort. Solange der Zar, der selbsternannte Polizist der Reaktion, lebte und an der Spitze seiner Horden stand, war keine Revolution sicher. Ein Präventivschlag zur Verteidigung der europäischen Revolution wäre also ein Krieg für ein positives und hochheiliges revolutionäres Anliegen, das von Revolutionären jeder Schattierung unterstützt wurde : die Sache Polens.
27
Stadelmann, Soziale und politische Geschichte, S. 153; Talmon, Die Geschichte der totalitären Demokratie, Band 2, Fünfter Teil.
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IV. Pol ni sche Schwär me rei Der Fall Polens war von ganz eigener Art. Ein großes altes Reich – eine freie Republik mit gewähltem König – hatte sich unter dem Gewicht der Anarchie, die von einem völlig zügellosen, oft auch geradezu landesverräterischen Missbrauch der freiheitlichen Institutionen durch einen höchst selbstsüchtigen Hochadel und einen anarchischen niederen Adel herbeigeführt worden war, allmählich aufgelöst. Der Letztere hatte die Mittelschicht systematisch ausgequetscht und bevorzugte die Dienste einer armen, schutzlosen, politisch harmlosen jüdischen Bevölkerung; er hatte auch Millionen von Bauern, darunter viele von fremder Rasse und Religion, geradezu versklavt. Danach zerstörte er jeden Anschein einer zentralen Regierung. Auf diese Art gelähmt, wurde Polen zum Schlachtfeld für vier kraftvolle und expandierende Mächte : Schweden ( bis zum Tod Karls XII.), Russland, Preußen und Österreich. Als Polens patriotischere Untertanen die Leiden ihres Landes wahrnahmen und sich des dringenden Bedürfnisses nach Reformen bewusst wurden, erklärten sich die despotischen Herrscher Russlands, Preußens und Österreichs zu Verteidigern der alten Privilegien des polnischen Hochadels; danach zerstörten sie die Republik Polen, da sie ein gefährliches Nest für potentielles Jakobinertum bilde, und teilten das Land untereinander auf.28 Das Erstaunen und der Schock, den westliche Beobachter bei dem Anblick einer alten und einst mächtigen Nation erfuhren, die von der Landkarte Europas radiert wurde, war einer der Faktoren, die zum Entstehen des modernen Konzepts der Nation beitrugen. Man fand nicht genug Worte, um Entsetzen und Missbilligung zum Ausdruck zu bringen. Durch die Beseitigung der polnischen Wahlmonarchie, die den Titel einer Republik trug, waren keine dynastischen Rechte verletzt worden. Polen war keine Stadtrepublik wie Venedig, Genua oder Hamburg. Die Besitztümer und Privilegien des Hochadels wurden von den teilenden Mächten nicht angetastet. Das Opfer, dem die Souveränität, der juristische Personencharakter und die Freiheit entzogen wurden, war die Nation. So trat die Nation als Trägerin von Rechten her vor. Die Ermordung Polens verursachte das Aufkommen – oder vielleicht sollten wir sagen : das Wiedererscheinen – jener sehr alten Form von Nationalismus nach der Art des jüdischen Sprichworts : „Wenn ich Dein vergesse, Jerusalem“ ( Psalm 137). Kaum hatten die Invasionsmächte ihre Besetzung vollendet, als in Norditalien eine Legion aus polnischen Freiwilligen zusammengestellt wurde, um unter dem Kommando General Bonapartes an der Seite der Franzosen für ihr Land zu kämpfen. 28
Vgl. Kieniewicz, Historia Polski, S. 25 ff., 105 ff., 132 ff.
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Polnische Schwärmerei
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Hier gab es einen Nationalismus, der nicht auf einem Territorium gründete, sondern im Herzen getragen wurde, der sich nicht auf eine Regierung bezog, sondern an einem Traum hing, der nicht eine Verfassung als Bezugsgröße hatte, sondern einer Vision der Erlösung wie einem Leitstern folgte. Immerfort und grausam von Napoleon getäuscht, hörten die Polen doch nie auf, ihm zu vertrauen. Über Generationen erhielten sie einen mystischen Bonaparte - Kult aufrecht. 1815 wurde Polens Schicksal durch die Heilige Allianz für über einhundert Jahre besiegelt. Der europäische Friede, der durch die Übereinstimmung der despotischen teilenden Länder gesichert wurde, machte Polen in den Augen seiner Patrioten zum Friedhof. Die Polen wurden zu umherziehenden Rittern der europäischen Revolution, sie kämpften auf jeder Barrikade und jedem Schlachtfeld von Portugal bis zur Türkei, vom chartistischen England bis zum Königreich beider Sizilien. Ihre Generäle wie Chrzanowski, Bem, Dembiński, Wróblewski, Dąbrowski hatten aufständische Truppen in Italien, Ungarn und der Pariser Kommune unter ihrem Kommando. Die Revolutionäre Europas nahmen das Anliegen Polens als ihr eigenes auf, nicht nur aus Sympathie für eine verfolgte Nation und aus Dankbarkeit für Tapferkeit und Hingabe an die Revolution. Das Schicksal der europäischen Revolution hing von dem Zusammenhalt oder dem Zerfall der Heiligen Allianz ab. Das stärkste Band, das die nordeuropäischen Mächte zusammenhielt, war das gemeinsame Interesse daran, die Restauration Polens zu verhindern. Sollten sich diese Mächte einmal zerstreiten, waren sich die Polen sicher, als freie Nation aufzuerstehen. Ein wiederauferstandenes Polen würde gewiss ihre latenten Gegensätze zutage fördern. Kurz, hier gab es den klassischen Fall eines nationalistischen Anliegens, das zum Symbol und Mittelpunkt des revolutionären Internationalismus wurde. In einem Brief an Engels vom 2. Dezember 1856 schreibt Marx, es sei „das historische Fakt, dass alle revolutions seit 1789 ihre Intensivität und Lebensfähigkeit ziemlich sicher an ihrem Verhalten zu Polen messen. Polen ist ihr ‚auswärtiger‘ Thermometer“.29 Der größte polnische Nationaldichter, Mickiewicz, betete inbrünstig für einen Krieg der Völker gegen die Heilige Allianz. Die Jahrestags - Feierlichkeiten zum Gedenken an polnische Aufstände und tragische Niederlagen boten die Bühne, auf der Revolutionäre jeder Couleur und Nationalität zusammensaßen, und eben eine solche Feierlichkeit bot die Gelegenheit für das Entstehen der Ersten Internationale. Mit Blanqui und all den anderen Revolutionären teilten Marx und Engels das besondere Verhältnis zu Polen. Der erfolglose Aufstand vom 15. Mai 1848, der die revolutionäre Wende in Paris markierte, wurde von Blanqui und sei29
Marx an Engels, 2.12.1856, S. 88.
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Marx, Engels und die Nation
nen Anhängern bei dem Versuch angezettelt, die Nationalversammlung zur Kriegserklärung für Polen zu zwingen. In den Augen der drei Revolutionäre bestand der einzige Weg zur Beseitigung der Gefahr, die Russland für die europäische Revolution darstellte, darin, einen Befreiungskrieg für Polen zu führen. Das Land sollte „wenigstens die Ausdehnung von 1772 haben, muss nicht nur die Gebiete, sondern auch die Mündungen seiner großen Ströme und muss wenigstens an der Ostsee einen großen Küstenstrich besitzen“,30 also über den Dnjepr hinaus bis Riga und hinunter zum Schwarzen Meer. Das würde Russland aus dem Herzen Europas nach Osten treiben und nebenbei das verhasste Preußen schwächen ( das nach Meinung der deutschen Revolutionäre ein Satellitenstaat Russlands war, von ihnen Borussia genannt ) und wesentliche Teile seines Territoriums an der östlichen Grenze abschneiden. Die polnische Gesellschaft wurde noch immer vom Hochadel – der es zum Großteil aus Angst, seine großen Güter konfisziert zu sehen, vorzog, sich aus dem Nationalkampf herauszuhalten – und von einem verarmten niederen Adel beherrscht, der sich aus Angst vor dem Bankrott nicht dazu entschließen konnte, seine Bauern in die Emanzipation zu entlassen. Diese unwillkommene Tatsache wurde von den Revolutionären hastig mit dem Argument beiseitegewischt, dass die Anführer des kurzfristigen Aufstands von 1846 in der Freien Stadt Krakau ( das letzte und nur symbolische Überbleibsel polnischer Unabhängigkeit, das vom Wiener Kongress belassen wurde ) gegen die Übergriffe Österreichs und seiner Alliierten die Emanzipation der Bauern und der von ihnen bestellten Güter erklärt hatten. Auf diese Weise hatten die Aufständischen, nach den Worten der Väter des Sozialismus, vor den Augen der Welt die Vision einer nationalen Bauernbefreiungsbewegung und einer Bauerndemokratie entfaltet, die „sich stählte, um die Hände auf das Rad der Geschichte zu legen“.31 Eine vergleichbar farbenprächtige und weit hergeholte Interpretation einer zufälligen Angelegenheit machte aus der erfolglosen polnischen Verfassung vom 3. Mai 1791 einen historischen, bahnbrechenden Versuch, die Aristokratie abzuschaffen und eine Agrarreform durchzuführen – nach Marx der Fall einer politischen Revolution, die auch eine soziale Renaissance kennzeichnete : „Diese Konstitution mitten in der preußisch - russisch - österreichischen Barbarei [ erscheint ] als das einzige Freiheitswerk, das Osteuropa je selbstständig aufgerichtet hat. [...] Die Weltgeschichte bietet kein anderes Beispiel von ähnlichem Adel des Adels.“32 Es war ihnen kein Anliegen, die befremdliche Tatsache näher zu untersuchen, dass das galizische Bauerntum 1846 in Wirklichkeit der österreichischen 30 31 32
Engels, Die Polendebatte in Frankfurt, S. 334. Marx / Engels, Reden auf der Gedenkfeier in Brüssel, S. 521. A. d. Ü. : Zitat nicht nachweisbar. Marx, Manuskripte über die polnische Frage, S. 124.
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Polnische Schwärmerei
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Bürokratie in die Hände gespielt hatte. Um den Aufstand des niederen Adels einzudämmen, hatte die österreichische Obrigkeit dem Bauernaufstand von 1846, wenn sie ihn nicht entfesselt hatte, so doch wenigstens Vorschub geleistet; er erfüllte Europa mit Angst, hatte 1848 eine lähmende Wirkung auf die Bourgeoisie und setzte der antiösterreichischen Haltung des polnischen Adels ein Ende, solange die Donaumonarchie noch bestand.33 Zufälliger weise bildeten die Juden die größte städtische Bevölkerungsgruppe, die, den Bauern nicht unähnlich, auf die patriarchalische Monarchie als ihren Beschützer sah. Ein revolutionärer Krieg gegen Russland für die Sache Polens musste Europa zwangsläufig polarisieren. Er konnte nur die extremen Revolutionäre an die Macht bringen und alle anderen Teile der Gesellschaft dazu zwingen, zwischen revolutionärem Patriotismus und pro - russischer konterrevolutionärer – und somit antinationaler – Reaktion zu wählen. Eine solche Situation würde es den revolutionären Regierungen ermöglichen, ja sie in der Tat dazu zwingen, die jakobinischen diktatorisch - terroristischen Methoden von 1793 zu ergreifen und sie als Instrumente der sozialen Revolution einzusetzen. „Der Krieg mit Russland“, schrieb Engels, „war der vollständige, offne und wirkliche Bruch mit unsrer ganzen schmachvollen Vergangenheit, war die wirkliche Befreiung und Vereinigung Deutschlands, war die Herstellung der Demokratie auf den Trümmern der Feudalität [...], der einzig mögliche Weg, unsre Ehre und unsre Interessen gegenüber unsren slawischen Nachbarn und namentlich gegenüber den Polen zu retten.“34 Wir wissen, wie tragisch und wie bald dieser Enthusiasmus für die Polen in eine schlimmere Knechtung als zuvor mündete. Als Pläne für eine größere Autonomie der polnischen Gebiete ins Auge gefasst wurden, gab es einen Aufschrei unter den deutschen Siedlern in Posen, man wolle sie gerade zu einem Zeitpunkt an eine niedere Rasse verkaufen, da die befreite deutsche Nation beschlossen habe, all jene Privilegierten wieder aufzunehmen, die das Glück hätten, zu ihr zu gehören und ihre Sprache zu sprechen, und ihr in der Vergangenheit durch ein grausames Schicksal entrissen worden seien. Wie in solchen Situationen üblich, erwies es sich als unmöglich, in Gebieten mit gemischter Bevölkerung irgendeine zufriedenstellende Grenzlinie zu ziehen, zumal sich zu den ethnischen Erwägungen noch ökonomische, kulturelle und strategische gesellten – besonders im Fall der Stadt Posen, der Hauptstadt des preußischen Polen. Der polnisch - deutsche Konflikt entfachte einen Bürgerkrieg, und die preußische Armee setzte jedem Gespräch von besonderer polnischer territorialer 33 34
Vgl. Namier, 1848 : The Revolution of the Intellectuals; ders., 1848 : Seed - Plot of History, S. 45–56. Engels, Die Polendebatte in Frankfurt, S. 334.
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Autonomie ein Ende, begleitet von Stimmen im Frankfurter Parlament, die sich über die rührselige Sentimentalität jener lustig machten, die das Schicksal Polens beweinten und ein Schuldgefühl gegenüber den benachteiligten Polen äußerten. Der Erfolg energischer Eroberernationen und die Niederlage untüchtiger, träger Nationen – erklärte Jordan, einer der demokratischen Abgeordneten – sei das gerechte Urteil der Geschichte. Das war eine philosophische Verbesserung gegenüber dem Prinzip, das früher von Liberalen und Demokraten in der Frankfurter Versammlung verkündet worden war : „deutsch“ und „Deutschland“ umfasse jedes Gebiet, das im Laufe der Jahrhunderte jemals deutsch gewesen sei.35 Die Neue Rheinische Zeitung verfolgte die großen Debatten über die polnische Frage in der Frankfurter Paulskirche einerseits mit erbitterten Kommentaren über die Pflicht der Deutschen, Buße zu tun für ihre jahrhundertealte Rolle als Söldner aller despotischen Regime der Welt, welche die Absicht hegten, fremde Nationen zu unter werfen – in Italien, der Schweiz, den amerikanischen Kolonien, Österreich und Ungarn, dem revolutionären Frankreich und Polen –, und andererseits mit Elegien über das Schicksal Polens sowie Prophezeiungen über den kommenden Tag des Gerichts.36
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Vgl. Namier, 1848 : The Revolution of the Intellectuals, S. 88. Vgl. Engels, Die Polendebatte in Frankfurt, S. 319–326, 344.
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V. Recht und Gewalt in der glo ba len Revo lu ti ons stra te gie Vor 1848, während ihrer Periode des naiven Internationalismus und undifferenzierten monistischen Materialismus, ignorierten Marx und Engels schlichtweg die Existenz eines Nationalitätenproblems. Der „Frühling der Nationen“ zwang ihnen das Problem in einem Moment auf, als sie kaum darauf vorbereitet waren. Sie verstrickten sich in scheinbar unauf lösbaren Widersprüchen. Die leidenschaftliche Unterstützung der polnischen Unabhängigkeit, des Kampfes der Ungarn und der Sache der deutschen und italienischen Einheit bildete einen grellen Kontrast zu Marx’ und Engels’ völliger Verurteilung der Nationalbewegungen der Tschechen und sogar aller Slawen mit Ausnahme der Polen. Ähnlich befremdend war der Gegensatz zwischen ihrem harschen Urteil über die unrühmliche Rolle der Deutschen in der Geschichte im Sold der Unterdrücker von Nationen und ihrem so eng mit der Verherrlichung der dargebotenen Kraft und der kulturschaffenden Rolle der Germanen ( und Ungarn) bei der Unter werfung und Assimilierung schwächerer Nachbar völker verbundenen Unkenruf in Bezug auf die Befreiungsbestrebungen der slawischen Nationen. Der Schlüssel zu diesem Paradoxon liegt in folgender Tatsache : Marx und Engels waren, wie bereits angedeutet, dermaßen fest im dialektischen historischen Materialismus verankert, dass sie unfähig waren, das Recht der Nationen auf Selbstbestimmung als natürlich, unveräußerlich, ewig und, kurz gesagt, absolut anzuerkennen. Es gab keine ewigen natürlichen Rechte, nicht einmal solche des Individuums. Alle Rechte wurden ständig durch die Umstände, die Zeit und den Ort bestimmt und waren eine Funktion sozial ökonomischer Fakten, fortschrittlicher Entwicklungen auf dem Vormarsch und, am allermeisten, der geschichtlichen Entfaltung der Bewegung hin zum unvermeidlichen Endziel – der weltweiten proletarischen Revolution. Insofern als sie unfähig waren, die Nationalitätenfrage als primäres und eigenständiges Problem anzuerkennen, lässt sich sagen, dass Marx und Engels überhaupt keine Theorie zu diesem Thema hatten. Sie waren prinzipiell weder für die unveräußerliche nationale Selbstbestimmung noch unter allen Umständen dagegen, weder für die Erhaltung und Pflege individuellen Volkstums noch für die Vermischung von Rassen als Ziele an sich. Sie nahmen die bestehenden Staaten als gegebene Tatsache hin. Es gab für sie keinen Grund, sich auf das Unternehmen einzulassen, sie abzuschaffen und sie zu vereinigten Staaten zusammenzufügen oder zu einer europäischen Föderation zu bündeln. Nationale Unterschiede, Feindseligkeiten und Rivalitäten würden im Gefolge des Sozialismus mit Sicherheit stillgelegt und Grenzlinien ver wischt. Unter diesen
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Umständen einen Kampf für die Abschaffung souveräner Staaten als eigene Angelegenheit zu führen, wäre gleichbedeutend mit einer Ablenkung des Kampfes für eine sozialistische Revolution gewesen; ja es hätte faktisch bedeutet, ein rivalisierendes Anliegen zu schaffen. Man sollte die Arbeiter jedes Landes ihre eigene Bourgeoisie bekämpfen lassen, während man in größtem Einvernehmen mit den Bestrebungen des Proletariats in anderen Ländern agierte. Die Kämpfe in den einzelnen Ländern waren in letzter Instanz nur Teile einer universellen Konfrontation zwischen Proletariat und internationalem Kapitalismus. Sozialisten lehnten jede Art von Unterdrückung ab, einschließlich der nationalen. Sie brachen deshalb aber keine Lanze für jede nationale Befreiungsbewegung. Das hätte bedeutet, ein anderes Ziel als den Sozialismus um seiner selbst willen zu verfolgen, mit anderen Worten : eine Vielfalt von Zielen zu schaffen. Jede nationale Befreiungsbewegung sollte gewogen und geprüft werden im Hinblick darauf, ob sie für die globale Revolutionsstrategie einen Beitrag leisten oder Schwierigkeiten machen würde. Der Verzicht auf Unterstützung für die eine oder andere Bewegung oder selbst der Widerstand gegen sie sollte nicht als Ablehnung des Rechts auf nationale Freiheit verstanden werden, sondern nur als zeitliche Verzögerung. Da nationale Konflikte im Wesentlichen Begleitumstände sozialen Unfriedens waren, würde die kommende sozialistische Revolution mit Sicherheit jede nationale Unterdrückung auf ihrem Weg beseitigen. Was die unterdrückten Völker mit ihrer alten Sprache, ihrem eigenen kulturellen Erbe und ihren Institutionen tun würden, eignete sich kaum als Thema für theoretische Überlegungen. Das war eine Angelegenheit der direkt Betroffenen. Marx und Engels waren keine Männer, die im Blick auf Folklore und Nationaltänze zur Sentimentalität neigten oder gar zum Enthusiasmus über ihre Bedeutung für rückständige Volksstämme mitsamt deren sturer Entschlossenheit, politisch unabhängig zu werden. In seinem Pamphlet über Po und Rhein bemerkt Engels, es gebe nicht eine einzige europäische Großmacht, die nicht zu dem einen oder anderen Zeitpunkt Teile anderer Nationen vereinnahmt hätte : „Dass die Karte von Europa definitiv festgestellt sei, wird kein Mensch behaupten. Alle Veränderungen, sofern sie Dauer haben, müssen aber im Ganzen und Großen darauf hinausgehn, den großen und lebensfähigen europäischen Nationen mehr und mehr ihre wirklichen natürlichen Grenzen zu geben, die durch Sprache und Sympathien bestimmt werden, während gleichzeitig die Völkertrümmer, die sich hier und da noch finden und die einer nationalen Existenz nicht mehr fähig sind, den größeren Nationen einverleibt bleiben und entweder in ihnen aufgehen oder sich nur als ethnographische Denkmäler ohne politische Bedeutung erhalten.“37 37
Engels, Po und Rhein, S. 267; Na’aman, Lassalle; Oncken, Lassalle; Mayer, Friedrich Engels ( engl. Ausgabe ), S. 168 ff.
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Im Gegensatz zu Marx und Engels predigte Bakunin das absolute Recht jeder Volksgruppe, sich jederzeit und an jedem Ort zu erheben und die nationale Freiheit zu erlangen. Doch er glaubte nicht an die historische Dialektik.38 Er glaubte, es gebe ein geheiligtes Recht und die Pflicht, überall und jederzeit und unter allen Umständen eine Revolte gegen jede Art von Unterdrückung auszulösen. Es gab in Bakunins Denken keine globale, im Verlauf der Geschichte heranreifende Strategie der Revolution. Bakunin warf sich mit der für ihn gewohnten revolutionären Leidenschaft in die demokratische panslawische Bewegung. Marx und Engels hatten keine Ver wendung für die Slawen und verdammten sie, mit Ausnahme der Polen, allesamt heftig. Bakunin rief zu einer Bauernerhebung auf, weil eine solche Bewegung in seinen Augen spontan, unorganisiert und elementar war und dadurch das größte Maß an revolutionärer Leidenschaft und destruktiver Wirksamkeit entfaltete. Bakunin betonte unermüdlich, dass zu zerstören auch zu erschaffen bedeutete.39 Marx begrüßte das emanzipierte Industrieproletariat als den Erbauer des konstruktivsten sozial - ökonomischen Systems. Bakunin bewegte die Tatsache, dass Millionen Bauern slawischer ( und rumänischer ) Nationalität durch Grundbesitzer und Bürger anderer Völker rigoros ausgebeutet wurden und ihre nationalen Befreiungsbestrebungen gleichzeitig eine soziale Befreiungsbewegung darstellten und das freie Aufblühen von Kleinbauernnationen bedeuteten, die in Kleinbauernkommunen lebten.40 Marx und Engels verachteten, was sie als Dorfidiotie und kleinbäuerlichen Obskurantismus bezeichneten, und sahen mit Freude der Auf lösung des Bauerntums als eigener Klasse und dem Ende der Trennung von Stadt und Land entgegen. Sie hatten, wie erwähnt, für traditionelle Folklore nichts übrig, sondern vertraten die höhere Sache einer fortgeschrittenen und universelleren Zivilisation. Es liegt eine abstoßende Härte in den Ver wünschungen, mit denen Engels die Slawen bedachte. Seine verächtliche Verurteilung ihrer gesamten Geschichte schlägt verblüffend dar winistische Töne an, von den Hegel’schen Zwischentönen ganz zu schweigen. Man könnte es sogar Zynismus nennen. Wie jedoch eine aufmerksamere Lektüre der Texte zeigt, proklamierte Engels nicht einfach, dass alle Slawen schuldig seien und Strafe verdienten. Sie waren in der Tat dem Untergang geweiht und würden bald zugrunde gehen, doch es waren die Deutschen, die geopolitische Lage und die historischen Umstände, die es zu verantworten hatten, dass sie schuldig geworden waren. Gleichwohl werde das schlimme Schicksal, das über die Kroaten, Tschechen, Serben, Slowenen
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Vgl. Hepner, Bakounine; Nettlau, Bakunin; Carr, Michael Bakunin; Masters, Bakunin. Vgl. Venturi, Roots of Revolution, S. 36–63. Vgl. Hepner, Bakounine, besonders S. 277 ff.
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und anderen Südslawen hereinbräche, mit dem Fortschritt übereinstimmen. Es war eine Bedingung des Fortschritts und würde auch dessen Ergebnis sein. In den frühen Tagen der Revolution lobte Engels die „tapfere“ tschechische Opposition gegen die Habsburgerherrschaft, und an deren Vorabend verteidigte er die „slavische Freiheit“.41 In demselben Artikel, in dem das Untergangsurteil ausgesprochen wird, rechtfertigt Engels die Weigerung der Tschechen, Abgeordnete an das Frankfurter Parlament zu schicken oder mit den deutschen bürgerlichen Liberalen zu koalieren, die sich ihrem König gegenüber so scheu und gegenüber ausländischen Nationen so chauvinistisch und aggressiv gebärdeten. Er versteht die Gründe der Tschechen, der schwachen, uneffektiven österreichischen Revolutionsregierung die Unterstützung zu entziehen. Dann schließt Engels den Artikel unverhofft mit einem erstaunlich pathetischen Abschnitt : „Wer aber am meisten zu bedauern ist, das sind die tapfern Tschechen selbst. Mögen sie siegen oder geschlagen werden, ihr Untergang ist gewiss. Durch die vierhundertjährige Unterdrückung von Seiten der Deutschen, die jetzt in dem Prager Straßenkampf fortgesetzt wird, sind sie den Russen in die Arme gejagt. In dem großen Kampfe zwischen dem Westen und dem Osten Europas, der in sehr kurzer Zeit – vielleicht in einigen Wochen – hereinbrechen wird, stellt ein unglückliches Verhängnis die Tschechen auf die Seite der Russen, auf die Seite des Despotismus gegen die Revolution. Die Revolution wird siegen, und die Tschechen werden die Ersten sein, die von ihr erdrückt werden. Die Schuld für diesen Untergang der Tschechen tragen wieder die Deutschen. Es sind die Deutschen, die sie an Russland verraten haben.“41z „Ein Vernichtungskrieg der Deutschen gegen die Tschechen bleibt jetzt die einzige mögliche Lösung.“42 Kurz nach diesem harten Verdammungsurteil erachtete es Engels in den Ausgaben der Neuen Rheinischen Zeitung vom 25. Juni und 12. Juli für nötig, die Tschechen zu rehabilitieren, indem er feststellte, dass der Prager Aufstand „entschieden demokratisch“ gewesen und von den Volks - , Arbeiter - und Bauernmassen unterstützt worden sei, die sich sowohl gegen den tschechischen Adel als auch gegen die österreichische Armee erhoben hatten. Überdies sei es der machiavellistische Entwurf deutscher Gegenrevolutionäre, die revolutionäre Lava in Kanäle von „Stammhass“43 gegen die Freiheiten anderer Nationen zu leiten. Doch die Tschechen und Südslawen hätten solchen Provokationen standhaft widerstehen können oder sollen. Hätten sie sich dafür entschieden – so sagt Engels an anderer Stelle –, die Revolution zu unterstüt41
Molnár, Marx, Engels et la politique internationale, S. 85; Rosdolsky, Friedrich Engels, S. 89. 41z Engels, Prager Aufstand, S. 80. 42 Ebd., S. 81 f. 43 Engels, Die auswärtige deutsche Politik, S. 202.
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zen, statt eine Gelegenheit auszunutzen, um sich durch das Buhlen um die Gunst des absolutistischen österreichischen Feudalismus für ihre nationalen Ansprüche stark zu machen, dann hätten sie die Unterstützung der Revolution erhalten. Doch sie entschieden sich dafür, den Armeen Österreichs bei der Unterdrückung der Revolution in Wien zu helfen, und halfen den Russen und Österreichern bei der Ermordung Ungarns. Hätten die Slawen an irgendeinem Punkt ihrer Geschichte „eine neue revolutionäre Geschichte begonnen“, dann hätten sie dadurch einen Beweis ihrer Vitalität geliefert und die „Revolution [hätte ] von dem Augenblick an ein Interesse an ihrer Befreiung, und das besondre Interesse der Deutschen und Magyaren [ wäre ] vor dem größeren Interesse der europäischen Revolution“44 verschwunden. Doch während sie selbst unterdrückt wurden, zogen sie es vor ( oder wurden sie gezwungen ?), zu Unterdrückern aller revolutionären Nationen zu werden – man betrachte die Untaten in Italien durch die Kroaten und andere Slawen im Dienste Österreichs, die Untaten 1848 bei der Zerschlagung des Panslawischen Kongresses in Prag, oder noch früher die von der russischen Muschik - Armee bei der Eroberung Ungarns begangenen Gräueltaten. Die globale Revolutionsstrategie musste vor jedem nationalen Sonderinteresse Vorrang haben. Doch Tatsache war : „Bei allen Panslawisten geht die Nationalität, d. h. die phantastische, allgemeinslawische Nationalität vor der Revolution.“45 „Die Panslawisten wollen sich der Revolution anschließen unter der Bedingung, dass es ihnen gestattet werde, alle Slawen ohne Ausnahme, ohne Rücksicht auf die materiellsten Notwendigkeiten in selbstständige slawische Staaten zu konstituieren. [...] Die Revolution aber lässt sich keine Bedingungen stellen. Entweder ist man revolutionär und akzeptiert die Folgen der Revolution, sie seien, welche sie sein wollen, oder man wird der Kontrerevolution in die Arme gejagt und findet sich vielleicht ganz wider Wissen und Willen eines Morgens Arm in Arm mit Nikolaus und Windischgrätz.“46 Das war den Slawen widerfahren, und von den revolutionären Nationen Europas wurde nun verlangt, dass sie „den Herden der Kontrerevolution dicht an unsrer Tür eine ungehinderte Existenz, freies Verschwörungs - und Waffenrecht gegen die Revolution garantieren; wir sollen mitten im Herzen von Deutschland ein kontrerevolutionäres tschechisches Reich konstituieren, die Macht der deutschen, polnischen und magyarischen Revolutionen durch dazwischengeschobene russische Vorposten an der Elbe, den Karpaten und der Donau brechen! Wir denken nicht daran. Auf die sentimentalen Brüderschaftsphrasen, die uns hier im Namen der kontrerevolutionärsten Nationen Europas 44 45 46
Engels, Der demokratische Panslawismus, S. 279 f. Ebd., S. 285. Ebd.
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dargeboten werden, antworten wir, dass der Russenhass die erste revolutionäre Leidenschaft bei den Deutschen war und noch ist; dass seit der Revolution der Tschechen - und Kroatenhass hinzugekommen ist und dass wir, in Gemeinschaft mit Polen und Magyaren, nur durch den entschiedensten Terrorismus gegen die slawischen Völker die Revolution sicherstellen können. [...] ‚unerbittlichen Kampf auf Leben und Tod‘ mit dem revolutionsverräterischen Slawentum; Vernichtungskampf und rücksichtslosen Terrorismus – nicht im Interesse Deutschlands, sondern im Interesse der Revolution !“47 Wie erklären sich eine solch grausame Sprache und dar winistische Begriffe über die Vernichtung von Rassen ? Gewiss, es wird keine physische Vernichtung ins Auge gefasst, nur die Beendigung einzelner nationaler Existenzen. Doch an die Nationen lautet die Frage : Sein oder nicht sein. Außerdem überhäufen die sozialistischen Propheten die West - Dänen mit ähnlichen Schmähungen. Diese werden als Parasiten der deutschen Kultur und Marionetten der reaktionären Kräfte im schleswig - holsteinischen Konflikt bezeichnet. Es überrascht nicht, dass der Herausgeber der Neuen Rheinischen Zeitung, hinter dem die beklagenswerten Essays zur Judenfrage lagen – wobei die gegen Lassalle gerichteten, niederträchtigen antisemitischen Schmähungen in seiner Korrespondenz mit Engels noch folgen sollten48 –, keinen Versuch unternahm, die Tobsuchtsanfälle des Korrespondenten der Zeitung aus Wien, Müller - Tellering, über die „Judaisierung des europäischen Humanismus“ und den daraus folgenden Verlust aller „internen Moral“, die von einer Million jüdischer „Blutsauger“ vernichtet werde, einzudämmen.49 1848 und noch lange danach glaubten Marx und Engels, dass sie inmitten oder am Vorabend der Revolution lebten. Diese Revolution war für sie ein Krieg, und zwar der erbarmungsloseste Krieg von allen – ein europäischer Bürgerkrieg. Bei dieser Auseinandersetzung konnte kein Quartier genommen oder angeboten werden. Die Kräfte waren dermaßen polarisiert, dass niemand neutral bleiben konnte. Man war entweder Revolutionär oder Konterrevolutionär. Was auch immer die Ursachen, Gründe, Motive und Absichten der Tschechen oder Kroaten waren : Als sie sich entschlossen, die österreichische Monarchie zu unterstützen, entschieden sie sich für eine Allianz mit Russland, ja dafür, ihm in seinem Kreuzzug gegen die Revolution zu dienen. Als sie sich entschlossen hatten, ihrer Nationalität den Vorzug vor der Revolution zu geben, hatten sie ihr Todesurteil unterschrieben. Man konnte von der Revolution nicht
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Ebd., S. 286. Vgl. Marx an Engels, 2. 7. 1858, S. 336; Marx an Engels, 8. 8. 1858, S. 349; Marx an Engels, 25. 2. 1859, S. 401 f.; Marx an Engels, 9. 2. 1860, S. 29; Marx an Engels, 26.6.1860, S. 71. Silberner, Sozialisten zur Judenfrage, S. 128. A. d. Ü. : Zitate nicht nachweisbar.
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erwarten, dass sie in den befreiten Territorien Vendée-Aufstände tolerierte oder sich gnädig gegenüber Armeen erwies, die ihr Dolche in den Rücken stießen. „Aber bei dem ersten siegreichen Aufstand des französischen Proletariats [...] werden die östreichischen Deutschen und Magyaren frei werden und an den slawischen Barbaren blutige Rache nehmen. Der allgemeine Krieg, der dann ausbricht, wird diesen slawischen Sonderbund zersprengen und alle diese kleinen stierköpfigen Nationen bis auf ihren Namen vernichten. Der nächste Weltkrieg wird nicht nur reaktionäre Klassen und Dynastien, er wird auch ganze reaktionäre Völker vom Erdboden verschwinden machen. Und das ist auch ein Fortschritt.“50 Es gab jedoch eine Dialektik innerhalb der Dialektik. In einem Krieg zwischen Revolution und Konterrevolution waren alle „unsere“ Krieger objektiv edle und selbstlose Helden, und jeder Soldat in der feindlichen Armee war ein grausamer Barbar; unsere Truppen waren bei allem, was sie taten, entschlossene Kämpfer, während die Soldaten des Feindes ausnahmslos die schlimmsten Gräueltaten vollbrachten. Die Dialektik ließ Engels erklären, dass alle Truppen, die Wien belagerten und die Ungarn bekämpften, aus Slawen bestanden, während in Wirklichkeit alle ihre Offiziere Deutsche waren und kein deutsches Regiment außerhalb von Wien sich jemals auf die Seite der Revolution schlug.51 Engels fühlte sich dazu angetrieben, die Revolutionsereignisse von 1848 in der Perspektive der gesamten Geschichte zu betrachten. Und Geschichte bedeutete in diesem Fall nichts anderes als die Vorbereitung auf die ultimative sozialistische Revolution. Die historische Rolle der Slawen bei der Förderung des Herannahens der Revolution war, wie er meinte, gleich null : Tatsächlich schadeten sie nur. Im Hegel’schen Sinne handelte es sich bei ihnen daher um unhistorische Nationen. Die slawischen Völker Südosteuropas hatten nie einen eigenen Staat besessen, und wenn das eine oder andere Volk für eine kurze Weile die Unabhängigkeit erlangt hatte, hatte es sie bald für immer verloren. Eigenstaatlichkeit war das Tor zur Geschichte, der Weg, um zu den Annalen der Menschheit beizutragen. Die slawischen Nationalitäten verloren ihre Freiheit an die männlicheren Deutschen und Ungarn. Sie blieben ländliche, Schweine hütende Stämme ohne Stadtleben, ohne entwickelte soziale Strukturen und beinahe ohne kulturelles Erbe. Sie wurden tatsächlich Ausläufer der Barbaren aus dem Osten, in Engels’ Sprache : „niederträchtige Hunde“, „Zigeuner“, „slavische Bestien“, „tierisch - blödsinnige Slaven“, „Pöbel“, „Nationen aus Banditen“ und „Räuber“.52 Doch auf der anderen Seite nutzte Engels, als 50 51 52
Engels, Der magyarische Kampf, S. 176. Vgl. ebd., S. 173; Rosdolsky, Friedrich Engels, S. 103 f. Die Neue Rheinische Zeitung, Nr. 114 vom 12.10.1848; Nr. 235 vom 2.3.1849; Nr. 158 vom 2.12.1848; Nr. 226 vom 19.2.1849, zit. in Rosdolsky, Friedrich Engels, S. 104 f.
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es um die deutschen Ansprüche auf das dänische Schleswig - Holstein ging ( im Namen des höheren Rechts der historischen Entwicklung, der Zivilisation gegen die Barbarei, des Fortschritts gegen den Stillstand ), die Gelegenheit, um über den Enthusiasmus für die altnordischen Stämme zu spotten, die „brutale, schmutzige“53 Räuber gewesen seien. Die virilen, expandierenden Nationen – die Deutschen und Ungarn – keilten sich in die slawischen Territorien ein, wobei sie die Südslawen von deren nördlicher gelegenen Bruderstämmen trennten und sie in manchen Regionen einkreisten. Sie waren es auch, die einen Teil der slawischen Rasse vor der Eroberung durch die Türken bewahrten. Deutsche siedelten in manchen Teilen der slawischen Länder als Eroberer, wobei sie die Urbevölkerung auslöschten oder völlig assimilierten; in anderen siedelten sie als ländliche oder städtische Kolonisten, Lehrer der Handwerks - und Handelskünste und der akademischen Berufe, kurz als Mittelschicht der Mehrheitsbevölkerungen. Dadurch, dass sie jahrhundertelang als analphabetische Hirten und Bauern dahinvegetierten, hätten die slawischen Völker ihre Unfähigkeit zur Eigenstaatlichkeit bewiesen. In der Mitte des 19. Jahrhunderts seien sie kaum mehr als rudimentäre Nationalitäten gewesen, Relikte und Fossile lange untergegangener und verfallener Nationen. Konsequenter weise hätten sie kein Recht auf nationale Selbstbestimmung. Ihre Allianz mit despotischen Dynastien und ihre Ansprüche auf Unabhängigkeit bedrohten gerade jene Nationen, denen die Slawen ihre Rettung vor den Türken und die wenigen Segnungen der Zivilisation verdankten, die aufzunehmen sie in der Lage gewesen waren. Im Besitz eines hohen Grades sozial- ökonomischer, kultureller und politischer Entwicklung sowie eines hohen Niveaus an revolutionärem Bewusstsein und Entschlossenheit liefen die großen historischen Nationen Deutschland, Ungarn und Polen nun Gefahr, von den despotischen Reichen erdrückt zu werden, die von den gesichtslosen slawischen Bauernmassen unterstützt wurden. Die großen historischen Nationen könnten auf diese Weise von den Mittelmeerküsten Illyriens abgeschnitten werden und weitere lebenswichtige Territorien verlieren. „Unter allen Nationen und Natiönchen Östreichs sind nur drei, die die Träger des Fortschritts waren, die aktiv in die Geschichte eingegriffen haben, die noch jetzt lebensfähig sind – die Deutschen, die Polen, die Magyaren. Daher sind sie jetzt revolutionär. Alle andern großen und kleinen Stämme und Völker haben zunächst die Mission, im revolutionären Weltsturm unterzugehen. Daher sind sie jetzt kontrerevolutionär.“54
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Engels, Der dänisch - preußische Waffenstillstand, S. 394. Engels, Der magyarische Kampf, S. 168.
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„Die Südslawen, seit tausend Jahren von Deutschen und Magyaren ins Schlepptau genommen, haben sich 1848 nur darum zur Herstellung ihrer nationalen Selbstständigkeit erhoben, um dadurch zugleich die deutsch - magyarische Revolution zu unterdrücken. Sie vertreten die Kontrerevolution.“55 Kein konser vativer Reaktionär konnte Geschichte, die „letzten tausend Jahre der Geschichte“, so eindringlich als letztgültigen Beweis, Richter, Urteil und unumkehrbare Realität abhandeln, wie es Engels zu tun scheint, wenn er das Gesetz niederschreibt : „Wir wiederholen es : Außer den Polen, den Russen und höchstens den Slawen der Türkei hat kein slawisches Volk eine Zukunft, aus dem einfachen Grunde, weil allen übrigen Slawen die ersten historischen, geographischen, politischen und industriellen Bedingungen der Selbstständigkeit und Lebensfähigkeit fehlen. Völker, die nie eine eigene Geschichte gehabt haben, die von dem Augenblick an, wo sie die erste, rohe Zivilisationsstufe ersteigen, schon unter fremde Botmäßigkeit kommen oder die erst durch ein fremdes Joch in die erste Stufe der Zivilisation hineingezwungen werden, haben keine Lebensfähigkeit, werden nie zu irgendeiner Selbstständigkeit kommen können.“56 Es ist keine Übertreibung zu sagen : Wenn Engels Ausdrücke wie „niemals, nie“, „unwiederbringlich“ und „unvermeidlich“ ver wendet, begibt er sich in gefährliche Nähe zum Rassismus und erweckt den Eindruck, sozial - ökonomischen Determinismus durch eine ganz andere Art von Determinismus zu ersetzen; auch scheint er die Grundlehren des Materialismus zu verneinen – dass es nichts Ewiges und Unveränderliches gibt und nichts so dauerhaft ist wie die Veränderung. In einem Ton, der nur als reaktionär bezeichnet werden kann, hält Engels noch nicht einmal inne, um zu berücksichtigen, dass jene Nationen vielleicht die Freiheit um ihrer selbst willen anstreben und jene Reife erlangt haben könnten, die sie mit ihrem unter worfenen Status, den elenden Umständen und der sozialen Rückständigkeit hadern und die Freiheit erstreben lassen könnte. Ihre neumodische nationale Ideologie ist in Engels’ Augen nichts als ein ausländisches Importprodukt, das von einer Handvoll Schurken und Visionäre ohne Bezug zur konkreten Realität ins Land gebracht wurde. Bei Engels klingt es manchmal so, als wären die Slawen nur wegen ihres bösartigen Hasses auf die historischen Nationen und der Liebe zu Despoten zu dem Schluss gekommen, dass ihr sozialer Status, ihre Sprache, autonomen Strukturen und zukünftige Entwicklung unter einem toleranten und unbeschwerten übernationalen Reich sicherer wären als unter der Herrschaft solch wilder, exklusiver und tatendurstiger nationalistischer Regierungen wie derjenigen Kossuths, der von der Tatsache abgestoßen war, dass die Kroaten das 55 56
Ebd., S. 174. Engels, Der demokratische Panslawismus, S. 275.
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Geschenk der Freiheit ablehnten, das ihnen von den revolutionären Ungarn angeboten wurde, und das Joch des Absolutismus oder – was wahrscheinlich schien – der Alldeutschen vorzogen. Die Slawen sollten für die Jahrhunderte der Knechtschaft und Ausbeutung durch den deutschen Adel und das deutsche Bürgertum sowie die ungarischen Magnaten und Großgrundbesitzer keine Entschädigung erhalten, sondern sogar dafür bestraft werden, dass sie so lange bescheiden geblieben und nun plötzlich arrogant geworden waren. Selbstbestimmung war – so lässt sich nur schließen – nicht das Recht der Schwachen, die keine Chance bekamen, keinen Weg gefunden hatten, ein historisches Unrecht wiedergutzumachen, sondern ein Privileg für jene, die sich als stark und erfolgreich erwiesen hatten. Die Schwachen waren zur Unterjochung und zum Aussterben verurteilt, wenn sie ihre Ziele nicht den Interessen und Bestrebungen der mächtigeren und weiter fortgeschrittenen Nationen unter warfen, die den Vormarsch der Revolution sicherten. Es handelte sich letztlich nicht um eine Frage von Recht oder Unrecht, sondern von Macht. Die Erfahrung hatte gezeigt – so schrieb Engels in Der demokratische Panslawismus in Bezug auf Bakunins Leitspruch von einer „europäische[ n ] Völker verbrüderung“ –, dass das Ziel nicht „durch bloße Phrasen und fromme Wünsche zustande kommt, sondern nur durch gründliche Revolutionen und blutige Kämpfe; dass es sich nicht um eine Verbrüderung aller europäischen Völker unter eine republikanische Fahne, sondern um die Allianz der revolutionären Völker gegen die kontrerevolutionären handelt, eine Allianz, die nicht auf dem Papier, sondern nur auf dem Schlachtfeld zustande kommt“.57 Engels verspottet Bakunins romantisches, leichtes, abstraktes Phrasendreschen über „Gerechtigkeit“, „Menschlichkeit“, „Freiheit“, „Brüderlichkeit“, „Unabhängigkeit“, das die konkreten Umstände, Unterschiede zwischen Nationen, den jeweiligen Charakter, die Geschichte und den gegenwärtigen Zustand unberücksichtigt lässt. Engels zeigt wenig Langmut für Bakunins Glauben, es genüge, einen Kreuzzug der Völker gegen die Despoten auszurufen, um die Geschichte zu ändern und ein Europa der Raubzüge und diplomatischen Intrigen in eines der absoluten Harmonie und des Friedens zu ver wandeln. Doch es scheint noch einen anderen Grund gegeben zu haben, einen, der enger mit der materialistischen Dialektik und der globalen revolutionären Strategie des Zeitalters zusammenhängt. Marx und Engels blieben bis zum Lebensende zutiefst überzeugt : So wie die bürgerliche Phase der Geschichtsentwicklung ohne Industrialisierung unmöglich war, werde sie auch „ohne nationale Unabhängigkeit“ und Einheit „nicht gangbar“58 sein. Letztere schaffte die Voraussetzungen für einen großen Markt und für industriellen Fortschritt. Der Zer57 58
Ebd., S. 270 f. Molnár, Marx, Engels et la politique internationale, S. 57.
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fall großer Staaten mit im Inneren fortschreitenden Kapitalismus und einer in vollem Gang befindlichen bürgerlichen Demokratie bedeutete eine gänzlich reaktionäre Umleitung, einen Versuch, die mit der Revolution schwangere Geschichte zur Fehlgeburt zu bringen. Während also die Befreiung großer „Nationen“ einem gänzlich progressiven Prinzip folgte, war die Emanzipation von rückständigen Hirten - „Nationalitäten“ – ungeachtet aller sentimentalen Parolen von nicht - marxistischen Radikalen und Anarchisten – ein Rückschritt. Die Tatsache, dass vier Millionen Ungarn über Jahrhunderte acht Millionen Slawen beherrscht hatten, sollte weder Entrüstung gegen die Magyaren schüren noch Mitleid für die Slawen erwecken, denn dies zeige nur, dass erstere sich als „lebensfähiger und energischer“ erwiesen hätten. Zusammen mit den Deutschen hätten die Ungarn jenen Völkern und der Geschichte insofern einen großen Dienst erwiesen, als sie „alle diese kleinen verkrüppelnden, ohnmächtigen Natiönchen zu einem großen Reich zusammenschlugen und sie dadurch befähigten, an einer geschichtlichen Entwicklung teilzunehmen, der sie, sich selbst überlassen, gänzlich fremd geblieben wären !“59 Bedeutet ein solcher Gedankengang nicht – um die Frage noch einmal zu stellen –, dass die Macht Recht hat ? Bakunin zögerte nicht, dies zu einem späteren Zeitpunkt herauszustreichen, als er Marx’ und Engels’ Plädoyer für das höhere Recht der zivilisierten, mächtigen Nationen, die barbarischen oder trägen Nationen auszurotten oder auszubeuten, als reinen Dar winismus verurteilte. Engels gab, einen Hegel’schen Ton anschlagend, zu, dass die Deutschen und Ungarn bei diesem Prozess „manch sanftes Nationenblümlein gewaltsam [...] zerknick[ t ]“ hatten. „Aber“, fuhr er fort, „ohne Gewalt und ohne eherne Rücksichtslosigkeit wird nichts durchgesetzt in der Geschichte“,60 wie Alexander, Cäsar und Napoleon gezeigt hätten. Umso mehr gelte dies in der Gegenwart, in der Zentralisierung – als Ergebnis der Industrialisierung und des Fortschritts in der Kommunikation – so wichtig geworden sei. Ausgerechnet jetzt kämen die Slawen und wollten große, zentralisierte Länder zerschlagen. Nichts illustriert die wechselhafte, letztlich willkürliche Natur der dialektischen revolutionären Herangehensweise an das Nationalitätenproblem besser als Engels’ haarsträubender Brief an Marx vom 23. Mai 1851 zum Thema Polen.61 Der Brief wurde erst 1927 in voller Länge, begleitet von einem gewundenen Kommentar, in Band 27 der russischen Übersetzung der Werke von Marx und Engels abgedruckt, und dann etwas überraschend in voller Länge ohne Kommentar in der polnischen, zweibändigen Anthologie Marx und Engels zu Polen, Band 1, Seite 249–254 : „Je mehr ich über die Geschichte nachden59 60 61
Engels, Der demokratische Panslawismus, S. 278. Ebd., S. 279. Vgl. Engels an Marx, 23.5.1851, S. 266 f.
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ke, desto klarer wird es mir“, schreibt Engels, „dass die Polen une nation foutue sind, die nur so lange als Mittel zu brauchen sind, bis Russland selbst in die agrarische Revolution hineingerissen ist. Von dem Moment an hat Polen absolut keine raison d’être mehr. Die Polen haben nie etwas andres in der Geschichte getan, als tapfre krakeelsüchtige Dummheiten gespielt. Auch nicht ein einziger Moment ist anzugeben, wo Polen [...] den Fortschritt mit Erfolg repräsentierte oder irgend etwas von historischer Bedeutung tat.“ Im Vergleich zu den „chevaleresk - bärenhäuternde[ n ]“ Polen war Russland, soweit es den Osten betraf, eine effiziente und progressive Nation. Trotz all ihrer „Gemeinheit, all ihrem slawischen Schmutz“ war die russische Herrschaft „zivilisierend für das Schwarze und Kaspische Meer und Zentralasien, für Baschkiren und Tataren“. Die Polen hatten sich niemals als fähig erwiesen, andere Nationalitäten zu assimilieren, während es den Russen gelang, Deutsche und Juden in zweiter Generation zu russifizieren. „Selbst die Juden bekommen dort slawische Backenknochen.“ In den früheren polnischen Ostprovinzen hatte die große Mehrheit sich nicht gerührt, um gegen die russische Vorherrschaft Widerstand zu leisten. „¼ von Polen spricht Litauisch, ¼ Ruthenisch, ein kleiner Teil Halbrussisch, und der eigentliche polnische Teil ist zu voll 1/3 germanisiert.“61z Zwei Jahre später, am 12. April 1853, schreibt Engels an seinen Genossen Joseph Weydemeyer, der nach dem Fehlschlag der Revolution in Deutschland nach Amerika ausgewandert war : Da die Bauern der östlichen Provinzen des alten Polens alle von ausländischer Herkunft seien, bedeutete die Restauration Polens in Wirklichkeit eine Restauration der Vorherrschaft des polnischen Adels.62 Wie er sagt, will er nichts mehr davon hören, Polen die Landstriche jenseits der Dwina und des Dnjepr zu geben. Diese historischen Verallgemeinerungen macht Engels im Zusammenhang mit der revolutionären deutschen Realpolitik, auf die die Deutschen an jenem Tag zurückgreifen müssen, an dem in Deutschland eine Revolution stattfinden wird. Frankreich, Italien, die Tschechen ( denen Mazzini die Unabhängigkeit versprach ) und Polen werden sich vereinen, um die Revolution zu ersticken und Deutschland zu teilen, und Deutschland werden nur zwei mögliche Verbündete bleiben – die Ungarn und die Russen, die bis dahin ihre eigene Bauernrevolution erlebt haben. Wenn es seine agrarische Revolution gehabt hat, wird Russland ein unendlich wünschenswerterer Verbündeter sein als Polen. Bei den Polen kann man sich nicht darauf verlassen, dass sie mehr als 20 000 bis 30 000 Soldaten aus ihrem bankrotten, unbedeutenden Landadel zusammenbekommen. Gewiss versprachen Marx und Engels, die polnische Unabhängigkeit zu unterstützen, doch – fügte Engels hinzu – nur unter der Bedin61z Ebd. 62 Vgl. Engels an Joseph Weydemeyer, 12.4.1853, S. 575–582.
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gung einer agrarischen Revolution.63 Es erschien jedoch ziemlich sicher, dass eine solche Revolution früher in Russland stattfinden werde. Engels zog eine recht weit reichende praktische Schlussfolgerung daraus : „Den Polen im Westen abnehmen, was man kann, ihre Festungen unter dem Vor wand des Schutzes mit Deutschen okkupieren, besonders Posen, sie wirtschaften lassen, sie ins Feuer schicken, ihr Land ausfressen, sie mit der Aussicht auf Riga und Odessa abspeisen, und im Fall die Russen in Bewegung zu bringen sind, sich mit diesen alliieren und die Polen zwingen, nachzugeben. Jeder Zoll, den wir an der Grenzlinie von Memel bis Krakau den Polen nachgeben, ruiniert diese ohnehin bereits miserabel schwachen Grenzen vollständig und legt die ganze Ostseeküste bis nach Stettin bloß.“64 Im gleichen Geiste schrieb Engels 1852 in seiner Revolution und Konterrevolution in Deutschland über die Zukunft der Tschechen : „Die im Absterben begriffene tschechische Nationalität [... machte ] 1848 eine letzte Anstrengung, ihre frühere Lebenskraft wiederzuerlangen, eine Anstrengung, deren Scheitern, unabhängig von allen revolutionären Erwägungen, beweisen sollte, dass Böhmen künftig nur mehr als Bestandteil Deutschlands existieren könne, wenn auch ein Teil seiner Bewohner noch auf Jahrhunderte hinaus fortfahren mag, eine nichtdeutsche Sprache zu sprechen.“65 Das Verhältnis zwischen den historischen und unhistorischen Nationen in Europa findet eine Parallele in Marx’ und Engels’ Konzept von der Beziehung zwischen den großen Kolonialmächten und den Völkern Asiens ( und, soweit Afrika überhaupt in ihrem Denken präsent ist, auch den Völkern Ägyptens und Algeriens ). Engels nimmt auch Bezug auf den Krieg zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko um Texas. Technisch betrachtet handelte es sich um einen Angriffskrieg von Seiten der Vereinigten Staaten, doch die virilen, tapferen, fortschrittlichen Yankees seien völlig im Recht gewesen, den trägen, rückständigen, unfähigen Mexikanern ein Land mit großen Bergbau - und Industriemöglichkeiten zu entreißen; auch sollten sie weitermachen und NeuMexiko und Kalifornien erobern.66 Sie vertraten die Sache der Zivilisation gegen stürmische Barbaren. Dasselbe galt für das Verhältnis zwischen den progressiven, revolutionären Nationen – den Deutschen und Ungarn – und den slawischen Nationalitäten, die „von der Geschichte wider ihren eigenen Willen nachgeschleift“ worden waren, und die unvermeidlich, ja, die „in der Revolution von 1848 wirklich kontrerevolutionär“67 gewesen waren. 63 64 65 66 67
Vgl. Engels an Marx, 23.5.1851, S. 267. Ebd., S. 267 f. Engels, Revolution und Konterrevolution in Deutschland, S. 52. Vgl. Engels, Der demokratische Panslawismus, S. 274. Ebd.
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Auf seinem unerbittlichen Marsch zur Ver wirklichung der globalen Einheit durch die Einbindung der weiten Räume, der Bevölkerungen und natürlichen Ressourcen Asiens in eine einzige kapitalistische Weltordnung musste der europäische Kapitalismus zwangsläufig die uralte asiatische Produktionsweise vernichten. Die seit Menschengedenken währende Stagnation Asiens wurde durch den Mangel an Warenumlauf, den Verbrauch der meisten Erzeugnisse durch die Familie oder Gemeinde, das Fehlen jeder Arbeitsteilung und die Aneignung allen Überschusses durch Geldverleiher sowie eine despotische Regierung ver ursacht, gleich welche dynastischen Umwälzungen und Änderungen stattfanden. Die imperialistischen Mächte begingen unzählige Verbrechen und setzten die unter worfenen Völker furchtbarem Leid, Verdrängung und Elend aus. Doch Letztere mussten den Preis bezahlen, denn Erstere handelten als Werkzeuge der Geschichte und des Fortschritts. Ohne dass eine der beiden Seiten sich dessen bewusst war, würde die Zerrüttung alter, unflexibler Zivilisationen durch arrogante und gierige Eroberer – besonders im Fall Chinas – zum Untergang der Eindringlinge führen. Das würde aber nicht durch Revolten geschehen, die die Macht der Kolonialherren unterminieren und sogar zerstören und dadurch das europäische Proletariat in Bewegung setzen würden, sondern durch eine Krise, in die die konkurrierenden kapitalistischen Ökonomien bei ihrem Bemühen um die Mobilisierung des Reichtums der Kolonien gestürzt werden würden. Siegreiche Aufstände der Kolonien waren vorstellbar. Doch sie konnten ebenso wenig wie die russische Dorfgemeinde zu Ausgangspunkten für eine lokale sozialistische Transformation werden und noch weniger als Inspiration und Vorbilder für die Welt in ihrer Gesamtheit wirken. Die unter worfenen Völker Asiens und Afrikas könnten nur durch die Aufwiegelung oder das Angebot effektiver Hilfe durch siegreiche westliche Revolutionen in die Lage versetzt werden, ihr eigenes revolutionäres Potential zu entfalten. Letztere sollten nicht versuchen, den befreiten Kolonialvölkern ihre Glücksrezepte aufzuzwingen, sondern sie ihren eigenen Weg in den Sozialismus finden lassen. Sie wären jedoch dazu verpflichtet, revolutionären Befreiungsbewegungen außerhalb Europas Hilfe anzubieten.68 In einem bemerkenswerten Brief an Kautsky schreibt Engels 1882, er glaube, dass die britischen Herrschaftsgebiete die Unabhängigkeit erlangen würden, wie auch immer ihre sozialpolitischen Regierungsformen aussähen, und er erwarte, dass Algerien, Ägypten, die holländischen und die portugiesischen Kolonien von ihrem jeweiligen Proletariat wahrscheinlich auf dem Weg der Revolution in die Freiheit geführt würden. Der Möglichkeit zur Führung von 68
Vgl. Avineri ( Hg.), Karl Marx on Colonialism; Lichtheim, Imperialism, Kapitel 6–8; Molnár, Marx, Engels et la politique internationale, Kapitel 4 f.
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Kolonialkriegen enthoben, werde das westliche Proletariat die Kolonialrevolutionen ihren Teil an Leid und Zerstörung abbekommen lassen, der zu jeder Revolution gehöre. „Wir werden genug zu Hause zu tun haben. Ist Europa erst reorganisiert und Nordamerika, so gibt das eine so kolossale Macht und ein solches Exempel, dass die halbzivilisierten Länder ganz von selbst ins Schlepptau kommen; das besorgen allein schon die ökonomischen Bedürfnisse. Welche sozialen und politischen Phasen aber diese Länder dann durchzumachen haben, bis sie ebenfalls zur sozialistischen Organisation kommen, darüber, glaube ich, können wir heute nur ziemlich müßige Hypothesen aufstellen. Nur das eine ist sicher: das siegreiche Proletariat kann keinem fremden Volk irgendwelche Beglückung aufzwingen, ohne damit seinen eignen Sieg zu untergraben. Womit natürlich Verteidigungskriege verschiedner Art keineswegs ausgeschlossen sind.“69 Letzterer Vorbehalt kann natürlich dazu dienen, jegliche subversive Bestrebung von Seiten einer Minderheit und jede bewaffnete Inter vention durch sozialistische Länder zu legitimieren.
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Engels an Karl Kautsky, 12.9.1882, S. 358.
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VI. Die unvoll stän di ge Theo rie Kann man eine Änderung und Anzeichen für eine Entwicklung in Marx’ und Engels’ Haltung zum nationalen Problem in den Jahrzehnten nach 1848 entdecken ? Man muss bedenken, dass die beiden Freunde die meiste Zeit in der Phase nach 1848 nicht nur scharfsinnige Beobachter der internationalen Szene waren, sondern auch fast professionelle Journalisten. Für nicht wenige Jahre bestand Marx’ geregelte Haupteinkommensquelle aus den Honoraren für seine Artikel – 478 in zehn Jahren, davon ein Viertel von Engels redigiert – in der New York Daily Tribune.70 Da sie konkrete Ereignisse für die allgemeine Öffentlichkeit analysieren und evaluieren sollten – und nicht als Theoretiker oder Anführer, die ihre Linie festlegten, fungierten –, interessierten sich Marx und Engels zwangsläufig für diese Ereignisse und versuchten, deren zeitgenössische Bedeutung einzuschätzen. Sie erwecken manchmal den Eindruck, die Dialektik der Weltrevolution vollständig zu ignorieren. Aber doch nicht ganz. Der Standpunkt ist immer der von politischen Radikalen. Gleichwohl verliert sich die für Marx und Engels so natürliche, ja zwanghafte Gewohnheit, alle politischen Fakten auf sozial - ökonomische Daten zu beziehen, in der späteren Periode fast vollständig oder wird auf oberflächliche, vordergründige und oft gänzlich hirnverbrannte Aussagen wie zum Beispiel im Fall Polens reduziert. Das waren Jahre des Sieges für das Prinzip der Nation wie beispielsweise die Einigung Italiens und noch wichtiger Deutschlands – Anliegen, von denen sie sich tief betroffen fühlten, die aber in für sie frustrierender Weise von Faktoren und mit Mitteln zur Erfüllung gebracht wurden, die ihnen nicht behagten. In den russischen Kriegen von 1853/54 und 1878 spielte das Nationalitätenproblem des Balkans eine große Rolle, doch wiederum nicht auf eine von den beiden Theoretikern erwünschte Weise. Die Pariser Kommune von 1871 entfachte für eine kurze Weile wieder den revolutionären Internationalismus und einiges von der Spaltung vor 1848 in ein Revolutionslager ( das wenigstens in einem gewissen Ausmaß von der Internationale verkörpert wurde ) sowie eine scheinbar wiederbelebte Heilige Allianz. Doch diese Entwicklungen wurden bald von der Tatsache überschattet, dass die französisch - russische Annäherung auf der einen und die Regungen der Revolution in Russland auf der anderen Seite jede Spekulation über eine europäische Konfrontation zwischen revolutionären und konterrevolutionären Nationen nach dem Vorbild von 1848 über den Haufen warfen. 70
Vgl. Molnár, Marx, Engels et la politique internationale, S. 23.
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1. Revolutionäre Diplomatie Die Frage der internationalen proletarischen Einheit und der nationalen Abgrenzung kam auf die Tagesordnung der Ersten Internationale.71 Obwohl die Internationale aus Vereinigungen bestand, die entweder um Aufnahme baten oder kooptiert wurden, bestand Marx’ Ziel darin, aus ihr eine Körperschaft aus nationalen Parteien zu machen. Mit „Nationen“ meinte er ausdrücklich Staaten und nicht Nationalitäten oder ethnische Gruppen. Marx war sehr darauf bedacht, die Internationale aus der Nationproblematik herauszuhalten und nicht zu einer Plattform für Debatten unter Nationalitäten oder für die Vertretung besonderer nationaler Anliegen zu machen – allerdings mit Polen als auffallender Ausnahme. Gleichzeitig wollte Marx aus der Internationale die sechste Großmacht in Europa machen, die sich gegen die anderen fünf stellte. Die Arbeiterklassen, aus denen sie bestand, waren dazu verpflichtet, ein wachsames Auge auf das Tun ihrer jeweiligen Regierungen und allgemein auf internationale Ereignisse zu werfen, ihnen „wenn nötig entgegenzuwirken“, und falls sie sich nicht zurückhalten konnten, sich alle zum gemeinsamen Angriff zu vereinen : „Der Kampf für eine solche auswärtige Politik ist eingeschlossen im allgemeinen Kampf für die Emanzipation der Arbeiterklasse.“72 Marx fand sich auf dem Gebiet der internationalen Politik aus verschiedenen Gründen stark bedrängt : einerseits von Mazzini und dessen Gefolge, andererseits von Bakunin und außerdem von Proudhons Anhängern. Sehr wider willig, unter Protest und mit Ironie stimmte Marx zu, in die Grundprinzipien der Ersten Internationale Mazzini’sche Schlagwörter über die Gerechtigkeit für alle Nationen aufzunehmen und zu ergänzen, dass Moral in internationalen Beziehungen notwendiger weise die gleiche wie unter Individuen sein müsse. Doch er achtete darauf, nationalistische Prophezeiungen herauszuhalten.73 Marx’ Beharren darauf, dass die Arbeiterbewegung des Nationalstaates von einer einzigen Partei repräsentiert werde und die oberste Pflicht des Proletariats in jedem Land, in dem es in Form einer politischen Partei organisiert war, darin bestand, die politische Macht zu ergreifen und sich selbst schließlich als Diktatur zu etablieren sowie außerdem natürlich Marx’ zentralisierende Tendenzen als Kopf des Internationalen Rates – beide Punkte erregten bei Bakunin Anstoß. Sie waren für ihn ein weiterer Beweis für Marx’ unheilbaren Etatismus, der im Gegensatz zu Bakunins eigenem, von ihm hochgehaltenen Gedanken der universellen und sofortigen Befreiung von jeder Autorität stand. 71 72 73
Vgl. Abransky / Collins, Karl Marx and the British Labour Movement, S. 52 ff., 112 ff. Marx, Inauguraladresse der Internationalen Arbeiter - Assoziation, S. 13. Vgl. ebd., S. 5–13.
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Das stetige Vorrücken der deutschen Sozialdemokratie, die so lange eine deutsche Einheit in Form eines großen, zentralisierten und mächtigen Staates angestrebt hatte, und die Zunahme ihres Einflusses im Rat der Internationale legten Bakunin den Gedanken an ein deutsch - jüdisches Komplott zur Errichtung einer deutschen Hegemonie über die internationale Arbeiterbewegung nahe.74 Die Schwierigkeiten mit den Proudhonisten entstanden aus deren kosmopolitischer Opposition gegen den nationalen Separatismus und ihrem Wunsch nach der „Individualisierung der Menschheit“, was Marx in Bezug auf seinen Schwiegersohn Lafargue als eine Art umgekehrten französischen Chauvinismus betrachtete. Für die französischen Sozialisten standen Frankreich und die französische Sprache und Kultur, wie wir gesehen haben, schlichtweg für die menschliche Kultur insgesamt. Sie beleidigten damit nicht so sehr den Patrioten in Marx als vielmehr seinen Realismus. Die Proudhonisten wiesen ein politisches Vorgehen zugunsten der Polen mit der Begründung zurück, dass es nicht die polnischen Landeigentümer gewesen seien, sondern ein russischer Zar, der die polnischen Bauern emanzipiert habe. Es sei ganz falsch und stehe der revolutionären Gerechtigkeit und proletarischen Solidarität entgegen, eine streitsüchtige, auf sich selbst zentrierte Nation wie Polen den Massen in Russland vorzuziehen und eine große Nation, die sich dem Vormarsch des Fortschritts anzuschließen bemüht war, als inakzeptabel hinzustellen. Proudhon hatte mit seinen Warnungen vor den Gefahren, die eine nationalistische Exklusivität im Allgemeinen und das italienische Risorgimento im Besonderen mit sich brachte, viele Radikale zur Verzweif lung gebracht. Der Proudhon’sche Vor wurf, die Internationale sei dabei, zu einem „Komitee der Nationalitäten im Anschluss an den Bonapartismus“ zu degenerieren, das sich eher mit der Emanzipierung von Nationalitäten als mit der Befreiung des internationalen Proletariats befasse, konnte Marx nur maßlos ärgern.75 Obwohl letztlich keine grundlegende Änderung in Marx’ und Engels’ Haltung zum Nationalismus in der Zeit nach 1848 eintrat, gibt es Anzeichen für ein größeres und genierteres Bewusstsein von der Komplexität des Problems und folglich für recht große Unsicherheit und mangelnde Festigkeit und Konsequenz bei dessen Behandlung. Die Hauptsorge bleibt die globale Revolutionsstrategie. Es ist dieses Kriterium, das die beiden Freunde dazu bringt, Polen und Irland als notwendige Nationen auszurufen, deren Pflicht es sei, nationalistisch zu sein, und die bei ihrem Kampf um nationale Befreiung jede Art von revolutionärer Unterstützung verdienten, obwohl die beiden weiterhin das 74 75
Vgl. Davis, Nationalism and Socialism, Kapitel 2, S. 39–51. Vgl. ebd., S. 45 ff.; Abramsky / Collins, Karl Marx and the British Labour Movement, S. 106 ff.
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Recht der von ihnen sogenannten Relikte von Nationen auf nationale Selbstbestimmung ver warfen.76 Irland war ein klassisches Beispiel für eine Mischung aus nationalem Befreiungskampf und einem sozialen Problem der schlimmsten Art. Marx maß der Ansicht übertriebenes Gewicht bei, die Ländereien bildeten im Besitz der abwesenden englischen Großgrundbesitzer die ökonomische Grundlage der britischen Tory - Aristokratie und es bedürfe zur gewaltsamen Unterdrückung der Iren einer stehenden Armee, die jeden Augenblick eingesetzt werden könnte, um soziale Unruhen und jegliche revolutionäre Tätigkeit in England zu unterdrücken. Die Befreiung Irlands war darauf berechnet, die herrschende Klasse in Großbritannien zu ruinieren und den britischen Kapitalismus in seinen Grundfesten zu erschüttern. Der Zusammenbruch des mächtigsten und am weitesten fortgeschrittenen kapitalistischen Bollwerks würde sicher eine unberechenbare Kettenreaktion auf der ganzen Welt auslösen.77 Seine vertraute Kenntnis der britischen sozial - ökonomischen Realität zwang Marx jedoch zu der wenig erbaulichen Einsicht, die irische Frage habe eine höchst unangenehme Auswirkung auf die Beziehungen zwischen englischen Arbeitern und ihren irischen Genossen in England. Der wachsende Hass zwischen den Arbeiterklassen der zwei widerstreitenden Nationen wirkte auf einen Mann, der in früheren Tagen geglaubt hatte, die Arbeiter hätten sich bereits von nationalistischen Vorurteilen befreit, natürlich besonders befremdend. Marx und Engels sahen den polnischen Nationalismus weiterhin mit Sympathie und boten als Teil ihres Kreuzzugs gegen Russlands konterrevolutionäre Rolle und dessen angeblich seit den Tagen Peters des Großen, des „Erben Dschingis Khans“, festgelegten Plan zur „Weltherrschaft“ weiterhin Unterstützung für die emanzipatorischen Bestrebungen der Polen an. Engels äußerte seine nagenden Zweifel aber nur im privaten Teil der persönlichen Korrespondenz.78 Polen war für das Anliegen der Revolution absolut unentbehrlich. Als der tragische Fehlschlag des Aufstands von 1863/64 den extremen Flügel des polnischen Sozialismus dazu brachte, die Politik der nationalen Befreiung zugunsten eines allgemeinen proletarischen Kampfes mit den russischen Revolutionären für den internationalen Sozialismus aufzugeben, beeilten sich Marx und Engels, die Gründe für ihre fortgesetzte Unterstützung für die nationale Befreiung Polens umzuformulieren. Ein neues und schlagkräftiges Argument wird von Marx und Engels ( mit größerer Ausführlichkeit ) den alten Argumenten über die Bedeutung von Polens geographischer, militärischer und politischer Lage auf dem Schachbrett 76 77 78
Vgl. Engels an Karl Kautsky, 7.2.1882, S. 271. Vgl. Marx an Sigfrid Meyer und August Vogt, 9.4.1870, S. 667 f. Vgl. Hoselitz / Blackstock ( Hg.), The Russian Menace to Europe, S. 29 ff.
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Europas sowie über die Rolle der Polen als den Rittern der Revolution in ganz Europa hinzugefügt. Das neue Argument lautet : Der Mangel an nationaler Unabhängigkeit stelle ein so starkes Reizthema und Hindernis dar, dass er eine Nation unfähig mache, ihre Aufmerksamkeit und Energie auf eine soziale Transformation zu richten. Es gebe nicht nur, wie Marx sagt, keinen Widerspruch zwischen dem Internationalismus und dem nationalen Anliegen Polens: „Nur nachdem Polen seine Unabhängigkeit wiedererobert hat, nachdem es als selbstständiges Volk wieder über sich selbst verfügen kann, nur dann kann seine innere Entwicklung wieder beginnen und kann es an der sozialen Umgestaltung Europas selbstständig mitwirken. Solange ein lebensfähiges Volk von einem auswärtigen Eroberer gefesselt ist, wendet es alle seine Kraft, alle seine Anstrengungen, alle seine Energie notwendig gegen den äußeren Feind; solange bleibt also sein inneres Leben paralysiert, solange bleibt es unfähig, für die soziale Emanzipation zu arbeiten.“79 Engels formulierte seine Ansichten zum selben Thema in einem wichtigen programmatischen Brief an Karl Kautsky vom 7. Februar 1882. Er erhebt hier Widerspruch gegen die antipatriotische polnisch - sozialistische Gruppe „Równość“,79w nachdem er in einem Brief an die in Genf abgehaltene Fünfzigjahrfeier des Aufstands vom 29. November 1830 seine Haltung publik gemacht hatte. „Nun ist es für ein großes Volk geschichtlich unmöglich, irgendwelche innere Fragen auch nur ernsthaft zu diskutieren, solange die nationale Unabhängigkeit fehlt. Vor 1859 war von Sozialismus in Italien keine Rede [...]. Ebenso in Deutschland [...] seit 1870 (‚Hätten wir den alten Bundestag noch, wo wäre unsre Partei !‘ ) [...]. Ebenso in Ungarn [...] seit 1860 [...]. Eine internationale Bewegung des Proletariats ist überhaupt nur möglich zwischen selbstständigen Nationen. [...] Internationales Zusammenwirken [ ist ] nur unter Gleichen möglich.“79x Solange Polen geteilt und unter worfen war, würde es dort keine starke sozialistische Bewegung geben, und sozialistische Parteien würden nur Beziehungen zu polnischen Emigranten unterhalten. „Jeder polnische Bauer und Arbeiter, der aus der Verdumpfung zur Teilnahme an allgemeinen Interessen aufwacht, stößt zuerst auf die Tatsache der nationalen Unterjochung, sie tritt ihm überall als erstes Hindernis in den Weg. Sie zu beseitigen ist die Grundbedingung jeder gesunden und freien Entwicklung. [...] Um kämpfen zu können, muss man erst einen Boden haben, Luft, Licht und Ellenbogenraum.“79y Die Bezugnahme auf die nationalistischen Gefühle der polnischen 79 79w 79x 79y
Marx / Engels, Für Polen, S. 574. A. d. Ü. : poln. „Gleichheit“. Engels an Karl Kautsky, 7.2.1882, S. 269 f. Ebd., S. 270.
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Bauern oder Arbeiter basierte auf einer falschen Lesart der stärksten Empfindungen jener Klassen zur damaligen Zeit – den bösen Erinnerungen an die szlachta- Unterdrückung.79z Das Bauerntum hatte noch kaum ein Nationalbewusstsein entwickelt. Engels fährt damit fort, die Regel festzusetzen, die dem widerspricht, was er 1848 den slawischen Nationen gepredigt hatte : Die Frage nach der Möglichkeit der Wiederherstellung Polens vor der Revolution sei irrelevant. „Keinesfalls haben wir den Beruf, die Polen von Anstrengungen abzuhalten, sich die Lebensbedingungen ihrer Fortentwicklung zu erkämpfen, oder ihnen einzureden, die nationale Unabhängigkeit sei vom internationalen Standpunkt eine sehr sekundäre Sache, wo sie Grundlage alles internationalen Zusammenwirkens ist. Im Übrigen war 1873 der Krieg zwischen Deutschland und Russland auf dem Punkt auszubrechen, die Herstellung irgendeines Polens, Kern des späteren wirklichen, also sehr möglich.“80 Indem er Kautskys Frage zuvorkommt, wie es denn komme, dass er, obschon er so stark mit den nationalen Anliegen der Polen sympathisiere, „verdammt wenig“ Sympathie für die „kleinen slawischen Völker und Volkstrümmer, die von den drei ins Slawentum eingetriebnen Keilen : dem deutschen, magyarischen und türkischen auseinandergesprengt sind [... Tschechen ] Serben, Bulgaren, Slowenen, galizische Ruthenen“ hege, wiederholt Engels seine Überzeugung, diese Völker seien zu Werkzeugen „unseres schlimmsten Feindes – Russland“80z geworden, das den „Weltherrschaftsschwindel“ einer „nichtexistierenden slawischen Nationalität“81 erfunden habe oder anwende. Engels wäre bereit gewesen, die Wünsche dieser „Völkerknirpse“81z nach dem Fall des Zarismus zu berücksichtigen, das heißt, erst wenn ihre Verbindungen mit dem russischen Plan zur Weltherrschaft zerrissen worden wären. Er war aber sicher, dass die Slawen Österreich - Ungarns nach sechs Monaten Unabhängigkeit darum betteln würden, dem Habsburgerreich wieder beitreten zu dürfen. Was kümmerte es Engels – lässt sich einwerfen –, danach zu fragen, ob der Nationalismus der Slawen echt und tief oder oberflächlich und imaginär war, wenn er die Auffassung vertrat, dass ein Ausländer kein Recht habe, den Polen zu sagen, sie sollten ihre Nationalität nicht vor die Revolution stellen. Engels konnte so sehr mit dem Wunsch der Polen nach nationaler Unabhängigkeit 79z A. d. Ü. : poln. „Adelsschicht“. 80 Engels an Karl Kautsky, 7.2.1882, S. 270. 80z A. d. Ü. : Im Original heißt es : „In Wirklichkeit ist aber der Panslawismus ein Weltherrschaftsschwindel unter Deckmantel einer nichtexistierenden slawischen Nationalität und unser und der Russen schlimmster Feind.“ Ebd., S. 271. 81 Ebd., S. 271 f. 81z Ebd., S. 272.
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sympathisieren, dass er ihren Wider willen und ihre Unfähigkeit, über irgendeine interne Reform nachzudenken, bevor sie die politische Freiheit erreicht hatten, rechtfertigte. Warum sollte er die Slawen dafür verurteilen, dass sie versuchten, eine internationale Situation auszunutzen, um Verbündete – selbst unangenehme – zu finden, wo sie konnten, die ihnen zur Unabhängigkeit verhelfen sollten, in der Hoffnung, sich schließlich wieder aus deren Klauen zu befreien ? Doch Engels blieb unerbittlich : Als Alliierte der Konterrevolution waren die Südslawen Feinde und wie 1848 zählten ihre subjektiven Gefühle und Rechte nichts und verdienten keine Sympathie. Bis zum Ende seines Lebens hielt Engels an dem Grundsatz der unauf löslichen Bindung zwischen den nationalen Bestrebungen der Südslawen und des russischen Zarismus unter der Maske des Panslawismus fest. „Zweitens will ich nicht untersuchen, wieso es kam, dass die kleinen slawischen Völker im Zar ihren einzigen Befreier sehen. Genug, sie tun es, wir können es nicht ändern, und es bleibt so, bis der Zarismus gebrochen; gibt’s Krieg, so gehen alle diese interessanten Natiönchen auf Seiten des Zarismus, des Feindes des ganzen bürgerlich - entwickelten Wesens. Solange dies der Fall, kann ich mich für ihre unmittelbare, sofortige Befeiung nicht interessieren, sie bleiben unsre direkten Feinde ebenso sehr wie ihr Bundesgenosse und Schutzherr, der Zar.“82 Doch tatsächlich geht Engels über diese Überlegungen hinaus. „Aber keinesfalls wird man diesen Völkchen das Recht zugestehen, wie sie es jetzt in Serbien, Bulgarien und Ostrumelien sich zuschreiben : den Ausbau des europäischen Eisenbahnnetzes bis Konstantinopel zu verhindern“,83 was im Wesentlichen Unterstützung für expansionistische deutsche Entwicklungspläne in Südosteuropa und Kleinasien bedeutete. Der Nationalismus der Polen musste befriedigt werden, weil er ein zu starkes Reizthema und deshalb fähig war, den Marsch der Revolution ernsthaft aufzuhalten. Der Nationalismus der kleinen, schwachen Nationen war nicht in der Lage, denselben Schaden anzurichten und ein ebenso starkes Ärgernis darzustellen. Er konnte und sollte deshalb ignoriert werden. Die nationalistischen Bestrebungen einer entwickelten Nation zu bekämpfen, war hingegen ein zu mühsames Unterfangen. Deren Bekämpfung würde eine zu große Abweichung von der Hauptaufgabe – der sozialistischen Aufgabe – erfordern. Die Unabhängigkeit von heruntergekommenen oder unentwickelten Nationalitäten zu erreichen, die angeblich bereits im Auf lösungsprozess begriffen waren, würde eine ebenso ernsthafte und noch weit weniger gerechtfertigte Ablenkung darstellen. Das den Überbleibseln sterbender Nationen gewährte Recht auf Selbstbestimmung schien Engels ein Freibrief dafür, existierende Großnationen zu zer82 83
Engels an Eduard Bernstein, 22.2.1882, S. 279. Engels an Karl Kautsky, 7.2.1882, S. 272 f.
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reißen und ihr eigenes Recht auf ungehinderte nationale Selbstbestimmung einzuschränken oder zu verletzen. Die ganze Idee sei eine russische Erfindung, um die Besetzung und Annexion der polnischen Territorien an Russland zu rechtfertigen, die von Litauern, Weißrussen und Ukrainern bewohnt wurden. Wie die Polen und jene Nationalitäten ihre Differenzen nach der Revolution beilegen würden, „geht uns vorläufig nichts an“,84 schloss Engels.
2. Prototyp zukünftiger Realitäten Dass den großen Nationen mehr Rechte zugeschrieben wurden, lässt den Verdacht aufkommen, dass Engels’ Wider wille oder Unfähigkeit, die Legitimität oder gar Realität des slawischen Nationalismus anzuerkennen – eine imaginäre Erfindung von Professoren und bürgerlichen Schriftgelehrten oder ein russischer Schwindel –, seine Entrüstung über die Versuche, die Arbeit von „tausend Jahren Geschichte“ rückgängig zu machen, seine ironischen Hinweise auf die „angeblich ‚unterdrückten‘“ slawischen Länder, die verächtliche Zurückweisung slawischer Ansprüche, in die Entwicklungspläne der Großnationen ( außerhalb ihrer eigenen Grenzen und auf slawischem Territorium ) einzugreifen – dass es sich bei alledem um Reflexhandlungen des Mitglieds einer Herrschernation handele, die sich wie eine Besitzerklasse verhält, vor Entrüstung über die Unverfrorenheit eines neu eingetroffenen Anspruchstellers, von dem noch niemand etwas gehört hat, bebend. Als Beweis für den bürgerlichen und imaginären Charakter des slawischen Nationalismus führt Engels am Ende des Briefes das „famose Zusammengehn der deutschen und tschechischen Arbeiter in Böhmen“85 an. Er konnte nicht wissen, was bald im Vielvölkerstaat Österreich - Ungarn geschehen würde : dass die Revolutionäre, die so unerschütterlich glaubten, sie hätten und verkörperten das letzte Wort in der geschichtlichen Entwicklung, sich uneinsichtig zeigen würden. Marx und Engels betrachteten den Prozess der deutschen Vereinigung mit gemischten Gefühlen. Das war etwas, was sie als unerlässlichen Schritt in Richtung Sozialismus gewünscht hatten. Doch dieser Prozess – um es noch einmal zu sagen – wurde von Männern und Klassen vorangetrieben, die sie hassten, und unter Anwendung von Methoden, die ihnen zuwider waren. Dennoch konnten sie sich mit dem Gedanken trösten, dass Bismarck unwissentlich ihre Arbeit tat, als hätten sie ihn dafür bezahlt. Obwohl das Zweite Reich nicht das Großdeutschland war, das sie vorgezogen hätten, und es nicht als Ergebnis des Aufstands der deutschen Volksmassen entstand, fühlten sie, dass Bismarck mit 84 85
Ebd., S. 273. Ebd.
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seiner bonapartistischen Missachtung von dynastischen Prinzipien und Legitimität selbst ein revolutionärer Geist war und eine Atmosphäre schuf, die sich für die Verbreitung der Revolution eignete. Überdies besiegelte der Sieg Deutschlands über Frankreich auch den Sieg der deutschen Sozialdemokratie über den französischen Proudhonismus und krönte dadurch die deutsche Bewegung zur Anführerin des Weltsozialismus.86 Doch der Deutsch - Französische Krieg wirkte sich nachteilig auf die sozialistisch - revolutionäre Ausrichtung aus. Die Art, wie Deutschland vereinigt wurde und wie es kurz vorher bei Italien der Fall gewesen war, kennzeichnete eine endgültige Trennung der nationalen Befreiungsbewegungen von der Revolution. Die Pariser Kommune war ein revolutionäres Aufflackern, das jakobinischen Patriotismus mit sozialem Radikalismus verband. Sie wurde von Marx, der ursprünglich den Gedanken an einen proletarischen Aufstand abgelehnt hatte, als Verheißung eines neuen Gesellschaftstyps, ja einer direkten Demokratie, begrüßt, ohne den autoritären, übergeordneten, zentralisierten Staat, der auf Armee, Polizei, Kirche, dauerhafter Bürokratie, Gewaltenteilung und der Herrschaft des Kapitals basierte. Für eine Weile schien es, als ob die europäische Bourgeoisie sich zu einer anderen Version der konterrevolutionären Heiligen Allianz zusammengeschlossen hätte, dieses Mal gegen das europäische proletarische Lager unter Führung der Internationale gerichtet. Nach einer Weile musste Marx leider eingestehen, dass die Pariser Kommune letztlich deshalb fiel, weil keine andere europäische Hauptstadt ihrem Beispiel folgte. Noch schlimmer : Während der spontane revolutionäre Drang sich als zu schwach erwies, vermehrten sich unheilvolle Anzeichen dafür, dass chauvinistische Leidenschaft und nationalistische Mythologie sich zu einem hocheffektiven Rivalen für den Mythos der Revolution entwickelten. Marx und Engels wurde mit äußerster Bestürzung klar, dass die Annexion von Elsass - Lothringen den Charakter des Krieges für die Deutschen verändert hatte : von einem Verteidigungskrieg, den Marx unterstützt hatte – obwohl er sich große Mühe gab, jeden Chauvinismus im Proletariat beider kämpfenden Nationen einzudämmen –, zu einem Angriffskrieg. Der Krieg hatte über die Kluft hinweg, die bürgerliche Republikaner vom Zarenregime trennte, nicht nur eine französisch - russische Allianz zur Gewissheit werden lassen. Er machte auch ein militaristisches Regime in Deutschland unumgänglich. Diese Entwicklungen würden gewiss jede Aussicht auf einen internationalen ideologischen Krieg zum Verschwinden bringen. Mit zwangsverpflichteten Armeen und Aufrüstungen, die astronomische Dimensionen annahmen, würde jeder künftige Krieg für jedes Land ein Krieg um 86
Vgl. Engels, Ergänzung der Vorbemerkung von 1870, S. 515–517; Marx / Engels, Brief an den Ausschuss der Sozialdemokratischen Partei, S. 270.
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seine nationale Existenz werden : ein „Racenkrieg“ für Deutschland und ein Krieg der „verbündeten Racen der Slawen und Romanen“.87 Das würde die Arbeiterklasse jedes Landes, besonders Deutschlands, in eine schwierige und verzweifelte Lage bringen. Sie müsste sich zwischen der Loyalität gegenüber ihrem Land auf der einen Seite, right or wrong, und der Treue zur internationalen proletarischen Solidarität und zur Weltrevolution auf der anderen Seite entscheiden. In seiner vernichtenden Kritik des Gothaer Programms für das vereinte sozialdemokratische Deutschland hatte Marx die Schwäche der internationalistischen Akzente im Programm und den Einfluss des Lassalle’schen Nationalismus darauf angeprangert. „Und worauf reduziert die deutsche Arbeiterpartei ihren Internationalismus ?“,88 fragt Marx. Auf das Bewusstsein, das Ergebnis ihrer Bemühungen werde „die internationale Völkerverbrüderung“ sein – ein Schlagwort, das der bürgerlichen Liga für Frieden und Freiheit entliehen war, die als Entsprechung der Verbrüderung der Arbeiterklasse in ihrem gemeinsamen Kampf gegen die herrschenden Klassen und deren Regierungen verstanden werden wollte. Demnach fiel hier kein Wort über die internationalen Funktionen der deutschen Arbeiterklasse ! Und mit diesem Schlagwort musste sie ihrer eigenen Bourgeoisie, die bereits mit den bürgerlichen Klassen aller anderen Länder vereint war, und der Intrigenpolitik Bismarcks gegenübertreten. Bismarcks Norddeutsche hatte jeden Grund zu verkünden, „die deutsche Arbeiterpartei habe in dem neuen Programm dem Internationalismus abgeschworen“ !89 Im selben Geist schrieb Engels zwei Monate zuvor an Bebel und beschwerte sich, dass nicht einmal ein Minimum an internationaler Solidarität – Hilfestellung bei Streiks und Verhinderung von Streikbruch durch importierte Streikbrecher, Information über Entwicklungen in den verschiedenen Parteien, vor allem Agitation gegen die Androhung oder den Ausbruch von Kriegen, die in geheimen Kabinettssitzungen ausgeheckt wurden – im deutschen sozialdemokratischen Parteiprogramm Erwähnung gefunden hatte. Der Niedergang des Internationalismus der Arbeiterklassen und das Ver wischen der Grenzen ideologischer Gruppierungen in der europäischen Diplomatie als Ergebnis der neuen Machtbalance erklären Marx’ und Engels’ eigene, schwankende Ansichten über Krieg und Revolution in ihrem letzten Lebensabschnitt. Unter dem Eindruck der Kommune schrieb Marx in Der Bürgerkrieg in Frankreich: „Der höchste heroische Aufschwung, dessen die alte Geschichte noch fähig ist, ist der Nationalkrieg, und dieser erweist sich jetzt als reiner Regierungsschwindel, der keinen andern Zweck mehr hat, als den Klassenkampf hinauszuschie87 88 89
Marx, Zweite Adresse des Generalrats, S. 276. Marx, Kritik des Gothaer Programms, S. 24. Ebd.
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ben, und der beiseite fliegt, sobald der Klassenkampf im Bürgerkrieg auf lodert. Die Klassenherrschaft ist nicht länger imstande, sich unter einer nationalen Uniform zu verstecken; die nationalen Regierungen sind eins gegenüber dem Proletariat !“90 1877 zeigt sich Marx in einem Brief an Sorge vom Wachstum der Revolutionsbewegung in Russland und den allgemeinen Auf lösungserscheinungen der russischen Gesellschaft tief beeindruckt.91 Diesmal begann die Revolution im Osten, der bis dahin die unver wundbare Bastion und Reser vearmee der Konterrevolution gewesen war. Marx glaubte, dass Bismarcks Gefühle ambivalent waren : Freude über die Niederlage des russischen Kolosses und Angst, dass er nicht etwa falle und Österreich und Deutschland im Angesicht der Revolution zurücklasse, ohne Russland als Schild. Doch diesmal ruft Marx die Polen nicht zum Aufstand auf, sondern ermahnt sie im Gegenteil eindringlich, ruhig zu bleiben : Sollten sie Bismarck zu einer Inter vention provozieren, würde es zu einem Ausbruch russischen Chauvinismus’ kommen. Die Polen müssten auf die Revolution warten, um in den zwei Hauptstädten Russlands zu siegen. Wenn das passiere und Bismarck als Retter eingreife, würden die Preußen in Polen ihr Mexiko finden. Marx und Engels scheinen immer mehr von der alten Lehre vom Krieg als Instrument der Revolution abzukommen. Die Vision des internationalen Krieges als Hebamme der Revolution fasziniert Marx zur Zeit des Krimkrieges immer noch. 1853 macht er sich über Clarendon, Palmerston, Aberdeen und alle europäischen Außenminister lustig, die mit „Schaudern“ vor dem Gespenst eines Weltkrieges zurückschrecken. „Wer aber“, schreibt Engels in einem seiner gewundenen Absätze, „beim Studium der Geschichte den ewigen Wechsel der menschlichen Geschicke bewundern gelernt hat, in dem nichts ständig ist als die Unbeständigkeit, nichts unveränderlich als der Wechsel; wer den ehernen Gang der Geschichte verfolgt hat, deren Räder mitleidlos über die Trümmer großer Reiche dahinrollen, ganze Generationen erbarmungslos zermalmend; wer mit einem Wort die Augen dafür offen hat, dass kein demagogischer Aufruf und keine aufrührerische Proklamation so revolutionierend wirken kann als die einfachen nackten Tatsachen der Menschheitsgeschichte; wer den ungeheuren revolutionierenden Charakter unserer Epoche zu erfassen vermag, wo Dampf und Wind, Elektrizität und Druckerpresse, Artillerie und Goldfunde miteinander im Bunde in einem Jahr mehr Veränderungen und Revolutionen zuwege bringen als früher ein ganzes Jahrhundert erzeugte, der wird sicher nicht davor zurückschrecken, sich diese historische Frage zu stellen, weil ihre wirkliche Lösung einen europäischen Krieg im 90 91
Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, S. 361. Vgl. Marx an Friedrich Adolph Sorge, 27. 9. 1877, S. 296 f.
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Gefolge haben könnte. Nein, Diplomatie und Regierung im altherkömmlichen Sinne werden diese Schwierigkeit niemals lösen. Die Lösung des türkischen Problems bleibt – wie die Lösung so vieler anderer Probleme – der europäischen Revolution vorbehalten. Und es ist keine Vermessenheit, wenn man diese auf den ersten Blick abwegige Frage in den Bereich dieser großen Bewegung einbezieht. Seit 1789 sind die Meilensteine der Revolution immer weiter vorgerückt. Ihre letzten hießen Warschau, Debreczin, Bukarest; die Vorposten der nächsten Revolution müssen Petersburg und Konstantinopel sein. Das sind die zwei ver wundbarsten Stellen, an denen der russische antirevolutionäre Koloss angegriffen werden muss.“92 Der Italienische Krieg von 1859 rückte Überlegungen zur deutschen Vereinigung und revolutionären Strategie in den Vordergrund. Lassalle unterstützte die französisch - piemontesische Allianz in der Hoffnung, dass ein Krieg auf Grund des Nationalitätenprinzips den demokratischen Radikalismus in Frankreich wiederbeleben und eine österreichische Niederlage Deutschland revolutionieren würde.93 Marx und Engels konnten sich nie dazu über winden, ein gutes Wort über den bonapartistischen Usurpator und Freiheitsmörder zu verlieren.94 Österreich war in ihren Augen nun eine deutsche Bastion gegen Russland, das Slawentum und Frankreich. Napoleon III. war bereit, den Rhein als Frankreichs natürliche Grenze an sich zu reißen, und Russland wartete nur darauf, sich auf Preußen zu stürzen. Bevor das geschah, so hoffte Marx, würde der Krieg einen revolutionären Flächenbrand quer durch Europa verursachen, und im Gegensatz zu 1848 könnte Deutschland die Basis werden, von der aus die revolutionären Kräfte mit Preußen als Speerspitze ihren Angriff auf Russland starten würden. Im Gegensatz zu Bebel und Liebknecht, die sich weigerten, im Preußischen Landtag für Kriegskredite zu stimmen, unterstützte Marx 1870 Preußen – wegen seiner Hoffnungen auf eine deutsche Vereinigung, doch auch aus Angst, dass ein französischer Sieg den Bonapartismus für lange Zeit konsolidieren, eine Welle nationalistischer Leidenschaft in Deutschland auslösen, die deutsche Arbeiterbewegung zurückschlagen und die Franzosen an die Spitze der europäischen Arbeiterbewegung setzen würde. Wie erwähnt, wurde der Schrecken der Kriegsführung („zehn bis fünfzehn Millionen Kämpfer [ werden ] einander in Waffen gegenüberstehen“94y) für die beiden alternden Propheten durch die Furcht über das Verhalten der Arbeiterklassen in den kriegführenden Ländern verstärkt. In seinem Brief an Bebel 92 93 94 94y
Engels, Was soll aus der europäischen Türkei werden ?, S. 33. Vgl. Lassalle, Der italienische Krieg; Oncken, Lassalle, S. 154–168. Vgl. Rubel, Karl Marx devant le bonapartisme. Engels, Die auswärtige Politik des russischen Zarentums, S. 45.
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vom 22. Dezember 1882 schreibt Engels, er hielte einen europäischen Krieg für ein Unglück : „Diesmal würde er furchtbar ernst werden, überall den Chauvinismus entflammen auf Jahre hinaus, da jedes Volk um die Existenz kämpfen würde.“94z Die gegenwärtigen Errungenschaften der russischen Revolutionsbewegung würden verschwendet und Frankreich und Deutschland von einer Flut des Chauvinismus überrollt. Das einzig Gute, das daraus entstehen könnte, wäre ein kleines Polen. Doch solch ein Polen würde in jedem Fall aus einer russischen Revolution entstehen, ohne Krieg. Eine russische Verfassung, die aus einer Kriegsniederlage entstünde, wäre weit weniger radikal als eine, die durch eine Revolution erreicht würde. Doch Engels führt sogleich weiter aus, dass solch ein Krieg die Revolution um rund zehn Jahre aufschieben würde. Doch in charakteristischer Weise fügt er hinzu : „Nachher würde sie freilich umso gründlicher.“95 Russland war für Marx und Engels weiterhin die tragende Säule des internationalen Systems, das ihnen vorschwebte. Als Folge ihrer Verbindungen zu emigrierten russischen Revolutionären konnte keiner von beiden jemals seine konspirative Ansicht vom zaristischen Russland abschütteln, selbst als sie begannen, über die Möglichkeiten für einen revolutionären Aufstand in Russland zu spekulieren. Ihre paranoide Russophobie erreichte in den 1850er Jahren unter dem Einfluss des Monomanen Urquhart einen Höhepunkt, der Marx dazu brachte, Palmerston zum russischen Agenten zu erklären. Es wird unmöglich zu unterscheiden, ob sie von Russland als der unersetzlichen Verkörperung der orientalisch - mongolischen Barbarei oder von Russland als Speerspitze der Konterrevolution sprechen. Bezeichnender weise begann Engels seine Analyse der internationalen Lage im berühmten Aufsatz Die auswärtige Politik des russischen Zarentums, den er 1890 schrieb, damit, seinen Lesern zu versichern, er spreche in dieser Sache auch für seinen verstorbenen Freund. „Wenn ich in demselben Sinn auftrete, bin ich auch hier nur der Fortsetzer meines verstorbenen Freundes, hole nach, was ihm zu tun nicht vergönnt war.“96 Nach 1871, argumentierte Engels, war Russland wieder zum Zünglein an der Waage in Europa geworden. Die ausländischen Abenteurer, die die Politik des Landes lenkten, die Unver wundbarkeit Russlands gegen eine Invasion ausnutzten und seine Unfähigkeit, erfolgreiche Angriffskriege zu führen, mit skrupellosen Intrigen, Erpressung und Gerissenheit kompensierten, waren Deutschlands und Österreichs Garantie gegen eine Revolution. Sie waren in der Lage, Frankreich davon abzuhalten, in einem künftigen Krieg seine mäch94z Engels an August Bebel, 22.12.1882, S. 416. 95 Ebd. 96 Engels, Die auswärtige Politik des russischen Zarentums, S. 13.
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tigste Waffe einzusetzen – seine internationale revolutionäre Anziehungskraft und den jakobinischen Patriotismus. Dies erlaubte Russland, seinen Einfluss auf die Balkanvölker auszubreiten, Zwietracht und Streit zu säen, während es gleichzeitig als ihr Befreier vom türkischen Joch auftrat und systematisch die Eroberung Konstantinopels vorbereitete. Nur die Eliminierung Russlands würde das revolutionäre sozialistische Potential Frankreichs und Deutschlands freisetzen, den Zusammenbruch Österreichs herbeiführen und seinen Völkern erlauben, ihre territorialen Streitigkeiten aus der Welt zu schaffen und ein föderatives Bündnis miteinander einzugehen. Konnte die Beseitigung Russlands durch einen Krieg herbeigeführt werden ? Engels befürchtete, dass die reaktionären Regierungen es vorziehen würden, sich vor der Revolution zu retten, indem sie Konstantinopel, die Dardanellen und den Balkan Russland überließen. Sie könnten sogar Armeen schicken, um den Thron des Zaren zu retten und ihn wieder darauf zu setzen, falls er durch eine Revolution entthront würde. Nur eine Revolution in Russland könnte Europa vor einem unglückseligen Schicksal retten, einen Krieg verhindern, die Nationen befreien und die revolutionären Kräfte überall entfesseln : „Schließlich wird die edle Nation der Großrussen nicht mehr sinnlosen Eroberungen zugunsten des Zarismus nachjagen, sondern ihre wahre zivilisatorische Bestimmung in Asien erfüllen und in Verbindung mit dem Westen ihre bedeutenden geistigen Fähigkeiten entwickeln.“97 Engels brachte die Hoffnung zum Ausdruck, dass Europa ein Krieg erspart bleiben möge, in dem die Arbeiterklassen auf keiner Seite stehen konnten. Deshalb würde eine „Revolution in Russland im gegenwärtigen Augenblick [...] Europa vor dem Unglück eines allgemeinen Krieges bewahren und wäre der Anfang der Revolution in der ganzen Welt“.97z Doch nur einige Zeilen weiter oben sagte Engels, getreu seiner unerschütterlichen Überzeugung vom letztendlichen Sieg des Sozialismus, dass der Krieg, so entsetzlich er sich auch immer erweisen werde, „schließlich alles zugunsten der sozialistischen Bewegung [ be ]enden und die Machtübernahme durch die Arbeiterklasse beschleunigt würde“.98 Zwei Jahre später beschließt Engels seinen Artikel über die Außenpolitik des Zarismus mit der Bitte : „Europa gleitet wie auf einer schiefen Ebene mit wachsender Geschwindigkeit abwärts, dem Abgrund eines Weltkriegs von bisher unerhörter Ausdehnung und Heftigkeit entgegen. Nur eins kann hier Halt gebieten : ein Systemwechsel in Russland. Dass er binnen wenig Jahren kom-
97 Engels an Ion Nădejde, 4.1.1888, S. 5. 97z Ebd., S. 6. 98 Ebd.
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men muss, daran kann kein Zweifel sein. Möge er noch rechtzeitig kommen, ehe das sonst Unvermeidliche geschieht.“99 Obgleich er klar erkennt, dass der Mythos der Nation zum mächtigsten Rivalen und zur Gefahr für den Mythos der sozialistischen Revolution geworden ist, kommt Engels nicht zu einer leninistischen Schlussfolgerung : der Notwendigkeit, den Krieg unter Nationen zu einem Bürgerkrieg zu machen, zu einer allgemeinen proletarischen Erhebung. Eher ist er verzweifelt besorgt über die Art, in der die SPD der Möglichkeit eines russischen Angriffs, der die Existenz Deutschlands überhaupt – und damit die Führungsrolle der Deutschen Sozialdemokratischen Partei in Europa – bedrohen würde, begegnen sollte. Engels zieht den Schluss : Die SPD wird mit dem Rest der Nation „bis auf den letzten Mann“ gegen jeden Angreifer kämpfen müssen.100 Er fügt etwas unpassend hinzu, dass ein Krieg den Kapitalismus so sehr schwächen würde, dass der Sozialismus bald darauf seine Nachfolge anträte. Doch er scheint diese Aussicht nicht zu begrüßen. Als die französischen Sozialisten gegen diese Ansichten protestierten, erwiderte Engels, wenn der deutsche Kaiser in Frankreich einfallen sollte, wäre es die Pflicht der französischen Arbeiter, für ihr Land zu kämpfen.101 Als er ( im Oktober ) 1891 Bebel schrieb, ging Engels so weit, die SPD eindringlich zu mahnen, im Reichstag für Kriegskredite zu stimmen, falls ein Krieg ausbrechen sollte, wie es die Reichsregierung für 1892 erwartete. „Wird Deutschland von Ost und West angegriffen, so ist jedes Mittel der Verteidigung gut.“101y „Sind wir überzeugt, dass es im Frühjahr losgeht, so können wir schwerlich diesen Geldforderungen im Prinzip entgegen sein. Und das wäre für uns eine ziemlich fatale Lage. [...] Andererseits kann ja der Krieg doch im Frühjahr kommen. [...] Dagegen aber [...] alle Forderungen zum Zweck der Annäherung der heutigen Armee an die allgemeine Volksbewaffnung, zur ausschließlichen Stärkung der Defensive, [...], dazu können wir Gelder bewilligen.“101z „In der Perspektive eines bevorstehenden Krieges können wir unsere Armeepolitik ( Miliz, Demokratisierung der Armee, neue Aufrüstungen usw. – diese Armeereform kostet zu viel Zeit ) jetzt nicht kundtun, sondern müssen versuchen aufzuschieben und nur für jene Forderungen stimmen, die den Charakter der Armee im Sinne einer Volksarmee ändern.“102
99 100 101 101y 101z 102
Engels, Die auswärtige Politik des russischen Zarentums, S. 48. Engels, Der Sozialismus in Deutschland, S. 255. Vgl. Davis, Nationalism and Socialism, S. 49. Engels an August Bebel, 13.10.1891, S. 176. Ebd., S. 175. Engels an August Bebel, 13.10.1891, S. 174 ff. A. d. Ü. : Zitat nicht nachweisbar.
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Mehr als das : Im Falle eines Krieges mit Russland, sagt Engels, wird es nur die SPD sein, die Krieg führt, denn „es kann kommen, dass gegenüber der Feigheit der Bourgeois und Junker, die ihr Eigentum retten wollen, wir die einzige wirkliche energische Kriegspartei sind“.103
103
Ebd., S. 176.
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VII. Schluss fol ge run gen Marx und Engels bekamen das Phänomen der Nationenbildung in der Tat nie in den Griff. Es ist kein Zufall, dass sie sich zu keinem Zeitpunkt die Mühe machten zu ergründen, wie Nationen überhaupt entstehen, sei es unter anthropologischen und sozial - ökonomischen, sei es unter kulturellen und politischen Gesichtspunkten. Höchstens nahmen sie sie als gegebene Begleiterscheinung hin. Da sie als materialistische Monisten große Schwierigkeiten hatten, die Nation als etwas Gegebenes, das seinen eigenen Gesetzen folgte, und als ewiges Phänomen wahrzunehmen, konnten sie sie nur in Relation zum Staat berücksichtigen, mit anderen Worten : dem historisch entwickelten – jedoch nie näher erläuterten – Nationalstaat, wie er ihnen gegenüberstand oder dabei war zu entstehen, weil er für die aufkommende bürgerliche Gesellschaft zu einer Notwendigkeit geworden war. Das Recht ethnischer Gruppen, sich zu Nationalstaaten zu entwickeln, sahen sie nie als natürliches Selbstbestimmungsrecht an, sondern nur als Funktion der politischen Strategie der Weltrevolution – zur Schwächung und Zerstörung reaktionärer Kräfte – oder, anders gesagt, als Begleiterscheinung des Vormarschs des universellen Fortschritts – im Zuge der Herstellung eines großen Marktes und einer bürgerlichen Demokratie als Sprungbretter für eine sozialistische Transformation. Daher die Unterstützung für große und strategisch günstig gelegene Nationen und die Ablehnung des Rechts auf Selbstbestimmung für rückständige und provinzielle Völker; daher auch der Wunsch, diese Speichen im Weltrad, echte oder potentielle Vendées, verschwinden und in die großen, entwickelten Nationalstaaten eintauchen zu sehen. Soweit nationale Selbstbestimmung nicht als bedingungsloses Recht verliehen und dafür dem unaufhaltsamen Marsch zu einer Weltökonomie als Vorbedingung der Vereinigung eines revolutionierten Planeten höchste Priorität eingeräumt wurde, ging das Herrschaftsszepter an die großen, energischen, unternehmungslustigen Nationen. Natürlich nicht aus dem Wunsch heraus, ihren Ruhm zu mehren, sondern als Anerkennung ihrer Rolle bei der Förderung des Endziels der Geschichte : der Ver wirklichung der Gleichheit aller Nationen in einer klassenlosen Weltgemeinschaft. Wenn das bedeutete, Überbleibseln von Nationen – oder embryonalen Nationen – in Europa das Recht auf freie Eigenstaatlichkeit abzusprechen, brachte dies, was die größere Welt betraf, die völlige Zurückweisung der historischen Besonderheit und der Traditionen der anscheinend stagnierenden, geschichtslosen Zivilisationen außerhalb Europas mit sich – der großen Mehrheit der Menschheit, die praktisch den erobernden imperialistischen Mächten unterstellt und dann dem Prozess
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Schlussfolgerungen
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der Ver westlichung unter worfen wurde. Das universelle Ziel der universellen Befreiung des Menschen hatte per se Vorrang vor den irrationalen Gefühlen und Sentimentalitäten der einzelnen Bestandteile. Das wieder um bedeutete nicht, dass die nationalen Ziele der Großnationen zu Zielen um ihrer selbst willen wurden. Es handelte sich schlicht um die Tatsache, dass sie in einer Welt der ungleichen Entwicklung vorangeprescht und zu wirksamen Instrumenten der Geschichte geworden waren. Damit – der Gedanke der totalitären Demokratie erstreckte sich von der einzelnen Gesellschaft bis zur Gemeinschaft der Rassen und Nationen – führten sie die tiefen und wahren Wünsche aller Mitglieder des Menschengeschlechts aus. Falls sie das auf eine unsentimentale Art taten, war es eben unvermeidlich. Es musste von den am besten dafür Ausgerüsteten getan werden. In einem Brief an Eduard Bernstein vom 9. August 1882 schrieb Engels : „Es scheint mir, dass Sie in der ägyptischen Sache die sog. Nationalpartei zu sehr in Schutz nehmen. Von Arabi wissen wir nicht viel, aber es ist 10 zu 1 zu wetten, dass er ein ordinärer Pascha ist, der den Financiers die Steuereinnahmen nicht gönnte, weil er sie selbst auf gut orientalisch in den Sack stecken will. Es ist wieder die ewige Geschichte der Bauernländer. Von Irland bis Russland, von Kleinasien bis Ägypten ist der Bauer eines Bauernlands dazu da, exploitiert zu werden. So war es seit dem Assyrischen und Persischen Reich. Der Satrap alias Pascha ist die orientalische Hauptform des Ausbeuters, der Kaufmann und Jurist die moderne westliche. Repudiation der Khedivschulden ist schon ganz gut, aber die Frage ist, was dann ? Und wir westeuropäischen Sozialisten sollten uns da nicht so einfach fangen lassen wie die ägyptischen Fellahs und wie – alle Romanen. Sonderbar. Alle romanischen Revolutionäre jammern darüber, dass sie stets Revolutionen zum Besten andrer Leute gemacht – sehr einfach, weil sie stets auf die Phrase ‚Revolution‘ hereingefallen sind. Und doch kann kaum irgendwo ein Krawall losgehn, so schwärmt das ganze revolutionäre Romanentum dafür – ohne alle Kritik. Meiner Ansicht nach können wir sehr gut für die unterdrückten Fellahs auftreten, ohne deren momentane Illusionen ( denn ein Bauernvolk muss jahrhundertelang geprellt werden, eh es durch Erfahrung klug wird ) zu teilen, und gegen die Brutalitäten der Engländer, ohne grade deshalb für deren momentane militärische Gegner solidarisch einzutreten. In allen Fragen internationaler Politik sind die gefühlspolitischen französischen und italienischen Parteiblätter mit höchstem Misstrauen zu gebrauchen, wir Deutschen aber sind verpflichtet, die theoretische Überlegenheit, die wir einmal haben, auf diesem Gebiet durch Kritik zu bewähren.“104 Und jene, die den ungetrübtesten Blick auf die Gesetze der Geschichte besitzen, sind natürlich aufgerufen, den Weg zu weisen und die anderen anzu104
Engels an Eduard Bernstein, 9.8.1882, S. 349 f.
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führen. Als man begann, die chiliastische Erwartung eines unmittelbar bevorstehenden proletarischen Aufstands auf der Höhe der vorbestimmten strukturellen Krise der bürgerlichen kapitalistischen Gesellschaft – und des internationalen revolutionären Durchbruchs in der Art einer Kettenreaktion – durch Spekulationen über einen internationalen Krieg als Hebamme der Revolution zu ersetzen, stellten sich Marx und Engels fast zwanghaft weiterhin den Aufstand vor, als ob er im Kielwasser einer bewaffneten Konfrontation zwischen dem zaristischen Russland und dem übrigen Europa kommen würde. Manchmal lag der Akzent auf einem ideologischen Zusammenstoß zwischen den Kräften des fortschrittlichen Wandels und den Bastionen der despotischen Reaktion; bei anderen Gelegenheiten wurde der Konflikt im Sinne eines Kampfes der europäischen Länder gegen eine Macht in Betracht gezogen, die unbelehrbar die Weltherrschaft anstrebte. Als dieses Schema durch Machtgruppierungen, die es unwahrscheinlich werden ließen, und durch die Verbreitung eines Nationalitätsgefühls unter den Arbeiterklassen – vor allem in Deutschland – immer komplizierter wurde, wuchs bei Marx und Engels die große Sorge einerseits über die Position Deutschlands als des Landes mit der am weitesten fortgeschrittenen Kultur und sozialdemokratischen Bewegung, sowie andererseits über die schwierige Lage, in welche die Arbeiterparteien im Falle eines Krieges durch die Dichotomie „my country, right or wrong“ gegenüber dem Prinzip der internationalen proletarischen Einheit und Solidarität geraten würden. Die einzige Hoffnung, dieser Zwangslage zu entgehen, boten ihnen die Aussichten einer Revolution in Russland selbst. Sie fassten jedoch niemals die russische Revolution als Ausgangspunkt ins Auge, von dem aus den westlichen Ländern als Vorbild dienende Revolutionen außerhalb seiner Grenzen ausgelöst würden. Das zaghafte Zugeständnis, die alte Bauernkommune könnte zum Kern einer sozialistischen Transformation Russlands werden, wenn dort erst der revolutionäre Aufstand begonnen hätte, hing eindeutig von dem Ausbruch und der Ausbreitung der Revolution im Westen sowie von der Hilfe und dem Beispiel ab, das die weiter fortgeschrittenen Arbeiterklassen – und dies bedeutete wieder einmal Deutschland – den Russen geben würden.
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Zwei ter Teil Die Eman zi pa ti on des Pro le ta ri ats und das Schick sal der Nati on – das Wil hel mi ni sche Deutsch land
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Der Historiker, der sich mit der Konfrontation zwischen Links und Rechts, zwischen internationalem Revolutionsstreben und dem nationalen Gefühl in der sozialdemokratischen Bewegung an der Schwelle zum 20. Jahrhundert befasst, könnte seine Suche nicht besser beginnen als mit der Begegnung zwischen Rosa Luxemburg und Eduard Bernstein.1 Es war der Aufstieg der Neuen Linken, der das öffentliche Interesse an Rosa Luxemburg wachrief und eine Reihe von Publikationen, darunter einige akademische Werke, vieles davon Propaganda, mit sich brachte. Davor war sie eine peinliche Angelegenheit für alle Parteien, mit Ausnahme einiger nonkonformistischer Mar xisten, die mit ihr befreundet gewesen waren und denen ihr tragisches Ende naheging.1a Es war unmöglich, ihr am Tage nach ihrer Ermordung die Aura des revolutionären Märtyrertums zu ver weigern, besonders nachdem Lenin sie als einen „Adler“ der Revolution gepriesen hatte.2 Unter Stalin jedoch durften orthodoxe Kommunisten zwei Dinge nicht vergessen : die scharfe Kritik an der leninistischen Auffassung einer Revolutionspartei als einer vollkommen zentralisierten und elitären Avantgarde, die sie bereits 1903 geäußert hatte, und ihre dringenden Warnungen von 1918, die bolschewistische Diktatur liefe Gefahr, zu einer Gewaltherrschaft der Wenigen über die Vielen zu degenerieren.3 Die Sozialdemokraten im Westen erinnerten sich nur zu gut an Rosa Luxemburgs unerbittliche Ver urteilung der Zweiten Internationale wegen ihrer verräterischen Abwendung vom Anliegen des proletarischen Internationalismus im Ersten Weltkrieg. Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands schwankte zwischen zorniger Verurteilung der Rolle, die Rosa Luxemburg in der schicksalhaften Spaltung der deutschen Arbeiterbewegung gespielt hatte, und einem wachsenden Schuldgefühl, weil man vor ihrer Ermordung durch rechtsextremistische Freikorps - Soldaten im Januar 1919 die Augen verschlossen hatte. In ihrem Geburtsland Polen und den in seiner Nachbarschaft neu begründeten Staaten war Rosa Luxemburgs Name zwischen den Weltkriegen wegen ihres unnachgiebigen Kampfes gegen den Nationalismus und ihrer entschie1
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Die vollständigste Sammlung der Werke Rosa Luxemburgs ist : Luxemburg, Gesammelte Werke ( hg. vom Institut für Mar xismus-Leninismus beim ZK der SED, decken den Zeitraum bis 1914 ab ); eine zusätzliche Auswahl anderer Schriften : Luxemburg, Politische Schriften ( hg. von K. Flechtheim ); dies., Gesammelte Werke ( hg. von C. Zetkin und A. Warski ); dies., Selected Political Writings ( hg. von D. Howard ); dies., Selected Political Writings (hg. von R. Looker). Es gibt keine Gesamtausgabe der Werke von Eduard Bernstein. Wir beziehen uns, wo immer angebracht, auf seine Einzelwerke. Vgl. Radek, Rosa Luxemburg; Roland Holst-van der Schalk, Rosa Luxemburg; Frölich, Rosa Luxemburg. Vgl. Lenin, Notizen eines Publizisten, S. 195. Vgl. Stalin, Über einige Fragen der Geschichte des Bolschewismus, S. 79–81.
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denen Ver weigerung des Rechts auf nationale Selbstbestimmung fast tabu. Für Nazis und Faschisten war sie eine höchst willkommene Ergänzung ihrer Schurkengalerie aus jüdisch - mar xistischen Vergiftern der nordischen Lebensform. Jüdische Juden, im Unterschied zu nicht - jüdischen Juden – um das Vokabular des verstorbenen Isaac Deutscher zu gebrauchen –, mieden dieses Mitglied ihres Volkes, das sich vollkommen und sogar auf verächtliche Weise von allem Jüdischen distanziert hatte und dessen Erinnerung Wasser auf die Mühlen der antisemitischen Propaganda war. Dennoch waren die Sozialisten unter ihnen nicht ganz frei von einem sehnsüchtigen Stolz und von jener althergebrachten, stillen Ehrfurcht gegenüber jedem wahren Gläubigen, der um der Sache willen in den Tod ging. Rosa Luxemburgs Standarte wurde Anfang Mai 1968 symbolisch gehisst, als die rebellischen Studenten der Universität Nanterre eine der Universitätsaulen nach ihr umbenannten.4 Der Umschwung vom Schauspiel eines revolutionären Credos zur Per version einer bedrückenden Bürokratie, die die Neue Linke ins Dasein brachte, belebte auch die Legende von Rosa Luxemburg als Theoretikerin der revolutionären Spontaneität und Prophetin einer universellen Revolution aufs Neue.
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Vgl. Badia, La place de Rosa Luxemburg, S. 107.
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I. Zwei Gesin nun gen – Rosa Luxem burg und Eduard Bern stein Was war es, das Rosa Luxemburg bewegte, was war das Geheimnis ihrer außergewöhnlichen Intensität, ihres Engagements und ihrer unermüdlichen Ausdauer, die sie zu einem einzigartigen Fall und doch zur Vertreterin einer breiteren Strömung machte ? Wie mir scheint, ist der Schlüssel in einem kurzen Absatz ihrer frühen Schrift Sozialreform oder Revolution ? zu finden, die sie um die Jahrhundertwende gegen Eduard Bernsteins revisionistische Häresie schrieb. „Das Geheimnis der Marx’schen Wertlehre, seiner Geldanalyse, seiner Kapitaltheorie, seiner Lehre von der Profitrate und somit des ganzen ökonomischen Systems ist – die Vergänglichkeit der kapitalistischen Wirtschaft, ihr Zusammenbruch, also – dies nur die andere Seite – das sozialistische Endziel. Gerade und nur weil Marx von vornherein als Sozialist, d. h. unter dem geschichtlichen Gesichtspunkte die kapitalistische Wirtschaft ins Auge faßte, konnte er ihre Hieroglyphe entziffern, und weil er den sozialistischen Standpunkt zum Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Analyse der bürgerlichen Gesellschaft machte, konnte er umgekehrt den Sozialismus wissenschaftlich begründen.“5 Das kommt der Behauptung sehr nahe, es sei Marx’ Weigerung oder Unvermögen gewesen zu erfassen, dass Ungerechtigkeit und Irrationalität – Kapitalismus – endlos weitergehen könnten, mit anderen Worten: sein zwanghaftes Bedürfnis nach einem rationalen und gerechten Ausgang des Dramas der Geschichte, das ihn dazu brachte, Beweise dafür zu sammeln, dass es gewiss dazu kommen werde. Das mit unablässigem Eifer und Strenge verfolgte Postulat erlangte genügend Kraft, um die Teile des Puzzles in notwendige Teile eines überzeugenden, eisengepanzerten Ganzen zu ver wandeln, in die Vision eines historischen Prozesses, der sich in vorbestimmter Weise auf ein Endziel hinbewegte. Die Debatte zwischen Rosa Luxemburg und Bernstein ist einer dieser seltenen Fälle, in denen die Antagonisten nicht aneinander vorbeireden, sondern tatsächlich auf dieselben Fragen eingehen, von etwa denselben Daten Gebrauch machen und doch unerbittlich zu entgegengesetzten Schlussfolge-
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Luxemburg, Sozialreform oder Revolution ?, S. 415 f.
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rungen gelangen. Die beiden vertreten zwei verschiedene Welten, zwei sich gegenseitig ausschließende Gesinnungen.6 Rosa Luxemburg ist vom Endziel hypnotisiert; Bernstein hält es für eine Art Wahnsinn, sich ausschließlich auf das Letzte zu konzentrieren. Ihm zufolge war das Marx’ Verderben. Dieser große Denker litt an einer Dualität, die er nicht in Einklang bringen oder über winden konnte. Er war ein ökonomischer Analytiker und Historiker von unübertroffenem Genie. Doch sein Entschluss und die großartige Fähigkeit, historische und soziale Realitäten offenzulegen, wurden beeinträchtigt von seinem prophetischen, messianischen Drang zu beweisen, dass die Heil versprechende Lösung ein unvermeidliches Ergebnis des historischen Prozesses, der ehernen Gesetze der Geschichte, sei. Der Gelehrte in Marx wurde sich dessen bewusst, dass es nicht in seiner Macht stand, diesen Beweis zu liefern, und nach Bernstein war dies der Grund, weshalb er den dritten Band von Das Kapital nie beendete. Umgangssprachlich ausgedrückt: Er schaffte es einfach nicht, und das nicht etwa aus Gesundheits- oder Altersgründen.7 Wenn die Dialektik für Rosa Luxemburg der Schlüssel zu aller Geschichte und zum Verständnis der Realität war, so betrachtete Bernstein sie als Falle : „Das Verräterische in der Marx’schen Doktrin, der Fallstrick, der aller folgerichtigen Betrachtung der Dinge im Wege liegt“.8 Um seinen anderen, viel zitierten Ausspruch zu erwähnen, war ihm das unvermeidliche Endziel des Sozialismus nichts, die Bewegung alles. Darauf antwortete Rosa Luxemburg : „Die Eroberung der politischen Macht bleibt das Endziel, und das Endziel bleibt die Seele des Kampfes. [...] Die Bewegung als solche ohne Beziehung auf das Endziel, die Bewegung als Selbstzweck ist mir nichts, das Endziel ist uns alles.“9 Wie erwähnt sind die Implikationen des Kontrasts zwischen diesen beiden Denkansätzen enorm. Es geht nicht nur um die Frage, ob die sozialistische Revolution das unvermeidliche Ergebnis der historischen Dialektik oder nur ein moralisches Postulat, ein ethischer Imperativ war. Die fundamentale Divergenz erstreckt sich auf das Reich der Epistemologie und Ethik, außerdem – 6
7 8 9
Die Hauptstudien zu Rosa Luxemburg sind : Badia, Rosa Luxemburg; Basso, Rosa Luxemburg; Frölich, Rosa Luxemburg; Nettl, Rosa Luxemburg; Oelssner, Rosa Luxemburg; Laschitza / Radczun, Rosa Luxemburg; Geras, The Legacy of Rosa Luxemburg. Hauptstudien zu Eduard Bernstein und dem Revisionismus : Angel, Eduard Bernstein; Berlau, The German Social Democratic Party; Cole, A History of Socialist Thought, Band 2, Teil 2; Gay, The Dilemma of Democratic Socialism; Lichtheim, Mar xism; Rikli, Der Revisionismus. Vgl. Bernstein, Die Voraussetzungen des Sozialismus, S. 245. Ebd., S. 59. Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der SPD, Stuttgart, 3.–8. 10. 1898, S. 99 f., 118 ( Zitat ). A. d. Ü. : Zu finden auch in Luxemburg, Gesammelte Werke, Band 1/1, S. 236–241, Zitat : 241.
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Zwei Gesinnungen – Rosa Luxemburg und Eduard Bernstein
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wie wir gleich sehen werden – bestimmt sie die Bewertung konkreter Situationen und gestaltet Handlungsweisen. Philosophen hatten sich über Jahrhunderte hinweg mit der Frage auseinandergesetzt, ob die Realität des Ganzen den Teilen ihre volle Bedeutung gab und deren Ort und Aussagekraft bestimmte, oder ob das Konzept des Ganzen ein induziertes Produkt von Empfindungen, Gedankenassoziationen, der Macht der Gewohnheit war. Im vorliegenden Fall war die Totalität keine Realität im Raum, sondern ein Entstehungsprozess, der stramm auf irgendeinen Höhepunkt, ein dénouement, eine letzte Auf lösung zutrieb. Die Einzelteile und Elemente waren keine festen, stabilen und unbeweglichen Einheiten oder Situationen aus sich selbst heraus. Denn es gab nichts Unbewegliches, alles war im Werden begriffen und in ständigem Fluss; jede Situation war ein Augenblick in der Bewegung, in der Evolution des Ganzen, das sich in einem Zustand ständiger Änderung befand. Alle Ereignisse waren Akte des Dramas aus Spannung und Kampf zwischen Kräften, die im Aufstieg begriffen waren und dabei andere, überreife, ersetzten, und die ihrerseits bald selbst von Neuankömmlingen überholt werden würden.10 Wo gab es authentische Realität für den Historiker und – wenn man darin übereinstimmt, dass alle modernen Ideologien im Grunde Geschichtsphilosophien waren – wie wird der Historiker und, was das betrifft, der politische Anführer, das Wahre, das Bedeutende im Allerlei der Ereignisse herausfiltern? Sollte er dem Gedanken des Zutreibens auf ein Endziel, einer Auf lösung, anhängen, so müsste er dann zwangsläufig die treibende Kraft betrachten, als ob sie alles mitzöge, herunterschluckte, assimilierte, alles zu Wasser auf ihren Mühlen machte und jene Daten und Geschehnisse als unecht, irrelevant, unbedeutend behandelte, die sich einer Integration entziehen : wegen ihrer für dieses Schema widerspenstigen Natur, ihres zufälligen Charakters, ihrer launenhaften Einzigartigkeit oder Willkürlichkeit. Das Letzte wird für ihn nur Abfall oder Abschaum sein, oder er wird uns versichern, dass es bei einem genaueren Blick tatsächlich, wenn auch nur indirekt, eine Funktion der Substanz gewesen ist. Und was das scheinbar unvorhersehbare Verhalten eigenwilliger Menschen angeht, wird er nicht leugnen, dass verschiedene Menschen in verschiedene Richtungen ziehen; doch er wird behaupten, dass sie, da sie sich bemühen, entgegengesetzte Richtungen einzuschlagen, sich schließlich gegenseitig aufheben werden. Die Dialektik allein wird als entscheidende Kraft bleiben.11 Der Historiker oder politische Theoretiker, der die Theologie meidet, wird die historische Realität als Vereinigung einer unendlichen Zahl heterogener Faktoren, oft bloßer Zufälle, und von Ursachen, die in ihrer Interaktion fast unüberprüfbar waren, betrachten. Die Dialektik wird für ihn eine irreführen10 11
Vgl. Angel, Eduard Bernstein, S. 158. Vgl. Kautsky, Bernstein und das socialdemokratische Programm, S. 22.
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de Vereinfachung sein, ein Prokrustesbett, ein in der Tat per vertierender Einfluss.12 Von einem geringfügig anderen Standpunkt aus finden wir uns auf das alte Problem des Einen und der Vielen zurückgeworfen. Die Idee des Einen, des Absoluten, des Transzendentalen ist Erzeugerin des Asketentums und Saatbeet des Mystizismus. Sie muss das Hier und Jetzt, das Konkrete und Unmittelbare, das Kontingente und das Besondere als vergänglich behandeln, ja als eine tatsächliche Beeinträchtigung des Strebens nach dem einen Ziel, das wirklich zählt. Sie wird daher dazu beitragen, den konkreten Menschen und die lebende Generation von ihrem wahren Leben, den unmittelbaren Bedürfnissen, den subjektiven Sorgen zu entfremden : den tatsächlichen Existenzbedingungen. Da, wo empirische Daten wegen all ihrer chaotischen Vielfalt und Inkohärenz nicht als gegeben hingenommen werden, wo den Versuch - und - Irrtum - Prozeduren vorrangige Gültigkeit versagt und alles dem Marsch auf das Endziel hin unter worfen wird, da stehen wir darüber hinaus vor der alten moralistischen Sophisterei über den Zweck und die Mittel, und im Fall von entschlossenen Revolutionären wie Rosa Luxemburg finden wir uns im Netz der Spannung zwischen dem Glauben an die historische Unvermeidlichkeit und der Idee revolutionärer Spontaneität und voluntaristischem Aktivismus gefangen.
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Vgl. Popper, The Open Society, Kapitel 25; ders., The Poverty of Historicism; Berlin, Historical Inevitability.
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II. Revo lu tio nä re Ortho do xie und refor mis ti sche Häre sie Wie wir wissen, schloss Bernstein aus den empirischen Daten der zwei oder drei vorhergehenden Jahrzehnte der deutschen Geschichte, es gebe keine Anzeichen dafür, dass die deutsche kapitalistische Wirtschaft auf eine Katastrophe zuging. Der phänomenale ökonomische Fortschritt; das Ausbleiben der erwarteten zyklischen Krise; die stetige Verbesserung der Bedingungen für die Arbeiter; das Versäumnis der Mittelschicht zu schrumpfen und zu verschwinden, ja im Gegenteil ihr zahlenmäßiges Wachstum dank des Aufkommens neuer, nicht - proletarischer Beschäftigungen; die Streuung von Besitz durch Aktienkapital - Einrichtungen statt der erwarteten Monopolisierung durch eine Handvoll Menschen; die Rolle von Kartellen und Konzernen bei der Planung und Regulierung der Wirtschaft; die Rolle des modernen, weltumspannenden Kreditsystems und der neuen, revolutionären Kommunikationsmittel bei der Abwendung oder Begrenzung einer beginnenden Wirtschaftskrise – all das legte es Bernstein nahe, dass der Kapitalismus nicht im Untergang begriffen, sondern dabei war zu lernen, mit seinen Kinderkrankheiten umzugehen und mit ihnen zu leben.13 Rosa Luxemburgs Erwiderung stellt eine Lektion über die Funktionsweise der materialistischen Dialektik in der Geschichte dar und enthält die Keime all ihrer künftigen Lehren. Rosa Luxemburg versucht Bernstein wegen seines Nichtverstehens der eigentlichen Natur des Kapitalismus zu beschämen. Per definitionem wurde der Kapitalismus von einem unersättlichen, niemals endenden Drang angetrieben, durch die Ausbeutung von Ressourcen und Arbeitern zu produzieren und überzuproduzieren. Aufgrund der Kluft zwischen dem sich stetig beschleunigenden Rhythmus in der Warenproduktion und der erlahmenden Konsumptionsfähigkeit der Arbeiter ( da viele von ihnen durch technischen Fortschritt und sinkende Raten des kapitalistischen Profits arbeitslos geworden waren ) wird jene Welle erzeugt, die Arbeitslosigkeit, Krise und Armut inmitten des Überflusses her vorbringt. Bernstein, sagt Rosa Luxemburg, sah Krisen nicht als Anzeichen der Fehlfunktion der Grundstruktur an, sondern als Zufälle, Pannen, unglückliche Umstände. Er weigerte sich zu sehen, dass die periodischen Krisen für den Kapitalismus sowohl eine Notwendigkeit als auch eine Zeit der Prüfung waren : eine Gelegenheit und Herausforderung, sich selbst zu regenerieren, obsolet gewordene Gewohnheiten abzulegen und Fehlschläge über Bord zu werfen, seine Techniken und Methoden zu überholen, sich an veränderte Bedingungen anzupassen. Kurz, 13
Vgl. Bernstein, Die Voraussetzungen des Sozialismus, S. 82–128, bes. 85, 108–128.
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die Krise war eine weitere Gelegenheit für einen Sprung nach vorn, indem neue Quellen für Rohmaterialien aufgetan und neue Klassen, Regionen und Bevölkerungen für die Ausbeutung entdeckt wurden.14 Mit seinem engen Horizont, der sich auf eine einzelne Generation in einem einzelnen Land, ja faktisch auf den eines individuellen Unternehmers beschränkte, war Bernstein laut Rosa Luxemburg unfähig wahrzunehmen, dass die Geschichte selbst bereits damit befasst war, die letzte katastrophale Krise des Kapitalismus herbeizuführen, wohingegen die Krisen der Vergangenheit die Kinderkrankheiten eines noch unreifen, unvollständigen Kapitalismus waren. Als er im Zuge des internationalen imperialistischen Gerangels die Grenzen der Erde erreicht hatte, gab es für den Kapitalismus keinen Ort mehr, an den er noch hätte gehen können. Es waren keine weiteren Ressourcen und Bevölkerungen vorhanden, um nachtanken und die Expansion wieder aufnehmen zu können. Da die ausbeutbare Welt wirklich zu einer einzigen geworden war, die sich in den globalen kapitalistischen Imperialismus und ein universelles Proletariat aufspaltete, bestätigten sich die Prophezeiungen von Marx und Engels über das Endziel einer Weltgeschichte, die ein einziges Ganzes war.15 Rosa Luxemburg befasst sich mit dem Schema als Ganzem und nicht mit Details und Förmlichkeiten. So macht sie sich beispielsweise in allen ihren Schriften nicht die Mühe, die Lage des deutschen Bauerntums oder überhaupt der Bauern irgendeines Landes zu analysieren, außer durch die vagsten Verallgemeinerungen über deren abschließende, freiwillige Aufgabe des Privatbesitzes zugunsten kooperativer Produktionsmodelle und die Abschaffung uralter Unterschiede zwischen Landwirtschaft und Industrie. Das Aufkommen solch neuer, eigenständiger ökonomischer Berufsgruppen wie Techniker und Angestellte blieb unbemerkt. Nicht einmal soziale Beziehungen analysierte sie. Reiner ökonomischer Determinismus oder die angeblich vorherbestimmte Dynamik der industriellen Entwicklung war alles, was für Rosa Luxemburg eine Rolle spielte. Die Trennung in Katholiken und Protestanten, um ein Beispiel zu nennen, erhält in ihrem Bewusstsein nie irgendeine Bedeutung. Es gab nur das einige unteilbare Proletariat – und eine nicht ausdifferenzierte Bourgeoisie, einfach eine einzige reaktionäre Masse. Die besonderen Interessen, Traditionen, Gewohnheiten, Vorlieben, Vorurteile und verschiedenen politischen Loyalitäten der Bestandteile einer der beiden Gruppen bleiben unberücksichtigt. Und das Proletariat, oder noch besser : das eigentliche Proletariat, bestand aus den Industriearbeitern. Wenn es zur Krise kam, wurde alle historische Realität zur unvermeidlichen apokalyptischen Konfrontation zwischen Kapi14 15
Vgl. Luxemburg, Sozialreform oder Revolution ?, S. 405. Vgl. ebd., S. 421.
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talismus und Sozialismus destilliert, jedes die entsprechenden Mitläufer, die Nassauer, die Eindringlinge verschluckend; jene Elemente, die zwischen den verschiedenen Welten schwebten. Rosa Luxemburg hängt der verallgemeinerten Form der Marx’schen Werttheorie an, wonach die breite Masse der kapitalistischen Eigentümer sich den Mehr wert aneignet, den wiederum die breite Masse bezahlter Arbeiter produziert hat. Bernstein steht stark unter dem Einfluss der Grenznutzentheorie.16 Er gesteht bereitwillig ein, dass zu allen Zeiten manche Menschen andere Menschen ausbeuten. Doch er weigert sich, von Wert nur im Sinne der für dessen Produktion benötigten Arbeitszeit zu sprechen, besonders in Marx’ verallgemeinerter Form. Das ist eine Abstraktion. Gebrauchswert, Tauschwert, das alles ist, soweit es ihn interessiert, durch eine große Mannigfaltigkeit von Faktoren bestimmt : verschiedene Arten von Land, daher verschiedene Mietfor men, Bevölkerungsverschiebungen, Änderungen in der Sozialpsychologie, in den Vorlieben und im Geschmack der Verbraucher, Druck durch Zünfte und Gewerkschaften usw. Als eingefleischte Reduktionistin konzentriert sich Rosa Luxemburg auf einen einzigen Faktor – den des Profitmotivs, der sozusagen auf einen Schlag beseitigt werden könnte. Darauf erwidert Bernstein : „Wo so große Massen in Frage kommen wie die modernen Nationen mit ihren aus jahrtausendealter Entwicklung herausgewachsenen Lebensgewohnheiten, ist selbst von größeren Eigentumsumwälzungen eine rasche Wandlung der Menschennatur um so weniger zu erwarten, als die Wirtschafts - und Eigentumsverhältnisse nur einen Teil der sozialen Umgebung ausmachen, die auf den menschlichen Charakter bestimmend einwirkt.“17 Das Postulat der Unvermeidlichkeit und des Bevorstehens der globalen Konfrontation, des Zusammenbruchs des Kapitalismus und des Aufkommens des revolutionären Sozialismus, dieses A - priori - Denken, dem Rosa Luxemburg bei Marx Beifall spendete, bestimmt ihre Zurückweisung von Bernsteins Interpretation neuerer Entwicklungen in der Wirtschaft. Wie erwähnt, knüpfte Bernstein Hoffnungen an die Verbreitung von Aktienkapital, von neu eingeräumten Krediten sowie von Kartellen und Konzernen, um eine Krise zu vermeiden oder zu beenden. Dagegen argumentiert Rosa Luxemburg, diese Entwicklungen seien einkalkuliert gewesen, um den Zusammenbruch des Kapitalismus, überdies auf globaler Ebene, zu beschleunigen. Sie riefen in immer größeren Kreisen die Leidenschaft für Spekulation und Risiko her vor, und dies in allen Ländern zur gleichen Zeit. Es war nicht nur so, dass die große Mehrheit der Kleinaktionäre nicht zu Miteigentümern 16 17
Vgl. Cole, A History of Socialist Thought, Band 3, Teil 1, S. 276–284; Roll, A History of Economic Thought, S. 266–273; Shaw ( Hg.), Fabian Essays in Socialism, S. 12–18. Bernstein, Die Voraussetzungen des Sozialismus, S. 37 f.
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und Teilnehmern am Entscheidungsprozess wurde, sondern sie waren zu Vasallen und potentiellen Opfern der Erzspekulanten, der hauchdünnen Oligarchie aus Korporationsvorständen, Direktoren und Managern geworden. Das Ergebnis war nicht die Verbreitung von Eigentum, sondern dessen extreme Konzentration. Der alte Widerspruch zwischen sozialen Produktionsformen und einem System des privaten Eigentums hatte nun eine zusätzliche Wendung erfahren : Sowohl Produktion als auch Eigentum wurden stärker verstaatlicht, doch die Verteilung – der Dividenden – behielt alle Eigenschaften des individuellen Eigentums bei. Letzteres wurde dadurch noch stärker gefährdet. Angesichts der komplexen Verbindungen zwischen den verschiedenen Wirtschaftszweigen, die inzwischen zu einer einzigen Weltwirtschaft geworden waren, und des monopolistischen Charakters des weit fortgeschrittenen Spätkapitalismus war es sicher, dass eine Krise, die in einem Sektor eines einzigen Landes ausbrach, in der erhitzten Atmosphäre der Spekulation um schnelle und große Profite alle anderen Branchen mit sich niederreißen würde. Die kleinen Erschütterungen würden zu einem Erdbeben werden. Die Masse der Aktionäre und gewöhnlichen Menschen würde von Panik erfasst werden. Der Crash würde Millionen Opfer auf der ganzen Welt treffen. Eine Aufeinanderfolge solcher Zusammenbrüche musste zwangsläufig das ganze Gebäude niederreißen.18 Bernstein hatte zu zeigen versucht, dass es im modernen demokratischen Staat Arbeiterparteien, Gewerkschaften, Kooperativen, sozialistischen Abgeordneten in Parlamenten und kommunalen Institutionen möglich geworden war, eine stetige Verbesserung der Lebensbedingungen für Arbeiter, eine soziale Gesetzgebung, höhere Löhne und den Ausgleich sozialer Unterschiede sicherzustellen. Europa machte einen Prozess durch, der die politische in eine soziale Demokratie ver wandelte, der die kapitalistische Wirtschaft allmählich zum Sozialismus entwickelte – durch objektive Entwicklungen, Gesetzgebung, Überzeugung, moralischen Druck, den Appell an langfristige Interessen und an das Gewissen. Der liberal - demokratische Nationalstaat oder die nationale Gemeinschaft war zum Schiedsrichter zwischen den Klassen geworden, eine Art Schirmherr der nationalen Wirtschaft, der der selbstsüchtigen Gier asozialer Elemente widerstand und sie drosselte. Besteuerung, Kommunalisierung, Nationalisierung zusätzlich zur Durchsetzung von anständigem Verhalten und der regulierenden Funktionen des Staates – all dies würde allmählich eine sozialistische Gesellschaft als unvermeidliche Frucht echter Demokratie her vorbringen.19
18 19
Vgl. Luxemburg, Sozialreform oder Revolution ?, S. 379 f. Vgl. Bernstein, Die Voraussetzungen des Sozialismus, S. 189–198.
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Für Rosa Luxemburg hatte der Kampf um Wahlerfolg und gewerkschaftliche Errungenschaften keine andere Bedeutung, als dass es sich um Gelegenheiten handelte, die Arbeiter zu mobilisieren und zu aktivieren. Sie waren nur wichtig für die Injektion proletarischen Gewissens, waren Mittel zur politischen Ausbildung und Ausdruck der Stärke. Ihr großer Wert bestand genau darin, dass sie für die Arbeiter einen überzeugenden Beweis darstellten, dass keines dieser Linderungsmittel fähig war, ihre Situation als Lohnempfänger wesentlich zu verändern, ihnen den gebührenden Anteil an den guten Dingen des Lebens zu sichern oder ihre Lage als passive Objekte der Entscheidungen und Handlungen der Privilegierten zu ändern. Durch kollektive Verhandlungen waren die Gewerkschaften schlicht zu Verbündeten der Mammutunternehmen beim Schröpfen der Verbraucher geworden. Der größte Dienst, den nicht - revolutionäre Aktivitäten leisteten, bestand in den Frustrationen, die sie erzeugten, in den Lektionen, die sie erteilten : dass nur die Aneignung der politischen Macht durch eine proletarische Diktatur fähig sei, eine wahre und dauerhafte Wandlung herbeizuführen. Der ganze Wert der Gewerkschaften – die natürlich nicht über die Macht verfügten, die Produktion zu bestimmen, keinen Anteil daran hatten, Preise festzulegen und keinerlei Einfluss auf die Anwendung von Technologie hatten – lag darin zu zeigen, dass ihre Mühen letztlich eine Sisyphusarbeit waren – ein Satz, den die Bosse der großen Gewerkschaften, stolz auf ihre Millionen Mitglieder und Leistungen mit Signalcharakter, resultierend aus harten Verhandlungen und dem sorgfältigen Umgang mit ihrem Besitz, Rosa Luxemburg niemals vergaben. Ohne das Endziel als klar umrissenes und nahes Ergebnis im Blick – und vor Augen – waren all jene Institutionen und Leistungen nur das Beiwerk des alternden Kapitalismus, ein Beruhigungsmittel, dazu bestimmt, den Kampfgeist der Arbeiter zu lähmen; sie bildeten für manch intellektuelle Karrieremacher aus dem Kleinbürgertum eine Gelegenheit, sich in parlamentarischer Idiotie zu betätigen, und boten kapitalistischen Interessenten, die hinter den Kulissen agierten, die Möglichkeit, das proletarische Bewusstsein zu manipulieren und die Arbeiter einer Gehirnwäsche zu unterziehen.20 Der reformistische Ansatz hatte ( nach Rosa Luxemburg ) den fatalen Fehler zu glauben und andere glauben zu machen, dass Wahlen und Fair Play in der Lage seien, einen lang etablierten Klassenfeind dazu zu bringen, seine Besitztümer, Privilegien und Macht aufzugeben. Nur wer jede Vorstellung und jedes Gefühl für die Realität des Klassenkampfes verloren hatte, war fähig zu glauben, dass sie, wenn es zur Krise käme und die Besitzenden die Unhaltbarkeit ihrer Stellungen erkennen würden, nicht alle Prinzipien der parlamentarischen Demokratie über Bord werfen und zu einem bonapartistischen Coup 20
Vgl. Luxemburg, Sozialreform oder Revolution ?, S. 417.
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(oder dem, was im 20. Jahrhundert als faschistischer Coup bezeichnet werden sollte ) greifen würden, um die moralisch und materiell unbewaffneten und hilf losen Arbeiter in Ketten zu legen. Rosa Luxemburg erinnert an Lassalles Ansicht von der Nutzlosigkeit der Gesetze, Dekrete, formellen Resolutionen und Übereinkünfte im Vergleich zu der alles bestimmenden Realität sozialer Kräfte. Wenn Erstere im feudalen Zeitalter noch einigen Wert gehabt hatten, hatten sie in der bürgerlichen Gesellschaft jegliche Bedeutung verloren. Arbeitnehmer - Arbeitgeber - Beziehungen und Klassenkampf wurden in deren Kodizes nicht erwähnt, doch sie waren alles beherrschend. Selbst der bürgerliche Sieg über den Feudalismus war nicht im Gesetzestext enthalten, sondern im sozial - ökonomischen Aufstieg.21 Reformen hatten nur einen Wert als Funktionen der revolutionären Entschlossenheit. Es war falsch, Revolution und soziale Reformen als Gegensätze zu betrachten. Sie waren verschiedene Phasen und Methoden ein und desselben Revolutionskampfes. Die reformistischen Siege waren kein Selbstzweck : nur Sprungbretter, Verbesserungen der Position der Kämpfer oder Merkmale eines weiteren siegreichen Fortschritts auf die Revolution zu, und wenn sie sich als wertlos erwiesen – Injektionen des Klassenkampfgeistes. Letztlich waren Sozialreformen der Weg, auf dem die Revolutionen, von denen die Geschichte durchsetzt war, sich ihren Weg nach draußen freikämpften. Bernstein, so sagt Rosa Luxemburg, sah die parlamentarische Demokratie als Höhepunkt der Geschichte. Doch das war nur eine vorübergehende Phase in der Entwicklung des Kapitalismus, eine Funktion der Bedürfnisse des Kampfes gegen Absolutismus und Feudalismus. Mittler weile waren der Bürger und der Junker Bettgenossen geworden. Wie Jaurès wollte Bernstein den Kampf zwischen dem sozialistischen Proletariat und der liberalen Bourgeoisie nicht als Krieg zwischen den Kindern des Lichts und den Söhnen der Finsternis darstellen. Das Aufkommen des Sozialismus stellte er sich nicht als K.o. - Sieg vor, den die Proletarier gegen die Kapitalisten erzielen würden, sondern als allmähliches Erblühen oder eher Reifen einer geläuterten, vom Elend der rückständigen Barbarei befreiten gemeinsamen humanistischen Tradition. Es sollte nicht die Frucht der Tätigkeit der ehernen Gesetze der historischen Unvermeidlichkeit sein, sondern das Ergebnis eines ethischen Entschlusses, das Gute zu wollen und zu tun, im Geiste von Bernsteins berühmtem Diktum „Kant wider Cant“, von Hegels Dialektik zu Kants kategorischem Imperativ. Rosa Luxemburg wandte dagegen ein, die objektiven Entwicklungen des späten Hochkapitalismus hätten den Klassencharakter des Staates betont, anstatt dass der bürgerliche Staat sich allmählich zu einem sozialen Staat ent21
Vgl. ebd., S. 419–424.
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wickelte. Nicht die Regierung regulierte die Kartelle : Die Kartelle manipulierten das politische Establishment. Die kapitalistische Ausbeutung hatte alle patriarchalischen, persönlichen Eigenschaften abgelegt, die sie einst gehabt haben mochte, und war völlig unpersönlich geworden. In der Vergangenheit waren hohe Zölle, nationale Kriege und Arbeitsschutz bis zu einem gewissen Grad von dem Wunsch beeinflusst, zugunsten der Nation eine aufkeimende nationale Wirtschaft zu erschaffen und zu schützen. Doch die Zollgrenzen und Armeen im Zeitalter des Imperialismus waren die Waffen räuberischer, egoistischer kapitalistischer Interessen und feudaler Grundbesitzer. Demokratischer Parlamentarismus und soziale Gesetzgebung waren nicht länger von Nutzen für den räuberischen, imperialistischen Kapitalismus, der nicht mehr darauf erpicht war, einen modernen Nationalstaat zu erschaffen, sondern auf imperialistische Expansion zielte.22 Eher waren sie ein Hindernis : „Die Produktionsverhältnisse der kapitalistischen Gesellschaft nähern sich der sozialistischen immer mehr, ihre politischen und rechtlichen Verhältnisse dagegen errichten zwischen der kapitalistischen und der sozialistischen Gesellschaft eine immer höhere Wand. Diese Wand wird durch die Entwicklung der Sozialreformen wie der Demokratie nicht durchlöchert, sondern umgekehrt fester und höher gemacht. Wodurch sie also niedergerissen werden kann, ist einzig der Hammerschlag der Revolution, d. h. die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat.“23 Rosa Luxemburg wird nie müde, den totalen und absoluten Abgrund zu betonen, der das Proletariat und die Bourgeoisie „im Bereich der sogenannten allgemeinmenschlichen Beziehungen, der Ethik, den Ansichten über Kunst, über Erziehung“ trennt. Während sich jedes Lager auf die Demokratie beruft, „verbirgt sich unter der Identität der Formen und Parolen ein völliges Auseinanderklaffen in Inhalt und tatsächlicher Politik“.24 Bernstein sprach mit Verachtung von der revolutionären Romantik. Weit davon entfernt, die große Erfüllung zu sein, war revolutionäre Gewalt ein Rückschritt in archaische, barbarische Weisen der Konfliktlösung. Er schilderte die Diktatur des Proletariats als das Aufkommen demagogischer Abenteurer, Cliquen ohne politische Erfahrung oder Verantwortungsgefühl. Rosa Luxemburg war erzürnt über Bernsteins Ablehnung der „geistige[ n ] Kristallisationsachse“ – die Orientierung, die durch das „organische Ganze“ einer „konsequenten Weltanschauung“25 geboten wurde –, des dialektischen Gedankens der Einheit der Geschichte und der unvermeidlichen Entfaltung und Auf lösung des histo22 23 24 25
Vgl. Bernstein, Die Voraussetzungen des Sozialismus, S. 114–128; Luxemburg, Sozialreform oder Revolution ?, S. 393 f., 396–399. Luxemburg, Sozialreform oder Revolution ?, S. 400. Luxemburg, Nationalitätenfrage und Autonomie, S. 258 f. Luxemburg, Sozialreform oder Revolution ?, S. 438.
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Die Emanzipation des Proletariats
rischen Dramas des Klassenkampfes. Bernsteins Lehren zerrissen die Geschichte in Stücke. Es gab keine zielbewusste, rationale Richtung, kein kohärentes Streben, keinen Endpunkt. Es gab nur Reich und Arm, Menschen, die Glück hatten und Versager mit Pech, gute Zeiten und schlechte Tage – alles eine Frage des Zufalls. Er glaubte nicht an die organische, unteilbare Ganzheit des Kapitalismus. Er glaubte nicht an einen objektiven historischen Prozess, es gab nur fromme Wünsche; keine ehernen Gesetze der Geschichte, nur die beliebigen, unrealistischen Hoffnungen von Individuen. Bernstein nahm den Enterbten alle Hoffnung. Er beleidigte auch die Arbeiterklasse und ihre Anführer. Vor allem entkleidete er die Geschichte ihrer Größe und Majestät. Er predigte die Kapitulation, die Anpassung an den Kapitalismus, die Akzeptanz des ewig währenden Reichs des Bösen, Irrationalität und Unwahrheit. Durch sein Eintreten für die Aussöhnung und seine Aufgabe des Klassenkampfes war Bernstein dabei, die Sozialdemokratie in eine linksgerichtete liberale Partei zu ver wandeln und die SPD vom Agenten des historischen Schicksals zum unehelichen Kind der deutschen Reaktion zu degradieren.26 „Die Diskussion mit Bernstein ist zur Auseinandersetzung zweier Weltanschauungen, zweier Klassen, zweier Gesellschaftsformen geworden. Bernstein und die Sozialdemokratie stehen jetzt auf gänzlich verschiedenem Boden.“27 Es liegt Größe in Rosa Luxemburgs Glauben an eine anthropomorphe Geschichte. „Im Grunde genommen wirken und entscheiden“, schrieb Rosa Luxemburg am 15. April 1917 an Luise Kautsky, „die großen, unsichtbaren, plutonischen Kräfte der Tiefe, und alles rückt sich schließlich zurecht, sozusagen ‚von selbst‘ [...]. Die Geschichte weiß stets am besten Rat, wo sie sich am hoffnungslosesten in die Sackgasse verlaufen zu haben scheint.“28 Ein Jahr früher schrieb sie Clara Zetkin von der objektiven Logik der Geschichte, die unermüdlich ihr Werk vollende. „Madame Geschichte“ machte sich über die deutschen Gewerkschaftsbürokraten lustig, die „an den Toren des deutschen Gewerkschaftsglücks grimmige Wacht halten“.29 „Die Geschichte allein weiß immer Rat für ihre eigenen Sorgen, und sie hat schon manchen Misthaufen in die Luft gesprengt, der ihr im Wege stand. Sie wird’s auch diesmal schaffen.“30 Rosa Luxemburg ist undenkbar ohne den Ruf nach eifrigem freiwilligem Aktivismus und dem gleichzeitigen Bestehen auf Massenspontaneität. Man kann hier nur von einem calvinistischen Temperament sprechen, das den 26 27 28 29 30
Vgl. ebd., S. 432. Ebd., S. 440. Brief an Luise Kautsky, 15. 4. 1917, zit. in Luxemburg, Gesammelte Briefe, Band 5, S. 208. Luxemburg, Massenstreik, S. 117. Brief an Marta Rosenbaum, nach dem 12. 1. 1918, zit. in Luxemburg, Gesammelte Briefe, Band 5, S. 335.
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Revolutionäre Orthodoxie und reformistische Häresie
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Glauben an die Prädestination mit begeisterter und unaufhörlicher Aktivität paarte. Die sich entfaltenden Imperative der Geschichte mussten ihrer Meinung nach zuerst das menschliche Bewusstsein durchdringen und den Willen der Menschen anfeuern, um in einem Geist unwiderstehlichen Elans und auf zwingende Weise erfüllt zu werden. Wenn Rosa Luxemburg einerseits die Möglichkeit beliebiger Handlungsweisen negiert, ist sie andererseits nachdrücklich der Meinung, dass der Mar xismus kein Dogma ist, das ein für alle Mal und für jede Lage festgelegt worden sei. Es war schon immer notwendig, die konkreten Umstände zu berücksichtigen und entsprechend zu handeln. Wir werden auf dieses Thema zurückkommen. Worauf es uns im Augenblick ankommt, ist nicht nur, die Vision der Einheit, Kontinuität und Rationalität der Geschichte als Weltgeschichte zu betonen, sondern auch Rosa Luxemburgs entrüstete Einsicht her vorzuheben, dass Bernsteins Revisionismus diese äußerst wichtige Idee leugnete, genauer : dass er nationale Geschichte gegen universelle Geschichte ausspielte. Das bedeutete eine Relativierung des Ideals des einzigen historischen Endziels. Der Mythos der Nation wurde vor die universelle Dialektik gestellt. Die versteckte Antriebsfeder der revisionistischen Häresie war daher der Nationalismus. Ergo war Letzterer der wahre Feind. Die Frage könnte aber auch anders gestellt werden : War nicht gerade Rosa Luxemburgs leidenschaftliche Aversion gegen den Nationalismus die treibende Kraft hinter ihrer Vision von der Einheit der Geschichte, der Dialektik, der Weltrevolution, und ihr Antinationalismus nicht etwa nur eine Funktion ihres totalen Engagements für den revolutionären Internationalismus ? Als sie 1904 gegen Lenin schrieb, sagte Rosa Luxemburg : „Je mehr wir dieselben Grundzüge der Sozialdemokratie in der ganzen Mannigfaltigkeit ihres verschiedenen sozialen Milieus kennenlernen, um so mehr kommt uns das Wesentliche, das Grundlegende, das Prinzipielle der sozialdemokratischen Bewegung zum Bewußtsein.“31 So war auch die höchste Realität von der Einheit und Gleichheit der allumfassenden Streitfrage zwischen Kapitalismus und Sozialismus überall auf der Welt gleich. Wie gesagt, war Rosa Luxemburg nicht an den Details, den besonderen örtlichen Umständen oder technischen Einzelheiten des revolutionären Durchbruchs, dem Übergang von der kapitalistischen zur sozialistischen Wirtschaft oder beispielsweise der organisatorischen Seite des Generalstreiks interessiert und hatte diesbezüglich keine Geduld. Das konzeptionelle Gerüst, die Grundprinzipien und die unvermeidliche subjektive Struktur entstanden aus dem „objektiven“ Reifeprozess der Umstände und waren alles, was für sie zählte.
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Luxemburg, Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie, S. 422.
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III. Por trät der inter na tio na lis ti schen Revo lu tio nä rin als jun ge Frau Was für ein Mensch war diese bemerkenswerte Frau, deren Denken vom Glauben an ein Endziel wie berauscht war ? Aus welchem Milieu stammten sie und die Leute, die sie sich so sehr zum Handeln anzutreiben bemühte ? Was war die Antwort der Letzteren und wie beeinflusste die Begegnung mit ihnen Rosa Luxemburgs Haltung und wie formte sie ihre Gesinnung in späteren Tagen ? Rosa Luxemburg stammte von jüdischen Eltern ab und wurde 1870 in der kleinen polnischen Stadt Zamość geboren, der Wiege der mächtigen und aufgeklärten Grafen Zamoyski. Jan Zamoyski, berühmtestes Familienmitglied und Kanzler des Königs Stefan Bátory, hatte das Lehen im späten 16. Jahrhundert in ein entzückendes Renaissance - Vorzeigeobjekt ver wandelt. Im 19. Jahrhundert war das russisch dominierte Zamość eine Art Grenzstadt. Es lag zwischen dem Königreich Polen, das vom Wiener Kongress gegründet worden war, und den alten polnischen Provinzen, die wegen ihrer griechisch - orthodoxen ukrainischen und weißrussischen Mehrheit auf der einen Seite in das eigentliche Russland und auf der anderen in das polnisch - ukrainische Galizien unter österreichischer Herrschaft eingegliedert worden waren. Gemessen an den von Armut geplagten Massen jüdischer Kleinbürger, die das Gros der Stadtbevölkerung stellten, gehörten Rosa Luxemburgs Eltern der Mittelschicht an und hatten sich recht stark an die polnische Kultur assimiliert. Sie unterlagen obendrein einem starken deutschen Einfluss, für den Juden, und besonders solche, die – wie Rosa Luxemburgs Vater – der Holz - und Weizenhandel nach Danzig oder gar Berlin führte, besonders empfänglich waren. Als Rosa Luxemburg noch ein Kind war, zogen die Eltern von Zamość nach Warschau um. Dort lockerten sich die Verbindungen der Familie mit der jüdischen Umwelt noch weiter. Rosa Luxemburg besuchte ein polnisches katholisches Gymnasium, wo sie keinerlei jüdische Erziehung erhielt und von jüdisch - religiösen Traditionen und Praktiken ferngehalten wurde. Alle Kinder der Luxemburgs gingen auf die Universität und nahmen freie Berufe auf. Bei all ihrer späteren kosmopolitischen Existenz, dem erbitterten Hass auf den Nationalismus und der Geringschätzung für alles Jüdische behielt Rosa Luxemburg ihr ganzes Leben trotz langer Trennung und nur sehr seltenen kurzen Treffen mit Familienmitgliedern doch eine enge, liebevolle Beziehung zu ihnen. Auf typisch jüdische Weise blieb sie sehr besorgt um deren Gesundheit und ihr Schicksal, sie fühlte sich stark in der Pflicht, ihnen finanziell unter die Arme zu greifen, wenn sie es brauchten, obwohl sie selbst sehr selten frei von finanziellen Sorgen war.
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Porträt der internationalistischen Revolutionärin
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Als sie noch Studentin an der weiterführenden Mädchenschule war, wurde Rosa in revolutionäre Aktivitäten hineingezogen. Nach Beendigung der Schule beschloss sie, nach Westen zu ziehen. Sie wurde, unter einem Haufen Stroh versteckt, in einem Karren über die deutsche Grenze geschmuggelt; dabei half ein katholischer Priester, dem man erzählte, das jüdische Mädchen sei von zu Hause weggelaufen, um sich taufen zu lassen. Rosa Luxemburg schlug sich in die Schweiz durch und begann dort ihre Universitätsstudien. Sie schloss sich auch dem Bienenstock aus osteuropäischen Studenten, Emigranten und Revolutionären an; Polen, Russen und Juden mit ihren endlosen Treffen, Disputen, Kontroversen, Zer würfnissen und Auseinandersetzungen sowie der Massenproduktion von revolutionären Tageszeitungen, Broschüren, Faltblättern und weiterer Literatur, die in das Zarenreich geschmuggelt werden sollte. Rosa Luxemburg war eine fleißige und her vorragende Studentin, die möglichst alles verschlang, was ihre Lehrer schrieben, und alles las, was ihr in die Hände geriet, doch ebenso alles an der mar xistischen Elle maß. Sie schrieb eine fachkundige Dissertation über die industrielle Entwicklung Polens im 19. Jahrhundert. Obwohl sie bereits bis über beide Ohren in der antipatriotischen polnischen Sozialistengruppe engagiert war, beschloss Rosa, Deutschland zu ihrer Heimat zu machen, um in der mächtigsten, fortgeschrittensten und in jeder Hinsicht führenden sozialdemokratischen Partei im mächtigsten Staat Europas tätig zu sein. Zu diesem Zweck musste sie deutsche Staatsbürgerin werden. Das tat sie, indem sie eine Scheinehe mit dem ( unwilligen ) Sohn eines befreundeten sozialdemokratischen Paares einging. Und so wurde sie Frau Lübeck, obwohl Ehemann und Ehefrau das Standesamt getrennt verließen und sich, wie es scheint, nie wiedersahen. Jahre später wurde eine förmliche Scheidung arrangiert. Rosa Luxemburg war klein und stellte sich, wenn sie auf großen Versammlungen vom Boden aus sprach, auf einen Stuhl, um gesehen zu werden. Sie humpelte auch leicht infolge einer erfolglosen Operation in Kindertagen. Sie sah nicht sonderlich gut aus, hatte stark jüdische Gesichtszüge, besonders die Nase, ein sehr bewegliches Gesicht und ausdrucksvolle Augen. Bei all ihrem Intellektualismus und der Begeisterung für den Sozialismus war es ihr keineswegs gleichgültig, wie sie aussah oder sich anzog. Ihre Briefe an den Liebhaber Jogiches quellen über vor Einzelheiten zu den Kleidern und Hüten, die sie kaufte, und vor Sorgen über die Wirkung von Überarbeitung und Unpässlichkeiten auf ihre Erscheinung. Sie konnte auch eine Mahlzeit in jedem Detail beschreiben und sich ihrer Kochkünste rühmen. Es gab nichts bohèmehaftes an ihrem Geschmack. Sie mochte es, wenn ihre Wohnung aufgeräumt, sauber und gut ausgestattet war, hielt feste Zeiten ein und war sehr penibel bei ihren Einkommens - und Ausgabelisten.
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Rosa Luxemburg war eine Frau mit außerordentlichen Talenten und Fähigkeiten, ein ner vöses Energiebündel und ein Mensch von facettenreicher und komplizierter Natur. Sie war in drei Kulturen zu Hause : der polnischen, deutschen und russischen; sie sprach gutes Französisch, konnte Englisch lesen und auf Italienisch zurechtkommen und hatte selbstverständlich auf der Schule alte Sprachen gelernt. Sie konnte am laufenden Meter in verschiedenen Sprachen Gedichte rezitieren und war mit der gesamten bedeutenden Literatur Europas vertraut; und ihre Briefe, Schriften und deutschen Reden enthalten Zitate von Goethe, Heine, Mörike und anderen Dichtern. Sie übersetzte Korolenkos Autobiographie ins Deutsche und liebte polnische Dichtkunst. Sie war eine versierte Zeichnerin und Malerin. Sie liebte Musik leidenschaftlich und hatte eine kenntnisreiche Vorliebe für die Oper. Sie interessierte sich sehr für Botanik und Geologie und das Sammeln von Blumen, Pflanzen und Steinen, wann und wo immer sie konnte. Aus ihrer Gefängniszelle beobachtete sie Vögel, und ihre Urlaubsbriefe stecken voller detaillierter, zarter und poetischer Beschreibungen der Natur und des Wechsels der Jahreszeiten.32 Gleichzeitig war sie bis ins tiefste Innere eine Politikbesessene. Sie bezeichnete sich selbst als Ökonomin. Ihr umfangreichstes und ehrgeizigstes Buch, auf eine gewisse Weise das einzige, das sie schrieb – im Unterschied zu Pamphleten und gesammelten Reden und Artikeln –, war ihr Werk Die Akkumulation des Kapitals, das 1913 veröffentlicht wurde.33 Sie war zuerst und zuletzt Publizistin. Wie sie sagte, raubte ihr Marx den Atem durch die gigantische Macht und Dimension seiner theoretischen Leistung auf allen drei Gebieten : Philosophie, Ökonomie und politische Theorie. Rosa Luxemburg schrieb mit großer Begeisterung und vertrat anschaulich ihre Sache mit großem Nachdruck, mit Konsistenz und Gewandtheit. Sie war scharfsinnig und verstand sich darauf, feine Aphorismen zu produzieren und Sätze treffend zu formulieren, die als Phrase oder Motto dienen konnten. Alles, was sie schrieb, war von Leidenschaft durchtränkt, sowohl in ihrer poetischen und aufrüttelnden Eloquenz als auch in ihrer beißenden Ironie und Schmähung. Kein Wunder, dass sie, noch bevor sie dreißig wurde – nur ein oder zwei Jahre, nachdem sie sich in Deutschland niedergelassen hatte, und trotz ihres ausländischen Akzents –, bei der SPD - Führungsriege – August Bebel, Karl Kautsky, Paul Singer, Franz Mehring, ganz abgesehen von den weniger bedeutenden, aber einflussreichen Männern wie Ignaz Auer, Schoenlank, Stadtha-
32
33
Vgl. Briefe von Rosa Luxemburg : Luxemburg, Briefe aus dem Gefängnis; dies., Briefe an Karl und Luise Kautsky; dies., Briefe an Freunde; dies., Listy do Leona Jogichesa-Tyszki ( deutsche Ausgabe vgl. Fußnote 34); Luxemburg, Vive la lutte. Vgl. Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals.
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gen, Haenisch und andere – ein - und ausging und eine in ganz Deutschland bekannte und geschätzte Publizistin und Rednerin wurde. Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands litt an einem Mangel an Intellektuellen. Ihre Presse, vor allem das führende Organ Vorwärts, war hoffnungslos langweilig. Von der praktischen Politik beansprucht, hatte die Partei seit langem jede intellektuelle Neugier aufgegeben, von kreativer Originalität ganz zu schweigen, obwohl sie weiterhin das enorme Prestige nicht nur der größten, bestorganisierten Arbeiterpartei in Europa genoss – mit der Aussicht, in absehbarer Zukunft die Macht zu erreichen –, sondern auch als die Bewegung mit dem größten Anspruch darauf, alle anderen Arbeiterparteien Europas bei der Ausarbeitung der Theorie wie auch in der praktischen Politik anzuführen. Vor einem solchen Hintergrund ging Rosa Luxemburgs Stern auf wie ein Meteor, zuerst als Wahlrednerin in den polnischsprachigen Gebieten, wobei sie der deutschen Parteiführung wegen ihrer antiseparatistischen und antinationalistischen Haltung und ihrer heftigen Parteinahme für eine einheitliche übernationale Arbeiterpartei besonders willkommen war. Sehr bald tat sie sich als eloquenteste und eifrigste Aktivistin gegen den reformistischen Revisionismus her vor. Von Anfang an trat sie den Führungsveteranen auf Augenhöhe entgegen. Sie war nicht nur von älteren Herren mit berühmten Namen und lebenslangem Dienst und Erfolg unbeeindruckt, sondern machte sich in ihren Briefen – besonders in denen an Jogiches – auch über sie lustig und ließ, über die Zeitverschwendung und die Langeweile murrend, die ihre lauten Feste und Überraschungsbesuche ver ursachten, kaum ein gutes Haar an irgendeinem von ihnen.34 Sagte sie nicht sogar einmal schlagfertig zu einer Gesellschaft von hochrangigen Anführern, die einzigen zwei Männer unter ihnen seien sie selbst und Clara Zetkin ?35 Eigentlich mochte Rosa Luxemburg Deutschland und die Deutschen nicht, obwohl sie deren Literatur verehrte. Nie scheint ihr die Ungereimtheit etwas ausgemacht zu haben, dass sie als erst kürzlich eingebürgerte Fremde mit einem ausländischen Akzent in einem Land, das vor nationalistischer Leidenschaft wallte, für eine extremistische sozialistische Politik agitierte und das übernahm, was von vielen als antinationalistische Haltung angesehen wurde. Sie war sich gewissermaßen nicht bewusst, dass sie in einem bestimmten Land agierte – Deutschland. Sie diente der Sache des Sozialismus in einem bestimmten Bereich der internationalen Arbeiterklasse. Ihr Vaterland war die Weltrevolution, die keine territorialen Teilungen anerkannte. 34 35
Vgl. Luxemburg, Briefe an Leon Jogiches, S. 143, 151, 155. A. d. Ü. : Im Buchtitel heißt es „Leon“, üblicher ist aber „Leo“. Vgl. Nettl, Rosa Luxemburg, S. 359. A. d. Ü. : Wortwörtlich sprach sie von den „beiden letzten Männer[ n ] der Sozialdemokratie“.
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Mehr noch – und wir kommen in anderem Zusammenhang auf diesen Punkt zurück – : es scheint nicht, dass sie in dieser Hinsicht der Gedanke an ihr eigenes Judentum im Geringsten berührte. Es gibt in all ihren Schriften und selbst in vertraulichen Briefen kaum einen Hinweis auf deutschen Antisemitismus. Am Vorabend des Parteitags in Hannover, als sie erst seit zwei Jahren in Deutschland lebte, berichtete sie Jogiches über die anstehende Agenda und bemerkte, noch kein Redner sei dem Thema Militarismus zugeteilt worden. Jogiches schlug vor, sie selbst solle dafür kandidieren. Sie wies seine Idee ungeduldig zurück, wobei sie vernünftiger weise her vorhob, sie sei erst zu kurze Zeit Rekrut und mit der Materie nicht genügend vertraut.36 Doch sie verschwendete keinen einzigen Gedanken an die Möglichkeit, dass es Stirnrunzeln her vorrufen und Beschwerden hätte geben können, wenn die unvermeidliche Tirade gegen den Militarismus und den Expansionismus des offiziellen Deutschlands von einer ausländischen Jüdin abgegeben worden wäre. Recht früh bekam die junge Frau eine deutliche Ahnung von ihrer Macht und ihrem Einfluss. In ihren Briefen an Jogiches fallen Ausdrücke, die stark an die Worte Disraelis nach dem ersten Besuch der Galerie des britischen Unterhauses erinnern : Er sei sicher, er könne sie alle in den Schatten stellen.37 Rosa Luxemburg wurde tatsächlich bald als prominenteste Vertreterin des Mar xismus begrüßt, als ein zweiter Marx, als beste öffentliche Rednerin der Partei, mit einer klaren und starken Stimme. Sie zog wahre Publikumsmassen an. Sie hörten ihrer dichten, aber sehr klaren Argumentation mit andächtiger Aufmerksamkeit zu, reagierten enthusiastisch auf ihre leidenschaftlichen Ausbrüche und ausgelassen auf ihre geistreichen Bemerkungen und raschen Schlagabtausche. „Eine unbändige revolutionäre Kraft lebte in dieser kleinen, schwächlichen Frau“, schrieb Max Adler, „die immer wieder trotz der vielen Spötter und Hasser, die auch sie hatte, auf den Parteitagen die Hörer unter den Bann ihres feurigen Temperaments zwang und die Widerstrebenden zu lauten Beifallsbezeichnungen hinriß. Dabei aber war für sie charakteristisch, daß der Intellekt nie die Zügel über ihr Temperament verlor, so daß in die Glut der Revolution, die immer aus ihr sprühte, sich auch die Kühle der Ueberlegung mischte, welche bewirkte, daß diese Glut nicht zerstörend, sondern erleuchtend und erwärmend wirkte.“38 Der höchst feinsinnige Émile Vander velde erinnerte sich an Rosa Luxemburgs Auftritt auf dem Züricher Kongress der Internationale von 1893, als sie erst 23 Jahre alt war : „[ Sie ] verfocht [...] ihre Sache mit einem solchen Magnetismus im Blick und mit so flammenden Wor-
36 37 38
Vgl. Luxemburg, Briefe an Leon Jogiches, S. 150. Vgl. ebd., S. 91; Roth, Benjamin Disraeli, S. 36; Maurois, Disraeli, S. 66. Adler, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, S. 12.
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ten, daß die Masse des Kongresses, erobert und bezaubert, die Hand für ihre Zulassung erhob.“39 Es gibt prometheische Akzente in ihren Äußerungen. Bald nach dem Ausbruch der Februarrevolution in Russland schrieb sie Luise Kautsky aus dem Gefängnis über ihr Bedauern, nicht in der Position zu sein, „die Funken zu sammeln, die dort stieben, um dort und anderswo zu helfen und zu steuern. [... Ich ] werde bei der nächsten Möglichkeit wieder dem Weltklavier mit allen zehn Fingern in die Taste fallen, daß es dröhnt.“40 Doch es gab eine andere Seite hinsichtlich ihrer Kontakte mit anderen Menschen. Sie wurde zweimal zur Herausgeberin ernannt, zuerst für die Sächsische Arbeiter - Zeitung, ein bedeutendes Organ in einer sozialistischen Hochburg, und das zweite Mal für den Vorwärts. Sie blieb im ersten Fall einen Monat, im letzten zwei Monate.41 Ihr Mitherausgeber, der gelehrte Marx - Biograph und Verfasser einer Geschichte der deutschen sozialistischen Bewegung, Franz Mehring, ein Mann hoher moralischer Prinzipien, der nicht zögerte, Bakunins Behandlung durch Marx als grausam und gemein zu bezeichnen, und einer der sehr wenigen ranghohen Sprecher der SPD, die später in die Kommunistische Partei eintraten, schrieb Karl Kautsky, um sich über Rosa Luxemburgs „maßlose Herrschsucht und namentlich ihre schmutzige Habgier“42 zu beschweren. Sie hatte nie eine leitende Machtposition inne und saß nie in der Parteizentrale, um zu entscheiden, hier oder dort zu handeln – zumindest nicht, bis sie frei war, sich für ein kurzes Intermezzo in spartakistische Aktivitäten zu stürzen, als sie nach dem Zusammenbruch Deutschlands im November 1918 aus dem Gefängnis entlassen wurde. Der Ton ihrer Anweisungen, Tadel, Befehlsworte an die Genossen in der winzigen polnischen Splitterpartei über die Vorbereitung, den Transport und die Verteilung von Literatur ist der einer ohne jeden Zweifel dominierenden Frau, die keinen Unsinn toleriert und unentschlossene Hamlets verachtet. Sie handelte nicht nach Impuls; ihre Überzeugung und Leidenschaft waren dafür zu fest und beständig. Es wäre jedoch ungerecht, ihre kühle Berechnung und die Art, wie sie mit Menschen und Situationen umging, als schmutzige Intrigen nörglerisch zu tadeln. Überdies und tatsächlich getrennt von der öffentlichen, fieberhaft aktiven Rosa Luxemburg gab es eine andere Rosa Luxemburg, eine private, fast ver39 40 41
42
Émile Vander velde, zit. in Frölich, Rosa Luxemburg, S. 53. Brief an Luise Kautsky, 15. 4. 1917, zit. in Luxemburg, Gesammelte Briefe, Band 5, S. 208. Vgl. Nettl, Rosa Luxemburg, S. 159–163 ( Sommer 1898 „Sächsische Arbeiter-Zeitung“); Badia, Rosa Luxemburg, S. 595, 783 ( Oktober 1805 als Herausgeberin des „Vor wärts“). Brief, 5. 1. 1902, Nr. 162, zit. in Nettl, Rosa Luxemburg, S. 188.
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borgene und verkleidete Person, entschlossen, das Geheimnis ihres Privatlebens um jeden Preis zu bewahren. Jene zweite Rosa Luxemburg taucht in ihrer Korrespondenz mit ihrem Genossen und langjährigen Liebhaber Leo Jogiches sowie in ihren Briefen auf, besonders in denen, die sie während der Kriegszeit vom Gefängnis aus an Luise Kautsky, Martha Rosenbaum, die Seidels und an ihre viel jüngeren Freunde – amitié amoureuse – Kostia Zetkin, den Sohn ihrer Busenfreundin Clara, und Hans ( Hannes ) Diefenbach schrieb.43 Der entscheidende Einfluss im Leben der privaten Rosa Luxemburg war gewiss Jogiches, den sie 1891 in der Schweiz kennenlernte, als sie 21 und er 24 Jahre alt war. Ihr geheimes intimes Verhältnis, das unter allen Aspekten außer dem Namen nach eine Ehe war, obwohl sie die meiste Zeit in verschiedenen Ländern lebten – und selbst wenn sie sich in derselben Stadt befanden, wohnten sie niemals zusammen in derselben Wohnung –, dauerte bis 1906. Doch die politische Zusammenarbeit und Korrespondenz hielten bis zu Rosa Luxemburgs Tod im Januar 1919 an. Jogiches oder Tyszka – das meistgebrauchte seiner zahlreichen Revolutionärspseudonyme – ist der vorbildliche internationale Revolutionär.44 Er kam aus einer wohlhabenden und sehr kultivierten jüdischen Familie in Vilnius ( Wilna ). Sein Vater entstammte einer orthodoxen großbürgerlichen Ahnenreihe, und seine Mutter war eine geachtete Pianistin. Er widmete sein ganzes Leben und ererbtes Vermögen der Sache der Revolution. Er begann sein Noviziat Mitte der 1880er Jahre als führendes Mitglied des bemerkenswerten Narodnaja - Wolja - Kreises in Vilnius, der die Kinderstube prominenter Revolutionäre aller Schattierungen war, wie Julius Martow ( Zederbaum ), erst enger Bundesgenosse und dann Gegenspieler Lenins, die Gründungsväter des „Bundes“, John Mill und Arkadi Kremer, und Charles Rappoport, der spätere große alte Mann der französischen kommunistischen Partei, ein früher Freund von Jean Jaurès und Jules Guesde.45 In räumlichem Abstand, doch in engem Kontakt mit der Vilnius-Gruppe, besonders im Zusammenhang mit den gescheiterten Plänen für ein Attentat auf das Leben Alexanders III. im Jahr 1887, standen auch Lenins älterer Bruder Alexander Uljanow, der für seinen Part in diesem Plan mit dem Leben bezahlte, sowie Józef Piłsudski, der Anführer der Polnischen Sozialistischen Partei (PPS), und dessen älterer Bruder Bronisław. Jogiches wurde angeklagt, die Flucht derjenigen organisiert zu haben, die in diesen Plan verwickelt waren und die die Polizei nicht hatte ergreifen können. Er selbst floh 1890, nach einer Gefängnisstrafe und bevor er nach Turkestan ins Exil geschickt werden konn-
43 44 45
Vgl. Fußnote 32 für Editionen der Briefe Rosa Luxemburgs. Vgl. Leder, Leon Jogiches-Tyszka, S. 194–339. Vgl. Getzler, Martov, Kapitel 2.
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te, in den Westen. In der Zwischenzeit hatte er sich dem Mar xismus angenähert und Kontakt mit dem Zweiten „Proletariat“ in Warschau aufgenommen. Jogiches war der geborene Kommissar, ein besessener Verschwörer mit einer Leidenschaft für die Geheimniskrämerei und einer künstlerischen Vorliebe für das Schmieden von Plänen, die Tätigkeit im Untergrund und die Machenschaften hinter den Kulissen. Er schrieb nie etwas auf. Er erschien nie als Anführer oder Wortführer in der Öffentlichkeit. Unter wechselnden Pseudonymen und sich heimlich von Ort zu Ort begebend, war er bestrebt, die Fäden der politischen Tätigkeit verschiedener Parteien auf einmal in den Händen zu halten. Er bot dem stolzen und sehr egozentrischen Vater des russischen Mar xismus, Georgi Plechanow, einen beträchtlichen Geldbetrag an, damit dieser eine Tageszeitung gründe, unter der Bedingung, dass er selbst die Richtlinien dieser Zeitung bestimmte – eine Bedingung, die natürlich empört zurückgewiesen wurde. Daher wurde der ganze Plan wieder ver worfen. Nachdem er in der polnischen antipatriotischen sozialistischen Partei als führender Aktivist tätig gewesen war, an der Revolution von 1905 teilgenommen und in verschiedenen russischen revolutionären Gruppierungen gearbeitet hatte, wurde Jogiches schließlich zum eigentlichen Anführer der konspirativen Spartakusgruppe während des Ersten Weltkrieges. Er wurde kurz nach Rosa Luxemburgs Ermordung in Berlin „auf der Flucht“ erschossen.46 Nach Rosa Luxemburgs Tod schaffte er es noch, Lenin ein Telegramm zu schicken, in dem er mit einem einzigen, lakonischen und monumentalen Satz erklärte : „Karl [ Liebknecht ] und Rosa haben ihre letzte revolutionäre Pflicht erfüllt.“47 Dieser Verschwörer ohne Gesicht, oder eher mit vielen Gesichtern, wird in Charles Rappoports Memoiren der Tage in Wilna wie folgt beschrieben : „Jogiches war in den revolutionären Kreisen von Wilna wegen seines übertrieben verschwörerischen Verhaltens und seiner arroganten Art nicht beliebt. Anfangs teilte ich diese Ansicht über ihn ebenfalls. Jogiches bemerkte es und sagte mir einmal, daß er sich mit mir [...] über [...] seinen Charakter unterhalten wollte.“48 „Ein Mensch mit eisernem Willen, scharfzüngig, aber stur, widmete er sich leidenschaftlich der revolutionären Tätigkeit und war wahrlich ein exzellenter Verschwörer; er stellte ein gutes Verhältnis zu den Schmugglern her und kannte alle Zu - und Abgänge beim Grenzschmuggel. Einerseits sehr verschlossen, war er dennoch nicht so hart, wie er wirkte, und konnte sogar sehr schlagfertig sein, wenn er es wollte. Gewiß, sein Witz war oft sarkastisch und boshaft. 46 47 48
Vgl. Nettl, Rosa Luxemburg, S. 740 f.; Frölich, Rosa Luxemburg, S. 351 f. A. d. Ü. : Jogiches wurde nicht auf der Flucht, sondern im Gefängnis ermordet. Nettl, Rosa Luxemburg, S. 739. Rappoport, Dos lebn fun a revolutzionern emigrant, S. 289 f. A. d. Ü. : Dieses und die folgenden zwei Zitate ( Fußnoten 49 und 50) nicht nachweisbar. Siehe dazu aber : Rappoport, Une vie révolutionnaire, S. 89–93.
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[...] So erinnere ich mich an die späteren Jahre, als einmal beinahe alle Manuskripte von Ljubow Axelrod (‚Orthodox‘ ) verbrannt wären. [...] Jogiches meinte dazu : ‚Es bestand kein Grund zur Furcht. Es gibt genug Wasser in ihren Schriften, um die größte Feuersbrunst zu löschen.‘“49 In seinen Memoiren beschreibt das Opfer jener Bemerkung Jogiches als romantischen Revolutionär, der es genoss, die Brücken zu seiner bürgerlichen Umgebung hinter sich abzubrechen und der in das Leben des ewigen Protestgläubigen und Rebellen verliebt war. Wegen seiner Distanziertheit und des Mangels an Intimität im Umgang mit Genossen gab man ihm den Spitznamen „Jupiter“. Ljubow Axelrod rühmt Jogiches’ scharfen Geist, die große Beobachtungsgabe, die Liebe zur und Kenntnis der Musik, seine Einsichten in die menschliche Natur, seine Fähigkeiten als Redner und das Organisationstalent. „Er war ein leidenschaftlicher Verschwörer und liebte die Romantik des Geheimnisses und die Verschwörung um ihrer selbst willen.“50 Jogiches und Rosa Luxemburg hielten ihr Verhältnis streng geheim. Gegenüber Luise Kautsky, der wahrscheinlich engsten Vertrauten nach Jogiches, machte Rosa nie irgendwelche Andeutungen, geschweige denn, dass sie es ihr beichtete – schon gar nicht nach dem katastrophalen Ende ihrer intimen Beziehung mit Jogiches 1906, als sie entdeckte, dass er sie mit einer anderen Frau betrogen hatte. Die frühe Periode, die der persönlichen Intimität, wird von 574 der 776 Briefe abgedeckt, die sie Jogiches zwischen März 1893 und November 1905 schrieb. Seine Briefe scheinen unwiederbringlich verloren zu sein.51 Es gab keinen Briefwechsel in jener Zeit, als beide in der polnischen Revolution von 1905/06 aktiv waren und am 4. März 1906 verhaftet wurden. Als sie nach 14 Monaten, im Mai 1907, wieder aufeinander trafen, zerbrach ihre Beziehung. Die verbleibenden zweihundert Briefe bis zu Rosa Luxemburgs Tod sind ein gänzlich unpersönlicher und rein politischer Meinungsaustausch. Was in den Briefen an Jogiches sowie an ihre anderen engen persönlichen Freunde am meisten auffällt, ist Rosa Luxemburgs unstillbarer Lebensdurst und die Intensität, Vielfalt und Veränderlichkeit ihrer Gefühle und Stimmungen, die scheinbar so sehr im Widerspruch zu der eisernen Hartnäckigkeit ihrer politischen Zielsetzung stehen. Nach der Lektüre jeder Zeile in Rosa Luxemburgs Korrespondenz mit Jogiches versteht man immer noch nicht, warum sie sich nicht schließlich doch als Mann und Frau niederließen. Dass er im Vergleich mit ihrer eigenen Begeisterung und Leidenschaft ein eher zurückhaltender Liebhaber war, scheint aus seinen Verzögerungen, den Aus49 50 51
Rappoport, Dos lebn fun a revolutzionern emigrant, S. 301. A. d. Ü. : Zitat nicht nachweisbar, siehe Fußnote 48. Ebd., S. 310. A. d. Ü. : Zitat nicht nachweisbar, siehe Fußnote 48. Vgl. Luxemburg, Listy do Leona Jogichesa-Tyszki, Band 1, Einführung, S. VII.
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Porträt der internationalistischen Revolutionärin
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reden, um Treffen zu verschieben und Reisen zu ihr zu streichen, sicher. „Warum bist du so böse ?“ ist eine Wendung, die in Rosa Luxemburgs Briefen ziemlich oft vorkommt. „Und du könntest so gut sein.“ Von einem „schlechten“ Brief wird sie zutiefst niedergeschlagen, ein guter entlockt ihr eine Flut an überschwänglicher Zuneigung und lässt ihre Seele schweben. Es ist unmöglich, nicht tief bewegt und oft auch erschrocken zu sein angesichts der Gefühle einer Frau, die sich nach Liebe verzehrt, die unsicher ist, sich im tiefsten Herzen des Fehlens wahrer Gegenseitigkeit bewusst ist, von einem idyllischen Zusammensein an einem einsamen Fleckchen fern von allem träumt, Pläne schmiedet, aus ihrem gemeinsamen Wohnsitz ein behagliches Zuhause zu machen, die wehmütig seufzt : „Werde ich nie mein eigenes Kind haben ?“, als sie einen unwiderstehlichen Impuls, ein kleines Kind zu entführen, verzeichnet, der sie tags zuvor erfasst hatte. Ihrem Liebhaber erzählte sie jedes Detail ihrer Existenz, ihre rednerischen Triumphe und ihre Probleme mit der Migräne und dem Magen, wobei sie seinen Ratschlag übertrieben lobte, doch ihn auch oft für seine verrückten Ideen schalt, besonders für sein hoffnungsloses Schwanken im Studium und bei der Promotion. Dieser Dynamo an feuriger Energie, diese dominante, rechthaberische Frau erscheint in Bezug auf ihre Gesundheit und ihre Stimmungen furchtbar verletzlich. Tatsache ist, wie oben bereits angedeutet, dass sie permanent am Rande des Ner venzusammenbruchs stand. Was einen an dieser Korrespondenz und den Briefen an andere Freunde ebenfalls ver wundert, ist die häufige Überlegung, dass sie eigentlich nicht für den Betrieb und den Lärm der Politik geschaffen sei, sondern für das einsame Studium und die Kontemplation; was sie am meisten ersehnte, war ein wenig Glück, eine sanfte Zufriedenheit. Aus Briefen, die sie im Urlaub sowie in ihrer Gefängniszelle schrieb, atmet eine Fähigkeit und vielleicht eine bewusste Entschlossenheit, jede mögliche Empfindung, jeden Eindruck, das Murmeln des Wassers in einem kleinen Bach, die Windbö, die die Bäume schüttelt, die Form einer Wolke, den Klang eines fernen Liedes, das durchdringende Heulen eines verletzten Hundes, literarische Reminiszenzen, die freie Assoziation von Gedanken, Bildern, Andeutungen – von der quietistischen, pantheistischen, liebenden Umarmung aller Schöpfung zu ekstatischem Elan und auch glühender Entrüstung – in vollem Ausmaß auszukosten. Doch es schimmert durch diesen unbedingten Lebenswillen ein bedauerndes Gefühl hindurch, dass wahres Glück, vielleicht Glück überhaupt, dort zu finden sei, wo sie nicht war. Es war außerhalb ihrer Reichweite, irgendwo anders.52 War es eine grundlegende Unsicherheit über ihre Identität ? War es ein Mangel an Fähigkeit, das Unmittelbare und Konkrete auf natürliche Wei52
Vgl. Luxemburg, Briefe an Leon Jogiches, S. 29–32, 94, 101, 134.
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se als gegeben hinzunehmen ? War es das Ergebnis einer kosmopolitischen Wurzellosigkeit, die daher rührte, dass sie nicht instinktiv in einer stabilen Tradition und einem festen Lebensmodell verankert war ? Es fällt schwer, nicht ver wundert zu sein über den versteckten Zusammenhang zwischen ihrem Gefühl, dass das Glück immer woanders und ihr gegenwärtiges nicht ihr wahres Leben sei, und der Intensität ihres leidenschaftlichen Glaubens an einen revolutionären Durchbruch, an die erlösende Bestimmung, wo die Zeit zum Stillstand kommen und eine zeitlose Realität beginnen würde.
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IV. Ant wort an eine Pro phe tin Im Grunde genommen war Rosa Luxemburg in Deutschland eine Außenseiterin, auch innerhalb der deutschen Sozialdemokratischen Partei, und blieb es bis zum Schluss. Einmal schrieb sie an Bebel, ihr sei klar, dass sie als nicht de la maison angesehen werde. Kautsky bemerkte 1904, nachdem er einen Artikel Rosa Luxemburgs über den russischen Terrorismus abgelehnt und stattdessen Plechanow zum Schreiben eingeladen hatte, dass Rosa Luxemburg in Deutschland als nicht wirklich deutsch betrachtet werde.53 Die Parteiführung und noch mehr das Fußvolk, dessen normale Arbeit und Alltagsleben, Reaktionsweisen und Ansichten sie nie richtig kennenlernte, lebten in einer Welt, die sich von der ihren völlig unterschied. Die Anführer, mit denen sie Kontakte knüpfte, waren ihr nicht wesensver wandt, vielleicht mit Ausnahme der Frauen wie Clara Zetkin und Luise Kautsky. Sie beschwerte sich wiederholt oder sprach mit Verachtung über deutsche Arroganz und Philistertum. Es ist zu bezweifeln, dass sie sich mit irgendeinem ihrer Genossen wohlfühlte, ausgenommen die osteuropäischen jüdischen Exilanten oder Emigranten wie Jogiches, Par vus ( mit dem sie auch eine kurze Affäre hatte ), Warszawski und ein oder zwei Polen aus ihrer eigenen polnischen Fraktion, die in der deutschen Partei aktiv waren, oder jene aus der internationalen sozialistischen Arena wie Julian Marchlewski und Cezaryna Wojnarowska. Mathilde Wurm und Martha Rosenbaum waren beide Jüdinnen. Für die Dienste, die ihre Frische, ihre Jugend und ihr Enthusiasmus einer Bewegung erweisen konnten, die an Größe zunahm, aber selbst nicht mehr die Vitalität der Jugend hatte, wurde sie zunächst mit offenen Armen empfangen. Doch bald wurde sie zu einer unangenehmen Zeitgenossin, für viele eine Peinlichkeit, für manche eine Ner vensäge. Das wurde zur Zeit des Revisionismusstreits deutlich. Der größte Teil der SPD teilte Rosa Luxemburgs Sinn für revolutionäre Eile nicht und konnte kaum damit sympathisieren.54 Sie fühlten sich nicht so schrecklich unwohl, sie betrachteten sich gewiss nicht als verfolgte Ausgestoßene und als enterbte Almosenempfänger. Sie empfanden ihre Lebenssituation nicht als dermaßen vorübergehend. Wie oben erwähnt, boomte die deutsche Wirtschaft, und ihre Industrie überholte rasch die der „Werkstatt“ 53 54
Vgl. Kautsky, zit. in Luxemburg, Briefe an Leon Jogiches, S. 222, Fußnote 6. Siehe hierzu Studien zur SPD : Schorske, German Social Democracy; Ritter, Die Arbeiterbewegung; Steinberg, Sozialismus und Deutsche Sozialdemokratie; Cole, A History of Socialist Thought, Band 2, Teil 2; Lichtheim, Marxism, S. 259–276; Domann, Sozialdemokratie und Kaisertum.
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Europas, des alten England. Die Löhne stiegen, und die sozialen Dienstleistungen sowie die Gesetzgebung in Deutschland waren die vorteilhaftesten für die Arbeiter in ganz Europa, was auch immer die konterrevolutionären Motive Bismarcks und anderer gewesen sein mochten, die sie initiiert hatten. Die Bevölkerung Deutschlands nahm in den Jahren zwischen 1870 und 1910 von 26 auf 65 Mio. zu, und die Stadtbewohner, die am Anfang dieser Periode nicht mehr als 36 Prozent bildeten, stellten am Vorabend des Ersten Weltkriegs über 60 Prozent der Gesamtbevölkerung. Es gab ein rasantes Wachstum der Großstädte : Deutschland hatte bis 1910 48 Städte mit jeweils über 100 000 Einwohnern. Allein Berlin wuchs von 800 000 Einwohnern im Jahr 1870 auf über drei Mio. im Jahr 1900. Am Anfang dieser Zeitspanne stellte die Textilbranche mit einem Anteil von etwa zwei Dritteln noch den wichtigsten Zweig der deutschen Industrie; 1913 standen Metallurgie und Bergbau an erster Stelle. Die Kohlegewinnung stieg von 34 Mio. Tonnen im Jahr 1870 auf 290 Mio. Tonnen im Jahr 1913. Die Eisenproduktion stieg von 1,5 Mio. auf 19 Mio. Tonnen, d. h. Deutschland produzierte bis 1914 doppelt so viel Eisen wie Großbritannien und viermal so viel wie Frankreich. Bis 1905 war die deutsche Industrie auf 235 Kartelle konzentriert, von denen 95 die Schwerindustrie umfassten. 1880 war Deutschland die viertgrößte Exportnation der Welt und 1913 die zweite nach den Vereinigten Staaten. Allein die Maschinenindustrie beschäftigte 1907 rund 1,12 Mio. Arbeiter, von denen 1912 68 000 bei Krupp arbeiteten. Karl Helfferich hatte berechnet, dass das nationale Vermögen Deutschlands von 1895 bis 1912 von 200 Mrd. auf 300 Mrd. Mark stieg, während das nationale Einkommen von 12,5 Mrd. auf 40 Mrd. zunahm. Von 1900 bis 1913 stieg der Lohnindex auf 133,0 und der Lebenshaltungsindex auf 125,7. Während die Nominallöhne bis zum Ausbruch des Krieges weiter wuchsen, wiesen die Reallöhne und der Lebensstandard bis 1910, wie es scheint, jedoch einige Anzeichen des Rückgangs auf.55 Nachdem die antisozialistischen Gesetze der Bismarck - Ära abgeschafft worden waren, war die Vorherrschaft der Junker vielleicht ärgerlich, doch nicht unerträglich drückend. Sie war gewiss nicht gesetzlos und willkürlich. Überdies lehnte der Reichstag in den 1890er Jahren regelmäßig Regierungsanträge ab, die dazu dienen sollten, die Presse der Opposition und das Recht auf Zusammenschlüsse und Streiks auszubremsen.56 Vor allem war sich die SPD,
55
56
Siehe hierzu Studien zur deutschen sozial-ökonomischen Geschichte : Engelsing, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte; Wehler ( Hg.), Moderne deutsche Sozialgeschichte; Born ( Hg.), Moderne deutsche Wirtschaftsgeschichte. Die Dilemmata der SPD : Gordon, Domestic Conflict; Maehl, The Triumph of Nationalism; Kuczynski, Die Geschichte der Lage der Arbeiter, Band 3.
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Antwort an eine Prophetin
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von den Prophezeiungen des alten Engels bestärkt, sicher, dass ein sozialistischer Sieg an der Wahlurne unvermeidlich und in Reichweite sei, da ihre parlamentarische Vertretung bei jeder Reichstagswahl sprunghaft anstieg.57 1893 teilte Bebel auf einer Konferenz mit, dass nur sehr wenige der im Saal Anwesenden nicht lange genug leben würden, um den endgültigen Sieg zu erleben.58 Derselbe Bebel schrieb einige Jahre später an Kautsky, dass Par vus, der Verbündete Rosa Luxemburgs, die so heftig gegen Bernstein agitierte, nicht die leiseste Ahnung davon habe, was in den Köpfen der deutschen Arbeiterklasse oder in der deutschen Realität vorging : „Das fehlte gerade, dass der Parteitag feierlich beschließt, er erstrebe die soziale Revolution.“59 Rosa Luxemburg, die Bebel anfangs auf väterliche Weise bewunderte und mochte, wurde zu „dieser schrecklichen Frau“, die solch ein Ärgernis sein konnte. Er schrieb an Kautsky, dass der Gamaliel der Partei sich kaum vorstellen konnte, wie weit verbreitet die Abneigung gegen Rosa Luxemburg und Par vus in den Rängen der Partei war.59z „Du glaubst nicht, was für eine Animosität gegen Par vus und auch die Rosa in der Partei herrscht, und wenn ich auch nicht der Meinung bin, daß man diesem Vor urteil Rechnung tragen sollte, ganz unbeachtet kann man’s auch nicht lassen.“60 Es gab in der Partei viel Hohn über den männlichen und weiblichen Zuzug aus dem Osten, und ein Delegierter auf dem Lübecker Parteitag beschwerte sich – oder vielmehr warnte er drohend –, dass Par vus’ seltsame Methoden und arrogante Aggressivität wahrscheinlich dem Antisemitismus Vorschub leisteten. Es sei nicht die deutsche Art, alte, respektierte Anführer vor der Welt bloßzustellen.61 Die einfache Wahrheit ist, dass Alexander Israel Helphand ( Par vus ) wie für die Rolle des finsteren Juden aus der antisemitischen Dämonenlehre geschaffen war.62 Im russischen Ansiedlungsrayon für Juden geboren und in tiefster Not als Kind einer Familie aufgewachsen, die unter Pogromen und Hunger zu leiden hatte, schaffte er es bis in den Westen, wo er in der Schweiz seine Studien beendete und sich in Deutschland niederließ – falls man das Leben eines 57 58
Vgl. Mayer, Friedrich Engels, Band 2, S. 498. Vgl. Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der SPD, Erfurt, 14.–20.10.1891, S. 172. 59 Einige Briefe Rosa Luxemburgs und andere Dokumente, S. 10. 59z A. d. Ü. : Gamaliel, pharisäischer Rabbiner, laut christlicher Tradition Lehrer des Apostels Paulus; hier Synonym für „den großen alten Mann“, Kautsky. 60 Bebel an Kautsky, 4. 9. 1901, zit. in Zeman / Scharlau, Freibeuter der Revolution, S. 57. A. d. Ü. : Siehe auch die englische Ausgabe, in der die genauen Angaben des Briefes zu finden sind : The Merchant of Revolution, S. 46. 61 Vgl. Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der SPD, Lübeck, 22.–28. 9. 1901, S. 165. 62 Siehe hierzu Studien über Par vus-Helphand : Scharlau, Par vus-Helphand; ders./ Zeman, Freibeuter der Revolution.
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Die Emanzipation des Proletariats
uner wünschten Ausländers ohne Pass, ohne festen Wohnsitz und ohne Aufenthaltsgenehmigung, der von Land zu Land ausgewiesen wurde, ohne festes Einkommen lebte und Hungerzeiten durchmachte, als „sich niederlassen“ bezeichnen kann. Trotz dieser Nachteile und ungeachtet seines abstoßenden Äußeren, seiner ner vösen und lauten Rastlosigkeit, dem rücksichtslosen Verhalten gegenüber anderen, seiner Sorglosigkeit im Umgang mit Geld und einer giftigen Zunge und Feder, gelangte Par vus bald in den Ruf, den klügsten Kopf in der Zweiten Internationale zu besitzen und deren tüchtigster Ökonom und bestinformierter Experte in internationalen Angelegenheiten sowie ein fachkundiger Literaturliebhaber zu sein. Er wurde gefürchtet und verabscheut und stand doch in sehr hohem Ansehen. Dieser radikalste unter den Revolutionären wurde dann über Nacht zum Millionär, als er als Kriegskorrespondent entsandt wurde, um über die Balkankriege zu berichten, und die Gelegenheit nutzte, sich als Waffenlieferant für alle Krieg führenden Parteien zu betätigen. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges wandelte sich der Prophet des revolutionären Internationalismus zu einem fanatischen deutschen Nationalisten. Er lancierte eine ultrachauvinistische Publikation namens Die Glocke, erhielt praktisch ein Monopol für den Handel mit den neutralen skandinavischen Ländern und wurde der vertraute und viel gehörte Ratgeber der Wilhelmstraße und der Ostabteilung der OHL; er hatte auch den Auftrag, geheime Geldmittel nach Russland zu lenken und dort defätistische Propaganda zu verbreiten sowie Streiks und Unruhen zu schüren. Par vus hatte einen wichtigen Anteil daran, Lenins Reise nach Russland in dem berühmten versiegelten Zug durch die deutschen Linien hindurch zu sichern. Doch Par vus, der so viel unternahm, um sich an seinen einstigen Verfolgern in Russland zu rächen und den Zarismus mit deutscher Hilfe zu stürzen, in der Hoffnung, die lang ersehnte Revolution in Russland voranzutreiben, weigerte sich, die Oktoberrevolution als Erfüllung seiner Träume zu betrachten. Er entwickelte einen unerbittlichen Hass gegen die Sowjetunion und näherte sich Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann an, wodurch er eine Art Graue Eminenz der Weimarer Republik wurde.63 Etwa zehn Jahre nach seinem Tod machte die nationalsozialistische Regierung seine prächtige Villa mit ihren Kunstschätzen zur Privatresidenz für Dr. Joseph Goebbels und seine große Familie. Beides, Eduard Bernsteins Zweifel an Marx’ Prognose und das Gezeter von Rosa Luxemburg und Par vus, war der Partei höchst unwillkommen. Zunächst begriff die Parteileitung die Tragweite von Bernsteins Argumentation gar nicht. Sie nahm theoretische Haarspalterei nicht ernst. Sie war zu sehr beansprucht von der praktischen und konstruktiven Arbeit, die sowohl kräfteverzeh63
Vgl. Scharlau / Zeman, Freibeuter der Revolution, S. 334–340.
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rend als auch unmittelbar wirksamer und erfolgreicher war. Kautsky, der offizielle Theoretiker, pries anfangs gern Bernsteins Gelehrsamkeit. Etwas Neues konnte nur gut sein. Kautsky gab später zu, dass es Rosa Luxemburg und Par vus gewesen waren, die ihn aus seinem Schlummer weckten, und dass sie die Ersten waren, die die Ernsthaftigkeit der Häresie verstanden und Alarm schlugen. Als der Sturm losbrach, war Kautsky verärgert genug, um sich über Bernsteins Oberlehrerhaftigkeit zu beschweren. Als Ergebnis der vielen Jahre, die er im ausländischen Exil, besonders in England, verbracht hatte, sei sein Freund nicht im Einklang mit der Partei.64 Ignaz Auer, eines der mächtigsten Mitglieder des Zentralkomitees und dessen Sekretär, der auch der Erste aus der Parteileitung war, mit dem die vor kurzem eingetroffene Rosa Luxemburg Kontakt aufgenommen und dessen Segen sie erhalten hatte, sagte zu Bernstein: „Mein lieber Ede, das, was Du verlangst, so etwas beschließt man nicht, so etwas sagt man nicht, so etwas tut man.“65 Menschen, die schlafende Hunde wecken würden, bedeuteten Ärger. Es ist sicher kein Zufall, dass auch Bernstein Jude war, wenn auch in der deutschen Kultur ver wurzelt und einer Familie von Handwerkern in der halb polnischen Provinz Posen entstammend. So sehr sich Bernstein vom Hintergrund und Temperament Rosa Luxemburgs unterschied und so entgegengesetzt ihre Ansichten auch waren, so störten sie doch beide die Ruhe und blasierte Selbstzufriedenheit der SPD. In beiden Fällen traten der Nonkonformismus des Außenseiters und die Unfähigkeit von „Fanatikern“ zutage, Schwindelei und bequemes Desinteresse an den Widersprüchen zwischen Anspruch und Realität zu akzeptieren. Mit seiner Erscheinung eines orthodoxen Rabbiners war Bernstein als Gelehrter und Denker ein Autodidakt, der älteste und vielleicht verdienstvollste Publizist der Partei. Zu Beginn der Bismarck’schen Sozialistengesetze erhielt Bernstein die Aufgabe, das Parteiorgan im Ausland herauszugeben, zunächst in der Schweiz, dann in England. Er wurde ein sehr enger und gern gesehener Mitarbeiter Engels’, der ihn auch zu seinem literarischen Nachlassver walter bestimmte. Bernstein wurde von seinem Aufenthalt in England stark beeinflusst, besonders durch den Fabianischen Sozialismus, aber auch die britische Verfassungstradition.65z Er war ein Mann von höchster Integrität und Mäßigung, den Tatsachen und Zahlen verfallen, und selbst bei Auseinandersetzungen mit kampf lustigen Gegnern sehr sanftmütig und rücksichtsvoll.66 64 Vgl. Angel, Eduard Bernstein, S. 151. 65 Bernstein, Ignaz Auer, S. 846. 65z A. d. Ü. : Fabianischer Sozialismus meint die allmähliche, d. h. nicht-revolutionäre Vergesellschaftung der Wirtschaft. 66 Vgl. Bernstein, Aus den Jahren meines Exils; Angel, Eduard Bernstein, S. 103–109; Gay, The Dilemma of Democratic Socialism, S. 107–109.
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So durch und durch reformistisch, gesetzestreu und patriotisch die SPD in der Praxis auch geworden war, ihr offizielles Vokabular – um nicht zu sagen : ihre Phraseologie – blieb radikal und revolutionär. Männer wie August Bebel und Wilhelm Liebknecht konnten die Sprachhülsen und Geistesgewohnheiten nicht einfach abschütteln, die vom 1848er Radikalismus und den frühen Tagen des sozialistischen Kampfgeistes hinterlassen worden waren. Auf eine vage Weise blieb die Partei weiterhin dem Gedanken eines radikalen Durchbruchs verpflichtet. Bernsteins Art von Reformismus war in der Tat in der relativ liberalen Atmosphäre der Länder im Südwesten bereits eine ganze Weile von den Sozialdemokraten gepredigt und praktiziert worden : von Männern wie Vollmar, einem Ex - Offizier und Veteran des 1870/71er Krieges und Ex - Radikalen, und von Anführern wie David, die sich mit Agrarpolitik befassten, die die meisten Parteimitglieder, deren Aufmerksamkeit vollkommen vom Industrieproletariat beansprucht wurde, vernachlässigten.67 Dennoch war es eine Sache, eine pragmatische Politik zu verfolgen und sie zu verteidigen, und eine völlig andere, sie mit einer Terminologie aus einem System von Prinzipien zu verallgemeinern. Indem er genau das tat, so behaupteten Rosa Luxemburg und Par vus, hatte sich Bernstein tatsächlich vom Mar xismus verabschiedet, den Schoß der Gemeinde verlassen und eine Art eklektischen sozialen Liberalismus angenommen. Gumplowicz fasste die Lage geschickt zusammen, als er sagte, dass die Partei das, was Bernstein jetzt predigte, bereits die ganze Zeit, ohne es zu reflektieren und mit Beschämung, getan hatte.68 Von nun an könne sie es mit gutem Gewissen tun. Die vielleicht weiseste Reaktion kam vom unangefochtenen Anführer der österreichischen Sozialdemokratie, dem Juden Victor Adler, der es gewohnt war zuzugeben, dass er keinen Kopf für die Theorie besaß und keinen Gefallen an ihr fand. Adler war ein extremer Praktiker und er hielt es, wie wir weiter unten sehen werden, geradezu für seine Lebensmission, eine äußerst spaltungsanfällige, multinationale Partei zusammenzuhalten, indem er jede Polarisierung, Konfrontation und Zerreißprobe über prinzipielle Fragen vermied. Trotz der Uneinigkeit in vielen prinzipiellen Fragen – gemäßigt durch die Übereinstimmung in vielen anderen – und trotz seiner Ansichten über den taktischen Schaden, den Bernstein verursacht hatte, bat Adler Bebel, Bernstein nicht aus der Partei zu drängen und nicht eine Situation zu schaffen, in der „ein Mann wie Ede [...] keinen Platz in der Partei“ hätte. Es gab in allem oder dem meisten, was er sagte, einen Anreiz für eine permanente
67 68
Vgl. Schorske, German Social Democracy, S. 79–87; Steinberg, Sozialismus und Deutsche Sozialdemokratie, S. 109–111. A. d. Ü. : Siehe auch Nettl, Rosa Luxemburg, S. 362. Vgl. Bernstein, Der Revisionismus in der Sozialdemokratie, S. 39.
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„Gewissenserforschung“, die insgesamt sehr nützlich war. „Haben wir nicht Alle Anfechtungen und Zweifel ?“ „Und wenn wir erst Ruhe hätten, sie ausgären zu lassen, wenn wir nicht so in der Tretmühle steckten, wer weiß, wie stark sie würden.“ Bernsteins Unglück sei „ein ins Krankhafte gesteigertes Verantwortlichkeitsgefühl“. Er sei „ein Fanatiker der Gerechtigkeit und ein Skeptiker von jener vornehmen Art, deren Skepsis sich gegen sie selber kehrt und die sich in Selbstkritik nie genug tun können“.68x Doch was immer die zutreffenden Punkte an der ökonomischen Doktrin waren, es gab die unleugbare, krasse Realität der Teilung der Menschheit in Besitzende und Besitzlose, Kapitalisten und Arbeiter. Das Proletariat, hatte Adler bei früherer Gelegenheit, lange vor Beginn der Kontroverse, geschrieben, „beginnt seine weltgeschichtliche Bestimmung nicht nur zu erkennen, sondern auch als sein Ziel zu wollen [...]. Und die Revolutionierung der Gehirne ist die eigentliche Aufgabe, ist das nächste Ziel“, sie „mit dem Bewußtsein zu erfüllen, daß sie bestimmt ist, die heutige Gesellschaftsordnung zu Grabe zu geleiten und die Trägerin eines neuen Gesellschaftsideals zu werden [...] eine Weltanschauung. Die Bewegung des revolutionären Proletariats ist nur ein Teil der Umwälzung der Gehirne, die unser Jahrhundert zu einem Zeitalter der Revolution macht.“68y Bernsteins Skepsis gegenüber dem Endziel, gegenüber der Möglichkeit einer fundamentalen Neugestaltung des kapitalistischen sozialen Systems hin zu einer sozialistischen Ordnung, stellte in dieser Hinsicht eine Leugnung jeglichen grundlegenden Unterschieds zwischen der Sozialdemokratie und den radikalen bürgerlichen Parteien dar. Wenn die Prediger der Klassenverbrüderung auch nicht weniger edel und ehrlich waren als die Bannerträger der Revolution, so wurden sie doch dazu getrieben, die sozialistische Bewegung an ihren Wurzeln zu zerschneiden. „Wer es vermöchte, dem Proletariat das Bewußtsein seines unteilbaren Anspruchs auf sein ganzes, volles Recht zu trüben, wer es satte Befriedigung über Teilerfolge lehren könnte, wer es verführte, über die Not des Tages seine Wurzel, über dem nächsten Schritt sein Ziel zu vergessen, der würde ihm seine beste Kraft nehmen.“ Adler schreibt weiter, das „Bewußtsein des absoluten Rechtes des Proletariats ist untrennbar von seinem Bewußtsein des absoluten Unrechtes seiner Gegner [...]. Was diesen Gegensatz verdunkelt, verschleiert, vernebelt, [...] ist [...] eine Gefahr, eine Quelle der Lähmung seiner Energie, [...] eine Tendenz zur Versimpelung und Verphilisterung unserer Partei, eine grinsende Skepsis gegenüber allem, was proletarische Sittlichkeit und gar, was proletarischer Heroismus ist.“68z
68x Braunthal, Victor und Friedrich Adler, S. 113. 68y Ebd., S. 114. 68z Ebd., S. 115.
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Der Mythos war umso notwendiger, wenn der Sozialismus aus Skepsis und als Ergebnis analytischer Überfeinerung als nichts weniger denn ein kategorischer Imperativ ausgelegt wurde. Ohne den Glauben an seine Unvermeidbarkeit würde es keine rebellische Opposition geben, keinen Aufstand gegen die bestehende Ordnung. Ohne den Mythos vom Endziel, der Vision von der Zukunft, wären Menschen nicht in der Lage, tagtäglich Opfer, harte Arbeit und Mühen zu ertragen. „Ich bin gewiß kein Stürmer [...], aber neben dieser Nüchternheit und Begnügsamkeit, die sie [ die Revisionisten ] Realismus nennen, komme ich mir wie ein Schwärmer vor.“69 Die SPD verurteilte die revisionistische Häresie auf zwei Kongressen und durch die Äußerungen der führenden Sprecher, vor allem Bebels, sowie in formalen Resolutionen. Doch man hörte nicht auf Forderungen, Bernstein aus der Partei auszuschließen. Nichtsdestotrotz wurde die Praxis der Partei, obwohl der Mythos wieder bestätigt wurde – in einer Sprache, mit der selbst die Reformisten leben und für die sie stimmen konnten –, in zunehmendem Maße reformistisch und opportunistisch.70
69 70
Ebd., S. 116. Vgl. Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der SPD, Dresden, 13.–20. 9. 1903.
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V. Eine pola ri sier te Nati on – das Zwei te Reich So trüb der Mythos der Revolution, so ver wässert ihr Mar xismus und so schwach die sozialistische Leidenschaft auch geworden sein mochte, wäre es doch ungerecht zu sagen, die SPD habe sich mit der existierenden Ordnung abgefunden und jede Vision und jeden Wunsch nach einer grundlegenden Änderung verloren. Die deutschen Sozialdemokraten strebten dennoch danach, ein Weimar ante litteram zu schaffen. Und auch wenn dieser Anspruch nicht welterschütternd genug war und nicht die Bezeichnung „Mythos“ im Sorel’schen Sinne verdiente, war die SPD sich doch bewusst, einen mächtigen Mythos zu bekämpfen und auf eine weitreichende soziale Transformation hinzuarbeiten, wenn sie gegen die autoritäre kaiserliche Klassenherrschaft des Zweiten Reiches arbeitete, die in solch scharfem Kontrast zu dem Fortschritt der deutschen Industrie, der schlagartigen Urbanisierung des Landes, der allgemeinen Demokratisierung der Gesellschaft und der großen Blüte der deutschen Natur - und Geisteswissenschaften stand.
1. Der „preußische Mythos“ Das von Bismarck errichtete Kaiserreich gründete auf dem, was sich als der „preußische Mythos“ bezeichnen lässt.71 Man könnte sagen, dass Robert von Puttkamer, dessen Dienste für das Wilhelminische Reich laut Eckart Kehr nur hinter denen Bismarcks zurückstehen, diesen Mythos bereits 1859 in einem Brief an den Vater definierte. Er schrieb, er sei, wenn er die Komplexitäten der europäischen Geschichte betrachte, nicht fähig zu übersehen, dass die Völker letztlich nur unbewusste Vollstrecker eines göttlichen Willens seien, „und dann kann ich mich nie von dem Gedanken trennen, daß Preußen doch der ganz besondere Liebling des lieben Gottes ist, der vielleicht noch große Dinge mit ihm vor hat und seinen Stern vor dem Erbleichen bewahren wird“.72 Dieser Mythos wurde von allen akzeptiert oder stieß zumindest auf wenig Widerstand bei den Mitgliedern der Mittelschichtenparteien. Der Grund dafür war die Tatsache, dass die nationale Einheit, die über Generationen für so viele als eine Art Endziel der deutschen Geschichte gedient hatte, nicht durch eine Revolution 71
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Siehe zum Kaiserreich : Berghahn, Germany and the Approach of War; Eyck, Das persönliche Regiment Wilhelms II.; Kehr, Der Primat der Innenpolitik; Rosenberg, Imperial Germany; Pinson, Modern Germany; Hartung, Deutsche Geschichte. Von Puttkamer, An den Vater, Mai 1859, zit. in Kehr, Der Primat der Innenpolitik, S. 65, Fußnote 5.
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erreicht worden war, nicht einmal durch einen neuen Gesellschaftsvertrag, der von den Vertretern der einzigen und unteilbaren deutschen Nation aufgestellt worden wäre; vielmehr war sie durch den autoritären Diener eines Königs von Gottes Gnaden und Anführer der preußischen Junkerklasse von oben erzwungen worden.73 Die deutsche liberale Bourgeoisie wurde von den Erinnerungen an ihre Fehlschläge von 1848 niedergedrückt – und auch von dem parlamentarischen Kampf gegen Bismarck um höchst prinzipielle Fragen wie die exklusive Budgethoheit des Landtags in den frühen 1860er Jahren. Da sie ihr Selbstvertrauen eingebüßt hatte, wurde sie von der gewaltigen Sage einer geteilten Nation, die über Jahrhunderte nicht zu den Großmächten gehört hatte und nun über Nacht zur führenden Macht in Europa geworden war, über wältigt und berauscht und war daher unfähig, sich jenen, die das ermöglicht hatten, resolut entgegenzustellen. Das wurde auf signalhafte Weise durch die rückwirkende Billigung von Bismarcks ungesetzlichen Budgets seitens der Legislative symbolisiert. Die Erfüllung schien solch ein uneingeschränkter Segen – zum Beispiel für solche überzeugte Liberale wie den Historiker Sybel74 –, dass alles, was darauf abzielte, sie zu trüben oder zu unterminieren, nach Verrat roch. Die wahren Interessen Deutschlands, sein authentischer Geist und seine Traditionen wurden offiziell mit jenen Preußens gleichgesetzt. Jegliche Manipulation an der preußisch dominierten Struktur wurde als tödliche Gefahr für die kolossale Leistung mit ihrer fein austarierten Balance zwischen sozialen Klassen, Sonderinteressen, Gewaltenteilung und konfessionellen Unterschieden wahrgenommen. Und somit war die soziale Ideologie des Klassenkampfes und der internationalen proletarischen Solidarität schlicht undenkbar. Der preußische Mythos hielt den mystischen Glauben aufrecht, dass – wie Puttkamer sagte – die Vorsehung ( oder Geschichte ) auf ihre unergründliche Weise die Hohenzollern - Dynastie und ihre treuen Diener für die Aufgabe, die Einheit Deutschlands herbeizuführen, auser wählt habe.75 In der ungünstigsten Umgebung, auf der sandigen Ebene Brandenburgs und in der rauen Ostseeregion, hatte eine Aufeinanderfolge von begnadeten, äußerst engagierten und zielstrebigen Fürsten aus einem loyalen Adel, aus gottesfürchtigen und gehorsamen Bauern und aus einer Kaste pflichtbewusster Beamter ausgezeichnete Werkzeuge – eine Armee und Bürokratie – der Staatskunst entwickelt. Ihre hartnäckig verfolgte Politik zielte darauf, das Territorium des Staates und dessen militärische Macht und Staatskasse um den Preis größter Opfer, sogar des persönlichen Gewissens, zu vergrößern. Diese Kräfte hatten 73 74 75
Vgl. Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat; Boehme, Deutschlands Weg zur Großmacht. Vgl. Sybel, Die Begründung des Deutschen Reiches. Vgl. Hintze, Die Hohenzollern und ihr Werk.
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Deutschland geschaffen. Sie verdienten Gutes von der deutschen Nation. Sie waren das Herz des Reiches. Sie waren die Garanten für das Überleben und den größeren Ruhm des Vaterlandes. Es war notwendig, die Position der herrschenden Klasse zu bewahren, einschließlich ihrer Besitztümer und Privilegien, die sie in die Lage versetzten, jene historische Rolle zu spielen. Ohne sie wäre Deutschland nicht dasselbe. Das konser vative Establishment blieb im Herzen unversöhnt mit dem Prinzip der Volkssouveränität und des Parlamentes – in ihrer Sprache : des Pöbels –, das dem göttlichen und ererbten Recht entgegenstand. Dem von dem Sozialdemokraten Heine 1908 eingebrachten Antrag ( der frühere Anträge der SPD von 1900 und 1905 wiederholte ), demzufolge der Kanzler, der das Vertrauen des Hauses verloren hatte, zurücktreten müsse, entgegnete der freikonser vative Sprecher von Dirksen : Wenn dies geschähe, verließe Deutschland das monarchische Prinzip und ginge zu „einem extrem parlamentarischen Regime“76 über. Der Kaiser würde dann – so Laband – eine Marionette in den Händen des Kanzlers und der Kanzler eine des Reichstages. 1900 stellte Kanzler Bülow unter Berufung auf ein Gesetz aus dem Jahr 1882 fest, dass alle Regierungsanordnungen „selbständige Anordnungen“77 des Monarchen seien. Der Reichskanzler war gegenüber der Krone, dem Land und der Geschichte verantwortlich. Wie weit ein Kanzler zu gehen bereit war, um die persönlichen Handlungen, Meinungs - und Gefühlsäußerungen des Kaisers zu decken, war eine Frage von Diskretion, Pflichtgefühl und Schicklichkeit und gehörte in die Sphäre des Unwägbaren. Die authentische Stimme des wahren, eingefleischten konser vativ - militaristischen Gläubigen war aus der berühmten Schmährede eines Elard von Oldenburg - Januschau herauszuhören : „Als ich Offizier war [...], da war es mir ganz egal, was von mir in der Zeitung stand, ich habe nur gefragt, was sagt mein Kommandeur dazu, was sagen meine Vorgesetzten dazu ? [...] Wie ist es jetzt ? Wenn ein Leutnant an einer Ecke laut hustet, hat er Besorgnis, daß es im Reichstag zur Sprache kommt. [...] Der König von Preußen und der Deutsche Kaiser muß jeden Moment imstande sein, zu einem Leutnant zu sagen : Nehmen Sie zehn Mann und schließen Sie den Reichstag.“78 Nach Generalleutnant Boguslawski konnte das soziale Problem nicht auf parlamentarischem Wege und mit legalen Mitteln, wohl aber durch das Schwert gelöst werden. „Die Staatsverfassung gilt uns nichts; salus rei publicae suprema lex, das Heil des Reiches ist das oberste Gesetz.“79 Einer der Gründe, warum der deutsche Generalstab so mächtig, ja tatsächlich formell von der 76 77 78 79
Domann, Sozialdemokratie und Kaisertum, S. 34. Ebd., S. 23. Ebd., S. 174. Ebd., S. 171.
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Aufsicht durch das Kriegsministerium befreit und nur der Kaiserlichen Militärkanzlei unter worfen sein konnte, war gerade der Wunsch, die Armee aus der parlamentarischen Kontrolle herauszuhalten.80 Die konser vative Philosophie wahrer, authentisch nationaler Tradition, die die Nation zu dem gemacht hatte, was sie war, und deren Träger ( mit anderen Worten : die herrschende Klasse ) eine privilegierte Behandlung verdienten, da der Untergang dieser Weltanschauung die Lebenskraft der Nation schwächen würde, war kein spezifisch deutsches Phänomen. Disraeli und später Arthur Balfour stießen ins gleiche Horn, wenn sie das britische Oberhaus und den grundbesitzenden Adel gegen Joseph Chamberlains Innenpolitik und Lloyd Georges Volksbudget verteidigten.81 In Großbritannien wurden diese Argumente von einer selbstbewussten, mächtigen und liberalen Bourgeoisie beiseitegeschoben, die zu der Auffassung gelangte, dass ererbte Privilegien als Belohnung für echte oder vorgebliche Dienste in der Vergangenheit nicht nur unzulässig seien, sondern dass das Staatsbudget als Werkzeug einer egalitären Sozialpolitik ver wendet werden sollte und nicht nur als finanzielles Mittel, um die Regierungsmaschinerie und die Streitkräfte zu erhalten. Großbritannien nahm allmählich das Prinzip an, dass Freiheit untrennbar mit einem gewissen Maß an wirtschaftlicher Sicherheit und Gleichheit verbunden sei. Die britische Mittelschicht war selbstbewusst genug und der britisch - parlamentarischen Praxis zu sehr zugetan : Sie ließ sich weder von dem grundbesitzenden Adel einschüchtern, noch fürchtete sie sich vor der Bedrohung durch die niederen Stände.82 Im Gegensatz dazu bemühte sich die SPD in Deutschland umsonst um die Hilfe der liberalen und progressiven Parteien bei ihrem Kampf für ein Ende der unerhört undemokratischen Vorherrschaft Preußens oder zumindest für eine Reform des auf hohen Tarifen für landwirtschaftliche Produkte und indirekten Abgaben basierenden Steuersystems, weil die bürgerlichen Parteien die Sozialdemokraten im letzten Moment im Stich ließen – was sich beispielsweise zeigte, als die Liberalen und Fortschrittlichen ihre Vereinbarungen gegenseitiger Hilfe mit der SPD bei den entscheidenden Wahlen 1912 nicht einhielten, obwohl die Sozialdemokraten sich peinlich genau daran hielten.83 Im tiefsten Herzen waren Erstere, wie erwähnt, von dem preußischen Mythos hypnotisiert und hatten nicht den Mut, eine Anstrengung zu unterstützen, die darauf zielte, die politische und sozial - ökonomische Grundlage der herrschen-
80 81 82 83
Vgl. Kehr, Der Primat der Innenpolitik, S. 101. Vgl. Ensor, England, S. 87–90, 414–421; Emden ( Hg.), Selected Speeches on the Constitution, Band 1, S. 30–37, 174–180. Vgl. Jenkins, Asquith. Vgl. Schorske, German Social Democracy, S. 227–233.
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den Kasten zu unterminieren. Sie hatten auch Angst, der Massendemokratie Tür und Tor zu öffnen.84 So beugten sie sich Bismarcks ausgeklügeltem Arrangement : Ein vom Volk gewählter Reichstag, der die einzige unteilbare Nation repräsentierte, jedoch unter einer entscheidenden, für den Preußischen Landtag reser vierten Vorrangstellung, die der erblichen, grundbesitzenden Aristokratie ein erdrückendes Übergewicht und erworbenes Vermögen gab und dafür den arbeitenden Klassen kaum eine Vertretung gewährte; eine föderale Autorität mit einer dauerhaften preußischen Mehrheit; ein Kabinett, das vom Kaiser ernannt wurde und nur ihm gegenüber Rechenschaft schuldig war; besondere kaiserliche Privilegien in Außenpolitik und militärischen Angelegenheiten – der Soldateneid auf den Kaiser; ein Generalstab, der nur der kaiserlichen Militärkanzlei unterstand; schließlich noch, wie oben erwähnt, ein Budget, das hauptsächlich auf indirekten Verbrauchersteuern und hohen Tarifen auf importiertes Getreide basierte.85 Die sozialen Ängste wurden in einer Art und Weise verstärkt oder rationalisiert, die in England keine Rolle spielte. Es gab große Sorge um Deutschlands internationale Stellung, die nach allgemeinem Glauben durch den Neid und die Missgunst von Rivalen sowie die prekäre Natur der weit offenen Grenzen Deutschlands gefährdet war. Man beschäftigte sich auch mit einer dynamischen Weltpolitik als Bestandteil einer noch unvollendeten Aufgabe : Deutschlands offenkundige Bestimmung zu erfüllen, indem dessen rechtmäßige Führungsposition unter den Nationen gesichert und das historische Scheitern der Deutschen, sich einen Anteil zu sichern, als Jahrhunderte zuvor die großen Nationen Westeuropas ganze Kontinente unter ihre Herrschaft gebracht hatten, wettgemacht wurde.86 Auf subtile und hinterlistige Weise hatten diese fixen Ideen im Blick auf die Sicherheit der Nation und die ständig wachsende Gier nach besseren Sicherheitsgarantien gegen den angeblich unerbittlichen französischen Revanchismus, die Barbarei der unübersehbaren Massen Russlands und den britischen Monopolimperialismus eine hemmende Wirkung auf liberalere und selbst auf viele sozialistische Kreise gegenüber dem lautstarken Tatendrang der deutschen Imperialisten. In unterschiedlichem Ausmaß wurden diese Gefühle von dem größten Teil der Nation geteilt, selbst von Teilen der Arbeiterklasse und manch einem guten Sozialdemokraten mit Parteibuch. Diese Grundhaltung ging einher mit einer großen Abneigung dagegen, im 84 85 86
Vgl. Ritter, Die Arbeiterbewegung, S. 177–187; Eyck, Bismarck and the German Empire, S. 174–179. Vgl. Wahl, Der preußische Verfassungskonflikt, S. 171–188; Pinson, Modern Germany, S. 156–172. Vgl. Stern, The Failure of Illiberalism, Teil 2; Berghahn, Germany and the Approach of War, Kapitel 2; Dehio, Um den deutschen Militarismus; Geiss, The Outbreak of the First World War.
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Land für Unruhe zu sorgen, an der traditionellen militärisch - politischen Schicht, die – wie ihre Fürsprecher zu betonen nicht müde wurden – geprüft und für gut befunden worden war, zu rütteln. Es gab Männer, zum Beispiel Friedrich Naumann und auf seine Art auch Max Weber, die sich einerseits der Zerbrechlichkeit eines archaischen hierarchischen Regimes, das mit dynamischen sozial - ökonomischen Veränderungen konfrontiert wurde, und andererseits der engen Verbindung zwischen ökonomischer Kraft und politisch militärischer Macht bewusst waren. Sie riefen nach einem modernisierten Volkskaisertum auf breiter demokratischer Basis, nach rationalen, utilitaristischen Denkweisen und nach einer expansionistischen Politik und Wirtschaft – unterstützt von einer modernisierten Armee und Marine – in Mitteleuropa und Übersee. Obwohl sie imperialistische Gefühle begünstigten oder sogar verstärkten, hatten sie keinen Einfluss auf die nationale Politik.87 Klassengier und Überzeugung – was auch immer das Verhältnis der unbewussten Rationalisierung der Klassengier mit Hilfe von Überzeugung und regelrechter Illusion oder Selbsttäuschung sein mochten – trafen bei den Bemühungen zusammen, die Sozialdemokratie als antipatriotisch, antinational und abseits des nationalen Konsenses stehend zu stigmatisieren : keine staatserhaltende Partei, sondern vaterlandslose Gesellen. Die Tatsache, dass mit Ausnahme des Jahres 1907 ( als es um eine patriotische Frage ging : um die Kolonialpolitik ) die SPD die Zahl ihrer Abgeordneten bei jeder Reichstagswahl erhöhte, trug zur Versuchung bei, wie 1907 durch Bülow, einen internationalen Notfall zu nutzen oder herbeizuführen, um auf diese Weise die rechtsgerichteten Wähler anzustacheln, sich gegen die glaubenslosen Agenten kosmopolitischer ausländischer Interessen um die Nationalflagge zu versammeln.88 Alle bürgerlichen Parteien spendeten Kanzler Bülow Beifall, als er gegen die SPD - Bänke im Reichstag ausholte : „Das ist der tiefste Graben zwischen Ihnen und uns : der Mangel an Verständnis für die Daseinsbedingungen der Nation, für diejenigen Forderungen, ohne welche die Nation ihre Stellung in der Welt nicht behaupten kann.“89 Bülow warf den Sozialdemokraten Landesverrat vor. Durch ihre Sympathien für die russischen Revolutionäre seien sie bereit, das deutsche Volk zu Söldnern im Dienst fremder kosmopolitischer Anliegen zu machen. Im Falle eines internationalen Konflikts nähmen sie stets den Standpunkt der Feinde 87 88
89
Vgl. Weber, Politik als Beruf; Federici, Der deutsche Liberalismus, S. 351–372; Snell (Hg.), The Nazi Revolution; Heuss, Friedrich Naumann, S. 126–133. Siehe zum Ersten Weltkrieg : Berghahn, Germany and the Approach of War, S. 29–31; Fischer, Griff nach der Weltmacht, S. 110–128; Schieder ( Hg.), Erster Weltkrieg; Groh, The ‘Unpatriotic Socialists’; Mommsen, The Debate on German War Aims; Ritter, Das Problem des Militarismus in Deutschland. Domann, Sozialdemokratie und Kaisertum, S. 93.
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Deutschlands ein – der chinesischen Boxer, der Hottentotten und Hereros in Deutsch - Südwestafrika, der Franzosen in Marokko. In der Reichstagssitzung vom 15. Februar 1897 beschwerte sich Bebel, dass einer der Ausbildungskurse in der Armee von den Möglichkeiten handelte, die Sozialdemokratie zu bekämpfen.90 Noch 1913 gab Kriegsminister von Heeringen, der behauptete, die Armee sei unpolitisch, offen zu : „Aber eine Grenze gibt es, und das ist die Sozialdemokratie [...], eine Betätigung zugunsten der Sozialdemokratie durch einen Offizier [...] kann und darf nicht stattfinden.“91 Nicht wenige derjenigen, die die Interessen Deutschlands mit ihren Klasseninteressen gleichsetzten, teilten die fatalistische Ansicht von der Unvermeidbarkeit einer bewaffneten Konfrontation zwischen Deutschland und seinen konspirierenden, eifersüchtigen Nachbarn, erwogen konsequenter weise einen Präventivkrieg oder wünschten gar, Deutschland möge einen Eroberungskrieg beginnen. Ein zusätzlicher Anreiz dafür lag in der Vorstellung, dass ein nationaler Krieg entweder geeignet sei, die sozialistische Flut einzudämmen, ja sie inmitten des patriotischen Eifers wirksam zurückzudrängen, oder die Gelegenheit böte, die Hydra des antipatriotischen Marxismus zu erwürgen. Man muss eine verschwörerische Sicht der Geschichte oder die komplette These, wonach das deutsche Establishment bewusst einen Krieg wollte und vorbereitete, um die Welt zu erobern oder auf interne Konflikte zu reagieren, nicht unbedingt akzeptieren, um genügend Beweise dafür zu finden, dass es solche Stimmungen tatsächlich gab und viele Menschen an höherer Stelle sich mit solchen Spekulationen beschäftigten.92 Friedrich von Holstein, die Graue Eminenz der Wilhelmstraße, schrieb : „Reaktionäre Regierungen versuchen immer, den inneren Kampf auf die internationale Sphäre zu verschieben.“93 Johannes von Miquel, Verfasser der Sammlungspolitik, riet den Deutschen 1897/98, ihre Aufmerksamkeit nach außen zu lenken, da die Gefühle der Nation in außenpolitischen Dingen gewöhnlich in Einklang gebracht werden konnten. „Nur eine erfolgreiche Außenpolitik“, behauptete Bülow 1897, „kann helfen zu schlichten, zu befrieden, zu sammeln, zu vereinigen“, womit er Weltpolitik meinte.93z Kurt Riezler, der enge Ratgeber des nächsten Kanzlers, schrieb in seinem viel zitierten Tagebuch : „Wenn der Krieg kommt und der Schleier fällt, wird die ganze Nation, von Notwendigkeit
90 91 92
Vgl. ebd., S. 177. Ebd., S. 179. Vgl. Berghahn, Germany and the Approach of War, S. 165–169; Eyck, Das persönliche Regiment Wilhelms II., S. 705–718; Fischer, Griff nach der Weltmacht, S. 15–55; Kehr, Der Primat der Innenpolitik, S. 176–183. 93 Gordon, Domestic Conflict, S. 212. 93z Ebd., S. 217.
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und Gefahr getrieben, folgen.“94 Der unentschlossene Bethmann Hollweg durchschaute die gemischten und ver wirrten Motive der nationalistischen Expansionisten, und bei einer späten Gelegenheit in der Krise vom Juli 1914 raffte er sich dazu auf, sie zu kasteien : „Die früheren Fehler, gleichzeitig Türkenpolitik gegen Russland, Marokko gegen Frankreich, Flotte gegen England, alle reizen und sich allen in den Weg stellen und keinen dabei wirklich schwächen. Grund : Planlosigkeit, Bedürfnis kleiner Prestigeerfolge und Rücksicht auf jede Strömung der öffentlichen Meinung. Die ‚nationalen‘ Parteien, die mit dem Radau über die auswärtige Politik ihre Parteistellung halten und festigen wollen.“95 Doch nach Fritz Stern, der diese Aussage zitiert, wurde diese Wahrnehmung des Kanzlers neutralisiert durch „jene seltsame Mischung widerspruchsvoller Glaubenssätze [...] – Sozialdar winismus, falschverstandene Romantik und Kulturpessimismus –, die alle in die Richtung der Expansion als der einzigen Alternative zur Stagnation wiesen“.96
2. Eine autoritäre Philosophie von Staat und Gesellschaft Man könnte sagen, dass die offizielle Philosophie des Zweiten Reiches von den jungen Sprösslingen der Aristokratie und des Großbürgertums förmlich aufgesogen wurde, als sie sich zusammendrängten, um den donnernden Predigten des Historiker - Propheten Heinrich von Treitschke zuzuhören.97 Seine Idealisierung des Staates als „eine hohe Naturnothwendigkeit“, „die nothwendige äußere Form, die sich das innere Leben eines Volkes selbst gegeben hat“, der nach außen gerichtete Gotteswille, „der sich im Staatsleben offenbart“,98 brachte jedoch nicht die Art Selbstsicherheit zum Ausdruck, die aus langem, unumstrittenem Besitz herrührt. Sie verkörperte die Vergöttlichung dessen, wonach sich eine benachteiligte Nation gesehnt hatte, und auch eine ängstliche Anstrengung, einen Geisteszustand, dem sowohl die Wurzeln als auch der Zusammenhalt fehlten zu inspirieren, zu glorifizieren und zu heiligen. Treitschke wetterte gegen die ultramontane und jakobinische Behandlung des Staates als Frucht eines künstlich von sündigen, den Staat als notwendiges Übel betrachtenden Menschen eingegangenen sozialen Kontrakts wie auch gegen den utilitaristischen Materialismus Englands ( Gibbon ), der den Staat als Versicherungsgesellschaft betrachtete, um das Eigentum zu schützen und 94 95 96 97 98
Ebd., S. 226. Stern, Bethmann Hollweg und der Krieg, S. 22. Ebd., S. 12. Vgl. Butler, The Roots of National Socialism; Treitschke, Politik; Meinecke, Die Idee der Staatsräson; Pinson, Modern Germany, S. 308 ff. Treitschke, Politik, S. 20, 22.
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ihre Mitglieder zu befähigen, billig einzukaufen und teuer zu verkaufen. Wie konnte solch eine respektlose Haltung gegenüber dem Staat einen patriotischen Widerhall her vorrufen, eine Bereitschaft zum höchsten Selbstopfer ? Für Treitschke bestand das Ziel des Staates darin, „eine dauernde Ordnung“ der „nach einander lebenden Geschlechter“ „über die Länge der Zeit“99 zu begründen und zu erhalten. Und gerade solch eine Tradition fehlte den Deutschen. Bei näherem Hinschauen fasste Treitschke diese Tradition tatsächlich nicht wie Burkes präskriptive Verfassung auf, sondern – in kuriosem Kontrast zu Treitschkes eigenem Antimaterialismus und seiner Verehrung des Idealismus – als „Erbrecht“ : „Der im Erbrecht fortwirkende rechtliche Wille der Vergangenheit muß mitbestimmen an der Vertheilung der Güter in der Zukunft. Gerade darin, daß ein Volk auch die vergangenen Geschlechter umfaßt, liegt das Erhabene des Staates. Folglich ist es ein Widersinn zu sagen, die Vertheilung der Güter solle stattfinden nach dem Verdienst des jetzt lebenden Geschlechts.“100 Diese Überzeugung entstammt einer sehr verallgemeinerten Sicht von Universum und Gesellschaft. In dieser endlichen Welt, in der wir leben, mit ihren unerbittlich begrenzten Ressourcen – „die Kargheit der Natur hat dem Menschen hier bestimmte Grenzen gesetzt“101 –, waren die Millionen dazu bestimmt, sich für die Wenigen zu plagen, damit diese in die Lage versetzt würden, eine Form von Kultur zu pflegen und sich darin zu schulen, die Menge anzuführen. Um „es trivial auszudrücken : Die Masse wird immer die Masse bleiben müssen. Keine Cultur ohne Dienstboten. Es versteht sich doch von selbst, wenn nicht Menschen da wären, welche die niedrigen Arbeiten verrichten, so könnte die höhere Cultur nicht gedeihen. Wir kommen zu der Erkenntnis, daß die Millionen ackern, schmieden und hobeln müssen, damit einige Tausende forschen, malen und dichten können. Das klingt hart, aber es ist wahr und wird in alle Zukunft wahr bleiben. Mit Jammern und Klagen ist hiergegen gar nichts auszurichten.“101z „Grade in der Verschiedenheit der Klassen kann sich erst der sittliche Reichthum des Menschengeschlechts zeigen.“ Doch die Armen konnten sich trösten mit ihren „Tugenden der [...] Kraft und Wahrhaftigkeit [...] herzhafte[ r ] Freude am Dasein [...] unter den einfachen Verhältnissen“, die den Reichtum „der gesitteten Menschen, der so leicht blasirt wird, geradezu beschämen“. Verallgemeinernd sagt Treitschke : „Der Begriff der Noth ist ja ein relativer.“ Regierungen sollten sich bemühen, „Noth einzuschränken und erträglich zu machen; sie aber überhaupt aus der Welt zu schaffen, ist weder möglich noch zu wünschen“.102 99 100 101 101z 102
Ebd., S. 23. Ebd., S. 24. Ebd., S. 52. Ebd., S. 50 f. Ebd., S. 52.
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Diese erhabene Behandlung materieller Güter unter der Annahme, dass die abgesicherten Besitzenden frei von Gier sind und die Nichtbesitzenden keinen Grund haben, ihren Mangelzustand zu bedauern, bestimmt Treitschkes Haltung zum Krieg als höchster Manifestation der Realität, der Lebenskraft und des moralischen Schicksals des Staates. Die Zugehörigkeit zur Manchester - Schule ist keine Geisteshaltung, die einen Staat berechtigt, Krieg zu führen. „Es ist ein Trugschluß, daß Kriege geführt werden um des materiellen Daseins willen; zur Ausplünderung von Hab und Gut werden moderne Kriege nicht geführt. Es spielt hier das hohe sittliche Gut der nationalen Ehre mit, die von Geschlecht zu Geschlecht überliefert ist, die etwas absolut Heiliges hat und den Einzelnen zwingt[,] sich ihr zu opfern. Dies Gut steht über allem Preis und läßt sich nicht nach Thalern und Groschen abwägen.“103 Dieses Ideal ist wohl kaum die Freiheit oder auch nur eine besondere Lebensweise, obwohl Treitschke von den „Werken der Väter“ spricht, die an die Nachkommen weitergegeben werden; es ist das Ehrkonzept eines Kavallerieoffiziers, der von dem Traum angespornt wird, eine gute Figur abzugeben, von der Überzeugung, dass eine Verletzung seiner Ehre nur durch ein Duell wiedergutzumachen ist und eine Schlacht eine Zurschaustellung edler Tapferkeit und männlichen Könnens bedeutet. Diese Mentalität überschneidet sich mit der Hegel’schen Gleichsetzung von Macht mit Vitalität und von Männlichkeit mit moralischer Kraft : „Ist der Staat eine Persönlichkeit [...], ist der Staat Macht, um sich zu behaupten neben anderen ebenso unabhängigen Mächten.“104 Es muss also eine Vielzahl von Staaten geben. „Daher ist die Idee eines Weltreiches hassenswerth; das Ideal eines Menschheitsstaates ist gar kein Ideal.“105 Ewiger Friede würde die Welt in einen Sumpf ver wandeln, die Nationen würden verkrüppeln. Das Ideal der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit zur Verhinderung von Kriegen war eine Beleidigung für das nationale Ehrgefühl. In internationalen Beziehungen zeigte der Staat seine Unabhängigkeit und gewann seinen Rang durch den Besitz und die Zurschaustellung von Macht sowie durch die Weigerung, in Fragen der nationalen Ehre irgendeine übergeordnete Einheit anzuerkennen, wie der Fall Preußens gegenüber allen anderen deutschen Fürstentümern zeigte. „Die Geschichte trägt durchaus männliche Züge, für sentimentale Naturen und für Weiber ist sie nicht. Nur tapfere Völker haben ein sicheres Dasein, eine Zukunft, eine Entwicklung; schwache und feige Völker gehen zu Grunde, und von Rechtswegen. In diesem ewigen Für und Wider [...] liegt die Schönheit der Geschichte, diesen Wettstreit aufheben zu wollen[,] ist einfach Unvernunft.“106 103 104 105 106
Ebd., S. 24. Ebd., S. 28 f. Ebd., S. 29. Ebd., S. 30.
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Auch in internen Angelegenheiten waren es Macht und Kraft, die jene Unter werfung einforderten, die für wankelmütige und unbändige Menschen die übliche Art von Zustimmung darstellte. Durch diese Machtdemonstration konnte das bessere Selbst jener Menschen überzeugt werden, diese Unter werfung zu zeigen. Kleine, schwache Staaten wie Holland, die Schweiz, Schweden und Belgien waren lächerliche Schöpfungen in „unser[ em ] Staatensystem, [das] immer mehr aristokratischen Charakter angenommen hat“.107 Sie existierten durch die Duldung der Großmächte und riefen im Inneren Respekt her vor. Krieg war der Einsatz von konzentrierter Kraft, war der Hebel der Zivilisation und würde gewiss bis zum Ende der Geschichte anhalten. „Die großen Culturfortschritte der Menschheit sind gegen den Widerstand der Barbarei und Unvernunft ganz zu ver wirklichen nur durch das Schwert. Und auch unter den Cultur völkern bleibt der Krieg die Form des Processes, durch welchen die Ansprüche der Staaten geltend gemacht werden.“108 Doch Krieg war auch der starke Kitt, der die Nation zusammenhielt. „Man muß auf das Bestimmteste sagen : der Krieg ist für krankende Völker das einzige Heilmittel. In dem Augenblick, wo der Staat ruft : Jetzt gilt es mir und meinem Dasein ! muß die sociale Selbstsucht zurücktreten und jeder Parteihaß schweigen.“109 Das Individuum fühlte dann all seine Bedeutungslosigkeit. „Es ist gerade der politische Idealismus, der die Kriege fördert, während der Materialismus sie ver wirft.“110 Er erschafft den Mythos, von dem eine Nation lebt : Er bringt Helden her vor, die von Generationen verehrt werden sollen. Er inspiriert Schriftsteller, „deren Worte erklingen wie Trompetengeschmetter“.110z „Arisches Völkerleben verstehen die nicht, die den Unsinn vom ewigen Frieden vortragen; die arischen Völker sind vor allen Dingen tapfer.“111 Das pazifistische Beschwichtigen Deutschlands hin zu einer Abscheu vor dem Krieg würde England und Russland in die Lage versetzen, sich den Globus zu teilen. Dem „Historiker, der in der Welt des Willens lebt, ist sofort klar, daß die Forderung eines ewigen Friedens reactionär ist von Grund aus; er sieht, daß mit dem Kriege alle Bewegung, alles Werden aus der Geschichte gestrichen werden soll. Immer sind es nur die müden, geistlosen und erschlafften Zeiten gewesen, die mit dem Traum des ewigen Friedens gespielt haben.“112
107 108 109 110 110z 111 112
Ebd., S. 42. Ebd., S. 73. Ebd., S. 74. Ebd. Ebd. Ebd., S. 75. Ebd.
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3. Weimar ante litteram – die SPD Die Konvergenz von Innen - und Außenpolitik spielte auch eine entscheidende Rolle dabei, die Haltung der SPD zu formen. Diejenigen – genau genommen die offizielle Parteileitung –, die eine gewaltsame Revolution ablehnten, konzentrierten ihre Ziele auf die Aufgabe, eine friedliche demokratische Revolution herbeizuführen. Die programmatische Absicht, das regierende Establishment zu stürzen und die sozialen Schichten, auf denen es basierte, zu bezwingen, konnte man den liberalen bürgerlichen Parteien lediglich als bloße Entfaltung der logischen Implikationen des Abgeordnetensystems darstellen, das durch die Einführung des allgemeinen Wahlrechts auf Reichstagsebene entstanden war. Praktisch bedeutete dies, die Kabinettsverantwortung an die gewählten Vertreter des ganzen Volkes abzutreten und die unerhört undemokratische Vorherrschaft Preußens durch ein demokratisches Wahlrecht zu ersetzen. Alle erwünschten Änderungen sollten von der SPD nach und nach und rechtmäßig mittels Wahlen erreicht werden. Und da die Dinge vorankamen, schien es keinen Bedarf an anderen Maßnahmen zu geben. Die SPD - Vertretung im Reichstag wuchs in den Jahren 1893 bis 1912 von 23,3 Prozent (1 790 000 Stimmen ) auf 38,4 Prozent (4 250 329 Stimmen ), mit dem einzigen Rückschlag der „Hottentotten“ - Wahl im Jahr 1907, als die Zahl ihrer Abgeordneten fast halbiert wurde. Die Mitgliederzahl der Partei nahm zwischen 1906 und 1913 von 384 327 auf 982 850 zu ( es sollte vermerkt werden, dass die Zunahme von 1912 bis 1913 enttäuschend war – nur 1,3 Prozent im Vergleich zu etwa 16 Prozent in den zwei oder drei vorangegangenen Jahren ). Die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder überschritt 1913 die 2,5-Millionen - Marke, während sie 1891 nur 275 000 Mitglieder hatten. 1914 gab es 4 100 hauptberuf liche Parteifunktionäre und 11 000 bezahlte Angestellte der Partei. Mit einer großen Gehaltsliste und 20 Mio. Mark, gewinnorientiert in Geschäften investiert, „war die SPD ein nationales Unternehmen“.113 Kurz vor dem Ersten Weltkrieg besaß die Partei 94 Tageszeitungen, und die Parteipresse hatte etwa 1,5 Mio. Abonnenten. Es schien daher unumgänglich, auf der Ebene der Gesetzmäßigkeit zu bleiben und dem Establishment weder einen Grund noch eine Ausrede zu liefern, der Arbeiterbewegung die Luft abzuschneiden. Wenn die herrschenden Klassen erst einmal zu dem Schluss kamen, die Einhaltung der Gesetze bedrohe ihre Existenz –„la légalité nous tue“ –, gab es natürlich die entfernte Möglichkeit, dass sie auf einen illegalen Staatsstreich zurückgriffen, die Immunität des Reichstags einschränkten und die SPD attackierten. Doch dann wären die 113
Maehl, The Triumph of Nationalism, S. 23–25; Potthoff, Die Sozialdemokratie, S. 47–50.
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Übeltäter nicht die Arbeiter, sondern die Regierung und die Junker. Die Massen könnten dann auf die Straße gerufen werden, um die Verfassung im Namen des heiligen Rechts auf Widerstand gegen willkürliche Unterdrückung zu verteidigen. Das Problem der preußischen Vorherrschaft wurde in diesem Zusammenhang als Präzedenzfall angesehen. Das existierende preußische System wurde wegen des schreienden Widerspruchs zwischen ihm und der Vorherrschaft des Reichstages als gesetzeswidrig und als ständige Provokation und eklatanter Beweis für Klassenegoismus gebrandmarkt. Der Kampf dagegen, selbst unter Einsatz direkter Aktionen wie Massendemonstrationen und Streiks, durfte nicht als subversive Aktivität ausgelegt werden, so vorsichtig solche Schritte in der Praxis auch vermieden wurden. Wie erwähnt, legte Engels sein Gewicht zugunsten der parlamentarischen Rechtmäßigkeit in die Waagschale, wobei er für die nahe Zukunft zuversichtlich eine sozialdemokratische Mehrheit im Reichstag erwartete. Vom Standpunkt streng mar xistischer Orthodoxie war eine demokratische Revolution eine notwendige Phase und ein Sprungbrett auf dem Weg zur sozialistischen Revolution. Der Übergang von der politischen zur Sozial - Demokratie würde von einem sozialistischen, von einer SPD - Mehrheit im Parlament gestützten Kabinett bewirkt. Entsprechend der Unbestimmtheit der Artikel des Erfurter Programms über den schließlich eintretenden Übergang von einer kapitalistischen zu einer sozialistischen Produktionsweise und die Abschaffung des Klassenprivilegs sowie der Klassenherrschaft schienen die Wortführer der SPD die bestehenden Bedingungen in Deutschland – in der Hoffnung, sie zu verbessern – zunächst als gegeben hinzunehmen. In der Zukunftsdebatte des Reichstags im Jahre 1893 lehnte es Bebel ab, sich in das hineinziehen zu lassen, was er unreife Spekulation über die letzte Form der Dinge nannte, und ein kleineres Licht, Frohme, fasste nach, indem er sagte, dass alles, was die Partei interessiere, Evolution und Anpassung sei – „die nächste Etappe der Entwicklung, die nächste Etappe der organischen Evolution, nicht mehr und nicht weniger“.114 Die jüngeren deutschen Historiker Steinberg, Ritter und Domann scheinen darin übereinzustimmen, dass die SPD der Revolution zugunsten der demokratischen Entwicklung entschieden den Rücken gekehrt hatte.115 Da eine parlamentarische SPD - Mehrheit noch in weiter Ferne lag, war es aus taktischen Gründen notwendig, die sozialistische Politik, die am Tag nach dem entscheidenden SPD - Durchbruch bei den Wahlen eingeläutet werden würde, nicht überzubetonen, um die potentiellen Mittelschicht - Verbündeten 114 115
Domann, Sozialdemokratie und Kaisertum, S. 42. Vgl. Steinberg, Sozialismus und Deutsche Sozialdemokratie, S. 43; Domann, Sozialdemokratie und Kaisertum, S. 39–44; Ritter, Die Arbeiterbewegung, S. 87–90.
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nicht von dem Zermürbungskrieg abzuschrecken, den Kautsky gegen das feudal - absolutistische Establishment und für eine echte Demokratie predigte.116 Nicht weniger wichtig, vielleicht unmittelbar sogar dringender, war das Problem des falschen Bildes einer antinationalen Kraft, das die Konser vativen der SPD angeheftet hatten. In dem Bemühen, es abzuschütteln und sowohl die Liberalen als auch das Kleinbürgertum für sich zu gewinnen, versuchten die Sozialisten ihr Äußerstes, um die Gleichsetzung des Establishments mit dem ewigen Deutschland zu zerstören, seinen Klassencharakter, seine parasitäre Ausbeutung der Massen, die gezwungen waren, für ihr tägliches Brot übertriebene Preise zu zahlen, her vorzuheben, sowie die zynische, egoistische Weigerung der besitzenden Klassen zu verurteilen, den Eigentums - und Erbschaftssteuern zuzustimmen – selbst als diese Steuern notwendig wurden, um das Verteidigungsbudget auszugleichen und eine Marine aufzubauen. Außerdem nutzten die Sozialisten die leichtsinnigen Reden des Kaisers zur Außenpolitik auf das Beste. Nicht nur waren sie ein Ärgernis für das Land, sie verrieten auch bonapartistische Absichten, denn Wilhelm II. ver urteilte die Mehrheit im Reichstag dafür, dass sie ihm die Hände band, als sie das Militärbudget kürzte. Der Kaiser beschuldigte die politischen Parteien, sie unterminierten die nationale Einheit und zerstörten die Glaubwürdigkeit der deutschen Außenpolitik. Er spielte sogar darauf an, dass eine Notlage ihn zwingen könnte, als der wahre Hüter des deutschen Schicksals über die Köpfe der Politiker hinweg und gegen Teilinteressen und Fraktionsbeschlüsse zu handeln.117 Wie der Erste Weltkrieg zeigen sollte, waren fast alle deutschen Arbeiter und ihre Anführer Patrioten. Ihre Haltung wurde passend in der Phrase : „Diesem System keinen Mann und keinen Groschen, doch wir werden das Vaterland in der Stunde der Not nicht im Stich lassen“, zusammengefasst. Sollte ein ausländischer Feind in das Land eindringen, verkündete Bebel, dann würde er seine alte Waffe herunternehmen, sie einsatzbereit machen und hinausmarschieren, um dem Feind entgegenzutreten.118 In ihrem Kampf gegen die Junkerarmee und deren militaristischen Geist und für eine Bürgerarmee betonten die sozialdemokratischen Wortführer die überholte Mentalität eines konser vativen, aristokratischen Offizierskorps, seine schmale soziale Basis, die entfremdende Auswirkung eines solchen Systems auf die Massen. Sie waren nicht nur ehrlich stolz auf die deutsche Größe, sondern die Sozialisten konnten legitimer weise den progressiven Charakter und den großen Beitrag der
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Vgl. Kautsky, Der Weg zur Macht; Lichtheim, Mar xism, Teil 5, Kapitel 5; Cole, History of Socialist Thought, Band 3, Teil 1, S. 249–322. Vgl. Domann, Sozialdemokratie und Kaisertum, S. 88. Vgl. Bebel, zit. in Berlau, The German Social Democratic Party, S. 46 f.; Rikli, Der Revisionismus, S. 111–113; Heidegger, Die deutsche Sozialdemokratie, S. 61–63.
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deutschen Philosophie, Literatur und des klassischen Humanismus zur Blüte des sozialistischen Denkens preisen. Tatsächlich behaupteten sie, nationaler zu sein als die rechtsgerichteten Nationalisten. Sie waren begierig, die Massen, die bis dahin aus dem kulturellen Leben und den kulturellen Anstrengungen der Nation ausgeschlossen waren, in aktive Teilnehmer an diesem Bestreben zu ver wandeln. Sie wollten die Quellen, die Inspiration und die Schätze der deutschen Kultur zum ersten Mal in der Geschichte der gesamten Nation zugänglich machen. Es ist unwahrscheinlich, dass viele deutsche Sozialdemokraten um die Jahrhundertwende die Frage, wo ihr Vaterland sei, wie Rosa Luxemburg beantwortet hätten : dass es die endlose Masse von hart arbeitenden Männern und Frauen auf der ganzen Welt sei. So weit hatten sie sich von Friedrich Schillers Humanismus des späten 18. Jahrhunderts entfernt, der predigte : „Nur deutsch ist nicht deutsch sein“,119 oder vom jungen Jakobiner Fichte, der das revolutionäre Frankreich als Vaterland aller progressiven Menschen auf der Welt begrüßt hatte. Es stand an vorderster Front im Kampf um das Licht, und das Gesicht jedes Freiheitsliebenden war ihm natürlicher weise zugewandt wie der Sonne. Der freie Mensch sollte sich das Vaterland frei aussuchen können, und er sollte nicht durch den Zufall der Geburt in einem bestimmten Tal neben einem bestimmten Fluss an eines gekettet sein.120 Severing, der letzte sozialdemokratische Innenminister im Weimarer Preußen, dessen Absetzung durch von Papen 1932 den Anfang vom Ende des republikanischen Regimes markierte, definierte Vaterland als den „Ackerboden, der uns alle ernähren soll, [ es ] ist der Wirtschaftsboden, auf dem wir schaffen, ist der Kulturboden, auf dem Sprachen und Sitten unserer Vorfahren uns miteinander verbinden. Und das Vaterland ist auch unser, der Arbeiter Vaterland, das wir lieben und verteidigen werden, wenn es angegriffen werden sollte.“121 Eine weniger emotionale, eher spirituelle Definition des Universalismus ist die von Engelbert Pernerstorfer : „Die Nationalität in ihrer höchsten Form ist [...] ein ideales Gut. Sie bedeutet in höchster Instanz die Menschheitskultur in einer besonderen, höchst eigentümlichen und nur einmal vorkommenden individuellen Ausstrahlung. Sie bedeutet eine Bereicherung der Menschheit durch eine besondere Form ihrer Erscheinung.“ Es sei das Ziel des Sozialismus, dem Proletariat Zugang zu den Segnungen der tausendjährigen Kultur zu verschaffen. „Jede Kultur aber ist national. Sie nimmt ihren Anfang im besonderen Volke und bietet in ihren höchsten Formen – und gerade in die119 120 121
Kohn, Die Idee des Nationalismus, S. 381–392; Pinson, Modern Germany, S. 16, 18. Vgl. Talmon, Die Geschichte der totalitären Demokratie, Band 2, S. 223–225; ders., The Unique and the Universal, S. 29 f. Severing, Mein Lebensweg, Band 1, S. 147.
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sen am meisten – einen entschiedenen Nationalcharakter dar.“ Der „Sozialismus und der nationale Gedanke sind also nicht nur keine Widersprüche, sie gehören notwendig zusammen. [...] Der Sozialismus will die Menschheit organisieren, nicht atomisieren. Im Organismus der Menschheit sind aber nicht die einzelnen Individuen, sondern die Nationen die Zellen. [...] So bekennen wir [ die deutschen Sozialdemokraten ] uns freudig zu unserer Nation und sind stolz auf ihre großen Ideen, sowie wir wissen, daß der theoretische Sozialismus selbst auch ein Werk deutschen Geistes ist. [...] So sind wir als gute Sozialisten auch die besten Deutschen.“122 Beim Gedanken an das Vaterland kam den Sozialdemokraten fast automatisch die Bedrohung in den Sinn, die Russland für Deutschland und alles, wofür es stand, darstellte. Darüber hinaus war der große Beitrag, den eine auf einem hoch zivilisierten und mächtigen Land basierende, mächtige deutsche Sozialdemokratische Partei für die allgemeine proletarische Bewegung leisten konnte, von einem Land bedroht, „dessen übergroße Masse der Bevölkerung aus politisch willenlosen, sehr unwissenden Bauern besteht“.123 Bernstein beharrte darauf, dass es daher von größter Wichtigkeit war, sollte der Krieg erst einmal ausbrechen, Feindseligkeiten so rasch wie möglich in Feindesland zu verlagern, „da in modernen Ländern Krieg im eigenen Lande schon die halbe Niederlage ist“.124 Bernsteins Definitionen scheinen mit den Vorstellungen Lassalles, dessen Schriften er herausgab, übereinzustimmen. Der Kopf der ersten sozialistischen Partei in Deutschland war ein alter Hegelianer und wurde auch von Fichte stark beeinflusst; ja er wollte gar als ein moderner Fichte erscheinen. Er glaubte fest an den Staat als Hebel des Fortschritts und Wächter unpersönlicher moralischer Werte. Gleichzeitig hielt er die Fichte’sche Version der Idee des Volksgeistes hoch. Die Verbindung der Ewigkeit des Staates mit der Einzigartigkeit des Volksgeistes lief auf eine Bejahung der widerstandsfähigen und dauerhaften Natur des Nationalstaates hinaus. Lassalle verfing sich in Widersprüchen. Er ging so weit, sich eine dynamische, expansionistische Außenpolitik als Kennzeichen der Vitalität des Staates vorzustellen, wobei er von deutschen Kavalleriepferden träumte, die ihre Hufe in den Wassern der Dardanellen wuschen, und sprach nicht weniger als Marx den embryonalen oder überalterten Nationalitäten jedes Existenzrecht und jedes Recht auf unabhängige Staatsbildung ab. Die Idee des Volksgeistes hätte ihn gefährlich nahe an die konser vative Zustimmung zur feudalen Vergangenheit bringen können. Doch er war sowohl Sozialist als auch Jude. Auf eine Art, die – auch in Bezug auf 122 123 124
Engelbert Pernerstorfer, zit. in Heidegger, Die deutsche Sozialdemokratie, S. 62 ff. Bernstein, Die Voraussetzungen des Sozialismus, S. 203. Ebd.
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Bernstein – die deutsch - jüdische genannt werden könnte, glich er den Widerspruch aus, indem er erklärte, dass der wahre deutsche Volksgeist im klassischen deutschen Humanismus und Universalismus verkörpert sei. Es sei das feudale und bürgerliche, egoistische Klammern an Teilinteressen, alten Privilegien und irrationalem, obsoletem Partikularismus, das die Essenz des Deutschtums verderbe. Ein sozialistisches Deutschland würde den reinen, universalistischen deutschen Volksgeist in den Vordergrund stellen.125 Es gab Grenzen, an die jemand, der Sozialist und Jude war, stoßen konnte. Es ist kein Zufall, dass Bernstein, der Revisionist und Patriot, sich auf dem Höhepunkt des deutschen Chauvinismus 1915 gezwungen sah, von der Mehrheitspartei abzufallen und sich der USPD anzuschließen und am Tage nach der Niederlage auf einem sozialdemokratischen Forum einige harte Wahrheiten über den deutschen Anteil an der Schuld auszusprechen, nur um von seiner erbosten Zuhörerschaft niedergeschrien zu werden.126 „Trotz der Zusage, dass die SPD den angreifenden und eindringenden Feind gerade so wie jede andere Partei bekämpfen würde [...], so verteidigen wir es, weil es unser Vaterland ist, als den Boden, auf dem wir leben, dessen Sprache wir sprechen, dessen Sitten wir besitzen, weil wir dieses, unser Vaterland zu einem Lande machen wollen, wie es nirgends in der Welt in ähnlicher Vollkommenheit und Schönheit besteht“, konnte Bebel seine tiefe Sorge bei dem Gedanken nicht verhehlen, dass „in einem Kampf um die Unversehrtheit des deutschen Bodens“ die SPD wohl oder übel „helfen würde, dieses schändliche inländische System zu verteidigen“.127 Die Antwort auf diese Zwickmühle sprach der Revisionist Schröder drei Jahre vor dem Ersten Weltkrieg aus : „Die Sozialdemokratie kann in Friedenszeiten die herbste Kritik an den Lenkern des eigenen Staatswesens üben. Wenn es ernst wird, wenn es einmal dazu kommt, dass Nation gegen Nation steht, dann sind auch die sozialdemokratischen Arbeiter nur Teile des Volksganzen, dann kennt auch die sozialdemokratische Partei kein anderes Interesse als das des eigenen Volks.“128 Mit anderen Worten : „Our country, right or wrong“, wer auch immer an der Spitze steht.
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Vgl. Lassalle, Fichtes politisches Vermächtnis, S. 98–102; ders., Die Philosophie Fichtes, S. 134–152; Oncken, Lassalle, S. 168–179; Na’aman, Lassalle, S. 305 ff., 352 ff., 394 ff. Vgl. Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der SPD, Weimar, 10.–15. 6. 1919, S. 241 f. August Bebel, zit. in Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der SPD, Essen, 15.–21. 9. 1907, S. 255. A. d. Ü. : Teile des Zitats nicht nachweisbar. Rikli, Der Revisionismus, S. 112.
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Reformistischer Revisionismus, wie ihn Rosa Luxemburg wahrnahm, bedeutete die Ver wandlung der SPD von einer Sektion der sozialistischen Internationale in eine sozialistische oder eher linksliberal - soziale Partei Deutschlands, die ihre Daseinsberechtigung nicht aus einer abstrakten universalen Doktrin bezog, sondern aus dem Leben der nationalen Gemeinschaft, ihrem nationalen Geist, ihrer Vergangenheit, ihren Traditionen, Bedürfnissen, Zielen – kurz, aus den konkreten Gegebenheiten ihrer Existenz. Selbst in dem sehr sensiblen Punkt der Kolonialpolitik waren Bernstein und manche seiner Anhänger wie Schippel, Kampffmeyer, David, Quessel, Gerhard Hildebrand, schließlich Lensch, der abtrünnige Radikale, wie wir sehen werden, keineswegs gegen eine friedliche deutsche Expansion und ein ökonomisches Vordringen nach Afrika und Asien. Sie erachteten einen solchen Imperialismus als fortschrittlich und günstig für die dort heimische Bevölkerung. Deutsche Arbeiter standen bereit, um aus dem gewonnenen freien und leichten Zugang zu Rohstoffen für die deutsche Industrie sowie zu neuen Märkten für den deutschen Handel zu profitieren. Die imperialistische Phase war im Grunde genommen eine natürliche und notwendige Etappe in der kapitalistischen Entwicklung, die der sozialistischen Transformation unvermeidlich, ja faktisch unmittelbar vorausging. Schließlich bedeutete die puritanische Enthaltung von allem, was mit kolonialen Abenteuern zusammenhing, das Feld für den britischen Monopolkapitalismus zu räumen.129 Das gradualistische Reformprogramm der SPD erforderte große Zurückhaltung, was so viel bedeutete wie eine strikte Disziplin, die den Massen von einer stark zentralisierten Führung auferlegt wurde : keine Massenspontaneität, sondern gut geregeltes Verhalten; keine Militanz, sondern Umsicht. Es war wichtig, langsam Positionen der Stärke und ein Netzwerk von Institutionen und Organisationen aufzubauen, über volle Kassen zu verfügen, auf die verschiedenen Teile, aus denen sich die Bewegung zusammensetzte – Jugendliche, Frauen, Kooperativen, Kulturprojekte – einen erzieherischen Einfluss auszuüben – kurz, einen Staat innerhalb des Staates zu bilden, wie es Kautsky formulierte. Es war daher von größter Wichtigkeit, einen zu frühen Durchbruch zu verhindern, denn hinter den Kulissen wartete ein riesiger Apparat aus Kraft und Zwang, der einer entschlossenen Herrscherklasse zur Verfügung stand, die ihr Selbstbewusstsein und ihre Arroganz keineswegs verloren hatte. Dennoch durfte es keinen Kompromiss geben in Bezug auf das Prinzip der reinen und konsequenten Opposition und bezüglich eines unermüdlichen Zermürbungskrieges gegen das Regime. Doch selbst das war nicht immer leicht einzuhalten. Als die Verteidigungspolitik der Regierung, darunter besonders die Pläne 129
Vgl. Bernstein, Sozialdemokratie und Imperialismus; Gay, The Dilemma, S. 271–276; Pinson, Modern Germany, S. 291–312.
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für die Marine, die Besteuerung ererbten Vermögens gegen den verbissenen Widerstand der opponierenden Oberklasse nötig machte, gab es zum Beispiel die große Versuchung, das zu verfolgen, was Heine eine Kompensationspolitik nannte; die Regierung war zusätzlich zu den „sozialistischen“ Maßnahmen gegen die Reichen gezwungen, im Austausch für die Herabsetzung der Verbrauchssteuern sozialdemokratische Stimmen zu hofieren.130
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Vgl. Gordon, Domestic Conflict, S. 214–226; Maehl, The Triumph of Nationalism, S. 35–41; Schorske, German Social Democracy, Kapitel 9 und 10.
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VI. Die Lek tio nen von 1905 in Russ land Für eine Weile sah es für Rosa Luxemburg so aus, als hätten die Alternativen, die sie nebeneinandergestellt hatte – der Klassenantagonismus sei entweder zu mäßigen oder zu stärken –, an Dringlichkeit verloren : Die revisionistische Häresie war schließlich von der Partei verdammt worden. Bald jedoch machte ihre Ungeduld in Bezug auf die übliche Tagesordnung – ihr Schmachten nach Aktivismus, ihr Bedürfnis zu fühlen, dass die Revolution gefördert und es ihr nicht überlassen werde, zu gegebener Zeit stattzufinden – ihr schließlich klar, dass der Opportunismus in Wirklichkeit gar nicht besiegt, sondern zur akzeptierten Praxis geworden war. Sie konnte nicht umhin, dafür die Führung, die Organisation, den Parteiapparat verantwortlich zu machen. Es war ihr nicht möglich, am revolutionären Instinkt und Willen der Massen zu zweifeln; nicht nur ihr Glaube wäre ins Leere gelaufen, wenn sie das hätte zugeben müssen. Ihr materialistisches Weltbild lehrte sie, dass die dynamische, phänomenale Entwicklung der deutschen Industriewirtschaft eine Parallele in der Verschärfung des Klassenantagonismus finden und sich im proletarischen revolutionären Bewusstsein spiegeln musste. Die proletarische Trägheit musste also dahingehend interpretiert werden, dass sie sowohl von der Erblast einer Parteibürokratie als auch von einer unverständigen, engstirnigen Gewerkschaftshierarchie, die den Wandel fürchtete und Unruhen von unten verabscheute, künstlich und bewusst beibehalten wurde. Das ist im Übrigen der wahre Hintergrund von Rosa Luxemburgs Kontroverse mit Lenin im Jahre 1904 sowie ihrer Verurteilung des elitären Zentralismus, wie er von den Bolschewiki verbreitet und von Berufsrevolutionären gestützt wurde; auf dieses Thema kommen wir noch zurück. Inmitten von Rosa Luxemburgs wachsenden Befürchtungen fiel die Revolution von 1905 in Russland und die Bewegung der sozialen und nationalen Revolution in Polen. Obgleich von diesen Ereignissen elektrisiert, machten sich Rosa Luxemburg, Jogiches und Par vus etwas spät auf den Weg an die Front, wofür sie von der bürgerlichen Presse reichlich Spott ernteten. Mit falschen Papieren ( Rosa Luxemburg als Anna Maschke und Jogiches als Otto Engelmann ) überquerten sie die Grenze nach Polen. Nach einigen Wochen nicht besonders wirkungsvoller Tätigkeit wurden beide verhaftet und identifiziert. Die deutsche Partei half mit Geldmitteln, um Rosa Luxemburg gegen Kaution auf freien Fuß zu bekommen. Sie reiste dann nach St. Petersburg und Finnland, wo sie häufig mit Lenin zusammentraf. Von dort aus kehrte sie nach dem Abflauen der Revolution nach Deutschland zurück, wo sie bald von der Entdeckung, dass Jogiches sie mit einer anderen Frau betrogen hatte, niedergeschmettert wur-
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de – wie auch von dem folgenden, brutalen Bruch, dem der armselige Streit über den Umstand folgte, dass er die Schlüssel zu ihrer Wohnung behielt.131 Äußerst schmerzhaft war dann der Entschluss, ihre politische Zusammenarbeit auf einer strikt unpersönlichen Ebene weiterzuführen, was u. a. in der Änderung der gegenseitigen Anredeweise zum Ausdruck kam, ganz zu schweigen von dem völlig neuen Ton und Inhalt ihrer Korrespondenz.132 Die Briefe aus Polen und aus dem Gefängnis vibrieren vor revolutionärer Ekstase. Die Dinge waren in Bewegung gekommen. Jeden Tag geschah tatsächlich das Undenkbare. Die Dämme waren gebrochen. Die Taten, täglich mutiger und waghalsiger, mehrten sich. Ganze historische Epochen schienen auf wenige Tage, oft auch Stunden, zusammengedrängt zu werden. „Die Revolution ist groß, lang lebe die Revolution.“133 Für den Augenblick erlaubte es ihr die revolutionäre Dynamik, ihre kritische Wachsamkeit aufzugeben und den Unterschied zwischen sozialistisch - revolutionärer Aktion und sozialpatriotischer romantischer Aufsässigkeit der nationalistischen, separatistischen Erben der polnischen irredentistischen Tradition zu ver wischen, den sie sonst so eifrig aufzuspüren bemüht war. Rosa Luxemburg erwähnt niemals Henri Bergson, noch bezieht sie sich – was eher überrascht – auf Georges Sorel. Doch ihre begeisterte Beschreibung des von der Revolution ausgelösten élan vital, die neu eröffneten Horizonte, die ins Leben gerufene schöpferische Fähigkeit und der dadurch ausgelöste geschichtliche Sprung nach vorn, schließlich ihre Verherrlichung des Generalstreiks als Hebel für den revolutionären Durchbruch legen eine Inspiration aus der Sorel’schen Richtung eher nahe als aus dem dogmatischen Festhalten am ökonomischen Determinismus. Ex oriente lux. Kurioserweise war es der pragmatische Karl Kautsky, der einige Zeit vor dem Ausbruch der ersten russischen Revolution und auch vor Rosa Luxemburg die Ansicht äußerte, die nächste revolutionäre Erhebung, die Europa in Bewegung setzen werde, komme wahrscheinlich eher aus dem Osten als aus dem Westen.134 Natürlich ist manch ein Aufblitzen von Intuition oder Hoffnung in dieser Hinsicht – wie wir weiter oben sahen – in einigen späten Äußerungen von Marx und Engels zu entdecken, nachdem sie die russische 131
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Vgl. Badia, Rosa Luxemburg, Erster Teil, Kapitel 2, S. 81–126; Frölich, Rosa Luxemburg, S. 141–156; Nettl, Rosa Luxemburg, S. 335–349, 365–370; Luxemburg, Briefe an Karl und Luise Kautsky, S. 89–180. Vgl. Badia, Rosa Luxemburg, S. 789 f.; Nettl, Rosa Luxemburg, S. 365–370. Brief an Henriette Roland-Holst, 3. 7. 1905, zit. in Luxemburg, Vive la lutte !, S. 227– 229; Luxemburg, Briefe an Karl und Luise Kautsky, S. 109; Brief an Emanuel und Mathilde Wurm, 18. 7. 1906, zit. in Luxemburg, Briefe an Freunde, S. 44; Kormanowa / Najdus ( Hg.), Historia Polski, Band 3.2, S. 334–561. Vgl. Kautsky, Ein sozialdemokratischer Katechismus, S. 368–403.
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revolutionäre Bewegung kennengelernt hatten und mit einigen ihrer Anführer im Exil, wie Wera Sassulitsch und Pjotr Lawrow, in Kontakt gekommen waren. Rosa Luxemburg hatte noch kein Wort dafür, doch sie scheint über die Entdeckung dieses Phänomens gestolpert zu sein : den Vorteil der Rückständigkeit.135 Sie lernte ihre Lektionen schnell. Als Nebenprodukt der militärischen Niederlage des imperialistischen Abenteuers an den frostigen Grenzen der Erde, das von einer Herrscherkaste von aristokratischen Spekulanten und einem wankenden russischen Regime unternommen worden war, das ängstliche ausländische Kredite sichern, Lorbeeren ernten und die Aufmerksamkeit vom feudal - monarchischen Despotismus ablenken sollte, hatten sich die ungebildeten, rückständigen, geknechteten Massen in Fabriken und Bauernhütten – ohne Organisation, politische Erfahrung, sozialistisches Bewusstsein, Gewerkschaften, Streikgelder, politische Parteien oder revolutionäre Vorbereitungen – spontan wie Lava, ohne feste Pläne oder Generalstab, der sie angeleitet hätte, gegen den Zaren mit seiner mächtigen Armee, riesigen Polizeimacht, seinen Geheimdiensten und der jahrhundertealten repressiven Bürokratie erhoben, und sie hatten den am meisten zu fürchtenden Despotismus in Europa in die Knie gezwungen. Flächendeckende Streiks überzogen das riesige Reich, paralysierten die Staatsmaschinerie und brachten die bürgerliche Gesellschaft zum Stillstand. Eine örtliche und nationale Führungsriege tauchte über Nacht aus dem Nichts auf, ohne von den existierenden Parteien vorbereitet oder geschaffen worden zu sein. Die Industriearbeiter zogen alle Klassen mit sich, die unzufrieden waren und irgendeinen Groll gegen das System hegten, besonders die Bauern, die vom städtischen Proletariat aus ihrem Schlummer geweckt wurden, und gemeinsam zwangen sie den Zaren, eine Verfassung zu gewähren und einen uralten Despotismus abzubauen. Dass solche Dinge in einem rückständigen Land und nicht in einem sehr fortschrittlichen Staat passierten, wo der überreife Kapitalismus auf seine vorgeschriebene strukturelle Krise zuging und eine sehr stark organisierte Arbeiterpartei, die eine langjährige doktrinäre Ausbildung besaß, die Massen mit fester Hand führte – wie es die akzeptierten Lehren vorhergesagt hatten –, lag paradoxer weise an der Tatsache, dass im Gegensatz zu ihren westlichen Gegenstücken die elenden, zitternden, ungebildeten, unorganisierten Massen Russlands nicht unter einer kopf lastigen Organisation, bürokratischem Konser vatismus, berechnenden, furchtsamen Gewerkschaftsbossen, Besitztümern und
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Vgl. Luxemburg, Massenstreik, S. 93–170. Über den Eindruck der russischen Revolution von 1905 auf Rosa Luxemburg siehe : Badia, Rosa Luxemburg, S. 81–126; Frölich, Rosa Luxemburg, S. 101–153; Laschitza / Radczun, Rosa Luxemburg, S. 145– 165; Oelssner, Rosa Luxemburg, S. 37–54; Schurer, The Russian Revolution; Szlezinger, Teoretyczne podstawy, S. 135–153.
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Geldmitteln, wertgeschätzten Gewinnen oder verdeckten Interessen litten. Sie hatten nichts zu verlieren als ihre Ketten.136 Hatte doch bereits Marx in seiner Phase vor 1848 auf das deutsche Proletariat geschaut, das einen so wagemutigen Sprung nach vorn machen sollte, der so weit reichen sollte, wie es seiner Rückständigkeit im Vergleich zu den Arbeiterklassen in den fortschrittlicheren Ländern wie England und Frankreich entsprach, und der über sie hinausreichen sollte – proportional zu seinen Nachteilen im Vergleich zu den westlichen Genossen –, um die Lasten des Absolutismus, Klerikalismus, Partikularismus, Feudalismus, von denen die westlichen Arbeiter bereits befreit worden waren, wie auch die Bürde der kapitalistischen Ausbeutung mit einem Ruck von den Schultern abzuschütteln.137 Die Ereignisse in Russland hatten Rosa Luxemburg in ihrem glühenden Glauben bestätigt, dass der Generalstreik die moderne revolutionäre Waffe par excellence war; nicht nur in Russland, sondern noch eher auf die neuen Bedingungen andernorts anzuwenden. Die alten Ideen des chartistischen Flugblattschreibers Benbow, Verfasser des Grand National Holiday, und noch früher von Owen, Doherty und den britischen Protosyndikalisten um 1830, die von den beklagenswerten Misserfolgen bei ihren ersten praktischen Versuchen völlig diskreditiert worden waren, gewannen gegen Ende des 19. Jahrhunderts neue Relevanz.138 Es wurde allen klar, dass große, äußerst disziplinierte, moderne Armeen mit ihrem neuen Waffenarsenal, den neuen, raschen Transportmöglichkeiten und der Einführung der Stadtplanung zusammenwirkten und den Barrikadenkampf unmöglich sowie den spontanen Aufstand der von Studenten und Untergrundaktivisten angetriebenen Massen zu einer Illusion gemacht hatten. Der Generalstreik machte keine Konfrontation mit bewaffneten Kräften erforderlich. Er zielte darauf ab, die Gesellschaft zu paralysieren, indem er die kapitalistische Produktion, die Funktionsweise des Staates und die Bewegung seiner bewaffneten Streitkräfte zum Stillstand brachte. Er war darauf angelegt, in den streikenden Massen ein Gefühl wagemutiger und kämpferischer Solidarität auszulösen. Die Streikenden sollten die Armee und Polizei nicht angreifen, sie aber zu ungesetzlicher Gewalt provozieren, die wiederum unter den menschlicheren Angehörigen der Streitkräfte Mitleid mit dem Volk her vorrufen würde. Auf diese Weise würden die Angehörigen des Establishments und nicht die Streikenden gezwungen, die Verantwortung für den Gesetzesbruch zu tragen. Es würde entweder durch verzweifelte Machtlosigkeit ins Wanken geraten, da es auch die bürgerliche Unterstützung verloren hätte, oder 136 137 138
Vgl. Luxemburg, Massenstreik, S. 134 f. Vgl. Talmon, Die Geschichte der totalitären Demokratie, Band 2, S. 237–239. Vgl. Cole, British Working Class Politics, S. 11–21; Webb / Webb, The History of Trade Unionism, S. 117 f., 157–168.
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seine Niederlage in bewaffneten Zusammenstößen mit den rebellierenden Massen erleiden. Aus Zensurgründen konnte Rosa Luxemburg auf den bewaffneten Aufstand als Höhepunkt der Kette von Ereignissen, die durch einen Generalstreik ausgelöst würden, nur indirekt anspielen (und das auch nur in Form eines Kommentars über die russische Revolution von 1905). Aus Hingabe zur Massenspontaneität und tiefem Misstrauen gegen die SPD - Führung ver warf Rosa Luxemburg die bolschewistische Idee der technischen Vorbereitung eines solchen Aufstands durch die Partei. Die Massen selbst würden losbrechen, nachdem sie von der Partei die angemessene Ausbildung erhalten hätten.139 Rosa Luxemburg wurde zur Theoretikerin, ja zur Poetin des Generalstreiks und zog sich auf diese Weise den tiefen und dauerhaften Hass der Gewerkschaftsführer zu, die dem Generalstreik den Spottnamen „der Allgemeine Wahnsinn“ gaben und nicht ruhten, bis sie die SPD dazu gebracht hatten, jede öffentliche Diskussion über diese Frage zu verbieten. Sie gingen noch weiter und nötigten die Parteileitung, ein geheimes Versprechen abzugeben, dass keine politische Frage, die in irgendeiner Weise die Gewerkschaften betraf, ohne vorherige Konsultation und Zustimmung der Generalkommission entschieden werden sollte. Das bedeutete, der Partei jede Entscheidungsfreiheit zu nehmen und die Niederlage jeder Idee, die nach Radikalismus klang, sicherzustellen.140 Während die Parteidoktrinäre die Gewerkschaften als Handlanger der politischen Bewegung, als deren Kader und Instrumente im politischen Kampf um den Sozialismus und die Revolution betrachteten, waren die Gewerkschaftsbosse sich nicht zu schade dafür, die Parteiführer daran zu erinnern, wo die Parteigelder und Millionen von Wählern herkamen. Es ging auch um die Frage der Loyalität. Sie behaupteten, dass ein Großteil ihrer Mitglieder gar nicht an Politik interessiert sei, sich aber auf die Gewerkschaften verließ, wenn es um die Verteidigung ihrer wirtschaftlichen Interessen ging, und unwillig sei, für politische Zwecke missbraucht zu werden, die sie nicht zu unterstützen beabsichtigten. Sie wollten ihre Lebensgrundlage nicht durch revolutionäres Abenteurertum in Gefahr gebracht sehen.141 Tatsächlich wurde der Generalstreik zu der Zeit als Druckmittel für ein politisches Ziel – die Ausdehnung des Stimmrechts – in ziemlich vielen Ländern eingesetzt, insbesondere in Belgien ( sehr erfolgreich ), Schweden, Österreich und Italien. Rosa Luxemburg behauptete auch, die russischen Ereignisse des Jahres 1905 – ein Jahr, das übrigens eine große Zahl weitgreifender wirtschaftlicher Streiks in Deutsch-
139 140 141
Vgl. Luxemburg, Massenstreik, S. 142–145; dies., Wybór Pism, Band 1, S. 599 : Rede auf dem 5. Kongress der S.D.P.R.R. in London, Mai 1907. Vgl. Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der SPD, Mannheim, 23.– 29. 9. 1906, S. 289–305; Schorske, German Social Democracy, S. 48–53. Vgl. Ritter, Die Arbeiterbewegung, S. 170–175.
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Die Lektionen von 1905 in Russland
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land erlebte – hätten die gegenseitige Abhängigkeit wirtschaftlicher und politischer Faktoren in einem Generalstreik gezeigt.142 Die bloße Parole vom Generalstreik provozierte die deutschen Behörden dazu, eine Gesetzgebung gegen Streiks jeder Art zu initiieren, unter dem Vor wand, arbeitswillige, aber von Militanten eingeschüchterte Arbeiter verteidigen zu müssen. Doch im Parlament wurde der berühmte „Zuchthaus - Antrag“ mit bürgerlich - liberaler Unterstützung abgelehnt. Ein tatsächlich ausbrechender Generalstreik würde jedoch gewiss den Entschluss des reaktionären Establishments stärken, die Gewerkschaftsbewegung zu brechen und sie um Jahrzehnte zurückzuwerfen. Es sei reiner Wahnsinn – beharrte die Gewerkschaftsführung –, sich ohne angemessene, gründliche Vorbereitung, Streikorganisationen, Geldmittel und gut gefüllte Getreidespeicher auf ein solches Abenteuer einzulassen. Rosa Luxemburg konnte nur tiefes Entsetzen und schmerzliche Empörung über diese kleinbürgerliche Furchtsamkeit empfinden : „Was sollen wir am Tag des Jüngsten Gerichts essen ?“142z Während sie Lobeshymnen auf die russischen Massen sang, konnten die gewöhnlichen deutschen Arbeiter nur erzürnt auf den Gedanken reagieren, dass die ungebildeten, schmutzigen Mushiks – die russischen Kleinbauern – ihnen als Lehrer dienen sollten. Ebenso konnten die sozialdemokratischen Aktivisten nur die Stirn runzeln, als sie erfuhren, dass die nörglerischen, hoffnungslos doktrinären revolutionären Emigranten aus Russland, die Tage und Nächte mit haarspalterischen Diskussionen über Wortunterschiede verbrachten ( die dem Verstand der praktisch veranlagten deutschen Arbeiterklasse nichts bedeuteten ) und denen jede politische Erfahrung und Verantwortung fehlte, zu Führern und Beratern der ersten, am weitesten fortgeschrittenen, mächtigsten sozialdemokratischen Partei des zivilisiertesten Landes der Welt werden sollten.143
142
Vgl. Schorske, German Social Democracy, S. 38; Luxemburg, Massenstreik, S. 127– 129, 130, 140. 142z A. d. Ü. : Zitat nicht nachweisbar. Siehe jedoch Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der SPD, Jena, 17.–23. 9. 1905, S. 320 f. ( zu finden auch in Luxemburg, Gesammelte Werke, Band 1/2, S. 601–603) und Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der SPD, Mannheim, 23.–29. 9. 1906, S. 260–262 ( zu finden auch in Luxemburg, Gesammelte Werke, Band 2, S. 171–173). 143 Vgl. Schorske, German Social Demoracy, S. 53–58; Steinberg, Sozialismus und Deutsche Sozialdemokratie, S. 72–75; Berlau, The German Social Democratic Party, Kapitel 2.
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VII. Die ein zi ge und unteil ba re Welt re vo lu ti on – im Zeit al ter des Impe ria lis mus In ihrem Pamphlet Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, das die russische Erfahrung zusammenfasste, gab Rosa Luxemburg die bedeutsame, wenn auch kryptische Stellungnahme ab, dass die Vorkommnisse in Russland keine spezifisch russische Angelegenheit, sondern ein Ereignis von größter Wichtigkeit für die deutsche Arbeiterbewegung seien, ja sogar ein Meilenstein in der deutschen Geschichte überhaupt, der in seiner Bedeutung die lokalen, provinziellen Geschehnisse im Reich selbst übertreffe.144 Es war ein Symptom und ein Zeichen dafür, dass internationale Entwicklungen dabei waren, das Schicksal der nationalen Arbeiterbewegungen zu überschatten und zu prägen. Rosa Luxemburg gab sich große Mühe, die Ereignisse in Russland als anfängliche, lokale Manifestationen eines universalen Prozesses darzustellen. Es habe „Madame Geschichte“ gefallen, Russland als Ausgangspunkt für ihren nächsten, dramatischen Sprung nach vorn zu wählen. Die Weltgeschichte als Ganzes war beim Ausbruch des Aufstands in Russland in eine neue, revolutionäre Phase eingetreten. Genau wie Rosa Luxemburg, Par vus, Trotzki, Radek und andere osteuropäische jüdische Emigranten wurden Sozialisten wie der österreichisch - jüdische Ökonom Hilferding ( natürlich nicht ohne den Einfluss von Hobsons berühmtem Buch über den Imperialismus ) sich schlagartig der primären und allbestimmenden Bedeutung dessen gewahr, was Parvus Weltpolitik nannte (so der Titel seiner neuen Zeitschrift). Für ihn wie für Rosa Luxemburg war der neue Zustand der Gärung in den internationalen Beziehungen nur der politische Aspekt der zweiten industriellen Revolution. Die neue Sturm - und - Drang - Ära des Kapitalismus war von der Industrialisierung Russlands und der Vollendung der Transsibirischen Eisenbahn her vorgebracht worden; von der Verbindung der zwei Ozeane durch die transkontinentale Eisenbahn in den Vereinigten Staaten; von den Anfängen der intensiven Ausbeutung der Prärien in Nord - und Südamerika; von der Einführung gigantischer Frachtschiffe mit Kühleinrichtungen; von der Öffnung Chinas für den internationalen Handel; von dem Gerangel um Märkte, Mineralien, Erdöl und andere Rohstoffe auf dem asiatischen, afrikanischen und lateinamerikanischen Kontinent; von den technischen Fortschritten in Elektrizität und Chemie, der Erfindung des Dieselmotors, des Telefons, der Schreibmaschine; von der riesigen Expansion des Aktienkapitals; vom Aufstieg gigantischer nationaler und internationaler Bank - , Industrie - und Wirtschaftskonzerne. 144
Vgl. Luxemburg, Massenstreik, S. 150.
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Diese bedeutenden technisch - industriellen Entwicklungen rissen die letzten Wälle nationaler und lokaler Autarkie und ökonomischer Selbstgenügsamkeit nieder und schufen eine einzige Weltwirtschaft, einen Weltmarkt und eine Weltwerkstatt.145 Der provinziellen deutschen Haltung und der Unbeweglichkeit der SPD müde, fand Rosa Luxemburg in diesen Entwicklungen genügend überzeugende Beweise für die rasch reifende Polarisierung der Welt zu einem universellen Kapitalismus und einem universellen Proletariat, das nun aus den unkorrumpierten Arbeitermassen der westlichen Welt und den Massen der kolonisierten Völker bestand, die wirtschaftlich gnadenlos ausgebeutet und auf erniedrigende Weise als unter worfene Nationen unterdrückt wurden und deren ursprüngliche Wirtschaft und Lebensweise am Boden lag. Sie entwickelte ihre ökonomische Theorie des Imperialismus, die, als die reife Frucht ihrer Überlegungen und Recherchen – Die Akkumulation des Kapitals – 1913 erschien, selbst von mar xistischen Ökonomen mit gemischten Gefühlen aufgenommen wurde.146 Kurz gesagt, kam sie über eine Rückkehr zu ihrem Lieblingsthema – dass der von einer unwiderstehlichen Kraft angetriebene Kapitalismus immer weiter überproduzieren und durch weitere und intensivere Ausbeutung von Ressourcen expandieren müsse – zu der Schlussfolgerung, dass in den hochentwickelten kapitalistischen Ländern die Möglichkeiten für eine solche Ausbeutung eine Grenze erreicht hätten; es ließen sich keine neuen Rohstoffe, keine weiteren Arbeitsreser ven, keine neuen Konsumenten mehr finden. Der Kapitalismus würde bald auch jede Möglichkeit für eine weitere Ausbeutung in der großen Welt erschöpft haben. Er erreichte die Grenzen der Erde, wie er es musste, denn kein Kapitalismus konnte sich für lange Zeit auf einen festgelegten, begrenzten Markt beschränken. Der bevorstehende Wegfall neuer Expansionsmöglichkeiten erzeugte einen rasenden Wettlauf zwischen den imperialistischen Kräften, der, noch bevor der globale Kapitalismus sich in eine Sackgasse und somit in einen unvermeidbaren Kollaps auf Weltebene hineinmanövrieren würde, einen Krieg auslösen musste. Diese Ansicht stand stark im Gegensatz zu jener, die Kautsky für eine Weile vertrat: dass die imperialistische Ausbeutung durch die Zunahme internationaler Interessen und Wirtschaftsabkommen eher zu einer friedlichen Aufteilung des 145
146
Siehe zu den sozialistischen Theorien des Imperialismus : Par vus, Die Gewerkschaften und die Sozialdemokratie; ders., Marineforderungen; Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals oder Was die Epigonen aus der Marxschen Theorie gemacht haben. Eine Antikritik; Hobson, Imperialism; Hilferding, Das Finanzkapital; Radek, Der deutsche Imperialismus; Karski, Krieg, Zusammenbruch und Revolution. Vgl. Luxemburg, The Accumulation of Capital, S. 13–28 ( Einleitung von Joan Robinson ); Badia, Rosa Luxemburg, S. 484–539 ( besonders S. 486 f.); Nettl, Rosa Luxemburg, S. 507–513.
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Globus und zu friedlicher internationaler Zusammenarbeit führen könnte. In ihrer hektischen Eile, die Unvermeidbarkeit eines unmittelbar bevorstehenden Zusammenbruchs des Kapitalismus zu beweisen, ignorierte Rosa Luxemburg solche Fakten wie das zunehmende Volumen des Handels zwischen den Großmächten, der die Kolonialmärkte in den Schatten stellte. Industrielle Investitionen waren für sie mit demselben Fehler behaftet : Konzessionen in China und Südamerika, westliche, besonders französische, Kredite für Russland; und die Ausbeutung von Mineralvorkommen in Afrika.147 Rosa Luxemburg fuhr damit fort, nachzuweisen, dass die erbitterte Rivalität zwischen imperialistischen Interessen mit großen Armeen und gewaltigen Seeflotten sowie durch Invasionen unterstützt werden musste, um Konkurrenten zuvorzukommen, und mit Strafexpeditionen, um aufrührerische Kolonialvölker niederzuringen. Militarismus und Flottenpolitik waren die unzertrennlichen Gefährten des Kolonialismus. Sie erforderten enorme Ausgaben und tödliche Risiken, und diese konnten nur durch die Parlamente gebracht werden, indem durch die Boulevardpresse, die egoistische, raubgierige kapitalistische Projekte als lebenswichtige nationale Interessen präsentierte und jeden Streit und Störfall an den fernen Enden des Globus ( wie den Mord an einem weißen Missionarspaar in China oder die Konfrontation in Faschoda ) zu Angelegenheiten von nationaler Ehre und Prestige machte, in betrügerischer Absicht ein nationalistischer Rausch unter den erregbaren Massen her vorgerufen wurde.148 Rosa Luxemburg kann beanspruchen, die Erste gewesen zu sein, die eine Theorie des militärisch - industriellen Komplexes entwickelte, ohne den Begriff selbst geprägt zu haben. In Deutschland machten die engen wirtschaftlichen, sozialen und sogar familiären Bindungen zwischen einer beinahe erblichen Militärkaste und der Schwer - ( besonders auch Rüstungs - )Industrie die Theorie von einem rechtmäßigen gemeinsamen Interesse an Krieg und Kriegsvorbereitungen, die am Laufen gehalten und in der Tat ständig ausgeweitet werden mussten, durchaus glaubhaft.149 Die Häufigkeit internationaler Krisen wie die in Faschoda, die zwei Auseinandersetzungen um Marokko, die bosnische Annexionskrise, Kriege wie die amerikanische Invasion in Kuba, amerikanische Abenteuer im Pazifik, die Explosionen auf dem überhitzten Balkan, der Chinesisch - Japanische, Rus147 148
149
Siehe zu Imperialismus und Militarismus : Kautsky, Sozialismus und Kolonialpolitik; ders., Der Imperialismus, S. 908 ff. Vgl. Luxemburg, Sozialreform oder Revolution ?, S. 395–400; dies., Miliz und Militarismus, S. 100–125; Semmel, Imperialism and Social Reform, Kapitel 1–3; Lichtheim, Imperialismus, Kapitel 6 und 7; Koebner / Schmidt, Imperialism; Kiernan, Mar xism and Imperialism, S. 9–27. Vgl. Born, Der soziale und wirtschaftliche Struktur wandel.
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sisch- Japanische und Libysche Krieg, die Revolutionen in China, der Türkei und Persien, die Unruhen in Indien und die Aufstände in Afrika, ganz zu schweigen von der unverminderten allgemeinen Aufrüstung und besonders der englisch - deutschen Flottenrivalität über den halsabschneiderischen Wettbewerb hinaus – all das zeugte von der Gefahr einer unmittelbar bevorstehenden globalen bewaffneten Konfrontation zwischen den Großmächten mit Hilfe ihrer Satellitenstaaten, hauptsächlich als ein Mittel, durch Kriege, die alle Patrioten um die Fahne versammeln und eine Möglichkeit bieten würden, antinationale Elemente im Land bloßzustellen und zu beseitigen, einen Weg aus internen sozialen und politischen Schwierigkeiten zu finden.150 Mit einem Quer ver weis auf Deutschland zeigte Par vus - Helphand, dass der Russisch - Japanische Krieg aus den Problemen eines korrupten Despotismus entstanden war, der verzweifelt nach ausländischen Anleihen suchte. Er musste sich als glaubwürdiger Schuldner erweisen, indem er auf dem Schlachtfeld Tapferkeit zur Schau stellte und nach der Kriegsbeute hastete, um nicht, wie Ludwig XVI., die Nation um Geld bitten, seine Konten offenlegen und das Defizit des Zaren in den Schatz der Nation umwandeln zu müssen. Par vus hatte schon früher prophezeit, dass in einem internationalen Krieg das schwächste Glied in der Kette der kapitalistischen Länder zuerst nachgeben würde, unfähig, die kolossalen Bürden der modernen Kriegsführung zu tragen und ohne Massenunterstützung. Einer Niederlage auf dem Schlachtfeld würden innere Unruhen folgen, die in Streiks, Rebellionen und eine Revolution münden würden. Die Zaren - Tyrannei würde durch die gemeinsame Anstrengung aller Klassen, mit der Arbeiterklasse an der Spitze, gestürzt und eine bürgerlich - parlamentarische Demokratie eingeführt. Doch das wäre nicht das Ende der Geschichte. Das russische Proletariat war zu jener Zeit nicht in der Lage, den Übergang von einem bürgerlichen liberaldemokratischen Regime zu einer sozialistischen Gesellschaft allein zu bewerkstelligen. Rosa Luxemburg ihrerseits war ebenfalls davon überzeugt, dass das Bürgertum am Beginn des 20. Jahrhunderts weder die Fähigkeit noch das Interesse und den Willen besitze, die es im vorangehenden Jahrhundert bei seiner Konfrontation mit Absolutismus und Feudalismus gehabt hatte, um für eine parlamentarische Demokratie zu kämpfen und sie zu erhalten. Die Massen würden daher angetrieben, direkt von der bürgerlich - demokratischen zur sozialistischen Revolution überzugehen. Sie würden auf wahrhaft demokratische Weise als Retter der wahren Demokratie handeln. Außerdem : Wenn die Fackel der Revolution erst einmal an den Westen weitergereicht worden sei, würde sie – so behaupteten Par vus und Trotzki – von den dortigen sozialistischen Parteien übernommen werden. Nach der Durchführung einer sozialen Revolution 150
Vgl. Luxemburg, Rosa Luxemburg im Kampf gegen den deutschen Militarismus.
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gegen eine überforderte Klassenregierung würde das siegreiche westliche Proletariat herbeieilen, um seinen russischen Brüdern zu helfen, den Sozialismus einzuführen; zuerst, indem es sie von der Angst vor Einmischungen durch reaktionäre konterrevolutionäre Mächte befreite, und dann, indem es ihnen seine Erfahrung und jede andere notwendige materielle Hilfe anböte.151 Die politische Aussicht auf einen internationalen imperialistischen Krieg als Hebel der Revolution begann die Erwartung eines rein ökonomischen Zusammenbruchs des Kapitalismus abzulösen. Das bedeutete faktisch die Anknüpfung an eine ältere revolutionäre Tradition in Europa, deren Anhänger Marx und Engels vor 1848 und auch noch eine Weile danach gewesen waren. Doch jegliche Berechnungen dieser Art hingen von dem Verhalten der Massen in den Krieg führenden Ländern am Vorabend des Krieges und nach Beginn der Feindseligkeiten ab. In einem Aufblitzen von Intuition nahmen selbst die älter werdenden Marx und Engels wahr ( doch nach ihnen taten dies sozialistische Denker und Führer wie Kautsky, Victor Adler und Karl Liebknecht noch deutlicher ), dass der Mythos der Revolution in zunehmender Gefährlichkeit mit einem anderen mächtigen Mythos konfrontiert wurde, dem der Nation. Die Bourgeoisie, rief Liebknecht aus, habe im Militarismus eine Antwort auf den Sozialismus gefunden, was ein anderes Wort für Nationalismus und Imperialismus sei.152 Das zeigte sich klar und deutlich bei den Hottentotten - Wahlen von 1907, die, wie oben bereits erwähnt, den einzigen ernsthaften Rückschlag für die SPD seit 1884 brachten. Noch deutlicher und mit ihrer üblichen größeren Heftigkeit begriff Rosa Luxemburg, dass der Nationalismus als solcher der Stolperstein und Feind war. Die Entwöhnung der Massen vom zwingenden Griff des patriotischen Nationalismus und ihre Umerziehung im Geiste des Antimilitarismus hatten in ihren Augen zum Ziel, den Ast abzusägen, auf dem die herrschenden Klassen saßen, ihre Daseinsberechtigung zu unterminieren, ihre moralische Autorität zu diskreditieren, kurz : die Bedingungen für die Zerstörung des existierenden Regierungssystems und der Klassenbasis, auf der es beruhte, zu schaffen.153 Unter dem Eindruck des Fehlschlags der Massenkampagne gegen das preußische Wahlrecht, die sich nicht zu einem echten Aufstand entwickelte ( wegen des Kleinmuts der SPD - Führung, die Angst bekam, die Kontrolle über die 151
152 153
Siehe zur permanenten Revolution : Trotzki, Die permanente Revolution; Deutscher, Trotzki, Band 1, Kapitel 6; Par vus, Introduction to Trotsky’s pamphlet ‚Do devjatogo janvarja‘ ( Vor dem 9. Januar ); ders., Vojna i revoljucija ( Krieg und Revolution); ders., Naši zadači ( Unsere Aufgaben ); Knei-Paz, The Social and Political Thought of Leon Trotsky, Kapitel 4. Vgl. Liebknecht, Militarismus und Antimilitarismus, S. 276–278. Vgl. Internationaler Sozialistenkongress zu Stuttgart, 18.–24. 8. 1907, S. 102.
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Massendemonstrationen zu verlieren ), und aus Entsetzen über die wachsende Bürokratisierung des Parteiapparates konzentrierte sich Rosa Luxemburg immer mehr auf den Militarismus. Karl Liebknechts Forderung nach antimilitaristischer Agitation unter den Rekruten und in der Armee, Rosa Luxemburgs Reden zur Anstiftung der proletarischen Soldaten, nicht auf den Feind zu schießen und ihren Offizieren den Gehorsam zu ver weigern, wenn der Krieg ausgebrochen war – was ihr am Ende des in der Öffentlichkeit viel beachteten Prozesses von 1913 eine Gefängnisstrafe einbrachte –, waren nicht nur an die Staatsautorität und an die patriotischen Klassenfeinde gerichtete Herausforderungen. Sie wurden auch als Handlungen gesehen, die darauf zielten, die Sozialdemokratische Partei von der Spitze bis zur Basis zu spalten und die Bewegung in einer Konfrontation zwischen dem reformistischen Flügel und der extremen Linken zu polarisieren, wobei die Mitte gezwungen werden sollte, sich für eine Seite zu entscheiden oder aus der Partei herausgedrängt zu werden.154 Dies zeigte sich deutlich, als Rosa Luxemburg zur Zeit der Agadir Krise die geheime Korrespondenz zwischen dem Parteisekretär, Molkenbuhr, und dem Sekretär der Zweiten Internationale, Huysmans, in die Hände fiel und sie diese veröffentlichte. Darin bat Ersterer den Letzteren, die internationale Auseinandersetzung einzudämmen, um der SPD in der kommenden Wahlkampagne keine Schwierigkeiten zu bereiten. Die loyalen Parteimänner waren über Rosa Luxemburgs Indiskretion erbost, die von ihrem Standpunkt aus Undisziplin und in den Augen manch anderer geradezu Verrat darstellte. Doch sie setzte eine Gegenoffensive gegen jene in Bewegung, die, wie sie sagte, einige Sitze im Parlament sowie parlamentarische Idiotie im Allgemeinen über ihre heilige Pflicht stellten, Militarismus und Imperialismus zu bekämpfen.155 Dementsprechend stellte sie die Loyalität für die Sache des internationalen Proletariats und die Revolution entschieden über den Gehorsam gegenüber der nationalen Parteileitung und implizit über patriotische Überlegungen.156 Engagement für die internationale Revolution oder Loyalität gegenüber der Nation sollte zum Erkennungszei-
154
155
156
Vgl. Badia, Rosa Luxemburg, S. 161–166; Laschitza / Radczun, Rosa Luxemburg, S. 223–225; Oelssner, Rosa Luxemburg, S. 72–104; Schorske, German Social Democracy, S. 187–196. Vgl. Badia, Rosa Luxemburg, S. 183; der Brief wurde von Rosa Luxemburg in der Leipziger Volkszeitung vom 24. 7. 1911 veröffentlicht; Laschitza / Radczun, Rosa Luxemburg, S. 256–278; Schorske, German Social Democracy, S. 197–201; Nettl, Rosa Luxemburg, S. 428–433; Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der SPD, Jena, 10.–16. 9. 1911, S. 204–218. A. d. Ü. : Zu finden auch in Luxemburg, Gesammelte Werke, Band 3, S. 45–56. Vgl. Kancewicz, Rosa Luxemburg 407–409; Ciołkosz, Róża Luksemburg a rewolucja rosyjska ( Rosa Luxemburg und die russische Revolution ).
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chen der schicksalhaften Spaltung in der sozialistischen Bewegung Europas im Ersten Weltkrieg werden. Wir können sehen, wie sie im Zweiten Reich vorbereitet wurde durch die Konfrontation zwischen Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Clara Zetkin, Franz Mehring auf der einen und dem Establishment der Partei auf der anderen Seite, mit Männern der Mitte wie Karl Kautsky, Haase, Hilferding, Ledebour und anderen, die niemals aufhörten, zwischen der Revolution und parlamentarischen Maßnahmen, sozialistischem Internationalismus und der Verpflichtung gegenüber der nationalen Gemeinschaft zu schwanken. Keine Frage war delikater oder explosiver. Rosa Luxemburg hatte in Deutschland einen sicheren und erklärten Verbündeten. Als er sich auf dem Chemnitzer Parteitag von 1912 über den Weltbrand äußerte, der von den herrschenden Klassen vorbereitet wurde, zitierte Karl Liebknecht die alte Maxime si vis pacem, para bellum: „Wenn wir den Völkerfrieden wollen, müssen wir den Krieg, den Klassenkampf bereiten, ihn mehr und mehr international führen und schüren.“157 Die Chemnitzer Parteikonferenz nahm eine Resolution an, die der Mitte und der Linken zusagte : gegen Chauvinismus, Imperialismus und die Kriegsbedrohung und für internationale Solidarität. Der Bericht des Zentralkomitees an den Chemnitzer Parteitag bestätigte jedoch : „Kein Sozialdemokrat [ denkt daran ], das Reich wehrlos zu machen.“ Stattdessen schwor man, „den Eroberungsgelüsten entgegenzutreten, die sich innerhalb unseres Volkes bemerkbar machen“, und fuhr fort : „Dagegen halten wir es für selbstverständlich, unser Land, unsere Kultur zu verteidigen und zu schützen [...]. Der Vor wurf der Vaterlandslosigkeit gegen die Sozialdemokratie ist albern.“158 Der Jenaer Parteitag von 1913 war durch seine über wältigende Entscheidung (336 zu 140 Stimmen ) zugunsten der Unterstützung der Erbschaftssteuer sowie abgestufter Einkommens - und Eigentumssteuern ein Meilenstein in der Geschichte der SPD, weil diese Steuern hauptsächlich die besitzenden Klassen trafen; und dies trotz der Tatsache, dass damit die Rüstung finanziert werden sollte, was für die Radikalen gleichbedeutend damit war, den Militarismus zu unterstützen. Die Konferenz ver warf mit ähnlich erdrückender Mehrheit (333 zu 142 Stimmen ) Rosa Luxemburgs Antrag zur Wiederbelebung der Frage des politischen Generalstreiks als Teil einer „offensiven, entschlossenen und konsequenten Taktik der Partei auf allen Gebieten, [...] die Erscheinungsform
157
158
Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der SPD, Chemnitz, 15.–21. 9. 1912, S. 427. Das war 1908 ebenso die Ansicht Lenins ( mit besonderer Betonung auf „dem revolutionären demokratischen Kampf in Asien“). Vgl. Gankin / Fisher, The Bolsheviks and the World War, S. 65 f. Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der SPD, Chemnitz, 15.–21. 9. 1912, S. 119.
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des proletarischen Kampfes in der Revolution“.158y Rosa Luxemburg kommentierte das abschlägige Votum mit einer Prophezeiung : Wenn der Krieg ausbräche, würden die schlaffen, zögernden, fehlgeleiteten Parteiführer „von den Massen geschleift“.158z Die Dinge gingen, wie wir wissen, anders aus. Rosa Luxemburg sollte sich in Bezug auf die Massen wieder einmal irren. „Es ist bedeutsam“, schreibt William Maehl, „dass die Minderheit, mit einem halben Dutzend Ausnahmen, aus denselben Personen bestand, die in Sachen Steuerpolitik gegen Wurms Antrag gestimmt hatten. [...] Von den vierzehn, die später in der SPD - Fraktionssitzung vom 3. August 1915 gegen die Kriegskredite stimmten, gaben alle bis auf drei ihre Stimme in Jena für Luxemburgs Resolution ab. Darüber hinaus stimmten von den 32 Sozialisten, die entweder in der Reichstagsvollversammlung am 20. März 1915 gegen Kriegskredite stimmten oder den Saal unter Protest verließen, alle bis auf sieben für Luxemburgs Resolution.“159 Dieselben Kommentare finden sich bei Carl Schorske.160 Die Polarisierung der deutschen Sozialdemokratie wurde durch den Kampf des Mythos der Nation gegen den Mythos der Revolution ausgelöst.
158y Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der SPD, Jena, 14.–20. 9. 1913, S. 194 ( erster Teil des Zitats; A. d. Ü. : Zu finden auch in Luxemburg, Gesammelte Werke, Band 3, S. 329); Luxemburg, Massenstreik, S. 125 ( zweiter Teil des Zitats ). 158z Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der SPD, Jena, 14.–20. 9. 1913, S. 293. A. d. Ü. : Zu finden auch in Luxemburg, Das Offiziösentum der Theorie, S. 321. 159 Maehl, The Triumph of Nationalism, S. 38. 160 Vgl. Schorske, German Social Democracy, S. 276–284.
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VIII. Natio na lis ti scher Sepa ra tis mus oder revo lu tio nä rer Klas sen in ter na tio na lis mus im pol ni schen Sozia lis mus In ihrem kompromisslosen Engagement für eine Art von dialektisch - materialistischem Monismus, der jeder Lehre aus Geschichte und Soziologie widersprach, war Rosa Luxemburg die konsequenteste und extremste unter den Internationalisten.161 In ihren erbitterten Auseinandersetzungen mit der nationalistischen Mehrheit der polnisch - sozialistischen Bewegung pflegte sie die Wörter „Nation“ und „national“ in Anführungszeichen zu setzen. Sie war abgestoßen von Sozialdemokraten, die die Nation als primäre und ewige Einheit vor allen Klassenunterschieden betrachteten, als ob sie das einzige historische Phänomen wäre, das keine Austauschfunktion in den Produktionsweisen oder sich ändernden Klassenverhältnissen darstellte, eine vorrangige Existenz aufweise sowie für immer andauere, welche sozialen Veränderungen die geschichtliche Entwicklung auch immer her vorbringe. „Patriotismus und Sozialismus, das sind zwei Ideen, die sich auf keine Weise in Einklang bringen lassen“.162 Das Vaterland eines Sozialisten sei „die große Masse der arbeitenden Männer und Frauen“.163 In Annäherung an Marx’ Formel beharrte Rosa Luxemburg auf dem Kongress der Zweiten Internationale im Jahre 1900 in Paris darauf, es sei nicht die Aufgabe des Proletariats, die Landkarte Europas, wie sie die Geschichte gezeichnet habe, zu ändern, sondern sich für den Kampf für eine sozialistische Republik zu wappnen.164 Sie war entsetzt darüber, dass Leute, die sich als Mar xisten bezeichneten, einen Unterschied zwischen „uns“ Polen und „ihnen“, den Deutschen, Russen usw. machten, statt zwischen „uns“ Proletariern und „ihnen“, den Bürgerlichen, zu unterscheiden: Ein deutscher Arbeiter stand einem polnischen Arbeiter näher als ein polnischer Grundbesitzer und Unternehmer. Sie wurde niemals müde, auf den in jeder Hinsicht unüberbrückbaren Differenzen zwischen Proletariat und Bürgertum zu bestehen – Interessen, Mentalität, Moral, Weltanschauung, Zielen
161 162 163 164
Vgl. Kancewicz, Rosa Luxemburg, S. 411 f. Luxemburg, Dem Andenken des „Proletariats“, S. 313. Luxemburg, Rosa Luxemburg im Kampf gegen den deutschen Militarismus, S. 97. Vgl. Luxemburg, Wybór Pism, Band 2, S. 119 ff.; Internationaler Sozialistenkongress zu Paris, 23.–27. 9. 1900, S. 27.
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Nationaler Separatismus
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und ästhetischen Ansichten.165 Dagegen wies sich Ignacy Daszyński, der Führer der polnischen Sozialdemokratischen Partei in Galizien und Kopf der österreichischen sozialdemokratischen Fraktion im Wiener Reichsrat, stets als Pole und Sozialist aus.166 Rosa Luxemburg war sich dessen bewusst, dass sie mit Marx’ Haltung zu Polen, die das sozial - ökonomische Substrat des polnischen Problems völlig ignorierte, nicht übereinstimmte; trotzdem verteidigte sie die Idee, dass Polens Unabhängigkeit ein grundlegendes, unveränderliches Postulat der europäischen Revolution sei, welche sozial - ökonomischen Bedingungen in Polen auch immer vorherrschen mochten. In ihrer Korrespondenz mit Jogiches sagte sie, sie sei weit davon entfernt, Marx bekämpfen zu wollen, sie wolle ihn stattdessen übertreffen, ihn richtigstellen, und ihn dadurch mar xistischer und auf effektivere Weise monistisch machen.167 In diesem Geist begann sie damit, Marx’ Position im Lichte veränderter historischer Umstände umzuformulieren. Von der geopolitischen Bedeutung Polens für alle Pläne zur Neutralisierung des zaristischen Russlands und der Heiligen Allianz geblendet, ließ Marx es zu, dass sein Bild von Polen vollständig vom romantischen, aufständischen Revolutionsgeist der polnischen Emigranten und der Verschwörer im Lande bestimmt wurde, die von der romantischen patriotischen Tradition durchtränkt und fast ausschließlich die Söhne eines verarmten Kleinadels waren. Sie stellten das Produkt einer zerfallenden, wenn nicht bereits völlig überholten Natural - und Feudalwirtschaft dar. Inzwischen hatte es jedoch große Veränderungen gegeben. Das waren einmal die Abschaffung der Zollgrenze zwischen dem Russischen Reich und dem unter russischer Herrschaft stehenden Königreich Polen im Jahr 1861; dann das tragische Scheitern des Guerilla - Aufstands von 1863/64 unter Führung der „roten“ Mitglieder des Adels und ihrer Bediensteten und Verbündeten aus dem Kleinbürgertum und der verarmten Intelligenz; die Emanzipation der polnischen Leibeigenen durch den Zaren; der Untergang des revoltierenden Kleinadels als Ergebnis der Dezimierung der Aufständischen, des Exils nach Sibirien, der Strafkonfiszierung und des Verlustes der feudalherrschaftlichen Abgaben, der Feudalländereien und Bauerndienste; der industrielle Fortschritt Polens und das Aufkommen einer neuen bürgerlichen Mittelschicht, eines eigenen Kapitalismus und daher auch eines polnischen städtischen Proletariats; der Aufstieg einer dynamischen revolutio-
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Siehe als vollständigste englische Darstellung von Rosa Luxemburgs Ansichten über die nationale Frage : Luxemburg, The National Question. Über ihre Ansichten zur SPD vgl. Wehler, Sozialdemokratie und Nationalstaat, besonders Kapitel 6 : Die deutsche Sozialdemokratie und die preußischen Polen. Vgl. Feldman, Ignacy Daszyński; Luxemburg, Wybór Pism, Band 1, S. 446 ff. Vgl. Luxemburg, Wybór Pism, Band 2, S. 128 ff.
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nären Bewegung im zunehmend industrialisierten Russland selbst; und schließlich die veränderte Haltung Frankreichs, das von der Speerspitze der nationalen Befreiungsbewegungen zum Verbündeten des zaristischen Russlands geworden war. All diese Entwicklungen hatten den Hintergrund der Polnischen Frage und ihrer Relevanz für die internationale Revolutionsstrategie völlig verändert.168 Polen war in die Ära der Geldwirtschaft eingetreten und zu einem der wichtigsten industriellen Produzenten für das Russische Reich geworden. Die Interessen des polnischen Bürgertums, das über Nacht entstanden war, hingen wesentlich von der Verbindung mit Russland ab – das heißt mit dessen unbegrenztem Markt. So hatte es sein Klasseninteresse zu einer neuen Version des polnischen Patriotismus rationalisiert. Da die bewaffneten Aufstände hitzköpfiger Romantiker so jämmerlich gescheitert waren und unsagbares Leid und Ruin über die polnische Nation gebracht hatten, bestand nun die Aufgabe – so behauptete man –, eine „organische“ Entwicklung und eine „positivistische“ Ausrichtung zu pflegen. Die Polen wurden aufgerufen, eine moderne Wirtschaft aufzubauen, Werte zu horten, Ressourcen zu entwickeln, zu modernisieren und dafür Verschwörungen, Terror und Revolten zu vergessen. Mit anderen Worten : Die egoistische Klassenausbeutung des Proletariats wurde zu einer patriotischen Pflicht gemacht. Die polnischen Wortführer des Bürgertums wurden niemals müde, patriotische Phrasen zu ver wenden und zu schwören, dass sie nicht eher ruhen wollten, bis ein freies Polen wiedererrichtet worden sei. Ihre Reden waren aber dazu gedacht, die Arbeiter im Namen der organischen Totalität der unteilbaren Nation und des nationalen Interesses, das jeder sozialen Klasse die passende, notwendige Aufgabe zumaß, zum Gehorsam gegenüber ihren Arbeitgebern zu verleiten. Sie schrieben allen brüderliche Kooperation vor und verboten den Klassenkrieg wegen seiner schwächenden Wirkung auf eine bedrängte Nation, die versuchte, eine gesunde Nationalwirtschaft aufzubauen – die wahre Basis für die Stärke einer Nation.169 Die stets fromm beschworene polnische Unabhängigkeit wurde in Wirklichkeit bis zum Tag des Jüngsten Gerichts verschoben. Nicht nur war das Bürgertum gar nicht an der Abtrennung Polens von Russland interessiert. Trotz des Klassenantagonismus hatte das Proletariat ebenso wie der polnische Kapitalismus ein Interesse an der Einheit mit Russland – den russischen Markt. Überdies teilte das polnische Proletariat mit der russischen Arbeiterklasse die gleichen Bedürfnisse und Ansprüche. Tatsächlich war nicht nur die Wahrung der Klasseninteressen, sondern auch die Abschaffung des Zarismus ohne die 168 169
Vgl. ebd., Band 1, S. 56 ff. Vgl. ebd., S. 73 ff.; Kormanowa / Najdus ( Hg.), Historia Polski, Band 3.1, S. 370 ff.; Band 3.2, S. 43 ff., 106 ff., 163 ff.
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engste Zusammenarbeit zwischen den Arbeitern aller Völker des Russischen Reiches unmöglich. Aus eigenen Motiven waren auch die polnischen Bauern nicht an der Wiederherstellung des polnischen Staates interessiert. Über Jahrhunderte hatte die herrschende Klasse in Polen – der Adelsstand – ihre Leibeigenen unterdrückt und ausgebeutet. Die polnischen Bauern verdankten ihre Emanzipation dem Zaren. Ihnen war immer noch jegliche Form von Nationalismus fremd. Selbst der Adel – im russisch beherrschten Teil Polens aus Angst, seine Besitztümer vom Zaren konfisziert zu sehen, in Galizien aus echter Loyalität gegenüber den Habsburgern – wie auch die fügsame katholische Hierarchie hatten alle irredentistischen Träume aufgegeben.170 Welche sozialen Klassen waren also an einem unabhängigen Polen interessiert ? Das aussterbende Kleinbürgertum mit seinen begrenzten Interessen und Horizonten, die arbeitslosen Mitglieder der Intelligenz und die Überbleibsel des bankrotten Kleinadels, die in romantischem Bedauern und mystischen Ideen über Polens Mission als Retter der Nationen versanken – kurz : nur die unzufriedenen Gruppen, die dabei waren, vom kapitalistischen Fortschritt vernichtet zu werden.171 Die Ideologie einer nationalen Wiederauferstehung war ein utopischer Traum, wenn nicht gar ein kapitalistisches Ablenkungsmanöver und ein Trick: in jedem Fall eine Absurdität. Die Polnische Frage war bereits von der kapitalistischen Entwicklung in Polen gelöst worden, und zwar negativ.172 Die polnischen Sozialdemokraten, die sich der Frage angenommen hatten und zu ihren führenden Sprechern und ihrer Vorhut geworden waren, waren nun, als Agenten des reaktionären Kapitalismus, des Verrates an der Arbeiterklasse und der Revolution schuldig. Das zeigte sich auf abscheulichste Weise 1905, als sie es unter dem Vor wand, dass dessen Scheitern in Polen die polnische Industrie lahmlegen und den Interessen Polens schaden würde, ablehnten, dem Generalstreik aller russischen Arbeiter beizutreten. Piłsudskis Anhänger suchten ihre Zuflucht darin, gegen die russischen Autoritäten in Polen zu revoltieren und zu terroristischen Mitteln zu greifen, doch sie taten das im Namen eines nationalen Befreiungskampfes. Piłsudski begab sich 1905 nach Japan, um mit der Regierung in Tokio über Ablenkungsmanöver gegen die russischen Kräfte in Polen zu verhandeln.173 Die Sozialdemokraten zeigten aus Furcht, dass ein bürgerlich - nationalistisches Russland – wie die deutschen und ungarischen bürgerlichen Nationalisten 1848 – sich als weit wirksamerer nationaler Unterdrücker erweisen könn170 171 172 173
Vgl. Luxemburg, Wybór Pism, Band 1, S. 64 ff. Vgl. ebd., Band 2, S. 126. Vgl. ebd., Band 1, S. 383. Vgl. Kormanowa / Najdus ( Hg.), Historia Polski, Band 3.2, S. 298 ff.; Band 3.3, Revolution im Königreich Polen.
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te als der ineffektive Zarismus, tatsächlich wenig Interesse daran, eine gesamtrussische Verfassung sicherzustellen. Eine Unabhängigkeit auf dem Papier, die ein reformiertes Russland, wie manche erwarteten, den von nationalen Minderheiten bevölkerten Randgebieten gewähren würde, zielte darauf ab, die patriotische Begeisterung für den Aufstand in der Bevölkerung zu dämpfen. Bald nach dem Zusammenbruch der Revolution von 1905 begann Piłsudski, im österreichischen Galizien – an der Seite Österreich - Ungarns – eine polnische Legion für bewaffnete Auseinandersetzungen im erwarteten Krieg gegen Russland zusammenzustellen. Im Einklang mit den traditionellen Argumenten der polnischen Radikalen im gesamten 19. Jahrhundert gaben sich die Sozialdemokraten große Mühe, die Stärke, Bedeutung und Aussichten der Revolutionsbewegung in Russland zu schmälern. Ihrer Meinung nach würde der halbasiatische Despotismus für immer andauern. Die polnische sozialistische Bewegung hatte sich um 1880 polarisiert. Ein wichtiges Datum war die Gedenkfeier zum 50. Jahrestag des Aufstands von 1830, in der Schweiz ausgerufen von einer sehr kleinen, linksgerichteten Gruppe, die den nationalistischen Irredentismus und die Idee des Primats der nationalen Unabhängigkeit zugunsten der internationalen Solidarität mit der russischen Revolutionsbewegung aufgegeben hatte. Marx und Engels hatten die üblichen Grüße mit der rituellen Beschwörung eines freien unabhängigen Polens als Ziel aller Sozialisten geschickt. Die polnischen Sprecher Stanisław Mendelson, Szymon Dickstein und Ludwik Waryński wagten es, sich von dem Segen der beiden Propheten zu distanzieren.174 Rosa Luxemburg, Jogiches, Marchlewski und Dzierżyński setzten diese Tradition fort, indem sie am Ende des Jahrhunderts jene Splittergruppe gründeten, die sie die „Sozialdemokratische Partei des Königreichs Polen und Litauen“ ( SDKPiL ) nannten.175 Die Wortführer der Polnischen Sozialistischen Partei ( Polska Partia Socjalistyczna, PPS ) spotteten über die Splitterpartei, alle Mitglieder hätten auf einem halben Sofa Platz. Das PPS - Organ in Krakau, dessen Herausgeber der jüdische Apostat Emil Häcker war, griff das hysterische, fanatische und verräterische Weib Rosa Luxemburg, deren wortgewandteste, international bekannteste und aktivste Vertreterin, scharf an. Er verhöhnte ihr Bündnis mit den „Russen“ aus Berdichew, wobei er auf die Tatsache anspielte, dass die meisten oder doch viele der Führer der SDKPiL jüdisch waren, wie auch die russischen Revolutionäre, die Rosa Luxemburg und ihre Freunde als Verbündete zu gewinnen versuchten. Es wurde sogar gemunkelt, Rosa Luxemburg sei eine Agentin des Zaren.
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Vgl. ebd., Band 3, Teil 1, S. 483 ff. Vgl. ebd., S. 472 ff.; Teil 2, S. 307 ff.
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Wenn überhaupt eine Agentin, so war sie auf eine gewisse Weise, wiewohl völlig unabsichtlich, ein Werkzeug der SPD. Ignaz Auer, der als Parteisekretär als Erster ihre Karriere angestoßen hatte, machte kein Hehl aus seiner Sicht von der Lösung des polnischen Problems in Preußen : „Der größte Dienst, den man den polnischen Arbeitern erweisen könnte, wäre, sie zu germanisieren.“176 Es ist jedoch nur gerecht, darauf hinzuweisen, dass Rosa Luxemburg, obwohl sie objektiv dem Ziel der pragmatischen SPD - Bosse diente und über deren wahre Absichten unterrichtet war, die Politik der Germanisierung und nationalen Unterdrückung resolut bekämpfte. Gleichwohl gefiel den Parteiführern auf dem Mainzer Parteitag im Jahr 1900 ihre Rede, die sie mit den Worten schloss, es sei notwendig, „den polnischen Arbeiter [ zu ] lehren, seine nationalen Utopien aufzugeben, und ihm [ zu ] zeigen, daß er nicht in seiner Sonderstellung als Pole, im Anschluß an nationalistische Parteien, sondern als Sozialdemokrat seine Nationalitätsinteressen am besten verteidigt“.177 Das waren die Tage der Hakata, des nationalistischen deutschen Vereins mit dem Ziel, polnische Landbesitzer und Bauern durch jede Hinterlist und Schikane von ihrem Land zu vertreiben. Die erzwungene Germanisierung der Schulen war in vollem Gange. 1902 wollte Rosa Luxemburg von ganzem Herzen glauben, dass nicht nur die polnischen Arbeiter völlig immun gegen den Virus des Nationalismus seien, der proletarische Interessen der nationalen Einheit unterordnete, sondern dass selbst polnische Intellektuelle eine gesunde Abneigung gegen die Rhetorik des Sozialpatriotismus entwickelt hätten.178 Doch in der „Junius“ - Broschüre von 1915 beklagte sie die Macht des „nationalistischen Gedankens“ über die deutschen Arbeiter.179 Rosa Luxemburg bekämpfte auf der internationalen Bühne erbittert die Ideologie der PPS und rief zu einem Ende der traditionellen Unterstützung der Internationale für die polnische Irredenta auf. Das gab ihr auch die Möglichkeit, die Angelegenheit zu einem nachhaltigen Bestreben gegen die Anerkennung des Rechts auf nationale Selbstbestimmung im Allgemeinen und durch die Internationale im Besonderen auszuweiten. Die Wiederholung der vom Londoner Kongress der Internationale 1896 – als Antwort auf den Antrag der PPS, das alte mar xistische Prinzip, die Wiederherstellung eines geeinten und unabhängigen Polens, sei ein sozialistisches Postulat sine qua non – angenommenen Resolution interpretierte sie als Zurechtweisung an die nationalisti176 177
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Badia, Rosa Luxemburg, S. 452. Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der SPD, Mainz, 17.–21. 9. 1900, S. 124. A. d. Ü. : Zu finden auch in Luxemburg, Gesammelte Werke, Band 1/1, S. 797 f. Vgl. Luxemburg, Sozialdemokratische Programmakrobatik, S. 178. Luxemburg ( Hg.), Die Internationale, S. 75; dies., Die Krise der Sozialdemokratie, S. 163 f.
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schen Polen. Unter ihrem Einfluss lehnte es der Kongress ab, diese besondere Forderung auszusprechen, und beschränkte sich auf eine allgemeine Erklärung über das Recht auf Selbstbestimmung und gegen nationale Unterdrückung, über das Ende aller rassistischen und sozialen Unterdrückung, die der Sozialismus mit Gewissheit bringen würde, wodurch er allen unter worfenen Nationen die Realität der Selbstbestimmung sicherte, die in der kapitalistischen Welt unmöglich sei; den Arbeitern aller Länder wurde die Dringlichkeit vor Augen geführt, auf dieses Ziel hinzuarbeiten. Nach Rosa Luxemburgs Meinung gab es in dieser Erklärung keine Anerkennung irgendeines konkreten Rechts irgendeiner besonderen Nationalität auf nationale Selbstbestimmung. Die Tatsache ignorierend, dass die Resolution von Völkern sprach, die „tatsächlich“ unter nationaler Unterdrückung durch despotische Regierungen litten, schilderte sie die Resolution als abstrakte allgemeine Erklärung, die keinerlei Direktiven für eine konkrete Handlung in einem konkreten Fall enthielt. Und allgemeine Prinzipien hatten vom mar xistischen Standpunkt aus nur erklärenden Charakter und waren daher bedeutungs - und wirkungslos. Der Sozialismus befasste sich nicht mit dem Selbstbestimmungsrecht von Nationen, sondern des Proletariats. Und was das bürgerliche demokratische Prinzip der nationalen Souveränität betraf, lief dieses darauf hinaus, zu erklären, dass die Mehrheit der Nation das Recht zur Entscheidung habe. Doch der Mar xismus lehnte den Fetisch der numerischen Mehrheit ab. Seit wann hatten Sozialisten ihre Ziele und Politik den Entscheidungen einer Mehrheit untergeordnet, die aus Klassenfeinden bestand ? Die Sozialisten, besonders die bewusst revolutionären Sozialisten, waren in jedem Land noch immer in der Minderheit. Sollten sie sich deswegen der Mehrheit unter werfen ? Die sozialistischen Revolutionäre schuldeten ihre Treue ihrem Ideal, dem historischen Ziel, der Zukunft, der vorherbestimmten Form der Dinge, die der immanente, wenn auch nicht immer ebenso bewusste „Allgemeine Wille“ aller arbeitenden Menschen war. Darüber hinaus konnte keine einzelne nationale Sozialdemokratische Partei als Speerspitze einer nationalistischen Bewegung handeln. Es waren das allgemeine Interesse und die Strategie, der allgemeine Wille der internationalen sozialistischen Bewegung, die zählten. Dasselbe – und in stärkerem Maße – traf auf separatistische sozialistische Parteien zu, die von radikalen Minderheiten gegründet wurden. Sie rochen nach Streikbruch, wobei diejenigen, die sich dessen schuldig machten, sich auf das Recht beriefen, ihren Arbeitseifer und ihr Arbeitsrecht zu befriedigen. Das Recht separatistischer Selbstbestimmung bedingungslos vor die Bedürfnisse und Notwendigkeiten der Weltpolitik und der globalen Revolutionsstrategie zu stellen, lief darauf hinaus, in liberale Idiotie abzurutschen.
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Die Mission des Sozialismus bestand nicht darin, eine Ansammlung aus einzelnen Nationen herzustellen, sondern die Menschheit zu einer einzigen Nation zu machen. Rosa Luxemburg hatte nichts als Hohn für die Hoffnungen der PPS, ein internationaler Krieg werde Polen wiederherstellen : eine Idee, die von allen polnischen Freiheitskämpfern im gesamten 19. Jahrhundert in Ehren gehalten worden war. 1902, zu einer Zeit, als zum Beispiel Marchlewski immer noch schwor, niemals mit dem Protest gegen die Teilungen Polens aufzuhören und mittels des Sozialismus für dessen Unabhängigkeit zu kämpfen, schrieb sie spöttisch : „Sogar die blühendste Phantasie einer Stammtischpolitik kann sich heute nicht vorstellen, daß aus einem Krieg zwischen dem Deutschen Reich und Rußland die Unabhängigkeit Polens her vorgehen würde.“180 Ihr Einfluss ist sichtbar in dem Beharren der SDKPiL zu einem frühen Zeitpunkt im Ersten Weltkrieg, es gebe keine Existenzmöglichkeit für ein wiederhergestelltes Polen oder irgendeine andere kleine Nation zwischen den imperialistischen Supermächten.181 Rosa Luxemburg sah immer nur imperialistische Mächte, die kleine Staaten verschluckten oder vernichteten und ihre Unabhängigkeit – als eine vorübergehende „geschichtlich bedingte Phase der bürgerlichen Klassengesellschaft“ – in einen Mythos ver wandelten. Genauso wenig konnte sie die Rolle des Imperialismus für die Her vorrufung nationaler Aufstände der unter worfenen Kolonialvölker anerkennen – in scharfem Kontrast zu Lenin. Der Sozialismus konnte nicht durch nationale Befreiungskämpfe erreicht werden. Die nationale Freiheit war nur durch eine internationale soziale Revolution zu erreichen. Die erste und kategorische Notwendigkeit lautete also, alle nationalen Unterschiede fallen zu lassen und sich zu einer gemeinsamen, antiimperialistischen Front zusammenzuschließen.182 Nicht, dass sie gegenüber der Möglichkeit, ja gar gegenüber dem Heldentum und dem Ruhm eines Aufstands gegen die Unterdrückung aus spirituellen, religiösen und nationalen Motiven, und nicht nur aus ökonomischen Interessen heraus, völlig blind und taub war. Ganz und gar nicht. Allerdings behauptete sie, dass nur revolutionäre Klassen dazu in der Lage seien, und zwar als Ergebnis ihrer sozial - materiellen Lage.183 Und dann, so lässt sich sagen, war das nicht mehr länger ein nationaler oder religiöser Aufstand. Genauso wenig waren es autonome Impulse, die verschiedene Klassen auf die gleiche Weise bewegen konnten.
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Luxemburg, Sozialdemokratische Programmakrobatik, S. 169. Vgl. SDKPil, Materiały i dokumenty 1914–1918, S. 169, 372. Vgl. Luxemburg ( Hg.), Die Internationale, S. 71. Vgl. Luxemburg, Vor wort zu dem Sammelband ‚Die polnische Frage und die Sozialistische Bewegung‘, S. 217.
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Drit ter Teil Die „Hexenküche“ und ihr Gebräu: das Nationalitätenproblem – Österreich
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Auf dem Parteitag der Österreichischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei1z im Jahre 1897 nannte deren Führer Victor Adler Österreich „die Experimentierkammer der Weltgeschichte“. Er sprach in Anspielung auf Goethes Faust von der Hexenküche, in der das Gebräu des Nationalitätenproblems aufgekocht werde. In keinem Land, rief er aus, seien die Proletarier der verschiedenen Nationalitäten so sehr aufeinander angewiesen wie in Österreich.1 Die „Österreichische Internationale“ war aufgerufen, ja verpflichtet, als Beispiel für den sozialistischen Internationalismus zu dienen, indem sie nationalen Konflikten vorbeugte oder sie löste. Ihre Mission bestand darin, ein Paradigma der internationalen sozialistischen Ordnung der Zukunft bereitzustellen.
I. Öster reich als his to ri scher Mus ter fall Österreich war in der Vergangenheit sowohl von Anhängern der Französischen Revolution als auch von konterrevolutionären Konser vativen als Musterfall für „gemischtrassige“ Beziehungen angeführt worden. Für Progressive verschiedener Schattierungen stellte die Habsburger patriarchalische Vielvölkermonarchie eine absurde Monstrosität dar. Sie war ein „Gefängnis der Nationen“. Das Reich war durch Eroberungen, strategische dynastische Eheschließungen und halbprivate Abkommen mit Magnaten zusammengestückelt worden, ohne die Einwohner zu befragen oder ihnen – nach der Annexion – ein Wort in eigener Sache zuzugestehen. Die lokalen Abgeordnetenversammlungen und alten 1z
1
A. d. Ü. : Talmon spricht von der Sozialdemokratischen Partei Österreichs, diese hieß indes bis 1934 „Sozialdemokratische Arbeiterpartei“, was nachfolgend auch so ver wendet wird. Vgl. Parteivorstand der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschösterreichs ( Hg.), Victor Adlers Aufsätze, Reden und Briefe, Heft 8, S. 377. Allgemeine Bibliographie : Parteivorstand der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschösterreichs ( Hg.), Victor Adlers Aufsätze, Reden und Briefe ( A. d. Ü. : insgesamt 11 Hefte; die Hefte 6 bis 11 bilden eine separate Reihe mit dem Titel „Victor Adler, der Parteimann“); Braunthal, Victor und Friedrich Adler; Bauer, Die Nationalitätenfrage; Benedikt, Die wirtschaftliche Entwicklung; Brügel, Geschichte der österreichischen Sozialdemokratie; Cole, A History of Socialist Thought, Band 3, Teil 2 : The Second International 1889– 1914; Conze, Die Strukturkrise des östlichen Mitteleuropas; Feldman, Ignacy Daszyński; Fischer, Der großdeutsche Gedanke; Gulick, Austria from Habsburg to Hitler; Hahn, The Socialist Party of Austria; Hantsch, Die Nationalitätenfrage; Jászi, The Dissolution of the Habsburg Monarchy; Joll, The Second International; Kann, The Multinational Empire; Kautsky, Nationalität und Internationalität; ders., Nationalstaat;
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Das Nationalitätenproblem – Österreich
Gesetze, Freibriefe und Privilegien, die von den Habsburgern bei jeder Annexion in alter, feudal - dynastischer Manier bestätigt wurden, waren eine Verhöhnung jeder Selbstver waltung im Zeitalter der Menschenrechte und der Souveränität der Völker. Sie standen in keiner Weise im Einklang mit den neuen Kommunikationsmitteln, der raschen Industrialisierung und der wachsenden sozialen Mobilität. Das Establishment und die privilegierten konser vativen Kräfte fuhren damit fort, die alten dynastischen, feudalen Kronländer mit ihren gemischten Bevölkerungen, die in Herren - und Untertanenvölker unterteilt waren, als historische Einheiten zu begreifen – zu einer Zeit, als scharf abgegrenzte Volksgruppen bereits nach dem Recht auf nationale Selbstbestimmung riefen. Diese Heuchelei wurde durch die Wiener Zentralisierung und deren wider wärtige und schmutzige Methoden noch abstoßender gemacht : Einschüchterung, das Schüren von Feindseligkeiten unter den Völkern, ein raffiniertes Stationierungssystem für die Armeeeinheiten, die aus verschiedenen, einander feindlich gesinnten Völkern rekrutiert wurden, Zensur, Spionage, Bestechung von Interessensverbänden und ein die Dinge verzögerndes Durchwursteln.2 Die Reaktionäre ihrerseits zitierten Österreich als Beweis für die Vorzüglichkeit langer Traditionen, als Bestätigung der Macht alter Institutionen und der Stärke der konser vativen Instinkte der Massen. Sie bewunderten das Stehvermögen der altehr würdigen Dynastie. Sie hatte Invasionen, furchtbare Niederlagen, den Verlust großer Armeen, wiederholte Vertreibungen oder Fluchten aus ihrer Hauptstadt überlebt. Sie behielt ihre territoriale Integrität und alten Institutionen, scheinbar unerschüttert von den Agitationen kluger, ehrgeiziger und rastloser Intellektueller, die Kaiser Franz I. so sehr verabscheute,
2
Kogan, The Social Democrats; Kuehnelt - Leddihn, The Bohemian Background; Lemberg, Die Geschichte des Nationalismus in Europa; Marz, Some Economic Aspects; Matthias, Kautsky und der Kautskyanismus; May, The Hapsburg [ sic ] Monarchy; Mayer - Löwenschwerdt, Schönerer; Mommsen, Die Sozialdemokratie und die Nationalitätenfrage ( ein wertvolles Buch zum Stöbern ); Pichl, Georg Schönerer; Renner, Staat und Nation; ders., Der deutsche Arbeiter; Rothfels, Grundsätzliches zum Problem der Nationalität; ders., Zur Krise des Nationalstaats; Schieder, Nationalstaat und Nationalitätenproblem; ders., Das Problem des Nationalismus in Osteuropa; Schitlowsky, Der Sozialismus und die Nationalitätenfrage; Schnee, Georg Ritter von Schönerer; Seton Watson, A History of the Czechs and Slovaks; Shell, The Transformation of Austrian Socialism; Silberner, Austrian Social Democracy; Šolle, Die tschechische Sozialdemokratie; ders., Die Sozialdemokratie in der Habsburger Monarchie; Strasser, Der Arbeiter und die Nation; Valiani, The End of Austria - Hungary; Taylor, The Habsburg Monarchy; Whiteside, Austrian National Socialism; ders., Industrial Transformation; Wittelshöfer, Politische und wirtschaftliche Gesichtspunkte; Wittram, Das Nationale als europäisches Problem; Zwitter, Les Problèmes nationaux. Vgl. Gulick, Austria from Habsburg to Hitler, Band 1, Kapitel 2; May, The Hapsburg Monarchy, Kapitel 1; Taylor, The Habsburg Monarchy, Kapitel 1 und 2.
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Österreich als historischer Musterfall
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der für kluge Leute keine Ver wendung hatte und stets vor allem anderen Sitzfleisch empfahl. Das Haus Habsburg konnte sich der unbeugsamen Loyalität einer Bauernarmee unter Führung von engagierten Offizieren sicher sein. Die Aristokratie, aus der sie stammten, war von den Habsburgern im Dreißigjährigen Krieg aus katholischen Freiwilligen und Söldnern aus ganz Europa zusammengewürfelt und mit Ländern belohnt worden, die vor allem in Böhmen und Mähren von enteigneten protestantischen Adligen stammten. Die schweigende und stumme Mehrheit Österreichs, die Millionen Bauern aus allen Nationalitäten, wurden von einer unermüdlichen, treuen Kirche angeleitet, die ihnen beibrachte, ihre apostolischen Könige zu lieben und zu verehren und ihren Oberen zu gehorchen. Die Ereignisse von 1848/49, die die Donaumonarchie bis in die Grundfesten erschütterten, können gewiss als Gebräu aus einer Hexenküche betrachtet werden. Sie war ein Schmelztiegel aus Institutionen, Ideologien und Sehnsüchten, und am Ende waren alle kämpfenden Parteien verblüfft angesichts des Geschehens.3 An der Oberfläche ging das Reich aus diesen schweren Prüfungen mit intakter territorialer Integrität her vor; das System war nicht nur unversehrt, sondern bis zu einem gewissen Grad auch gestärkt. Schwarzenberg und Bach ersetzten die uralte Berufung auf göttliches Recht durch rücksichtslose Effizienz, strikte Zentralisierung und ein ungehemmt autoritäres Regierungssystem. Doch indem sie das taten, unterminierten sie das alte barocke Gebäude. Sie bewirkten den Verfall der Prinzipien und den Verlust des Geheimnisses, worauf es errichtet war. Eine geschäftsmäßige Ver waltung war kein Ersatz für tief ver wurzelte innere Überzeugung oder für Reflexhandlungen von Seiten der Herrscher oder Untertanen. Die Revolutionsereignisse von 1848/49 versetzten auch dem naiven liberaldemokratischen Glauben an die Gleichheit oder zumindest die enge Verbindung zwischen den demokratischen Ansprüchen auf Selbstver waltung und dem Prinzip der nationalen Selbstbestimmung einen herben Schlag. Die Nationalitäten erwiesen sich nicht einfach als Bürgerschaft, die für das Recht kämpfte, ihre eigenen Angelegenheiten zu ver walten. Sie stellten sich als kollektive Persönlichkeiten heraus, die leidenschaftlich wünschten, ihre eigene Identität, ihren Wert und ihre Macht geltend zu machen, und beschlossen, je nach der Situation, nicht aufzugeben, was ihnen gehört hatte, das zurückzugewinnen, was sie verloren hatten, oder zu erhalten, was ihnen so lange ver wehrt worden 3
Vgl. Fejtö ( Hg.), The Opening of an Era 1848, S. 1–49, 253–280, 414–427; Kann, The Multinational Empire, Band 2, Kapitel 15; Namier, 1848 : The Revolution of the Intellectuals; Pouthas, Démocraties et capitalisme, S. 46–54, 83–98; Robertson, Revolutions of 1848, S. 187–307; Taylor, The Habsburg Monarchy, Kapitel 5 und 6.
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Das Nationalitätenproblem – Österreich
war. Sie würden sich nicht als ihrer glorreichen Vorfahren unwürdig oder für künftige Aufgaben ungeeignet erweisen. Diese Gefühle waren leidenschaftlich genug, um jedes Flüstern des Gewissens zum Schweigen zu bringen – wie auch Fragen von freundlichen Beobachtern zu anständigem Verhalten, gleichem Recht für alle und der Pflicht, Unrecht, das über die Jahrhunderte den schwächeren Völkern angetan worden war, wiedergutzumachen. Durch einen dar winistischen Nationalismus, der den Charakter einer Religion annahm, verlor die österreichische Idee einer Familie von Nationen, die freundschaftlich miteinander unter einer patriarchalischen Dynastie lebten, ihre Glaubwürdigkeit und ihren Halt.4 Die Doktrin des Reiches als organische, historische sowie wirtschaftliche Einheit wurde durch den Verlust der Lombardei und Venedigs stark erschüttert. Die Dynastie der Habsburger büßte viel von der stolzen und herzlichen Treue gegenüber der vorherrschenden Nationalität, den österreichischen Deutschen, ein, als sie vom jüngeren Haus der Hohenzollern so schmachvoll besiegt und aus Deutschland vertrieben wurde. Die Hohenzollern erreichten den Höhepunkt ihres Ruhmes als kaiserliche Dynastie eines vereinigten Deutschlands, das über Nacht zur größten militärischen, wirtschaftlichen und kulturellen Macht auf dem europäischen Kontinent wurde. Der Kompromiss in Form einer Doppelmonarchie mit Ungarn 1867 wirkte sich zweifach auf die anderen Völker aus. Er zeigte ihnen, vor allem den Tschechen, dass sie mit Ausdauer und unaufhörlichem Druck ebenfalls autonome Nationen in einer föderalen Struktur werden könnten, und gleichzeitig verbitterte er sie, da er einige Völker der rücksichtlosen, unterdrückenden Herrschaft der Magyaren auslieferte.5 Die ungarische Herrscherklasse aus feudalen Magnaten und Landbesitzern wurde von einer gänzlich ungehemmten, ja leidenschaftlich selbstgerechten Entschlossenheit angetrieben, die unter worfene fremde Mehrheit davon abzuhalten, die Macht und den Besitz der einsamen, isolierten ungarischen Nation, die von Deutschen und Slawen umgeben war, zu verkleinern, zu schwächen oder in irgendeiner Form in Gefahr zu bringen. Weniger als zwanzig Jahre, nachdem sie von den österreichisch - russischen Armeen vernichtend geschlagen worden war, befand sich die ungarische Nation, genauer gesagt : der Kreis ihrer Magnaten, in einer Position, aus der heraus sie politischen Einfluss über ein erschüttertes, schwankendes, gebeuteltes Österreich ausüben und in kritischen Momenten dem gesamten Reich lebenswichtige
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Vgl. Kann, The Multinational Empire, Band 2, Kapitel 18 und 19; Taylor, The Habsburg Monarchy, Kapitel 7; Hantsch, Die Nationalitätenfrage, Kapitel 4; Rothfels, Zur Krise des Nationalstaats; Schieder, Das Problem des Nationalismus in Osteuropa. Vgl. Seton - Watson, A History of the Czechs and Slovaks, Kapitel 13.
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Österreich als historischer Musterfall
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militärische oder ökonomische Entscheidungen aufbürden oder solche Entscheidungen zunichtemachen konnte.6 Die Verfassungsstruktur Österreichs nach 1867 wurde zu Recht Scheinkonstitutionalismus genannt. Sie war so konzipiert, dass sie den Anschein von Volksbeteiligung erweckte, doch in Wahrheit war sie dazu bestimmt, die Demokratie unter Kontrolle zu halten und im Lichte der Symmetrie der ethnischen und sozialen Teilungen in Österreich den historischen Nationen die wichtigere Position zu sichern. Das eigentümliche Wahlsystem für die vier Kammern – Grundbesitzer, Handelskammern und kapitalistische Potentaten, städtische Mittelschicht und Bauern – gab den Bauernmassen und dem Kleinbürgertum sehr wenig und den städtischen Arbeitern gar kein Mitspracherecht.7 Die ursprüngliche Hoffnung, der deutsch - österreichische Liberalismus werde sich als fähig erweisen, die Exzesse der Klassenherrschaft auf der einen und des Völkerkonflikts auf der anderen Seite zu vermeiden, indem er sowohl soziale als auch ethnische Gegensätze durch Spielraum und Milde abfederte, erwies sich als Illusion. Der deutsche Liberalismus wurde bald durch den wachsenden Nationalismus der deutschen, von den scheinbar unaufhaltsamen Übergriffen der Slawen in Schrecken versetzten Bevölkerung untergraben. Er war nicht länger die sichere Stütze der kaiserlichen Ver waltung. Der Wendepunkt kam, als 1879 Graf Taaffe, Nachkomme eines irischen Adeligen, der sich im Dreißigjährigen Krieg der katholischen Seite angeschlossen hatte, zum Ministerpräsidenten ernannt wurde und den „Eisernen Ring“ bildete, die Koalition zwischen Konser vativen und Slawen, die Österreich vierzehn Jahre lang regierte und von den deutsch - österreichischen Nationalisten als feudal - klerikal - slawische Verschwörung gegen die historische, vorherrschende deutsche Position in der Ostmark angesehen wurde. Dies war auch die Zeit, in der der slawische, vor allem der tschechische Nationalismus immer militanter wurde.8 Unter diesen Umständen erwies sich das Erwachen der Massen und der Vormarsch der Demokratie mit dem Höhepunkt der Gewährung des allgemeinen Wahlrechts im Jahr 1905 nicht als die Stunde der Sicherung bürgerlicher Freiheiten und der Einführung einer effektiven Volkskontrolle und längst überfälliger Ver waltungs - und Wirtschaftsreformen zur Verringerung von Unterschieden zwischen den Regionen, Rassen und Klassen, sondern als Zeitpunkt nationalistischer Selbstbehauptung, der Rivalität und des Unfriedens. Die Völ6 7 8
Vgl. Macartney, The Habsburg Empire, Kapitel 11; Taylor, The Habsburg Monarchy, Kapitel 11; Valiani, The End of Austria - Hungary, Kapitel 1. Vgl. May, The Hapsburg Monarchy, Kapitel 2. Vgl. Hayes, Nationalism, Kapitel 7 und 8; Lemberg, Nationalismus, Band 1, Abschnitt II, Kapitel E; Renouvin, Le XIXe siècle, Kapitel 18; Seton - Watson, A History of the Czechs and Slovaks, S. 220–223; Taylor, The Habsburg Monarchy, Kapitel 13; Zwitter, Les Problèmes nationaux, S. 86–113.
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Das Nationalitätenproblem – Österreich
ker waren zum Krieg bereit, um bedrohte Besitztümer und Privilegien zu verteidigen oder lange verloren geglaubte Rechte wiederzuerlangen und sich einen Platz an der Sonne zu erobern. Es war schwer, die Augen vor der unerfreulichen Tatsache zu verschließen, dass das Zeitalter der Demokratie keineswegs eine Ära bürgerlicher und politischer Freiheit, der Volkssouveränität und einer gerechten Regierung einläutete, die auf Konsens und allgemeinem guten Willen basierte. Da unlautere Verschleppungstaktiken ein reguläres gesetzgebendes Vorgehen unmöglich gemacht hatten, musste die Regierung dadurch am Laufen gehalten werden, dass man auf kaiserliche Dekrete zurückgriff. Der Vertrauensverlust in die parlamentarische, durch nationalistische Leidenschaften gelähmte Regierung wurde durch Volksempfindlichkeiten noch verschärft. Die Zentralregierung war nicht in der Lage, Vertrauen oder Loyalität oder einen Sinn für allgemeine Interessen und gemeinsame Verantwortung zu wecken, und hatte auch nicht die Macht, als unparteiischer Schlichter und Schiedsrichter zu handeln.
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II. Klas se oder Nati on ? Die öster reichische Sozialdemokratische Arbeiter par tei war daher praktisch gezwungen, zum Muster fall für das Verhältnis zwischen Sozialismus und Nationalismus zu werden. Würde es, wenn es zur Krise käme und sich nationalistische Konflikte zu kriegsähnlichen Neurosen entwickelten, dem Sozialismus mög lich sein, die zerstörerische Flut mit Hilfe der Waffe der inter nationalen Klassensolidarität einzudämmen und die Massen, die erfolg reich den Test des proletarischen Inter nationalismus bestanden hatten, zur revolutionären Umsetzung der universellen sozialistischen Idee zu führen ? Oder würde die nationalistische Besessenheit sich als Stolperstein für die inter nationale sozialistische Einheit erweisen und dadurch, dass sie die Herausforderung des Sozialismus angenommen und über wunden hatte, sogar noch zunehmen ? Letztendlich handelte es sich in der Tat um die Frage, welche der beiden rivalisierenden Ideologien sich als das realere, grundlegendere und mächtigere Glaubensbekenntnis erweisen würde. Dies war buchstäblich eine totale Konfrontation. Für die Nationalisten war die Rassen - oder ethnische Zugehörigkeit der wichtigste Bezugspunkt, die Gemeinschaft der Gemeinschaften, das allbestimmende kollektive Schicksal und Berufung. Die nationale Bruderschaft war unendlich wichtiger als Klassenunterschiede, soziale Spaltungen oder Parteizugehörigkeiten, vor allem, wenn die Nation von einer fremden Macht unterdrückt oder tödlich bedroht wurde. Jedoch konnte es ohne das grundlegende Dogma des Klassenkonflikts keine mar xistisch - sozialistische Theorie geben. Der Staat, selbst der Nationalstaat, war ein Werkzeug der Klassenherrschaft. Seine Gesetze waren nicht Ausdruck des allgemeinen nationalen Willens, Interesses oder Geistes, sondern Mittel, um die Klassenausbeutung leichter und effektiver zu gestalten. Nationenkonflikte erwuchsen aus ausbeuterischen Plänen, und nationalistische Gefühle waren falsche Fährten, die von der herrschenden Klasse gelegt wurden, um die Aufmerksamkeit von den sozialen Kämpfen oder den Drogen zur Betäubung des Volkes wegzulenken. Ungeachtet seiner streitbaren Haltung konnte der revolutionäre Sozialismus, soweit es Völkerbeziehungen betraf, als vom ursprünglichen Liberalismus herrührendes Erbe des universalistischen oder gar kosmopolitischen Glaubens an die finale Harmonie der Interessen der gesamten Menschheit betrachtet werden. Adam Smith und seine Jünger wie Cobden und Bright glaubten fest daran, dass universaler Friede und Eintracht zu einer gesegneten Wirklichkeit würden, wenn erst einmal der Handel sich frei entfalten könne.
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Das Nationalitätenproblem – Österreich
Es war nur selbstsüchtige, ignorante Habgier, darauf versessen, blind zu ergreifen, was ihr in den Weg kam, die die natürliche Warenzirkulation blockierte und zu Krise, Mangel, internationalen Spannungen und Krieg führte. Befreit vom Virus der reißenden Habgier, mit dem die unwissenden besitzenden Klassen rettungslos infiziert waren, würde das inter nationale Proletariat, die Menschheit selbst, im Angesicht des mar xistischen Sozialismus die Ära der finalen Har monie einläuten. Die Politik war sowohl im ursprüng lichen Liberalismus als auch im mar xistischen Sozialismus eine Funktion der Ökonomie. Die Begleitumstände des Nationalismus waren zwangsläufig eine Form des Merkantilismus und des dar winistischen Kampfes ums Überleben und um Macht. Die Ökonomie war in deren Augen eine Funktion der Politik, wie List meinte. Die Rassenfrage in einem von Konflikten zerrissenen Vielvölkerstaat löst in der Bevölkerung unweigerlich die Neigung aus, der ethnischen Herkunft einen höheren Wert beizumessen als der Klassenzugehörigkeit. Die Angst, gegenüber der eigenen, in Not und Gefahr befindlichen Gruppe als illoyal gebrandmarkt zu werden, ist schon immer ein mächtiges Abschreckungsmittel gewesen. Der Sozialismus kann jedoch ohne die Einheit und Solidarität des Proletariats über die Völkergrenzen hinweg weder auf politischer noch auf ökonomischer Ebene funktionieren. Kein Kampf für die Verteidigung der Interessen der Arbeiterklasse, kein Streik, keine Lohnpolitik, keine Gewerkschaftsaktivität ist ohne eine gemeinsame Organisation mit abgestimmter Strategie und ohne das Axiom gleicher Bedingungen für die Arbeiter aus allen ethnischen Gruppen möglich. Dabei geht es nicht einfach um Ideologie, sondern um pragmatische Politik und Berufsinteressen. Daher lief das Eingeständnis, die Nationalität besitze von Natur aus eine größere Macht als der sozialistische Internationalismus, darauf hinaus, die große sozialistische Vision aufzugeben. Das Prinzip der internationalen proletarischen Solidarität und Einheit machte eine einzige sozialdemokratische Partei und, mehr noch, eine einzige Gewerkschaftsorganisation für die gesamte österreichische Monarchie erforderlich. Allerdings widersprach es auch allen Plänen, das Vielvölkerreich in ethnische Staaten aufzuteilen. Das wäre, vom Standpunkt der mar xistischen Lehre aus betrachtet, nicht nur ein Schritt weg von dem Erfordernis größerer territorialer Einheiten gewesen, die in der Lage wären, eine moderne Großindustrie zu entwickeln und ein städtisches Proletariat zu schaffen. Die Auf lösung der Donaumonarchie unter dem Druck des nationalistischen Separatismus würde gewiss dafür herhalten, die größere Vitalität des Nationalismus zu demonstrieren und zu beweisen, dass nach Jahrzehnten des internationalen Sozialismus die Proletarier der verschiedenen Völker unfähig waren, unter demselben Dach zu bleiben oder ihren Klassenfeind
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Klasse oder Nation?
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davon abzuhalten, das gemeinsame Haus der Arbeiterklassen der verschiedenen ethnischen Gruppen zu zerstören.9 Folglich traten die österreichischen Sozialdemokraten – dem Anschein nach eine Partei der Revolution – als standhafteste Erhalter der Unteilbarkeit der ehr würdigen Monarchie sowie als objektiv verlässlichste Verbündete der Dynastie und als österreichische Staatspartei par excellence her vor.10 Victor Adler, der Meister der Selbstironie, sprach von der Sozialistischen Partei als den „Hofräten der Revolution“.11 Das unmittelbare Ziel der Sozialisten wurde nicht die Revolution oder die Machtergreifung durch die Arbeiterklasse, sondern die Modernisierung Österreichs, dessen Restrukturierung und Erneuerung – auf eine Weise, die es ihm erlauben würde, den zentrifugalen Kräften Widerstand zu leisten. Obwohl, wie wir sehen werden, die österreichischen Sozialdemokraten um ihrer selbst willen als alleinige wahre Verteidiger parlamentarischer Prozeduren und demokratischer Legitimität verblieben, waren einige sozialistische Führer schließlich so angewidert von der wilden Behinderungstaktik, die im Reichstag praktiziert wurde, und so entsetzt über die Lähmung aller parlamentarischen Aktivität ( Gesetzgebungen der harmlosesten und dringendsten Art eingeschlossen ) durch verfeindete Nationalitäten, dass sie bereit waren, einen Staatsstreich durch den Kaiser in Form einer Oktroyierung des allgemeinen Wahlrechts und eines Ukas zur Regulierung des Völkerproblems zu begrüßen.12 Das Problem war, dass vom alten Kaiser ebenso wenig wie einst von Ludwig XVI. erwartet werden konnte, alle Instinkte und Denkgewohnheiten seiner ergrauten Dynastie abzulegen. Er war nicht gerüstet, ein Kaiser des Volkes zu werden, also gleichsam ein Verbündeter der bis zum Vortrag noch geächteten „Anarchisten“. Die Sozialisten ihrerseits waren in nicht geringem Maße gehemmt durch die peinliche Erinnerung an Lassalles und Bismarcks geheime Kontakte zur Zeit der preußischen Verfassungskrise, in deren Verlauf der Arbeiterführer dem Erzjunker und Royalisten eine Allianz gegen die bürgerlichen Liberalen angeboten hatte – mit dem verheimlichten Ziel, die konser vativen Verbündeten zu überlisten und zu über wältigen, sobald das allgemeine Wahlrecht das Proletariat in eine entsprechende Lage versetzt hätte.13 9
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Vgl. Hahn, The Socialist Party of Austria; Rothfels, Zur Krise des Nationalstaats; ders., Grundsätzliches zum Problem der Nationalität; Schieder, Nationalstaat und Nationalitätenproblem. Vgl. Mommsen, Die Sozialdemokratie, S. 6. Vgl. Victor Adler an Engels, 25.8.1892. In : Parteivorstand der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschösterreichs ( Hg.), Victor Adlers Aufsätze, Reden und Briefe, Heft 1, S. 43. Vgl. Mommsen, Die Sozialdemokratie, S. 4. Vgl. Mayer, Bismarck und Lassalle; Oncken, Lassalle, S. 374–402; Na’aman, Lassalle, S. 623–634.
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Das Nationalitätenproblem – Österreich
Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei in Österreich wurde sich nur langsam dessen bewusst, dass ihr Erfolg, sogar ihre Existenz als solche – jedenfalls als geeinte Partei – von ihrem angemessenen Umgang mit dem Nationalitätenproblem abhing. Dafür konnte sie bei Marx und Engels kein Rezept finden. Diese hatten einfach nicht vorausgesehen oder erst sehr spät zaghaft und widerstrebend die Möglichkeit wahrgenommen, dass der Sozialismus sich eines Tages der Herausforderung und dem Konkurrenzkampf mit dem Nationalismus würde stellen müssen. Es war für sie kaum vorstellbar, dass die sozialistische Strategie vielleicht grundlegend umorganisiert werden müsste, um einer Bedrohung gegenüberzutreten, die sich außerhalb des Schemas des allumfassenden Klassenkampfes befand. Marx und Engels waren bereit, das revolutionäre Potential nationaler Missstände zu benutzen oder die nationalistischen Ansprüche ethnischer Gruppen beiseitezuschieben, die der nationalen Vereinigung zu einer größeren territorialen Einheit im Wege standen, wenn diese von einem revolutionären Drang erfasst worden wäre. Doch sie wären niemals einverstanden gewesen, den allgemeinen sozialistischen Fortschritt aufzuhalten oder umzuleiten, um irgendeinem Anspruchsteller die nationale Unabhängigkeit zu sichern. Sie konnten niemals den Glauben daran aufgeben, dass der Endsieg des Sozialismus alle aus nationaler Unterdrückung entspringenden Probleme lösen würde, indem er sozialen Konflikten ein Ende bereitete. Engels’ verspätetem Eingeständnis, es sei hart, von einer versklavten Nation zu erwarten, dass sie ihre Knechtschaft vergesse und sich der universellen Sache des Sozialismus widme, folgte kein konstruktiver Vorschlag. Während dieses Eingeständnis in der Abgeschiedenheit der privaten Korrespondenz vorgebracht wurde, waren Marx’ und Engels’ harsche Aberkennung des Rechts fossiler reaktionärer Überreste unhistorischer Nationalitäten auf nationale Selbstbestimmung sowie die Hoffnungen, die sie über die letztendliche Aufnahme der unter worfenen Völker Österreich - Ungarns in die stärkeren Kulturen der dominanten Völker äußerten, Allgemeingut. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war keine ethnische Gruppe bereit zuzugeben, sie sei kulturell so unbedeutend, hoffnungslos rückständig und unrettbar reaktionär, dass sie von Engels’ Diktum ausgenommen werden könnte. Die österreichische Sozialdemokratie, die nicht auf die Behandlung dieses Problems gefasst und nicht dafür gerüstet war, zeigte sich anfangs naiver weise unwillig, dessen Existenz anzuerkennen. Man gratulierte sich selbst dazu, dass es für die Sozialdemokratie kein Nationalitätenproblem gebe und Fragen der Volkszugehörigkeit, Religion und Sprache für die Kämpfer um die Emanzipation der Arbeiterklasse irrelevant seien. Nicht dass alle gezwungen würden oder man von ihnen erwartete, die gleiche Sprache zu sprechen und dieselbe Kultur zu haben. Anhänglichkeit an die eigene Ursprungskultur, Liebe zur Kultur der Vorfahren würden voll und ganz respektiert, und nötigenfalls werde es
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Klasse oder Nation?
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Möglichkeiten zu deren Äußerung geben. Doch man erwartete nicht, dass das einen Unterschied für die Bereitschaft jedes Einzelnen machen würde, an dem gemeinsamen revolutionären Unterfangen teilzunehmen, das auf das Wohl der ganzen Menschheit ausgerichtet werden musste. Dieser Dienst war wichtiger und edler als nationalistischer Narzissmus, Arroganz und Kampfgeist. Diese Ansichten waren im Programm der internationalen Sozialdemokratischen Partei Österreichs enthalten, das 1874 auf der Gründungskonferenz in Neudörfl und vier Jahre später beim Aufbau der autonomen Tschechisch - Slawischen Sozialdemokratischen Partei angenommen wurde.14 Da Marx und Engels sich der Ansicht verschrieben hatten, das Proletariat habe sich im Gegensatz zum Bürgertum von nationalen Vorurteilen befreit, war Engels nur zu erpicht darauf, die Donaumonarchie als Beweis für die Erfüllung dieser Idee anzuführen : „Während bei Euch in Österreich“, schrieb er in einer Grußadresse an den zweiten österreichischen sozialdemokratischen Parteitag von 1891, „die besitzenden Klassen der verschiedenen Kronländer im blinden Nationalitätenhader des letzten Restes von Fähigkeit zur Herrschaft verlustig gehen, wird ihnen Euer zweiter Parteitag das Bild vorführen eines Österreichs, das keinen Nationalitätenhader mehr kennt, des Österreichs der Arbeiter.“15 Engels’ Worte wurden am Ende des Kongresses in der Abschlussrede des deutsch - österreichischen Sozialdemokraten Reumann wiederholt, als dieser feierlich verkündete, es gebe in der österreichischen Sozialdemokratie „die nationale und Rassenfrage“ nicht. Vor ihm begrüßte der Tscheche Burian die Idee einer internationalen Sozialdemokratie als „die allgemeine Verbrüderung, ein die ganze Menschheit umfassendes Band, die Liebe ‚aller zu allen‘“.16 „Betonen wir nicht das Nationaltum oder das religiöse Dogma, sondern das Menschentum !“17 Das „Manifest an das arbeitende Volk in Österreich“ vom 10. Mai 1868 verkündete, die „Zeit der Nationalitätenabsonderung“ sei vorbei und „das Nationalitätsprinzip“ stehe „heute nur auf der Tagesordnung der Reaktionäre“.18 Der
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Vgl. Šolle, Die Sozialdemokratie in der Habsburger Monarchie, S. 323–327. A. d. Ü. : Die Tschechoslowakische Sozialdemokratische Partei war von 1878 bis 1893 Teil der österreichischen Sozialdemokratie. Mommsen, Die Sozialdemokratie, S. 188 f. A. d. Ü. : Siehe auch Verhandlungen des zweiten österreichischen socialdemokratischen Parteitages, 1891, S. 175. Mommsen, Die Sozialdemokratie, S. 188. A. d. Ü. : Siehe auch Verhandlungen des zweiten österreichischen socialdemokratischen Parteitages, 1891, S. 169, 174. Brügel, Geschichte der österreichischen Sozialdemokratie, Band 1, S. 92. A. d. Ü. : Aus der Rede des Buchdruckers Konrad Groß auf der konstituierenden Versammlung des Wiener Arbeiterbildungsvereins am 15.12.1867. Ebd., S. 122 f.
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Das Nationalitätenproblem – Österreich
Radikale, der in Reichenberg erschien, erklärte : „Wir haben nur eine Nationalität, das ist die Menschheit, nur ein Vaterland, das ist die Erde.“19
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Der Radikale. Socialdemokratisches Organ der Arbeiter Nordböhmens, Reichenberg, 2.10.1884, zit. in Mommsen, Die Sozialdemokratie, S. 84.
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III. Die Bür de der irra tio na len Geschich te gegen über der Moder ni sie rung Bei genauerem Hinsehen, und gerade vom mar xistischen Gesichtspunkt aus, unterschied sich der abstrakte Internationalismus, ohne Bezug auf konkrete Situationen, nicht stark von den banalen Verallgemeinerungen der abstrakten Demokratie und den Klischees von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit unter Aussparung sozialer Inhalte, die von den Mar xisten immer gerne lächerlich gemacht wurden. Nicht viel hilfreicher war die pauschale Erklärung, der niedrigere Status nichtdeutscher Völker, die allgemeine Unterteilung in Herren und untergebene Rassen in der Donaumonarchie und die daraus folgenden Rassenspannungen seien alle auf die Politik des Teilens und Herrschens der Habsburger mit Unterstützung durch klerikal - feudale Machenschaften zurückzuführen. Es ist unnötig zu ergänzen, dass das allgemeine Versprechen, die sozialistische Revolution werde zu irgendeinem zukünftigen Zeitpunkt jede Art von Unterdrückung und Ungleichheit beseitigen, ähnlich vage und nutzlos war. In Österreich lief das Postulat einer einzigen sozialistischen Partei ohne Unterschied von Nationalität, Rasse, Sprache oder Religion, gelenkt von den besten, fortschrittlichsten und dynamischsten Vertretern des Proletariats nach dem Muster des westlichen Nationalstaates, darauf hinaus, die in der österreichischen Gesellschaft im Allgemeinen bestehende deutsche Vorherrschaft auch in der sozialdemokratischen Bewegung als natürlich und gegeben hinzunehmen. Außerdem hatten Engels und die Sozialdemokraten in Deutschland wie auch in Österreich die Sozialdemokratische Arbeiterpartei als eine bloße Erweiterung, einen Ableger der Partei im Deutschen Reich angesehen.20 Die österreichischen Sozialdemokraten nahmen an der Eisenacher Gründungskonferenz teil. August Bebel und Wilhelm Liebknecht mit ihren 1848er - Verbindlichkeiten behielten ihre Gefühle für ein Großdeutschland bis zum Ende bei. Dem entsprachen Kautskys Ansichten während seiner ersten Versuche, das Völkerproblem in Österreich zu analysieren. Zu der Zeit glaubte er noch, der Nationalismus sei insgesamt ein vorübergehendes Phänomen. Wäre die Revolution von 1848 gelungen, wären die Tschechen bereits in einer demokratischen deutschen Kultur aufgegangen. Jedenfalls würden der fortschreitende Kapitalismus und der internationale Handel die tschechischsprachige Bevölkerung gewiss auf die zwei aussterbenden Klassen reduzieren – den Bauern-
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Vgl. Šolle, Die Sozialdemokratie in der Habsburger Monarchie, S. 317 f.
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stand und das Kleinbürgertum.21 In seinem Vor wort zur Ausgabe von Engels’ Revolution und Konterrevolution in Deutschland von 189621z glaubte Kautsky immer noch, mit der voranschreitenden Industrialisierung habe der Klassenkonflikt innerhalb der tschechischen Nation die deutsch - slawischen Gegensätze stets überschattet. „Sie [ die nationalen Kämpfe in Österreich ] werden Katzbalgereien einzelner Kliquen, hinter denen theils verständnißloses Nachäffen der Tradition, theils bloße Eifersüchtelei [...] steckt. [...] Eine nationale Bewegung, deren wichtigstes Kampfobjekt die Ein - oder Zweisprachigkeit von Straßentafeln oder der Sitz eines Gymnasiums ist, braucht eine wirklich revolutionäre Partei nicht zu beunruhigen.“22 Es entbehrte jeder Realität, das Proletariat in Österreich als nur aus Arbeitern bestehend darzustellen, ohne Bezug auf die ethnische Zugehörigkeit zu nehmen, und die Unterteilung in ethnische Einheiten zu betrachten, als hätte sie keine Folgen für den Klassenkampf. Tatsache war, dass die Geschichte die günstigen Umstände für die deutsch - österreichischen Arbeiter geschaffen und die tschechischen Arbeiter im Vergleich zu ihren deutschen Pendants auf eine niedrigere Stufe gestellt hatte; sie hatte die slowakischen, rumänischen und südslawischen Bauern in der Knechtschaft ungarischer Grundbesitzer gehalten; sie hatte Italiener in die Städte Illyriens und Dalmatiens versetzt, während sie die Kroaten und Slowenen auf dem Lande ließ; sie hatte es den Polen gestattet, das ukrainische ländliche und städtische Proletariat unter Kontrolle zu halten. Generationen der Armut beraubten die meisten Mitglieder der unter worfenen Nationen des Stimmrechts für ein Parlament, das auf der Grundlage eines Zensus gewählt wurde; und ihr Analphabetentum besonders in Bezug auf die deutsche Sprache versperrte ihnen den Zugang zu Regierungsposten und zu den meisten der besser bezahlten Arbeitsplätze. Die Verteidigung der Rechte durch die Volksgruppen an sich war daher gleichzeitig ein demokratischer Anspruch, ein nationalistisches Postulat und eine soziale Rehabilitation. Ihr niedrigerer sozial - ökonomischer und daher auch politischer Status war größtenteils die Folge ihrer Volkszugehörigkeit.
21 Vgl. Marx, Revolution und Kontrerevolution, S. XXI f. ( Vor wort von Karl Kautsky ). 21z Die Schrift besteht aus mehreren Artikeln, die 1851/52 in der New York Daily Tribune unter Nennung von Karl Marx als Autor erschienen sind. Erst bei der Herausgabe des Briefwechsels zwischen Marx und Engels im Jahre 1913 wurde bekannt, dass der Autor Friedrich Engels war, der von Karl Marx, mit anderen Studien beschäftigt, gebeten worden war, diese Artikel für ihn zu verfassen. Siehe dazu Engels, Revolution und Konterrevolution, Anmerkung 1. Da Talmon sich auf die Ausgabe von 1896, die noch Marx als Autor aufführt, bezieht, wird in den Fußnoten 21 und 22 Marx als Autor genannt. 22 Vgl. Marx, Revolution und Kontrerevolution, S. XXX.
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Bürde der irrationalen Geschichte
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Die konsequent denkenden Mar xisten begrüßten die durch die landwirtschaftliche Krise her vorgerufene Landflucht, die ihrerseits aus dem plötzlichen Preissturz für Agrarprodukte in Europa als Ergebnis der Eroberung der weiten Prärien in der neuen Welt mit Pflug und Vieh und der Ausbreitung der Eisenbahnnetze, des Dampfschiffs und der Kühltechnik entstanden war. Die überzähligen und landlosen Dorfbewohner suchten Arbeit in den Städten, und die Kapitalisten sahen ihre Chance in dem neuen Überfluss an billiger Arbeitskraft. Die wie Pilze aus dem Boden schießende Industrie schuf ein wachsendes Proletariat. All dies bedeutete einen beschleunigten Fortschritt hin zum Sozialismus. Gleichheit bei Warentausch und Geldwechsel war in den Augen der Verfechter des Freihandels der Weg zur Gleichberechtigung. Da die Sozialdemokraten glaubten, jede Form von Antagonismus und Unterdrückung beruhe auf ökonomischen Gründen, waren sie überzeugt, dass eine faire und gleiche Behandlung der Arbeiter aller Völker zwangsläufig den nationalistischen Feindseligkeiten den Stachel nehmen und sie zu gegebener Zeit ganz heilen würde. Die Industrialisierung würde den Arbeitern verschiedener ethnischer Gruppen bald klarmachen, dass gleicher Lohn und gleiche Bedingungen und eine einzige Gewerkschaft bei der Unterbindung konkurrierender billiger Arbeit und betrügerischen Streikbruchs, bei der Versicherung gegenseitiger Hilfe im Fall von Streiks und Aussperrungen und bei der Etablierung eines Netzwerks von Agenturen und sozialen Diensten der Arbeiterklasse wie Altersrenten und Krankenversicherung eine wesentliche Rolle spielten. Die Sozialdemokraten waren zuversichtlich, dass Kontakte zwischen und die Vermischung von Arbeitern der verschiedenen Nationalitäten diese zwangsläufig einander näherbringen und ihnen beweisen würden, dass die sozialen Bedingungen eine stärkere Auswirkung auf ihr Leben hatten als die Zugehörigkeit zu einer Volksgruppe. Ergab sich aus der Begegnung eine Annäherung und Freundschaft zwischen den Arbeitern aus verschiedenen ethnischen Gruppen, oder unterstrich sie im Gegenteil die Unterschiede und verstärkte die Feindseligkeiten ? Der erste her vorstechende Aspekt war, dass die früheste industrielle Entwicklung und größte Industriekonzentration sich in Regionen abspielten, die entweder ursprünglich rein deutsch gewesen waren, wie Wien, Niederösterreich und das Sudetengebiet in Nordböhmen, oder, wie die Region um Prag sowie Mähren und Schlesien, eine gemischte Bevölkerung aufwiesen.23
23
Vgl. Benedikt, Die wirtschaftliche Entwicklung, S. 133–153; Marz, Some Economic Aspects, besonders S. 129; Whiteside, Austrian National Socialism, S. 51 ff.; Wittelshöfer, Politische und wirtschaftliche Gesichtspunkte, S. 461–484.
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Das Nationalitätenproblem – Österreich
Die slawischen Neuankömmlinge standen Arbeitgebern, Managern, Angestellten, Vorarbeitern, Facharbeitern einer anderen Nationalität und Sprache gegenüber. Sie waren unvermeidlich auf sich selbst zurückgeworfen und wurden sich äußerst stark des Herren - und - Diener - Verhältnisses bewusst, besonders wenn ihre Arbeit eine gewisse Kenntnis der dominierenden Sprache verlangte. Außerdem konnten die deutschen Industriellen der Versuchung nicht widerstehen, billige, gewerkschaftlich nicht organisierte Arbeitskräfte einzustellen. Sie hielten sie als Gastarbeiter in Behausungen in Lagern, die keiner Kontrolle unterlagen, und isolierten sie von den organisierten, vorwiegend deutschen Arbeitern. Die Vorliebe für billige gegenüber besser bezahlten deutschen Arbeitern wurde mit dem patriotischen Wunsch begründet, die slawischen Arbeiter zur „Wahrung des deutschen Charakters der Stadt“ von der Stadt fernzuhalten.24 Überdies wurde die Annäherung zwischen den Arbeitern aus den verschiedenen Völkern dadurch erschwert, dass die slawischen ehemaligen Bauern keine Tradition der Berufsverbände besaßen, während ein erheblicher Teil der deutschen Industriearbeiter aus der verarmten Handwerkerklasse mit einer langen Erfahrung geschlossener Gilden beziehungsweise aus den Reihen der deutschen Bergarbeiter und Eisenbahner, die eine lange Tradition der Mitgliedschaft in halbgeheimen Berufsgenossenschaften hatten, stammte.25 Hinzu kamen die ungleiche Entwicklung und die zeitliche Verzögerung. Während Böhmen, Mähren und Niederösterreich rasch eine florierende Metall - , Textil - und Chemieindustrie entwickelten, brauchten die rückständigen Regionen – Galizien, die Bukowina und das Küstengebiet Dalmatiens – sehr lange, um urbanisiert zu werden, akzeptable Kommunikationswege aufzubauen und mit der Herstellung von Konsumgütern in Manufakturen zu beginnen. Wäre die Entwicklung stärker synchronisiert und weniger ungleich verlaufen, dann hätte es weniger Migration gegeben, es hätte ein höheres Maß an gleichen Löhnen und Lebensstandards erreicht werden können und man hätte sich viele Spannungen und Ärger erspart. So aber begannen die Mitglieder der weniger glücklichen Nationen gerade erst ihre Lehrjahre unter den harten Bedingungen einer aufkeimenden Industrie, während die Arbeiter der fortschrittlicheren Nationen auf der sozialen Leiter eine oder zwei Stufen höher stiegen. In den frühen Tagen der Industrialisierung und der Gewerkschaftsbewegung ging die Mitgliedschaft in den Gewerkschaften aus der Arbeiteraristokratie her vor, und die wenigen slawischen Arbeiter, die dazugehörten, fühlten sich geehrt, auf einer Stufe mit den Deutschen zu stehen. Der rasche Zustrom gro24 25
Mommsen, Die Sozialdemokratie, S. 35. Vgl. ebd.; Marz, Some Economic Aspects; Wittelshöfer, Politische und wirtschaftliche Gesichtspunkte, S. 491–493.
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Bürde der irrationalen Geschichte
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ßer Mengen tschechischer und anderer, oft analphabetischer Slawen ohne Deutschkenntnisse oder Ausbildung in der Industrie führte zu Isolation und niedrigerem Status, selbst dort, wo die Arbeitgeber nicht absichtlich versuchten, sie von den anderen zu trennen. Den neuen Ansammlungen oder Ghettos slawischer Arbeiter schlossen sich bald Ladenbesitzer, Priester, Lehrer und Handwerker ihrer eigenen Nationalität an. In etlichen Bereichen kam ein wirtschaftlicher Boykott unter dem Slogan „das Eigene nur vom Eigenen [ Landsmann ] kaufen“ zu den Faktoren hinzu, die eine Vertiefung der ethnischen Solidarität und eine Verstärkung des Rassenantagonismus bewirkten. Einen Boykott zu ignorieren, der als Waffe bei der Verteidigung nationaler Interessen betrachtet wurde, galt als Verrat auf dem Niveau eines Streikbruchs. Sobald rückständige Arbeiter aus unterdrückten Nationen die Barriere der vollständig lähmenden Armut, der Erniedrigung und der Unwissenheit durchbrachen und begannen, ein Gefühl für Würde zu entwickeln, empfanden sie für gewöhnlich Missgunst angesichts der Privilegien der Arbeiter der dominanten Volksgruppe. Sie wurden sehr empfänglich für nationalistische Gefühle, weil sich ihr menschlicher Stolz und ihr Klassenstolz leicht dahin lenken ließen. Ihr starker Wunsch nach Alphabetisierung und die erwachte Sehnsucht nach Bildung konnten in der unmittelbaren Zukunft nur durch Vermittlung in ihrer Muttersprache und aus den Quellen ihrer Nationalkultur befriedigt werden. Der Weg zur Allgemeinbildung führt über die nationale Tradition, die wiederum die nationale Selbsterkenntnis vertieft und bereichert. Schließlich erwies sich die Industrialisierung als solche nicht als Wundermittel für die Menschen - oder sogar Klassenbruderschaft und gegen Rassenfeindschaften. Es wäre jedoch falsch zu sagen, dass sie die Grundursache von Nationalismus und Rassenkonflikten war. Ohne Zweifel führten die Migration vom Land in die Stadt, bessere Kommunikationswege, die Konfrontation mit anderen Nationalitäten, ungleiche Entwicklung und ein ungleicher Status zur Intensivierung eines militanten Nationalbewusstseins. Doch sie schufen es nicht. Sobald der Nationalismus die Herzen und Gemüter der Menschen erobert hat, wird er immer einen Weg finden, sozioökonomische Entwicklungen und Mittel, die die Industrie zur Verfügung stellt, sowie neu erwachte kulturelle Interessen in den eigenen Dienst zu stellen, sie gewissermaßen zu „nationalisieren“ und in Werkzeuge des nationalen Kampfes zu ver wandeln. Gute Argumente für die Darstellung des nationalen Kampfgeistes als Folge sozialer Ungleichheit, als Erwachen des Wunsches nach menschlicher Würde und als Sehnen nach Verwirklichung werden sich immer finden.
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IV. „ Ein Kampf auf Leben und Tod“ Die slawischen Nationalitäten, die etwa die Hälfte der Bevölkerung des österreichisch-ungarischen Reiches stellten, waren gegen Ende des 19. Jahrhunderts stark in Bewegung. Die nationalistischen Bewegungen hatten sich von den eifrigen Bemühungen einzelner Antiquare, Gelehrter, Schriftsteller und Publizisten, die sich der Rettung der Überreste aussterbender Volkstraditionen, dem Zusammenstellen von Wörterbüchern, dem Verfassen von Anthologien und dem Versuch der Wiederbelebung eines nationalen Bewusstsein widmeten, zu Massenbewegungen entwickelt. Diese waren darauf aus, der nationalen Besonderheit greifbaren und institutionalisierten Ausdruck zu verleihen sowie sie auf allumfassende und integrierte Weise zur Geltung zu bringen.26 Deutsch war nicht länger das alleinige Ausdrucksmittel der gebildeten Klassen. Die Erhaltung, Pflege und Anerkennung der Muttersprache nicht nur als Medium der Bildung, sondern auch als ein offizielles Kommunikationsmittel des Reiches, wurde zum Markenzeichen und Beweis für nationalen Erfolg, Macht und Prestige. Die Massenmigration verkomplizierte zusätzlich die sprachliche Landkarte in einem Reich, in dem die Rassen schon immer vermischt und verflochten waren. Die Festlegung der Sprachgebiete, das Ziehen von Grenzlinien zwischen ihnen wurde zunehmend schwieriger. Außerdem hatte jede Nationalität eine Diaspora, die oft weit vom Ursprungsgebiet entfernt lag, und es gab Forderungen nach Rechten, Schulen und weiteren Einrichtungen aus staatlichen Mitteln für die Kultivierung der Muttersprache solcher abgelegenen Minderheiten. Es gab wachsenden Widerstand gegen das Prinzip einer Staatssprache, selbst wenn sie in Verkehrssprache umbenannt wurde – mit anderen Worten, gegen Deutsch als offizielle, vereinheitlichende Sprache. Der Kampf war vor allem zwischen Deutsch und den slawischen Sprachen im Gange und erreichte das Ausmaß einer Massenpsychose. Das Zugeständnis an die Tschechen, eine tschechische Beschilderung auf einem unbedeutenden Bahnhof in einem Mischgebiet aufzustellen, löste erbitterte Demonstrationen und Straßenkämpfe in von der kleinen Stadt weit entfernten Gebieten aus.27 Die Entscheidung, in einer Stadt namens Cilli Slowenischund Deutschklassen zu erlauben, verursachte eine parlamentarische Blockade,
26
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Vgl. Jászi, The Dissolution of the Habsburg Monarchy, Teil 4, Kapitel 4; Seton - Watson, A History of the Czechs and Slovaks, Kapitel 13; Zwitter, Les Problèmes nationaux, S. 129–147; Hayes, Nationalism, Kapitel 8. Vgl. Mommsen, Die Sozialdemokratie, S. 392.
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die über Monate alle gesetzgebende Aktivität lähmte.28 Graf Taaffes Streit mit den Tschechen über den Status der tschechischen Sprache ( der nebenbei bemerkt mit einem Bruch des Versprechens an die Böhmendeutschen endete, den Status quo nicht ohne ihre Zustimmung zu ändern ) gab das Startsignal für einen Gewaltausbruch seitens der deutschen Mitglieder des Reichsrates, der alle Pöbeleien der Vergangenheit in den Schatten stellte. Als die Regierung gezwungen war, die Übereinkunft zu widerrufen, erhoben sich die aufgebrachten Tschechen und übertrafen die Deutschen sogar noch.29 Unfähig, irgendein Gesetz durchzubringen, musste die Regierung auf Notverordnungen zurückgreifen. Das lieferte den Ungarn einen Vor wand, die Zusammenarbeit mit der Regierung in Wien zu ver weigern, weil diese ihre Legitimität verloren habe und keine Verpflichtungen eingehen könne. Die Zugeständnisse, die Taaffe den Tschechen ursprünglich gemacht hatte, waren die Folge der Tatsache, dass Wien die tschechischen Stimmen im Reichsrat brauchte, um ein Abkommen mit Ungarn durchzudrücken, das den ungarischen Magnaten nicht behagte.30 Dieser Sprachenkonflikt hatte einen ökonomischen Aspekt, der das nationalistische Ärgernis in eine Ursache für wirtschaftliche Bedrängnis und eine Gelegenheit für diskriminierende Behandlung ver wandelte. Viele, wenn nicht gar die meisten Slawen, und in jedem Fall fast alle Tschechen, beherrschten beide Sprachen, während sehr wenige Deutsche etwas darauf gaben, eine slawische Sprache zu lernen. Die Zuerkennung eines offiziellen Status für eine slawische Sprache gab daher den Slawen, besonders den Tschechen, einen Vorteil in Bezug auf Regierungsstellen und Stellen im öffentlichen Dienst, vor allem, aber nicht ausschließlich in den gemischten Gebieten.31 Die ultrachauvinistische ungarische Regierung – um einen besonders schwer wiegenden Fall zu erwähnen – machte es für alle Eisenbahner im Stephansreich zur Pflicht, Ungarisch zu sprechen, selbst auf entlegenen Linien auf rein slawischem oder rumänischem Gebiet. Die Sache wurde zu einem Problem, das grundlegende Interessen berührte und unkontrollierbare Leidenschaften auslöste.32 Von allen Nationalitätenkonflikten in Österreich - Ungarn war der intensivste und weitreichendste der tschechisch - deutsche.33 Die Tschechen waren keine Nationalität, sondern eine ausgewachsene, aus alter Zeit stammende und 28 29 30 31 32 33
Vgl. Taylor, The Habsburg Monarchy, S. 171 f.; Jászi, The Dissolution of the Habsburg Monarchy, S. 292. Vgl. Seton - Watson, A History of the Czechs and Slovaks, S. 221 f. Vgl. Valiani, The End of Austria - Hungary, S. 8. Vgl. Jászi, The Dissolution of the Habsburg Monarchy, S. 290; Mommsen, Die Sozialdemokratie, S. 272–276. Vgl. Valiani, The End of Austria - Hungary, S. 29. Vgl. Šolle, Die tschechische Sozialdemokratie, S. 181–189.
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Das Nationalitätenproblem – Österreich
fortschrittliche Nation, die den Deutschen fast ebenbürtig gegenübertreten konnte. Ihre Geschichte reichte ins 9. Jahrhundert zurück. Eine Zeit lang hatte ihre Luxemburger - Dynastie ( von außerhalb kommend, aber höchst patriotisch) die Kaiser des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation gestellt. Es gab eine Zeit, als Prag, das die älteste Universität Mittel - und Osteuropas beherbergte, alle anderen Städte innerhalb eines großen Umkreises überstrahlte. Die Hussitenbewegung war die Vorbotin der Reformation und hatte das Christentum in seinen Grundfesten erschüttert. Sie trug auch alle Merkmale eines nationalen und sozialen Aufstands gegen die Deutschen. Im Nachgang zur verräterischen Hinrichtung Jan Hus’ auf dem Konstanzer Konzil – unter Bruch des feierlichen Versprechens, das der Kaiser ihm gegeben hatte – nahm sie die Dimension einer gewaltsamen sozial-religiösen Umwälzung an und rief extrem radikale Häresien und höchst wagemutige soziale Theorien her vor. Sie löste eine Kette von Kriegen aus, während derer die Tschechen erstaunliche Tapferkeit und Einfallsreichtum aufwiesen und dem Deutschen Reich beinahe den Untergang gebracht hätten. Höchst charakteristisch, ja auf anachronistische Art, wurde der Verteidigung der tschechischen Sprache gegen die Übergriffe des Deutschen von den tschechischen Hussiten die Würde eines Kreuzzugs zur Verteidigung des wahren Glaubens und der Ehre des tschechischen Volkes verliehen, auf der eine deutsch dominierte Hierarchie herumtrampelte. Der Mythos von Hus’ Lehre und Martyrium, des tschechischen makkabäischen Kampfes gegen die deutsche götzendienerische Tyrannei, des evangelischen Kommunismus der Taboriten, die Kaiser und Magnaten herausforderten, wurde zu einer sehr mächtigen revolutionären Inspiration.33z Die furchtbare Katastrophe der Niederlage am Weißen Berg 1620, die Dezimierung der tschechischen Nation im Dreißigjährigen Krieg und die folgenden zwei Jahrhunderte völliger Erniedrigung und tiefer Agonie erinnern stark an das jüdische Martyrologium. Innerhalb von Jahrzehnten erzielte das Wiederer wachen der Tschechen im 19. Jahrhundert erstaunliche Resultate. Eine neue, reiche, vielfältige und verfeinerte Kultur entwickelte sich, die Schriftsteller, Komponisten und Wissenschaftler von Weltruf her vorbrachte. Ein Netzwerk autonomer Organisationen und Institutionen entstand, von denen einige – wie die berühmte Sokol - Sportbewegung – zigtausende Mitglieder zählten. Schnell bauten die Tschechen eine sehr beachtliche moderne Industrie auf. Im frühen 19. Jahrhundert war Prag noch eine vor wiegend deutsche Stadt; am Anfang des 20. Jahrhunderts betrug die deutsche Bevölkerung nur noch 25 Prozent, und bis 1910 waren die Deutschen im Stadtrat gar nicht mehr vertreten.34 Ungefähr zur selben Zeit bestand 33z A. d. Ü. : Die Taboriten gehörten zum radikalen und militanten Flügel der Hussiten. 34 Vgl. Mommsen, Die Sozialdemokratie, S. 32; May, The Hapsburg Monarchy, S. 204.
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ein Viertel der Einwohner Wiens bereits aus Tschechen.35 Die Tschechen betrachteten ihre engen Ver wandten, die Slowaken, die tausend Jahre unter dem Joch der Ungarn gelebt und niemals einen eigenen Staat gehabt hatten, als mögliche Kandidaten für eine vereinte Tschechoslowakei. Von allen unter worfenen Völkern des Habsburgerreiches waren die Tschechen, und zu einem gewissen Grad auch die Slowenen, die einzigen Nationalitäten, die vollständig in der Donaumonarchie beheimatet waren. Die Polen, Italiener, Südslawen, Ruthenen und die Rumänen in Ungarn hatten Brüder jenseits der Grenzen, mit denen sie vereint werden konnten und es auf die eine oder andere Weise zu verschiedenen Zeiten auch wollten. Um die Unabhängigkeit zu erlangen, mussten die Tschechen das Habsburgerreich zersplittern. Doch sie waren darüber hinaus fast völlig von Deutschen umgeben. Der Zerfall des Reiches in seine ethnischen Komponenten bedrohte die Tschechen mit einer praktisch völligen Umzingelung durch ein mächtiges deutsches Reich mit weitreichenden Expansionsbestrebungen. Die Tschechen konnten von weitem mit den Russen liebäugeln, doch sie hatten immer starke Vorbehalte dagegen, die Russen innerhalb oder auch nur in der Nähe ihrer Grenzen zu haben. Bis weit in den Ersten Weltkrieg hinein konnten sich die meisten tschechischen Anführer nicht dazu durchringen, die Idee der Errichtung eines völlig unabhängigen tschechischen oder tschechoslowakischen Staates auf den Ruinen eines aufgelösten Österreich - Ungarns zu unterstützen, geschweige denn, diese offen zu vertreten. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs sah Beneš selbst keine ökonomischen Gründe für einen unmittelbaren Untergang oder eine Auf lösung des Habsburgerreiches.36 1913 warnte der weithin respektierte tschechische Arbeiterführer Šmeral seine Genossen vor der Verstümmelung des Reiches. Das würde einen neuen Dreißigjährigen Krieg auslösen, und am Ende fänden sich die Tschechen entweder unter deutschem oder russischem Joch.37 Doch ohne es zu wagen, eine Abtrennung von der habsburgischen Herrschaft inmitten eines großen Aufstands in Betracht zu ziehen, engagierten sich die Tschechen dennoch bewusst und unermüdlich in einer nationalistischen Kampagne innerhalb der Grenzen Österreichs.38 Während die Slawen die ihnen durch Jahrhunderte der Unter werfung aufgezwungene Germanisierung bekämpften ( dauerhaft durchgesetzt durch das bloße Überleben des alten Systems mit dessen zentralisierten Strukturen und Prozeduren, ja den Tatsachen des Lebens, die das ökonomische, soziale, politische und kulturelle Übergewicht des deutschen Elements sicherten ), wurden 35 36 37 38
Vgl. Mommsen, Die Sozialdemokratie, S. 39. Vgl. Beneš, Le problème autrichien, S. 307. Vgl. Šolle, Die tschechische Sozialdemokratie, S. 221–226. Vgl. Valiani, The End of Austria - Hungary, S. 3.
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Das Nationalitätenproblem – Österreich
die Deutschen durch das wachsende slawische Element in Österreich immer mehr beunruhigt. Die Slawen strömten in die deutschen Hochburgen. Wachsende slawische Macht und zunehmender slawischer Einfluss auf der einen und die Demokratisierung der österreichischen Regierungsinstitutionen – zusätzlich zu sprachlichen Zugeständnissen – auf der anderen Seite ließen die Präsenz von Slawen im Reichsrat, in den regionalen Parlamenten und in der Ver waltung immer weiter wachsen. Kabinett um Kabinett bestand aus einer slawischen Mehrheit und wurde von einem Slawen geleitet, und wie oben erwähnt, wurden rein deutsche Gegenden von slawischen Neuankömmlingen überflutet; vormals gemischte Regionen wandelten sich langsam zu rein slawischen Domänen. Kurz, das alte deutsche Erbe wurde von fremden Eindringlingen erobert oder an den Rändern zerfressen. Selbst der vor urteilfreieste Deutsche konnte sich kaum der Überzeugung erwehren, dass Deutschland eine höhere Kultur und höhere Werte repräsentierte und das slawische Vordringen eine Bedrohung für das alte deutsche, ja sogar das europäische Erbe darstellte.39 Es genügt, den bekannten offenen Brief Theodor Mommsens an die Deutschen in der Ostmark zu erwähnen, der sie eindringlich mahnte, die Bollwerke Deutschlands gegen die rückständigen Slawen zu bemannen. „Der Geist der Tschechen“, schrieb er, „versteht keine Vernunft, doch er versteht Schläge. Dies ist ein Kampf auf Leben und Tod.“40 Als alteingesessene Eigentümer fühlten sich die Deutschen nicht als expansionistische Chauvinisten. Im Gegenteil, die Besessenheit der Slawen hinsichtlich ihrer provinziellen Sprachen, ihr Kreuzzug gegen das Deutsche, eine der führenden Sprachen der Welt mit einer der exquisitesten Literaturen und den größten geistes - und natur wissenschaftlichen Schatzhäusern der Menschheit, schien ihnen absurd und aggressiv. Die kleinliche Sturheit, mit der die Slawen um die Anerkennung der Zeichen und Merkmale ihrer Nationalität kämpften, für eigene Dienste und Institutionen, manchmal für einen hohen Preis und scheinbar ohne praktische Zielsetzung, erschien den Deutschen wie eine besessene Irrationalität, die jede sachliche Regierung zerstörte. Manch ein liberaler und gar sozialistischer Deutscher hatte den Eindruck, die Slawen, besonders die Tschechen, wollten von den Deutschösterreichern, dass diese im slawischen Kampf um besondere Privilegien auf Kosten ihrer deutschen Landsleute für sie Partei ergriffen.41 Die Empfindungen der Slawen gegenüber ihrem Anliegen waren durchdrungen von Gefühlen, die Leute in einem Boot, das in Schwierigkeiten ist, oder die Verteidiger einer belagerten Stadt teilen. Für die slawischen Nationalisten gab es kein schlimmeres Anzeichen für mora39 40 41
Vgl. Mommsen, Die Sozialdemokratie, S. 35–39; Fischer, Der großdeutsche Gedanke; Whiteside, Nationaler Sozialismus in Österreich. Seton - Watson, A History of the Czechs and Slovaks, S. 234. Vgl. Mommsen, Die Sozialdemokratie, S. 121.
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lische Verderbnis als Gleichgültigkeit gegenüber dem nationalen Anliegen, keine unehrenhaftere Sünde als die Fahnenflucht, kein verabscheuungswürdigeres Verbrechen als die Abtrünnigkeit. Auch die Deutschen fühlten sich bedroht und belagert. Nicht nur dass sie Positionen an den Außenposten verloren und in ihrem Kernland überrannt wurden; sie waren auch gezwungen, für die besondere Behandlung, die den Slawen zuerkannt wurde, zu bezahlen. Obwohl sie nur 36 Prozent der Bevölkerung Österreichs stellten, zahlten die Deutschen 63 Prozent der Steuern.42 Weit davon entfernt, ihre Schuld anzuerkennen, benutzten die Tschechen und andere diese Tatsache einfach als Beweis der privilegierten ökonomischen Lage, die die Deutschen über die Jahrhunderte durch die Ausbeutung der Slawen erreicht hätten. Ein „Stammeskrieg“ wurde daher in Österreich zur bestimmenden Realität. Er wurde mit Waffen wie ökonomischem Boykott, Straßenschlachten, chaotischer Obstruktion in Abgeordnetenversammlungen, Kämpfen an den Universitäten und verleumderischer Gehässigkeit in der populären Presse geführt. Die vorrangige Realität des Krieges musste alles ihren Notwendigkeiten unterstellen. Auf rationalen Nutzen gerichtete Überlegungen wurden verdrängt von Berechnungen der Relevanz und Wichtigkeit eines jeden Schrittes als Waffe im Kampf. Ökonomische Interessen, Gewinne und Verluste wurden als Instrumente der nationalen Macht beurteilt. Die Demokratie wurde nicht als Instrument zur Sicherung von Menschenrechten, sondern als Gelegenheit zur Rekrutierung von Kämpfern benutzt.43 Kein Wunder, dass diese Orgie aggressiver Irrationalität und Massenpsychose bei Psychiatern wie Alfred Adler und Sigmund Freud ein qualvolles Bewusstsein der versteckten Tiefen der menschlichen Seele und der kollektiven Psyche erweckte,44 umso mehr, als die Lage völlig ausweglos erschien : Die Vernunft schien nicht in der Lage, die Krieg führenden Gruppen zu versöhnen. Alle waren davon überzeugt, dass Österreich zum Auseinanderbrechen verurteilt sei, doch keiner seiner Bestandteile war aus den bereits genannten Gründen darauf vorbereitet und dazu bereit, sich abzuspalten und auf eigenen Füßen zu stehen. Es ist gesagt worden, Österreich sei deshalb so lange erhalten geblieben, weil jede Nationalität ihren Rivalen die Aussicht auf Freiheit so sehr missgönnte, dass sie es vorzog, das Joch der Knechtschaft mit ihnen zu teilen. 42 43
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Vgl. ebd., S. 26; Marz, Some Economic Aspects, S. 130. Vgl. Gulick, Austria from Habsburg to Hitler, Band 1, Kapitel 2; Hantsch, Die Nationalitätenfrage, Kapitel 4; Mayer - Löwenschwerdt, Schönerer, Kapitel 4–7; Pichl, Georg Schönerer, Kapitel 6; Schnee, Georg Ritter von Schönerer, S. 12–77; Whiteside, Austrian National Socialism, Kapitel 1. Vgl. Mommsen, Die Sozialdemokratie, S. 346–352; Braunthal, Victor und Friedrich Adler, S. 122 f.; Schorske, Politics in a New Key.
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V. Die vom Natio na lis mus aus ge höhl te Demo kra tie Die sozialdemokratische Strategie gegenüber dem Nationalitätenproblem bestand darin, zuerst dem gemeinsamen proletarischen Interesse und dem Klassenkampf der Arbeiter der verschiedenen Nationalitäten größten Vorrang zu geben und dann allen Volksgruppen – besonders nachdrücklich ihren Arbeiterklassen – in gleichem Maße den Genuss der durch den Kampf erlangten Vorteile zu sichern.45 Das erste Ziel wurde durch die Not und die schlimmen Entbehrungen begünstigt, die die Arbeiter aller Völker trafen. Von 1866 bis 1881 waren antisozialistische Gesetze in Kraft, und 1884 erlaubte es die Angst vor anarchistischen Aktivitäten und vor der Agitation von Radikalen wie Josef Peukert und Andreas Scheu sowie des Anarchisten Johann Most der Regierung in Wien, einen Notstand auszurufen. Zuvor löste die große Arbeiterdemonstration von 1869 zur Verteidigung von Gewerkschaftsforderungen eine Reihe schwerer Repressalien aus, obwohl das Vereinigungsrecht der Arbeiter 1866 förmlich anerkannt worden war. Die Regierung schikanierte noch jahrelang sozialistische Zeitungen und behinderte Partei - und Gewerkschaftsaktivitäten. Vor allem hatten die Arbeiter bis 1897 kein Wahlrecht und waren nicht im Parlament vertreten. Victor Adler hielt den Kampf um das allgemeine Wahlrecht für das entscheidende Problem. Auch wenn die Desillusionierungen, die durch die reaktionären Tendenzen der bäuerlichen Wähler von 1848 und 1871 ver ursacht worden waren, in Frankreich den geheimnisvollen Nimbus des demokratischen Wahlrechts gedämpft hatten und sich solch ein Nimbus in Deutschland niemals entwickelt hatte, weil das allgemeine Wahlrecht von Bismarck zugestanden worden war, glaubten die Sozialdemokraten in Österreich, sie könnten es nicht nur als Mittel und Symbol der Emanzipation, sondern auch als Instrument zur Milderung der nationalen Diskriminierung einsetzen. Das Wahlsystem mit Wahlmännern, das 1866 eingeführt wurde, erlaubte es den 5 402 landbesitzenden Wählern, 85 Vertreter in den Reichsrat zu schicken ( ein Abgeordneter auf 63 Wähler ); 585 von den Handelskammern ernannte Wahlmänner kürten 21 Vertreter ( ein Abgeordneter auf 27 Wahlmänner ); alle städtischen Steuerzahler hatten nur 118 Abgeordnete (10 918 wählten einen ); und mehr oder weniger reiche Bauern hatten 128 (2 592 Wähler entsandten 45
Vgl. zur Geschichte des sozialistischen Denkens : Cole, A History of Socialist Thought, Band 3, Teil 2, S. 531–542; Kogan, The Social Democrats; Hahn, The Socialist Party of Austria, S. 115–119; Kann, The Multinational Empire, Band 2, S. 154–178; Shell, The Transformation of Austrian Socialism, S. 7–11.
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einen Abgeordneten ). Auf Grund der nationalen Zusammensetzung der Aristokratie und Hochbourgeoisie gab es hier nicht nur eine eklatante soziale Diskriminierung, sondern provozierende nationale Ungleichheit, wobei zwei Drittel der Bevölkerung Österreichs, meist Slawen, stark unterrepräsentiert waren.46 Die Reform von 1882, die Steuerzahlern, die fünf Gulden zahlten, eine Stimme gab ( die an das Abgeordnetenhaus ging ), war für die Arbeiter keine Hilfe. Sie gab einigen Mitgliedern der unteren Mittelschicht eine Stimme, genau genommen klerikalen Antisemiten, ohne die Stärkeverteilung der existierenden Kammern zu verändern.47 Als Graf Taaffe im Oktober 1893 vorschlug, die Eigentumsqualifizierung für Wähler der beiden unteren Kammern abzuschaffen und ihnen 246 Sitze zuzugestehen, während die beiden oberen Kammern mit ihren 106 Sitzen intakt bleiben sollten, wurde er als Jakobiner diffamiert, der die phrygische Mütze aufgesetzt und eine zweite Nacht des 4. August47z heraufbeschworen habe. Der Anführer der polnischen Aristokratie, Graf Stadnicki, protestierte vehement gegen die Verschiebung zugunsten der unteren Klassen, die kein Gefühl für die „geistigen Besitztümer“ der zivilisierten Menschheit hätten. Nach Taaffes Sturz lag es an Graf Badeni, 1897 eine erheblich bescheidenere Reform durchzuführen, indem er eine fünfte Wählerklasse mit 72 Abgeordneten aus einer Gesamtzahl von 425 schuf. Da die bereits existierenden vier Kammern ihre Struktur und Abgeordnetenquote behielten, hatten die Neuankömmlinge keine Möglichkeit, im Reichsrat irgendeinen Einfluss auszuüben. Ohne Macht fühlten sie sich frei, keinerlei Verantwortungsgefühl zu zeigen, und beteiligten sich fröhlich an jeder Obstruktion. Die Wahlen von 1897 erlaubten es der Sozialdemokratischen Partei, nur 14 Sitze zu erobern; 1901 gingen diese gar auf 10 zurück.48 Es waren die Revolution von 1905 in Russland und die Gewährung des allgemeinen Wahlrechts durch den Zaren, die den Sieg der parlamentarischen Demokratie in Österreich unvermeidlich werden ließen. In der Wahl von 1907 gewann die Sozialdemokratische Arbeiterpartei 87 Sitze, die sich auf 50 Deut46
Vgl. May, The Hapsburg Monarchy, S. 63; Cole, A history of socialist thought, Band 3, Teil 2, S. 530. A. d. Ü. : Die Angaben der zitierten Autoren weichen geringfügig voneinander ab; Talmons Zahlen wiederum stimmen mit keinem der genannten Autoren zu 100 Prozent überein. 47 Vgl. Cole, A history of socialist thought, Band 3, Teil 2, S. 527; Mommsen, Die Sozialdemokratie, S. 107. 47z A. d. Ü. : Vgl. Brügel, Die Geschichte der österreichischen Sozialdemokratie, Band 4, S. 212. In der Nacht vom 4. auf den 5. August 1789 beschloss die französische Nationalversammlung u. a. die Abschaffung der Feudalherrschaft, der Leibeigenschaft und der Steuerprivilegien für Adel und Klerus. 48 Vgl. Brügel, Geschichte der österreichischen Sozialdemokratie, Band 4, S. 308, 340– 343. A. d. Ü. : Siehe auch Cole, A history of socialist thought, Band 3, Teil 2, S. 530.
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sche, 24 Tschechen, 6 Polen, 5 Italiener und 2 Ruthenen verteilten. Dieser Erfolg wurde durch den Umstand beeinträchtigt, dass die antisemitische Christlichsoziale Partei 96 Sitze eroberte und die Tschechische National - Sozialistische Partei 9. Das Parlament setzte sich aus 233 Deutschen, 108 Tschechen und 80 Polen zusammen; alle anderen hatten insgesamt 95 Vertreter.49 Der Kampf um die Stimmen – und die Methoden, die dabei Anwendung fanden – hatte einen indirekten Einfluss auf die Nationalitätenfrage und wurde seinerseits davon beeinflusst. Soweit er durch Massenmobilisierung, Massendemonstrationen und Streiks geführt wurde, erhöhte er den Kampfgeist der Arbeiterklasse und ließ die Arbeiter der verschiedenen Nationen vereint erscheinen in einem weitreichenden, gemeinsamen Kampf über eine Frage, die nicht nur für die Arbeiterklassen, sondern auch für ihre Nationalitäten lebenswichtig war. Er gab ihnen auch das Gefühl, dass sie in ihrer radikalen Opposition gegen das Regime und in dem energisch - dynamischen Angriff, der einen sofortigen Durchbruch erzielen sollte, nicht hinter die bürgerlichen Nationalisten zurückfielen. Es war nur zu erwarten, dass der Kampf um das allgemeine Wahlrecht wie in Belgien, Schweden, Italien und anderen Ländern die Frage des Generalstreiks mit sich bringen würde. Das tat er bei zwei Gelegenheiten : 1893, als Taaffe mit seinen Reformvorschlägen her vortrat und gestürzt wurde, und 1905, kurz bevor sich die Angelegenheit in Russland entschied.50 Die Bedingungen in Österreich bildeten keine Brutstätte für Gewerkschaftsideen über den Generalstreik als Waffe der Revolution und als Mittel, um anstelle des veralteten Straßenkampfes den revolutionären Durchbruch zu erzielen. In Österreich spielten wenige mit der Vision des Generalstreiks, der sich zu einem bewaffneten Zusammenstoß weiterentwickeln und in einem allgemeinen Aufstand eskalieren und die Barrikaden an ihren angestammten Platz zurückbringen würde. Im Klassenkampf standen demokratische Forderungen an erster Stelle.51 Jede Frage wurde außerdem vom Nationalitätenproblem überschattet und verkompliziert. Auf der Agenda stand, kurz gesagt, die Modernisierung Österreichs, seine Transformation von einer vor wiegend landwirtschaftlichen, feudal - klerikal - absolutistischen Struktur hin zu einem modernen Industriestaat, der auf gleichwertigem Bürgerrecht, parlamentarischer Regierung und Institutionen der regionalen und ethnischen Selbstver waltung beruhen sollte.
49 50 51
Vgl. Mommsen, Die Sozialdemokratie, S. 381; May, The Hapsburg Monarchy, S. 337– 339. A. d. Ü. : Siehe auch Cole, A history of socialist thought, Band 3, Teil 2, S. 540. Vgl. Mommsen, Die Sozialdemokratie, S. 171–178, 362–370; Hahn, The Socialist Party of Austria, S. 115–119. Vgl. Shell, The Transformation of Austrian Socialism, S. 7–11.
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Der Generalstreik hatte Relevanz als Waffe im Kampf um ein konkretes Ziel, als Mittel des Massendrucks und als Methode, um den Willen der gegen Privilegien und eine irrationale Tradition ankämpfenden Volksmassen zum Ausdruck zu bringen. Doch selbst im Kontext der Wahlrechtsstreitfrage erwog Victor Adler den Generalstreik niemals als Waffe, die das Establishment lähmen, es auf die Knie zwingen und ihm das allgemeine Wahlrecht abringen würde. Er stellte ihn sich vielmehr als den Höhepunkt einer Reihe von Massendemonstrationen vor. Er dachte an einen eintägigen Streik, der den besitzenden Klassen klarmachen sollte, dass die Arbeiter in der Lage waren, das Wirtschaftsleben und die Staatsmaschinerie zum Stehen zu bringen. Er fürchtete einen frontalen Zusammenstoß zwischen den Streikenden und bewaffneten Kräften. Die revolutionäre Romantik war ihm vom Temperament her fremd. Es stimmt : Er missbilligte Eduard Bernsteins Ver unglimpfung des Mythos des apokalyptischen Zusammenbruchs des Kapitalismus, dem die gewaltsame letzte Konfrontation zwischen dem Proletariat und den besitzenden Klassen vorausgehen würde. Doch er tat das, weil er fühlte, dass ohne diesen Mythos der graue tägliche Kampf für bessere Bedingungen und der ununterbrochene Druck zur Erlangung umfassenderer Rechte – seine tagtägliche Praxis – die tieferen Sehnsüchte der Arbeiter nicht erfüllen und die sozialistische Ideologie ihres Glanzes als großes Ideal berauben würden. Er war gleichzeitig gegen große Worte, und vor allem schreckte er vor gewaltsamen Methoden zurück. Er erkannte die relative Schwäche der sozialistischen Arbeiterbewegung in einem Land, das eine erst beginnende Industrierevolution erlebte. Deren unzureichende Mittel sowie der rudimentäre Charakter ihrer Organisation verhinderten jede angemessene Vorbereitung und schlossen die Weiterführung des Generalstreiks, wie befristet auch immer, aus. Die zentrifugalen Kräfte des Nationalismus und der christlich - sozialen Arbeiterbewegung ließen nicht nur Zweifel an der Möglichkeit aufkommen, die proletarischen Massen aller Nationalitäten für eine direkte Aktion – ganz zu schweigen von einer aufständischen – zu mobilisieren : Sie beschworen das Schreckgespenst von Rassenzusammenstößen und Konfrontationen mit Mitgliedern verbrüderter Gewerkschaften, wenn bewaffnete Gewalt erst einmal freie Bahn hätte. Adler war sich auch über die Loyalität der Truppen für den Kaiser im Klaren. Er wusste ebenso gut, dass die äußerst konser vativen herrschenden Klassen ihre Ner ven noch nicht bis zu einem Punkt verloren hatten, an dem sie psychologisch außerstande wären, zur Zerschlagung einer aufständischen Meute rücksichtslos die größte Gewalt anzuwenden. Doch mehr noch, die Haltung der sozialdemokratischen Führung gegenüber der Reichsregierung war nicht von schlichter und unerbittlicher Feindschaft geprägt. Taaffes Vorschläge wurden von den Sozialisten mit Jubel als Sieg ihrer Sache und Folge ihres Drucks begrüßt, obwohl Taaffes Motive keineswegs einer
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Das Nationalitätenproblem – Österreich
demokratischen Überzeugung entsprangen. Er hoffte, den bürgerlichen Nationalisten und liberalen Intellektuellen den Wind aus den Segeln nehmen und sie mit vom Volk gewählten Männern, die nicht ihres Standes waren, überschwemmen zu können.52 Es war eine missliche Lage für die Sozialisten, Partei für eine Politik zu ergreifen, die von einem durch und durch reaktionären Regime vorangetrieben wurde, das die Arbeiterbewegung so lange verfolgt hatte. Einen Generalstreik aus Protest gegen Taaffes Entlassung auszurufen hätte auch das kaiserliche Regime in Verlegenheit bringen können. Es wollte nicht mit einem Verbündeten belastet werden, der „asoziale“ Methoden guthieß und auch zu ihnen griff. Das Nationalitätenproblem fest im Auge, vermied es Victor Adler sorgfältig, eine erbitterte Konfrontation und Polarisierung auszulösen. Als die Unruhen wegen der Sprachenfrage unvermindert anhielten, fühlten die Sozialdemokraten ihre völlige Hilf losigkeit und begriffen, dass sie keine Nationalitätenpolitik hatten, sondern nur Klischees und Gemeinplätze. Am 21. Juli 1897 klagte Victor Adler in einem Brief an Kautsky und ähnlich eine Woche später an Bebel, er würde sich am liebsten so lange verkriechen, bis der Sturm vorbei sei. Es gab noch keine Schwierigkeiten in der Partei selbst, doch er fürchtete eine ausgiebige Debatte zum Thema. „Aber die Tatsache läßt sich nicht verbergen, daß wir für den nationalen Streit zwar famose Schlagworte u[nd ] Beschwörungsformeln für den Hausgebrauch, aber kein positives Programm haben.“53 Seine ganze Philosophie und Politik zielte auf Entgegenkommen, nicht auf Zwang. Es sollte nicht die höhere Gewalt entscheiden, sondern Gesetz, Verstand, anständiges Verhalten und der Grundsatz des Gebens und Nehmens. Da er sich der irrationalen Stärke von Massengefühlen bewusst war, fürchtete er, sie zu verschlimmern. Man konnte ihnen nur – so dachte er – durch die Anerkennung ihrer Existenz und ihrer Stärke und dadurch, dass man ihnen eine gewisse Genugtuung bot, die Schärfe nehmen. Gewalt war ein schlechtes Beispiel, ein schlechter Erzieher und eine ansteckende Krankheit. Das Klassenwahlrecht war falsch und rechtfertigte den Widerstand, doch Gesetzlosigkeit war keine Waffe oder Medizin dagegen. Und so ließ Adler die erregte Massenbewegung, die einen Generalstreik wollte, 1893 und 1905 im Sande verlaufen.54 Die tschechischen Sozialdemokraten waren erzürnt über diese Methoden und fühlten sich von der deutschen Führung der Bewegung im Stich gelassen, besonders von deren Kopf, dem sie nicht nur Verzagtheit vor warfen, sondern 52 53 54
Vgl. Mommsen, Die Sozialdemokratie, S. 167–172; Taylor, The Habsburg Monarchy, S. 164–168. Adler ( Hg.), Victor Adler : Briefwechsel mit August Bebel und Karl Kautsky, S. 233. Vgl. Mommsen, Die Sozialdemokratie, S. 173–175, 366–369.
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Vom Nationalismus ausgehöhlte Demokratie
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auch, dass er nicht mit dem Herzen dabei sei, wenn es um das allgemeine Wahlrecht ging, da dieses nicht im Interesse der Deutschen läge, weil es ihre dominante Position unterminieren würde. Es war nicht nur so, dass die Tschechen militanter als die Deutschen waren und von der Herausforderung und Rivalität ihrer bürgerlichen nationalistischen Landsleute, der Bewegung der „Jungtschechen“, 54z angetrieben wurden. Der Verzicht auf einen Generalstreik und der Rückzug vom Kampf, gerade als er einen Höhepunkt erreicht hatte, nahm dem allgemeinen sozialistischen Ringen vielmehr seine Glaubwürdigkeit. Da der Kampf um das universelle Allheilmittel – das allgemeine Wahlrecht – anscheinend auf unbestimmte Zeit vertagt und der Klassenkampf auf langsamen und allmählichen Druck beschränkt worden war, sah die Kehrtwende wie die Preisgabe der Idee eines raschen und entscheidenden proletarischen Durchbruchs und sozialdemokratischen Sieges selbst in Bezug auf ein solch klar umrissenes demokratisches Problem wie das allgemeine Wahlrecht aus.55 Im Vergleich zur Dynamik und zum Eifer der nationalistischen Bewegungen erschienen die Sozialdemokraten zaghaft, ineffektiv und ohne Zweifel unfähig, die österreichische Realität eingehend zu verändern. Die sozialdemokratischen Führer unter den Nationalitäten, besonders den Tschechen, zeigten daher eine offene Flanke gegenüber bürgerlich - nationalistischer Kritik und Rivalität. Die tschechischen sozialdemokratischen Abgeordneten im Reichsrat befanden sich zur Zeit der großen Obstruktion, die von der deutschen Fraktion aus Protest gegen Badenis Zugeständnis an die Tschechen bezüglich der Rechte der tschechischen Sprache ausging, in einer undankbaren Lage – und ebenso, als die nationalistischen Tschechen ihre Verschleppung anlässlich der Rücknahme des Zugeständnisses betrieben. Offiziell war die gesamtösterreichische Partei neutral. Sie stimmte den Zugeständnissen zu, missbilligte jedoch die Art, in der sie gemacht wurden – den Bruch des vorher den Deutschen gegebenen Versprechens – und verurteilte prinzipiell jegliche Obstruktion.56 Victor Adler würde die trostlose, angewiderte Verzweif lung, mit der ihn das „Irrenhaus“ erfüllte, das Österreich und besonders sein Parlament darstellten, nur ertragen können, wenn es gelänge, die Sozialdemokratische Arbeiterpartei als alleiniges Sprachrohr für geistige Gesundheit und Menschlichkeit aus dem ganzen Wirr warr zu halten.57 In qualvoller Verzweif lung klammerte er 54z A. d. Ü. : „Jungtschechen“ sind Mitglieder der tschechischen Partei der Národní strana svobodomyslná ( Freisinnige Nationalpartei ), die sich 1874 von der Nationalpartei abspaltete. 55 Vgl. Mommsen, Die Sozialdemokratie, S. 174 f. 56 Vgl. ebd., S. 161–170. 57 Vgl. Parteivorstand der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschösterreichs ( Hg.), Victor Adlers Aufsätze, Reden und Briefe, Heft 8, S. 328.
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sich an die Hoffnung, ein erweitertes Wahlrecht wäre fähig, der österreichischen Politik ein Maß an Rationalität und Fairness einzuflößen, indem man die Sozialisten der verschiedenen Rassen gegen den Virus der irrationalen nationalistischen Leidenschaft impfen würde.
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VI. Das Schei tern des sozia lis ti schen Inter na tio na lis mus
Bis zur Jahrhundertwende hatte sich Adler mit der Tatsache abgefunden, dass die österreichische Sozialdemokratie zu einer Föderation von nationalen Parteien geworden war, die unter einer Dachorganisation vereint waren und deren Einheit durch gemeinsame jährliche Parteitage, ein gemeinsames Zentralbüro und sporadische Versammlungen der Führungskräfte der nationalen Parteien symbolisiert wurde. Es hatte sich als unmöglich erwiesen, eine einzige, zentralisierte Partei mit örtlichen Vertretungen aufrechtzuerhalten, denen praktischer weise technische Hilfsmittel aus allgemeinen – doch hauptsächlich deutschen – Geldmitteln zugeteilt wurden, um Presse - und Propagandamaterial in den jeweiligen Muttersprachen zu veröffentlichen. Es genügte auch nicht, die Partner aus den Minderheiten mit Sprechern auszustatten, die sich in ihrer eigenen Sprache an sie wandten, aus demselben Volk stammten und Erfahrung aus erster Hand mit den besonderen lokalen oder ethnischen Bedürfnissen und Besonderheiten hatten. Das Moment nationalen Selbstbewusstseins, durch die Herausforderung des bürgerlichen Nationalismus verstärkt, ver wandelte bald praktische Überlegungen in Prinzipienfragen. Der sozialistische Internationalismus wurde bald nicht mehr als unterschiedslose Einheit aus individuellen Proletariern aller Nationalitäten verstanden, sondern – im Gegensatz zum Kosmopolitismus – als Bruderschaft ethnischer Gruppen. Ohne Zweifel musste eine von Wien aus geleitete, zentralisierte Partei die deutsche Vorherrschaft aufrechterhalten und betonen, selbst wenn man eine angemessene Anzahl Nicht - Deutscher in die Leitung bekommen hätte. Das bekannte Brünner Programm von 1899 interpretierte den Internationalismus deutlich und mit Nachdruck neu, nicht im Sinne von individuellem Gefühl und Überzeugung, sondern von Kooperation, Solidarität und gemeinsamen Zielen von Nationalitäten oder Parteien, die auf der nationalen als der vorrangigen kollektiven Grundlage organisiert waren. Während außerdem die Kronland - Traditionen abgelehnt wurden, bestand das Programm auf territorialer Selbstver waltung der Nationalitäten, wo immer sie möglich sei, auf Schutzmaßnahmen für nationale Minderheiten in gemischten Gebieten und auf ausgedehnten autonomen Rechten, Einrichtungen und finanzieller Unterstützung für kulturelle Selbstdarstellung. Außenpolitik, Verteidigung und Wirtschaftspolitik wurden dem gesamtösterreichischen Parlament überlassen, das auch das Problem der einzigen Amts - bzw. Verkehrssprache lösen sollte. Mit keinem Wort erwähnte das Programm irgendein Recht
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auf Abspaltung vom vereinten Österreich. Dessen Einheit wurde als gegeben angenommen.58 Der Wunsch nach getrennt organisierten, autonomen sozialdemokratischen Parteien und kulturellen Bedürfnissen der Volksgruppen war im Prinzip bereits vom österreichischen Reichsrat anerkannt worden ( jedoch ohne klare Richtlinien und angemessene Ver waltungsmaschinerie, um die Anerkennung des Prinzips praktisch umzusetzen ). Die parlamentarische Vertretung wurde als Mittel gewährt, um gerade das zu erreichen. Man glaubte, diese Maßnahmen reichten weit bei der Heilung der Enttäuschungen und der Besänftigung des Grolls der unterprivilegierten Volksgruppen. Anstatt jedoch nationale Unterschiede abzuschaffen, schien die Modernisierung zu jenem späten Zeitpunkt diese zu verstärken und überdies dem nationalen Separatismus größere Entfaltungsmöglichkeiten und effektivere Werkzeuge zu bieten. Unter den Bedingungen des allgemeinen Wahlrechts und der neu konstituierten, national statt nach Klassen organisierten Wahlkammern musste die Stimmenwerbung die nationalen Leidenschaften bedienen, da besonders in Böhmen und Mähren die Rivalen der Sozialdemokraten das Thema „Nation“ unaufhörlich und zwanghaft wiederholten. Die russische Revolution von 1905 hatte eine enorme Wirkung auf die Völker der Donaumonarchie. Eine neue Ära schien begonnen zu haben. Die Eiszeit schien vorbei. Russland, so lange das Gefängnis der Nationen, erwies sich nicht nur als Vorhut der Revolution, sondern als Schauplatz des Erwachens der Nationalitäten. Wie wir weiter oben sahen, traten als Antwort und im Verbund mit der kolossalen Welle des Aufstands der Arbeiterklasse auch Vertreter jeder Nationalität und nationalen Minderheit Russlands mit lauten Forderungen nach Anerkennung ihres Rechts auf weitgehende Autonomie und Nationalstatus her vor.59 Das internationale Klima und das Umfeld der sozialen und nationalen Kämpfe hatten sich in weiten Bereichen verändert. Die Tschechen und andere bekamen das Gefühl, die Tage des Habsburgerreiches seien gezählt und ein liberales oder sogar sozialistisches Russland könne eine künftige tschechische Unabhängigkeit eher garantieren als bedrohen.60 Den Polen erschien die Aussicht auf ein vereinigtes Polen nicht länger völlig aussichtslos. Polnische Sozialisten aus den drei besetzten Teilen Polens fühlten sich gedrängt, eine pan- polnische sozialistische Partei zu gründen. Dies sollte bald durch den Exo-
58 59 60
Vgl. Mommsen, Die Sozialdemokratie, S. 314 f.; Hantsch, Die Nationalitätenfrage, S. 69–80. Vgl. Seton - Watson, The Decline of Imperial Russia, S. 231–245; Janowsky, Nationalities and National Minorities, S. 19–22. Vgl. Mommsen, Die Sozialdemokratie, S. 384–388; Seton - Watson, A History of the Czechs and the Slovaks, S. 241–244.
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dus der polnischen Sozialisten aus der gesamtdeutschen Partei und die Abspaltung der polnischen Partei aus dem gesamtösterreichischen Sozialdemokratischen Verband erleichtert werden.61 Die Südslawen wurden durch die Ereignisse in Russland tief aufgewühlt. Die Tendenz zu einer jugoslawischen Union der südslawischen Nationen erhielt einen mächtigen Impuls, als die plötzliche, formelle Annexion der bis dahin nur „besetzten“ Gebiete Bosniens und der Herzegowina – als Antwort auf die Revolution der Jungtürken – die Gefühle der Südslawen zum Siedepunkt brachte. Einige Jahre später sollten die Balkankriege – das Vorspiel zum Ersten Weltkrieg – eine Flut nationalistischer Leidenschaft auslösen und sowohl die internationale proletarische Solidarität als auch den Entschluss und die Fähigkeit der sozialistischen Bewegung auf die Probe stellen, dieser Flut etwas entgegenzusetzen, sie einzudämmen und zu verhindern, dass ein Krieg der Nationen die Ideologie der Arbeiterklasse begrub. Am Ende dieses Weges lag Sarajewo. Am Vorabend jener Konfrontation kam eine schicksalhafte Entwicklung zum Höhepunkt, die einer Entwaffnung der internationalen Arbeiterbewegung sehr nahe kam. Aufgrund der Loslösung ihrer Einzelteile – erst der Tschechen, dann der Polen und dann anderer – hörte die föderale Sozialdemokratische Arbeiterpartei in Österreich auf zu existieren. Die Spaltung kam durch einen Streit über eine wesentliche Frage zustande, genau genommen eine Frage nach „Sein oder Nichtsein“ für jede sozialdemokratische Partei. Die Tschechen trennten sich von der Gewerkschaftsbewegung in Österreich mit ihrer zentralen Leitung in Wien.62 Wie wir bereits Gelegenheit hatten her vorzuheben, waren selbst die versöhnlichsten deutschösterreichischen sozialdemokratischen Führer, die ihren Frieden mit dem Gedanken und der Realität getrennter ethnischer sozialistischer Parteien gemacht hatten, unfähig, sich das Auseinanderbrechen der Gewerkschaftsbewegung auch nur vorzustellen. Der Kampf der Arbeiterklasse war ohne solch eine zentrale Organisation, die von einem einzigen Zentrum aus geleitet wurde, unvorstellbar. Ethnische Unterschiede waren im Gewerkschaftswesen per definitionem unzulässig. Überdies war die Gewerkschaftsbewegung in Österreich enger als irgendwo sonst mit der sozialdemokratischen Partei verbunden. In den Jahren der Illegalität, dann der einschränkenden Gesetzgebung und später des Massenkampfes um Gewerkschaftsrechte, allgemeines Wahlrecht und politische Freiheiten waren es die zig - und hunderttausende Gewerkschafter, die auf der Straße marschierten, Streiks durchführten, 61 62
Vgl. Feldman, Ignacy Daszyński. Vgl. Šolle, Die tschechische Sozialdemokratie, S. 210–213; Mommsen, Die Sozialdemokratie, S. 401–422.
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Geldmittel besorgten, in Scharen zu den Veranstaltungen gingen und oft sozialistische Versammlungen und Führer vor der Polizei und der rohen physischen Gewalt politischer Gegner schützten. Die Tschechen bauten eine getrennte Gewerkschaftsorganisation mit einem Zentralbüro in Prag auf. Das erzürnte die deutschen Gewerkschafter und Parteimitglieder und setzte ihre antitschechischen und nationalistischen deutschen Gefühle frei. Nicht alle tschechischen Arbeiter schlossen sich der neuen separatistischen Gewerkschaft an. Ein erheblicher Teil, anfangs war es mancherorts sogar die Mehrheit, blieb als tschechische Sektion der gesamtösterreichischen Bewegung verbunden. Sie wurden von den verbleibenden deutschen gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen Mitgliedern weiterhin als tschechischer Bestandteil angesehen. Gegen den Wunsch Victor Adlers brachte die österreichische Gewerkschaftsbewegung die Frage der Spaltung vor den internationalen Gewerkschaftskongress in Kopenhagen. Die Deutschen klagten die Tschechen des ruchlosen Verbrechens an, die Arbeiterbewegung aus Gründen des nationalistischen Separatismus zu spalten. Die Tschechen klagten im Gegenzug die Deutschen an, sie einschüchtern zu wollen und eine Splittergruppe aus nationalen (tschechischen) Deserteuren aus der Mutterorganisation zu unterstützen, wobei die Deutschen sich in die Angelegenheiten einer autonomen und gleichberechtigten Schwesterbewegung eingemischt hätten. Wie zu erwarten war, wurden die Tschechen mit über wältigender Mehrheit geschlagen. Die Hauptredner für die Mehrheit waren die Deutschösterreicher und die Bosse der mächtigen Gewerkschaftsorganisation des Deutschen Reiches, die gegen nationalistisches Abweichlertum donnerten und die Notwendigkeit eines strikten Zentralismus predigten. Der Streit nahm den Charakter eines Zusammenpralls von Deutschen und Tschechen an. Er rief Erinnerungen an das Konzil von Konstanz wach und beschwor hussitische Untertöne in den Äußerungen der schwer unter Druck stehenden Tschechen. Diese weigerten sich nachzugeben. Die Trennung von der vereinigten Gewerkschaftsorganisation war eine Tatsache. Ihr folgte die formale Abspaltung der Tschechoslowakischen Sozialdemokratischen Partei.63 Es gab zwischen Tschechen und Deutschen in dieser Sache keine gemeinsame Sprache. Für die Deutschen bedeutete der Austritt der Tschechen aus der vereinigten Gewerkschaftsbewegung laut Victor Adler, dass die nationalistischen Instinkte der Tschechen einen „brutalen“ Sieg über die Überzeugung und die Interessen der Arbeiterklassen davongetragen hätten.64 Besonders fas63
64
Vgl. Mommsen, Die Sozialdemokratie, S. 417–421. A. d. Ü. : Talmon spricht von der Tschechischen Sozialdemokratischen Partei, diese hieß von 1894 bis 1938 aber Tschechoslowakische Sozialdemokratische Partei. Vgl. Parteivorstand der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschösterreichs ( Hg.), Victor Adlers Aufsätze, Reden und Briefe, Heft 8, S. 94 f.
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sungslos und erzürnt waren sie angesichts des Beharrens der Tschechen darauf, dass tschechische Volksangehörige, die auf nicht - tschechischem Gebiet in Österreich wohnten, der tschechischen Gewerkschaftsbewegung mit ihrer zentralen Leitung in Prag angehören sollten. Eingebettet in traditionelle Gewerkschaftsargumente und deren Sprache, klangen die für die tschechische Sache vorgebrachten Gründe tatsächlich schwach, hohl und fast scheinheilig, um nicht zu sagen per vers. Doch unter Gewerkschaftern gab es keine andere Sprache. Was wirklich hinter ihrer Rechtfertigung stand, war etwas, das nur wenige tschechische Sprecher bereits bis zum Ende zu durchdenken und noch weniger auszuformulieren vermochten, nicht einmal für sich selbst. Sie wurden angetrieben von dem Gefühl, sie seien nicht länger eine Nationalität, sondern eine Nation im Werden. Es ging nicht länger darum, Zugeständnisse oder sogar Rechte zu erlangen, und gewiss nicht länger um eine Situation, in der den Tschechen aus praktischen Gründen von einer übernationalen Körperschaft Einrichtungen gewährt wurden. Die Tschechen bemühten sich, die Attribute, Bedingungen, Ressourcen, Vermögenswerte, Institutionen und Instrumente einer Nation in Form einer ganzheitlichen Struktur zu sichern. Die tschechischen Arbeiter unter Führung der Tschechoslowakischen Sozialdemokratischen Partei waren auf die Rolle der nationalen Klasse in der werdenden tschechischen Nation aus. Um die aufkeimende tschechische Nation zu führen und zu formen, mussten sie die Macht ergreifen, die Rolle der nationalen Klasse spielen und deren Aufgaben übernehmen. Dazu reichte eine politische Organisation alleine, ohne die mächtige Basis und die ökonomische Macht der Gewerkschaftsbewegung, nicht aus.65
65
Vgl. Šolle, Die tschechische Sozialdemokratie, S. 210–213; Mommsen, Die Sozialdemokratie, S. 441 f.; Cole, A History of Socialist Thought, Band 3, Teil 2, S. 532–535.
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VII. Eine sozia lis ti sche Theo rie der Natio na li tät Die austromarxistische Nationalitätentheorie war das Ergebnis der Suche nach einer sozialdemokratischen Antwort auf die Herausforderung durch den Nationalismus. Es war die Arbeit Karl Renners,66 der dazu bestimmt war, der erste Ministerpräsident der Republik Österreich nach 1918 und dann deren erster Präsident nach dem Zweiten Weltkrieg zu werden, und des jugendlichen Otto Bauer,67 dessen kometenhaftem Aufstieg als Theoretiker in der letzten Dekade vor 1914 eine Führungsposition als Außenminister der ersten Republik Österreich und eine bedeutende Rolle in der Zweiten Internationale bis zu seinem Tod 1938 folgten. Wie gezeigt worden ist, neigten Marx und Engels dazu, die dominierende rassische, sprachliche und kulturelle Gruppe eines Staates als Nation und die rassischen Minderheiten als Randelemente zu betrachten, die weiterhin zum Untergang bestimmte Dialekte sprachen oder lokale Traditionen bewahrten, doch in jeder anderen Hinsicht Teil der Nation und dazu bestimmt waren, schließlich von ihr assimiliert zu werden, besonders wenn erst die Klassenunterschiede vom Sozialismus beseitigt wären. Bauer und Renner lehnten die territoriale Auffassung von Nationalität zugunsten eines ethnisch - kulturellen Konzepts ab. Die Nation war eine eindeutig gekennzeichnete ethnische Gruppe, die von gemeinsamen Ahnen ursprünglich desselben Blutes abstammte. Da ihre Mitglieder für lange Zeit ein gemeinsames Schicksal geteilt, ununterbrochen engen Kontakt gehalten, kooperiert, Erfahrungen, Glück und Unglück geteilt, Tauschgeschäfte miteinander gemacht, bewusst oder unbewusst ihre ökonomischen Ziele koordiniert und vor allem in Form einer gemeinsamen Sprache miteinander kommuniziert hatten, konnten sie nicht anders als einen Nationalcharakter zu entwickeln. Otto Bauer und Karl Renner waren ängstlich bemüht, jegliche Verherrlichung eines Volksgeistes zurückzuweisen, das heißt eines geheimnisvollen Keimes oder einer metaphysischen Substanz, die unausweichlich den Charakter, die Reaktionen, die Neigungen, den Entfaltungsmöglichkeiten aller einzelnen Mitglieder einer Rasse festlegen sollte. In guter mar xistischer Manier sahen sie das Individuum als soziales Produkt, als Summe und Beispiel der Kreuzung sozialer Bemühungen durch die Geschichte und nicht als isoliertes, selbstge66
67
Vgl. Cole, A History of Socialist Thought, Band 3, Teil 2, S. 546–558; Hahn, The Socialist Party of Austria; Shell, The Transformation of Austrian Socialism, S. 126–137; Kann, The Multinational Empire, Band 2, S. 154–178; Leser, Zwischen Reformismus und Bolschewismus, S. 249–262; Renner, Der Kampf der österreichischen Nationen. Vgl. Bauer, Die Nationalitätenfrage.
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Eine sozialistische Theorie der Nationalität
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nügsames Atom. Die Nation war für sie ein ewig werdender und sich entwickelnder, niemals endender Prozess, eine Geschichte der sozialen Entwicklung, geformt von sozial - ökonomischem, technologischem, kulturellem und politischem Wandel. Dann wiederum waren die evolutionsbedingten Veränderungen keine Zufallsentwicklungen, sondern die Funktion und das Resultat der besonderen, historisch bedingten Weise, in der jede Nation auf von außen kommende Stimuli reagierte, wie beispielsweise durch den unterschiedlichen Charakter des britischen, deutschen und französischen Kapitalismus bezeugt.68 Obwohl es die materiellen Bedingungen waren, die den Charakter der Nation in jedem kritischen Augenblick prägten, war der Einfluss der Tatsache, ein Teil der nationalen Gemeinschaft zu sein, bei weitem realer und mächtiger als die Zugehörigkeit zu einer sozialen Klasse. Das Proletariat umfasste Menschen, die dieselben Umstände teilten, doch diese waren nicht so allumfassend wie das Schicksal und die Bestimmung der Nation. Die Arbeiter mochten denselben Lebensbedingungen unter worfen sein, dieselben Krankheiten haben, dieselben Ziele teilen, sich zu einem gemeinsamen Kampf vereinen. Doch vieles teilten sie immer noch nicht; sie kommunizierten nicht so ununterbrochen miteinander, wie sie es mit ihren Landsleuten taten, einschließlich jenen, die einer anderen Klasse angehörten.69 Die Schlussfolgerung, dass die austromar xistischen Theoretiker des Sozialismus der Nation eine konzentriertere Präsenz und eine stärkere Wirkung zuschrieben als der Klasse, ist fast unvermeidlich. Man sieht kaum einen grundlegenden Unterschied zwischen der Betonung nationaler Geschichte – originell als „nationaler Materialismus“ bezeichnet – als der Schöpferin der individuellen Nationen und dem „Volksgeist“ der Romantik, einer Art Geist in der Maschine, einer unvermeidlichen und unbeschreiblichen Seele hinter dieser Geschichte, wenn man von der verrückten Besessenheit des unerbittlichen Rassendeterminismus und der Rassenreinheit absieht. Der grundlegende und wichtige Unterschied liegt nicht nur in Bauers primärem Interesse an dem Recht und der Freiheit des Individuums, sich durch das Medium der kollektiven kulturellen Persönlichkeit auszudrücken, sondern auch in der Tatsache, dass es nicht durch Blutbande unauf löslich damit verbunden ist. Das Individuum konnte sich für eine Mitgliedschaft entscheiden oder – wie zum Beispiel die Juden – sich als Angehöriger einer kulturellen Gruppe verschiedener ethnischer Herkunft wiederfinden. Diese Möglichkeit, sozusagen von einer Kultur in eine andere überzuwechseln, wurde durch die evolutionäre Entwicklung der Nation erleichtert.70 68 69 70
Vgl. ebd., S. 120–138; Renner, Der Kampf der österreichischen Nationen, S. 29–31. Vgl. Bauer, Die Nationalitätenfrage, S. 146–164; Renner, Der Kampf der österreichischen Nationen, S. 26–32. Vgl. Bauer, Die Nationalitätenfrage, S. 353–381.
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Das Nationalitätenproblem – Österreich
Es ist interessant, die historische Analyse des sich ändernden Charakters der Nation zu verfolgen. Am wirklichsten und konzentriertesten erschien die nationale Gemeinschaft im Stadium der germanischen Stammeshorde, als sie isoliert lebte und die Mitglieder alles miteinander teilten. Als Auswirkung zunehmender Bevölkerungszahl, der Sesshaftwerdung auf dem Land als Agrarbevölkerung und der unvermeidlichen Zerstreuung entwickelten einige Teile der Horde Dialekte und schließlich ein eigenes Leben. Andere verschmolzen mit weiteren Stämmen, nahmen viel von deren Blut, Sprache und Charakter auf und wurden schließlich Teil fremder Nationen. Die feudal - herrschaftliche Monarchie im Mittelalter spaltete die Nation in die dominante Oberklasse aus Baronen und Rittern, die dann zur wahren Nation wurde, dem einzigen Teil der Nation, der eine Rolle spielte, und in die Untertanenklassen. Diese, in den Hintergrund gedrängt, waren von einer aktiven Teilnahme an der nationalen Kultur und ihren Bestrebungen abgeschnitten und entwickelten oft eigene Dialekte. Der Aufstieg der Geldwirtschaft, das Aufkommen von Städten und die ungeschriebene Allianz zwischen absoluten Monarchen und der Bourgeoisie gegen die Feudalherren verbanden sich, um die Nation auszuweiten, bis sie die gebildeten und kulturell aktiven Mitglieder der Mittelschichten umfasste. Doch Bauern und Proletariat wurden immer noch im Hintergrund gehalten. Sie waren noch nicht Teil der Nation geworden.71 Es war Ziel und Schicksal des Sozialismus, die niederen Ränge, die so lange aus der nationalen Gemeinschaft ausgeschlossen worden waren, zu befähigen, sich der Nationalkultur anzuschließen und zu Miterben der nationalen Tradition zu werden. Weit davon entfernt, antinational zu sein, auf den Zerfall der nationalen Gemeinschaft und das Ver wischen ihrer besonderen Züge hinzuarbeiten, strebte der Sozialismus danach, die Nation auf weit größere Höhen zu bringen. Endlich würden dort alle Partner sein. Die Partnerschaft würde alle Bereiche und Unternehmungen des Lebens, politische Demokratie, gemeinsamen Besitz, eine unendliche Vielfalt von Werten und Erfahrungen umfassen, wobei die Arbeiter ihre besonderen Erfahrungen und Eigenschaften einbringen könnten, die vor Ursprünglichkeit und jugendlichem Elan überquollen.72 Der Leser ist manchmal erstaunt über die Schlussfolgerung, die sich ihm aufdrängt, nämlich dass die mar xistischen Nationalitätentheoretiker eher als die wahren Verteidiger und Bannerträger eines wahrhaft echten und mächtigen Nationalismus erscheinen wollten, als den Sozialismus an den Nationalismus anzupassen. Ihre sozialistische Doktrin vom „evolutionären Nationalismus“ trägt den Stempel des revisionistischen Reformismus. Die sozialistische Umsetzung einer Idee der Nation wird nicht im Sinne eines revolutionären 71 72
Vgl. ebd., S. 83, 92. Vgl. ebd., S. 101–109.
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Eine sozialistische Theorie der Nationalität
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Durchbruchs, einer gewaltsamen Entmachtung des Klassenfeindes aufgefasst, sondern als evolutionärer Prozess. Das fertige Produkt wurde nicht als Zurückweisung und Leugnung einer abgelegten Vergangenheit durch einen rebellischen Erben präsentiert, sondern als Ver wirklichung, Erweiterung, Läuterung, Rechtfertigung und Vergötterung einer Idee, die schon immer vorhanden und immanent war, auf die gleiche Weise, wie Bernstein und Jaurès den Sozialismus als das geläuterte Produkt der Bestrebungen des europäischen Liberalismus und der Demokratie sowie als krönende Vollendung eines uralten, gemeinsamen europäischen Erbes darstellten. Man gebe einer Nation ebenbürtigen Status und die Mittel zur kulturellen Selbstdarstellung, und der nationale Drang wird befriedigt und alle Aggressivität beruhigt werden.73 Bauer und Renner waren nicht so plump und naiv zu behaupten, dass alle nationalistischen Konflikte das Ergebnis feudaler, klerikaler oder bürgerlicher Manipulation und Aufwiegelung seien. Sie waren realistisch genug, um die exponierte Lage der sozialdemokratischen Führer der nationalen Minderheiten und deren Ver wundbarkeit gegenüber der nationalistischen Anschuldigung, sie ließen ihre unter schwerem Druck stehenden Völker im Stich, zu verstehen. Bauer und Renner waren jedoch immer noch zu rationalistisch, um den dämonischen, obsessiven Charakter nationalistischer Leidenschaft zu erfassen. Sie glaubten aufrichtig an die Möglichkeit, eine Grenze zwischen dem legitimen Drang nach kollektiver Selbstdarstellung und der Leidenschaft für Überlegenheit, Macht, Prestige und Beherrschung anderer ziehen und einhalten zu können. Eine sozialistische Nation konnte per definitionem nicht imperialistisch werden. Wenn der Privatbesitz abgeschafft war, mussten das habsüchtige Temperament und der Wille zur Beherrschung anderer zwangsläufig aussterben.74 Dieser Prozess würde paradoxer weise durch den Umstand erleichtert, dass die sozialistische Nation aus einem Volk in Waffen bestehen werde. Die Streitkräfte wären nicht länger ein abgetrennter und oktroyierter Faktor, der ausschließlich zur Verfügung individueller oder kollektiver nationaler Oberhäupter stand, um zur Unter werfung anderer Nationen eingesetzt zu werden. Es war unvorstellbar, dass in modernen Zeiten Völker den Wunsch haben könnten, in einen Krieg zu ziehen, um Territorien zu erobern und andere Nationen auszubeuten. Und was die ungleiche Entwicklung betraf, die sowohl ökonomische Unterschiede zwischen den Nationen als auch Armut und Mangel verursachte, wodurch die Entmachteten zu dem Versuch getrieben wurden, Ressourcen und Lebensraum oder Märkte zu erobern, so konnte man sich darauf verlassen, dass die Bruderschaft sozialistischer Gesellschaften im Geiste des Internationalis73 74
Vgl. ebd., S. 314–323. Vgl. ebd., S. 507–521; Renner, Der Kampf der österreichischen Nationen, S. 168–173.
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mus den internationalen Wohlstand planen würde. Es würde eine weise Aufgabenverteilung unter den Nationen geben, außerdem ein permanentes und gerechtes Geben und Nehmen entsprechend den Bedürfnissen und Möglichkeiten aller Beteiligten. Die sozialistische Gemeinschaft der Nationen würde wahrscheinlich Massenwanderungen von einem Land zum anderen organisieren, ohne die Auswanderer zu entnationalisieren und sie zu wehrlosen Untertanen von Herrennationen oder fremden Eroberern zu machen.75 Die sozialistische Gesellschaft der Zukunft würde auf einer persönlichen und nicht territorialen Auffassung von Nation beruhen. Das führt uns dazu, ganz kurz die von Bauer und Renner für die Lösung des Nationalitätenproblems in der Habsburgermonarchie vorgeschlagenen konkreten Maßnahmen zu betrachten. Im Gegensatz zum feudal - dynastischen und reaktionären Regime der Kronländer waren die austromarxistischen Autoren, die an jeglicher Möglichkeit verzweifelten, eine akzeptable Grenze zwischen den ethnischen Gruppen des Reiches zu ziehen, entschlossen, das territoriale Prinzip von Nationalität zu ver werfen : die Idee, dass ein Land das exklusive Eigentum der Mehrheitsrasse und der dominierenden Nation sei, mit anderen ethnischen Gruppen, die dort als tolerierte Gäste oder Ärgernis lebten und von denen erwartet wurde bzw. die gedrängt wurden, sich an die Herrennation anzupassen und denen man riet, sich damit zu beeilen. Solch eine Sachlage war die Folge der Idee von monopolistischem Eigentum und feudalem Privileg.76 Die Austromar xisten bestanden darauf, dass ein Land all seinen Einwohnern gehörte, die nicht als Individuen, sondern als Mitglieder kultureller, ethnischer Gruppen und kollektiver Körperschaften gesehen wurden. Renner sah Nationalitäten als Varianten religiöser Konfessionen und betrachtete daher das Territorialprinzip als Spielart des Mottos „cuius regio eius religio“. Eine Nationalität umfasste alle, die sich ihr zugehörig fühlten und sich zugehörig erklärten, und erfasste dementsprechend – etwa wie bei Mitgliedern einer jüdischen Gemeinde – den Ort, an dem sie leben mochten. So konzipiert und definiert, würde eine Nationalität zu einer juristischen Person werden, angemessen errichtet und mit Rechten, Pflichten und der Vollmacht versehen, für die kulturellen, die sozialen und die Bildungsbedürfnisse ihrer Mitglieder zu sorgen. Als solche würde sie die Macht haben, ihre Mitglieder zu besteuern, sie zu vertreten und gegenüber der österreichischen Regierung in ihrem Namen zu agieren. Österreich sollte eine Föderation von Nationalitäten werden. Wo auch immer das territoriale und das personale Prinzip gleichzeitig angepasst werden konnte, würden die Grenzen der Nationalität mit der territorialen autonomen Verteilung identisch sein, mit Ansprüchen und Rechten 75 76
Vgl. Bauer, Die Nationalitätenfrage, S. 353–366. Vgl. ebd., S. 324–353; Renner, Der Kampf der österreichischen Nationen, S. 42–44.
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Eine sozialistische Theorie der Nationalität
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zur Rechtsprechung über ihre Mitglieder, die in anderen Gegenden Österreichs als Migranten oder nationale Minderheiten lebten.77 Wir brauchen uns hier nicht mit der Aufgaben - und Amtsgewaltverteilung zwischen den Institutionen der autonomen Nationalitäten und der zentralisierten Staatsgewalt mit ihren Organen aufzuhalten, die sich der Bedürfnisse und Interessen aller Einwohner des Reiches annehmen würden – wie Verteidigung, Außenpolitik, Wirtschaft, Kommunikation und soziale Gesetzgebung. Worauf es hier ankommt, ist Renners und Bauers Überzeugung, dass die Nationalität, während sie eine Frage des Wunsches nach Zugehörigkeit war, auch einen primären und unzerstörbaren Bezugspunkt darstellte. Wie weit sie zu gehen bereit waren, zeigt sich in der Art, wie sie gegen die Verfechter des territorialen Prinzips von Nationalität argumentierten. Während sie versessen darauf waren, fremde ethnische Gruppen zu unter werfen, waren die territorialen Nationalisten leichten Herzens bereit, ganze Gruppen aufzugeben, die zu ihrer eigenen Kultur gehörten, jedoch außerhalb ihres „nationalen“ Territoriums angesiedelt waren.78 Der andere herausragende Aspekt ist der des Bestehens auf juristischer Anerkennung von Nationalität. Ihr Hauptargument lautete wie folgt : Während die österreichische Verfassung die Nationalitäten formell anerkannt und ihnen die Befriedigung ihrer legitimen Ansprüche und Bedürfnisse in solchen Angelegenheiten wie dem Gebrauch ihrer Nationalsprache bei offiziellen Anlässen, in Schulen, bei kulturellen Aktivitäten, dem Zugang zu Arbeitsplätzen versprochen hatte, wurde die Nationalität niemals förmlich und bindend dergestalt anerkannt, dass sie einen bestimmten Adressaten hatte und von einer kompetenten, legal etablierten und allgemein anerkannten Körperschaft vertreten wurde. Die Vagheit der Versprechen und die Abwesenheit von Körperschaften, die sie verpflichtend definiert und auf ihre Erfüllung geachtet hätten, waren der Grund für die chaotischen und aggressiven Formen, die der Rassenkonflikt annahm.79 Es wurde eine Rauferei um Posten, Privilegien, Prestige und Macht, die im Geiste eines erbitterten Krieges geführt wurde, der auf den Straßen, in Studentenschlägereien, provozierenden Demonstrationen, Wirtschaftsboykotten, parlamentarischer Obstruktion und gewalttätiger Schmähung und Aufwiegelung in der Boulevardpresse und in Versammlungsstätten ausgetragen wurde, bis alle geordnete Regierung zum Stillstand gekommen und die parlamentarischen Institutionen zusammengebrochen waren. Übrig blieben die reaktionären aristokratischen Regierungen,
77 78 79
Vgl. Renner, Der Kampf der österreichischen Nationen, S. 72–92. Vgl. Bauer, Die Nationalitätenfrage, S. 334–339; Renner, Der Kampf der österreichischen Nationen, S. 35 f. Vgl. Bauer, Die Nationalitätenfrage, S. 274–282; Renner, Der Kampf der österreichischen Nationen, S. 71–73.
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Das Nationalitätenproblem – Österreich
die mit Dekreten oder mit der Hilfe von heimlichen, sich nicht von Korruption unterscheidenden Konzessionen regierten. Die Sozialdemokraten waren händeringend bemüht, ungleiche und widersprüchliche Ziele in Einklang zu bringen, Anklagen der Abtrünnigkeit von ihrer Nation abzuwenden und sich gleichzeitig als gute internationalistische Sozialisten zu erweisen, die nationale Identität und Selbstdarstellung zu sichern und gleichzeitig die internationale Einheit im Kampf für den Sozialismus zu bewahren. Der Nationalitätenkonflikt war ein unbezwingbares Ärgernis auf dem Weg zu Sozialismus und Demokratie. Doch es war ein gordischer Knoten, der nicht zerschlagen werden konnte. Aus dem engen realpolitischen Blickwinkel war es unmöglich, Grenzen zu ziehen und die Unabhängigkeit aller geteilten Nationalitäten zu erklären. Solch ein Sieg des Territorialprinzips war geeignet, jeden neuen Staat vielleicht mit noch mehr vergifteten ethnischen Konflikten zu belasten. Der Zusammenbruch der Monarchie würde die meisten der österreichischen Nationalitäten der Gnade Russlands ausliefern, den Hoffnungen auf polnische Wieder vereinigung und Unabhängigkeit ein Ende setzen und aus den Tschechen Vasallen oder Geiseln Russlands oder Deutschlands machen.
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Vier ter Teil Die jüdi sche Dimen si on
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I. Das frem de Fer ment und der Schat ten des Ber ges Gibt es einen triftigen Grund, näher auf die jüdische Herkunft von Revolutionären, Sozialisten, Radikalen oder etwa auch Natur - und Geisteswissenschaftlern, Schriftstellern, Künstlern, Politikern, ja Menschen jeder sozialen Schicht einzugehen, die trotz jüdischer Abstammung die jüdische Religion nicht praktizierten, nicht aktiv am jüdischen Leben teilnahmen, keine jüdischen Kontakte pflegten, sogar in manchen Fällen bewusst jede Brücke zur Welt des Judentums hinter sich abgebrochen hatten ? Sollte der überproportionalen Anzahl von Männern und Frauen jüdischer Herkunft unter den Theoretikern des Sozialismus, Revolutionsführern, Aktivisten in radikalen Bewegungen – vor allem unter den Gründern der Sowjetunion –, den Erbauern der kommunistischen Regime in Osteuropa nach 1945 und schließlich in der neuen Linken irgendeine Bedeutung beigemessen werden ? Lässt sich irgendein gemeinsamer „jüdischer“ Nenner zwischen Karl Marx, Ferdinand Lassalle, Rosa Luxemburg, Leo Trotzki, Karl Radek, Lew Kamenew, Grigori Sinowjew, Jakow Swerdlow, Moissei Urizki, Maxim Litwinow, Lasar Kaganowitsch, Ana Pauker, Rudolf Slánský, Jakub Berman, Hilary Minc, Matyas Rakoszy, Léon Blum, Harold Laski, Daniel Cohn - Bendit finden, abgesehen von dem bloßen Zufall ihrer jüdischen Geburt ? Zeigten sie Eigenschaften eines Gruppengeistes und repräsentierten sie einen Stil oder ein Temperament, wodurch sie sich von irgendeiner, aus einer nationalen oder internationalen Auswahl zusammengewürfelten Gruppe revolutionärer und sozialistischer Führer unterschieden ? Dies sind furchtbar schwer wiegende und quälende Fragen geworden. Hitler hat es höchst schmerzlich, nahezu unmöglich gemacht, sie zu stellen, geschweige denn sie leidenschaftslos zu diskutieren. Es gibt da das Grausen vor allem, das entfernt, und sei es auch nur durch Assoziation, an Rassismus erinnert. Hitler griff sich den internationalen jüdisch - mar xistischen Revolutionär als Hauptziel heraus, als Prototyp des jüdischen Missetäters, der die gesamte arische Zivilisation zerstörenden Mikrobe. Die Bestrafung, die er dem jüdischen Volk als Ganzem zuteilwerden ließ, war so furchtbar, dass es einen Schauder auslöst, nur die Frage zu stellen. Sie zeugt von schlechtem Geschmack, wird zu einem Akt der Pietätlosigkeit, einer unverzeihlichen Übertretung, wenn nicht gar einem Zeichen von morbidem Masochismus. Das Problem wurde auch durch die ver wirrende Änderung, die sich im Verhältnis zwischen Juden und Revolution in den vergangenen zwei oder drei Dekaden mit dem Aufkommen des sowjetischen Antisemitismus und der Angleichung der Kräfte des Kommunismus, der „Dritten Welt“, der neuen Linken und, natürlich, der Araber gegen Israel – was jetzt als antreibender Geist
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Die jüdische Dimension
des gegenwärtigen Imperialismus angesehen wird –, ergeben hat, nicht für eine Diskussion zugänglicher gemacht. Indirekt, und oft direkt, in jedem Fall objektiver weise, hat diese gemeinsame Front alle Merkmale eines antisemitischen Kreuzzuges angenommen, da die Zukunft des jüdischen Volkes an sich so untrennbar mit dem Schicksal des jüdischen Staates verbunden ist – nach der Zerstörung der jahrhundertealten jüdischen Kultur in Mittel - und Osteuropa und im Licht der wachsenden Atomisierung des jüdischen Lebens im Westen und in der UdSSR, wie auch immer das Für und Wider des tragischen Konflikts zwischen Juden und Arabern aussehen mag. Dieser Autor gehört nicht zu denen, die leugnen, dass Letztere ebenfalls Ansprüche geltend machen können. Die Frage der Revolutionäre mit jüdischer Abstammung mag als nur ein Aspekt des viel breiteren, noch stärker herausfordernden und nicht weniger brisanten Themas gelten : die Juden in der modernen Welt. Wie können wir das seltsame Phänomen einer zahlenmäßig kleinen, sich am Rande befindlichen, zerstreuten Gruppe ohne zentrale Autorität erklären; scheinbar in ständigem Verfall begriffen, noch bis gestern eine fast hermetisch abgeschlossene und geächtete Sekte, die fast über Nacht zu einem so wirksamen Bestandteil des Schicksals Europas, um nicht zu sagen : der Welt, geworden ist ? Bereits durch die bloße Tatsache seiner Existenz wurde es zu einem problematischen und kontroversen Faktor, unendlich mehr jedoch auf Grund des riesigen Schattens, den es warf, sowie der heftigen Reaktionen, die dessen Bild her vorrief. Welche furchtbare Macht besaß jenes Gespenst, dass es Menschen verrückt machte und dazu antrieb, jenes Verbrechen auszuführen, vor dem die Vorstellungskraft zurückschreckt ? Wir befinden uns hier in der Sphäre äußerst schwer fassbarer Unwägbarkeiten, von Dingen, die weder gemessen noch gewogen, weder wie im Labor nachgewiesen noch durch statistische Daten quantifiziert werden können. Mehr noch, wir stehen einem ver wirrenden Widerspruch zwischen ätherischen Unfassbarkeiten und Furcht einflößend realen, erdrückenden, unwiderruf lich „letzten“ Konsequenzen gegenüber. Je dünner und schwächer die Bande zwischen Juden in der heutigen Zeit wurden und je schneller ihre Assimilation an die allgemeine Umgebung erfolgte, desto stärker wurden sie im feindseligen Blick als kompakte und entschlossene Kraft wahrgenommen. Handelte es sich um eine Zwangsvorstellung in Bezug auf eine eigenartig unausgewogene und isolierte Gruppe ? Die schreckliche Wahrheit ist, dass diese erstaunliche Störung sehr tiefe und alte Wurzeln hatte und nur in einem überaus günstigen Kontext wirksam werden konnte. Liberale und allgemein Menschen mit rationalistischer und humanistischer Überzeugung, Menschen, die an die primäre Realität und die Selbstbestimmung des Individuums glauben, neigen dazu, über so viel Lärm um Nichts die
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Das fremde Ferment und der Schatten des Berges
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Stirn zu runzeln. Doch die meisten Nichtjuden, die weder eingeschworene Antisemiten noch hingebungsvolle Philosemiten und auch keine doktrinären Individualisten sind, sowie gewiss die meisten Juden leiden an einem unüber windlichen Unwohlsein beim Thema Jude und Nichtjude. Bei einer der ersten Sitzungen des Jerusalemer Gerichts, das Adolf Eichmanns Fall verhandelte, fragte der Anwalt des Angeklagten, Dr. Ser vatius, den angesehenen amerikanisch - jüdischen Historiker, der berufen worden war, den geschichtlichen Hintergrund der „Endlösung“ darzulegen, warum die Juden, „wenn sie so viel Gutes getan hätten“, zu allen Zeiten und in allen Nationen zum Problem wurden und warum der Antisemitismus so wild wucherte.1 Es musste etwas an den Juden geben, das sie in solch dubiose und komplexe Situationen brachte und so viel Feindseligkeit her vorrief. Das ist die Art Frage, die eine Menge Juden zur Raserei treibt. Ein britischer Historiker, der beim besten Willen nicht als Antisemit bezeichnet werden kann, geriet vor einigen Jahren in Schwierigkeiten, als er dieselbe Überlegung in einer Buchbesprechung über die französische Aufklärung und den Antisemitismus anstellte. Die jüdische Überreaktion angesichts solch einer Frage mag übertrieben und neurotisch sein. Sie mag einen Mangel an Selbstbewusstsein und eine paranoide Veranlagung nahelegen. Doch wie die Geschichte so ausführlich gezeigt hat, sehen wir uns hier einer Frage gegenüber, die sehr wohl Bluthochdruck und irrationale Aggressivität auslöst und unkontrollierbar ansteckend sein kann. Das Verhältnis von Juden und Nichtjuden in der christlichen Kultur stand unter dem Fluch einer fundamentalen neurotischen Blockade, eines Traumas, das sich über die Jahrhunderte entfaltete und auf diesem Weg durch fatale Begegnungen, unvorhergesehene Schwierigkeiten und bedauerliche Missgeschicke immer mehr an Virulenz gewann. Die jüdische Geschichte ist eine Lektion über die Gewalt der Toten über die Lebenden, über die Macht der Vergangenheit, die Geschicke einer Nation für alle Zeiten zu bestimmen und ihr Schicksal durch unvermeidlich wiederkehrende Muster zu formen. Sie ist auch eine Lektion über die Macht traumatischer Erfahrungen, bleibender Erinnerungen und zwanghafter Bilder, wirksamer zu werden als die tatsächlichen Gegebenheiten, sie zu überschatten und zu verzerren, indem sie mit zwanghaft angenommenen Eigenschaften und unverhältnismäßigen Dimensionen umgeben werden. Das vorherbestimmte Schicksal siegt sozusagen über die bewusste, wohlüberlegte Entschlossenheit echter Menschen, die unmittelbaren Entscheidungen gegenüberstehen. Es genügt, die Lage zu bedenken, in die der Staat Israel als „der Jude unter den Nationen“ versetzt wurde, das Los schlechthin, dem zu entkommen der jüdische Staat geplant und geschaffen wurde. Das mag 1
Vgl. The Attorney - General of the Government of Israel versus Adolf Eichmann. In the district court of Jerusalem, Criminal Case No. 40/61, Session 13, 24.4.1961.
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Die jüdische Dimension
in einer Ära quantitativer Geschichte insgesamt zu mystisch, zu verschwommen und zu altmodisch klingen. Doch es ist eine Schlussfolgerung, die nur die immense Macht der Geschichte und die Realität der Fakten aus Psychologie und Soziologie bestätigt. Die „neurotischen“ Reaktionen von Juden auf die Art Frage, wie sie Dr. Ser vatius Prof. Salo Baron stellte, erinnern an die Forderung schwarzer Amerikaner, nicht nur formelle Chancengleichheit zu erhalten, sondern für die Jahrhunderte der Sklaverei, der Entbehrungen und der Demütigung entschädigt zu werden, die sie für den Konkurrenzkampf so schlecht ausgerüstet zurückgelassen haben. Die Juden möchten implizit von jeglichen Verleumdungen und den Auswirkungen des Haufens falscher Anschuldigungen verschont bleiben, die sie so verletzlich, ja von vornherein zu mutmaßlichen Schuldigen machen. Zugegeben, der militante, mörderische Antisemitismus ist eine schlimme Krankheit, doch wie soll gleichwohl der Historiker als klinischer Analytiker und Anthropologe einen klaren Kurs zwischen diesen Felsen und Untiefen steuern, zwischen den furchtbaren Schatten und den oberflächlichen Verallgemeinerungen, wie wohlmeinend oder böswillig sie auch seien, die mit ihrem platten Rundumschlag nichts erklären : dass die Menschheit böse ist, dass Fremdenfeindlichkeit immer vorhanden ist, dass die autoritären, aggressiven Instinkte ein Ziel brauchen, dass Minderheiten immer im Nachteil sind, dass es die Schuld des Christentums und des Kapitalismus war ? Wie könnte man sich schließlich davor schützen, ein enormes Problem zu trivialisieren, indem einfach unschuldige Lämmer neben gierige Wölfe gestellt werden ? Was sollte dann der Forscher tun, um nicht als advocatus diaboli zu erscheinen, um zu vermeiden, in die Haltung der „überlegenen Weisheit“ eines „Alles verstehen und alles verzeihen“ zu verfallen ? Wir haben gesagt, dass das Verhältnis von Juden und Christen unter dem Fluch einer jahrtausendealten Neurose steht. Louis Namier beschrieb die Neurose als eine Reaktionsweise, die sich unverhältnismäßig zum Stimulus verhält. Er pflegte hinzuzufügen, die Neurose sei der Normalzustand der Menschheit.2 Die Neurose in unserem Fall ging zweifellos hauptsächlich auf das Bild des Juden als Gottesmörder zurück. Bevor dieser Punkt weiter ausgeführt wird, sollte man jedoch jeglicher Deutung, die auf dieser Tatsache basiert, eine Rückblende auf eine noch weiter zurückliegende Vergangenheit und noch frühere Komplikationen voranstellen. Von allen Rassen, Völkern, Religionen und Stämmen, die von Alexander dem Großen und den Römern erobert wurden, wurden nur die Juden nicht assimiliert, jedoch stark von der hellenistischen und lateinischen Kultur beein2
Vgl. Namier, Avenues of History, S. 4 f.
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flusst. Alle anderen, oder zumindest die städtischen Eliten, wurden völlig assimiliert, egal welche Rückwirkungen die unter worfenen Traditionen, besonders die orientalischen Kulte, auf ihre Eroberer hatten. Zu Lebzeiten Christi stellten die Juden in Palästina und der weit verstreuten jüdischen Diaspora, die einen guten Anteil Proselyten umfasste, die sich mehr oder minder mit dem jüdischen Glauben identifizierten, etwa zehn Prozent der Bevölkerung des Römischen Reiches.3 Ohne sie hätte die Tätigkeit Paulus’ und anderer Missionare des neuen Glaubens – menschlich gesprochen – niemals den Erfolg erzielt, den sie schließlich hatte. Obwohl sie die dritte Kultur unter den Kulturen des Mittelmeeres darstellten, blieben die Juden abgesondert.4 Sie waren sich extrem ihrer selbst bewusst, schreckten vor Mischehen zurück, lehnten gemeinsame Mahlzeiten mit anderen ab. Sie hielten zusammen. Sie wurden deshalb des Menschenhasses, der Feindschaft gegen die Menschheit angeklagt. Da sie sich störrisch weigerten, sich zur Teilnahme am Cäsarenkult zwingen zu lassen, weil ihr Herrscher Gott selbst war und sie keine Götterbilder verehren oder sich vor sterblichen Menschen verneigen wollten, wurden sie als illoyal und rebellisch angesehen. Der unsichtbare und unbegreif liche Gott der Juden, der sich nur einmal im Jahr am Versöhnungstag ( Jom Kippur ) dem Hohepriester im Allerheiligsten zeigte, zu dem niemand sonst jemals Zugang erhielt, legte es unverständigen Beobachtern nahe, dass die Juden viel zu verstecken hätten. Daher stammen die absurden, von Tacitus, Apion und anderen wiedergegebenen Geschichten, dass die Juden im Allerheiligsten ein Schwein oder einen Esel anbeteten.5 Die Völker der Antike, besonders die des Nahen Ostens, die nach und nach das Christentum annahmen, neigten daher bereits dazu, die Rolle, die den Juden bei der Kreuzigung zugeschrieben wurde, auf besondere Art zu sehen. Vor urteil und Feindseligkeit waren bereits vorhanden. Die Juden wurden bereits als anders, fremd, seltsam, verachtenswert, verdächtig, oft auch unheimlich wahrgenommen. Das war durch die bedeutsame Begegnung von Juden und Griechen in Alexandria verstärkt worden. Die Polemiken zwischen ihnen lesen sich auf unheimliche Weise wie die Debatten zwischen Antisemiten und Juden in moderner Zeit. Die Juden, wie Philo, behaupteten, vollwertige Bürger zu sein. Die Griechen von Herkunft oder Kultur, besonders Apion, ver weigerten ihnen den gleichen Status und entwarfen eine ganze Philosophie, um
3
4 5
Vgl. Baron, A Social and Religious History of the Jews, Band 1, S. 132 f.; Stern, Die Zeit des Zweiten Tempels, S. 341–343; Grant, The Jews in the Roman World, S. 11 (Introduction ), 60 f. Vgl. Grant, The Jews in the Roman World, S. 59. Vgl. Tacitus, Geschichtsbücher ( Historien ), Buch 5, Kapitel 1–5; Stern, Greek and Latin Authors, Band 1, S. 409; Schürer, A History of the Jewish People, S. 206.
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diese Ver weigerung zu begründen.6 Das Überraschende ist gleichwohl, dass die neue Botschaft aus Judäa von der hellenistischen Welt in Form einer Synthese aus jüdischer Theologie und griechischer Philosophie angenommen wurde, obwohl zu einem früheren Zeitpunkt die Übersetzung der Bibel ins Griechische – die Septuaginta – bei ihrem Erscheinen keine Reaktion von Seiten griechischer und lateinischer Autoren auslöste. Es spricht viel für Nietzsches außergewöhnliche Beobachtung, die nichtjüdische Annahme des Christentums sei nur durch die Tatsache oder den Glauben ermöglicht worden, dass die Juden, aus deren Mitte der Heiland her vorging, ihn auch getötet hätten. Nietzsches Erkenntnis wird getrübt durch seinen Hinweis, dies sei ein atemberaubender Racheakt der Juden an der nichtjüdischen Welt gewesen. Sie hätten nur durch diese Arglist erfolgreich die indirekte Herrschaft über die Welt erlangen und den Menschen ihre Sklavenmentalität und priesterliche Askese einimpfen können.6a Es ist nicht weniger paradox, dass der universelle Glaube niemals entstanden wäre, wenn es nicht die rückständige Rebellion sektiererischer Fanatiker, der Makkabäer, gegeben hätte, die den Prozess der Assimilierung an den heidnischen Hellenismus aufhielt : ein Paradigma der Wiederholung – ethnische Exklusivität als Hebel universeller Entwicklungen. Warum hätten die Juden überhaupt erst die Haltung annehmen sollen, die sie für die sie umgebende Welt so unausstehlich machte ? Obwohl die Darstellung des Missverständnisses recht klar erscheint, bleiben die Anfänge des Stimulus, der eine so unverhältnismäßige Reaktion her vorrief, ein Mysterium. Wir denken an die Art, auf die die Juden als Volk, und nicht nur einzelne Denker unter ihnen, durch das Aufflackern von Erkenntnis in den Besitz der ungeheuren Wahrheit von der Existenz einer einzigen, gänzlich transzendentalen Gottheit gelangten, des Schöpfers des Universums, der Quelle allen Wissens und aller Güte, dem Regler des Schicksals der Menschen, dem höchsten aller Richter. Die entdeckte Wahrheit schien so allumfassend, dass man von ihr annahm, sie erkläre alles. Sie schien nicht nur die Eingeweihten zu befähigen, auf die Suche nach jeglichen weiteren Grundlagen und Gründen für die Realität zu verzichten, sondern es ihnen geradezu zu verbieten. Sie bildete schließlich ein so detailliertes und vollständiges Vademecum aus Gesetzen und Regeln, dass Versuche, nach weiteren Gründen zu suchen oder mit anderen Lebensweisen zu experimentieren, den Charakter pietätloser Aufsässigkeit annahmen. Gottes Allmacht machte es auch zum Vergehen, irgendeinem Souverän außer ihm zu gehorchen. Daher die Obsession der Juden vom rechten Handeln, im Gegensatz zur griechischen Leidenschaft für das rechte Denken. Hier 6 6a
Vgl. Stern, Die Zeit des Zweiten Tempels, S. 289; ders., Greek and Latin Authors, S. 389 ff. Vgl. Nietzsche, The Philosophy of Nietzsche, S. 644 f.
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liegt der Schlüssel für den Abgrund zwischen der unersättlichen Neugier der Griechen, dem Wunsch, jede Existenzform auszuprobieren, und der lähmenden Angst der Juden vor der Übertretung der Gebote.7 Das Streben nach Geradlinigkeit und Rechtschaffenheit erstickte sowohl die wissenschaftliche Suche als auch ästhetische Bedürfnisse. Seine fanatische, unverständliche und arm machende Zielstrebigkeit stieß die hellenisierte und latinisierte Umgebung ab. Kein Wunder, dass die Behauptung eines kulturell so unbedeutenden Volkes, die auser wählte, überlegene Nation zu sein, als ein Zeichen reiner Arroganz und unheilbaren Fanatismus’ erschien. Dies umso mehr, als die Juden militärisch und politisch nicht nur völlig unwichtig, sondern die Opfer einer jeden starken Macht waren : besiegt, gedemütigt und schließlich vertrieben und zerstreut. Dass sie fähig waren, die Verleumdung der Nachbarn zu ertragen, Katastrophen und Erniedrigung zu überleben und dennoch standhaft zu bleiben, ja sogar gestärkt aus ihrem Glauben her vorzugehen und einen unübertroffenen Gruppenzusammenhalt zu bewahren, ging auf eine Reihe von Faktoren zurück. Man glaubte, der Bund sei zwischen Jahwe und den Kindern Israel als Kollektiv, als Volk, geschlossen worden. Es war kein esoterisches Mysterium, das einem einzelnen Propheten oder Heiligen preisgegeben wurde, es wurde nicht in den Gewahrsam einer auser wählten Priesterschaft, einer monopolistischen Kirche gegeben. Es gab keine Andeutung einer Trennung in vollkommene Diener Gottes und unvollkommene Gläubige, einer Unterscheidung zwischen einer Minderheit, die lehren, ein Beispiel geben, führen sollte, der mehr gegeben wurde und von der mehr erwartet wurde, und einer Mehrheit aus einfachen, eher passiven Gläubigen, die sozusagen am empfangenden Ende standen und von denen daher weniger erwartet wurde. Der Dienst am Herrn wurde nicht von Individuen als solchen, sondern vom Volk als Ganzem geleistet. Es war kollektiv verantwortlich und sollte Belohnung und Strafe als Gruppe erhalten. Daher stammten die Würde jedes Einzelnen sowie das starke Band, das sie alle verband, und als Begleiterscheinung die Folgen grundlegender Gleichheit. Die hebräische Prophezeiung konzentriert sich daher gleichermaßen auf beides : die kollektive Pflicht gegenüber Gott und die Rechtschaffenheit, die gegenüber jedem Individuum in der Gemeinde eingehalten werden sollte, besonders gegenüber den Schwachen, Benachteiligten und Verletzten. Wenn durch Heiden beigebrachte Niederlagen und soziale Übel im Inneren die Frage her vorriefen, warum die Rechtschaffenen leiden und die Gottlosen gedeihen, fand sich die Antwort im messianischen Glauben. Das Leiden war sowohl eine Strafe als auch eine Prüfung, eine reinigende Probe und eine Sühne. Und die Endabrechnung würde am Ende der Zeit durch eine vollkom7
Vgl. Arnold, Culture and Anarchy, Kapitel 4 : Hebraism and Hellenism, S. 129–144.
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Die jüdische Dimension
mene Entschädigung und endgültige Wiederherstellung beglichen werden. Obwohl die messianische Erwartung zum Eckstein des jüdischen Glaubens und zur Inspiration wurde, die es den Juden erlaubte zu überleben und Verfolgung und Erniedrigung zu trotzen, legten die Weisen niemals einen bindenden Kanon darüber fest, in welcher Form diese Erfüllung stattfinden sollte. In Zeiten des Märtyrertums und des Drucks wurde sie als furchtbare Strafe erwartet, die den Heiden als Rache für die Verletzungen zuteil werden sollte, die sie dem restlichen Israel zugefügt hatten, und als glorreiche Belohnung für die Getreuen, deren Wohlstand, Macht und Rechtschaffenheit wiederhergestellt werden sollten. In entspannteren Phasen wurden die letzten Tage als Zusammenkommen aller Nationen am Berg Moriah ausgemalt, um den Vater aller Schöpfung anzubeten und alle aggressiven Absichten sowie jede Gier nach Besitz und Vorherrschaft abzuschütteln.8 Diese Erlösungshoffnung wurde von den Juden dringend benötigt, um sich selbst und anderen zu erklären, warum das auser wählte Volk von Gott verlassen worden war. Die Idee der Vorsehungsgerechtigkeit selbst hing davon ab. Der hartnäckige Wille der Juden, ihre Einzigartigkeit zu bewahren, und die Ablehnung, sich mit den umliegenden Völkern zu vermischen, entbehrte ohne die stützende Vision von Auser wähltheit, Sünde, Prüfung, Sühne und Erlösung jeder logischen Grundlage. Die Idee der messianischen Auf lösung war der große Zankapfel zwischen Kirche und Synagoge. Die jüdische Ablehnung Christi als Messias erschien wie eine provozierende Herausforderung an das Christentum. Die triumphierende Kirche wurde dazu getrieben, die Juden herabzusetzen und zu verfolgen, um zu beweisen, dass sie das wahre Israel sei und die Juden ihr Geburtsrecht als Kinder Gottes ver wirkt hatten.9 Deshalb schrieben Bernhard von Clair vaux – und vor ihm die Kirchenväter – wie auch das päpstliche Dogma durch die Zeiten vor, dass es verboten sei, die Juden auszurotten, da ihr elendes Dasein das greifbarste Zeugnis dafür sei, dass Gott die Würde des auser wählten Israel auf die Christen übertragen habe. Ihr herabgesetzter Status musste als ein Kainszeichen auf ihrer Stirn und ständige Erinnerung für die Gläubigen an den Triumph der Kirche erhalten bleiben.10 So sehr die heimtückischen Juden auch mit Verleumdungen, Verurteilungen und Schmähungen überhäuft wurden, konnte sich die offizielle Kirche doch nie dazu über winden, Marcions endgültiges Verdammungsurteil zu über-
8 9 10
Vgl. Klausner, The Messianic Idea in Israel; Scholem, The Messianic Idea in Judaism; Silver, A History of Messianic Speculation. Vgl. Parkes, The Conflict of the Church and the Synagogue. Vgl. Clairvaux, The Letters, S. 462 f.; siehe auch Prawer, A History of the Latin Kingdom of Jerusalem, Band 1, S. 262–264 [ hebräisch ].
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Das fremde Ferment und der Schatten des Berges
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nehmen, das Alte Testament und mit ihm der Judaismus und all seine Werke seien nichts als das Werk des Teufels.11 Die Lehre, wonach das Alte Testament die Vorbereitung für die christliche Botschaft sei, dass es das Kommen Christi prophezeie und verspreche und das Christentum sozusagen die Erfüllung und eine bereinigte Form des Judentums darstelle – all diese Annahmen blieben grundlegend für den christlichen Glauben. Sie bildeten schließlich eine zusätzliche, unauf lösliche Windung in der neurotischen Haltung des Christentums gegenüber dem Judentum. Für zwei Jahrtausende blieb die Passion das zentrale Mysterium des christlichen Glaubens. Über viele Jahrhunderte ließ man Myriaden von bescheidenen und analphabetischen Kirchgängern, die keinen geistigen Halt außer den Bildern der Messe und den Predigten der Priester hatten, mit heiliger Entrüstung die Geschichte von den Missetaten der Mörder des Heilands und von der Niedertracht des Judas hören. Doch dieselbe Gemeinde hatte über die Jahrhunderte alte Hymnen auf Zion und Jerusalem angestimmt, den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs angerufen und von den Prophezeiungen von Jesaja und Daniel gehört. Über mehr als tausend Jahre, ja bis ins späte 17. Jahrhundert, wurde so viel politisches Denken und politischer Konflikt im Christentum in die Form eines Kommentars zur Geschichte von Samuel, Saul und David und den von den Makkabäern geführten Schlachten Gottes gekleidet. Der jüdische Messianismus versorgte die westliche Welt mit einem grundlegenden und mächtigen Bestandteil, einem, der im Vergleich mit anderen großen Kulturen vielleicht am ausgeprägtesten war. Er inspirierte die Vision der Wiederkunft Christi, der apokalyptischen und millenaristischen Bewegungen im Laufe der Geschichte, und rief mit einigem Abstand das Konzept des unendlichen Fortschritts, des Sozialismus und der Revolution als errettende Erlösungen her vor. Die Idee der Theodizee in ihrer sakralen Form wie auch in ihren säkularen Versionen, Hegel’sche und ver wandte Varianten, ist ohne ihn undenkbar. Und so entstand aus den christlichen Gefühlen gegenüber den Juden eine Mischung aus Wut, Schrecken, Hass, Abscheu und Verachtung auf der einen und ein Gefühl von Dankesschuld, Ehrfurcht und tiefem, unergründlichem Mysterium auf der anderen Seite. Aggressive Triebe und Gefühle von Unwohlsein wechselten einander ab. Daher stammt die grundlegende Ambivalenz, die bis in unsere Zeit vorhielt, wenn auch hauptsächlich in säkularisierter Form. Diese christliche Neurose konnte nur eine entsprechende Reaktion her vorrufen – eine jüdische Neurose gegenüber der christlichen Welt. Die Juden konnten die christliche Provokation, sie hätten ihr Geburtsrecht verloren, nur durch eine kompromisslose Leugnung der Wahrheit der christlichen Botschaft und durch Gleichsetzung der Nichtjuden mit den Heiden beantworten. Die 11
Vgl. McLean, Marcionism.
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Mutterreligion war nur durch ihr Gefühl der Überlegenheit gegenüber ihrem illegitimen Sprössling fähig, Verfolgung und Demütigung zu ertragen. Solch ein Verhältnis, das von traumatischen Erinnerungen und Bildern bestimmt war, mit dem ständig und zwanghaft von obsessiven Überbleibseln getrübten und verzerrten Hier und Jetzt, ließ jeden Juden für den Christen wie einen Judas und im Lauf der Zeit wie einen Shylock wirken, und jeder verfolgende Christ wurde vom Juden wie ein weiteres Kind Amaleks, ein weiterer Erbe der Edomiter gesehen, dessen Schicksal es sein würde, vom Herrn heimgesucht zu werden.
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II. Der Vor rei ter und der Usur pa tor Über die Juden machte man sich auf Grund ihrer wörtlichen Auslegung und ihres neurotischen Ritualismus lustig. Sie wurden wegen ihres Stammeszusammenhalts gefürchtet. Eine so kompakte und hermetisch abgeschottete Gruppe rief Vorstellungen von Komplotten und Konspirationen her vor. Den Christen war nicht klar, dass genau diese Eigenschaften eine wesentliche Bedingung für den Triumph des frühen Christentums als judäische Sekte gewesen waren. „Die Nationen und ihre Götter“ : Für alle antiken Stämme, Israel und seine Nachbarn, die griechische Polis und die ursprünglichen Römer aus der Ewigen Stadt ebenso wie für primitive Stämme auf anderen Kontinenten waren Glaubens - und Verhaltensgesetze lebensbestimmend, die keinen Unterschied machten zwischen Glauben und Praxis, Kirche und Staat, dem Hochheiligen und dem Profanen, dem Individuum und dem Kollektiv, festgelegtem rituellen Verhalten und freier, bewusster Wahl. Die Eroberungen Alexanders des Großen, die ausgedehnten griechischen Wanderungen nach Asien und Ägypten und die Ankunft der Römer verbanden sich alle mit sozialen und intellektuellen Lösungsmitteln, die zum Niedergang, Zerfall und Ende der Polis beitrugen. Die Lebensbedingungen in großen Reichen ließen keinen Raum für freie, sich selbst ver waltende Gemeinden. Die riesigen, von verschiedenen Rassen bevölkerten Staaten mussten von despotischen Herrschern und einer zentralisierten Bürokratie regiert werden. Aus der engmaschigen, exklusiven Gruppe herausgerissen, war das Individuum auf die eigenen Ressourcen zurückgeworfen. Der Individualismus erzeugte jene kosmopolitischen Philosophien, die die Pflege des inneren Lichtes und der persönlichen Ver vollkommnung förderten und den Erleuchteten das ganze Universum als Heimat öffneten. Der nachdenkliche Mensch wurde von politischer Beschäftigung ferngehalten, entfremdete sich und wurde gleichgültig gegenüber einer uneinsichtigen Gesellschaft. Angesichts der abgrundtiefen Kluft zwischen der gebildeten Minderheit auf der einen und der Masse fremdländischer Bevölkerung und Sprache, die in Aberglauben versank, auf der anderen Seite waren alle gemeinsamen sozialen Bande, jedes Gefühl für gemeinsame Verantwortung verloren. Die gebildeten Minderheiten ver weilten schließlich in einem ätherischen Reich, das nicht von dieser Welt war. Die Juden andererseits errichteten, wo immer sie auch hingingen und sich niederließen, ein Netzwerk von Institutionen und Selbstver waltung, obwohl sie nie wirklich versuchten, in den Zielländern eigene territoriale Einheiten zu schaffen, wie es griechische und phönizische Siedler getan hatten. Die jüdischen Migranten mochten aufhören, ihre ursprüngliche Sprache zu sprechen
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und vieles von der Kultur der neuen Umgebung übernehmen, doch sie behielten ihren gemeinschaftlichen Zusammenhalt. Sie hatten keine andere Wahl, als das Monopol auf den Tempel von Jerusalem als Ort der Verehrung aufzugeben; und so schufen sie den Minjan, die Versammlung von zehn ( männlichen) Gemeindemitgliedern, die, wo immer sie sich trafen, dafür verantwortlich waren, Gottes Gegenwart zu gewinnen, indem sie seinen Namen anriefen.12 Gemeinschaftlicher Zusammenhalt, strikte und gleiche Einhaltung der detaillierten Vorschriften durch jeden, die fehlende Unterscheidung zwischen Doktrin und Ritual, zwischen einer führenden Hierarchie und einfachen, passiven Gläubigen, das Gefühl der Auser wähltheit – all dies erhielt weiterhin jene Lebenseinheit und jenes Maß an Gleichheit und gemeinsamer Verantwortung aufrecht, die das früheste Milieu der ursprünglichen christlichen Gruppen darstellten und sie dann formten. Die jüdische Prophezeiung entwickelte eine erheblich größere Anziehungskraft auf die Massen als die unendlich differenzierteren Philosophien der Antike, weil sie die Schichten der kollektiven Seele berührte, zu denen die heidnischen Lehren keinen Zugang fanden. Mit Zurückhaltung oder Verachtung behandelt, geduldet oder verfolgt : Juden waren weiterhin römische Bürger und bildeten einen mehr oder weniger als gegeben hingenommenen Bestandteil im pluralistischen Römischen Reich.13 Sie befanden sich in einer anderen Lage, als sie mit den germanischen und anderen Barbaren konfrontiert wurden, die sich auf den Ruinen des Römischen Reiches niederließen. Sie besaßen eine weit ältere und höher entwickelte Kultur als die Eindringlinge. Die beiden Gruppen waren einander äußerst fremd. In den Augen dieser neuen und analphabetischen christlichen Konvertiten trug der Jude auch das Kainsmal auf der Stirn. Er wurde verabscheut und gefürchtet. Er löste als unheimlicher, finsterer, bedrohlicher, dämonischer Fremdling Bestürzung aus. Im christlichen Europa waren die Juden nicht nur die nonkonformistische Gruppe schlechthin – in der Tat über die Jahrhunderte die einzige unter religiösem und kulturellem Gesichtspunkt –, sondern man veranlasste sie auch, eine besondere sozial - ökonomische Rolle zu übernehmen. Nicht wenige jüdische und andere, tief vom mar xistisch - dialektischen Materialismus beeinflusste Historiker neigten dazu, Religionsunterschiede als Grund für jüdische Verfolgung und Antisemitismus herunterzuspielen und allen Nachdruck auf die sozial - ökonomischen Aspekte als Grundursache zu legen. Sie übersahen die Tatsache, dass die ursprünglichen Gründe für die besondere soziale Rolle und den legalen Status der Juden psychologisch und religiös waren. 12 13
Vgl. Safrai, Das Zeitalter der Mischna und des Talmuds; zu „Minjan“ : Encyclopaedia Judaica, Band 12, S. 67. Vgl. Juster, Les Juifs dans l’Empire Romain.
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Der Vorreiter und der Usurpator
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In seiner berühmten Arbeit über die Anfänge des städtischen Lebens im Europa des 11. und 12. Jahrhunderts entwickelte Henri Pirenne die These, dessen frühester Wegbereiter sei menschliches Treibgut gewesen, Flüchtige vor dem Gesetz, aus ihren Dörfern entlaufene Leibeigene, Menschen ohne Namen, Beruf, soziale Normen oder Ansehen.14 Er bot dann die Verallgemeinerung an, dass es im Fall großer sozialer Transformationen und neuer Wagnisse gerade Leute dieser Art waren, die als Vorreiter fungierten. Die lange Ansässigen und gut Etablierten hingen an ihrem Vermögen und ihren Privilegien. Sie mieden das Neue, da es Ortsveränderung und Risiko mit sich brachte und etwas Anrüchiges an sich hatte. In die neuen Beschäftigungen strömten daher Menschen ohne Bindungen, ohne einen Leumund, den sie verlieren konnten, ohne festen Wohnsitz. Pirennes Beobachtung kann beinahe als ständig wiederkehrendes Gesetz der jüdischen Geschichte im Mittelalter und in neueren Zeiten angesehen werden. Im Mittelalter entschieden sich die Juden oder wurden dazu gedrängt, ein Vakuum zu füllen und eine notwendige Wegbereiterrolle zu spielen. Sie wurden zuerst von den Fürsten, den großen Städtebauern, als Geldverleiher und internationale Händler eingeladen, willkommen geheißen und mit Privilegien ausgestattet. Wucher, schnöder Mammon wurde von den Christen ( und den Juden ) im Einklang mit den Heiligen Schriften verboten und verachtet. Die ausgegrenzten Juden entwickelten das, was Max Weber ein System der Doppelmoral nannte, also ein Gesetz für ihr Verhalten untereinander und ein anderes für die Außenwelt. Sie hatten keine Bedenken, von Nichtjuden Zinsen zu nehmen. Die Dienste der Juden, so sehr sie auch verachtet und gehasst werden mochten, waren unentbehrlich. Mit der Zeit und mit dem Beispiel der päpstlichen Bankiers, der Lombarden, die ihr Netz über ganz Europa ausspannten, um den Petruspfennig und andere Spenden für Gottes Stellvertreter auf Erden einzusammeln, verloren die christlichen Bevölkerungen ihre Abscheu vor dem Wucher und begannen, Geschäft und Handel als ehrbar wie auch einträglich anzusehen. Sie wurden auch der Widerspenstigkeit ihrer Gläubiger müde, die Außenseiter ohne Rechte und Feinde Christi waren. Sie griffen zu einer altbewährten Notlösung und vertrieben die Wucherer und Parasiten, die, obwohl geächtet und wehrlos, doch geschickt waren und die Kühnheit besaßen, die Hochwohlgeborenen an der Kehle zu packen. Die Juden wurden daher im späteren Mittelalter aus allen Ländern Westeuropas verjagt. Es gab sie auf der iberischen Halbinsel noch erheblich länger als in England, Frankreich und einigen deutschen Provinzen.15 Ihr Untergang in Spanien war wegen ihrer großen Zahl und der enormen Rolle, die sie in jenem Land auf allen Ebe14 15
Vgl. Pirenne, Medieval Cities, besonders Kapitel 5–8. Vgl. Ben - Sasson, Geschichte des jüdischen Volkes, S. 499–507.
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nen spielten, einschließlich ihrer Brückenfunktion zwischen altgriechischer, muslimischer und christlicher Gelehrsamkeit, umso katastrophaler.16 Die Juden zogen ostwärts in die ausufernden Königreiche Polens und der Habsburger sowie ins Osmanische Reich. Osteuropa war immer noch der fast städtelose, unterentwickelte Teil Europas. Dort waren sie wieder willkommen und bekamen die Möglichkeit, eine lebenswichtige und in mancher Hinsicht wegweisende Rolle zu spielen. Es lohnte sich für den polnisch - litauischen Adel, die ungarische Aristokratie und den niederen Adel, die ihre Länder in Quasi Republiken ver wandelt hatten, über die sie als Gemeinschaften privilegierter Gleichgestellter herrschten, das Wachsen einer einheimischen ( oder polonisierten, magyarisierten, germanisierten ) Mittelschicht als potentielle politische Rivalin zu verhindern oder einzudämmen. Es entsprach auch ihren Interessen, keine einheimische Industrie zu fördern, da sie mehr daran verdienen konnten, wenn sie ausländische Industrieprodukte im Tausch für Weizen und Holz erwarben, die gen Westen exportiert wurden. Die Juden waren politisch harmlos und nützlich als Verpächter von Mühlen und Brauereien, als Gast und Kneipenwirte, Kleinhändler, Handwerker und Hausierer. In vielen polnischen Städten wurden die Juden zur Mehrheit, oft waren sie fast die einzigen Einwohner. In der Ukraine erlitten sie im 17. Jahrhundert ein schreckliches Schicksal, weil sie die Werkzeuge der adligen polnisch - katholischen Unterdrücker des griechisch - orthodoxen, ukrainischsprachigen Bauerntums gewesen waren. Zusammengepfercht zwischen einem zahlreichen, doch exklusiven polnischen Kleinadel und riesigen Massen geknechteter und ungebildeter Leibeigener, blieben die Juden eine Gruppe für sich mit ihrer eigenen Religion, Sprache, Kultur, einer besonderen Auswahl an Beschäftigungen, Institutionen der Selbstver waltung, Erwartungen und Träumen. Es gab faktisch keine polnische Nation an sich und keine Schicht, an die sie sich hätten anpassen können. Adel und Kleinadel standen zu hoch, das Bauerntum zu tief. Als wegen des internen Verfalls und der Anarchie, den furchtbaren Invasionen der Schweden, Kosaken und Russen in der Mitte des 17. Jahrhunderts Polens Niedergang einsetzte, begann für die Juden der Abstieg in bittere Armut und kulturelle Rückständigkeit; doch immer noch blieben sie unverzichtbar, wenn auch zu zahlreich. Die Lage änderte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vollständig, als Zehntausende verarmter Kleinadliger und Hunderttausende aus der Leibeigenschaft entlassener, doch überflüssiger, landloser Bauern in die Städte zu strömen begannen. Diese Migration führte zu einem harten Wettbewerb und extremen Spannungen, die erst in Auschwitz enden sollten. 16
Vgl. Baer, A History of the Jews in Christian Spain, besonders Band 2, Kapitel 15, S. 437–439.
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Der Vorreiter und der Usurpator
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Die letzte und vielleicht verblüffendste Veranschaulichung der wiederkehrenden Muster, der Übergang vom Status als unverzichtbarer Wegbereiter zu dem eines habgierigen Parasiten, lässt sich als Umkehrung des Bündnisses zwischen den Juden und der mar xistischen Revolution unserer Tage bezeichnen. Der Beitrag von Juden zur Ausarbeitung ihrer Theorie, zur Verbreitung ihrer Botschaft, der Erhaltung ihrer Tradition; ihre Dienste für die russische Revolution, für das Überleben des bolschewistischen Regimes in dessen frühen und schwierigsten Jahren, als es von innen und außen enorm unter Druck stand und der Mitarbeit des alten Beamtentums und des größten Teils der Intelligenz entbehrte; und die von jüdischen Überlebenden des Holocaust gespielte Rolle bei der Etablierung sowjetisch dominierter kommunistischer Regime in den Satellitenstaaten – die wegweisende Rolle von Juden in diesen bedeutsamen Entwicklungen war lebenswichtig, in manchen Fällen vielleicht sogar entscheidend. Die allmähliche Eliminierung von Juden aus allen einflussreichen Positionen in der UdSSR, Polen, der Tschechoslowakei, Rumänien, Ungarn, begleitet von Wellen schockierend offener und gar rassistischer antijüdischer Propaganda, ja die Ausweisung ( aus Polen ) zusätzlich zur anhaltenden, unerbittlichen Feindschaft zum Staat Israel wirft grundlegende Fragen auf, die über die jüdischen Aspekte hinausgehen; Fragen zum Verhältnis zwischen einem Ancien Régime und der Revolution, zwischen ewigen, starken Gefühlen und Vorurteilen auf der einen Seite und der Macht innovativer Ideen und Absichten auf der anderen, Fragen über den Opportunismus einer messianischen, zum Establishment gewordenen Ideologie. In gewisser Weise wiederholen diese Unbeständigkeiten im Leben der jüdischen Bevölkerungskollektive das Muster, das im Schicksal jüdischer Einzelpersonen an Fürstenhöfen in Deutschland und anderswo in der Zeit vor der Emanzipation und noch früher im mittelalterlichen Spanien beobachtet werden kann. Der jüdische Geldverleiher oder Bankier ( welchen Ausdruck man auch immer bevorzugen mag ) des Fürsten wird zu seinem engen, unverzichtbaren Ratgeber, dem Architekten seiner Finanz - und Steuerpolitik im Frieden und im Krieg – besonders im Krieg. In seinem Eifer, die Interessen des Fürsten zu fördern, seinen Wert zu beweisen und seine Position zu stärken, greift er zu Mitteln und Werkzeugen, welche die Untertanen des Fürsten provozieren, irritieren und beeinträchtigen sollen. Des Schutzes durch das Gesetz und der öffentlichen Meinung beraubt, während er durch die alleinige Gunst des Fürsten – der ihn ebenfalls missbraucht – zu immenser Macht gelangt, zieht der Hof jude die Ver wünschungen und den Hass der Geschädigten, der Neider, der Ungebildeten und der Selbstgerechten auf sich. Er wird schließlich von ihnen in Schande gestürzt oder vom Fürsten geopfert oder verraten.17 Das ist 17
Vgl. Stern, The Court Jew.
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das Maß der Mehrdeutigkeiten und Ambivalenzen, von denen die jüdische Geschichte heimgesucht wurde, der seltsame Wechsel von beispiellosem Aufstieg und entsetzlichem Fall, blendender Pracht und tiefstem Elend : kurz, die extreme Unsicherheit der jüdischen Existenz. Es gibt in alledem eine beharrliche Weigerung oder Unfähigkeit, den Juden so, wie er ist, als selbstverständlich hinzunehmen, seine Existenz als legitim zu akzeptieren, von Rechts wegen, nicht nur geduldeter weise. Die Geschichte hat ihn zu einem ewigen Fremden gemacht, zu einem irgendwie immer Schuldigen, der keine ihm natürlich zustehenden Ansprüche und Titel besitzt. Er muss für seine Sünden büßen und seinen Platz durch besondere Anstrengung und Verdienste erreichen. Als schließlich Juden – ihrer Position als ewig Fremde, stets für schuldig Befundene und sich so oft tatsächlich in Schuld Verfangende müde – beschlossen, in jenem Land eine Heimat aufzubauen, von dem aus sie ihre tausendjährige Wanderung begonnen und in das sie die Ver wünschungen aller Antisemiten der Welt durch die Zeitalter hindurch zurückgewünscht hatten, gerieten sie wieder in eine Lage entmutigender Ambivalenz und Mehrdeutigkeit.
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III. Test fall und Prüf stein Es ist eine Binsenweisheit, dass die jüdische Emanzipation in Europa durch die Aufklärung möglich gemacht und auf gewisse Weise initiiert wurde. Die rationalistische Idee, alle Menschen seien frei und gleich und jeder Mensch sei bei der Geburt eine Tabula rasa mit dem Potential einer belehrbaren und ver vollkommnungsfähigen Kreatur; die Ablehnung alter Vorurteile, Aberglauben und Institutionen, die den Menschen auf einen bestimmten Status auf der Grundlage von Religion, Rasse, Geburt, Beruf festlegten – all das bildete die Voraussetzung für die jüdische Gleichstellung, ja es machte sie unumgänglich. Doch selten erinnert man sich daran – und Professor Hertzberg tat gut daran, es uns ins Gedächtnis zu rufen, wenn auch begleitet von eher einseitigen Schlussfolgerungen –, dass das Zeitalter des Rationalismus auch noch einen anderen Aspekt aufwies, und zwar einen, dessen Natur sich deutlich ungünstig auf die Juden und ihre Zukunft auswirkte.18 Wir können Voltaires unverbesserlichen Antisemitismus ignorieren, da er eine Fülle von Problemen mit jüdischen Geldverleihern hatte, genau wie Holbach, der sie schlicht verabscheute. Die philosophes als Gruppe bekämpften jede Art von religiösem Obskurantismus und Unmenschlichkeit, besonders den Aberglauben von Kirche und Christentum, indem sie das Licht, das die klassische Antike darstellte, neben die Dunkelheit und Absurdität der asiatischen Welt stellten beziehungsweise diese sogar einander gegenüberstellten. Zu dieser letzteren Welt gehörte das Judentum, ja diese Welt wurde in ihren Augen weitgehend geradezu durch selbiges verkörpert. Ein wesentlicher Teil des Christentums entstammt dem Alten Testament und dem jüdischen Erbe. Im Hinblick auf die Zensur und die Empfindlichkeit der Leser war es leichter, das Judentum anstelle des Christentums anzugreifen und, da die Andeutung mit Sicherheit verstanden wurde, die Kirche dadurch umso wirkungsvoller zu diskreditieren und lächerlich zu machen. Die philosophes – und gewiss nicht Montesquieu, Helvétius, Rousseau oder Diderot – sprachen niemals über zeitgenössische und später lebende Juden das Urteil aus, sie verdienten es nicht, Menschen genannt zu werden, sie hätten kein Anrecht auf Menschenwürde und - rechte. Sie traten für die Rechte der Menschen, nicht der Rassen ein. Jedoch musste die Frage gestellt werden, ob es nicht etwas an den Juden gab, das sie zu den Vätern der großen Hochstapler machte – den Gründern von Religionen, dem Nährboden aller Dummheiten und Obsessionen der dunklen Zeitalter –, ob die Tatsache, dass die Juden 18
Vgl. Hertzberg, The French Enlightenment.
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ihnen so lange so hartnäckig ergeben blieben, sie nicht unwiderruf lich verdorben hatte. Auf alle Fälle genossen es einige französische Rationalisten, ebenso wie einige englische Deisten, das Judentum all seiner Aura des Mysteriums, der Ehrfurcht, des einzigartigen Schicksals zu entkleiden. Die Juden wurden unter ihrer Feder einfach zu einer fanatischen Sekte, einem vom Aberglauben geplagten, ungebildeten, aber anmaßenden, arroganten, intoleranten Stamm mit einem äußerst verderblichen Einfluss auf zahllose Generationen. Ohne es zu beabsichtigen, bereiteten die philosophes den Boden für den künftigen Rassismus.19 Obwohl sie das christliche Europa kritisierten und verspotteten, indem sie die herausragenden einfachen Tugenden entfernter Völker und edler Wilder priesen, kam es den Autoren des 18. Jahrhunderts nie in den Sinn, Lessing in der Wahl eines Juden als Archetyp eines gerechten und weisen Mannes zu folgen. Der grundlegende Unterschied zwischen dem Ancien Régime und der modernen Welt, wie sie aus der Aufklärung und der Französischen Revolution her vorging, war der Unterschied zwischen einer Gesellschaft, die auf Status, und einer Gesellschaft, die auf Vertrag basierte. Der Jude wurde dabei zum Testfall. Für die Anhänger der alten Sitten war die Emanzipation der Juden ein eklatanter Beweis dafür, dass die Welt aus den Fugen geraten war : Die Mörder Christi, die Feinde der Kirche, die zu allen Zeiten verachteten Außenseiter, die bis dahin eine ausgesprochen andersartige, isolierte und fremdartige Gruppe gewesen waren, sollten per Dekret freie und gleiche Partner im Gemeinwesen werden, als ob die Gesellschaft ein Strohhaufen sei, in dem – eine Äußerung Calvins in anderem Kontext und überhaupt nicht Juden betreffend – die Ratten hin und her rannten. Für die Befür worter der Gleichheit unter den Menschen und der sozialen Mobilität jedoch bedeutete die Betrachtung der Juden als Ausnahme aufgrund der Religion, der Rasse und der irrationalen und übrig gebliebenen Vor urteile aus dunkler Vergangenheit eine direkte Verneinung des hochheiligen Prinzips. Es gab nur eine plausible Möglichkeit, eine solche Ausnahme zu machen : Wenn die Juden selbst weiterhin die Behauptung aufrechterhielten, dass sie nicht nur lose verbundene Mitglieder einer religiösen Vereinigung, sondern ein auser wähltes Volk seien, dazu bestimmt, getrennt von anderen zu leben in der Hoffnung, zu einem künftigen Zeitpunkt durch den wunderbaren Eingriff Gottes zu einer Nation zu werden. Dies war es, womit die berühmte Erklärung des Grafen Clermont - Tonnerre in der Debatte der Nationalversammlung zur Judenemanzipation belastet war : „den Juden als Individuen – alles, den Juden als Nation – nichts“20 – außer der Vertreibung. 19 20
Vgl. Ettinger, Jews and Judaism [ hebräisch ]. Dubnow, History of the Jews, Band 4, S. 512–514; Blumenkranz / Soboul ( Hg.), Les Juifs et la Révolution Française.
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Diese Alternative hatte Parallelen zu der Auffassung einer Nation als vertragsmäßiger, plebiszitärer Schöpfung von Individuen – Atome, die sich verbinden –, und der Vorstellung von der Nation als präexistenter, organischer, unteilbarer Einheit, die als gemeinsame Persönlichkeit, gleichsam als Fels betrachtet wurde, dessen Mitglieder nur Teilchen aus dem ganzen Block waren. Der Masse der Juden – im Unterschied zu den wohlhabenden und privilegierten, die bereits säkularisiert und praktisch emanzipiert waren – fiel es außerordentlich schwer, eine klare Antwort zu geben oder sich auf die eine oder andere Weise zu entscheiden. Ihre Interessen und das künftige Wohlergehen hingen vollständig von dem Erfolg des auf einem Vertrag basierenden Gesellschaftssystems ab; doch die gesamte jüdische Vergangenheit, die Lehren des Judentums, seine historische Position in der Welt, die Einzigartigkeit und das außergewöhnliche Schicksal der Juden selbst waren eine ständige Bestätigung der Existenz der höheren Realität und der Forderungen nach gemeinschaftlicher Einheit. Namhafte Juden fanden sich in die Ecke getrieben, als der von Napoleon einberufene Hohe Rat ( Sanhedrin ) zur politischen Bedeutung der Erwartung der messianischen Erlösung und deren Vision der Versammlung von Verbannten im ursprünglichen Lande Israel hart bedrängt wurde. Die Frage zur Bereitschaft und Möglichkeit von Juden, Mitbürger zu heiraten, die nicht zur eigenen Gemeinde gehörten, war ebenso unangenehm. Die jüdischen Führer sollten antworten, dass sie nicht nur erpicht darauf waren, Mitglieder der „einen unteilbaren Nation“ zu werden, sondern dazu auch fähig seien. Stattdessen antworteten sie, indem sie die isolationistischen Elemente als rein religiös oder von theoretisch - deklaratorischer und symbolischer Natur herunterspielten. Jede andere Erklärung, die ein Element des Zögerns enthalten hätte, wäre zwangsläufig von Reaktionären wie Progressiven aufgegriffen worden; von Ersteren als Untermauerung ihrer Position und von Letzteren als Disqualifizierung des Rechts der Juden, zur Nation zu gehören. Der frühe revolutionäre Nationalismus hatte kein Gespür für Volkszugehörigkeit. Der französische Nationalkonvent ver urteilte beispielsweise den sprachlichen Separatismus der Bretonen, Elsässer, Basken und Provenzalen. Herders Lehre von der Volkszugehörigkeit wurde seinerzeit als Erweckungsbotschaft unterprivilegierter Nationalitäten interpretiert, bestimmt nur für Länder, in denen die individuelle Staatsbürgerschaft von den feudalen Standestraditionen überschattet wurde, und für historische territoriale Einheiten, in denen die ethnische Zusammensetzung unberücksichtigt blieb. Die meisten Juden Westeuropas, einschließlich Deutschlands, waren leidenschaftlich entschlossen, die Emanzipation zu erreichen. Viele von ihnen gingen dabei so weit, als letzten Schritt jeden Rest von Andersartigkeit über Bord zu werfen und aus der Religion auszutreten, wie es die Eltern von Karl Marx und Benjamin Disraeli taten. Am anderen Ende des Spektrums standen die
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Ultraorthodoxen, die, ohne es zu wagen, sich gegen die Emanzipation auszusprechen, dem Thema auswichen, indem sie sich weiterhin abschotteten und an ihren überlieferten Praktiken festhielten. In Osteuropa stand die Frage kaum auf der Tagesordnung. Die Minderheit aus Wohlhabenden und Gebildeten tat ihr Bestes, um es den oberen Klassen gleichzutun. Doch die Massen waren immer noch in ihren uralten Volksbräuchen und erbärmlicher Armut versunken. Sie gehorchten und suchten Rat bei den chassidischen Rabbinern und nahmen kaum wahr, was im Westen vorging.20z Während Napoleons Russlandfeldzug beschrieben die Rabbiner die Alternative, die den Juden wahrscheinlich bevorstand : Würde Napoleon siegen, wäre das gut für die Juden, doch schlecht für das Judentum; wäre der Zar der Sieger, dann wäre das schlecht für die Juden, aber gut für die Jiddischkeit.21 Noch 1939 zelebrierte ein französischer Hochrabbiner in rhapsodischer Sprache das Jubiläum der Französischen Revolution als zweiten Exodus aus Ägypten, als jüdische Auferstehung von den Toten : Die Erklärung der Menschen - und Bürgerrechte ( Déclaration des droits de l’homme et du citoyen ) war die moderne Tafel vom Berg Sinai. Das war sechs Jahre, nachdem Hitler die jüdische Emanzipation mit einem Federstrich beseitigt hatte, und drei Jahre, nachdem die Nürnberger Rassengesetze die Juden feierlich vom Volkskörper abgesondert und – für die Juden – eine auf Vertrag basierende Gesellschaft durch eine ersetzt hatten, die auf einem gänzlich unbestreitbaren Status fußte, anderthalb Jahrhunderte moderner Geschichte annullierend.22 Die Revolution von 1789 erfüllte die Wünsche der Juden in Westeuropa, die meist der Mittelschicht angehörten. Sie bot politische Gleichheit, garantierte die Freiheit des Glaubens, heiligte das Eigentum, öffnete den Weg zu allen Berufen und verkündete das Prinzip der carrière ouverte aux talents.22z Es gab theoretisch keinen Grund, weshalb Juden sich hätten wünschen sollen, den Rahmen der bürgerlichen Revolution zu sprengen. Und doch gaben sich bald viele Mühe, weit darüber hinauszugehen. Sie taten es einesteils aus humanitärem Idealismus, der von einem alten jüdischen Messianismus geprägt war, und andernteils, weil die formelle Gleichheit, die ihnen zugestanden worden war, sie in der Praxis nicht von Feindseligkeit, Verachtung, Ächtung befreit hatte und somit ihr Unwohlsein nicht hatte kurieren können. Viele begannen zu glauben, dies sei schließlich nicht die echte, die letzte, die alles lösende und
20z A. d. Ü. : Chassidische Rabbiner : verschiedene fundamentalistische Strömungen im Judentum, abgeleitet vom hebräischen Wort Chassidim, „Fromme“. 21 Vgl. Katz, Emancipation and Assimilation; ders., Out of the Ghetto. 22 Vgl. Liber, La Révolution. 22z A. d. Ü. : Ein Ausspruch Napoleons, etwa : „Freie Bahn den Talenten“, anstatt Privilegien durch Vetternwirtschaft o. ä. für die soziale Elite zu erhalten.
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alles heilende Revolution gewesen. Es musste eine Revolution jenseits der liberalen, bürgerlichen geben. Wie wir noch sehen werden, wurde dieses Gefühl in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Mittel - und Osteuropa stark, als die verarmten jüdischen Massen aus ihrer sektiererischen Ausgrenzung mit einem Sinn für ihre Menschenwürde erwachten und sich von einem rückständigen und despotischen Regime schwer unterdrückt wiederfanden, in erbittertem Konflikt mit der Mehrheit der Bevölkerung, die in Vor urteilen versank und von akutem sozial - ökonomischen Druck und ideologischen Obsessionen getrieben wurde.
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IV. Die Begeg nung von Juden und Nicht ju den in der moder nen Gesell schaft Unabhängig von der Prinzipienschlacht erwies sich die Last der Geschichte für Nichtjuden und Juden gleichermaßen als zu schwer, um damit zu beginnen, einander schlicht als Individuen gegenüberzutreten, geschweige denn als Brüder. Als die meisten deutschen Juden sich bereits danach verzehrten, als Bürger und Deutsche anerkannt und zugelassen zu werden und die Akkulturation, ja selbst die Massenkonversion bereits in vollem Schwange war, holten linksgerichtete Hegelianer wie Ludwig Feuerbach und Bruno Bauer weit aus, um zu beweisen, dass das Judentum verknöchert sei, in einer undurchdringlichen Schale aus abergläubischen Ritualen gefangen, abseits stehend von der Hauptentwicklung der Geschichte und des Fortschritts und ( natürlich ) dem Leben der Nation. Sie belebten den Vor wurf des jüdischen Hasses gegen die Menschheit und die Nationen um sie herum aufs Neue. Obendrein fügten sie die Theorie hinzu, die zwanghafte jüdische Besorgtheit um Einhaltung selbst der kleinsten Vorschriften ihrer alles verschlingenden Religion und ihr verzweifelter Überlebenswille würden sie all jener verspielten Spontaneität und Unmittelbarkeit, die die Voraussetzung für jede künstlerische Tätigkeit bildeten, berauben und allen selbstlosen philosophischen Wissensdurst sowie jede Kontemplation ersticken.23 Gewiss, die wahren Angriffsziele der Linkshegelianer ( denen der philosophes im vorrevolutionären Frankreich nicht unähnlich ) waren die absolutistischen und feudalen Traditionen und die Idee des christlichen Staates, oder genauer : dessen Stützen – die Prinzipien der Obrigkeit und der verordnenden Tradition. Denn niemand würde mehr an das göttliche Recht von Königen, an die Hierarchie der Kirche oder an einen Geburtsadel glauben, wenn erst einmal das Konzept eines Gottes als Ergebnis sozialer Konditionierungen offenbar geworden war, als Schöpfung von Menschen, die darauf aus waren, sich selbst – und andere, die von ihnen ausgebeutet wurden, noch mehr – als Strafe für vorgebliche Unwürdigkeit einer allmächtigen und vollkommenen Gottheit zu unter werfen. Dennoch waren die Juden die ersten Opfer. Und dass sie als Ziel ausgewählt wurden und nicht nur als Vor wand dienten, zeigt sich darin, dass Jahrzehnte später derselbe Bruno Bauer die Juden erneut attackierte, diesmal jedoch die säkularisierten unter ihnen wegen ihrer verderblichen Gleichgültigkeit gegen-
23
Vgl. Bauer, Die Judenfrage, S. 24–45, 75–79; Rotenstreich, For and against Emancipation.
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über ihrer eigenen Tradition und ihrer Entfremdung von dieser. Er behauptete, der Selbsthass, den ihrem Stamm entfremdete Juden fühlten, auf der einen und ihre Feindseligkeit gegen die nichtjüdische Umgebung auf der anderen Seite weckten in ihnen eine wurzellose Seelenkälte, ironische und sarkastische Haltungen gegenüber den Mythen organischer, tief ver wurzelter Kulturen, eine Sterilität des Geistes und Zerstörungsdrang. Sie entfremdeten sich sowohl ihrer Stammesumgebung als auch der nationalen Gesellschaft. Die unbequeme Stellung, die jene Juden einnahmen, die formell emanzipiert, aber nicht wirklich in die Gesellschaft aufgenommen worden waren, brachte tatsächlich Züge her vor, die unfreundliche Satiriker nur zu leicht karikieren konnten. Diese Eigenschaften entstanden aus dem fortwährenden Gefühl der Unsicherheit und des Nichtdazugehörens. Ihr gemeinsamer Nenner war die Überreaktion. Ihre ständige Unsicherheit darüber, was das Morgen bringen könnte, hatte Juden über Generationen dazu getrieben, Besitztümer – und vor allem Geld – zu horten, die man leicht von Ort zu Ort transportieren konnte. In ihrem Wunsch, sich selbst und, mehr noch, anderen ihren Wert zu beweisen, wurden viele von ihnen überehrgeizig, prahlerisch und arrogant. Da ihr Leben und ihre Tätigkeiten von einer restriktiven Rechtsprechung, willkürlicher Schikane und sozialem Groll auf enge Kreise eingegrenzt wurden, mussten sie lernen, diese Hindernisse durch alle Arten von Kunstgriffen und Listen zu umgehen. Stets auf der Hut und voller Angst vor plötzlichen Notsituationen machten sie den Eindruck, sich immer mit Schläue durchs Leben zu schlagen. Feindseligkeit und Misstrauen witternd, im Bestreben zu gefallen und ängstlich darauf bedacht, kein Missfallen zu erregen, wurden manche zu laut und überschwänglich oder kriecherisch und hinterhältig. Es ist eine Binsenweisheit, dass Antisemiten Juden auf dem Wege der sich selbst erfüllenden Prophezeiung dazu treiben, sich auf eine Weise zu verhalten und zu handeln, die der Vorstellung der Ersteren entspricht – und sozusagen eine verschworene Bruderschaft in ständiger Alarmbereitschaft zu werden. Von Börne und Heine zu Walter Rathenau und Sir Lewis Namier – Juden von außergewöhnlichem Talent und hochgradiger Sensibilität, die sich ihren Weg in die Tempel der nationalen Kultur und der Weltkultur erstürmten und doch niemals aufhören konnten, sich wie Unbefugte zu fühlen, gaben jener gepeinigten Eifersucht beredten Ausdruck, die Namier die ungekaufte Gnade nannte, die mühelose Selbstsicherheit der Gutetablierten, das Tiefver wurzeltsein der Abkömmlinge alter Abstammung, die sich niemals legitimieren, Fähigkeiten vor weisen und ihren Wert beweisen mussten. Doch während Männer wie Rathenau endloses Bedauern darüber empfanden, negroide Züge zu besitzen und von nicht - nordischer Erscheinung zu sein, mangelte es ihnen niemals an jenem Gefühl der Überlegenheit oder fast Herablassung, das Abkömm-
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linge einer alten kulturellen Tradition gegenüber einer noch halbheidnischen, nicht weit von Barbarei entfernten Kultur empfinden.24 Jüdische Reaktionen auf die halboffene Außenwelt weisen jeden Aspekt von Polarität auf, von der idealisierenden, romantischen Liebe zu den konser vativen Traditionen eines Disraeli oder Namier bis zu dem spottenden Blick des Außenseiters auf das Absurde, Störende, Scheinheilige und Gemeine bei Karl Kraus oder Kurt Tucholsky. Sowohl die plötzliche Befreiung aus dem Ghetto als auch das Unwohlsein, das sich aus den Mehrdeutigkeiten ergab, auf die sie in ihren frühen Kontakten mit der Welt insgesamt stießen, lösten eine Explosion vulkanischer jüdischer Energien aus. Auf die nichtjüdische Welt, und zwar Konser vative wie Radikale gleichermaßen, wirkte dies wie eine plötzliche Invasion, eine Flut. Das Her vortreten und Verzweigen der Rothschild - Dynastie in fünf Großstädten – Frankfurt, Paris, London, Wien und Neapel – provozierte den Fourieristen Toussenel dazu, sein Traktat Les Juifs – rois de l’époque („Die Juden – Könige dieser Epoche“) zu schreiben, denn die Rothschilds waren mächtiger und allgegenwärtiger als die Habsburger.25 Bereits in der Französischen Revolution hatten klerikale Gegner der jüdischen Emanzipation sowie elsässische Antisemiten die Nationalversammlung gewarnt, der Verkauf konfiszierter Kirchengüter werde die Juden im Nu zu den Herren des Elsass machen, wenn sie erst die bürgerliche Gleichstellung erlangten.26 Die jüdische Beteiligung an der Saint- Simonisten - Bewegung inspirierte den ultramontanen polnischen Dichter Zygmunt Krasiński, ein poetisches Drama mit dem vielsagenden Titel Die ungöttliche Komödie zu schreiben, das die exzentrischen Ideen und das Verhalten der sozialistischen Bruderschaft als jüdischen Plan darstellte, um das Christentum zu unterdrücken, die europäische Gesellschaft zu demoralisieren und die jüdische Vorherrschaft zu verbreiten.27 An der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert nannten deutsche Reaktionäre und Romantiker die universalistischen Ideen der Menschenrechte, des Naturgesetzes und des Gesellschaftsvertrags einen jüdischen Import aus Frankreich, der dazu dienen solle, die natürliche Abwehr eines Organismus gegen die Transplantation eines Fremdkörpers zu über winden.28 Einige Jahrzehnte später schlug der konser vative, ultrapatriotische Kritiker Menzel Alarm wegen des heimtückischen Einflusses
24 25 26 27 28
Vgl. Joll, Intellectuals in Politics, S. 59–132; zu Namier vgl. Talmon, The Unique and the Universal, Kapitel 10. Vgl. Toussenel, Les Juifs, rois de l’époque. Vgl. Silberner, Moses Hess, S. 80 f.; vgl. auch Dubnow, History of the Jews, Band 4, S. 514. Vgl. Krasiński, Nie - Boska komedia ( Die ungöttliche Komödie ). Vgl. Arendt, Rahel Varnhagen.
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giftiger jüdischer Schriften auf den authentischen deutschen Geist.29 1848 beklagte König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen die Schande, die die beschnittenen Rädelsführer unter den Revolutionären über Deutschland gebracht hätten.30 Im „Völkerfrühling“ wurden die Juden erneut zum Prüfstein. Über die Revolutionen von 1848 lässt sich sagen, dass sie das Problem von Juden und Revolution erstmals ans Licht brachten. In allen Revolutionen spielten die Juden eine herausragende Rolle : Crémieux und Goudchaux in Frankreich, Daniele Manin in Italien, Jacoby und Gabriel Riesser in der Frankfurter Paulskirche, der Arzt Gottschalk bei den kommunistischen Demonstrationen im Rheinland, Stephan Born an der Spitze der ersten alldeutschen Gewerkschaftsbewegung und natürlich Karl Marx – alle in Deutschland –, sowie Dr. Fischhof in Österreich als Kopf der Studentenlegion an der Wiener Universität. Es ist einigermaßen schockierend festzustellen, dass 1848 von allen Völkern und Stämmen Europas die Juden die einzige ethnische Gruppe waren, die von nationalistischen Gefühlen unberührt blieben. Im Gegenteil : Sie begrüßten jenes Jahr als Erfüllung des Versprechens völliger Gleichheit und allgemeiner Verbrüderung. Sie glaubten, in diesem Jahr würden die letzten Barrieren zwischen Nationen und Religionen fallen. Einige von ihnen gingen so weit, ihre Glaubensbrüder dazu aufzurufen, ein Beispiel zu geben, indem sie alle separatistische Unterscheidung aufgaben.31 Am markantesten war Fischhofs Fall, des Propheten der freien und gleichen Brüderlichkeit unter allen Nationalitäten im Habsburgerreich. Die Nichtjuden sahen die Dinge allerdings keineswegs so. 1848 – im Jahr der Revolution – schrieb ein geistliches Blatt in Wien spöttisch über den jämmerlichen Anblick des Juden Dr. Fischhof, des Organisators der Studentenlegion, der unter einem Baldachin, eine Kerze haltend, in einer Prozession mitlief, als ob er der Erbe seiner apostolischen königlichen und kaiserlichen Majestät wäre. „War das ein Omen der Dinge, die da kommen sollten ?“, fragte sich der Verfasser.32 Wir können zwei sehr vielsagende jüdische Reaktionen auf die Revolutionen von 1848 anführen, eine aus Disraelis Lord George Bentinck ( veröffentlicht 1852),33 die andere vom deutsch - jüdischen Schriftsteller J. L. Bernays in der New Yorker deutsch - jüdischen Zeitschrift Israel’s Herald 1849.34 29 30
31 32 33 34
Vgl. Bracher, Die deutsche Diktatur, S. 27; Pinson, Modern Germany, S. 66 ff. Vgl. Stadelmann, Soziale und politische Geschichte, S. 45 f.; Valentin, Geschichte der deutschen Revolution; Droz, Les Révolutions allemandes de 1848; Fejtö ( Hg.), The Opening of an Era; Touri, Turmoil and Confusion [ hebräisch ]. Vgl. Touri, Turmoil and Confusion, S. 68–72. Vgl. ebd., S. 118 f. Vgl. Disraeli, Lord Georg Bentinck, Kapitel 4 : Die Judenfrage, S. 318–335. Vgl. Bernays Artikel in : Israel’s Herald vom 4.5.1849 und 18.5.1849. Ich danke Herrn Professor Jacob Touri von der Universität Tel - Aviv dafür, dass er mir die Zeitung zur
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Der Prophet des britischen Toryismus und der imperialen Erhabenheit hatte das überraschende Kunststück fertiggebracht, seiner Rasse eine Aura von exotischer historischer Romantik zu verleihen, trotz des Bildes des prosaischen oder habgierigen Geldanhäufens, das normaler weise mit ihr assoziiert wurde. Der Romancier überschüttete seine jüdischen Helden mit unvorstellbar alter Herkunft, einer Weisheit, die jedes Geheimnis durchdrang, einer Unheimlichkeit, die durch Wohlwollen abgemildert wurde, märchenhaftem Reichtum und Luxus.35 Britischer Patriot und jüdischer Rassist zugleich, wurde Disraeli von der Anziehungskraft der Gleichheit, die die meisten Juden trunken machte, nicht nur nicht angezogen, sondern er war sogar von Abscheu gegenüber aller barbarischen Gleichmacherei und Pöbelpolitik erfüllt; gleichzeitig lehnte er im Gegensatz zu seinem Rivalen Gladstone einen aufständischen Nationalismus ab. Seine Vorliebe für Vielvölkerreiche wie die Türkei und Österreich - Ungarn war bewusst von seiner Einschätzung geprägt, dass politische Einheiten wie diese den Juden gewiss eine Zukunft boten, indem sie sie nicht nur als ein legitimes Element neben anderen, sondern auch als einigenden, konstruktiven Faktor akzeptierten.36 Disraeli nahm die Gefahren wahr, denen Juden als einzige Minderheit – und eine hilf lose noch dazu – in einem Staat gegenüberstanden, der auf exklusivem Nationalismus beruhte. Während Bernays die Juden als Ferment der Revolution verherrlichte, bemühte sich Disraeli, sie als grundsätzlich konser vative Kraft zu beschreiben, die durch Verfolgung in einen staatsfeindlichen Faktor ver wandelt wird. Bernays bot eine nicht unähnliche Bewertung, doch in einem Geist, von dem er selbst wusste, er werde von einem Großteil seiner Leser als hochgefährlich eingestuft, nämlich dem des fröhlichen Triumphs anstatt des besorgten Kummers, den Disraeli empfand. Bernays ist von der Denkweise des jungen Hegel durchdrungen und ver wendet oft dieselben Begriffe wie Marx, nur um zum umgekehrten Schluss zu gelangen. Beide stimmten darin überein, dass die sicherste Methode zur Beseitigung politischer und sozialer Unterdrückung darin bestand, den Glauben an und den Respekt für Gott und alle religiösen Autoritäten – den Urquell aller Unterdrückungs - und Entfremdungssysteme – zu zerstören, etwas, womit nichtjüdische Linkshegelianer wie Feuerbach, Strauß, Ruge und die Gebrüder [ Bruno, Edgar und Egbert ] Bauer bereits begonnen hatten. Den Juden war es laut Bernays gelungen, gegen den Papst, die Bischöfe, Könige und Fürsten, feudale Potentaten und Plutokraten „den rohen Mob zu galvanisieren“. Sie „leg-
35 36
Verfügung stellte. A. d. Ü. : Vgl. zur Bedeutung der Zeitschrift : Kisch, Israel’s Herald; die Zeitschrift ist ansonsten in Europa nicht zugänglich. Vgl. Roth, Disraeli, S. 143 ff.; Blake, Disraeli, S. 194–196. Vgl. Monypenny / Buckle, The Life of Benjamin Disraeli, Band 6, S. 10–12.
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ten das menschliche Wesen frei, das unter der dicken Kruste der Intoleranz vergraben war“, und „gegenüber dem menschlichen Wert [...] kommt das Ende von Priester und Rabbiner“. Um ihre Emanzipation zu erreichen, mussten die Juden zuerst den christlichen Staat zerstören. „Sie kritisierten das Christentum mit großer dialektischer Geschicklichkeit und ohne Gnade“, und indem sie „in diesem Prozess Atheisten, Radikale“ wurden, „wurden sie wahrhaft freie Menschen, ohne Vorurteile“. Und wenn sie erst einmal bewiesen hatten, dass die christliche Religion nichts als ein Mythos war, war die Arbeit vollbracht. Mehr noch, die Juden „haben die Menschen von der engstirnigen Idee eines ausschließlichen Vaterlands, vom Patriotismus befreit. Der Jude ist nicht nur ein Atheist, sondern ein Kosmopolit, und er hat Menschen zu Atheisten und Kosmopoliten gemacht; er hat aus dem Menschen nichts anderes als einen freien Weltbürger gemacht.“ Beinahe bewusst im Widerspruch zu Marx’ Ausspruch von der Emanzipation der Menschheit und der Juden durch deren Emanzipation vom Judentum,36z erklärt Bernays triumphierend : „In ihrem Kampf um Emanzipation haben die Juden die europäischen Staaten vom Christentum emanzipiert.“ Mit anderen Worten, es waren nicht die Christen, die den Juden die Emanzipation gaben, sondern die Juden, die es den Christen ermöglichten, ihre eigene Emanzipation zu erreichen. „Die Juden nahmen an der feindlichen Welt auf ganz neue Weise Rache, [...] indem sie die Menschen von aller Religion, von allem patriotischen Gefühl befreiten, [...] von allem, was sie an Rasse, Ursprungsort, Dogma und Glauben erinnerte. Die Menschen emanzipierten sich auf diese Art, und der Jude emanzipierte sie, und der Jude wurde mit ihnen frei. [...] Sie erreichten das Unglaubliche, und Volkshistoriker werden künftig ihren Verdienst gerne und zu Recht anerkennen.“ Es waren nicht ihre Religion oder ihre Rassenqualitäten, die den Juden all dies zu vollbringen ermöglichten. Es war ihre Existenzbedingung, ihr Schicksal : „Sie konnten nur als Ergebnis einer allgemeinen Emanzipationsbestrebung selbst frei werden.“ Die Juden schafften es erfolgreich, mächtige Machthebel für sich selbst zu schmieden, um ihnen bei der Arbeit zu helfen : „die Macht beweglichen Eigentums, die von den Rothschilds repräsentiert wird“; der psychologische, spirituell - therapeutische Einfluss jüdischer Ärzte, deren schiere Existenz und gefragte Tätigkeit religiösen Tabus und Unterschieden der Religion, Rasse und Tradition trotzte; und vor allem die Presse, „die in ganz Europa in jüdische Hände fiel“. Und als die Revolution ausbrach, waren die Juden überall an vorderster Front. Schließlich war das Christentum nun atheistisch und kosmopolitisch geworden; die Juden konnten ebenso gut als eigenständiges Volk die Bühne verlassen. Ihre Mission war erfüllt. Auf
36z Vgl. Marx, Zur Judenfrage, S. 372.
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Hegel’sche Weise kennzeichnete die höchste Behauptung ihrer Besonderheit ihr Verschwinden in der Allgemeinheit. Bernays schließt mit einer Prophezeiung, die „unmöglich zu unterdrücken“ sei. Es werde mehr Wellen antijüdischer Verfolgung geben. Angriffe auf die jüdische Religion und die Nationalität werden zu einem Angriff auf Radikalismus und freies Denken umgemünzt werden. „Bleibt standhaft, Juden, ertragt auch diesen Schlag, denn es wird der letzte sein ! Wer es wagen wird, den Menschen im Juden anzugreifen, wird die ganze Menschheit gegen sich aufbringen; und dass diese nicht eines Tages entsetzliche Rache nehmen sollte, dafür gibt es in der Geschichte kein Beispiel.“37 Diese seltsame Mischung aus ( jüdischem ) Beinahe - Größenwahn und erbittertem bilderstürmenden Kosmopolitismus atmet einen radikal revolutionären Hass gegen alle historischen Traditionen, die der Aufrechterhaltung von Ungleichheit und der Errichtung von Zäunen um sich herum dienen. Wir finden denselben Geist in der Aussage Moses Hess’, des Kommunisten, der dazu bestimmt war, der früheste Prophet des Zionismus im Westen zu werden : „Alles Leben, jedes Streben muß endlich stocken, wenn das Aristokratengift alle Adern der Gesellschaft durchdringt. Ich meine nicht bloß die Adelsaristokratie, sondern hauptsächlich die Geldaristokratie. Ich meine jede Herrschaft, die nicht auf persönlichem Verdienst gegründet ist, sondern sich auf das blinde Glück, auf das Vorrecht der Geburt beruft. Kurz, ich meine jedes sogenannte historische Recht.“38 – Eine eher merkwürdige Haltung für einen künftigen Zionisten. Disraeli hatte sich vorgenommen, die Überlegenheit der jüdischen Rasse zu beweisen. „Aus diesem Gesichtspunkte angesehen, ist die Erniedrigung des jüdischen Stammes allein ein auffallendes Zeugniß von seiner Vortreff lichkeit, denn nur einer von den großen Stämmen hätte die Prüfungen, die er erduldet hat, überleben können.“38w Es gebe tatsächlich keine andere Rasse, welche „Europa so sehr entzückt und bezaubert, erhebt und veredelt, wie die jüdische“. Die „bewundernswürdigen Künstler des Dramas [...], die bezauberndsten Sänger und Sängerinnen, die graziösesten Tänzer und Tänzerinnen, so wie die vollendetsten Musiker [ übrigens einschließlich Mozart; A. d. Verf.]“ sind „Söhne und Töchter Israel’s“,38x ganz zu schweigen von den großen Bankiers und Beratern großer Staatsmänner, wie Friedrich Gentz, Metternichs graue Eminenz. Außerdem seien Juden der lebende Beweis für den Unsinn der sozialen Gleichheit und der Rassengleichheit und dafür, „dem unerbittlichen 37 38 38w 38x
Bernays, vgl. Anm. 34. Silberner, Moses Hess, S. 29. Disraeli, Lord Georg Bentinck, S. 323 f. Ebd., S. 324 f.
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Gesetze der Natur trotzen zu wollen, welches bestimmt hat, daß ein höheres Geschlecht nie von einem untergeordneten vernichtet oder absorbiert werden soll“.38y Die wahren jüdischen Werte waren konser vative Werte par excellence. „Sie sind die Bewahrer der Ueberlieferung und die Erhalter des religiösen Elements. Sie sind ein lebendiges und höchst auffallendes Beispiel von der Falschheit jener verderblichen Lehre der modernen Zeiten, von der natürlichen Gleichheit des Menschen [...], der kosmopolitischen Brüderschaft“, darauf angelegt, „die großen Menschengeschlechter herabzuwürdigen und den ganzen Genius der Welt zu zerstören“.38z Wenn nun „alle Bestrebungen des jüdischen Stammes konser vativ sind, [...] Religion, Besitz und natürliche Aristokratie“, sollte es „im Interesse der Staatsmänner liegen, dieses Streben eines großen Geschlechts zu ermuthigen und ihre Energie und schöpferische Kraft für die Sache der vorhandenen Gesellschaft in Anspruch zu nehmen“.39 Stattdessen habe sich die nichtjüdische Welt entschlossen, die Juden zu unterdrücken und zu verfolgen. Man sehe sich das Ergebnis an : „Eine Empörung findet [1848] statt gegen Tradition und Aristokratie, gegen Religion und Besitz. Vernichtung des semitischen Prinzips, Ausrottung der jüdischen Religion, sei es in der mosaischen oder christlichen Form, die natürliche Gleichheit der Menschen und die Abschaffung des Besitzes werden von den geheimen Gesellschaften proklamiert, welche provisorische Regierungen bilden, und Männer vom jüdischen Stamme finden sich an der Spitze jeder derselben. Das Volk Gottes handelt in Gemeinschaft mit Atheisten, die erfolgreichsten Sammler von Besitzthum verbinden sich mit Kommunisten; das eigenthümliche und auser wählte Geschlecht wechselt den Händedruck mit dem Abschaum und den niedrigen Kasten Europa’s.“ Wären „die Juden nicht gewesen [...], so schwach auch die Regierungen waren, der unaufgeforderte Ausbruch Europa nicht würde ver wüstet haben. Aber die feurige Energie und die reichen Hülfsquellen der Kinder Israel’s unterhielten eine lange Zeit den unnöthigen und nutzlosen Kampf, [...] überall das jüdische Element [...]. Und dies Alles, weil sie jenes undankbare Christenthum zu vernichten wünschen, welches ihnen selbst seinen Namen verdankt und dessen Tyrannei sie nicht länger ertragen können.“40
38y 38z 39 40
Ebd., S. 327. Ebd. Ebd., S. 328. Ebd., S. 328 f.
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V. „ Die sozia le Fra ge ist die jüdi sche Fra ge“ – „jüdi scher Kapi ta lis mus“ und „jüdi scher Mar xis mus“ als Hebel des natio na len Sozia lis mus Die durch die Verbindung der zwei Revolutionen – der Französischen und der industriellen, der offenen industriellen Gesellschaft – eröffnete neue Ära schien auf die Bedürfnisse, Interessen, vor allem die Qualifikationen der soeben emanzipierten Juden – oder jener, die gerade diesen Prozess durchmachten – zugeschnitten zu sein. Doch in ihrer ewig ambivalenten Lage enthielten die aufregenden Möglichkeiten auch tödliche Gefahren. Im Vergleich mit den anfänglichen Nachteilen, mit denen sie die Arena betreten hatten, schienen sie tatsächlich als Hauptnutznießer der revolutionären Umwälzungen her vorzutreten. Ihre Feinde und all jene, die durch die kolossale Transformation verletzt, schockiert oder einfach ver wirrt wurden, erklärten sie zu deren Urhebern. Es hatte alles begonnen, als sie gewissermaßen aus dem Nichts kamen und gerade dem Ghetto entflohen waren. Die bürgerliche Gesellschaft heiligte beide Leistungen, in denen Juden sich auszeichnen konnten : Geld und Intellekt. Das Gleiche konnte über die Merkmale der Modernität nach Weber gesagt werden : Rationalität, das utilitaristische Kalkül, Selbstkontrolle. Ob die Juden und durch sie die calvinistischen Puritaner sich nun durch ihr striktes Rechnen mit dem Allmächtigen und seinen Vorschriften in den von Weber bestimmten protestantisch - kapitalistischen Tugenden übten; ob sie sie erwarben, als sie zur Speerspitze einer internationalen Handelsgemeinschaft wurden, indem sie von der außerordentlichen Toleranz und den internationalen Handelsmöglichkeiten profitierten, die das holländische Reich den ehemaligen Marranos bot, wie Sombart nahelegte; oder ob sie sie unter ihren eingeschränkten Bedingungen entwickelten, wo sie ihre Gedanken beisammen halten mussten, oder beim Studium des Talmud – es genügt, dass sie sie in hohem Maße besaßen.40z Da sie nicht an einem Ort ver wurzelt waren, keinen integralen Teil einer lokalen Tradition bildeten, das Gesetz als ihre Regierung und ihre verstreuten Glaubensbrüder als nationale Gemeinschaft betrachteten, passten sie bewundernswert gut in den gänzlich abstrakten Rahmen des internationalen Finanzwesens, der Warenwirtschaft und des Tauschsystems. Bereits im 18. Jahrhundert nannte Addison sie die Haken und Türangeln der internationalen Wirtschaft : selbst von keinerlei
40z Marranos ist eine abfällige Bezeichnung für zumeist unter Zwang zum Christentum übergetretene Juden oder Muslime.
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„Die soziale Frage ist die jüdische Frage“
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Nutzen, doch in jedem Gebäude, das zusammengesetzte Teile besitzt, unverzichtbar.41 Mit all ihren Eigenschaften und Veranlagungen, ihrer Bereitschaft zu experimentieren und Chancen zu ergreifen, ohne einen guten Ruf, den sie verlieren konnten, ohne Traditionen, die sie abschütteln mussten, stürmten die plötzlich emanzipierten und säkularisierten Juden in die neuen Möglichkeiten, für die die Gewohnheitsmenschen zu konser vativ, sorglos, zimperlich, schüchtern, ungenügend vorbereitet oder nicht phantasievoll genug waren. Sie leisteten einen entscheidenden Beitrag zum Aufbau der internationalen Wirtschaft. Die finanzielle Verknüpfung der Regierungen und Wirtschaften Europas durch das jüdische Bankwesen fand eine Parallele im jüdischen Unternehmergeist beim Bau der Eisenbahnen : die Rothschilds, Pereiras und Foulds in Frankreich, wieder die Rothschilds in Österreich, Bleichröder in Deutschland und Rumänien, Baron Hirsch auf dem Balkan und in der Türkei, die Barone Ginsburg und Poliakoff in Russland. Reuter, Havas und Wolff waren die Pioniere der großen Nachrichtenagenturen.42 Die Juden wurden überaus aktiv und bekannt dafür, dass sie Zeitschriften gründeten, herausgaben und für sie schrieben : Die „jüdische Presse“ wurde zum Synonym für „Presse“ insgesamt. Die großen Warenhäuser, die sie gründeten, machten die Warenproduktion und standardisierte Handelsgüter und damit die Industriekultur in vielerlei Hinsicht überhaupt erst möglich. Im Guten wie im Schlechten wurde die westliche Gesellschaft, und im Laufe der Zeit die ganze Welt, von einem unüber windlichen Drang befallen zu investieren, Wohlstand zu produzieren und zu horten, zu konsumieren, alle Arten von Experimenten und Erfahrungen zu machen, die Natur auszunutzen, die Lebensumstände zu beherrschen, umzuformen, zu wechseln, zu ändern, wobei handfeste, nutzbare Vorteile – materielle, hedonistische und Bildungsvorteile – übergeordnete Bedeutung hatten und als Maßstab dienten. Das beeinflusste viele Existenzen, Interessen, Werte und Empfindlichkeiten nachteilig. Es gab nicht nur die schmerzvolle Verschiebung großer Menschenmassen, die furchtbaren Lebensbedingungen in den neuen städtischen Zentren, das Elend des Industrieproletariats, die Verarmung und den sozialen Ruin unabhängiger Handwerker und Facharbeiter, den Niedergang der Aristokratie und der Landeigentümer und an vielen Orten ländliche Über völkerung. Religiöse Lehren, konser vative Anhänglichkeiten, alte Sitten, überlieferte Vorstellungen von Anstand und Schicklichkeit wurden von den nackten, unbarmherzigen, unpersönlichen und abstoßenden Regeln des Geldes, der Verehrung des Mammon, erschüttert und gestürzt. Die unleugbar wichtige Rolle, die die 41 42
Vgl. Talmon, The Unique and the Universal, S. 83. Vgl. Grunwald, Europe’s Railways and Jewish Enterprise; Landes, Bankers and Pashas.
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Die jüdische Dimension
Juden bei alledem spielten, und in weit größerem Ausmaß das unauslöschbare Image der Juden, legten es nahe, dass all dies ihr Werk sei. Feudale Ultrakonser vative, Geistliche, von mittelalterlicher Ritterlichkeit und feudaler Idylle hypnotisierte Romantiker, Moralapostel jeder Art, Zurück - zur - Natur - Sozialisten wie die Fourieristen, Anarchisten wie Bakunin und Proudhon und Marx selbst in seinen zwei Artikeln zur Judenfrage vereinten sich zum Lamento über die Judaisierung der Gesellschaft und verkündeten die Notwendigkeit, die jüdische Invasion zu stoppen und zurückzudrängen. In den nostalgischen Jeremiaden über die verlorene Unschuld, in den qualvollen Äußerungen von Leuten, die von dem Gefühl eines nicht rückgängig zu machenden Bruchs und einer nicht wiedergutzumachenden Entfremdung gequält wurden, und in der Rhetorik der Fürsprecher geschädigter Klassen und hoffnungsloser Fälle wurde die Befreiung von den Übeln des Kapitalismus und der Moderne gleichbedeutend mit einer Entjudaisierung. Marx erklärte auch, dass nur ihre Befreiung vom Judentum die Juden selbst als Menschen befreien würde, da dies eine Vorbedingung für die allgemeine Befreiung war.43 Marx definierte die fundamentale Lüge der liberal - bürgerlichen Gesellschaft auf eine Weise, die wieder an die Juden erinnerte. Jene Gesellschaft hatte das Banner von Freiheit, Gleichheit und Volkssouveränität gehisst. Gleichzeitig hatte sie die Eigentumsrechte für heilig und unantastbar erklärt, weil Eigentum unter dem Blickwinkel der bürgerlichen Gleichheit und der politischen Prinzipien angeblich keine Relevanz hatte.44 Anstatt irrelevant für das politische Leben zu werden, hatte sich das Eigentum aber als uneingestandener und gewissermaßen illegitimer Herrscher der modernen Gesellschaft herauskristallisiert und überschattete und bestimmte die formellen parlamentarischen Prozeduren im Voraus, wenn es sich nicht über sie lustig machte. Die Sozialisten und Radikalen stimmten mit den Liberalen darin überein, dass nur Eigentum alle anderen Freiheiten real machte. Sie fügten jedoch hinzu, dass der Mangel daran all diese Freiheiten zu Illusionen und Betrug machte. Die vom Geld verliehene Macht war unendlich effektiver als abstrakte Rechte auf dem Papier. In genau diesem Sinne wetterte Bruno Bauer über das Paradox, dass die Rothschilds, die in Frankfurt und Wien keine Rechte hatten, sich wie die Herrscher Europas benahmen, alte Dynastien als Geiseln hielten und großen Mächten ihre Bedingungen diktierten.45 Die jüdischen Pioniere des Kapitalismus und besonders des Finanzkapitalismus waren in den Ner venzentren der Großstädte platziert. Dort waren sie 43 44
45
Vgl. Easton / Guddat, Writings of the Young Marx, S. 245–247. Vgl. Lichtheim, Socialism and the Jews; Silberner, Western European Socialism and the Jewish Problem; Talmon, Die Geschichte der totalitären Demokratie, Band 2, S. 232 f. Vgl. Bauer, Die Judenfrage, S. 114.
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„Die soziale Frage ist die jüdische Frage“
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nicht nur sehr mächtig, sondern auch sehr auffällig und deshalb stark gefährdet. Als Bankiers, Eisenbahnmagnaten, Darlehensgeber, Herrscher der Börse bemannten sie die Kommandobrücken der nationalen und internationalen Wirtschaft. Sie traten mit nationalen Regierungen in direkte Verhandlungen. Sie konnten großen Druck und Einfluss auf parlamentarische Vertretungen und die öffentliche Meinung ausüben. Man nahm von ihnen an, sie seien in der Lage, das Schicksal einer großen Zahl von Menschen, Aktieninhabern, Industriellen, Verbrauchern, ja die Gesellschaft als Ganzes zu beeinflussen. Solange es gut ging, konnten solche Magnaten die demagogische antikapitalistische Agitation von Sonderlingen und Aufwieglern ignorieren. In Augenblicken der Krise, des Fehlschlags oder eines Skandals wurde ihre Lage sowie – durch die unvermeidliche Verbindung zu Verantwortung und Schuld – die der Juden im Allgemeinen heikel und gefährlich. Das zeigte sich plötzlich und gleichzeitig in den Jahren nach 1870 in den führenden Ländern des Kontinents. Dies war das Jahr des Aufkommens jener Art von Antisemitismus, die schließlich zu Auschwitz führen sollte. Dessen Her vortreten war vom Zusammenfließen vieler verschiedener Entwicklungen gekennzeichnet : dem Aufkommen der Massen; dem Sieg parlamentarischer Regierungsformen mit allgemeinem Wahlrecht in den beiden wichtigsten Ländern, Frankreich und Deutschland; dem plötzlichen Aufstieg des Kapitalismus in Deutschland, Österreich - Ungarn und Russland; der raschen Intensivierung nationalistischer Gefühle überall – im triumphierenden, aber besorgten Deutschland, im höchst aufgebrachten Frankreich, im von Rassenkonflikten gezeichneten Österreich Ungarn und in Russland, das von den entgegengesetzten Tendenzen einer revolutionären terroristischen Ideologie und eines von einer belagerten Regierung angestifteten gewalttätigen Chauvinismus zerrissen war. Das zeitliche Zusammentreffen des Triumphs des parlamentarischen Systems und der Wirtschaftskrise versetzte besonders in Frankreich dem automatischen Vertrauen in die parlamentarische Regierungsform einen schweren Schlag : Das Allheilmittel gegen alle Übel schien bei seiner Hauptaufgabe versagt zu haben. Schlimmer noch : Viele Abgeordnete und sogar Minister waren in die finanziellen Ränke, Intrigen, Skandale und Vertuschungen ver wickelt. Man munkelte von dunklen Kräften und Plänen, die die parlamentarischen Entscheidungen und Regierungspolitiken zugunsten privater Interessen manipuliert hätten. Die Geheimnisse der Hochfinanz, die Launen der Börse, die Wechselfolgen steigender Erwartungen und plötzlicher Bankrotte waren den meisten Aktieninhabern völlig unverständlich und stellten für das gemeine Volk im Großen und Ganzen Hexerei dar. In alle finanziellen Fehlschläge und Skandale, die die verschiedenen Länder in den siebziger und achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts erschütterten, waren Juden involviert, oder man nahm an, sie seien es. In Deutschland war es Gerson von Bleichröder, der Privatban-
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kier und engste Vertraute Bismarcks, nach Krupp der reichste Mann in Deutschland, der zum unvermeidlichen Ziel wurde;46 in Frankreich gab man die Schuld an der Pleite der katholischen Union Générale den Rothschilds, und es half kein Leugnen, dass die Strippenzieher in der Panama - Affäre, die offiziell vom Nationalhelden des Suez - Kanals, Lesseps, angeführt wurde, der deutsche Jude Reinach, der amerikanische Jude Cornelius Herz und der italienische Jude Arton seien.47 In der Frühzeit des Wilhelminischen Reiches bildeten die Juden, die nicht mehr als zwei bis drei Prozent der deutschen Bevölkerung stellten, die Hälfte der Teilnehmer am Investitionsansturm nach 1870, der durch die riesigen Summen französischer Reparationen ausgelöst wurde und beim Kurseinbruch von 1873 großen Schaden nahm.48 Man fand sie unter den größten Industriemagnaten, die der phänomenalen Entwicklung der neuen und anfangs typisch deutschen Industrietypen den Weg bereiteten : in der Elektroindustrie – die Rathenaus, in der chemischen Industrie – die Monds, im Schiffbau – Ballin. Sie brachten deutsche Unternehmen und Investitionen in andere europäische und noch weiter entfernte Länder. Das Bankenwesen, der Aktienhandel und die Spekulationsaktivitäten der Juden erregten jedoch die größte Aufmerksamkeit. Hier waren alle Zutaten für einen antisemitischen Mythos um einen Judas und Shylock in einer Person vereint. Das Klischee von jüdischer Gier, Verschlagenheit und okkulten Dingen schien von der spekulativen Natur des modernen Kapitalismus bestätigt zu werden. Die überhitzten nationalistischen Fantasien der Ära nach 1870 waren gleichzeitig von einer Vision von Macht und Ruhm und den Gefahren für die Nation besessen. Finanzskandale und Bankrotte sowie Amtsvergehen von Volksvertretern und Beamten weckten das Gespenst des Verrats. Sie lösten berechtigte Entrüstung gegen korrupte Männer aus, die sich als untauglich erwiesen hatten, das Schicksal der Nation in den Händen zu halten und vor allem die Macht und Ehre der Nation im Ausland zu verteidigen. Verschwörung und Verrat rechtfertigten gewaltsame, direkte Handlungen, einen Volksaufstand unter Führung einer Avantgarde der Reinen und Unbestechlichen gegen die in die Bestechung ver wickelten Juden und deren nichtjüdische Komplizen, Strohmänner und Helfershelfer. General Boulanger war noch zu sehr ein Produkt der französischen Revolutionstradition, um für Antisemitismus als politischen Schwerpunkt einzutreten, und es gab den jüdischen anarchistischen Senator Alfred Naquet sowie den jüdischen Konvertiten Meyer, der für
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Vgl. Stern, Gold und Eisen. Vgl. Frank, Nationalismus und Demokratie. Vgl. Massing, Rehearsal for Destruction; Pulzer, Die Entstehung des politischen Antisemitismus ( für Statistiken siehe S. 74–80); Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr; Poliakov, Histoire de l’antisémitisme; ders., The Aryan Myth.
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die Bewegung Geld eintrieb, um die Stellung zu halten.49 Die kunterbunte Menge politischer Unternehmer und Agitatoren, von patriotischen Blanquisten und populistischen Antisemiten bis hin zu aristokratischen Orléanisten, die den eher bemitleidenswerten Schokoladensoldaten zu einem Nationalhelden aufbauten, zum Rächer für Sedan und sozialen Messias, waren Ausdruck der Frustrationen und der Wut der Allgemeinheit gegen die Geldverleiher im Tempel – dem Palais Bourbon –, und sie nahmen sich vor, darauf eine Antwort zu geben. Sie bereiteten in der Tat einer antiparlamentarischen und protofaschistischen Massenbewegung den Weg.50 Die säkulare Religion des militanten Nationalismus übernahm die antikapitalistische und antisozialistische Richtung des Antisemitismus als Gegengift zum proletarischen kosmopolitischen Sozialismus als wirkungsvollstes Mittel, um den Arbeiterklassen die Ideen des Klassenkampfes und des mar xistischen Internationalismus abzugewöhnen. Die Versuchung war groß, das soziale Problem zum Ergebnis des jüdischen Kapitalismus zu erklären und den sozialen Konflikt zur Erfindung jüdischer Sozialisten, die Hand in Hand arbeiteten, um die Nation zu teilen und sie dadurch umso besser ausbeuten zu können. Darüber hinaus brauchte der Nationalismus als Massenreligion ein gewisses Maß an Selbstsicherheit gegenüber anderen im Sinne eines „holier than thou“. Antijüdische Gefühle stillten das Verlangen, das Beste von sich selbst und das Schlechteste von anderen zu glauben, sich selbst so darzustellen, wie man gerne sein wollte, und andere so, wie sie am schlechtesten dastanden; das innere Licht zu fühlen, das das eigene Wesen ganz erfüllte, und die undurchdringliche Finsternis wahrzunehmen, in der die Fremden hausten; nichtjüdische Kneipenbummler und Anhänger von Hunderennen zu idealisieren und jüdische Börsenmakler und Hausierer lächerlich zu machen; sich selbst alle hohen Gefühle, alle höheren Bedürfnisse, faustischen Idealismus und prometheisches Heldentum, alle künstlerische Sensibilität und alles Genie der Menschheit zuzuschreiben und die Juden als verdorrte Materialisten zu verdammen, denen es an aller feineren Anmut, Instinkten und Sehnsüchten mangelte. Renan sagte über diese Art Nationalismus, dass er die Nation in eine Einheit jener ver wandelte, die durch Illusionen über ihre eigene Herkunft und verächtliche Feindseligkeit gegenüber allen anderen Nationen zusammengehalten wurden. So gab es eine übergeordnete Notwendigkeit, die eigene Authentizität vor der Verunreinigung durch geringere Rassen zu bewahren.51
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Vgl. Chastenet, Histoire de la Troisième République, Band 2, Kapitel 9, S. 177 ff.; Dansette, Le Boulangisme. Vgl. Sternhell, La Droite révolutionnaire, S. 33 ff. Vgl. Arendt, Elemente und Ursprünge, S. 513 f.; Sartre, Réflexions sur la question juive.
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In der qualvollen Leichenschau, die die Franzosen nach der furchtbaren Niederlage von 1870 durchführten, zeterten die Wortführer der Rechten, die französische Nation sei durch die abstrakten, universalistischen, kosmopolitischen Lehren der französischen Aufklärung und der Französischen Revolution demoralisiert und ihre Stärke im Dienst ausländischer Anliegen und revolutionärer Predigten geschwächt worden. Charles Maurras gab den Juden die Schuld am Import der Theorien über die Menschenrechte aus dem Deutschland Kants und daran, dass sie sie eingesetzt hätten, um den Widerstand des gesunden Organismus gegen die Transplantation des jüdischen Fremdkörpers zu brechen. Nicht ohne wehmütiges Bedauern appellierte Maurras an Frankreich, das über Jahrhunderte allen europäischen Nationen als Vorbild gedient hatte, sich von der Außenwelt zurückzuziehen, das Kriegsbeil zu begraben und sich auf die eigenen alten, authentischen und exklusiven Inspirationen zu besinnen.52 Barrès erklärte, für die Franzosen entspreche die Wahrheit der Perspektive der Interessen Frankreichs, und ihr Kompass sei der heilige nationale Egoismus.53 In Maurras’ Lehre waren die Monarchie, die französische Kirchenhierarchie ( eher als die ökumenische Kirche ) und die Armee die lebensrettenden sozialen Autoritäten Frankreichs. Aus Angst vor kosmopolitischer Auf lösung hatte die französische extreme Rechte eine morbide Abneigung gegen Industrialisierung, Liberalismus, Kapitalismus und Sozialismus entwickelt. Sie wandte sich einem Kult um alte Friedhöfe zu und pries die Schönheit ländlicher Einfachheit und alter regionaler Traditionen. Die kosmopolitischen und unfranzösischen Werte waren alle im Judentum zentriert. Und kein Jude, nicht einmal ein von einem französischen Militärgericht zu Unrecht verurteilter wie Dreyfus, konnte gegen die lebenserhaltenden Ideen und historischen Institutionen Frankreichs – vor allem die französische Armee – Recht haben. Unter ehrlichem oder scheinheiligem Bedauern über die Vulgarität und Brutalität fanatischer antisemitischer Agitation ( wobei er gleichzeitig den Juden sagte, sie hätten dies durch ihre Arroganz selbst herausgefordert ) gab Treitschke offen zu, dass eine starke Dosis Antisemitismus darauf berechnet war, im neu vereinten Deutschen Reich, das sich seiner Identität so unsicher war und dessen Zusammenhalt durch spaltende Traditionen und Interessen schwach blieb, das nationale Selbstbewusstsein und den Stolz zu vertiefen.54 Adolf Stoecker, Hofprediger Kaiser Wilhelms I., ein Mann niederer Herkunft
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Zur französischen Rechten nach 1870 vgl. Girardet ( Hg.), Le Nationalisme français; Rémond, La Droite en France; Weber, L’Action Française. Vgl. Barrès, Scènes et doctrines du nationalisme; Sternhell, Barrès et le nationalisme français; ders., Les Idées politiques. Vgl. Treitschke, Ein Wort über unser Judentum.
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und evangelischer Eiferer, begann einen Kreuzzug, um die Flut des Atheismus, Materialismus und unpatriotischer Gefühle innerhalb der Arbeiterklasse einzudämmen, sie zu bekehren und zu den guten alten preußischen Traditionen zurückzuführen.55 Er stieß auf die Juden und machte den Antisemitismus zum Eckpfeiler seiner christlich - sozialen Bewegung. Der jüdische Hochkapitalismus sei der Ruin des kleinen Mannes und jüdischer Wucher ein Mühlstein am Hals der deutschen Bauern. Der jüdische Mammonkult und der unehrenhafte, egoistische Materialismus der Manchester - Schule, der von jüdischen Liberalen gepredigt und von jüdisch - interessierter Seite praktiziert wurde, habe dem Handwerkerstolz über die Arbeit, der Zufriedenheit über den eigenen Platz im Leben, den patriarchalischen Beziehungen zwischen den Klassen, den alten, auf christlicher Nächstenliebe und gegenseitiger Verpflichtung basierenden Traditionen ein Ende bereitet. Jüdische Schriftgelehrte wagten es, Gott und Kirche zu verspotten, altüberliefertes frommes Handeln und nationale Symbole zu beleidigen und Gier und unersättliche Zügellosigkeit zu entfachen. Jüdische Sozialisten machten den Arbeitern ihre Pflichttreue zu Kirche, Kaiser und Vaterland abspenstig. Wilhelm I. protegierte seinen Prediger und teilte dessen Entsetzen über jüdische Arroganz sowie den Wunsch, dem zerstörerischen Einfluss der Juden Einhalt zu gebieten, doch er musste seine Unterstützung zurückziehen, als Stoecker mit seinem Arbeiterpublikum, besonders auf seiner Missionsreise nach London, in Schwierigkeiten und mit dem Gesetz in Konflikt geriet. Dennoch: Die Verfechtung von militantem Antisemitismus durch einen Hofprediger und, mehr noch, Treitschkes bekanntes Pamphlet über die Juden als Deutschlands Unglück verliehen der Hetze Ansehen, die früher von solch bedeutungslosen Persönlichkeiten und Monomanen wie dem Ex - Radikalen Wilhelm Marr, Liebermann von Sonnenberg und Dühring begonnen und von Demagogen wie Ahlwardt, Böckel und Fritsch fortgeführt worden war.56 Die Juden waren entsetzt, als die Massenpetition für die Abschaffung der jüdischen Emanzipation – wenn sie auch abgelehnt wurde – eine lange Debatte anstieß, in deren Verlauf Konser vative, Liberale und Katholiken miteinander wetteiferten, die Juden zu warnen, sich ihres Platzes in der deutschen Gesellschaft bewusst zu sein, Demut zu lernen und die Interessen, Empfindlichkeiten und Schicklichkeiten der deutschen Nation zu respektieren. Tatsächlich versetzte Bismarck selbst in der großen Debatte von 1879 zur Frage von Protektionismus vs. Freihandel den liberalen jüdischen Gegnern der vorgeschlagenen Agrartarife, Lasker und Bamberger, einen Schlag unter die Gürtellinie, als er auf Männer anspielte, die niemals liebevolle Sorge für jene empfunden hätten, die den 55 56
Vgl. Frank, Hofprediger Adolf Stoecker. Vgl. Pulzer, Die Entstehung des politischen Antisemitismus, Kapitel 12, S. 150–156.
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Boden bearbeiteten, da sie selbst weder hackten noch spönnen, sondern durch Spekulation gediehen und keine Verantwortung für das Schicksal hart arbeitender Mitbürger fühlten.57 Doch alle Versuche, besonders Bleichröders, des Ver walters der privaten Investitionen des Eisernen Kanzlers und politischen Vertrauten desselben, Bismarck und den Kaiser zu bewegen, antisemitische Hetze förmlich zu verurteilen, scheiterten. In seinem richtungweisenden Buch schreibt Fritz Stern, wenn sie dies getan hätten, als ihr Prestige auf dem Höhepunkt war, indem sie militanten Antisemitismus als unmoralisch und antinational gebrandmarkt hätten, hätten sie die Konser vativen und Nationalliberalen daran hindern können, ihn salonfähig zu machen.58 Den Juden stand bald die ärgerliche Erfahrung bevor, von der Reichstagstribüne wüste Beschimpfungen des Dutzends Abgeordneter zu hören, das nach einem politischen Programm gewählt worden war, dessen wichtigster Punkt der Antisemitismus war.59 Bismarck fand keinen Gefallen an dem großmäuligen Geistlichen. Er gab allerdings zu, dass ihn Stöckers Antisemitismus nicht störte. Was ihm hingegen Sorge bereitete, war der Gedanke, dass Angriffe auf reiche Juden wahrscheinlich zu sozialistischen Angriffen auf das Eigentum im Allgemeinen führen und dadurch die soziale Ordnung gefährden würden.60 Ein preußischer Polizeibericht aus dem Jahr 1879 erwähnte die Hilfe, die die Juden der Sozialdemokratischen Partei zuteil werden ließen. Diese Hilfe stammte von dem demonstrativen Luxus, den sie zur Schau stellten und der soziale Proteste unter den Armen auslöste, und von ihrer offenen Unterstützung für die Sozialisten in Form von Geld sowie von Fürsprache für den Sozialismus in den Presseorganen, die sie kontrollierten. Wenn wir den Umstand hinzufügen, dass die meisten bekannten Führer der revolutionären Parteien in den verschiedenen Ländern Juden sind, wie Karl Hirsch in Brüssel, Karl Marx in London, Leo Fraenkel in Budapest, und dass der Großteil der russischen Nihilisten, die sich bemühen, ihre revolutionären Lehren besonders in Galizien, Russland, Polen und der Schweiz zu verbreiten, meist aus Juden besteht, gibt es Grund, die Behauptung zu stützen, dass das Judentum von Natur aus eine revolutionäre Neigung hat.61 Das und die Tatsache der jüdischen Solidarität und ihres Zusammenhalts machte Wachsamkeit notwendig. Sie hatten auch bei ihrer Kritik der Zollpolitik des Reiches ihren Mangel an patriotischen Gefühlen offenbart, womit sie so gerne prahlen.62
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Vgl. Eyck, Bismarck, Band 3, S. 287 ff. Vgl. Stern, Gold und Eisen, Kapitel 18, S. 599–644, besonders S. 627–644. Vgl. Eyck, Bismarck, Band 3, S. 352 ff. Vgl. Frank, Hofprediger Adolf Stoecker, S. 118 ff. Vgl. Stern, Gold und Eisen, S. 625 ff., 641 f. Ebd., S. 572 ff.
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In den frühen Tagen nach dem Debakel des letzten romantischen Aufstands in Polen von 1863/64 gewann die Idee von organischer Arbeit und konstruktiver Leistung den Kampf gegen die polnische Aufstandsideologie. Die Juden, besonders die mächtigen Großindustriellen und Gründer des polnischen Kreditwesens, die Kronenbergs, Blochs, Natansons und andere, wurden als Träger und Wegbereiter polnischen Wohlstands und Einflusses gepriesen. Bald gerieten Polen und Juden als Konkurrenten aneinander, besonders da es den Polen an der Erfahrung und dem Einfallsreichtum der Juden mangelte. Und eine neue Flut restriktiver zaristischer Gesetze drängte eine große Zahl russifizierter Juden aus Weißrussland und Litauen nach Kongresspolen, wo die Polen eine Minderheit aus Grundbesitzern stellten. Die folgende Welle heftigen Antisemitismus verkündete das Schlagwort von der Notwendigkeit, eine polnische Mittelschicht, eine wahrhaft polnische Wirtschaft, eine gesunde Sozialstruktur aufzubauen, und es wurde proklamiert, dass die Juden fremde Ausbeuter seien, die vierte Besatzungsmacht neben Russland, Deutschland und Österreich und von den vieren die hartnäckigste und am schwersten zu beseitigende.63 Das Programm der Nationaldemokratischen Partei war auf dem Fels des Antisemitismus errichtet. Deren Theoretiker und Führer Roman Dmowski propagierte die Idee einer besonderen „Avantgarde professioneller Antisemiten“.64 Wenn das keine Kopie von Lenins Idee einer Partei professioneller Revolutionäre war, sollte es gewiss ein Gegenmittel für die „Kampfeinheiten“ der Polnischen Sozialistischen Partei sein. Die Nationaldemokraten hatten keinen Anteil an dem großzügigen und heroischen, wenn auch oft starrköpfigen Idealismus der Anhänger Piłsudskis. Tatsächlich setzten sie all ihre Hoffnungen in die Möglichkeiten, die ihnen internationale Komplikationen eines Tages bieten mochten, und arbeiteten in der Praxis systematisch mit den Besatzungsmächten zusammen, während sie eine Art Sozialdar winismus predigten, die einer schwachen und unter worfenen Nation schlecht zu Gesicht stand. Die Juden waren ein leichtes Ziel für nationalistischen Kampfgeist. Es gab kein Risiko. Es ist schockierend, aber nicht völlig überraschend, dass in den Tagen von Auschwitz einige polnische Stimmen auf blasphemische Weise der Vorsehung dafür dankten, dass sie ein für die polnische Nation unlösbares Problem auf eine Weise löste, die sich niemand in den wildesten Träumen hätte vorstellen können. Es war Österreich, das Geburtsland Hitlers, in dem er bis 1913 lebte und wo er nach eigenen Angaben seine politische Ausbildung vollendete, bevor er sich in Deutschland niederließ, das auf rudimentäre Weise die erschreckenden
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Vgl. Garncarska, Die Industrieregion um Warschau [ hebräisch ]. Kormanowa / Najdus ( Hg.), Historia Polski, Band 3.2, S. 327.
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Möglichkeiten des modernen Antisemitismus offenbarte.65 Verspätet, doch in rascherem Tempo als selbst Russland hatte die Donaumonarchie den Sprung aus dem feudal - agrarischen Zeitalter zu Industrialisierung und Kapitalismus ohne den langsamen Prozess des Entstehens einer Mittelschicht geschafft. Wie die Deutschen waren es die Juden – in manchen Regionen sogar mehr als die Deutschen –, die als Hebel der Modernisierung, Industrialisierung und des Kapitalismus wirkten. Es fiel ihnen zu, im Habsburger Vielvölkerstaat mit seinen riesigen ethnischen, kulturellen und sozialen Divergenzen die Rolle der Bahnbrecher und „Türangeln und Haken“ zu spielen.66 Von einer kleinen Gemeinde entwickelten sich die Juden Wiens zu einem der größten Zentren des Judentums in Europa und wirkten als Magnet für alle unternehmungslustigen und dynamischen jungen Juden aus den entlegensten und rückständigsten Ecken des ausufernden Reiches, Galizien und der Bukowina. In Wien waren die meisten Banken in jüdischer Hand, in Budapest buchstäblich alle Banken. Die Juden gründeten und gaben die meisten Zeitungen heraus. Sie waren die Ersten, die Eisenbahnen bauten.67 Viele von ihnen gaben, besonders in Wien, in Musik, Literatur, Theater und Massenunterhaltung den Ton an, um nur Arthur Schnitzler, Hugo von Hofmannsthal, Gustav Mahler und Sigmund Freud zu erwähnen; und das traf auf Budapest um so mehr zu. Der Anteil der Juden an der Studentenschaft der Universitäten und in den freien Berufen nahm immer weiter zu. All dies versetzte den einfallsreichen Demagogen und Aufwiegler Lueger in die Lage, die Christlich - Soziale Partei in eine antisemitische Massenbewegung zu ver wandeln, wiederholt die Wahl zum Bürgermeisteramt der Habsburger Hauptstadt zu gewinnen und den alten Kaiser zu zwingen, ihn nach mehreren Weigerungen als Bürgermeister anzuerkennen. Schönerer, vormals ein Liberaler, der eng mit jüdisch - liberalen Führern wie dem her vorragenden Historiker Friedjung und selbst Victor Adler ( bevor dieser sich der Sozialdemokratischen Partei anschloss ) gearbeitet hatte, riss, als die Konzession der Rothschilds für die führende österreichische Eisenbahn dem Parlament zur Erneuerung vorgelegt wurde, die ganze Angelegenheit als gute Möglichkeit an sich, den Verteidiger der Rechte des Staates und der Volksinteressen gegen den räuberischen jüdischen Finanzkapitalismus zu spielen und eine ausgedehnte Propagandakampagne loszutreten.68 Nach dem Niedergang der traditionell starken Loyalität der herrschenden deutschen Nationalität gegenüber der Dynastie der Habsburger als Ergebnis 65 66 67 68
Vgl. Whiteside, Georg Ritter von Schönerer. Pulzer, Die Entstehung des politischen Antisemitismus, S. 69–80. Vgl. ebd. Zum Wachstum der jüdischen Bevölkerung in Wien vgl. Vienna ( in : The Universal Jewish Encyclopaedia ), S. 417; Vienna ( in : Encyclopaedia Judaica ), S. 124. Vgl. Whiteside, Georg Ritter von Schönerer, S. 35 f., 39, 99–103.
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des phänomenalen Aufstiegs des Deutschen Reiches und der Annäherung zwischen der Dynastie und den Slawen wurden die Juden zur einzigen ethnischen Gruppe, die der österreichischen Idee vorbehaltlos, ja leidenschaftlich ergeben blieb. Das trug nicht gerade zu ihrer Beliebtheit unter den Alldeutschen in Österreich bei. Die Juden aus Österreich - Ungarn erkannten, dass es für sie besser war, eine aus einem Dutzend oder mehr ethnischen Gruppen in einem Vielvölkerstaat zu sein als die einzige Minderheit in einem selbstbewussten kleinen Staat mit nur einer Nation. Zugleich hingen sie liebevoll an der dominierenden deutschen Sprache und Kultur, und das wiederum entfremdete sie von den nichtdeutschen Nationalitäten. Doch die Juden waren auch strikt liberal und fest von Demokratie und Pluralismus überzeugt. Sie stachen in der Führung der Liberalen wie der Sozialdemokratischen Partei her vor, da beide das Prinzip der Einheit des Reiches und der Rassengleichheit hochhielten. Das rief den Zorn der alldeutschen Nationalisten wie Schönerer her vor. In ihren Augen hatten sich die Habsburger an die Slawen verkauft und die deutsche Mission im deutschen Bollwerk in der Ostmark verraten. Gleichzeitig waren sie entsetzt angesichts des Gedankens, dass das Prinzip „ein Mann, eine Stimme“ in Verbindung mit der wachsenden Unverschämtheit der niederen Rassen das teutonische Element mit slawischen Horden zu überschwemmen drohte. Dies gab Anlass zu antidemokratischen Lehren über die Herrschaft der Besten anstatt der Mehrheit, über charismatische diktatorische Führung anstelle von parlamentarischer Parteienmehrheit und über die permanent mobilisierte Nation mit einem einzigen Willen. Von jüdischen Politikern und Publizisten, die die liberale Demokratie predigten, hieß es, sie unterminierten das deutsche Selbstbewusstsein und die deutsche Stellung. Die individualistische, liberale, ironische Haltung überkultivierter kosmopolitischer Juden gegenüber tradierten heiligen Kühen und historischen Symbolen entweihten den deutschen Nationalmythos und hatten eine verzerrende, schädliche, verfälschende Wirkung auf die deutsche Selbstdarstellung. Die dar winistischen Vorstellungen vom Krieg der Rassen, die Schönerer und sein Gefolge wörtlich übernommen hatten, führten Zwischentöne von biologischem Rassismus mit sich. So predigten sie, die Klassen - und Parteiunterschiede innerhalb der deutschen Nation dem Bedürfnis unterzuordnen, die slawische Belagerung von außen und die internen Machenschaften des Vaters aller sozialen Übel zu bekämpfen : des jüdischen Finanzkapitalismus ( im Unterschied zum konstruktiven Industriekapitalismus, der vorgeblich nur von deutschen Ariern praktiziert wurde ) und der jüdischen Sozialisten, die zu einer vereinten proletarischen Front aus allen Volksgruppen aufriefen und das deutsche Lager spalteten. Den vereinten Kräften der Christlich - Sozialen Partei unter der Führung des charismatischen Demagogen Lueger und der Alldeutschen mit dem grimmigen Schönerer an der Spitze gelang es, den österreichischen Antisemitismus
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zu einem Spiegelbild des Sozialismus und, in der Sprache des alten Engels, zum „Sozialismus der Narren“ zu machen.69 „Die Antisemiten sind jetzt unser gefährlichster Gegner, gefährlicher als in Deutschland“, schrieb 1884 Kautsky aus Wien an Engels, „weil sie oppositionell und demokratisch auftreten, also den Instinkten der Arbeiter entgegenkommen.“70 Er verfolgte dies wenig später in einem anderen Brief an den großen alten Mann des Mar xismus weiter, als er ihn darüber informierte, dass der Antisemitismus gewaltige Dimensionen annahm und einen großen Teil des Kleinbürgertums mit sich zog und – „mitunter sehr ‚radikale‘ – Elemente aufgenommen hat, die bisher bei uns waren. Und die kleinbürgerlichen Instinkte sind selbst bei den Arbeitern [...] so stark, daß unsere Führer alle Mühe hatten, die Massen vor dem Überlaufen zu den Antisemiten zu bewahren“.71 In der überhitzten Atmosphäre eines dar winistischen Kampfes der Rassen ersetzte Gewalt, wie bereits bemerkt, die Verhandlungen. Stärke und deren Zurschaustellung traten an die Stelle der Argumentation. Hier und dort in den deutschsprachigen Gebieten und besonders in den gemischten oder grenznahen wie dem Sudetenland schossen kleine Verbindungen oder eher Banden nationalistischer Militanter, die sich Nationalsozialisten nannten, unter der Leitung charismatischer Anführer wie Pilze aus dem Boden. Sie übten auf ihre Anhänger eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus, verlangten absoluten Gehorsam von ihnen und führten sie in einen anhaltenden Kampf; oft bis zu dem Punkt, gegen die Stammesfeinde – Slawen und Juden – bei öffentlichen Versammlungen, auf den Straßen und an den Universitäten physische Übergriffe zu begehen.72 Schönerer kam zu Fall, als er eine Gruppe von Studenten bei einem Überfall auf den jüdischen Herausgeber der Wiener Zeitung anführte, die eine verfrühte Meldung über den Tod Kaiser Wilhelms I., des Idols der österreichischen Alldeutschen, veröffentlicht hatte. Als junger Student war der Schriftsteller Hermann Bahr Zeuge des Widerstands Schönerers gegen einen österreichischen Polizisten, der herbeikam, um eine antisemitische Studentenversammlung aufzulösen : „In diesem Augenblick stieß mich jemand weg, Schönerer war’s, einen Schläger schwingend [...], schäumend vor Zorn, elementar in seiner Wildheit : der Anblick seiner entfesselten Wut ist mir unvergeß69
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Vgl. Skalnik, Dr. Karl Lueger. A. d. Ü. : Das angegebene Zitat „Sozialismus der Narren“ findet sich nicht bei Engels, aber es gibt ein ähnliches Schlagwort, demzufolge der „Antisemitismus [...] der Sozialismus des dummen Kerls“ ist. Diese Aussage wird oft August Bebel zugeschrieben, stammt aber wahrscheinlich von Ferdinand Kronawetter. Vgl. Bahr, Der Antisemitismus, S. 21. Kautsky ( Hg.), Friedrich Engels’ Briefwechsel mit Karl Kautsky, S. 125. Ebd., S. 159. Vgl. Schnee, Georg Ritter von Schönerer, S. 18 f.
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lich geblieben bis auf den heutigen Tag und wenn ich von gotischen Menschen reden höre, taucht immer wieder dieser Ritter Georg in geballter Flamme vor mir empor. Das war der berühmte Wagnerkommers.“73
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Bahr, Selbstbildnis, S. 143; Whiteside, Georg Ritter von Schönerer, S. 90. A. d. Ü. : Talmon gibt das Zitat in leicht abweichender Fassung wieder.
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VI. Der Weg nach Auschwitz – Ras sis mus Nicht wenige jüdische Historiker haben sich mit der Frage gequält, ob der „neue Antisemitismus“, der um 1880 aufkam und seinen furchtbaren Höhepunkt im Nationalsozialismus erreichte, „die gleiche alte Sache“ nur in intensiverer Form gewesen sei oder ein neues und wesentlich anderes Phänomen. Es ist nicht nötig, das Pro und Contra der jeweiligen Meinungen zu bilanzieren. Es genügt folgende Feststellung : Selbst die Anhänger von Kontinuität und Gleichheit werden kaum leugnen, dass es einen quantitativen Unterschied gab, der sich zu einem qualitativen steigerte. Es herrschte viel Unschlüssigkeit unter den Gegnern der jüdischen Emanzipation wie auch unter den späteren Kritikern eines unangemessenen und schlechten jüdischen Einflusses. Die Juden waren noch nicht bereit, in die Masse der deutschen Nation integriert zu werden, sondern fühlten sich auch nach der Emanzipation anders als die anderen. Treitschke und – in anderer Weise – Mommsen übten Druck auf sie aus, jede Anstrengung zu unternehmen, um ihre Isolation zu über winden.74 Ihre extremeren Gegner beharrten darauf, dass die Juden wegen ihrer Geschichte und ihres psychologischen Profils immer Fremde bleiben würden. Sie würden die Erwartung einer messianisch - nationalen Wiederherstellung des alten Heimatlandes und ihre Träume, eines Tages alle Nationen anzuführen, nie aufgeben. Ihre Macht und ihr Einfluss trugen daher die Zeichen eines schädlichen Aufzwingens und ausbeuterischer Herrschsucht. Die Vertreter dieser Ansicht verachteten den Wunsch von Juden, Deutsche zu werden; umso mehr, als alle deutschen Juden eifrig deutschen Patriotismus demonstrierten. „Die Liebe zu unserem deutschen Vaterland wird nicht abkühlen“, erklärte ein zionistisches Pamphlet 1897. Die preußischen Tugenden : Disziplin, Geschäftssinn, Männlichkeit, Ehr - und Pflichtgefühl, körperliche Fähigkeiten und Liebe zur Natur, schließlich die patriotischen Turnvereine von 1813 – all das wurde den Freunden Zions wie auch der großen Mehrheit derjenigen Juden, die nur Deutsche mosaischen Glaubens sein wollten, als Modell präsentiert.75 Der gänzlich unverhältnismäßige Beitrag von Juden zur nationalen Kultur, zur deutschen Literatur, den Geisteswissenschaften, der Natur wissenschaft, der Presse und der Kunst wie auch ihr stetig steigender Anteil in den akademischen Berufen, dessen Ursache in ihrem Ausschluss vom Offizierskorps, von den höheren Rängen des Staatsdienstes, der Justiz und von den Universitäts74 75
Vgl. Mommsen, Auch ein Wort über unser Judentum. Vgl. Mosse, Die Nationalisierung der Massen, S. 119, 163.
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Der Weg nach Auschwitz
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lehrstühlen lag, wurde herabgesetzt als Eindringen von ungebetenen Fremden, die nichts als „Deutsch sprechende Orientalen“ seien. Er wurde als eine Art Brunnenvergiftung des deutschen Geistes behandelt, besonders wenn Juden ihre analytische Fähigkeit und ihren kritischen Scharfsinn zeigten, von Ironie und geistreichem Verstand ganz zu schweigen. Sie fanden jedoch keineswegs mehr Akzeptanz, wenn sie ehrlich und leidenschaftlich am Teutonenkult teilnahmen, sondern wurden dann als jämmerliche, verachtenswerte und lächerliche Scharlatane verspottet. Die Juden auf Armeslänge zu halten, vor ihnen zu warnen, sie in ihre Schranken zu weisen, Barrieren gegen sie zu errichten, gemeiner, gezielter Spott – all das wurde durch gewisse Hemmungen gebremst, die im „neuen“ rassistischen Antisemitismus wegfielen. Trotz all seines Anteils daran, antijüdische Einstellungen zu wecken und aufrechtzuerhalten, konnte das Christentum seine eigenen jüdischen Vorfahren und Verbindungen oder seine Lehren von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen, der Einheit der Menschheit und vor allem das Gebot „Du sollst nicht töten“ nicht gänzlich verleugnen. Darüber hinaus wurde der Jude mit der Taufe von seinem Stigma befreit.76 Treitschke wetterte dagegen, dass der große Heinrich Graetz das Wort Volk ver wandte, um die Juden zu beschreiben, und gegen dessen unvorsichtige Bemerkung, dass Gabriel Riesser „zufällig“ auf deutschem Boden geboren sei: Wenn die Juden sich fremd fühlten, so Treitschke, sollten sie sich nach Palästina scheren. Dennoch bedauerte er die antisemitische Hetze, führte Beispiele von „wahrhaft deutschen“ und „guten“ Juden an und schrieb den größten Teil des schlechten jüdischen Einflusses Neuankömmlingen aus dem Osten zu.77 Trotz all seiner Verachtung für pöbelhaften Antisemitismus und nationalistischen Rausch im Allgemeinen und seiner Glorifizierung der Juden als bestes Beispiel für gute Europäer der Zukunft warnte Nietzsche vor der Aufnahme von noch mehr Juden von jenseits der östlichen Grenzen, da der schwache deutsche Magen sie nicht würde verdauen können. Außerdem beschimpfte er den Juden an der Börse als abscheulichste Kreatur auf Erden.78 Dennoch hätten weder Treitschke noch Stoecker irgendeine Forderung nach formeller Abschaffung der jüdischen Gleichheit vor dem Staat unterstützt. Der alte Kaiser Wilhelm I. hatte erklärt, so etwas sei undenkbar. Die jüdische Emanzipation war durch das Gesetz festgelegt, war Teil der Verfassung.79 Und er hatte geschworen, das Gesetz und die Verfassung zu achten und zu wahren. Als die Rassentheorie zur Ideologie wurde, begann ein ganz neues Kapitel. 76 77 78 79
Vgl. Tal, Christians and Jews in Germany; ders., Religious and Anti - Religious Roots. Vgl. Treitschke, Ein Wort über unser Judenthum. Vgl. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Sektion 251, S. 192–195. Vgl. Frank, Hofprediger Adolf Stoecker, S. 118.
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Der Nazi - Philosoph Bäumler sollte das Aufkommen der Rassentheorie zur zweiten kopernikanischen Wende ausrufen.80 Der Antisemitismus mag nicht die Inspiration Graf Gobineaus gewesen sein, als er sich daran machte, über die Unterschiede zwischen den Rassen und deren Rolle in der Geschichte zu spekulieren, doch im Zuge der Umwandlung der rassistischen Theorie zur Ideologie wurde er dazu. Es gab in Europa keine anderen fremden Rassen als die Juden, um die Lehren zu „beweisen“ und um die Doktrin anzuwenden. Obwohl die Rassentheorie aus mehr als bloßem Hass auf die Juden bestand, war Letzterer nicht nur der einzige Impuls für diese Theorie, sondern wurde zum Mittelpunkt einer ganzen Weltanschauung, einer Geschichtsphilosophie und eines politischen Programms, die wiederum weit über das Judentum hinausreichten. Mir scheint, dass der entscheidende Zeitpunkt für all dies im Jahr 1850 lag, als Richard Wagner anonym sein Pamphlet über Juden in der Musik veröffentlichte, nur etwa ein Jahr, nachdem er an Bakunins Seite auf den Dresdner Barrikaden gekämpft und erklärt hatte, kein Mensch könne als frei betrachtet werden, solange ein einziger Mensch irgendwo auf der Welt in Knechtschaft gehalten werde.81 In seinem Traktat stellte der Komponist den abstrakten Imperativ der liberalen Vernunft, dass die Juden als Gleiche behandelt werden sollten, neben die instinktive Abscheu ihnen gegenüber. Was von beidem war authentischer ? Indem er entschied, dass es das Letztere sei, nahm Wagner sowohl vom rationalen, analytischen Denken als auch von den Menschenrechten Abschied. Er ersetzte das, was er und seine Anhänger Reflexion nennen würden, durch intuitive, instinktive Wahrnehmungsweisen. Sprache, Dichtung und Kunst dienten als Beweis der spontanen und unwiderstehlichen Fähigkeit jener vitalen Kräfte, gänzlich originelle Formen zu erschaffen, die von einer völlig eigenen Logik und Struktur durchdrungen waren. In den Anstrengungen und Leistungen von Individuen in diesen Bereichen der Kreativität wirkte sich das Potential der Rasse aus. Den Juden, lehrte Wagner, fehle jedes angeborene Talent und Gefühl für Musik. Auf diesem Feld wie auch bei anderen kreativen Bemühungen waren sie bemitleidenswerte Imitatoren, obschon geschickte Interpreten der originalen Werke anderer. Da sie von der Natur, ihrer Ganzheit und deren direkter Wirkung abgetrennt waren, eine zerstückelte und verarmte Existenz mit unentwickelten oder verkümmerten vitalen Fähigkeiten führten, konnten sie nicht als Äolsharfe der Natur dienen.
80 81
Vgl. Baeumler, Bildung und Gemeinschaft, S. 81. Vgl. Wagner, Das Judenthum in der Musik. A. d. Ü. : Die Schrift erschien 1950 unter dem Pseudonym K[ arl ] Freigedank in der „Neuen Zeitschrift für Musik“, 1869 veröffentlichte Wagner sie als eigenständige Publikation und in erweiterter Form unter seinem richtigen Namen.
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Wagner ist ein erstes Beispiel für den ver wirrenden Wandel vom atheistischen, sozialen Radikalismus eines Barrikadenkämpfers von 1848 zu einem extremen, rassistischen Antisemitismus und zur Dichtung des heidnisch - germanischen Mythos. Er wurde stark beeinflusst von Feuerbachs Beschäftigung mit dem Problem der Entfremdung und der Ansicht, dass deren Grundursache in sozialpsychologischem Kontext die Idee von Gott sei. Dies löste den Entschluss aus, das christliche Erbe als eine Möglichkeit der Wiederherstellung und Wiederbelebung der wahren Humanität und Freiheit des Menschen zurückzudrängen. Dies führte dann zu der Konsequenz, dass sowohl der christliche Gott als auch die sozialen Bedingungen in einer vom Geld besessenen Gesellschaft jüdischer Herkunft seien. Die Menschheit sollte von diesen beiden jüdischen Schöpfungen befreit werden.82 Das war, wie wir wissen, auch Marx’ Vorstellung. Doch wenn Marx davon sprach, dass durch das Verschwinden des Judentums die Menschheit und die Juden selbst als Menschen emanzipiert würden, meinte er die Befreiung vom Geist des Judaismus und dessen Werken. Unter dem Einfluss von Organizismus, Dar winismus, Rassismus, biologischer Symbolik, dem Niedergang der Idee von der Einzigartigkeit des Menschen in der Natur und der Verleugnung der absoluten Heiligkeit seines Lebens wurde „Verschwinden“ allmählich durch „Vernichtung“ ersetzt. Dieser Gedanke entwickelte eine wortwörtlich physische Konnotation. Auf spiritueller Ebene brachte die Ablehnung des christlichen Mythos und Symbolismus Wagner und andere dazu, die vorchristliche germanische Mythologie und deren Kulte zu verherrlichen und deren Wiederbelebung durch spontane Kunst – vor allem Musik – zu prophezeien, die nicht länger von kopf lastigen jüdischen Imitatoren verfälscht, von unmusikalischen jüdischen Snobs aufgeführt und von jüdischen Spekulanten kommerzialisiert würde. Vieles davon ließ bereits die deutsche Romantik vorausahnen.83 Doch damals war das vage Spekulation. Das Konzept von Rasse, von Blut machte die Vollziehung der Ehe zwischen Wissenschaft und Mystizismus, zwischen Biologie und Metaphysik, Ästhetik, Geschichtsphilosophie, Ethik und Politik möglich. Es schien die messbaren, quantifizierbaren Fakten von Rasse und Blut mit den entferntesten und am stärksten vergeistigten Phänomenen und Errungenschaften in Geschichte, Philosophie, den kreativen Künsten, den Lebens - und Produktionsweisen zu verbinden und eine deterministische und allumfassende Totalität zu erschaffen. Hier gab es sozusagen eine irreversible und unveränderbare Schärfe und Endgültigkeit : Arier oder Semiten, nordische 82 83
Vgl. Plaine ( Hg.), Darwin, Marx and Wagner; Stein, The Racial Thinking of Richard Wagner; Gutman, Richard Wagner. Vgl. Droz ( Hg.), Le Romantisme politique en Allemagne; Talmon, Romanticism and Revolt, S. 135 ff.
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Rassen oder Juden mit ihren jeweiligen eigentümlichen und sich gegenseitig ausschließenden Mythen, Sprachen, Begabungen, Geisteshaltungen und Möglichkeiten. Die Tatsache, dass die Juden für alle Zeit Fremde in Europa seien, wurde auf diese Weise unwiderruf lich festgelegt. Houston Stewart Chamberlain, der germanisierte Sohn eines britischen Admirals und Schwiegersohn Wagners, baute diesen Grundstein in eine ganze Geschichtsphilosophie ein. In seinem viel gelesenen und höchst einflussreichen Buch Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts, dem Lieblingsbuch Wilhelm II. ( der trotz seiner Freundschaft mit einigen angesehenen Juden gegenüber Sir Edward Grey von der Notwendigkeit sprach, „die Juden zu eliminieren“), wurde die jüdische Frage zum Schlüssel der europäischen Geschichte, um nicht zu sagen : der Weltgeschichte.84 Den Juden, ob in der Antike oder in der Moderne, wurde jede metaphysische Erkenntnis und jegliches religiöse Ethos, welcher Art auch immer, abgesprochen, außer der Umgang mit einer Stammesgottheit und ein instrumenteller, magischer Ritualismus. Jesus sei daher in Wirklichkeit ein blauäugiger galiläischer Arier gewesen. Das Mittelalter sei die Zeit allgemeiner Vermischung gewesen, die aus der Mischung von Rassen und dem tödlichen Einfluss des judaisierten Christentums resultierte. Die Wende kam ungefähr um das Jahr 1200, als die germanische Rasse die Arena der Geschichte betrat und das Schicksal Europas formte. Seitdem entstamme alles, was von originellem Wert sei, deren Nachkommen. Die Juden wurden dann in Ghettos gesperrt. Sie tauchten nach der Französischen Revolution wieder auf, drangen in alle Bereiche des europäischen Lebens ein und machten das 19. Jahrhundert zu einem jüdischen Jahrhundert, ganz so, wie das Hochmittelalter aus deutschen Jahrhunderten bestanden habe und das 16. spanisch, das 17. französisch und das 18. englisch gewesen sei. Es waren nicht nur die physische Anwesenheit und die Taten der einzelnen Juden, die tödliche Ansteckung in sich trugen, sondern auch der Geist, den sie verkörperten und dann verbreiteten. Daher warnte Chamberlain die Arier davor, jemals ein Buch oder einen Zeitungsartikel anzufassen, die von Juden stammten. Wahrscheinlich war es das, was seinen jungen Schüler Adolf Hitler ( der Chamberlains Anerkennung fand, bevor der verehrte Weise sich auf den Weg ins germanische Walhalla machte )85 dazu inspirierte, Eckart beizupflichten, dass der jüdische Geist nur durch die Zerstörung des Fleisches exorziert werden könne.86 84
85 86
Vgl. Chamberlain, Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts; Voegelin, Rasse und Staat; Mosse, Toward the Final Solution, S. 105–108. A. d. Ü. : Vgl. auch Bracher, Die deutsche Diktatur, S. 15. Vgl. Bullock, Hitler, S. 80 ff.; Bracher, Die deutsche Diktatur, S. 15 f., 139; Fest, Hitler, S. 81–89, 288–290. Vgl. Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche, S. 404–409, 490 f.
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Der Dar winismus galt als Rechtfertigung für die Wandlung des Rassismus zu dieser mörderischen Ideologie.87 Er entthronte die Vorstellung von der Vorsehung, zerstörte die Vision von der in der Schöpfung einzigartigen Stellung des Menschen und schaffte den Glauben an die Einheit der Menschheit ab. Die Theorie des ewigen Kampfes um Leben und Macht zwischen den Rassen und das Konzept des „sur vival of the fittest“ implizierte nicht nur die Eliminierung der schwachen Rassen, sondern auch die Leugnung der Universalität und Objektivität von Vernunft und Moral. Von Letzterem gestaltete jede Rasse im Verlaufe des Kampfes ihre eigene Version. Die überlegenen Rassen hatten eine gut abgestimmte Kampfmethode, einen unbeirrbaren Instinkt entwickelt. Das verlieh ihnen ihre Kampfkraft. So wurde es äußerst wichtig, den Rassenkörper vor den schwächenden Auswirkungen fremden, minder wertigen Blutes zu schützen. Tatsächlich mussten, ja konnten die Schwachstellen und Misserfolge der Rasse nur durch solche Ver wässerung erklärt werden. Auch die Fin - de - siècle- Stimmung muss berücksichtigt werden – die merkwürdige Beschäftigung mit der Dekadenz, Spekulationen über die Ursachen für den Verfall und Niedergang von Zivilisationen, die Verbreitung des Entfremdungsgefühls, der Beginn der Identitätskrise, das Gewicht der zunehmenden Relativierung der Werte, der wertefreien Natur - und Geisteswissenschaft –, wenn die Bereitschaft ganzer Schichten von gebildeten und halbgebildeten Menschen, die neue Botschaft anzunehmen, verstanden werden soll. Wenn schon keine Erlösung, so bot sie ihnen zumindest einen Schlüssel oder einen Faden im Labyrinth des modernen Lebens. Es war teils Kulturpessimismus, teils das Bedürfnis nach trotziger Selbstdarstellung, die viele Menschen empfänglich für Nietzsches Leugnung – im Gefolge Dar wins – der bis dato grundlegenden Idee der westlichen Welt machten : der Theodizee. Wie Nietzsche in vollem Ausmaß erfasste, wurden alle Bekenntnisse – vom Judentum über das Christentum, die Reformation, die Aufklärung, die Französische Revolution bis zum Liberalismus, zur Demokratie und zum Sozialismus – von einem Glauben an die letztendliche Aussöhnung, die Wiedergutmachung von Unrecht, die Wiederherstellung von Harmonie, Gleichheit und Vernunft getragen. Der größte Revolutionär in zweitausend Jahren – wie Nietzsche sich selbst bezeichnete – war der Erste, der es wagte, diesen in der priesterlichen Moral der Juden wurzelnden Trost der Schwachen, der Versager, der Besiegten abzulehnen. Die Sklavenmoral des Juden - Christentums und dessen Sprösslingen sollte durch den heidnischen Kult der Sieger im ewigen Wettstreit ersetzt werden. Die Geschichte war nicht auf dem Weg zur Einheit auf der Grundlage der Universalität der Vernunft, des Sieges der rationalen Wahrheit, der gegenseitigen Akzeptanz in Frieden und Eintracht. Vielmehr war es ihr Zweck, als Nähr87
Vgl. Himmelfarb, Dar win and the Darwinian Revolution, Kapitel 6.
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boden für die Starken, Schönen, die überlegenen Exemplare zu dienen, die im Schmelztiegel von Kampf, Rivalität und Krieg aus der gewöhnlichen Menschheit her vorgingen.88 Im Windschatten dieses grimmigen Propheten stellten sich die Konterrevolutionäre, die es wagten, einen Kreuzzug gegen das Vermächtnis der Französischen Revolution auszurufen und schließlich deren Werk zunichtezumachen, selbst als Revolutionäre dar. Man braucht kein eingeschworener Mar xist zu sein, um in dieser Philosophie die Inspiration für eine imperialistische Ideologie zu sehen. Der Kreuzzug gegen das Judentum brachte bereits in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts paradoxer weise die Standartenträger sich gegenseitig bekriegender Nationalismen zu einer Internationale zusammen, mit internationalen Kongressen, gemeinsamen politischen Programmen und Kampagnen, die gestartet wurden, um die europäische oder arische Zivilisation vor der semitischen Zersetzung, Ausbeutung und Verführung zu schützen. Die Antisemiten hatten einige Schwierigkeiten, das jüdische Phänomen zu klassifizieren. Anscheinend eine Rasse von unübertroffener Hartnäckigkeit und einem einzigartigen Zusammenhalt, die nie in andere Gruppen einheiratete, allem Ungemach und jeder Verfolgung trotzte, nach jedem Unglück mit phänomenaler Unver wüstlichkeit und größerer Energie wieder aufstand, fehlten ihr doch alle Attribute einer Rasse oder Nation. Überdies predigte sie kosmopolitische Ideen und wirkte zugunsten eines Niederreißens der Barrieren zwischen Nationen. Die Rassisten lösten das Rätsel, indem sie die Juden als Anti - Rasse bezeichneten. Was diese zusammenhielt, sei der Plan, die nationalen Organismen zu schwächen, um die Ausbeutung durch Juden zu erleichtern und den Weg für die jüdische Weltherrschaft zu ebnen. Ihre pseudowissenschaftliche Symbolik legte die Vorstellung eines Fremdkörpers nahe, der in und auf einem anderen, normalen Organismus lebte – mit anderen Worten, es ging um die Vorstellung einer Mikrobe, die kein Gegner war, mit dem man streitet, sondern ein Auswuchs, den man eliminiert. Der rassistische Antisemitismus lieferte eine systematische Anfechtung wie auch ein Spiegelbild des sozialistischen Mar xismus. Das Blut nahm den Platz ein, der im dialektischen Materialismus der Materie gebührte. Änderungen in der Zusammensetzung des Blutes ersetzten Änderungen in der Produktionsweise, die jüdische Ausbeutung ersetzte die kapitalistische Unterdrückung, jüdisch - sozialistische Aufwiegelung den Klassenkampf. Die Eliminierung der Juden trat an die Stelle der Revolution, und die Konfiszierung jüdischen Eigen-
88
Vgl. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Sektion 257 ff., S. 205–240.
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tums sowie dessen Verstaatlichung und Neuverteilung übernahm die Rolle der sozialen Transformation.89 Die wachsende Stärke der proletarischen Parteien – mit Juden, die sich in deren radikalen Flügeln profilierten – führte zu einer größeren Betonung hinterlistiger, verschwörerischer jüdischer Manipulation. Dühring hatte den Mar xismus bereits als Vorkämpfer für den großen jüdischen Plan, die Weltherrschaft zu erlangen, denunziert. Bereits 1879, als die Juden erst begannen, sich der Revolutionsbewegung in Russland anzuschließen, warnte Marr, der Radikale aus der Zeit vor 1848 und Erfinder des Ausdrucks „Antisemitismus“, die Juden seien entschlossen, Russland, der „von allen europäischen Staaten“ der einzige sei, der „der officiellen fremdherrschaftlichen Revolution Widerstand leistet“, zu benutzen, um die westliche Welt zu zerrütten. Die Juden drängten Russland in eine „Revolution, wie die Welt vielleicht noch keine ähnliche gesehen hat“.90 Wahrscheinlich stand Nietzsches Einfluss hinter dem berühmten Dialog zwischen Hitler und dessen Mentor Eckart Der Bolschewismus von Moses bis Lenin über die historische Rolle von Juden als Aufhetzer des Pöbels gegen die herrschenden Eliten – von Moses in Ägypten zu den frühen Christen, den Puritanern, Jakobinern, Sozialisten bis hin zu den Bolschewiki – als Mittel, den Weg zur jüdischen Weltherrschaft zu ebnen.91 Ein neues Gespenst ging in den Köpfen der Menschen um – das Gespenst eines jüdischen Plans, die Weltherrschaft zu erlangen. Auf ironische Weise verzerrt, erscheint diese Vision in Nietzsches Morgenröte. Der Text war daraufhin berechnet, eine enorme Wirkung zu erzielen. „Vom Volke Israel. – Zu den Schauspielen, auf welche uns das nächste Jahrhundert einladet, gehört die Entscheidung im Schicksale der europäischen Juden. Dass sie ihren Würfel geworfen, ihren Rubikon überschritten haben, greift man jetzt mit beiden Händen : es bleibt ihnen nur noch übrig, entweder die Herren Europa’s zu werden oder Europa zu verlieren, so wie sie einst vor langen Zeiten Aegypten verloren, wo sie sich vor ein ähnliches Entweder - Oder gestellt hatten. In Europa aber haben sie eine Schule von achtzehn Jahrhunderten durchgemacht, wie sie hier kein andres Volk aufweisen kann, und zwar so, dass nicht eben der Gemeinschaft, aber umsomehr den Einzelnen die Erfahrungen dieser entsetzlichen Übungszeit zu Gute gekommen sind. [...] Aber jetzt, da sie unvermeidlich von Jahr zu Jahr mehr sich mit dem besten Adel Europa’s verschwägern, werden sie bald eine gute Erbschaft von Manieren des Geistes und Leibes gemacht haben : sodass sie in hundert Jahren schon vornehm genug dreinschauen werden, um als Herren bei den ihnen Unter worfenen nicht Scham zu erregen. Und darauf 89 90 91
Vgl. Girardet ( Hg.), Le Nationalisme français, S. 143–149. Marr, Der Sieg des Judenthums, S. 33. Vgl. Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche, S. 404–409.
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kommt es an ! Desshalb ist ein Austrag ihrer Sache für jetzt noch verfrüht ! Sie wissen selber am besten, dass an eine Eroberung Europa’s und an irgend welche Gewaltsamkeit für sie nicht zu denken ist : wohl aber, dass Europa irgendwann einmal wie eine völlig reife Frucht ihnen in die Hand fallen dürfte, welche sich ihr nur leicht entgegenstreckt. Inzwischen haben sie dazu nöthig, auf allen Gebieten der europäischen Auszeichnung sich auszuzeichnen und unter den Ersten zu stehen : [...] Dann werden sie die Erfinder und Wegzeiger der Europäer heissen und nicht mehr deren Scham beleidigen. Und wohin soll auch diese Fülle angesammelter grosser Eindrücke, welche die jüdische Geschichte für jede jüdische Familie ausmacht, diese Fülle von Leidenschaften, Tugenden, Entschlüssen, Entsagungen, Kämpfen, Siegen aller Art, – wohin soll sie sich ausströmen, wenn nicht zuletzt in grosse geistige Menschen und Werke ! Dann, wenn die Juden auf solche Edelsteine und goldene Gefässe als ihr Werk hinzuweisen haben, wie sie die europäischen Völker kürzerer und weniger tiefer Erfahrung nicht her vorzubringen vermögen und vermochten, wenn Israel seine ewige Rache in eine ewige Segnung Europa’s ver wandelt haben wird : dann wird jener siebente Tag wieder einmal da sein, an dem der alte Judengott sich seiner selber, seiner Schöpfung und seines auser wählten Volkes freuen darf, – und wir Alle, Alle wollen uns mit ihm freun !“92 Man würde viel dafür geben zu wissen, ob Hitler dieses Poem in Prosa jemals las und welchen Eindruck es auf ihn machte. Dass der „Führer“ den Dichter des Übermenschen kannte und bewunderte, steht außer Zweifel. Als ein Nazi - Kommando den eingekerkerten Duce 1943 befreite, übersandte ihm Hitler eine Luxusausgabe von Nietzsches Werken als Geschenk. Es ist beobachtet worden, dass die erste Welle des lauten und irrsinnigen Antisemitismus, die um 1880 in Mittel - und Osteuropa entstand, gegen Ende des 19. Jahrhunderts und in den Jahren vor 1914 abebbte. Doch oft wird übersehen : Während die rauen Töne und blutigen Exzesse etwas abflauten, wurden die zurückhaltenderen Formen des Antisemitismus gänzlich respektabel und außerhalb der Sozialdemokratischen Parteien fast allgemein akzeptiert. Verein um Verein, von den freien Berufen bis zu den Alpinisten, Radfahrern und Gemeindeangestellten, von Studentenvereinen nicht zu reden, nahm schließlich ganz selbstverständlich den „Arierparagraphen“ an.93 Dabei wurden die liberaldemokratischen Parteien in Mitteleuropa völlig beseitigt oder reduzierten sich auf die jüdischen Mitglieder, die von jüdischen Stimmen abhängig waren. Die Juden wurden praktisch ins Ghetto zurückgeschickt. Julius Patzelt, ein antisemitischer Sprecher, gab einen vielsagenden Kommentar ab, als er sich zu dem Sieg der Christlich - Sozialen Partei – deren Anti92 93
Nietzsche, Morgenröte, Sektion 205, S. 180–183. Vgl. Pulzer, Die Entstehung des politischen Antisemitismus, S. 238–243.
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semitismus weit milder als der von Schönerers rassistischen Alldeutschen Vereinigung war – bei der Reichsratswahl 1897 äußerte, nachdem sie in Niederösterreich 245 000 Stimmen gegen 123 000 für die Sozialdemokraten erzielt hatte. Nicht alle Stimmen stammten von Parteimitgliedern und eingeschworenen Antisemiten, doch die „Partei bildete vielmehr einen Kristallisationspunkt, um den sich alle antirevolutionären Elemente gruppierten. Sie hatte sich als geeignet und als stark genug erwiesen, alle staatserhaltenden Elemente an sich heranzuziehen zum gemeinsamen Kampf gegen die Sozialdemokratie.“ Die Wahl habe auch gezeigt, dass „die bürgerlichen, sogenannten liberalen und fortschrittlichen Fraktionen vollständig von dem jüdischen Einfluß beherrscht wurden“ und „der Judenliberalismus die Sozialdemokratie gezeugt habe“. Man hoffe, dass „in der Sozialdemokratie dem Judenliberalismus ein Rächer erstehen werde“.93a Somit wurde die Konfrontation zwischen bürgerlichen Parteien und sozialistischer Bewegung nach und nach zu der von Christen oder Ariern gegen Juden gemacht. Rosa Luxemburg stand in Polen in den Jahren nach der gescheiterten Revolution von 1905 einer ähnlichen Situation gegenüber. Sowohl in Russland als auch in Polen trat die sozialistische Bewegung in eine Zeit der tiefen Krise, der Demoralisierung und in manchen Fällen der Auf lösung ein. Die antisemitischen Nationalisten der Endecja unter Roman Dmowski traten unter lauter Verurteilung der revolutionären Politik der Jahre 1905/06 im russischen Polen her vor und sagten, diese sei das Ergebnis einer antipolnischen Verschwörung des „jüdischen“ internationalistischen Flügels der sozialistischen Bewegung, der Sozialdemokratischen Partei des Königreichs Polen und Litauen unter Führung der kosmopolitischen Jüdin Rosa Luxemburg; einer Verschwörung, die Kongresspolens besondere Lage im Reich zerstören sollte.94 Natürlich wurde der Bedeutung von Juden in der nationalistischen Polnischen Sozialistischen Partei ( PPS ) – Juden wie Feliks Perl, zeitweise Piłsudskis engster Mitarbeiter, Diamant, Max Liebermann und anderen – keinerlei Beachtung geschenkt. Während dies geschah, gab es eine gewaltsame Verlagerung in der Haltung der progressiven, radikalen und antiklerikalen Partei, die von dem alten Veteranen des polnischen Radikalismus, Świętochowski, gegründet und von deren Sprecher, einem Schriftsteller, Dichter und Journalisten namens Niemojewski, geschickt vertreten wurde. Plötzlich, beinahe unbemerkt, nahm das Parteiorgan, das vom Atheisten Niemojewski herausgegeben wurde, einen rabiaten 93a Ebd., S. 213. 94 Vgl. Kormanowa / Najdus ( Hg.), Historia Polski, Band 3.2, S. 325–333, 416, 428. A. d. Ü. : Die Endecja ist die nationalistische Partei ( Narodowa Demokracja ) der polnischen Nationaldemokraten – abgekürzt ND.
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antisemitischen Ton an, den er progressiv nannte; er grub die althergebrachten Argumente gegen das Judentum als Quelle jeden obskurantistischen Aberglaubens und unmoralischer Bräuche aus. Rosa Luxemburg scheint zutiefst betroffen gewesen zu sein und veröffentlichte eine Reihe von sehr polemischen Artikeln gegen Niemojewski in einer unbedeutenden, kurzlebigen Zeitung namens Mlot.95 Die Artikel befassen sich jedoch nicht wirklich mit jüdischen Angelegenheiten oder der Verteidigung der angegriffenen Juden. Sie sind eine flammende Standpauke zum Verrat der Sache des Fortschritts durch einen ehemals bürgerlichen Radikalen. Rosa Luxemburg unternahm einige Anstrengungen und mobilisierte einige der führenden Sozialisten aus dem Westen – wie Jean Jaurès, August Bebel, Franz Mehring und Karl Kautsky –, sich gegen den Antisemitismus auszusprechen. Die Lektion, die sie lernte, handelte jedoch nicht vom besonderen Judenschmerz, sondern von Antisemitismus als Symbol der konterrevolutionären Reaktion. Sie fühlte sich sogar noch mehr in ihrer Meinung bestätigt, dass alle nicht-proletarischen und nicht-marxistischen Parteien eine einfache, ungeteilte reaktionäre Masse bildeten. Der Antisemitismus war dabei, zu deren Bindemittel zu werden. Während Rosa Luxemburg und ihre jüdischen Freunde sich so leidenschaftlich für die Sache des proletarischen Internationalismus und die allgemeine Bruderschaft der erlösten Menschheit einsetzten, entstand in Mittel - und Osteuropa, der Kulisse ihres Handelns, jene verhängnisvolle Neben - und Gegeneinanderstellung von Juden und Ariern. In Österreich, Polen, Rumänien, Ungarn und andernorts erlangte das Beiwort „christlich“ oder „national“ vor dem Namen eines Vereins, eines Unternehmens, eines Ladens oder einer politischen Partei einfach die Bedeutung von „nichtjüdisch“ oder „antijüdisch“. Natürlich wurde nicht jeder das, was Roman Dmowski professionelle Antisemiten, ständig mobilisierte und aktive Kreuzzügler nannte. Die meisten Nichtjuden in Mittel - und Osteuropa besaßen einfach nicht genügend innere Überzeugung, um der Ausbreitung der Stimmung verlegenen Unwohlseins, unfreundlicher Gleichgültigkeit, des Misstrauens oder gereizter Feindseligkeit gegenüber den Juden zu widerstehen. Charles Maurras erklärte einem jungen Anhänger, der Zweifel daran äußerte, ob der Antisemitismus denn so sehr zum politischen Programm tauge, dass es im Gegenteil eine Funktion des antisemitischen Programms sei, es allen übrigen nationalistischen Programmen zu ermöglichen, von der Planung zur Ausführung überzugehen.96 Schönerer sagte dasselbe noch zugespitzter : „Wir werden aber auch insbesondere angesichts des ungestümen Vordringens des Slawentums auf altem 95 96
Vgl. Haupt / Korzec, Les Socialistes, S. 185. Vgl. Weber, L’Action Française, S. 229.
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deutschem Sprachboden es nie vergessen, daß die deutschen Länder Österreichs lange Zeit einen Bestandteil Deutschlands gebildet haben [...]. Im Gegensatz nun zu den Herren im Deutschen und Deutschösterreichischen Klub betrachten wir Deutschnationale denn auch bekanntlich den Antisemitismus nicht als ein bedauerliches Symptom oder als eine Schmach, sondern vielmehr als einen Grundpfeiler des nationalen Gedankens, als Hauptförderungsmittel echt volkstümlicher Gesinnung, somit als die größte nationale Errungenschaft dieses Jahrhunderts. Wir betrachten jeden als Abtrünnigen von seinem Volke, von seiner Nation, der das Judentum und dessen Agenten und Genossen wissentlich unterstützt. [...] Unser Antisemitismus richtet sich nicht gegen die Religion, sondern gegen die Rasseeigentümlichkeiten der Juden, die sich weder unter dem früheren Drucke, noch unter der jetzigen Freiheit geändert haben. Unser nationaler Antisemitismus ist nicht das Erzeugnis konfessioneller Unduldsamkeit, vielmehr ein unzweideutiger Beleg eines im Selbstgefühle erstarkenden Volkes, eines sich kräftigst äußernden Nationalgefühles, und es muß daher der Antisemitismus von jedem treuen Sohne seiner Nation [...] als der größte nationale Fortschritt in diesem Jahrhundert betrachtet werden.“ Schönerer fügte hinzu : Da die Unterschiede zwischen Deutschen und Slawen viel kleiner erschienen als zwischen Deutschen und Semiten, sei es immer richtig, „im Kampfe gegen das alles zersetzende Judentum auch die Kampfgenossenschaft des Slawen und Romanen jederzeit willkommen“97 zu heißen. Am Ende des Ersten Weltkrieges sollte Hitler die Bedingungen, die er in Österreich beobachtet hatte, auf das besiegte und in seinen Augen belagerte Deutschland übertragen, wobei die Juden inner - und außerhalb Deutschlands die Vorkämpfer jener Versailler Mächte und Sowjetrusslands darstellten, die auf die Zerstörung der deutschen Nation aus seien.
97
Schnee, Georg Ritter von Schönerer, S. 210–213.
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VII. Die Begeg nung mit der Revo lu ti on Für religiöse und nationalistische Juden, und auf eine andere Art für Antisemiten, war das Judentum furchtbar bedeutungsvoll und allgegenwär tig geworden. Für andere Juden und Nichtjuden, die nationalliberale und individualistische Denkweisen über nommen hatten, wurde es schwer fassbar, geradezu geisterhaft, sozusagen viel Lärm um nichts. Für die dem Stamm entwachsenen Juden gab es einen befremdlichen Kontrast zwischen der Allgegenwär tigkeit des Gespenstes und dem Mangel oder sogar der Abwesenheit jeg licher handfester jüdischer Inhalte in ihrem Leben. Sie fanden keine rationale Erklärung für die Judentum - Besessenheit bei Juden und Nichtjuden gleicher maßen. Dennoch wurden die rational - optimistischen Gegebenheiten oft und in befremdlicher Weise durch jüdische Angelegenheiten erschüttert, gestört und sogar zer rüttet. Diese Widerspenstigkeit, aller ver nünftigen Bedürfnisse und Erwar tungen entbehrend, wurde zu einem großen Ärger nis und einer Störung für jene Juden, die vom jüdischen Erbe getrennt worden waren oder sich selbst davon entfernt hatten und nun der Überzeugung waren, sie hätten für alle Zeiten damit abgeschlossen. Ihre Irritation – zusätzlich zu der völligen Ahnungslosigkeit in Bezug auf das Judentum und dem Umstand, dass sie die Denkgewohnheiten, Vorstellungen und Ansichten einer nichtjüdischen Welt über nommen hatten, die von jahrhunder tealten antijüdischen Vor ur teilen durchsetzt waren – ließ das Judentum in ihren Augen als Gewebe aus abergläubischen Vorstellungen und ritualisier ten Zwängen erscheinen, als ein Fossil, das bereits vor langer Zeit seine Daseinsberechtigung verloren hatte, als eine Illusion oder Neurose, die sie dennoch in eine furchtbare Zwangslage brachte. Dieses Phänomen wurde zum Symbol jener ärgerlichen Irrationalität, die die Welt daran hinder te, zum ver nünftigen Aufenthaltsort zu werden. Es gibt im Vor wort der hebräischen Übersetzung von Totem und Tabu eine höchst bemerkenswer te Äußerung Sigmund Freuds zu dieser Frage : „Keiner der Leser dieses Buches wird sich so leicht in die Gefühlslage des Autors versetzen können, der die heilige Sprache nicht versteht, der väterlichen Religion – wie jeder anderen – völlig entfremdet ist, an nationalistischen Idealen nicht teilnehmen kann und doch die Zugehörigkeit zu seinem Volk nie verleugnet hat, seine Eigenart als jüdisch empfindet und sie nicht anders wünscht. Fragte man ihn : ‚Was ist an dir noch jüdisch, wenn du alle diese Gemeinsamkeiten mit deinen Volksgenossen aufgegeben hast?‘, so würde er antwor ten : ‚Noch sehr viel, wahrscheinlich die Hauptsache.‘ Aber dieses Wesentliche könnte er gegenwär tig nicht in klare Wor te
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fassen. Es wird sicherlich später einmal wissenschaftlicher Einsicht zugäng lich sein.“98 Im Unterschied zu dem Entdecker der unterirdischen Welt in der menschlichen Psyche sahen sich die doktrinären jüdischen revolutionären Sozialisten aus Osteuropa, die in Deutschland aktiv waren, Leute wie Luxemburg, Par vus, Radek, Leviné und andere, einfach als Menschen oder, wie Trotzki sich selbst bezeichnete, als Sozialisten in einem sozialen Rahmen, in dem nur die ökonomischen Gegebenheiten von Bedeutung waren und dessen Entwicklung und Zukunft von unpersönlichen, objektiven, materiell eisernen Regeln vorherbestimmt war. Sie wollten nicht – vielleicht konnten sie nicht – einen Gedanken an die Auswirkung und Bedeutung verschwenden, die jene mächtigen Kräfte, auf die Freud anspielte, diesen Gesetzen verliehen. Wenn man Rosa Luxemburgs Unfähigkeit betont, mit ihrem Judentum zu leben – die Zwangslage so vieler Juden seit den Tagen der Aufklärung, als sie erstmals in die Zelte des Jafet blickten und jene des Sem verließen –, impliziert dies nicht, dass dieses Problem die Grundursache und den alles bestimmenden Faktor einer solipsistischen Eigenart darstellte. Es bedeutet jedoch, dass es eine gewisse erhöhte Sensibilität her vorrief und die Quelle jener merkwürdigen Besessenheit in ihrem Denken darstellte, die viele Leute in unterschiedlichem Ausmaß mit ihr teilten. Kurz, der fanatische und aggressive Ton ihrer Leugnung der Realität der nationalen Einheit und ihrer unzugänglichen Verurteilung des Nationalismus bedeutet eine Übertragung ihrer Ablehnung des Judentums, das sie in ihrem Leben nicht unterbringen konnte. Ihr alles durchdringender revolutionärer Internationalismus erscheint mir als Ausdruck des jüdischen Unwohlseins am Außenseitertum. Um es zu wiederholen : Eine ablehnende Haltung gegenüber dem Nationalismus und ein Engagement für den Internationalismus sind weder irrationale noch launenhafte Züge, sondern vertretbare und keineswegs ungewöhnliche Haltungen. Bei Rosa Luxemburg wurden sie jedoch zur rasenden Besessenheit, die an eine Neurose grenzte. In einem Brief, den sie am 16. Februar 1917 aus dem Gefängnis schrieb, schalt sie ihre Korrespondenzpartnerin und sozialistische Genossin Mathilde Wurm : „Was willst Du mit den speziellen Judenschmerzen ? Mir sind die armen Opfer der Gummiplantagen in Putumayo, die Neger in Afrika [...] in der Kalahari [...] ebenso nahe.“ Sie zitierte den Bericht des deutschen Generalstabs über den Feldzug in der Kalahari - Wüste : „Und das Röcheln der Sterbenden, der Wahnsinnsschrei der Verdurstenden verhallten in der Stille der Unendlichkeit“, und fuhr fort : „O, diese ‚erhabene Stille der Unendlichkeit‘, in der so viele Schreie ungehört verhallen, sie klingt in mir so stark, daß ich kei-
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Freud, Vorrede zur hebräischen Ausgabe.
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nen Sonder winkel im Herzen für das Ghetto habe : ich fühle mich in der ganzen Welt zu Hause, wo es Wolken und Vögel und Menschentränen gibt.“99 Man wird an einen Aphorismus des hebräischen Schriftstellers Chaim Hazaz in seinem tragikomischen Roman über die Auswirkung der bolschewistischen Revolution auf ein jüdisches Städtchen in der Ukraine erinnert. Ein nichtjüdischer Russe, Franzose oder Deutscher will seine Nation oder das Proletariat seines Landes retten; der jüdische Revolutionär ist darauf aus, die ganze Menschheit auf einmal zu retten. Da Rosa Luxemburg sich selbst nicht als Jüdin betrachtete, Polen verlassen, gegen polnische nationale Ansprüche gekämpft und sich in Deutschland nie wirklich heimisch gefühlt hatte, konnte sie von sich selbst nur als Mitglied der leidenden Menschheit denken und wie Trotzki, als er zu seinem Engagement für das Judentum befragt wurde, erwidern, dass sie eine revolutionäre Sozialistin sei. In einem Brief vom 17. Mai 1901 an ihre polnisch - christliche Freundin und politische Genossin Cezaryna Wojnarowska, die im Pariser Exil lebte, kommentiert Rosa Luxemburg die Torheit ihres Genossen, „des guten Kerls Zalewski“, dass er „sie nicht genügend vor den Juden im Bund gewarnt“100 habe – Arkadi Kremer und John Mill –, die kurz davor standen, Cezaryna zu besuchen. „Diese Leute bestehen aus zweierlei Dingen : Idiotie und Perfidie [...]. Sie sind einfach unfähig, zwei Worte mit einem zu wechseln, einen anzusehen, ohne die versteckte Absicht, etwas von einem zu stehlen ( bildlich gesprochen, versteht sich ). Die Politik des gesamten Bundes beruht auf demselben System.“100z Der Leser fühlt, wie die unkontrollierbare Wut der Verfasserin zunimmt : „Diese jüdische Gerissenheit [...], deshalb rate ich dir, dem Fleck, auf dem sie sitzen, einen Tritt zu versetzen und alle Beziehungen zu ihnen abzubrechen, weil sie dich in eine Lage bringen werden, die du bitter bereuen wirst.“101 Nun waren Kremer und Mill zwei erfahrene Sozialisten. Der erste war der Verfasser des berühmten Pamphlets „Von der Agitation“, das zum Vademekum für russische Sozialisten aller Schattierungen einschließlich der Bolschewiki und Lenins wurde. Als treue, selbstlose Diener im Weinberg widmeten sie ihr Leben der Rückenstärkung der Hunderttausenden hungernder und gehetzter jüdischer Proletarier Osteuropas, um ein Gefühl für menschliche Würde in ihnen zu wecken und das Licht einer neuen, säkularen jiddischen Kultur und Literatur in ihre ärmlichen Behausungen zu bringen – was alles vierzig Jahre später von Hitler vernichtet werden sollte. 99
Luxemburg, Briefe an Freunde, S. 48 f. A. d. Ü. : Talmon gab das Datum des Briefes irrtümlicher weise mit dem 8. Juli 1917 an. 100 Luxemburg, Vive la Lutte !, S. 105. 100z Ebd. 101 Ebd., S. 106.
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Als sie Jogiches schrieb, nannte Rosa Luxemburg Victor Adler den „arroganten Juden“. Gewiss, die beiden Genossen hatten wirklich nichts füreinander übrig : Er hielt sie für „eine dumme Gans“. Doch im Vergleich zu Rosa Luxemburgs Hochmütigkeit war Adler ein Vorbild an Bescheidenheit. Wo sie ganz aus Gerissenheit bestand, besaß er tiefe Weisheit. Wo sie mühelos einen logischen Schluss aus der Luft griff und als eisernes Gesetz der Geschichte vorführte, wurde er von einem tiefen Verständnis davon geleitet, wie die Dinge wirklich liefen und Menschen sich verhielten. Sie war eine reizbare Fanatikerin, er besaß einen nüchternen, einsichtigen, eher defätistischen Einblick in die Unabwägbarkeit der Dinge und die Widerspenstigkeit der Menschen. Wo sie die ganze Menschheit liebte, aber für sehr wenige lebende Personen ein gutes Wort übrig hatte, und dann nur für Leute, die ihr nachgaben, war Victor Adler voll des Mitleids für seine Mitmenschen. Er war ein selbsterklärter jüdischer Antisemit. Er machte kein Hehl aus der Tatsache, dass er es vermied, Juden in der Parteizentrale einzustellen, aus Angst, dass die Partei gebrandmarkt würde, voller Juden zu sein. Das half ihm nicht sehr viel, da einige der größten Koryphäen der österreichischen sozialdemokratischen Bewegung nun einmal Juden waren : Otto Bauer, Hilferding, Austerlitz, Braun, Max Adler und andere. Da er das Judentum als Unglück betrachtete, ließ Adler, der überzeugte Atheist, sich und seine kleinen Kinder taufen, obwohl seine geliebte Frau sich weigerte, es ihm gleich zu tun. Sein Sohn Friedrich, ein Wissenschaftler und glühender Sozialist, der sich 1916 aus Protest gegen den Krieg dazu hinreißen ließ, den österreichischen Ministerpräsidenten Graf Stürgkh zu erschießen, verliebte sich durch eine Ironie des Schicksals zutiefst in eine hinreißende jüdische Studentin aus einer kleinen Stadt in der Nähe von Wilna. Sie erwiderte seine Gefühle, aber erklärte kompromisslos, sie könne ihren Eltern niemals den Schmerz antun, keine jüdische Hochzeit zu feiern. Der arme Fritz ging zu seinem Vater, dem er sehr nahestand. Der alte Victor war von den Gefühlen dieses jüdischen Mädchens aus Litauen gegenüber ihren Eltern tief berührt. „Ein jüdisches Herz ist schließlich auch ein Herz“,102 bemerkte er. Er stimmte zu, mit der ganzen Familie nach Lidá zu reisen, um eine traditionelle jüdische Hochzeit zu feiern, umgeben von den zahlreichen gottesfürchtigen, Jiddisch sprechenden Mitgliedern der Sippe der Braut. Das Mädchen wurde dann zum Liebling und der Hauptstütze des alten Mannes. 1903 ereignete sich das furchtbare Pogrom von Kischinew, ein Wendepunkt in der jüdischen Geschichte. Es erschütterte das Weltjudentum in seinen Grundfesten und brachte Juden von Moskau bis San Francisco auf die Straße. Es inspirierte eine literarische Flut, zuallererst das erschütternde Gedicht „In der Stadt des Schlachtens“ des größten hebräischen Dichters, Chaim Nachman 102
Braunthal, Victor und Friedrich Adler, Kapitel 14, S. 189–191, Zitat S. 190.
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Bialik. Karl Kautsky schrieb in der Neuen Zeit einen Artikel über das Massaker, in dem er sein Entsetzen ausdrückte und die Angelegenheit aus mar xistischem Blickwinkel beleuchtete. In einem einzigen kurzen Abschnitt und auf untadelige Weise ver warf er die zionistische Lösung der Judenfrage.103 Rosa Luxemburg schrieb Kautsky eine Mitteilung über diesen Artikel : Kein Wort über das Pogrom selbst, nur eine Gratulation zu dem kurzen Prozess, den er mit den jüdischen ( zionistischen ) Parches gemacht hatte – ein besonders hässlicher jiddischer Ausdruck, der von Juden untereinander und mit besonderer Schadenfreude von Antisemiten über Juden ver wendet wurde.104 In einem Brief an Jogiches erwähnt Rosa Luxemburg, Par vus - Helphand habe seinem Artikel gegen Bernstein den Untertitel „ajwaj“ hinzugefügt und der nichtjüdische Herausgeber habe sich geweigert, ihn anzunehmen.105 Daraufhin bricht Par vus aus Protest mit der Zeitung. Sie enthält sich jeglichen Kommentars zu dem Vorfall. Rosa Luxemburg und noch mehr Par vus müssen oft den höhnischen Schrei gehört haben, den die Angreifer von sich gaben, als sie auf ihre hilf losen und verängstigten jüdischen Opfer einschlugen. In den fast 900 Briefen an Jogiches, der ihr Mitjude und über so viele Jahre in allem außer dem Namen nach ihr Ehemann war, gibt es hier und da jiddische Ausdrücke, doch keinen Bezug, nicht eine einzige Überlegung zu jüdischen Angelegenheiten, abgesehen von einigen gemeinen Schimpfworten über den Bund. Auch steht dort, wie erwähnt, kein Wort über den deutschen Antisemitismus, als ob sie ihn zu einer Zeit, da so viele antisemitische Vorurteile kursierten und so viel antisemitische Agitation betrieben wurde, niemals bemerkt oder davon gehört hätte. Lag das daran, dass sie einfach nicht von irrationalen Angelegenheiten gestört werden wollte, die sie noch nicht einmal der Verachtung wert und für eine Mar xistin ohnehin für belanglos hielt ? Oder war dies ein erstaunlicher Fall beständiger Verdrängung, weil das, was sie da verdrängte, drohte, das ganze Gebäude ihrer Glaubenssätze umzustürzen ? Wieder im Gegensatz zu Rosa Luxemburg fasste Victor Adler im hohen Alter seine Erfahrungen in der traurigen Einsicht zusammen, der letzte Antisemit werde mit dem Tode des letzten Juden zu Grabe getragen. Rosa Luxemburg und ihre jüdischen Genossen wollten vergessen, dass sie Abkömmlinge eines Volkes mit einer viertausendjährigen Geschichte waren, ausgestattet mit einem außergewöhnlichen Bewusstsein seiner Selbst, mit
103 104 105
Vgl. Kautsky, Das Massaker von Kischeneff. Vgl. Luxemburg, Briefe an Karl und Luise Kautsky, S. 59. Vgl. Luxemburg, Briefe an Leon Jogiches, S. 148. A. d. Ü. : Konkret schreibt sie in diesem Brief vom 30. April 1899 : „Der Grund zur Beleidigung konnte der sein, daß L[edebour ] im 2. Artikel das Motto von Par vus gestrichen hat : ‚Gewalt ajwaj ! geschrien‘, das B[ ernsteins ] Angst vor der Revolution persiflieren sollte.“
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einer Religion, die jede Minute des Lebens vorschrieb und beherrschte, beladen mit einem kollektiven Schicksal, dem sie niemals entrinnen konnten, beinahe allesamt für viele Generationen Bewohner einer wohl abgemessenen und nicht sehr großen Region, beschränkt auf sehr wenige Beschäftigungen, derselben diskriminierenden Gesetzgebung unter worfen; geächtet, wenn nicht aktiv verfolgt und sogar niedergemacht; mit besonderen Gewohnheiten und Lebensweisen und einer besonderen Mentalität. Wie konnten sie sich all ihrer Gene entledigt, alles Erbe abgeschüttelt haben, fähig gewesen sein, sich von allen übrig gebliebenen überkommenen Reflexen und Zwängen zu befreien – und nichts als reine Produkte und Gläubige des dialektischen Materialismus geworden sein ? Darüber hinaus hatten keine anderen Menschen oder sozialen Klassen – nicht einmal die ihres kulturellen Erbes beraubten, aber einst sehr traditionsgebundenen Bauernmassen, die im vorangegangenen Jahrhundert in Scharen in die neuen Industriestädte gezogen waren, um zum unerzählten, unbesungenen Proletariat zu werden – einen solch radikalen Wandel durchgemacht, hatten so sehr ihre festen Bezugspunkte verloren wie die plötzlich emanzipierten und säkularisierten Juden. Tausende und Zehntausende von ihnen bahnten sich innerhalb einer einzigen Generation ihren Weg aus kleinen, fast ausschließlich jüdischen Städten und Städtchen, aus konfessioneller Isolation, aus einem hermetisch abgeschlossenen Rahmen in den Strudel des Großstadtlebens mit seinen ver wirrenden Veränderungen und seelenlosen, unpersönlichen Zwängen – alles unter der Haut tief ver wurzelter, konser vativer, sehr kompakter Gesellschaften, die ihnen von Grund auf unfreundlich gesinnt waren. Diese Juden glaubten so innig an das Schlagwort von der „Karriere für die Begabten“ und an die Machbarkeit, Erwünschtheit, ja die Unvermeidbarkeit von radikalem Wandel und Reformen oder sogar revolutionärer Transformation, dass sie die Abneigung ihrer Gastgeber gegen diese allzu eifrigen ausländischen Agenten des Wandels nicht verstehen konnten. So sehr die Neuankömmlinge sich gewünscht hätten, diesen stumpfsinnigen Widerstand zu ignorieren, waren sie doch gezwungen, sich dessen bewusst zu werden. Das Unwohlsein der Unakzeptierten, der nicht integrierten Außenseiter und die Zwangslage der Heimatvertriebenen und Entwurzelten ließ diesen die Realität im Allgemeinen und noch mehr ihre eigene besondere Existenz provisorisch, nicht ganz real, unvollkommen erscheinen. Stimmungen wie diese ließen sie sich nach einem Ufer sehnen, nach einem Ziel und einer neuen, ganz und gar anderen Welt, in der jeder willkommen wäre, sich wohl fühlen dürfte, frei von jeder Entfremdung, wo die Geschichte wahrhaft beginnen würde : der Sprung von einer Welt der Notwendigkeit in ein Reich der Freiheit. Und so nahm der prädestinierte revolutionäre Durchbruch in eine Realität, wo es weder Juden noch Nichtjuden noch Griechen geben würde, wo alle gleich sein
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und das ihnen Zustehende erhalten würden, die Dimension einer persönlichen Befreiung inmitten einer universellen Erlösung an. Moses Hess, der von Isaiah Berlin der erste Kommunist in Deutschland genannt wurde ( und zu einem späteren Zeitpunkt auch der erste Zionist ), war ein Fanatiker, der immer auf der Suche nach einer Sache und einem Helden war, den er verehren konnte. Er erahnte Marx’ welterschütterndes Genie, als der künftige Verfasser des Kapitals ein junger Mann von zwanzig Jahren war, und Marx lernte nicht wenig von ihm, verspottete ihn aber als den „roten Rabbiner“. „Solange“, schrieb Hess, „dieses [ das Christentum ] nicht als wahre Weltreligion jede trübende Beziehung von sich abwirft und rein und lediglich, seinem Stifter getreu, das Heil der Menschen im ausgedehntesten, humansten Sinne will“, könne der Jude „nicht zum Christentum übergehen“.106 Hess erklärte „die soziale Revolution“ zu seiner Religion.106z Ner vöse Ungeduld mit den bestehenden Umständen, die Dringlichkeit der Erwartung der neuen Fügung, die Weigerung des Nonkonformisten, den gedankenlosen Konser vatismus oder die träge Tolerierung des irrational Bösen und irrelevante Zufälle zu akzeptieren und zu ertragen; die unbeirrbare Entschlossenheit und der entsetzliche Reduktionismus der messianischen Juden aus Osteuropa – all dies führte dazu, dass ihre deutschen und anderen Genossen ein Gefühl der Über wältigung und des Bedrängtwerdens verspürten. Noske sagte, obwohl er wie andere nichtjüdische Sozialdemokraten keine Spur von Antisemitismus in sich trage, könne er die zwanghafte Neigung der jüdischen Sozialisten aus Osteuropa, den Mar xismus in ein religiöses Dogma zu ver wandeln, nicht übersehen.107 Es gibt eine Notiz von Lenins Hand, die er zur Zeit des berühmten Zweiten Kongresses der noch vereinten russischen Sozialdemokratischen Partei in einem Augenblick der Verärgerung niederschrieb : „Was kann auf einer Konferenz getan werden, auf der ein Drittel der Delegierten Juden sind ?“108 Doch Lenin scheute bei anderen Gelegenheiten auch keine Mühen, um die jüdischen Revolutionäre als die wahrhaftesten und besten Internationalisten zu preisen. Es gab auch einen gemeinsamen Nenner bei den jüdisch - osteuropäischen Sozialisten in ihrer halbreligiösen, doktrinären Hingabe an die Absolutheit, an die abstrakte Verallgemeinerung und an das dialektische Denken; und, wie wir im Fall von Rosa Luxemburg bereits gesehen haben, auch in ihrer Vernachlässigung der konkreten praktischen Details und organisatorischen Zwänge. In seiner Autobiographie sagt Trotzki : „Das Gefühl des Vorrangs des Ganzen 106 106z 107 108
Silberner, Moses Hess, S. 27. Ebd., S. 1, 303. Vgl. Noske, Aufstieg und Niedergang der deutschen Sozialdemokratie, S. 27. Haimson, The Russian Mar xists, S. 60.
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über das Partielle, des Gesetzes über das Faktum, der Theorie über die persönliche Erfahrung entstand in meinen frühen Jahren und hat sich mit der Zeit nur verstärkt. [...] Ich suchte für die Fakten Gesetze.“109 Lukács schrieb : „Das Endziel ist vielmehr jene Beziehung zum Ganzen ( zum Ganzen der Gesellschaft als Prozeß betrachtet ), durch die jedes einzelne Moment des Kampfes erst seinen revolutionären Sinn erhält.“110 Die tiefere gemeinsame Ebene jedoch war das althebräische, genauer gesagt das prophetische Erbe, auf das bereits in anderem Zusammenhang hingewiesen wurde : das Beharren auf den gleichen Rechten und Pflichten jedes Individuums innerhalb und gegenüber der Gemeinschaft, das „heilige Volk“ und die „Nation von Priestern“, die von Gott auser wählt wurden, um seinen Namen zu heiligen, begleitet von der beständigen Frage, warum die Gerechten litten und die Gottlosen gediehen und warum das auser wählte Volk so viele Niederlagen, so viel Leid und Erniedrigung erfahren musste; und als Antwort auf dieses Rätsel stand das messianische Schema von Wahl, Sünde, Strafe und letzten Endes Erlösung und Wiedergutmachung – mit anderen Worten, eine Vorstellung von der Geschichte, die sich unerbittlich auf eine heilsgeschichtliche Auf lösung zubewegte. Der erste und vielleicht originellste Prophet des Sozialismus, Saint - Simon, anerkannte mit Nachdruck – vermutlich nicht ohne den Einfluss einiger seiner jüdischen Anhänger – die hebräische Prophetentradition als Vorfahr seiner eigenen Botschaft über den bevorstehenden, entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte, der bestimmt sei, die strukturelle Krise zu lösen, in die die europäische Gesellschaft als Ergebnis der weitreichenden technischen und industriellen Entwicklungen und des Zusammenbruchs der organischen, engmaschigen, feudalen, theologischen Weltanschauung gestürzt war. Saint - Simon berief sich auf die hebräische Prophezeiung von der „großen Zeit [...], das Reich des Messias, wie es sie nennt; eine Zeit, in der die religiöse Doktrin in der ganzen Allgemeinheit ( toute la généralité ), deren sie fähig ist, dargestellt werden soll; dass sie gleicher weise die Handlungen der weltlichen und der geistlichen Macht regulieren werde; und dass dann das ganze Menschengeschlecht nur eine Religion und eine Organisation haben werde“, in der „alle Menschen einander als Brüder behandeln“ werden, eine Lösung, „die keine Macht auf Erden verhindern kann“.111 Saint - Simons jüdischer Schüler, Olinde Rodrigues, fühlte sich direkt berufen, die Krise der politischen und moralischen Reorganisation anzugehen – wegen der mosaischen Tradition, die er im Blute trage, wie er sagte. Sein Judentum hatte ihn dazu gebracht, ein Gelehrter und Indus109 110 111
Trotzki, Mein Leben, S. 86 f. Lukács, Geschichte und Klassenbewusstsein, S. 36 f. Talmon, Die Geschichte der totalitären Demokratie, Band 2, S. 70 ff.
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trieller zu werden und hatte ihm dadurch eine besondere Einsicht in die Macht der Kapitalisten wie auch in die Unvollkommenheiten ihrer Moral beschert.112 Ein weiterer Saint - Simonist, Gustave d’Eichtal, ein in der frühen Kindheit getaufter Jude, erwähnt die Sprache der Propheten, das Wort der Wahrheit, das er „von seinem Volk [...] herleitet“.113 Da sie niemals die Lehre der Erbsünde akzeptiert hatten, deren Glaube ein großes Hindernis für jede echte revolutionäre Disposition darstellt, und in Ermangelung jeglicher Erfahrung mit der praktischen Politik, ihren Ambivalenzen, Konzessionen und Kompromissen, weigerten sich diese Erben der jüdischen Tradition – und mit ihnen die anderen Saint - Simonisten –, den Unterschied zwischen Theorie und Praxis, zwischen dem, was ist, und dem, was sein sollte, zwischen Prinzipien und pragmatischen Entscheidungen, Geist und Leib anzuerkennen. Sie entwickelten ihre exzentrische pantheistische Religion mit der Doktrin der Wiederherstellung der Sinne und des Leibes, der Emanzipation der Frauen, der Industrialisierung, des Sozialismus und der universellen Brüderlichkeit. Im Gegensatz zur resignierten Einsicht des Paulus – „Das Gute will ich tun, aber ich tue das Böse“ [ Römer 7,21] – erklärte Moses Hess, der rote Rabbiner ( der mit dem Polen Cieszkowski die Formel an Marx weitergab, es sei für die Philosophie nicht genug, die Realität zu beschreiben, man müsse sie verändern ) : „Weil ich nicht nur weiß, was ich will, sondern auch will, was ich weiß, bin ich mehr Apostel als Philosoph.“114 Das Bewusstsein, Teil einer ethnischen Tradition zu sein, die mit der heidnischen hellenistischen Herangehensweise an das Leben – im Wesentlichen ästhetisch, wenn nicht amoralisch – kollidierte, war auch einem Mann wie Victor Adler nicht fremd, ja nicht einmal Rosa Luxemburg. Nachdem er ekstatisch von den Freuden erzählt hatte, die ihm eine Reise nach Italien und Griechenland bereitet hatte, gestand der österreichische Sozialist, dass der Semit in ihm sich unwillkürlich etwas unbehaglich fühlte.115 In ähnlicher Weise verglich Rosa Luxemburg bei ihrer Rückkehr von einer Reise nach Italien die christliche ( um zu vermeiden, sie jüdisch zu nennen ) Haltung mit jener der klassischen Antike.116 Ernest Renan, Berdjajew in späterer Zeit, Ernst Bloch und viele andere haben die echte Stimme der hebräischen Prophezeiung in Marx’ zornigem, entsetzlichem Entschluss bemerkt, allen Selbstbetrug, Schwindel, alle Vortäuschung, träge Gedankenlosigkeit, moralische Feigheit
112 113 114 115 116
Vgl. ebd., S. 76 f. Vgl. ebd., S. 77 f. Silberner, Moses Hess, S. 1. Vgl. Braunthal, Victor und Friedrich Adler, S. 30 f. Vgl. Luxemburg, Vive la Lutte !, S. 61.
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und Ausflüchte über Bord zu werfen, die herangezogen würden, um die Grundursache und den Kern allen Übels zu verdecken – die Habgier. So auch in der flammenden Rhetorik, mit der er die unvermeidliche Auf lösung, den Zusammenbruch Babels und den Durchbruch der Unterdrückten und Ausgebeuteten, um das Land zu erben, beschrieb. Was war Freuds bahnbrechende Leistung, wenn nicht die Entdeckung der unbewussten Triebfedern des menschlichen Verhaltens hinter aller Vortäuschung, äußerem Anstand und Einbildung ? Dieses Werk der Demaskierung, sagt man, erfolgte als Reaktion auf die arrogante, aristokratische Haltung von Männern des Establishments und aus dem Gefühl eines verletzten menschlichen und jüdischen Stolzes.117 Kein Wunder, dass die Ziele von Marx’ und Freuds Enthüllungen gegen solche materialistischen, unfrommen Kränkungen akzeptierter Schicklichkeiten wüteten. Im Westen verzweigte sich der säkularisierte jüdische Messianismus eher in die Philanthropie – den Dienst an Dingen wie Pazifismus, Bürgerrechte, soziale Gerechtigkeit, gute Werke, Bildung und internationale Verständigung, kurz : alle liberalen und humanitären Anliegen – als in eine Religion der Revolution. In den kleinen und wirtschaftlich wohlhabenden Gemeinden des Westens waren es das messianische Erbe, das persönliche Unwohlsein, das sie als Außenseiter fühlten, und manchmal ihre Erfahrung mit dem sozial - kulturellen Antisemitismus oder ihr Bewusstsein der Judenverfolgung in rückständigeren Ländern, die einzelne Juden in das Lager der sozialistischen Revolution führten; doch in Osteuropa gaben die Lebensbedingungen der jüdischen Massen dem Verhältnis zwischen Juden und messianischem Sozialismus seine besondere Färbung. Obwohl es viele reiche Juden in Österreich - Ungarn und Russland gab, die wie bereits vermerkt eine entscheidende Rolle in der verspäteten, aber raschen industriellen Revolution und beim Aufstieg des Kapitalismus spielten, waren die meisten Juden elendig arm, und in Russland wurden sie in die westlichen Grenzregionen gedrängt und von willkürlichen und absichtlich erniedrigenden Beschränkungen eingeengt. Sie fanden sich in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts und am Vorabend des Ersten Weltkrieges in einer besonders explosiven Lage wieder, vor allem in Russland. Sie waren aus der fatalistischen Akzeptanz von Diskriminierung und Verfolgung erwacht, die sie der unerschütterliche, angestammte Glaube und die sektiererische Isolierung so lange geduldig zu ertragen befähigt hatten, und entwickelten erbitterten Groll gegen die Kränkung ihrer Menschenwürde – was besonders für jene dynamischen jungen Leute galt, die allen Widrigkeiten zum Trotz eine höhere Bildung erreichten. Aus ihnen wurden natürliche Rekruten für die Revolutionsarmee. 117
Vgl. Schorske, Politics and Patricide.
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Das hatte zur Folge, dass die Feindseligkeit des Verfolgerregimes eine neue Grundlage erhielt. In den frühen Jahrzehnten wurden Juden beschuldigt, übertrieben stammesgebunden, abergläubisch, nicht assimilierbar und obskurantistisch zu sein. Nun galten sie als Feinde der sozialen Ordnung, als gefährliches Treibmittel der Revolution, gottlose Aufhetzer des Pöbels, moralische Nihilisten.118 Doch es gab noch einen Faktor, der an Bedeutung zunehmen sollte. Durch das Erwachen des militanten Nationalismus unter den rückständigen und unterdrücken Nationalitäten und Stämmen der Vielvölkerstaaten wurde die Lage der Juden besonders prekär. In Regionen mit gemischter Bevölkerung tendierten sie normaler weise zur höheren Kultur der dominierenden Nationalität. Deshalb beschuldigte man sie, Werkzeuge der Russifizierung, Germanisierung, Magyarisierung und, in Ostgalizien, der Polonisierung zu sein. Dieser kulturelle Gegensatz vermischte sich mit einem explosiven sozialökonomischen Konflikt. Aufstrebende Nationalitäten wie die slowakischen, ukrainischen und baltischen Völker besaßen eine noch kleinere Mittelschicht als die Polen. Die Ankunft besitzloser Massen in den Städten und die Zunahme nationalistischer Bestrebungen unter ihnen vermengten sich und platzierten die Juden zwischen zwei angreifenden Kräften – soziale Rechtfertigung und leidenschaftlicher Nationalismus. Dieser akute und zunehmende Druck verlieh dem jüdisch - messianischen Internationalismus eine zusätzliche Intensität und rief auch den modernen, säkularen jüdischen Nationalismus, den Zionismus, her vor. Etliche jüdische Sozialisten waren kompromisslose internationale Revolutionäre. Die große Mehrheit der jüdischen Arbeiter in Osteuropa gehörte zum Bund, der ethnischen jüdisch - sozialistischen Partei. Der Bund entstand in Russland vor der russischen Sozialdemokratischen Partei und war in den frühen Tagen die größere und besser organisierte Partei mit einer starken gewerkschaftlichen Anhängerschaft und einer intensiven Bildungstätigkeit. Anfangs behandelte er die nationale russische Partei mit einiger Herablassung, wobei er ihr gleichzeitig Hilfestellung bot. Allerdings erhielt auch die zionistische Bewegung bald einen sozialistischen Flügel. Dieser Flügel war entschlossen, dadurch einen Beitrag zum Weltsozialismus zu leisten, dass er die umkämpften sozialistischen Parteien Osteuropas vom Ärgernis des Judentums befreite, das für den Klassenkampf und die revolutionäre Anstrengung solch ein Hindernis geworden war; und gleichzeitig wollte er den bedrängten jüdischen Massen Entlastung bieten und sie befähigen, sich ohne die Spannungen des Antisemitismus in einem normalen Klassenkampf zu betätigen, 118
Siehe zur Rolle, die Juden in der russischen Revolutionsbewegung spielten : Getzler, Martov; Schapiro, The Role of the Jews in the Russian Revolutionary Movement; Venturi, Roots of Revolution; Yarmolinsky, Road to Revolution; Ascher, Pavel Axelrod; Wistrich, Revolutionary Jews.
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in einer nationalen Heimat, wo sie gleichzeitig die nationale Befreiung erreichen und eine sozialistische Gesellschaft aufbauen würden. Einige bürgerliche Parteien versuchten, jüdische nationale Bestrebungen mit den allgemeinen Bewegungen zu Gunsten einer kulturellen Autonomie der verschiedenen Völkergruppen zu verbinden. Diese Bemühungen wurden von der Idee inspiriert, dass ein Land nicht das Eigentum irgendeiner Herrennation sei, die Minderheiten Gastfreundschaft gewährte und unter worfene Nationalitäten tolerierte, sondern allen darin wohnenden Völkern gehörte. So stark ihr Argument auch war – es hielt den großen Exodus von Juden nach Westen nicht auf, ebenso wenig wie die Ideologie eines internationalen Kampfes um nationale und soziale Befreiung, die der Bund vertrat, und was das betraf, konzentrierte sich der Nationalismus auf Palästina. Dieser Exodus richtete sich hauptsächlich auf die Vereinigten Staaten, die, wie es hieß, von der üblen Hinterlassenschaft religiöser Feindseligkeit, nationalen Konflikts und von Vorurteilen der Alten Welt unbelastet waren, dem „goldenen Land“ in der Sprache der dortigen Neuankömmlinge. Diejenigen, die zurückblieben, warteten darauf, sich den glücklicheren Brüdern anzuschließen, die ihnen vorausgegangen waren. Fast alle Sozialisten jüdischer Abstammung glaubten zunächst leidenschaftlich, dass die universelle Revolution das jüdische Problem lösen würde und alle Proletarier, gleich welcher Religion oder Volkszugehörigkeit, ein einziges Lager bilden sollten. Vielen von jenen, die als Propagandisten in die Ghettos gingen, um den jüdischen Massen in deren eigener Sprache die allgemeine proletarische Ideologie zu erklären, wurde langsam klar, dass sie es mit einer eigenen kollektiven Persönlichkeit und Psyche zu tun hatten sowie mit einem besonderen jüdischen Leid, mit dem die sensibelsten unter ihnen nur sympathisieren und sich identifizieren konnten. Es gab zum Beispiel den Fall von Wladimir Medem, Sohn eines Konvertiten zur griechischen Orthodoxie und Militärarztes im Rang eines Generals. Medem wurde als Christ erzogen und sprach kein Wort Jiddisch. Er wurde zu einem Fürsprecher und Propheten der Bewegung hinein ins ( jüdische ) Volk. Andere, wie Martow ( Zederbaum ), der künftige Menschewikiführer und Hauptrivale Lenins, begannen als Aktivisten im Schoß der jüdischen Gemeinde; doch sie betrachteten ihre Arbeit unter jüdischen Arbeitern bald als Energieverschwendung und leugneten sogar die Notwendigkeit, jüdische Missstände unabhängig vom internationalen Revolutionskampf zu betrachten. In den 1870er Jahren fanden die jüdischen Revolutionäre ihre Heimat in der „Narodnaja Wolja“ – dem „Willen des Volkes“.118y Sie waren voller Enthu118y Narodnaja Wolja war eine russische Terrororganisation in den frühen 1880er Jahren, die mehrere Attentate auf führende Vertreter des zaristischen Regimes unternahm und deren konspirative Strukturen später von Lenin als Vorbild für die Organisation der Bolschewiki genutzt wurden.
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siasmus für die Bauern, und vieles an ihrem messianischen Eifer war von christlicher Begeisterung durchwoben. So schrieb der Volkstümler [ Narodnik ] Aptekman, der von Lew Deich als „ein physisch schmächtiger kleiner Jude, ein geborener Erweckungsprediger“, der „immer die Bibel bei sich hatte“,118z beschrieben wurde, von seinem „komplizierten und sogar ziemlich verstörten Gemüt“, als er mit den russischen Mushiks zusammentraf. „Das reale sozialistische Weltbild verschmolz mit einer evangelisch - christlichen Gemütslage [...]. Und ich beschloss in meinem Herzen, bevor ich ins Dorf gehe, die russisch orthodoxe Religion anzunehmen. [...] Ich fühlte mich, als wäre ich neu geboren. Ich gehe nicht länger als Jude zu den Leuten, dachte ich, sondern als Christ. Ich habe mich dem Volk angeschlossen.“119 Tscherikower, der Historiker der Juden in der russischen Revolutionsbewegung, nannte das erstaunliche Testament Wittenbergs, des Sohnes eines armen, frommen jüdischen Handwerkers, das er am Vorabend seiner Hinrichtung aufsetzte, das „christlichste Dokument der Revolutionsliteratur“.120 „Erinnert euch, das größte Beispiel von Liebe zum Menschen und von Hingabe wurde durch den Heiland gegeben; und er betete, ‚lass diesen Kelch an mir vorüberziehen‘. [...] Und ich sage euch, was er sagte, [...] wenn es nicht anders möglich ist, wenn es für den Sieg des Sozialismus notwendig ist, dass mein Blut vergossen wird, wenn der Übergang von der bestehenden sozialen Ordnung zu einer besseren nicht möglich ist, ohne dass die Straße mit unseren Leibern gepflastert wird, lasst uns als Opfer für die Menschheit dienen. Und dass unser Blut den Boden reinigen wird, aus dem der Samen des Sozialismus sprießen wird, und dass der Sozialismus triumphieren wird, und dies bald – darüber habe ich keinen Zweifel ! Und ich denke wieder an das Wort des Heilands : ‚Wahrlich, ich sage euch : Es stehen einige hier, die werden den Tod nicht schmecken, [...] und das Reich Gottes wird kommen.‘ Davon bin ich überzeugt, wie ich sicher bin, dass die Erde sich im Kreis dreht. Und wenn ich auf den Galgen steige und das Seil liegt um meinen Hals, wird mein letzter Gedanke sein : ‚Und sie bewegt sich doch, und niemand auf der Welt kann sie aufhalten.‘ [...] Und wenn Du irgendeine Rücksicht auf meinen letzten Wunsch nimmst [...], gib jeden Gedanken an Rache auf [...], vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. Denn auch das ist ein Zeichen der Zeit : Ihr Geist ist umnachtet, sie sehen, dass andere Zeiten kommen, und wissen nicht, wie sie
118z Tscherikower, Jews in Times of Revolution, S. 210 [ hebräisch ]. 119 Ebd., S. 209. 120 Ebd., S. 217. A. d. Ü. : Zitat so nicht nachweisbar, es findet sich einzig folgende Stelle : „Aus diesem Brief lassen sich die tiefen und starken Gefühle erkennen, die sich in ihm, in diesem jüdischen Terroristen, entwickelt haben – eine Mischung von ausgeprägten christlichen Ideen als auch ein tiefer sozialistischer Glaube.“
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sie abwenden sollen. Ich bitte Dich noch einmal, gib jeden Gedanken an Rache auf.“121 Als ob das nicht genug wäre, gibt es eine Aufzeichnung der letzten Begegnung zwischen dem ver urteilten Mann und seinen Eltern. Der Vater war gerade noch dazu fähig, den Vorschlag zu stammeln, der Sohn solle vielleicht ein Gnadengesuch an den Generalgouverneur richten. Der Sohn erwiderte, man erzähle, wenn ein verurteilter Jude die Taufe annehme, werde die Strafe weiter vermindert. Darauf platzte die Mutter heraus : „Stirb, wie du bist; dein Sohn wird heranwachsen und deinen Tod rächen.“122 Die Narodnaja Wolja, die erste große terroristische Bewegung, zu der all die Genannten gehörten, war eine höchst unangenehme Umgebung für Juden. So wild und eifrig sie auch waren, in der reinen, unverdorbenen, kollektiven Seele der Bauernmassen zu versinken, so fand die Mission jüdischer junger Männer und Frauen mit semitischem Aussehen, einem ausländischen Akzent und völliger Ahnungslosigkeit über das Leben und die Mentalität der Bauern doch oft ein Ende durch die erstaunte oder empörte, aber nicht zu beantwortende Frage an das Kind des Antichristen : „Aber du bist doch Jude ? !“, der manchmal eine Denunziation bei der Polizei folgte. Ein weiterer Faktor verkomplizierte die Dinge ungemein : die Existenz eines antijüdischen Elements im russischen Bauernsozialismus und genau genommen im Sozialismus allgemein. In erster Linie gab es die Tradition, zu der Marx selbst in seinen beklagenswerten Schriften über die jüdischen Hohepriester des Molochs des Mammons viel beitrug; dann gab es giftige antisemitische Beinamen, die Marx und Engels ver wendeten, beispielsweise wenn sie in ihrer Korrespondenz ständig Lassalle attackierten, obwohl sie nicht zögerten, ihn für ihre Sache zu benutzen. Sie nannten ihn „Baron Itzig“, „Gescheiter Ephraim“, „jüdischer Nigger“, „jüdischer Unrat“, „jüdischer Intrigant“.123 Doch man kann nicht behaupten, dass der Antisemitismus ein wesentlicher Bestandteil ihrer Lehre war. Die marxistische Philosophie war zu universalistisch, um wirklich antisemitisch zu sein. Sie wurde zu sehr von Denkkategorien beherrscht, die keinen Raum für Rassenmystizismus und schon gar keinen für biologischrassistischen Determinismus ließen. Von größter Bedeutung war die Vision einer universellen Auf lösung am Ende des dialektisch - historischen Prozesses. Manche utopischen Sozialisten kleinbürgerlicher Neigung wie Fourier ( nebenbei bemerkt ein erbitterter Rivale Saint - Simons ) und Toussenel, der Verfasser von Les Juifs – rois de l’époque („Die Juden – Könige dieser Epoche“), und Anar121 122 123
Ebd., S. 217 f. A. d. Ü. : Die letzten Sätze ( ab „Und wenn du ...“) in Wittenbergs Testament sind an einen seiner besten Freunde gerichtet. Ebd. Na’aman, Lassalle.
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chisten wie Pierre Proudhon und Bakunin, Rivale und Opfer von Marx, schäumten geradezu vor Judenhass – ihnen fehlte das modernistische Element. Sie klammerten sich an populistische Ideen über die gesunden, primären Instinkte unschuldiger Kinder, und sie waren der modernen Welt nicht zugetan. Sie schraken vor deren komplexen Aspekten zurück, hatten keinen Einblick in die Mehrdeutigkeiten und Ambivalenzen der dialektischen Entwicklung und setzten den Juden mit den Übeln des Kapitalismus, der Zentralisierung und der Massengesellschaft gleich.124 Sie blickten auf die verlorene Unschuld der vorkapitalistischen Gesellschaft oder einen unberührten Zustand der Natur zurück. Sie priesen die Tugenden unabhängiger Handwerker und Bauern und verherrlichten die angeborene hohe Gesinnung des unkomplizierten, primitiven Rebellen. Sie träumten von kleinen Gemeinden, anarchistischen Gruppen, die von gegenseitiger Hilfe zusammengehalten wurden. Sie freuten sich auf eine utopische Welt voller Gerechtigkeit, auf die Abschaffung aller Autorität und die Befreiung der Leidenschaften. Sie verabscheuten Kredit, Geldwechsel, den Marktmechanismus, die moderne Kommunikation, die internationale Presse : All das wurde für sie vom Juden verkörpert. So schrieb Toussenel : „Der Jude ist vom Temperament her ein Anti - Produzent, weder ein Bauer noch ein Industrieller, noch nicht einmal ein echter Händler. Er ist ein Mittelsmann, immer betrügerisch und parasitär, der im Handel wie in der Philosophie vorgeht, durch die Mittel der Fälschung, Nachahmung [ und ] des Pferdehandels. Er kennt nur den Anstieg und Fall von Preisen, das Transportrisiko, die Unsicherheit der Ernte, die Zufälligkeiten bei Angebot und Nachfrage. Seine Wirtschaftspolitik ist immer völlig negativ gewesen, völlig wucherisch. Es ist das üble Prinzip, Satan, Ahriman, der sich in der Rasse des Sem personifiziert, welches bereits zweimal von den Griechen und den Römern ausgerottet wurde, das erste Mal in Tyros, das zweite Mal in Karthago.“125 „Der kosmopolitische Jude [...]; Europa ist Erbe der Herrschaft Israels. Diese universelle Herrschaft, von der so viele Eroberer geträumt haben, haben die Juden in der Hand.“125z Die Ähnlichkeiten zwischen dem krankhaft gehemmten und pedantischen Hagestolz Fourier und dem aufbrausenden, erzrevolutionären, doch sexuell impotenten Bakunin liefern gewiss Stoff zum Nachdenken. Jede Art von Konvention, Hemmnis, Autorität, Organisation scheint sie zu ersticken, zu erdros-
124
Vgl. Lichtheim, Socialism and the Jews, S. 418–427; Silberner, Proudhon’s Judeophobia; Silberner, The Jew - hatred of Mikhail Aleksandrovich Bakunin. 125 Lichtheim, Socialism and the Jews, S. 425 f. A. d. Ü. : Dieses bei Lichtheim aufgeführte Zitat stammt nicht, wie Talmon schreibt, von Toussenel, sondern von Proudhon. 125z Toussenel, Les Juifs, rois de l’époque, S. 73 f.
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seln. Der eine träumt von der totalen Befriedigung der Triebe, der andere von der totalen Befreiung der Leidenschaften, und beide schimpfen über den Juden als Prinzip von Unterdrückung und Organisation. Proudhon war von den französischen Bauern und Handwerkern angetan und verabscheute alle Fremden. Bakunin, für den der authentische Revolutionär kein Mensch war, der logisch dachte und plante, sondern ein Instinktwesen, sah sich erfolgreich nach Rettung um bei den unverdorbenen spontanen Slawen, den rebellischen russischen Bauern von Pugatschow und Stenka Rasin, bei primitiven Banditen und schlussendlich bei heruntergekommenen Ausgestoßenen aller Art, einschließlich Kriminellen, deren Leidenschaft für die Zerstörung ( die notwendige Voraussetzung für totale Wiederherstellung ) von Besitz oder verdeckten Interessen unbehindert blieb. Für Proudhon wie Bakunin war es ein kleiner Schritt vom Populismus zum Rassismus, zum Hass auf ganze Rassen oder nationale Gruppen, ungeachtet der Universalität des sozialistischen Ideals. So konnte Bakunin die Juden als „eine ausbeuterische Sekte, ein Blut saugendes Volk, einen einzigen, straff und eng organisierten, verschlingenden Parasiten“ beschreiben, „der alle Unterschiede in der politischen Meinung durchquert“.126 Doch niemand hätte Proudhon übertreffen können : „Juden – Einen Artikel gegen diese Rasse schreiben, die alles vergiftet, indem sie sich überall einmischt, ohne sich jemals an ein anderes Volk anzuschließen. Ihre Ausweisung aus Frankreich fordern, mit Ausnahme von Einzelnen, die mit französischen Frauen verheiratet sind. Die Synagogen abschaffen; sie zu keinem Beruf zulassen; schließlich die Abschaffung dieses Kults anstreben. Nicht umsonst nennen die Christen sie Gottesmörder. Der Jude ist der Feind der menschlichen Rasse. Man muss diese Rasse zurück nach Asien schicken oder sie ausrotten. H. Heine, A. Weil und andere sind nichts als heimliche Spione; Rothschild, Crémieux, Marx, Fould heimtückische Kreaturen, giftig, neidisch, ätzend usw., die uns hassen. Durch Feuer oder Verschmelzung, oder durch Ausweisung, muss der Jude verschwinden. [...] Die Alten tolerieren, die nicht länger Nachkommen zeugen. [...] Was die Menschen des Mittelalters instinktiv hassten, hasse ich durch Überlegung, und unwiderruf lich.“127 Bauernpopulismus, die Mythologie der Jacquerie, Prophezeiungen von Feuer und Massaker, eines vulkanischen, formlosen Aufstands konnten den jüdischen Geist nicht wirklich ergreifen. Das ist der Grund, weshalb russisch jüdische Revolutionäre wie Martow, Axelrod, Dan und Lieber die Pioniere des russischen Mar xismus wurden, besonders in seiner menschewistischen Ausprägung, obwohl andere Juden wie Zhitlowski, Rubanowitsch, Deich, Minor, 126 127
Lichtheim, Socialism and the Jews, S. 427. Ebd., S. 425.
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Gershuni oder Gotz – der aus sagenhaft reicher jüdischer Familie stammte und als Märtyrer seiner Überzeugungen starb – unter den Gründern und Anführern der Partei der Sozialrevolutionäre waren. Diese Partei war das terroristische Erbe der populistischen Narodnaja Wolja und Bannerträger des Bauernsozialismus, doch auch einer großzügigen Nationalitätenpolitik.128 Der russische Populismus, und bis zu einem gewissen Grad sogar die sozialdemokratischen Parteien im Westen, waren nicht nur besorgt, dass eine zu auffällige Anzahl von Juden von den Feinden benutzt werden könnte, um sie als jüdische Parteien oder Verteidiger von Juden zu diskreditieren. Sie wussten auch den in ihren Augen guten Erziehungseffekt zu schätzen, den populäre Propaganda gegen das jüdische Finanzwesen und den Kapitalismus haben könnte. Das war eine kuriose Umkehrung des Bismarck’schen Einwandes gegen Pastor Stoeckers antisemitische Agitation. Die Haltung von Revolutionären und Sozialisten gegenüber frühen antijüdischen Ausschreitungen und Pogromen bestand keineswegs aus spontaner, entsetzter und kompromissloser Verurteilung. Es gibt die bekannte Proklamation, die von dem Willen des Volkes in der Ukraine anlässlich der furchtbaren Welle von Pogromen, zu denen die Regierung nach der Ermordung von Alexander II. 1881 anstiftete, veröffentlicht wurde. „Gute Leute, ehrliche Ukrainer ! [...] Die verdammte Polizei schlägt euch, die Grundbesitzer verschlingen euch, die Juden, die schmutzigen Judase, rauben euch aus. Das Volk in der Ukraine leidet am meisten durch die Juden. [...] Wo immer ihr hinschaut, was immer ihr anfasst, überall sind die Juden. Der Jude verflucht den Bauern, betrügt ihn, trinkt sein Blut.“129 Als die österreichischen Antisemiten erstmals ihre antijüdische Kampagne begannen, war die allererste Reaktion von Kautsky und Victor Adler : Wie plump diese Exzesse auch seien, sie enthielten mehr als ein Körnchen revolutionären Potentials – sie waren ein Zeichen, dass die Massen aus ihrem fatalistischen Schlaf erwachten und es wagten, gegen soziale Übel und die Herrschaft der sozial Besserstehenden aufzubegehren. „Sie taten unwillkürlich Gutes für den Sozialismus“, schrieb Adler, „indem sie die Massen radikalisierten und sie zur Rebellion anstachelten.“130
128 129
130
Vgl. Tscherikower, Jews in Time of Revolution, S. 200 ff. [ hebräisch ]. Ebd., S. 395. A. d. Ü. : Siehe auch Dawidowicz ( Hg.), The Golden Tradition, S. 406. Bei Tscherikower heißt es : „Das Volk in der Ukraine leidet am meisten durch die Juden. [...] Der Jude trinkt sein Blut. [...] Der Zar steht auf der Seite der Juden. [...] Ihr habt schon angefangen, euch gegen die Juden aufzulehnen, und es ist gut, dass ihr das tut.“ Vgl. zu diesem Thema Silberner, Anti - Semitism and Philo - Semitism. A. d. Ü. : Zitat nicht nachweisbar.
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Die oben zitierte Erklärung der Narodnaja Wolja erschütterte nicht weniger als die Pogrome selbst manch einen jüdischen Revolutionär in seinen Grundfesten. So schrieb der heilige Volkstümler ( Narodnik ) und spätere menschewistische Mar xist Pawel Axelrod in einem herzergreifenden Pamphlet : „Die jüdische sozialistische Intelligenz verstand plötzlich, dass die Mehrheit der russischen Gesellschaft die Juden tatsächlich als getrennte Nation betrachtete und sie alle Juden – einen frommen jüdischen Arbeiter, einen Kleinbürger, einen Geldverleiher, einen assimilierten Anwalt, einen Sozialisten, der bereit war, Gefängnis oder Deportation zu riskieren – als für Russland schädliche Jidden betrachteten, die Russland durch jedes erdenkliche Mittel loswerden müsse. Die jüdische Studentenjugend erlitt ihre größte Enttäuschung, als ihr klar wurde, dass die sozialistisch gesinnten russischen Studenten mit dem Kreuzzug gegen die jüdischen Massen sympathisierten und, schlimmer noch, ihren jüdischen Mitrevolutionären ihre antisemitischen Gefühle zeigten. So machten die Pogrome der jüdischen Intelligenz klar, dass die Juden als Volk in Russland in einer einmaligen Lage waren [...], dass sie [...] den Fehler begangen hatten, die tatsächliche Lage der Juden als vom Rest der Bevölkerung unterschiedliches Volk zu übersehen [... und ] indem sie die jüdischen Massen im Namen des Kosmopolitismus, der den einheimischen Massen ebenso fremd war wie die Idee der Solidarität unter den ärmeren Klassen der russischen Nationalitäten, im Stich ließen.“131 Axelrod wurde von der Partei überstimmt, er solle das Pamphlet nicht veröffentlichen. Noch bewegender war die Reaktion von Plechanows geistes - und willensstarker jüdischer Frau, der Hauptstütze ihres schwierigen Mannes während der langen Jahre des Exils und der Beschwernis, später eine beeindruckende Verteidigerin seines Andenkens, seines Rufs und der Aktensammlung gegen die siegreichen Rivalen des Vaters des russischen Mar xismus. Sie sprach von dem plötzlichen Drang der Sozialisten jüdischer Herkunft zu büßen, zu ihren verletzten, gekränkten Brüdern hinauszugehen, die von Menschen wie ihr verlassen worden waren, um „ihre Tränen abzuwischen und ihre Wunden zu verbinden“. Wie gemischt die Gefühle der Sozialdemokraten gegenüber den Juden auch waren, sie erwachten am Ende des 19. Jahrhunderts und verstanden, dass der Antisemitismus – wie der Nationalismus, Militarismus und Imperialismus – zu einer höchst gefährlichen Herausforderung für den Sozialismus geworden war, ja genau genommen zu einem mächtigen Rivalen. Während der Dreyfus - Affäre waren die französischen Sozialisten gezwungen, sich zu entscheiden, ob sie sich aus dem Kampf der verschiedenen Ele131
Dawidowicz ( Hg.), The Golden Tradition, S. 406–410; vgl. auch Ascher, Pavel Axelrod, S. 107, Fußnote; Tscherikower, Jews in Time of Revolution, S. 393 f. [ hebräisch].
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mente der Reaktion – katholisch, feudal, bürgerlich, militaristisch – gegen die jüdische Großbourgeoisie heraushalten und warten sollten, bis diese einander gegenseitig ausgelöscht hatten, und dadurch dem Sozialismus das Feld überließen, wie Guesde predigte, oder ob sie, wie es Sozialisten immer tun sollten – worauf Jaurès beharrte –, her vortreten sollten, um jedes unschuldige Opfer des Unrechts und der Reaktion zu verteidigen und darauf zu drängen, die Dritte Republik vor einem nationalistischen Putsch und die französische Gesellschaft vor einem Zustand der Degeneration, der selbst vom Sozialismus nicht mehr geheilt werden könnte, zu retten. Der doktrinäre, schmallippige Guesde wurde bald durch Zolas heldenhaften Widerstand gegen die zwei mächtigsten Säulen der französischen Reaktion, Armee und Kirche, zutiefst berührt und nannte den berühmten Artikel des Autors „den revolutionärsten Akt des Jahrhunderts“. Doch wie beim Kongress der Zweiten Internationale 1893 in Brüssel wollte er sich sowohl von Antisemitismus als auch von Philosemitismus fernhalten.132 Die sozialdemokratischen Parteien stellten sich als die einzigen unzweideutig den Antisemitismus bekämpfenden Parteien heraus. Einige Anführer, wie August Bebel und Karl Liebknecht und natürlich Jaurès, traten entschieden dagegen auf, um die Juden zu verteidigen; andere taten es eher, um die gefährlichen Rivalen der Sozialdemokratie zu bekämpfen, wozu die antisemitischen Parteien, die den Nationalsozialismus verbreiteten, rasch wurden. Während die meisten russischen Juden die Rettung im Zionismus und der Massenemigration suchten, füllten viele von ihnen weiterhin in großer Zahl die Ränge der sozialistischen und revolutionären Bewegungen. Viele der jüdischen Rekruten sahen darin einen Weg, die Unterdrücker des jüdischen Volkes zu bekämpfen : „Wir sind das älteste, das intelligenteste Volk“, schrieb Abraham Magat aus Wilna, „das bestgebildete und energischste Volk, und man enthält uns alle Rechte vor, die die anderen Untertanen Russlands besitzen ! [...] Wir müssen für unsere Rechte und unsere Gleichberechtigung kämpfen, egal zu welchem Preis.“133 Aaron Zundelewitsch schloss sich der Revolutionsbewegung an und spielte eine entscheidende Rolle als Organisator, Spendeneintreiber und Verantwortlicher für den Druck und die Auslieferung illegaler Literatur, weil er sich entschieden jenen nichtjüdischen Kämpfern für Menschenrechte, einschließlich der Rechte der Juden, verpflichtet fühlte. Er verkündete, er empfinde für Russland keine Liebe und habe wenig Vertrauen in das russische Volk, und beschloss deshalb nach gutem Dienst für die russische
132 133
Vgl. Silberner, Anti - Jewish Trends in French Revolutionary Syndicalism; Weber, The Nationalist Revival in France; Arendt, Elemente und Ursprünge, S. 486 f. Tscherikower, Jews in Time of Revolution, S. 214 [ hebräisch ].
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Revolution, er sei seinen Verpflichtungen nachgekommen, und wanderte nach Amerika aus.134 So wichtig die Arbeit der jüdischen Mitglieder bei der Erarbeitung der Theorie, der Missionierung und Organisation auch war, gab es unter ihnen auch einen guten Teil an Terroristen wie die legendären Deich und Gershuni, an Provokateuren und Verrätern wie den rätselhaften Azef – der gleichzeitig Kopf der Terroreinheit der sozialistischen Revolutionäre, Agent der Ochrana, Verräter seiner engsten Kameraden und Organisator der Ermordung seines eigenen Chefs, des Innenministers Plehwe, war – und an dostojewskischen Typen wie das frühere Mitglied der Narodnaja Wolja Grigory Goldenberg. Letzterer war ein exaltierter Terrorist, der im Gefängnis angesichts des Todesurteils die Ner ven verlor, den Schmeicheleien der höchsten staatlichen Würdenträger nachgab und gegen das Versprechen einer Verfassung und Generalamnestie alle Geheimnisse verriet, die er kannte, und dann, als er sich der enormen Tragweite seiner Tat und des Größenwahns bewusst wurde, sich als Retter Russlands gesehen zu haben, am 15. Juli 1880 Selbstmord beging. „Ich betrachte es als Glück“, schrieb er, „und als Ehre, am Galgen zu sterben : Möge der Sozialismus durch mein Blut gesät werden, gerade wie einst das Blut der frühen christlichen Märtyrer die christliche Kirche aufsprießen ließ [...], der Sozialismus ist eine neue Offenbarung [...], eine neue Religion, er wird eine neue Ära einläuten [...], wird die ganze Welt ausfegen.“135 Das Zarenregime hatte alle Gründe, die Revolutionsbewegung als jüdisches Unternehmen darzustellen, gerade so wie jedes Regierungskomitee – natürlich zusammengesetzt aus gegenwärtigen oder früheren Herren von Leibeigenen – hinsichtlich der Lage des Bauerntums jedes Interesse daran hatte, die Notlage der russischen Bauern, sogar in Gegenden, aus denen die Juden verbannt waren, auf die jüdische Ausbeutung zu schieben. Die „Protokolle der Weisen von Zion“ kursierten und wurden in den höchsten Kreisen begierig gelesen, selbst von Zar Nikolaus II. Die Gleichsetzung von Juden mit der Revolution diente schließlich als Sicherheitsventil, als Parole für einen lumpenproletarischen Chauvinismus und die Patriotischen Ligen, die bereits entschieden faschistischen Charakter hatten und mobilisiert waren, um Pogrome auszuführen. Bei seinem berühmten Treffen mit dem „liberalen“ zaristischen Minister Witte wurde Theodor Herzl drohend von Witte gefragt, warum die Juden, die nur drei Prozent der Bevölkerung Russlands bildeten, 50 Prozent aller Revolutionäre stellten.136 Im selben Jahr behandelte Wittes Kollege Plehwe, der 134 135 136
Vgl. ebd., S. 235–241 ( zu Zundelewitsch ). Ebd., S. 225. Vgl. Herzl, The Diaries, S. 395.
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Innenminister, eine jüdische Abordnung folgendermaßen : „Übermitteln Sie Ihren Söhnen und Töchtern, der jüdischen Jugend, Ihrer Intelligenz, dass sie nicht glauben sollten, dass Russland ein zerfallender und degenerierender Organismus ist [...]. Es wird viel von jüdischer Feigheit gesagt. Das ist nicht wahr. Die Juden sind ein äußerst mutiges Volk. In Westrussland sind 90 Prozent aller Revolutionäre Juden, und in ganz Russland sind es 40 Prozent. Ich verhehle nicht die Tatsache vor Ihnen, dass die Revolutionsbewegung Russland Sorge bereitet. In Zeiten von Demonstrationen hier und da werden wir beunruhigt. Doch wir werden einen Weg finden. Wenn Sie Ihre Jugend nicht davon abhalten, sich der Revolutionsbewegung anzuschließen, wird Ihre Lage hier unmöglich werden, und Sie werden bis zum letzten Mann Russland verlassen müssen.“137 Das Protokoll der berühmten russischen Kabinettsbesprechung vom 4. August 1915 lässt nicht wenig von dem erahnen, was den Juden Russlands durch die Hand der Nazi - Invasoren etwa dreißig Jahre später widerfahren sollte. Um aus dem erklärenden Vor wort zu zitieren, das höchstwahrscheinlich von Jachontow stammt und der Kabinettsdiskussion später hinzugefügt wurde : „Im Hauptquartier reifte die Überzeugung, dass die jüdische Bevölkerung im Kriegsgebiet ein Brennpunkt der Spionage und der Hilfe an den Feind war. Auf dieser Basis entwickelte es den Gedanken der Notwendigkeit, die Kampffront von allen Juden zu säubern. Die Anwendung dieser Maßnahme begann in Galizien. Die Behörden im Hintergrund begannen, Tausende und Zehntausende von österreichischen Juden in die inneren russischen Provinzen zu schicken. All das fand natürlich nicht freiwillig statt, sondern gewaltsam. Die Juden wurden en masse vertrieben, ohne Rücksicht auf Geschlecht oder Alter. Eingeschlossen waren die Kranken, die Gebrechlichen und sogar schwangere Frauen. [...] Was vor sich ging, ist unbeschreiblich. Selbst die unversöhnlichsten Antisemiten kamen mit Protesten und Beschwerden über die Behandlung der Juden an der Front zu den Regierungsmitgliedern. [...] Alle Arten von Krisen kamen vor : beim Nachschub, der Behausung und so fort. Epidemien begannen. An verschiedenen Orten wurde die Atmosphäre zunehmend gefährlicher; die Juden waren wütend auf alles und jeden, während die Ortsbewohner wütend auf die uneingeladenen Gäste waren, die überdies als Verräter denunziert wurden und von den Bedingungen erzürnt waren, unter denen es unmöglich wurde, in ihren eigenen Häusern zu leben.“137z Der Minister für innere Angelegenheiten, Fürst N. B. Schtscherbatow, eröffnete die Diskussion und sagte : „Unsere Versuche, mit dem Hauptquartier logisch zu diskutieren, sind gescheitert. Alle Kampfmittel, die uns gegen voreingenommene Tendenzen zur Verfügung stehen, sind ver wendet worden. 137 Ivianski, Individual Terror, S. 241 f. [ hebräisch ]. 137z Cherniavsky, Prologue to Revolution, S. 56 f.
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Gemeinsam und getrennt haben wir gesprochen und plädiert und uns oft beschwert. Doch der allmächtige Januschkewitsch denkt, dass nationale Rücksichtnahmen und Interessen für ihn nicht bindend sind. Es ist sein Plan, das Vorurteil der Armee gegen alle Juden beizubehalten und sie als für die Pogrome an der Front verantwortlich darzustellen. Diese Politik trägt Früchte, und in der Armee wächst der Wunsch nach Pogromen. Man sagt das nicht gerne, doch wir sind hier unter uns, und ich werde meinen Verdacht nicht verhehlen, dass für Januschkewitsch die Juden wahrscheinlich eine jener Ausreden sind, über die A. W. Kriwoschein letztes Mal sprach. [...] Im Augenblick ist die Lage wie folgt. Hunderttausende von Juden aller Geschlechter, Altersgruppen und gesundheitlichen Verfassungen sind in Gebiete östlich des Kriegsschauplatzes versetzt worden und werden es weiterhin. Die Zerstreuung dieser Masse innerhalb des jüdischen Ansiedlungsgebietes ist nicht nur schwierig, sondern einfach unmöglich. Die lokalen Gouverneure berichten, dass jeder Raum randvoll ist und, wenn die weitere Immigration nicht sofort beendet wird, sie nicht die Verantwortung für die Sicherheit der neuen Einwohner übernehmen können, weil das Volk erzürnt ist und für neue Pogrome agitiert wird, besonders von Seiten der Soldaten, die von der Front zurückkommen [...]. Die Anführer des russischen Judentums verlangen standhaft nach allgemeinen Maßnahmen und einer legalen Grundlage, um die Lage ihrer Landsleute zu verbessern. In der Hitze der Diskussion wurde mir unverblümt gesagt, dass eine revolutionäre Stimmung ununterdrückbar in der Masse der Juden ansteigt, dass Menschen an den Rand der Verzweif lung getrieben werden, dass es jeden Tag schwieriger und schwieriger wird, gegen den Wunsch nach aktiver Verteidigung anzukämpfen, dass größere Unruhen und Störungen möglich sind usw. usf. Man sagte mir auch, dass auch im Ausland die Geduld strapaziert ist und dass der Tag kommen mag, wenn Russland außerstande sein wird, einen Pfennig Kredit zu erhalten.“138 Während der Beratung wurde die Frage von den Ministern fast ausschließlich vom Standpunkt des Eindrucks auf jene westlichen Kreise – jüdische und andere – erörtert, von denen Russland wegen seiner finanziellen Kredite abhing. Einige Jahre früher hatte Stolypin dem Zaren mit ähnlicher Begründung ein viel diskutiertes Memorandum zugunsten der Aufhebung einiger der schlimmsten Züge der antijüdischen Gesetzgebung überreicht. In seinem Kommentar stimmte Nikolaus II. mit der Argumentation überein, doch er erklärte, dass er im Herzen dagegen sei. Der Minister ließ ab.139 Es kann keine Überraschung sein : Obwohl die meisten Juden von der Februarrevolution begeistert waren, doch zunächst keineswegs die Oktober138 139
Ebd., S. 57 f. Vgl. Charques, The Twilight of Imperial Russia, S. 167 f.
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revolution unterstützten, begann dennoch eine große Zahl von ihnen, sich bei den Bolschewiki einzureihen, als die Weißgardisten Plehwe’scher Richtung und die ukrainischen Nationalisten mit ihrer Pogrom - Kampagne begonnen hatten, womit sie den Juden keine Alternative ließen. Es ist nicht irrelevant, sich hier auf eine höchst interessante Konversation zwischen Arthur Balfour und Louis Brandeis, seinerzeit Anführer der amerikanischen zionistischen Bewegung, zu beziehen, die sich während der Versailler Friedenskonferenz zutrug. Balfour brachte seine tiefe Sorge über die Bedeutung der Juden in revolutionären Bewegungen zum Ausdruck. Und nun, fuhr er fort, waren sie nicht nur aktive Mitglieder, sondern Anführer der russischen Revolution, und selbst von Lenin wurde berichtet, er stamme von Juden ab. Der Grund für seine leidenschaftliche Unterstützung der Idee einer jüdischen Heimat, so Balfour weiter, war sein Wunsch, die Talente und Energien dieses hochbegabten Volkes in konstruktive Kanäle zum Wohle der ganzen Menschheit zu lenken.140
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Ich danke Frau Dvora Barzilai - Jager dafür, dass sie mir freundlich Einsicht in das Memorandum über das Treffen im Weizmann - Archiv, Rehovot, gewährte.
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Fünf ter Teil Russ land – hei lig, ent weiht und aus er ko ren
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I. Russ land – hei lig, ent weiht und aus er ko ren Was auch immer die internen Meinungsunterschiede über die Mittel und Wege, dem Krieg ein Ende zu bereiten, und die Form des Friedensvertrags waren : In keinem der Krieg führenden Länder wurde die nationale Einheit im Ersten Weltkrieg – trotz einiger Streiks, Hungerrevolten und beginnender Meutereien – so sehr durch den revolutionären Internationalismus unterminiert, wenn nicht gar gebrochen, wie in Russland. Die revolutionären Aufstände oder aufstandsartigen Erhebungen in den verschiedenen Ländern am Tag nach dem Waffenstillstand erwiesen sich als vorübergehende Ereignisse.1 Was war der Grund für den Sieg des extremistisch - internationalen Revoluzzertums, dem eine anhaltende defätistische, ja aus traditioneller Sicht verräterische Agitation vorausging, in jenem Land, das am wenigsten dafür reif schien, und für dessen Niederlage in allen anderen Staaten ? Nirgendwo sonst, nicht einmal im von Rassenkonflikten gespaltenen Österreich - Ungarn, war die Entfremdung vom Staat und dessen regierender Elite so weit verbreitet und so tiefgehend wie in Russland – das Ergebnis außerordentlich schwerer ökonomischer, sozialer, politischer und kultureller Disharmonien von sehr langer Dauer.2 Wirtschaftliche Unterdrückung und soziale Ungerechtigkeiten wurden fast unerträglich, als ein korruptes und geschwächtes Regime sich als völlig unfähig erwies, einen nationalen Krieg zu führen, und brachten unsagbares Leid über die Bevölkerung. Ein nicht weniger wichtiger Grund für die Kluft zwischen der Regierung und den Volksmassen inmitten des Krieges war die Wirkung ideologischer, revolutionärer Einflüsse. Doch weder die Vertrauenskrise und der entsprechende Zustand der Verzweif lung noch die defätistische und staatsfeindliche Propaganda hätten genügt, um in der Stunde der nationalen Not den tiefsitzenden instinktiven Patriotismus in dem Maße zu beseitigen, wie es letztlich geschah, wenn es nicht eine besondere geistige Verfassung gegeben hätte, die den Schrecken des Landesverrats milderte. Diese besondere Stimmung war über Jahrhunderte in der Vision vom Heiligen Russland gepflegt worden. Realitäten, die die Vision Lügen zu strafen schienen, wurden als Entweihung des inneren Wesens dargestellt. Die Reinigung des inneren Kerns durch das Entfernen des verschmutzenden Belags war eine heilige Mission. Das jahrhundertealte Konzept einer Wiederherstellung makelloser Reinheit wurde im Zeitalter der Säkularisierung durch das Bild 1 2
Vgl. Carsten, Revolution in Central Europe, Kapitel 12 : A Revolution defeated, S. 323–335. Vgl. Florinsky, Russia, 2 Bände; Pipes, Russia under the Old Regime; Seton - Watson, The Russian Empire; Sumner, Survey of Russian History.
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einer vorherbestimmten Zukunft ersetzt.3 Es wurde ein gereinigtes und reformiertes Russland beschworen, das die Rolle eines Messias erfüllen sollte. Die theokratische Eschatologie wurde in einen revolutionären Messianismus ver wandelt. Idealiter erlaubte das zaristische Russland keine Trennung in eine spirituelle und eine weltliche Sphäre. Das war Teil des byzantinischen Erbes des Cäsaropapismus mit seiner völligen Unterordnung kirchlicher Angelegenheiten unter die Entscheidungen des von Gott gesalbten Kaisers und Oberhaupts der Gemeinde der Gläubigen. Die russische Kirche erreichte niemals das bescheidene Maß an organisatorischer Autonomie, das die byzantinische Kirche zu wahren in der Lage gewesen war. Der russische Staat hatte keinen Grund, den besonderen Status der politischen Sphäre zu betonen. Die lange Periode des Tatarenjochs half dabei, die Verschmelzung von Religion und Weltlichkeit zu festigen. Der Fall Konstantinopels und die Unter werfung aller griechisch orthodoxen Slawen außerhalb Russlands durch die Türken ließ Russland als alleiniges unabhängiges griechisch - orthodoxes Land der Welt zurück. Es erstand als Erbe von Byzanz – als Drittes Rom – und Leuchtfeuer aller wahren Gläubigen unter fremder Herrschaft wieder. Das Gefühl der Auser wähltheit wurde bestärkt durch den tiefen doktrinären Glauben, dass die katholische Kirche nicht nur ketzerisch, sondern durch ihre Organisation und weltliche Tätigkeit ein Teil des alten heidnischen römischen Imperiums sei. Der Protestantismus mit seinem Individualismus war nicht weit vom Atheismus entfernt. Die Entstehung des urbanen Lebens führte im Westen zur Herausbildung einer dynamischen und selbstbewussten Bourgeoisie, deren Mitglieder bestrebt waren, für sich selbst einen anerkannten Status und Handlungsfreiheit zu erlangen. Der Bürger wachte eifersüchtig über seine kodifizierten Rechte und war stolz auf seinen Wert als einzelner Mensch und auf seine Leistungen. Er begann danach zu trachten, die königliche Bevormundung abzuwerfen und eine Stimme bei der Ver waltung des Gemeinwesens zu erhalten. Am Ende des Mittelalters sowie während der Renaissance, der Reformation und des Absolutismus im Westen mobilisierten die russischen Herrscher all ihre Kräfte und nationalen Ressourcen für das hartnäckig verfolgte Ziel, sich von der Tatarenherrschaft zu befreien und Russland unter einem einzigen Monarchen zu vereinen. Dem folgten der erbitterte Kampf mit den Polen, den Schweden und den Osmanen um die Ostsee - und Schwarzmeerküste sowie das 3
Vgl. Masaryk, The Spirit of Russia, 2 Bände; Berdyaev [ Berdjajew ], The Origin of Russian Communism; Szamuely, The Russian Tradition; Wilson, To the Finland Station; The Russian Intelligentsia; Simmons ( Hg.), Continuity and Change in Russian and Soviet Thought; Plechanow, Historia rosyjskiej myśli społecznej, 3 Bände.
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Bemühen um die Kolonisierung der neu eroberten Territorien. Dieses langwierige Unternehmen zwang die Zaren, den Adel fest im Griff zu halten – und durch ihn die Bauern, die stets versucht waren, ihrem harten Leben auf magerem Boden mit kurzer Vegetationsperiode unter Bedingungen faktischer Sklaverei in die Weiten des riesigen Reiches zu entfliehen.4 Allmählich wurden alle alten Gemeindetraditionen und repräsentativen Institutionen – wie der Semski Sobor4z – abgeschafft, oder es wurde dafür gesorgt, dass sie unter der Herrschaft des von Gott ernannten Autokraten aller Reußen verkümmerten, dessen Anspruch, den Willen des Allmächtigen auszuführen, durch eindrucksvolle Erfolge bestätigt zu werden schien. Es ist unmöglich, nicht beeindruckt zu sein angesichts des starken Kontrasts zwischen der fundamentalen Bedeutung, die dem Gesetz und der Rechtsprechung im Westen zugewiesen wurde, und dem unbedeutenden Platz, den sie von den Tagen des frühen Zarismus bis hin zur Zeit der slawophilen Ideologie und der revolutionären Lehren im russischen Denken einnahmen. Die altrömische und dann westlich - bürgerliche Weise, feste Grenzen zwischen Mein und Dein zu ziehen; die Ehrfurcht vor schriftlichen Verträgen; die Neigung zu klarer Formulierung von Sicherheitsklauseln und Sanktionen; das Prinzip einer unabhängigen Justiz und von konstitutionellen Garantien – sie alle wurden von aufeinanderfolgenden russischen Generationen und Denkschulen als Ergebnis von Neid, Egoismus, Misstrauen und Geiz betrachtet. Man unterstellte, dass das formgebende Prinzip der russischen Gesellschaft nicht das individuelle Eigeninteresse, sondern gemeinschaftliche Solidarität und liebevolles Vertrauen sei. Dies zeigte sich triumphierend in der russischen Dorfgemeinschaft, die kein Privateigentum anerkannte, auf allgemeiner Zustimmung basierte, periodisch wiederkehrende Umverteilungen des Landes praktizierte und weiterhin ohne geschriebene Gesetze und Verträge auskam. Kein Stück Papier, keine schriftliche Verfassung sollte zwischen den Zaren und seine Kinder, das Volk Russlands, treten : nur liebende Fürsorge auf der einen und vertrauensvoller Gehorsam auf der anderen Seite. Das Individuum sollte in der Lebensgemeinschaft verschwinden. Diese galt nicht als Vereinigung klar definierter Individuen, die sich im Streben nach einem präzise umrissenen und begrenzten gemeinsamen Interesse zusammentaten, sondern als kollektives Wesen, als das Gefäß einer allumfassenden Sondertradition und als ein corpus Christi mysticum.5 Ansprüche, die so hoch und damit unrealisierbar sind, müssen zwangsläufig immer die Quelle anhaltender und umfangreicher Vorspiegelung werden, 4 4z 5
Vgl. Willetts, The Agrarian Problem, S. 120 f. A. d. Ü. : Der „Semski Sobor“ war die russische Ständeversammlung. Vgl. Walicki, The Slavophile Controversy.
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und schließlich zu deren Deckmantel. Liebevolle Einmütigkeit bedeutete in Russland letztlich das Aufzwingen eines einzelnen despotischen Willens. Die vollkommene soziale Bindung ohne formelle Regeln wurde zur Knechtschaft eines Kastensystems. Die uneingeschränkte Schutzmacht aus Zar, Grundherr und Bürokrat brachte einerseits ungezügelte Willkür und Grausamkeit und andererseits Unter würfigkeit, niederträchtige Hinterlist, völlige Entfremdung vom Staat und der herrschenden Klasse und schließlich brodelnde Rebellion. In den zarteren Gemütern rief das große Gebäude der Scheinheiligkeit Protest und Widerspruch her vor, ein Gefühl der Scham und Schuld, das nach und nach zum Entschluss reifte, jene Kräfte zu bestrafen und zu zerstören, die das Heilige Russland entweiht und sich das Gemeinwesen angeeignet hatten. Auf ihren Ruinen würde ein gereinigtes und authentisches Russland errichtet werden, seinem nationalen Schicksal und der universellen Mission treu ergeben und mit der angeblich einzigartigen russischen Institution – der Dorfkommune – als Grundpfeiler. Angesichts der aufkommenden Bedrohungen des Regimes durch westliche Einflüsse und sozial - ökonomischen Wandel hielt es das russische Establishment des 19. Jahrhunderts für notwendig, die theokratische Grundlage und Legitimation des Systems nachdrücklich zu bekräftigen. Zur Seite standen ihnen zum einen unerbittliche Doktrinäre, die brutale Unterdrückung rechtfertigten, indem sie die Einzigartigkeit des russischen Weges priesen und den Westen als in Anarchie und egoistischen Materialismus versunken darstellten, zum anderen halfen ihnen auch Propheten des Zorns, die von der Gefahr des völligen Zusammenbruchs kündeten, falls im Geringsten an dem bestehenden System herumgepfuscht werde, und den Menschen als unheilbar böse und als nur zu leicht von anarchischen Ideen beeinflussbar darstellten. Während die Reaktionäre die sozialpolitische Aufsässigkeit mit Gottlosigkeit gleichsetzten, entwickelten die Revolutionäre den Slogan „kein Gott, kein Herr“. Absolutheiten wurden mit Absolutheiten beantwortet : göttliche Sanktion mit Atheismus; transzendentaler Idealismus mit unverdünntem Materialismus; die Doktrin von der Überlegenheit des spontanen, direkten, vorbehaltlosen Glaubens über die schwächende Verräterei des analytischen Denkens und der Perfektion mit Lehren, die von kompromisslos doktrinärem Rationalismus und den rohesten Formen des Utilitarismus inspiriert waren. Dem Cäsaropapismus begegnete man mit anarchischer Freiheit und einer losen Föderation von Kommunen, und die allumfassende Ideologie des panslawistischen Zarismus spiegelte sich in weiten philosophischen Entwürfen von universeller historischer Unvermeidlichkeit wider, in denen Russland ein besonderer Platz zustand. Wenn in der altrussischen Tradition das Individuum derart eingestuft wurde, dass es sein Leben für den Zaren hingab und dadurch eine Art religiöser
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Pflicht erfüllte, brachte die Revolutionsideologie ihr Anliegen nicht nur als Interesse oder politisches Bestreben vor, sondern als heilige Botschaft, die den ganzen Menschen, seine implizite Zustimmung und seine ungeteilte Hingabe erforderte. Die Revolutionsbewegungen in Russland wurden in der Tat zu Mönchsorden und religiösen Bruderschaften mit Helden, Märtyrern und Heiligen, die am Galgen starben, ihre besten Jahre in Kerkern oder der sibirischen Tundra verschwendeten, Selbstmord begingen oder wahnsinnig wurden. Das Establishment fürchtete sich vor dem liberalen Einfluss der westlichen Ideen und war verzweifelt bemüht, deren Eindringen zu unterbinden. Die Revolutionäre ihrerseits fürchteten, dass der bürgerliche, liberale Kapitalismus die Ankunft der vollkommenen, prädestinierten Ordnung ihrer Träume verzögern oder verhindern würde. Beide Seiten hatten es eilig. Niemand wollte eine Neuanpassung, Kompromisse, schrittweise Veränderung. Einzig totale Konfrontation war möglich, nur Krieg bis zum bitteren Ende. Die Rettung kam jetzt oder nie. Das doktrinäre Theoretisieren, das in nicht geringem Maße zurückging auf den Mangel an praktischer politischer und administrativer Erfahrung in Verbindung mit der Erinnerung an den allumfassenden Wandel, den Peter der Große durch die Ukase bewirkt hatte, unterstützte einen Glauben an den plötzlichen Sprung von absoluter Knechtschaft zu totaler Freiheit und eine eifrige, wachsame Bereitschaft, die günstige Stunde voll auszunutzen oder den Aufruhr zu erzeugen, der sie möglich machen würde. Mit ihrer Entfremdung von der Klassenstruktur und den politischen Realitäten in Russland, ihrem zarten, schmerzempfindlichen Gewissen und ihrer messianischen Sehnsucht nach Gewissheit und Erlösung zeigte die russische Intelligenz eine im Grunde religiöse Geisteshaltung, die im Westen kaum Parallelen hatte. Der einflussreichste frühe Vertreter jener russischen Religion der Revolution – mit ihren Vorläufern in der Dekabristenbewegung, wenn nicht gar bei Radischtschew – war Wissarion Belinski, der als ein Paradigma der spirituellen Pilgerschaft der russischen Intelligenz im 19. Jahrhundert gelten kann.
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II. Die Geburt einer Revo lu ti ons ideo lo gie – Belin ski und Her zen 1. Das Porträt eines Pilgers Als Plechanow, der Vater des russischen Mar xismus, einige Jahrzehnte nach Belinskis Tod über diesen schrieb, hatte er Folgendes über den berühmten Kritiker zu sagen : „Bis zum heutigen Tag ist jeder neue Schritt nach vorn in unserem sozialen Denken ein Beitrag zur Lösung jener Grundprobleme der sozialen Entwicklung, die von Belinski mit Hilfe der Intuition eines genialen Soziologen entdeckt wurden, die er jedoch wegen der extremen Rückständigkeit der russischen Realität seiner Zeit nicht zu lösen in der Lage war.“6 Der Beweis für die Verbreitung von Belinskis Ideen und deren nachhaltigen Einfluss auf die Gemüter der Menschen, „die sich kümmerten“, deren Geschäft und Leidenschaft es war, nach Ideen zu leben und sie weiterzugeben, wird von Belinskis slawophilem Antagonisten Iwan Aksakow erbracht, der acht Jahre nach dessen Tod schrieb : „Der Name Belinskis ist jedem denkenden jungen Menschen bekannt [...], jedem, der in dem übelriechenden Morast des provinziellen Lebens nach einem frischen Luftzug hungert. Es gibt keinen Dorfschullehrer, der nicht Belinskis Brief an Gogol kennt und auswendig weiß. Wenn man anständige Leute finden will, Leute, die sich um die Armen und Unterdrückten sorgen, einen ehrlichen Arzt, einen ehrlichen Anwalt, Leute, die sich nicht vor einem Kampf fürchten, wird man sie unter Belinskis Anhängern suchen müssen. [...] Belinskis Anhänger nehmen zu.“7 Belinski war eher ein Kämpfer mit Gott als ein diskursiver Denker. „Ich weiß wirklich nicht“, sagte er, „ist es ein Glück für mich oder ein Unglück, daß Denken und Fühlen, Verstehen und Leiden für mich ein und dasselbe sind.“8 Er ist ein Pilger, der niemals fühlen kann, dass er angekommen ist, Frieden mit sich selbst geschlossen hat und mit Gott, dem Leben, der Welt ins Reine gekommen ist; ein ewiger Protestierer. 6
7 8
Plechanov, Izbrannye filosofskie proizvedenija, Band 4, S. 541 f. A. d. Ü. : Im englischen Original beginnt die Fußnotenzählung in diesem Abschnitt wieder von vorn, also mit 1. Da jedoch in der vorliegenden deutschen Übersetzung jedes einzelne Kapitel mit 1 beginnt und dann fortlaufend bis zum Kapitelende mit Fußnoten versehen wird, geht es an dieser Stelle mit Fußnote 6 weiter. Zit. in Berlin, Russische Denker, S. 207. Belinski, Ausgewählte philosophische Schriften, S. 171, Brief an Botkin vom 1.3.1841. Eine große Hilfe war mir Belinski, Pisma filozoficzne; neben Berlin, Russische Denker, wurden folgende Sekundärstudien am meisten ver wendet : Bowman, Vissarion Belinski; Plechanow, Historia.
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Belinskis zwanghafte Beschäftigung mit dem Konzept der Realität, mit anderen Worten : mit der Bedeutung des Lebens, seine verzweifelten Bemühungen, einen Schlüssel zum Geheimnis des Seins zu finden, die Art, in der er die eine, alles umfassende Erklärung ver werfen würde, um die diametral entgegengesetzte anzunehmen – all dies deutet nicht nur auf die Unfähigkeit hin, die konkrete, tatsächliche, greifbare Realität als gegeben hinzunehmen, sondern auch auf eine tiefe persönliche Identitätskrise. Belinski ist in der Tat höchst eindeutig und wortgewandt im Blick auf seine ewige Unzufriedenheit mit sich selbst und seine Suche nach sich selbst. Persönliche Entwurzelung und Selbstzweifel sollten jedoch auch als Beispiel für die soziale und spirituelle Situation seiner Klasse, oder besser Nicht - Klasse, gesehen werden. In seinem Brief an Bakunin vom 10. September 1838 spricht Belinski von dem Gefühl, dass sich „im Schmelztiegel meines Geistes die Definition des großen Wortes Realität“ herauskristallisiert hat. Er empfindet sich jedoch selbst nicht als „real“; er sei erst dabei, die „Realität zu erfassen“. „Gegenwärtig fühle ich mehr denn je, wie sich mir die Realität sowohl im Leben als auch bezüglich ihres Begriffs entzieht.“ Gleichzeitig „spüre ich mehr denn je einen großen Erfolg [...] und dass es mir glücken kann, im einen wie im anderen eine vollständige und rasche Wandlung zu vollziehen“.9 Herzen und andere Zeitgenossen fühlten sich sehr unwohl angesichts des mürrischen Temperaments des begabten, scheuen und linkischen jungen Plebejers, des Sohnes eines trinkenden Provinzdoktors, verheiratet mit einer schwerfälligen, ungeliebten Frau. Es gab rasche Wechsel zwischen langem, gequältem, brütendem Schweigen und gewaltsamen Wutausbrüchen, von Perioden lähmender Melancholie und Anfällen ungestümer Begeisterung, von tiefster Selbstablehnung und arroganter Pose, von äußerstem Ekel vor der Welt und glückseliger Aussöhnung mit ihr. Belinski scheint unfähig gewesen zu sein, eine normale Ebene des Umgangs mit anderen Menschen zu finden. Es gab „dieses bittere, quälende Gefühl [...], das meine Seele wie ein glühendes Eisen durchbrennt“.10 Ein anderes Mal äußert er ein hoffnungsvolles Gefühl der Erleichterung : Er scheine „nicht länger in der Gesellschaft praktisch veranlagter Menschen zu ersticken“. Sie fangen an, ihn zu interessieren, „und meine Gegenwart ist keine Belastung mehr für sie“.11 Doch nicht nur das Leiden, auch das Glück, ja alles belastet Belinski : Liebe und Feindseligkeit, eine neue Idee, neue Umstände. Nun in seltenen Augenblicken, wenn die Fröhlichkeit sich irgendwie Einlass verschafft, „atme ich frei 9 10 11
Belinskij, Polnoe sobranie, Band 11, S. 282, Brief an Bakunin vom 10.9.1838. Ebd., S. 283. Ebd.
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und heiter“. „Armes, gebrochenes Herz“, klagt er, „das sich so leidenschaftlich nach Glück sehnte und es nie erfuhr.“11z Er wollte sein ganzes Ich der Gesellschaft geben, sich als deren voll integriertes Mitglied und Partner fühlen, doch er wusste, dass er immer ein Außenseiter bleiben würde.12 Daher das permanente Gefühl der Beklemmung, das Gefühl, ständig in Ungnade zu fallen. Ein Besuch des Landsitzes der Ahnen der Bakunins, Premuchino, löst eine Flut von widersprüchlichen Gefühlen aus : ehrfürchtigen, doch qualvollen Neid auf den Frieden und die Harmonie in einer Familie alter Herkunft, auf deren Selbstsicherheit und ererbten Charme, und dann äußerste Abscheu angesichts seines eigenen Verhaltens, besonders gegenüber dem altehr würdigen und hochkultivierten Oberhaupt des Hauses.13 Belinski kann sich selbst nicht die arrogante, posierende Haltung vergeben, die er annahm, als er eine blutbefleckte Robespierre’sche Variante des Fichteanismus zur Schau trug. Er schwört, ehrlich gesprochen zu haben; er war zu der Zeit von jener aufsässigen Philosophie so sehr eingenommen, dass er „nicht frei“ war, „zu erleben, was ich fühlte und zum Ausdruck brachte.“ Trotzdem : Er sei „gewissenlos, gemein, garstig“ gewesen. Er sei „ein Komödiant, ein Phrasendrescher, ein Narr.“ Die „verdammten Ansichten“,14 die er geäußert habe, seien in jenem Augenblick nicht aus einer Sorge um die Wahrheit entstanden, sondern aus dem Wunsch heraus, Eindruck zu schinden und zu schockieren. Belinski sieht sich von außen. Wie eine Person, die an beginnendem Wahnsinn leidet, ändern sich seine Stimmungen fortwährend in einem solchen Ausmaß, dass er nie sicher sein kann, welcher Belinski der echte, authentische ist. Seine Phasen der Selbstzufriedenheit wechseln sich ab mit einem morbiden Drang zur Selbstkarikatur, mit einem lähmenden Gefühl der Leere, der Falschheit und der Sterilität : „in meiner Nichtigkeit“. „Manchmal“, schreibt Belinski, „fand ich einen wahren Balsam für mein krankes Gemüt in dem Selbstrespekt, den ich durch vorübergehende energische Impulse der Liebe zur Wahrheit erreichte – jene seltenen und strahlenden Gefühlsaufwallungen, die in mir aufflammten. Doch manchmal sah ich in alledem [...] einen gewissen Anschein des Strahlens ohne Substanz, ein wunder volles Gebäude ohne Fundament, einen Baum mit üppigem Blattbestand ohne Wurzeln; und ich wurde mir selbst zuwider.“15
11z 12 13 14 15
Ebd., S. 318, Brief an Bakunin vom 12.–24.10.1838. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 176–181, Brief an Bakunin vom 16.8.1837. Ebd., S. 320. Ebd., S. 174, Brief an Bakunin vom 16.8.1837.
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2. Die universelle Idee und die Versöhnung mit ihr Die persönliche Misere der ungewissen Identität, das verzweifelte Bedürfnis, sich der eigenen Authentizität sicher zu sein, geht Hand in Hand mit der unermüdlichen Suche nach allumfassender Gewissheit über das Universum. Wir beobachten darin dasselbe gewaltsame Schwingen des Pendels. „Ich trenne mich schwer und mit Schmerzen von einer alten Idee, negiere sie bis zum äußersten und gehe zu einer neuen mit dem ganzen Fanatismus eines Proselyten über.“16 In seinem Brief an D. P. Iwanow vom 7. August 1837 spricht Belinski die reinste Sprache des extremen transzendentalen Idealismus und der totalen politischen Unter werfung unter jedwede Art politischer Autorität. Die einzige wahre und bedeutende Realität sei die Idee, alles andere Illusion. Der Mensch sei nichts als eine mit einem Körper bekleidete Idee und der Körper nichts als ein Schatten. Dinge hätten nur insoweit Realität an sich, als ihnen ein Konzept zugrunde liege, sie der Brennpunkt bedeutsamer Verbindungen seien, die das Universum zusammenhielten. Deshalb verkörpere nur die Philosophie reales Wissen, während jene Wissenschaften und die Geschichte, die sich mit äußeren, flüchtigen zufälligen Erscheinungen befassten, es verdeckten.17 „Die Idee muss die Tatsachen erklären und darf nicht aus den Tatsachen abgeleitet sein. Sonst könnte die Materie den Geist bestimmen, und der Geist würde Sklave der Materie werden. [...] Äußere Objekte dienen nur dazu, unserem Ego Impulse zu geben und es mit Konzepten zu inspirieren, die es mit diesen Objekten verbindet.“18 Kurzum : Die Welt war die Schöpfung von Fichtes denkendem Ego. Auf Erfahrung basierende Philosophie war eine Absurdität, da Tatsachen derart verschieden und widersprüchlich, zufällig und ungewiss seien. „Zum Teufel mit den Franzosen“, die sich eingraben in den „bedingten Erscheinungen einer leblosen Wirklichkeit“ – „ein Murmelspiel [...], ein Haus, auf Sand gebaut.“ Im Gegensatz dazu richteten sich die Deutschen mit aller Macht auf das Universelle. Deutschland war „ein auf Fels gebautes Haus“. Es war „das Jerusalem der modernen Menschheit“, aus dem „erneut ein Christus, [...] von den Strahlen des Ruhmes umgeben, kommen wird“. Das jungfräuliche Russland, „Erbe ganz Europas und aller europäischen Einflüsse“, sollte sich von jener deutschen „Philosophie“ leiten lassen, „die das Christentum mit mathematischer Klarheit entwickelt und erklärt, als Lehre, die auf der Idee [ von der Liebe und ] der Erhebung des Menschen in den Rang einer Gottheit begrün16 17 18
Belinski, Ausgewählte philosophische Schriften, S. 180, Brief an Botkin vom 8.9.1841. Vgl. Belinski, Pisma filozoficzne, S. 142 : Brief an Iwanow vom 7.8.1837. A. d. Ü. : Vgl. auch Belinskij, Polnoe sobranie, Band 11, S. 146; Bowman, Vissarion Belinski, S. 94 f. Belinskij, Polnoe sobranie, Band 2, S. 240.
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det ist“.19 Belinskis Philosophie der Kunst wird ganz beherrscht von der universellen „ewigen Idee“ des transzendenten Idealismus. Alle Schöpfung sei nichts als der Atem der ewigen Idee, die sich auf unzählige Weisen manifestiert, zerstörend, um zu erschaffen, und erschaffend, um zu zerstören, um „sich in der leuchtenden Sonne, dem herrlichen Planeten, dem wandernden Kometen [ zu verkörpern ]; sie lebt und atmet sowohl im wogenden Auf und Ab von Flut und Ebbe wie auch im unbändigen Sturmwind der Wüste, im Rauschen der Blätter, im Murmeln des Baches, im Brüllen des Löwen, in den Tränen eines Kindes, im Lächeln der Schönheit, im Willen des Menschen und in den wohlgeformten Werken des Genies“. Der Künstler sei wie eine Harfe, auf der die Bewegung der ewigen Idee spielt, „sich in zahllosen Formen als das gewaltige Schauspiel absoluter Einheit in unendlicher Vielfalt manifestiert“.19z Die Literatur sei immer und überall „ein Symbol des Innenlebens einer Nation“,20 die am Leben der universellen Menschheit teilnehme, indem sie eine besondere Phase oder einen Aspekt reflektiere. Um nachdenken zu können, das Bewusstsein zu steigern und sich in die universelle Idee zu vertiefen, müsse der Mensch sich unermüdlich darin üben, wie ein christlicher Asket allen Egoismus, jegliche Eitelkeit und Liebe von Äußerlichkeiten abzulegen : „Religion ist Wahrheit in der Betrachtung, während die Philosophie Wahrheit im Bewusstsein ist.“21 So sei er fähig, selbstlose Liebe und Einklang mit der reinen Idee zu erreichen und anzufangen zu fühlen, dass das ganze Universum in ihm sei. So kündigte eine asketisch keusche und mystische Haltung eine ernste Warnung an : „Lasse vor allem die Politik fallen und sieh dich vor ihrem Einfluss auf deine Denkweise vor. In unserem Russland hat Politik keinen Sinn, und nur Hohlköpfe können sich damit beschäftigen.“22 Noch für lange Zeit würden die Russen nicht in der Lage sein, ihre politische Existenz zu formen und ihre Freiheit selbst absichern zu können. Beides wäre weiterhin ein Geschenk ihrer Herrscher wie zu Zeiten Peters des Großen, des unvergleichlichen Gründers des neuen Russland. „Russland ist immer noch ein Kind, das eine vor Liebe überfließende Amme braucht [...] mit einer Rute in ihrer Hand.“ Dem Land im gegenwärtigen Zustand eine Verfassung zu geben, wäre dasselbe, wie einem Kind die totale Freiheit zu lassen, sich selbst ins Verderben zu stürzen : „Gib dem Russen Freiheit, und er wird loseilen, aber
19 19z 20 21 22
Ebd., Band 11, S. 152. Belinski, Ausgewählte philosophische Schriften, S. XVII f. Bowman, Vissarion Belinski, S. 56. Siehe auch ebd., S. 55. Belinskij, Polnoe sobranie, Band 11, S. 146. Ebd., S. 148; vgl. auch Plechanow, Historia, Band 3, S. 205; Belinski, Pisma filozoficzne, Band 1, S. 145.
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nicht ins Parlament, sondern in die Kneipe, um Wein zu trinken, Glas zu zerschlagen und Edelmänner aufzuhängen, die sich den Bart rasieren.“22a Was Russland brauche, sei aufgeklärte Anleitung durch wohlwollenden Despotismus, „hier eine Erleichterung, dort eine Verminderung unserer Wahlmöglichkeiten auf der Grundlage spekulativen und nicht empirischen Wissens, wahren Denkens und nicht flachen Verständnisses“.22b Es bedürfe jener inneren Freiheit, die aus moralischer Zurückhaltung entstehe. Belinski dachte, er entdecke ähnlich weise Besonnenheit und liebende Vorsorge in der Regierungspolitik zur Bauernfrage und zur Zensur. Diese war darauf angelegt, ohne Komplotte und Rebellionen nach und nach zu größerer Freiheit und Humanität zu führen.23 „Absolute Macht gibt uns völlige Freiheit zu denken und Schlüsse zu ziehen, doch sie beschränkt die Redefreiheit und die Möglichkeiten, uns in seine Angelegenheiten einzumischen.“24 Es ist das platonische Konzept der wahren Realität im Gegensatz zum trüben Abbild, das Belinski dazu bringt, die Franzosen zu verdammen, weil sie Wissenschaft, Kunst und Religion mit Politik vermischen, mit flüchtigen und veränderlichen Dingen, weil sie „alles auf die soziale Lage beziehen“ und „Wahrheiten“ verkünden, „die nur einen Tag Bestand haben“.24z Ein selbstgefälliges Vertrauen darin, dass dies die beste aller möglichen Welten sei, „dass alles sich zum Besseren wendet, da es nur das Gute gibt und das Böse eine negative Idee ist und nur um des Guten willen existiert“, ist im Glauben an die ewige Idee verankert.25 Von dieser Warte aus ist Belinski fähig, seine gebildeten Zeitgenossen dazu aufzurufen, Apostel des Lichts zu werden, zu lernen, das Wesen des Daseins zu verstehen, es Christus und den Aposteln gleichzutun, die weder Ränke schmiedeten noch politische Vereinigungen organisierten. „Und so lasst uns studieren, studieren und wieder studieren. Zum Teufel mit der Politik. Lang lebe die Wissenschaft !“26 Kümmern wir uns nur um uns selbst, lasst uns mit Hilfe des Wissens das Gute und Wahre lieben und folglich allgemeine Vollkommenheit fördern. Jeder sollte dem folgen und treu die Berufung pflegen, die ihm zugefallen ist und sich vor dem Fehler hüten zu versuchen, eine Richtung für die Menschheit festzulegen und sich in die Vorsehung einzumischen, die die Welt lenkt.26a 22a Belinskij, Polnoe sobranie, Band 11, S. 148 f. 22b Ebd., S. 149. A. d. Ü. : Vgl. auch Bowman, Vissarion Belinski, S. 95 f. 23 Ebd., S. 149; Plechanow, Historia, Band 3, S. 206–208. A. d. Ü. : Vgl. auch Bowman, Vissarion Belinski, S. 95 f. 24 Belinskij, Polnoe sobranie, Band 11, S. 150. 24z Ebd., S. 151. 25 Ebd., S. 150. 26 Ebd., S. 151. 26a Vgl. ebd., S. 153. Vgl. auch Plechanow, Historia, Band 3, S. 207 f.
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Mit all seiner Weltfrömmigkeit und dem Sinn für eine Schicksalsordnung sowie seiner Unfähigkeit, die Möglichkeit einer Welt der irrationalen Unordnung, des Chaos und Bösen zuzulassen, fällt es Belinski schwer, die schiere Abstraktheit der ewigen Idee und die Versicherung von Gottes Gerechtigkeit, die sie bietet, aufrechtzuerhalten. Wir sehen ihn bei der Anstrengung, seinem Glauben Kraft einzuflößen. Ein Jahr nach dem Brief an Iwanow schreibt er Bakunin von dem Schock, den er erfuhr, als er die wunderbare Entdeckung von Hegels Idee, Realität und Rationalität seien dasselbe, machte : Nichts „kann man aus der Realität wegnehmen, nichts daran verurteilen, nichts ver werfen“.27 Die scheinbaren Widersprüche und Gegensätze seien die unendlich verschiedenen Elemente, die das Leben ausmachten, die verschiedenen Schattierungen desselben Bildes, Facetten desselben Gebäudes. „Realität !“, ruft er aus : „Ich wiederhole dieses Wort, wenn ich aufstehe und zu Bett gehe, Tag und Nacht, und Realität umgibt mich, ich fühle sie überall und in allem, sogar in mir.“28 Welche Erklärung kann es geben für die offensichtlichen Übel, Leiden und Verletzungen überall ? „Die Realität ist ein Ungeheuer mit eisernen Krallen und eisernen Kiefern. Wer sich ihr nicht willfährig hingibt, den packt und verschlingt sie.“29 Bestand darin nicht die Gefahr für den konsequenten Idealisten, dass das Elend in der wahren Welt ihn zu einem herzlosen Zyniker oder einem Mystiker machen würde, der diesem Tal der Tränen, oder eher dieser Welt der Schatten, seinen Rücken zuwendet ?30 Sollte der Mensch sich angesichts der „unendlichen Phänomene der Realität“31 damit abfinden, die kleine Flamme seiner eigenen, begrenzten Logik zu löschen und einfach seine Pflicht tun ? Würde er nicht bald entdecken, dass er einfach den „Befehlen der Obrigkeit, die die Zivilgesellschaft ist“,32 gehorchte und irgendeine vermeintliche Pflicht erfüllte ? Kurzum : Idealisten müssen irgendwie in eine Falle laufen. Der abstrakte Moralismus solcher „schöner Seelen“ wie Friedrich Schiller und Victor Hugo ruft gleichwohl immer noch Belinskis Entrüstung her vor. In seinem Brief an Stankewitsch vom 29. September bis 8. Oktober 1839 donnert er gegen die subjektiv moralische Haltung, die entsetzliche allgemeine Idee der Verpflichtung, abstraktes Heldentum im Namen eines „abstrakten sozialen Ideals, ohne Bezug zu geographischen und historischen Entwicklungsbedingungen, in der Luft hängend [...], abstrakte Liebe [...], leere, unpersönliche, sub-
27 28 29 30 31 32
Belinskij, Polnoe sobranie, Band 11, S. 282, Brief an Bakunin vom 10.9.1838. Ebd., S. 283. Ebd., S. 285. Vgl. ebd., S. 286. Ebd., S. 318, Brief an Bakunin vom 12.–24.10.1838. Ebd., S. 285, Brief an Bakunin vom 10.9.1838.
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stanzlose Allgemeinheit ohne jegliche individuelle Ausrichtung“,33 allgemeine Liebe für die anonyme Menschheit. Letzteres zeigte persönlichen, starrsinnigen Stolz und war in Wirklichkeit eine Art Aufsässigkeit, die einen davon erlöste, irgendetwas Besonderes zu tun. Hegel lehrte Belinski, dass die ewige Idee nicht hinter der Geschichte als System reiner, rationaler Bezüge stand, von denen die Realität eine blasse Widerspiegelung war, sondern sich in der Geschichte selbst entfaltete – ihren Ideen, Institutionen, Gesetzen im historischen Prozess. Alle Werte, Vorlieben, Entscheidungen mussten daher auf die Phasen im Vormarsch der Zeit bezogen werden. Reine, ewige Prinzipien waren Abstraktionen, ja Illusionen. Und doch ist Belinski zutiefst besorgt wegen der tatsächlichen Bestimmungen der sich entfaltenden Idee und der Situation des konkreten Individuums. Belinski fasst seine Haltung zusammen : „Ich erkenne die persönliche, unabhängige Freiheit an, doch ich erkenne auch einen höheren Willen an. Die Kollision ist das Resultat eines friedlichen Zusammenpralls zwischen diesen beiden Kategorien. Deshalb ist und wird alles sein, wie es eben ist und sein wird. Wenn ich standhalte – schön und gut, wenn ich falle – ist es nicht zu verhindern. Ich bin ein Soldat Gottes : Er befiehlt, und ich marschiere. Ich habe meine eigenen Wünsche und Ziele, die Gott sich weigert zu erfüllen, so sehr ich sie auch für richtig halte : Ich murre, schwöre, dass ich ihm nicht gehorchen will, doch trotzdem gehorche ich, und oft verstehe ich nicht, wie das alles passiert. Ich habe keine Lust, in die Zukunft zu sehen; meine einzige Sorge ist, etwas zu tun, ein nützliches Mitglied der Gesellschaft zu sein.“33a Die rettende Formel fand sich wieder bei Hegel. „Eine neue Welt hat sich uns offenbart : Macht ist Recht, Recht ist Macht; nein, ich kann Dir nicht beschreiben, mit welchen Gefühlen ich diese Worte empfing – es war eine Befreiung. Ich verstand die Idee des Falls von Königreichen, die Rechtmäßigkeit von Eroberungen, ich verstand, dass es keine wilde materielle Macht gibt, es gibt keine Herrschaft des Bajonetts und Schwerts, es gibt keine Willkür, keine zufälligen Dinge – und meine mühsame Obhut über das Menschengeschlecht kam zu einem Ende. Die Bedeutung meines Vaterlandes erschien mir in einem neuen Licht. Ich nahm Abschied von den ( rebellischen ) Franzosen [...], das Wort ‚Realität‘ erhielt bei mir dieselbe Bedeutung wie ‚Gott‘.“33b Anstatt sich von der Hegel’schen Idee des Weltgeistes und dessen Gegensätzen erdrückt zu fühlen, erfährt Belinski ein Gefühl der Euphorie, die Einflößung eines Bewusstseins von Macht und Bedeutung. Als Teil des historischen Prozesses sollte man fähig sein, sich auch unter einem grauen Himmel und in 33 Ebd., S. 385 f., Brief an Stankewitsch vom 29.9.–8.10.1839. 33a Ebd., S. 316, Brief an Bakunin vom 12.–24.10.1838. 33b Ebd., S. 386 f., Brief an Stankewitsch vom 29.9.–8.10.1839.
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einer verrauchten Küche wohl zu fühlen : „Hinweg mit dem Joch der ( abstrakten ) Pflicht, zum Teufel mit dem faulen ( asketischen) Moralisieren, dem abstrakten Philosophieren : Der Mensch kann leben, alles gehört ihm, und jede Minute seines Lebens ist groß, wahrhaftig und heilig.“33c Die von Hegel gewährte Erlösung stellt sich nach einer Weile nicht als echte Befreiung heraus, sondern einmal mehr als Anerkennung und Aussöhnung mit der Notwendigkeit, als eine Akzeptanz des höheren Urteils der Geschichte, der Gesellschaft und Gottes. Wir erkennen hier wieder die grundlegend religiöse Furcht vor der Sünde des böswilligen Stolzes. „Das Individuum muss seine subjektive Individualität aufgeben, erkennen, dass sie falsch und illusorisch ist, und sich in Übereinstimmung mit dem bringen, was universell und allgemein ist, indem es erkennt, dass nur in Letzterem Wahrheit und Realität liegt.“33y Die Sünde der subjektiven Person liege darin, in ewigem Kampf mit der objektiven Welt zu liegen und daher mit der Gesellschaft, die viel kohärenter, viel reicher, viel rationaler als das Individuum sei und vorrangige Rechte vor ihm habe. „Die private [ Existenz ] ist eine Realität und keine Illusion nur in dem Grad, wie sie die Gesellschaft in sich selbst ausdrückt.“33z Wo war nun diese Gesellschaft zu finden ? Wer sprach für sie ? Darauf bietet Belinski eine erstaunliche Antwort. Man ersetze das Wort „Zar“ durch „Stalin“, und man könnte es leicht mit einer Hymne an Stalin aus den 30er oder 40er Jahren des 20. Jahrhunderts ver wechseln : „Für uns Russen“, schreibt Belinski in seinem berühmten Artikel über Shukowskis Gedicht Der Jahrestag von Borodino, „gibt es keine nationalen Ereignisse, die nicht von der lebenden Quelle der höchsten Autorität stammen. [...] Ja, in dem Wort ‚Zar‘ gibt es eine wunderbare Verschmelzung des Bewusstseins des russischen Volkes, für welches dieses Wort voller Poesie und geheimnisvoller Bedeutung ist. Und das ist kein Zufall, sondern die strikteste, höchst rationale Notwendigkeit, offenbart in der Geschichte des russischen Volkes. [...] Im Zaren liegt unsere Freiheit, denn aus ihm wird unsere neue Zivilisation her vorgehen, unsere Aufklärung, genauso wie er es ist, aus dem wir unser Leben beziehen. [...] Uneingeschränkte Unter werfung unter die zaristische Autorität ist nicht nur nützlich und notwendig für uns, sondern es ist die höchste Poesie unseres Lebens – unsere Nationalität, wenn mit dem Wort ‚Nationalität‘ der Akt des Verschmelzens besonderer Individualitäten zu einem allgemeinen Bewusstsein von der Persönlichkeit und dem Selbstsein des Staates verstanden werden soll.“33d
33c 33y 33z 33d
Ebd., S. 388. Bowman, Vissarion Belinski, S. 114. Ebd., 118. Ebd., S. 113 f.
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3. Die Erziehung eines Rebellen Belinski benötigte nicht lange, um entsetzt zu sein über seine „Versöhnung mit der gemeinen Realität, mit allem Fanatismus der leidenschaftlichen Überzeugung“. Die Abscheu vor jener Hymne an den Zarismus in der Person Nikolaus I. trieb Belinski in den jakobinischen Radikalismus und schließlich in den revolutionären Sozialismus. Was führte zu dieser Kehrtwende ? Nach eigenem Bekunden war Belinski schließlich die entscheidende Bedeutung des Elements der Negation im Hegel’schen Geschichtsschema klar geworden. Plechanow scheint Recht zu haben, wenn er her vorhebt, dass Belinski nicht genug historischer oder materialistischer Dialektiker war, um sich den Unterschied klarzumachen zwischen dem Element der Negation, das dem Verlauf der Geschichte innewohnt und einen Teil ihrer ureigenen Rationalität bildet, und dem Heranwachsen einer negierenden Haltung unter den aufgeklärten Beobachtern, die begabt waren mit rationaler Intuition und der phantasievollen Einsicht in die Tatsache des Verfalls der alten Formen sowie der Notwendigkeit und Möglichkeit, sie durch neue Alternativen zu ersetzen. Die Langsamkeit des Wandels in einem statischen, festgefrorenen Russland war nicht förderlich, um die Dialektik des geschichtlichen Wandels zu verstehen. Doch vor allem war es Belinskis tiefe leidenschaftliche Sorge um die Menschenwürde, sein grenzenloses Mitleid mit den Leidenden – bis hin zu dem Punkt, dass er sich schuldig fühlte, weil er es nicht mit den Heimgesuchten teilen konnte –, die ihn davon abhielt, die russische Realität seiner Tage zu akzeptieren. Despotische Willkür, hartherzige Unmenschlichkeit und das Miteinander von sadistischer Tyrannei und hinterlistiger Unter würfigkeit machten ihn wütend. Er wurde langsam dazu getrieben, die Unvermeidbarkeit der totalen Polarisierung zu verkünden : „Liberal und Mensch sein“ bedeuten „für mich ein und dasselbe, ebenso wie Absolutist und Knutenregime“.34 Es gab keinen Mittelweg. Leiden, Entbehrung, die Verletzung des lebenden Individuums, dessen Herz schlug, gewannen für ihn eine weitaus größere Realität als alle abstrakten Universalien. Er kam zu dem Schluss, dass Hegel „die Erscheinungen des Lebens zu Schatten gemacht hat, die einander an den Knochenhänden halten und in der Luft über einem Kirchhof ihren Reigen tanzen“.34z Er machte daraus Prädikate von Ideen, Entwicklungen, Gesetzen der Geschichte, grandiosen Zwangsläufigkeiten, tiefreichenden Kräften. Das „Schicksal des Subjekts, des Individuums“ sollte niemals als Prädikat, sondern immer als Subjekt behan34 Belinski, Ausgewählte philosophische Schriften, S. XXV. 34z Ebd., S. 169, Brief an Botkin vom 1.3.1841.
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delt werden; es „ist wichtiger als die Geschicke der ganzen Welt und die Gesundheit des Kaisers von China“.35 Belinski fragt Hegel nach einer Rechtfertigung für all die Opfer des Lebens und der Geschichte. Wurden nicht alle Opfer des Bösen und des Aberglaubens immer als notwendiger Preis für die Erfüllung großer Pläne hingestellt ? „Man sagt, die Disharmonie sei eine Bedingung der Harmonie : Das mag vielleicht sehr vorteilhaft und erquickend für Melomanen sein, aber ganz gewiß nicht für diejenigen, die dazu verurteilt sind, durch ihr Geschick die Idee der Disharmonie zum Ausdruck zu bringen.“36 Die Vorstellung von hinausgeschobenen Harmonien erlaubte es preußischen Hofräten und deutschen Bier trinkenden Philistern, sich in blasierter Selbstzufriedenheit zu sonnen, in gefühlloser Missachtung der tatsächlich Leidenden auf ihrer Türschwelle. „Was habe ich von der Überzeugung, daß die Vernünftigkeit triumphieren und daß es in Zukunft gut und schön sein wird, wenn das Schicksal mich dazu verurteilt hat, Zeuge des Triumphs der Zufälligkeit, des Unverstands, der tierischen Kraft zu sein ? Was habe ich davon, daß es meine und Deine Kinder gut haben werden, wenn ich es schlecht habe und wenn es nicht meine Schuld ist, daß es mir schlecht geht ? [...] Worte, Worte!“37 Belinski wird sich der Tatsache grundlegender Ungleichheit und folglich der – in seinen Augen – Ungerechtigkeit sehr bewusst, die der Vorstellung einer höheren Sphäre reiner und hoher Ideen, die den überlegenen Menschen vorbehalten sind, innewohnt. „Was habe ich davon, daß das Allgemeine lebt, wenn die Person leidet [...], daß das irdische Genie im Himmel lebt, wenn die Menge sich im Dreck wälzt ? Was habe ich davon, daß ich die Idee verstehe, daß mir die Welt der Ideen in der Kunst, in der Religion, in der Geschichte offensteht, wenn ich dies mit niemandem von denen teilen kann, die meine Brüder in der Menschlichkeit, meine Nächsten in Christo sein sollten, die mir aber wegen ihrer Ignoranz fremd und feind sind ? Was habe ich davon, daß es für die Auser wählten Seligkeit gibt, wenn die Mehrheit nicht einmal eine Ahnung von deren Möglichkeit hat ? Fort mit der Seligkeit, wenn sie nur mir als einem von Tausenden zuteil wird. Ich will nichts von ihr wissen, wenn ich sie nicht mit meinen geringeren Brüdern gemein habe ! [...] Trauer, schwere Trauer überfällt mich, wenn ich die barfüßigen Jungen sehe, die auf der Straße Knöchel spielen, oder einen abgerissenen Bettler oder einen betrunkenen Kutscher oder einen Soldaten [...], oder einen Beamten, der mit der Aktentasche unterm Arm angelaufen kommt, oder einen selbstzufriedenen Offizier oder einen hochmütigen Würdenträger. [...] Und hat danach der Mensch das Recht, sich in der
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Ebd., S. 170, Brief an Botkin vom 1.3.1841. Ebd. Ebd., S. 171.
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Kunst, im Wissen zu vergessen ! [...] Und diese auf vernünftigen Prinzipien bestehende Gesellschaft ist eine Erscheinung der Wirklichkeit !“38 Belinski spricht hier ein Problem an, welches das russische Denken das gesamte 19. Jahrhundert quälte und auf das wir in Kürze zurückkommen : Ist das Böse ein Preis, der für Kultur entrichtet werden muss ? Und was, wenn Kultur nicht ohne Ungerechtigkeit gegenüber den Vielen und ohne die Billigung des Egoismus der wenigen Privilegierten erreicht werden kann ? Je mehr er über den Anblick menschlicher Entwürdigung brütet, desto intensiver wird seine Beschäftigung mit dem Problem der Menschenwürde, der menschlichen Persönlichkeit, kurzum : des Individuums. „Ich verfluche mein abscheuliches Streben, mich mit einer abscheulichen Realität zu versöhnen ! Lang lebe der große Schiller, edler Anwalt der Menschheit, heller Stern der Rettung, der Emanzipation der Menschheit von den blutigen Vorurteilen der alten Mythen! [...] Für mich steht die menschliche Persönlichkeit nun über der Geschichte, über der Gesellschaft, über der Menschheit. [...] Ich bin mittler weile völlig in die Idee der Würde des menschlichen Individuums und seines bitteren Loses vertieft – ein schrecklicher Widerspruch !“39 Doch diese Entschlossenheit, sich im „Kampf gegen das Tatsächliche“ statt in einer „Versöhnung mit der Realität“ zu engagieren, eröffnet eine neue Dialektik mit weitreichenden Konsequenzen. Die Heiligkeit der unabhängigen menschlichen Persönlichkeit implizierte Gleichheit. „Die Menschen sollen Brüder sein.“ Und was, wenn sie aus ihrer Per vertiertheit, ihrem Egoismus oder ihrer Trägheit heraus in ihrer Getrenntheit verharren wollten, in die sie die Natur, die Gewohnheit oder die Umstände, ganz zu schweigen von dem ererbten Privileg und außergewöhnlichem Talent, versetzt haben ? „In mir ist solch eine wilde, wütende, fanatische Liebe zur Freiheit und Unabhängigkeit der menschlichen Persönlichkeit zur Entwicklung gekommen [...]. Ich verstand auch die blutige Freiheitsliebe Marats, seinen blutigen Haß gegen alles, was sich von der Verbrüderung mit der Menschheit absondern wollte [...]. Ich beginne die Menschheit nach der Art Marats zu lieben : um ihren kleinsten Teil glücklich zu machen, würde ich, glaube ich, den ganzen Rest mit Feuer und Schwert austilgen.“40 In seinem Wunsch, einen Weg aus seinem Dilemma aus Zielen und Mitteln zu finden, entdeckt Belinski den Sozialismus, insbesondere die utopische Variante. Der Sozialismus ist „für mich zur Idee der Ideen, zum Sein des Seins, zur Frage der Fragen, zum A und O des Glaubens und des Wissens geworden 38 39 40
Ebd., S. 185 f., Brief an Botkin vom 8.9.1841. Belinskij, Polnoe sobranie, Band 11, S. 556, 558, Brief an Botkin vom 4.10.1840. Belinski, Ausgewählte philosophische Schriften, S. 178 f., Brief an Botkin vom 27.– 28. 6. 1841.
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[...]. Sie ist die Frage und die Antwort auf die Frage. Sie hat ( für mich ) sowohl die Geschichte als auch die Religion und die Philosophie verschlungen. Und deshalb ist sie für mich jetzt die Erklärung meines Lebens, Deines Lebens und des Lebens aller, denen ich auf dem Wege des Lebens begegnet bin.“41 Das ist Belinskis neue Religion – nach Platon, Schelling, Hegel –, die wie alle Religionen keine Unterscheidung zwischen Theorie und Praxis, Lehre und Handlungsweise dulden will. Es bleibt die Dichotomie von Zielen und Mitteln, das Postulat der totalen Harmonie und die Notwendigkeit eines gewaltsamen Durchbruchs. In seinem Brief an Botkin vom 8. September 1841 träumt Belinski von einer Gesellschaft ohne Guillotine und Schandpfahl. Kriminelle würden einfach um eine Strafe flehen. Güte würde so spontan werden, dass das Wort „Pflicht“ einfach verschwände. Verträge wären nicht notwendig. Der „Wille“ wird „nicht einem Willen weichen [...], sondern nur der Liebe“.42 Getreu den saint - simonistischen Prophezeiungen wird es keine Ehemänner und - frauen geben, die Rechte aufeinander geltend machen, sondern Liebende, die dem Diktat des Herzens folgen. „Es wird keine Reichen geben und keine Armen und auch keine Zaren und Untertanen, sondern [ sie werden ] Brüder [...] sein [...] in einem neuen Himmel und über einer neuen Erde.“ Es wird nicht „das unbewußte, tierische Goldene Zeitalter von einst, sondern eines, das durch die Gesellschaft, durch die Gesetze, durch die Ehe [...] vorbereitet ist“.42z „Vernunft und Bewußtsein – das macht die Würde und die Seligkeit des Menschen aus.“43 Doch es wäre lächerlich zu denken, dass dies irgendwann von selbst zustande kommen könnte, „ohne gewaltsame Umwälzung, ohne Blutvergießen. Die Menschen sind so dumm, daß man sie mit Gewalt zum Glücke führen muß. Und was bedeutet auch das Blut von Tausenden im Vergleiche zur Erniedrigung und den Leiden von Millionen. [...] Ich hatte immer geglaubt, dass ich die Revolution verstehe [...], ich beginne sie erst zu verstehen. Es ist das Beste, was die Menschen vollbringen werden. Eine große Nation sind die Franzosen.“44 Belinski erweist sich so als entschlossener Revolutionär : „Die Negation ist mein Gott“, und seine Helden sind Luther, Voltaire, die Enzyklopädisten, die Terroristen, Byron, Béranger und Schiller – „der allerchristlichste Poet, ein Lieblingsjünger Christi!“45 In seinem Essay über ein Textbook of Universal History von Frederic Lorenz verankert Belinski seine Vision fest mit seiner Vision eines Musters histori41 42 42z 43 44 45
Ebd., S. 181, Brief an Botkin vom 8.9.1841. Ebd., S. 187. Ebd. Ebd., S. 189. Ebd., S. 188. Ebd., S. 186, 189.
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scher Unvermeidlichkeit : Der „gegenwärtige Zustand der Menschheit ist das unvermeidliche Ergebnis einer rationalen Entwicklung, und auf der Basis des gegenwärtigen Standes ist es möglich, eine Hypothese über seinen künftigen Stand aufzustellen, dass das Licht die Dunkelheit besiegen wird, dass die Vernunft das Vorurteil über wältigen wird, dass das freie Bewusstsein aus den Menschen Brüder im Geiste machen wird und dass ein neuer Himmel und eine neue Erde entstehen werden“.46
4. Ein Nest von Revolutionären Als er über seine spirituelle Pilgerschaft nachdenkt, über die schwankende Entwicklung seiner Ideen, seine Unschlüssigkeit, den wilden Enthusiasmus und seine entsetzlichen Umschwünge, seine Unentschlossenheit und Gefühle der Leere und Unzulänglichkeit, kurzum : die Entfremdung und Sehnsucht nach Erlösung, beginnt Belinski, seine eigene Erfahrung zu verallgemeinern und sie als Beispiel für die missliche Lage seiner Generation zu sehen; oder vielmehr für die jener kleinen Gruppe idealistischer Intellektueller – des Kreises um Stankewitsch –, welche die Elite der Jugend Russlands jener Zeit umfasste : „Ja, in unserer Generation sind die Juden, die in der Wildnis wandern, dazu verdammt, niemals das gelobte Land zu sehen.“47 In einem Brief an Botkin vom 27./28. Juni 1841 schreibt Belinski : „Deshalb halten wir Maulaffen feil, hasten wir überall herum, sind immer geschäftig, interessieren uns für alles, ohne uns an irgend etwas zu heften.“48 Das kam von der Inaktivität, vom fehlenden Raum für Aktivitäten, der nur von der „Substanz des sozialen Lebens“ gestellt werden kann. Doch „wir sind Menschen ohne Land [...], schlimmer noch [...], deren Land ein Gespenst ist“. Ihr Leben, ihre Erwartungen, Tätigkeiten, Lieb - und Freundschaften mussten zwangsweise einen gespenstischen Charakter annehmen. Die Schuld lag nicht bei den Menschen, nicht in ihrer Natur, sondern in der „wahrhaft tragischen Lage der Unordnung in der russischen Gesellschaft“, welche die Seelen der Menschen verdrehte, sie der unüberlegten Unmittelbarkeit beraubte, sie mit Zögern und Zweifel anfüllte. „Die Erziehung hat uns der Religion beraubt, die Lebensumstände [...] ließen eine anständige Bildung nicht zu [...], wir stehen im Konflikt mit der Realität, wir hassen und verachten sie zu Recht, genau so wie die Realität mit Fug und Recht uns hasst und verachtet.“49 46 47 48 49
Belinskij, Polnoe sobranie, Band 6, S. 96. Ebd., Band 11, S. 528, Brief an Botkin vom 13.6.1841. Belinski, Ausgewählte philosophische Schriften, S. 175, Brief an Botkin vom 27.– 28. 6. 1841. Belinskij, Polnoe sobranie, Band 11, S. 527, Brief an Botkin vom 13.6.1840.
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Als er von sich selbst spricht, beklagt sich Belinski : „In welchem Hin und Her ist meine Entwicklung vorangeschritten, welch furchtbaren Preis habe ich dafür bezahlt, die Wahrheit zu entdecken, und zwar jene bittere Wahrheit, dass alles in der Welt, besonders um uns herum, Niederträchtigkeit ist“,50 während die Fanatiker dieses Kreises vor Ideen und Empfindungen überflossen, für die die Gesellschaft weder Kanäle noch Formen bot. Daher ihr ungestillter Durst, ihre übertriebenen Erwartungen an das Leben und ihre idealistische Begeisterung für das Opfer, doch auch ihre Unzulänglichkeit als Ehemänner und Väter.51 Die Freundschaften innerhalb des Zirkels schmorten im eigenen Saft, es fehlte ihnen der Stimulus von außerhalb : „Oh, wenn es das Öl äußerer gesellschaftlicher Interessen fände !“52 Das ist der Knackpunkt an der Sache – „diese gewaltsame Aussöhnung mit der abscheulichen russischen Wirklichkeit, diesem Chinesenreich mit seinem tierisch - materiellen Leben, seiner Vorliebe für Rang, Orden und Geld, seiner Bestechlichkeit, Irreligiosität, Lasterhaftigkeit, mit diesem Reich ohne jede geistigen Interessen, wo schamlose und unverschämte Dummheit, Mittelmäßigkeit und Talentlosigkeit triumphieren – wo alles, was menschlich, auch nur ein wenig klug, edel und begabt ist, zu Unterdrückung und Leiden verurteilt ist, wo die Zensur sich in ein Militärreglement über weggelaufene Rekruten ver wandelt hat“,53 während die Edlen und Talentierten in beschämender Trägheit „auf einer einsamen Insel leben“.54 Belinski und seine Freunde fühlen sich als Fremde im eigenen Land. „Aber sind wir Russen ?“, fragt er. „Nein, die Gesellschaft betrachtet uns als krankhafte Auswüchse an ihrem Körper; und wir betrachten die Gesellschaft als einen Haufen stinkenden Mists“,55 ohne eine Spur jenes Ver wandtschaftsgefühls, das völlig Fremde an eine Gemeinschaft bindet, die Despotismus bekämpft, für die Menschenrechte eintritt, um Brot kämpft oder in Erwartung einer spirituellen Erfahrung zusammenkommt. Besitzt Russland überhaupt eine nationale Kultur, einen nationalen Geist ? Belinski befindet sich in einer ambivalenten Lage. Während Peter der Große Russland für den Westen geöffnet und dabei enorme geistige Potentiale freigesetzt hatte, die in der russischen Seele verschlossen waren – die bei Puschkin zu so wunderbarer Blüte gelangten –, hatte er auch die furchtbare sozial kulturelle Spaltung in der Nation her vorgerufen, die sie einer nationalen Iden50 51 52 53 54 55
Ebd., S. 577, Brief an Botkin vom 10.–11.12.1840. Vgl. Belinski, Ausgewählte philosophische Schriften, S. 180–190, Brief an Botkin vom 8. 9. 1841. Ebd., S. 184. Ebd., S. XXIV. Belinskij, Polnoe sobranie, Band 11, S. 527, Brief an Botkin vom 13.6.1840. Belinski, Ausgewählte philosophische Schriften, S. 181, Brief an Botkin vom 8.9.1841.
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tität beraubte und einen Abgrund zwischen einer ver westlichten Elite und einer halbasiatischen, ungebildeten Masse schuf. „Meine Liebe für alles, was einheimisch russisch ist, ist trauriger geworden; das ist nicht länger der Enthusiasmus der schönen Seele, sondern ein Gefühl der Qual. Alles, was in unserer Nation von Substanz ist, ist groß, erhaben, doch die Formen sind armselig, schmutzig und niedrig.“56 Die russische Nation war noch nicht zu ihrem Recht gekommen. Despotismus auf der einen Seite und furchtbare Klassenschranken auf der anderen verhinderten seine Selbstdarstellung als Nation, führten zu seiner Entfernung von Europa und verzögerten so für lange Zeit seinen Eintritt in die Familie der Nationen und in die Hauptströmung des schöpferischen Bemühens der Menschheit. Belinskis erstaunlicher Umschwung von einer Schelling - Hegel’schen Versöhnung mit der existierenden Realität, der Verherrlichung des Zarismus und der Zustimmung zu Leibeigenschaft und Zensur hin zum extrem - terroristischen Revoluzzertum à la Marat wurde nicht nur durch ein erwachtes Bewusstsein des schreienden menschlichen Elends in einer grundlegend ungerechten Gesellschaft, sondern auch durch seine Annahme der Hegel’schen Idee der Negation als Teil der sich entwickelnden Rationalität des Weltgeistes ermöglicht.
5. „Die Algebra der Revolution“ Es war dieses Konzept der Negation, das Herzen in Erlebtes und Gedachtes dazu veranlasste, Hegels Philosophie „die Algebra der Revolution“57 zu nennen. Dieser Kunstgriff ist die verborgene Botschaft in Herzens berühmtem Essay Der Dilettantismus in der Wissenschaft.58 Wenn das Traktat ohne Kenntnis der wahren Absicht des Verfassers gelesen wird, mag es wie ein trockenes und fades 56 57
58
Belinskij, Polnoe sobranie, Band 11, S. 529, Brief an Botkin vom 13.6.1840. Herzen, Erlebtes und Gedachtes; Gercen, Sobranie, Band 9, S. 23; Herzen, My Past and Thoughts, Band 2, S. 403. Zusätzlich und neben der russischen Ausgabe der Gesammelten Werke, auf die im Folgenden als „Gercen, Sobranie“ hingewiesen wird, wurde die englische Ausgabe von Herzens Selected Philosophical Works ( als „Herzen, Selected“ zitiert ) ver wendet, sowie die ausgezeichnete polnische Version der von Andrzej Walicki herausgegebenen Philosophischen Werke ( als „Herzen, Pisma“ zitiert). Die am meisten ver wendeten Studien waren die polnische Übersetzung von Plechanow, History of Russian Social Thought ( Plechanow, Historia ); Berlin, Russische Denker; Malia, Alexander Herzen; Lampert, Studies in Rebellion; Venturi, Roots of Revolution; Walicki, Rosyjska filozofia i myśl społeczna. Gercen, Sobranie, Band 3, S. 5–88; ders., Selected, S. 15–96; ders., Der Dilettantismus in der Wissenschaft.
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Stück Philosophie erscheinen. Auf der einen Seite handelt es von den Unzulänglichkeiten der Überspezialisierung und dem Bedürfnis nach einem umfassenden Blick auf das intellektuelle Bestreben der Menschheit. Auf der anderen Seite enthält es eine Verdammung der Sterilität der buddhistischen Versenkung in das Abstrakte, Allgemeine und Formlose. Es predigt die Notwendigkeit, wissenschaftliche Entdeckungen in Handlungen umzusetzen, im Licht der klar umrissenen Richtung, in die sie beide – als Bestandteile einer unteilbaren Ganzheit – führen. Die Idee, dass Negation nicht nur zersetzend und zerstörend war, sondern eine Bedingung für konstruktiveren Fortschritt, und die Bekräftigung der Bedeutung von Opposition, Unzufriedenheit, Widerspruch und Konflikt als Instrumente des progressiven Wandels war tatsächlich eine Antwort auf die reaktionäre, konterrevolutionäre Verherrlichung von Glauben und Tradition als Säulen der Stabilität, Kontinuität und des sozialen Zusammenhalts. Im Grunde war es eine Debatte über die Bedeutung der Französischen Revolution, verallgemeinernd angewendet auf das Phänomen der Revolution in der Geschichte. Hegels Philosophie, schrieb Herzen, „befreit den Menschen in einem außerordentlichen Maß und lässt von der christlichen Welt keinen Stein auf dem anderen, einer Welt der Mythen, die sich selbst überlebt haben“.59 Die Frage reduzierte sich für Herzen auf „entweder Christentum und Monarchie oder Wissenschaft und Republik“60 – eine Formel, die er 1842 in den Deutschen Jahrbüchern gefunden hatte, in einem anonymen Artikel Bakunins, der kurz zuvor den Dienst quittiert und seine Karriere als stürmischster revolutionärer Verschwörer des 19. Jahrhunderts begonnen hatte.61 Die Kräfte von Zweifel, Kritik, Protest, Rebellion, ja die offensichtlichen Disharmonien und schädlichen Unzulänglichkeiten waren nicht einfach bösartige Wucherungen, Störungen einer etablierten Ordnung, sondern Teil des rationalen Musters der Geschichte, das keineswegs eine Emanation der transzendentalen Gottheit oder die unklare Imitation einer abstrakten universellen Idee und ihrer reinen Formen war. Diese Übel zeigten, dass die existierenden Formen ausgedient hatten, zu Ketten anstatt zu Werkzeugen der Freiheit und Entwicklung geworden waren, und dass neue Formen darum kämpften, auszubrechen und die Realität in Übereinstimmung mit den veränderten Bedürfnissen neu zu gestalten.62
59 60 61 62
Gercen, Sobranie, Band 9, S. 23; ders., My Past and Thoughts, Band 2, S. 403. Herzen, Pisma, Band 2, S. 643 : Tagebucheintrag vom 15. 8. 1842; Malia, Alexander Herzen, S. 254. Vgl. Carr, Michael Bakunin, S. 76–85; Pirumova, Mikhail Bakunin, S. 21. Vgl. Plechanow, Historia, Band 3, S. 235, 420–427, 424, 430.
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Herzen interpretiert historische Dialektik immer noch im Sinne von wechselndem und reifendem Bewusstsein, von Verständnis, und nicht von sozial ökonomischer Entwicklung. Doch es war nicht nur – wie Plechanow es wollte – der stagnierende Zustand der vorindustriellen russischen Gesellschaft, dem es nicht gelang, Belinski und Herzen den mar xistischen Typ des Bewusstseins von unpersönlichem, materiellem sozialen Wandel zu vermitteln. Was sich am meisten auf Herzens Bewusstsein auswirkte und ihn mit Wut erfüllte, war die ungeheuerliche Lüge hinter der Behauptung des Regimes, dass es die soziale Stabilität gegen solch „anarchische“ Kräfte wie das individuelle Urteil und das analytische Denken schützte. Tatsächlich war unter Nikolaus I. der Obskurantismus in solchem Umfang zur offiziellen Politik geworden, dass die Lehre der Philosophie an die Universitäten verbannt und Kinder der unteren Ränge selbst von elementarer Bildung ausgeschlossen wurden. Unter Nikolaus I., sagt S. M. Solowjow, hörte die Bildung auf, als Wert angesehen zu werden, und wurde zum Verbrechen.63 „Die christliche Lehre“, schrieb der berühmte Reformminister Speranski im Jahre 1816 in einem Brief an Alexander I., „sollte die Grundlage nicht nur für die soziale Ordnung, sondern mehr noch für die Bildung darstellen“.64 Das Ministerium für Volksbildung verschmolz folglich mit dem für kirchliche Angelegenheiten, damit „die christliche Frömmigkeit immer die Grundlage der wahren Bildung liefern möge“ und „eine andauernde und gesegnete Harmonie zwischen Glauben, Wissen und Autorität“ herbeigeführt werden könne.65 „Ich weiß, was diese Liberalen, Journalisten und ihre Komplizen wollen“, erklärt Graf Uwarow, Minister unter Nikolaus I. „Sie werden es nicht schaffen, ihr Saatgut in das Feld einzubringen, über das ich wache. [...] Wenn ich Erfolg darin hätte, Russland fünfzig Jahre zurückzuversetzen, hätte ich das Gefühl, meine Pflicht erfüllt zu haben und könnte in Frieden sterben.“66 Hinter diesen Worten stand eher Panik als robuste Selbstsicherheit, eher Fatalismus als tiefer Glaube, eher ein verzweifeltes Bemühen, den bösen Tag hinauszuschieben, als ein triumphierendes Gefühl felsenfester Überlegenheit. Der Minister war unfähig, innezuhalten und sich zu fragen, ob solch eine repressive Leidenschaft für die Abwehr von Gefahren nicht etwa darauf hinauslief, sich als sich selbst erfüllende Prophezeiung zu erweisen, indem die Unterdrückten eher zur Rebellion getrieben würden, als er befürchtete. In den 1830er Jahren machte sich Uwarow in seinem offiziellen Organ Zeitschrift des Ministeriums für Volksbildung gegen die Philosophie stark. In der Aus63 64 65 66
Vgl. Greenberg, The Jews in Russia, Band 1, S. 34. Ebd., S. 31 f. Ebd., S. 32. Ebd., S. 35.
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gabe vom Januar 1836 wird das heute längst vergessene Buch eines längst vergessenen Autors, das Hegels Philosophie mit der christlichen Philosophie verglich, überschwänglich gelobt, weil es „die antichristliche Tendenz bei Hegel, trotz seines Versuchs, sie hinter einer obskuren Logik zu verbergen, zum Vorschein bringt“. Die deutsche Philosophie als Ganzes wird in der Märzausgabe desselben Jahres verurteilt : „Sie hat viel Böses verursacht, viele Gemüter in den Irrtum geführt, und es ist an der Zeit, sie loszuwerden.“ Kant wird in die Pflicht genommen, weil er Gott vom Menschen und damit den Menschen von Gott entfernt habe. „Seine Moral befriedigt die wesentlichen Bedürfnisse des Herzens nicht.“66z Wie konnte ein junger, wacher Geist wie Herzen im Lichte seiner eigenen Erfahrungen auf solche Appelle reagieren ? Er wurde im Juli 1834 ins Gefängnis geworfen, dort für fast ein Jahr ohne Prozess oder legale Verteidigung festgehalten und dann für über fünf Jahre ins Exil geschickt. Er wurde dafür bestraft, dass er mit jungen Männern voller bösartiger Ideen verkehrte, welche die Marseillaise sangen, und weil er in seiner privaten Korrespondenz rebellische Gedanken zum Ausdruck brachte. Die Angelegenheit war vom Chef der politischen Polizei ( der Dritten Sektion ), Graf Benckendorf, direkt vor den Zaren gebracht worden. Herzen hatte sich nach seiner Begnadigung 1840 kaum als Regierungsbeamter in St. Petersburg niedergelassen, als er wieder ins Exil geschickt wurde, weil er seinem Vater in einem Privatschreiben etwas Klatsch mitgeteilt und der Beschreibung eines trivialen Ereignisses – eines von einem Polizisten ausgeübten Überfalls auf einen Händler – die Bemerkung „und so ist unsere Polizei“ hinzugefügt hatte. Dies ging wieder direkt auf den Zaren zurück, der nicht auf die Proteste seines Ministers, er möge einlenken, hören wollte. Wenn der Fall erst einmal vor den Zaren gekommen war und dieser ein Machtwort gesprochen hatte, gab es nichts, was die Minister tun konnten, wie sie Herzen reumütig und sich rechtfertigend erklärten. In Nowograd, dem letzten Ort seines Exils, bekam Herzen die Obhut über Fälle von Staatsverbrechern und Exilanten; mit anderen Worten : Er sollte über sich selbst berichten. Kein Wunder, dass er nicht nur auf willkürlichen Despotismus, sondern auch und vor allem auf die Heuchelei und jenen Mumpitz einen unerbittlichen Hass entwickelte, der meinte, das Individuum solle seine Prägung und seine Erfüllung im Schöpfergeist, der Geschichte und dem Schicksal der Nation finden, ja in jeder Art von kollektivem Ethos und Bemühen.67 „Die Freiheit der Person ist eine höchst wichtige Sache; auf ihr – und nur auf ihr – kann die wirkliche Freiheit des Volkes erwachsen. [...] Bei uns 66z A. d. Ü. : Zitatnachweise fehlen bzw. sind nicht möglich. 67 Vgl. Herzen, My Past and Thoughts, Band 1, Teil 2, S. 159–220; Band 2, Teil 4, S. 426–469.
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war die Einzelperson stets unterdrückt, verschwand in der Menge, bemühte sich nicht einmal, her vorzutreten. Das freie Wort wurde bei uns stets als Dreistigkeit, Originalität – als Rebellion betrachtet; der Mensch verschwand im Staate, löste sich in der Gemeinde auf. Die Umwälzung unter Peter I. setzte an die Stelle der veralteten gutsherrlichen Ver waltung Rußlands die europäische Kanzleiordnung; alles, was sich aus schwedischen und deutschen Gesetzbüchern abschreiben; alles, was sich aus dem munizipal - freien Holland in das dorfgemeindlich - autokratische Land herübernehmen ließ, wurde übernommen; aber die ungeschriebene, die Behörden moralisch im Zaum haltende, instinkthafte Anerkennung des Rechts der Einzelperson, des Rechts auf Gedanken und Wahrheit konnte nicht mit herüberkommen und kam nicht mit herüber.“68 Bedeutete Herzens nachhallender cri du cœur eine Zurückweisung seines Landes und aller seiner Leistungen in Vergangenheit und Zukunft ? Eigentlich nicht. Eines seiner Ziele war die slawophile Doktrin der Einzigartigkeit Russlands und dessen Verurteilung des Westens. Herzen sah darin einen trahison des clercs, wenn nicht gar eine beabsichtigte Rechtfertigung des Zarenregimes, eine Stütze für dessen Slogan „Orthodoxie, Autokratie, Nationalität“. In Herzens Sicht isolierte der slawophile Patriotismus Russland von der Entwicklung der Menschheit, die vom Westen angeführt wurde. „Der Slawophilismus trägt jeden Tag seine üppigen Früchte; der offene Hass auf den Westen ist offener Hass auf den ganzen Prozess der Entwicklung des menschlichen Geschlechts; denn der Westen als Erbe der antiken Welt, als Ergebnis der gesamten Entwicklung und der Gesamtheit aller Entwicklungen, ist die Vergangenheit und Gegenwart der Menschheit.“ Mit „Hass und Geringschätzung des Westens gehen Hass und Geringschätzung der Gedankenfreiheit, aller Garantien ( der Rechte des Einzelnen ), aller Zivilisation einher. Somit stellen sich die Slawophilen freimütig auf die Seite der Regierung.“69
6. Russland : die Nation als Messias Sowohl das Konzept der Einheit der Geschichte als auch die Liebe zur Heimat ließen Herzen, wie auch Belinski, vor dem Sektierertum zurückschrecken. Nur durch den Anschluss an die Familie der Nationen war es Russland bestimmt, eine große Nation zu werden und seine immensen Möglichkeiten zu entfalten. Anderenfalls wäre das Land dazu verdammt, nicht nur ein halbasiatischer, stag68 69
Herzen, Vom anderen Ufer, S. 48, 50; ders., Sobranie, Band 6, S. 14 f. Malia, Alexander Herzen, S. 305; Gercen, Sobranie, Band 2, S. 240; Plechanow, Historia, Band 3, S. 319 f.
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nierender Zusammenschluss, sondern auch weiterhin eine despotische, in Kasten unterteilte Gesellschaft ohne gemeinsame nationale Identität zu bleiben. Dies war für Herzen keine Angelegenheit reiner Spekulation, sondern wegen seiner messianischen Erwartung eines unmittelbar bevorstehenden Wandels im Leben der europäischen Nationen eine von unbedingter Dringlichkeit. Der Dilettantismus in der Wissenschaft stand im Einklang mit einem messianischen Glauben an die bevorstehende Verwirklichung „der wirklichen Einheit von Wissenschaft und Leben, von Wort und Tat“,70 der Inthronisierung der zum vollen menschlichen Selbstbewusstsein gereiften Vernunft. Wer war aufgerufen, diese Aufgabe zu schultern, als Führer und Retter der Menschheit zu dienen ? Die beiden offensichtlichen Kandidaten waren Frankreich und Deutschland. Doch trotz seiner Heldenrolle im Freiheitskampf auf der Grundlage von Annahmen, die den von der deutschen Wissenschaft proklamierten ähnelten, verstand es Frankreich nicht, „sie in die allgemeine Sprache der Wissenschaft zu übertragen, ebenso wenig wie Deutschland es versteht, die Logik der Sprache des Lebens zu wiederholen“.71 Der Leser staunt an dieser Stelle über einen recht uner wartet vorgeschlagenen Kandidaten. „Andrerseits tut sich hier vielleicht die große Mission für uns auf, unser nördliches Scherf lein in die Schatzkammer des menschlichen Verstehens zu legen; vielleicht werden wir, die wir in der Vergangenheit wenig gelebt haben, zu den Vertretern der wirklichen Einheit von Wissenschaft und Leben, von Wort und Tat werden. In der Geschichte fallen denen, die spät kommen, nicht die Knochen, sondern die saftigen Früchte zu. Wirklich, es gibt in unserm Charakter etwas, was die beste Seite der Franzosen mit der besten Seite der germanischen Völker verbindet. Wir sind unvergleichlich mehr zu wissenschaftlichem Denken befähigt als die Franzosen, und das spießerhaft - philiströse Leben der Deutschen ist für uns etwas entschieden Unmögliches; wir haben ein gewisses ‚gentlemanlike‘, was grade den Deutschen fehlt, und auf unsrer Stirn wird die Spur eines erhabenen Gedankens sichtbar, der auf der Stirn des Franzosen sich nicht so recht konzentrieren will.“72 Sollte man in diese erstaunlich prophetische Äußerung Gefühle eines russischen Nationalismus oder eines besonderen russischen Messianismus hineininterpretieren ? Revolutionäre Schriftsteller anderer Nationen meldeten – wie wir wissen – für ihre eigenen Nationen ähnliche Ansprüche an. Die Franzosen priesen ihre Vorreiterrolle in der Französischen Revolution. Die Deutschen
70 71 72
Herzen, Der Dilettantismus in der Wissenschaft, S. 85; ders., Selected, S. 80 f.; Plechanow, Historia, Band 3, S. 438 ff. Herzen, Der Dilettantismus in der Wissenschaft, S. 85; ders., Selected, S. 80; ders., Pisma, Band 2, S. 643 f. : Tagebucheintrag vom 15.8.1842. Herzen, Der Dilettantismus in der Wissenschaft, S. 85 f.; ders., Selected, S. 80 f.
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konnten sich auf ihre idealistische Philosophie der Revolution berufen. Die Italiener erhoben Anspruch auf die Rolle als Lehrmeister für das „Roma Terza“. Die Polen sahen sich selbst als der Christus der Nationen, gekreuzigt von der Heiligen Allianz. Herzen sah einen Vorteil darin, dass die Russen eine Nation ohne Geschichte waren. Sie war jung, spontan, strotzte vor Leben und war von einer unschuldigen Großzügigkeit im Vergleich zum alten, überreifen, zu erfahrenen und in der Tat altersschwachen Europa. Sie war daher in der Lage, ihre Rückständigkeit in einen Vorteil zu ver wandeln, indem sie das gesamte von anderen angesammelte Wissen aufnahm und zur Anwendung brachte. Die Letzten werden die Ersten sein. In einem Tagebucheintrag vom 21. Februar 1844 verdeutlicht Herzen den Inhalt der Botschaft über die bevorstehende praktische Aussöhnung von Theorie und Praxis sowie die Gründe, warum Russland vor allen anderen auser wählt sein könnte.73 „Aber haben wir das Recht zu sagen, dass die kommende Epoche, auf deren Banner nicht das Individuum, sondern die Kommune steht, nicht Freiheit, sondern Brüderlichkeit, nicht abstrakte Gleichheit, sondern die organische Aufteilung von Arbeit, nicht Europa gehört ? Darin liegt die ganze Frage. Werden die Slawen, von Europa befruchtet, dessen Ideal wahr machen und das altersschwache Europa mit ihrer Existenz vereinigen, oder wird Europa uns an sein verjüngtes Leben binden ? Die Slawophilen entscheiden rasch über solche Fragen, als ob die Angelegenheit seit langem entschieden wäre. Es gibt Hinweise, doch wir sind weit von einer endgültigen Lösung entfernt.“74
7. Die Ernüchterung über den Westen Herzens Begegnung mit dem Westen mündete in eine schmerzliche Enttäuschung. Im Gefolge von 1848 entwickelte sich daraus äußerste Verzweif lung. Bald nach seiner Ankunft im Westen und lange vor den ver wirrenden Ereignissen jenes Jahres der Hoffnung begann Herzen, seinen russischen Freunden Briefe zu schreiben, die sie als mögliche Munition für Slawophile und andere reaktionäre Gegner des westlichen Liberalismus tief bekümmerten. Warum sollte der Umschwung so gewaltsam gewesen sein ? Herzens Kriterien waren nicht politischer, sondern religiöser Natur; sie ließen sich einfach nicht auf die politischen Traditionen des Westens anwenden. Politik bestand dort in Durchwurschteln, unsicherem Vorantasten und in Eigeninteresse mit dem Versuch, anderen so wenig wie möglich zuzugestehen; nicht darin, radi73 74
Vgl. Gercen, Sobranie, Band 2, S. 336; ders., Pisma, Band 2, S. 703 : Tagebucheintrag vom 21. 2. 1844. Herzen, Pisma, Band 2, S. 703.
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kale Änderungen vorzunehmen, sondern Probleme zu vermeiden oder zu minimieren. Herzen jedoch hing einer Vision von Rationalität, Gerechtigkeit und edler Gesinnung an, die in der unmittelbaren Zukunft endlich ver wirklicht werden sollte. Aus den folgenden Zeilen spricht die Qual und Verachtung des enttäuschten Liebhabers : „Wenn man einmal ernsthaft alles betrachtet, was geschieht, wird einem das Leben zuwider. Alles auf der Welt ist scheußlich und dabei dumm; die Leute rackern sich ab, arbeiten, finden keinen Augenblick Ruhe und machen dabei nichts als Unsinn; andere wollen sie zur Vernunft bringen, anhalten, retten – man kreuzigt sie, verfolgt sie, und das alles in einer Art von Irresein, ohne daß man sich die Mühe gibt zu verstehen. [...] Die für einen Augenblick beschwichtigte Entrüstung erwacht wieder, und man ist nur über eines bekümmert : daß man nicht genug Kraft hat, die Menschen zu hassen, zu verachten wegen ihrer trägen Herzlosigkeit, ihrer Abneigung gegen jeden Aufstieg zu einem höheren, edleren Leben [...] wenn man sich nur von ihnen abwenden könnte ! Mögen sie da machen, was sie wollen in ihren Mäuselöchern, mögen sie weiterleben, wie sie gestern gelebt haben, mit ihren Gewohnheiten und Gebräuchen, auf gut Glauben gedankenlos hinnehmend, was sie tun und was sie nicht tun sollen [...] und dabei auf Schritt und Tritt die eigne Moral, den eignen Katechismus verratend !“75 Herzen war nicht gänzlich ahnungslos bezüglich der Gründe für diese Enttäuschung. Er war alles andere als ein voreingenommener und engstirniger Fanatiker. Von einer Leidenschaft für die Selbstbeobachtung besessen, konnte er auch oft durch ein Gefühl von Ambivalenz und Unklarheit wie gelähmt sein. Er spricht von dem verschmähten und desillusionierten Propheten, „der sich zu ihrem Gewissen macht [...], der ihre Sünden auf sich nimmt, um ihr Bewußtsein zu wecken [...], wahrscheinlich aus der Gewohnheit heraus, alles zu idealisieren, über alles von oben herab zu rechten, wie man gewöhnlich das Leben nach dem toten Buchstaben, die Leidenschaft nach dem Gesetzbuch, die Einzelperson nach dem Gattungsbegriff beurteilt“.76 Die Ereignisse von 1848 erschienen Herzen wie eine Orgie aus Schauspielerei, Vorspielungen, Heuchelei, Täuschung und schließlich rücksichtsloser Grausamkeit. Die liberalen Republikaner hatten nicht im Geringsten die Absicht, ihre Versprechen von Freiheit und Gleichheit einzulösen. Alles, was sie wollten, war, ihr Eigentum zu schützen und sich die Massen vom Leib zu halten. Den Revolutionsführern fehlte jede Überzeugung und Leidenschaft. Sie waren Phrasendrescher, die sich in die Nachäffung der Rollen der großen Helden der Französischen Revolution hineinhypnotisierten. Die Proletarier 75 76
Herzen, Vom anderen Ufer, S. 138 f. Ebd., S. 139.
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nahmen die Botschaft der sozialen Republik ernst. Als ihnen klar wurde, dass sie übertölpelt worden waren, erhoben sie sich, um das einzufordern, was als ihr Recht verkündet worden war. Die verängstigte liberale Bourgeoisie appellierte an das blanke Schwert zu ihrer Errettung, und die Revolutionsdemagogen standen ohnmächtig daneben und hielten Reden. „Ich erröte immer für unsere Generation; was sind wir doch für seelenlose Rhetoren : unser Blut ist kalt, heiß ist nur unsre Tinte; unser Denken hat sich an Reize gewöhnt, die keine Spur hinterlassen, unsre Sprache dagegen an leidenschaftliche Worte, die keinerlei Einfluß auf den Lauf der Dinge haben. Wir grübeln da, wo man zuschlagen, überlegen da, wo man sich hinreißen lassen müßte, wir sind abscheulich vernünftig, blicken auf alles von oben herab, wir halten alles aus, wir beschäftigen uns lediglich mit dem Allgemeinen, mit der Idee, mit der Menschheit. Wir haben unsere Seelen in den abstrakten und allgemeinen Sphären so betäubt, wie die Mönche die ihre in der Welt des Gebets und der Kontemplation schwächten. Wir haben den Geschmack an der Wirklichkeit verloren, sind nach oben aus ihr hinausgegangen, wie die Spießer nach unten hinausgingen. Und was habt Ihr getan, Ihr Revolutionäre, die vor der Revolution erschraken ? Politische dumme Jungen, Hanswurste der Freiheit, habt Ihr Republik, Terror, Regierung gespielt, habt in den Klubs Possen getrieben, in den Parlamenten gequatscht [...]. Ihr habt für nichts vorgesorgt, nichts vorhergesehen. [...] Eine ganze Welt stirbt !“77
8. Kultur oder Gerechtigkeit Als ob er allen Glauben an die sich in der Geschichte entfaltende Vernunft über Bord geworfen hätte, dachte Herzen über die Tatsache nach, dass auch die westliche Zivilisation – nur in etwas schwächerem Ausmaß und auf schamhaftere oder scheinheiligere Weise als Russland – „eine Zivilisation der Minderheit“ war, die nur möglich ist, „wenn die Mehrheit schwere, grobe Arbeit tut“.77z Die europäische Gesellschaft war von monarchischen und feudalen Institutionen, Konzepten und Gewohnheiten durchdrungen gewesen und war es noch immer. Diese hatten auf der einen Seite eine Liebe zur Macht und auf der anderen eine Angst vor der Freiheit, einen Wunsch zu gehorchen, erzeugt. Die liberal - demokratischen Institutionen, die entworfen worden waren, um die Freiheit zu etablieren und zu schützen, waren im Grunde Umwandlungen hierarchischer Machtmuster. „Die Republik – so, wie sie sie verstehen – ist ein abstrakter, schwer zu ver wirklichender Gedanke, die Frucht theoretischer 77 Ebd., S. 162 f. 77z Ebd., S. 99.
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Überlegungen, die Apotheose der bestehenden Staatsordnung, eine Neueinkleidung dessen, was ist; ihre Republik ist der letzte Traum, eine poetische Halluzination der alten Welt.“78 Die eine unteilbare Republik, der zentralisierte Staat, die absolute Macht der gesetzgebenden Versammlungen, die Souveränität des Volkes, jakobinischer Fanatismus, der die Menschen zur Freiheit zwang – dies waren alles verschiedene Ausdrücke des Drangs nach Macht, des Willens zu herrschen. Überdies standen die beherrschten Massen der individuellen Freiheit gänzlich gleichgültig gegenüber. Sie waren fasziniert vom arroganten Glanz der Autorität, sie waren von den Bonapartes hypnotisiert. „Für das Volk ist der Despotismus kein besonderes Merkmal des Kaiserreichs. Für das Volk waren bis heute alle Regierungen Despotismus.“79 Doch die Massen selbst besaßen eine despotische Veranlagung, sie hassten jedes Zeichen von Unabhängigkeit und Nonkonformismus. Die Grundursache für das Versagen aller Beteiligten in der Tragödie von 1848 war die fundamentale Unfähigkeit des Menschen, frei zu sein, seinen spontanen Neigungen zu folgen, kurzum : wirklich er selbst zu sein. Allzu lange war der Mensch das Opfer der Entfremdung, oder, um es mit Herzens Lieblingsausdruck zu sagen, des Dualismus gewesen, der ewigen Spannung zwischen seinen eigenen Neigungen, tatsächlichen Bedürfnissen und Wünschen in seiner konkreten Lage sowie den abstrakten Normen und Anforderungen, die von außen und von oben festgelegt wurden und objektive Gültigkeit beanspruchten. Der Mensch lebte nicht sein eigenes Leben, ver wirklichte sich nicht selbst, sondern gehorchte, passte sich an, opferte sich selbst, ob nun Gott und der Religion, dem Moralkodex, der nationalen Tradition, dem Staat und seinen Gesetzen, der idealistischen Philosophie oder romantischen Illusionen und Einbildungen. Hier und da traten Revolutionäre auf, welche die Massen in einer Revolte gegen die Unterdrückung ihres Lebens mit sich rissen. Sehr bald bekamen sie Angst vor ihrer eigenen Courage und setzten die alten Götzenbilder unter anderem Namen wieder ein. Luther und Calvin warfen das Joch des Papsttums ab, doch sie inthronisierten die Heilige Schrift mit umso größerer Strenge und machten sich daran, jene Sektierer zu verfolgen, die sie beim Wort nahmen und damit begannen, die Heilige Schrift eigenständig auszulegen. Der moderne Mensch hatte die Religion aufgegeben, doch er konnte die Gewohnheiten der Religion nicht ablegen. Das fest ver wurzelte, zwanghafte Bedürfnis, mystische Wesen anzubeten, sich zu opfern, lag so tief, war so sehr in das Blut, die Sprache, die Bilder und Metaphern des Menschen eingedrungen, dass die Leute nicht damit aufhören wollten, sich zu fragen, in welcher 78 79
Ebd., S. 92. Ebd., S. 132.
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Weise die Nation realer als die Kirche war, Volkssouveränität unfehlbarer als göttliches Recht, warum es einfältig war, an das Paradies zu glauben, und edel, nach einer Utopie zu trachten, warum der Glaube an Gott falsch und das Vertrauen in die Menschheit rational war. Die klangvollen kollektiven Namen und vagen Abstraktionen wie Fortschritt, Staat, Partei, Gesellschaft wurden vom Menschen geschaffen, um sein Bedürfnis zu stillen, vor sich selbst davonzulaufen, vor seiner inneren Stimme, seiner Freiheit oder der Notwendigkeit, eine Wahl zu treffen, so dass er fähig wäre, mit gutem Gewissen zu gehorchen und sie umso bereitwilliger zu opfern. Diese „festeste aller Ketten, mit denen der Mensch gefesselt ist : festeste deshalb, weil der Mensch sie entweder nicht als Vergewaltigung empfindet oder, was noch schlimmer ist, als absolut berechtigt anerkennt. [...] Die Unterordnung der Persönlichkeit unter die Gesellschaft, das Volk, die Menschheit, die Idee ist die Fortsetzung des Menschopfers, die Hinschlachtung des Lamms zur Versöhnung Gottes, der Kreuzigung eines Unschuldigen an Stelle der Schuldigen. Alle Religionen gründeten die Moral auf Gehorsam, d. h. freiwillige Sklaverei, deshalb waren sie auch stets schädlicher als das politische Regime. Dort herrschte Gewalt, hier Demoralisierung des Willens. Gehorsam bedeutet dabei zugleich die Übertragung der ganzen Eigenheit der Einzelperson auf allgemeine, unpersönliche Sphären, die von ihr unabhängig sind. Als Religion der Widersprüche erkannte das Christentum einerseits den unendlichen Wert der Einzelperson an, offenbar nur zu dem Zweck, um sie vor der Erlösung, der Kirche, dem himmlischen Vater noch feierlicher zu vernichten.“80 Die sozialpolitischen Merkmale der modernen Welt waren nichts als eine Variation des christlichen Textes : Der Mensch wurde unter worfen unter dem Vor wand der Befreiung. Das Individuum, die wahre, reale Monade der Gesellschaft, wurde selbst in der säkularen Zivilisation weiterhin für irgendein soziales Konzept, einen kollektiven Namen, eine Flagge oder anderes geopfert. Auf wahrlich nietzscheanische Weise sah Herzen die Grundursache dafür in dem, was er Dualismus nannte : die Trennung des Menschen in Körper und Seele, der Realität in Materie und Geist, Dinge und Ideen, Natur und Moral, den Drang zu leben und asketischen Selbstzwang, das Individuum und das Kollektiv. „So wie Christus bei der Erlösung des Menschengeschlechts das Fleisch verdammt, so ergreift in Gestalt des Dualismus der Idealismus die Partei des einen Schattens gegen den anderen, indem er dem Geist das Monopol über den Stoff verleiht, der Gattung das Monopol über das Individuum und auf diese Weise den Menschen dem Staat und den Staat der Menschheit opfert.“81 80 81
Ebd., S. 182. Ebd., S. 183 f.
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Der Dualismus sei in unsere Sprache eingedrungen und habe nicht nur unsere Gedanken, sondern auch unser Unterbewusstsein, unsere Sprichwörter, Metaphern und Bilder fest in den Griff bekommen. Am Ende des 18. Jahrhunderts schien es für eine Weile, als ob einige Denker wenigstens die kolossale Mystifizierung durchschaut und sich vorgenommen hätten, die Menschen wirklich frei, das Individuum zum Selbstzweck zu machen.82 Sei es durch inneren Zwang oder äußeren Einfluss, begannen jedoch Rousseau und Hegel bald, wie Christen zu sprechen, und Robespierre und Saint - Just, sich wie Monarchisten zu verhalten. Die deutsche Philosophie entwickelte sich zur spekulativen Religion, aus der Konvention wurde eine Kirche, bürgerliche Dogmen wurden als Glaubensbekenntnis ausgerufen, die Volkssouveränität wurde zur Vorsehung, und Gesetzgeber wurden zu Priestern und Propheten.83 Für die Massen, deren Befreiung das letzte Ziel sein sollte, galt : sich „selbst zu regieren, kommt ihnen nicht einmal in den Sinn“. Das Höchste, was sie zu hoffen wagten, war, dass eine „soziale Regierung“ für und nicht gegen sie regieren würde. Alle sozialistischen Befreier waren erzürnt über den einzigen Mann unter ihnen, Proudhon, der den Mut hatte, allein zu stehen und Fragen nach der eigentlichen Realität und dem Wert solcher Abstrakta wie dem Staat, der Zentralregierung oder der Demokratie an sich zu stellen. „Sie hatten Angst vor seinem Atheismus und seiner Anarchie.“84 Das Gewissen der Menschen war von den Institutionen versklavt worden, in denen sie seit Jahrhunderten aufgezogen worden waren : Familie, Stamm und Kirche. Sklaverei gab es nur unter Menschen. Unter Tieren verschlang das stärkere, wenn es hungrig war, das schwächere, und das schwächere verteidigte sich, entkam oder wurde verschlungen; es ergab sich nicht. Nur der Mensch „trägt in die wildunabhängige, eigenwillige Welt der Tiere das Untertanenelement hinein, das Element Calibans“.85 Der Dualismus war nicht nur eine Quelle der Sklaverei, sondern auch der Grund für Unglück, Heuchelei und Demoralisierung. Da der Mensch nicht fähig war, den Forderungen von Idealismus und Askese zu genügen, befiel ihn ein schlechtes Gewissen. Er quälte sich entweder selbst oder wurde zum Heuchler, um sich selbst und andere zu täuschen. Genau genommen war unsere ganze Zivilisation, wie die katholischen Ablässe, eine betrügerische Erfindung. Auch waren die Lebensweisen nicht der Dialektik der reinen Vernunft angemessen. So begannen wir unser Selbstvertrauen zu verlieren. Um wirklich frei zu werden, musste der Mensch lernen, dass das Leben und jeder Augenblick ein Zweck an sich war und nicht ein Mittel oder Schritt, um 82 83 84 85
Vgl. ebd., S. 184. Vgl. ebd., S. 165 f. Ebd., S. 180 f. Ebd., S. 152. A. d. Ü. : Caliban ist eine Figur aus Shakespeares „Der Sturm“.
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auf ein höheres, abstraktes Ziel zuzugehen. Der Duft der Blume, das Lied des Vogels dauern, solange sie dauern. Man musste sich an den Gedanken gewöhnen, dass es kein Drehbuch hinter den Ereignissen des Flusses der Geschichte gab. Es gab unendlich viele Möglichkeiten. Die Geschichte war eine Improvisation, die an viele Türen klopfte, von denen manche geöffnet wurden und andere verschlossen blieben. Für ein entferntes Ziel zu arbeiten, wie Fortschritt, den Ruhm der Nation, die Emanzipierung des Proletariats, und während dieses Prozesses Entbehrungen zu erleiden, war gleichbedeutend mit der Weigerung, das eigene Leben zu leben. Die Menschheit wurde vom Schicksal des Sisyphus heimgesucht. „Wenn der Fortschritt Ziel ist, für wen arbeiten wir denn ? Wer ist dieser Moloch, der, in dem Maße wie die Werkleute sich ihm nähern, statt sie zu belohnen, zurückweicht und, um die zu Tode erschöpften und dem Untergang geweihten Massen, die ihm ‚Morituri te salutant‘ zurufen, zu trösten, nur den bitteren Hohn als Antwort übrig hat, nach ihrem Tode werde es auf der Erde herrlich sein. Wollen auch wirklich Sie die Menschen jeweils zu dem kläglichen Los von Karyatiden verurteilen, die die Terrassen stützen, auf der einst einmal andere tanzen werden [...] oder dazu, unglückliche Arbeiter zu sein, die, bis zu den Knien im Schlamm, die Barke mit dem geheimnisvollen Goldenen Vlies und der frommen Aufschrift ‚Zukünftiger Fortschritt‘ dahinschleppen ?“ Ein „unendlich weites Ziel ist kein Ziel, sondern, wenn Sie wollen, eine List“.86 Die Schlussfolgerung dieser scharfen Beobachtungen war, dass die Menschen niemals wirklich frei sein würden, bevor sie all diese Spinnweben weggefegt und aus ihrem System die tief ver wurzelten, zwanghaften Denkgewohnheiten, sentimentalen Anhänglichkeiten getilgt bzw. die respektvolle Ehrfurcht vor den ererbten, ewigen Wahrheiten und Tabus abgelegt hätten. Auf welche Weise ? Wir erhalten keine stimmige und eindeutige Antwort, außer der Idee der Abschaffung der zentralen Staatsgewalt und deren Ersetzung durch eine lose Föderation von Kommunen. Herzen scheint anzudeuten, dass die westliche Zivilisation dabei sei, unter dem Gewicht sehr alter Widersprüche zusammenzubrechen und wie das alte Rom am Ende seiner Tage zu versinken. Er kommt immer wieder auf die Vision dessen zurück, was Vico ricorsi nannte, das heißt einen Aufstand frischer, unverdorbener, kraftvoller, jungfräulicher Barbaren ohne Vergangenheit und Kultur, um die alte, geschwächte Welt hinwegzufegen, die aus Überreife und einem Übermaß an Besinnung, Selbstprüfung und nihilistischem Selbstzweifel und Egoismus unheilbar geworden war.86z Herzen spricht manchmal von einer moralischen Bruderschaft wie dem 86 Ebd., S. 73 f. A. d. Ü. : Talmon schreibt statt „Arbeiter“ „Sklaven“. 86z A. d. Ü. : „Ricorsi“ bedeutet wörtlich „Wiederkehr“ oder „erneuter Verlauf“, nach Vico ein in der Geschichte periodischer und zyklischer Rückfall in die Barbarei.
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Sozialismus, der es bestimmt sei, die Menschheit zu erlösen; dann wieder scheint er für eine neue Invasion frischer, unverdorbener Barbaren mit großer Leidenschaft zu beten. Herzen geht nirgendwo so weit, wie es zum Beispiel Rousseau tat – von Feuerbach und Marx ganz zu schweigen –, die spirituellen Ketten der Herzen der Menschen mit einem vorsätzlichen Machtmissbrauch durch besitzhungrige Ausbeuter oder, genauer, mit sozial - ökonomischen Realitäten und Produktionsweisen in Zusammenhang zu bringen. Er verbleibt in der Sphäre der Ideen und der Moral, vor allem der Notwendigkeiten ewiger Gerechtigkeit. In diesem Zusammenhang stolpert er über ein erschreckendes moralisches Dilemma : Da die gesamte europäische Zivilisation auf der Ausbeutung der Vielen durch die Wenigen basierte und die Kultur durch und für die müßigen Klassen von den schuftenden Massen ermöglicht wurde, war es dann nicht möglich, dass Kultur und Gerechtigkeit in tiefem, unlösbarem Konflikt zueinander standen ? Dies war, wie bei Belinski, ein Dilemma, das niemals aufhören würde, die schuldbewusste russische Intelligenz zu plagen. Und Herzen ist sich zutiefst bewusst, dass er ein Feudalherr ist, ein anspruchsvoller Schöngeist und ein Kapitalist. Echte Gleichheit wahr zu machen, bedeutete, der existierenden Zivilisation, die ungeachtet der oberflächlichen Rhetorik und des abstrakten Philosophierens durch und durch feudal und monarchisch war, ein Ende zu bereiten. Alle intelligenten Konser vativen wie Metternich und Guizot sahen die Ungerechtigkeiten der sozialen Ordnung, aber „sie sahen, daß diese Ungerechtigkeiten so dicht mit dem ganzen Organismus verflochten waren, daß es genügte, sie anzurühren, um das ganze Gebäude zum Einsturz zu bringen“.87 Sie entschieden sich für den Status quo. „Die alte Ordnung der Dinge tut uns noch leid“, schreibt Herzen. „Wem sollte sie leid tun, wenn nicht uns ? Sie war nur für uns schön, wir sind von ihr erzogen worden, sind ihre Lieblingskinder, wir sehen ein, daß sie sterben muß, aber wir können ihr eine Träne nicht versagen. Nun, aber die Massen, die von schwerer Arbeit niedergedrückten, von Hunger ausgemergelten, durch Unwissenheit abgestumpften Massen [...]. Sie waren jene nicht zum Festmahl des Lebens Eingeladenen, [...] ihre Bedrücktheit bilde die notwendige Voraussetzung unseres Lebens.“88 Herzen ist stark im Zweifel, ob Wohlergehen in der modernen sozialen Ordnung für jedermann erreichbar sein kann. Er ist nicht sentimental oder puritanisch genug, um die Tatsache zu bedauern, dass zwanzig Generationen Deutsche verschwendet wurden, um einen einzigen Goethe zu produzieren, oder 87 88
Herzen, Vom anderen Ufer, S. 98. Ebd., S. 98 f.
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Belinski und Herzen
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dass die Feudalabgaben in der Region Pskow es ermöglichten, Puschkin aufzuziehen. „Die Natur kennt kein Mitleid, sie ist Mutter und Stiefmutter zugleich; sie hat nichts dagegen, daß zwei Drittel ihrer Schöpfungen einem Drittel zur Nahrung dienen, wenn sie sich nur entwickeln.“ Und wieder : „Der Großgrundbesitzer, der einen schrecklichen Pachtzins erhebt, der Fabrikant, der auf Kosten seines Arbeiters reich wird, sie alle sind nur Varianten einer und derselben Menschenfresserei.“89 Insofern das demokratische Prinzip sowohl durch die revoltierenden Arbeiter als auch durch die vom Gewissen geplagten Liberalen angenommen worden war, war es zum Krebs der existierenden Gesellschaft geworden. Wenn die Letzteren nicht aufgaben, würde nackte Gewalt die Angelegenheit entscheiden, welche die Besitzenden mit einem schlechten Gewissen anwenden würden, und die Habenichtse mit dem trotzigen Gefühl, im Recht zu sein. Doch was würde mit der Zivilisation geschehen ? Würden die kraftvollen, geschichtslosen Barbaren – die Proletarier des Westens – eine bessere Welt erschaffen als die geschwächten, geschichtsbeladenen feudalen und bürgerlichen Klassen ? Würden sie, wie die frühen Christen, von der alten Welt infiziert werden und eine katholische Kirche mit Zwangscharakter und eine dominante Klasse erschaffen ? Manchmal scheint Herzen sich einfach von der Vorstellung von universellem Chaos und Untergang mitreißen zu lassen.
9. Erlösung durch die Slawen Michelets Behauptung, Russlands Rolle in Europa sei die einer quer über die Straße des menschlichen Fortschritts errichteten Sperre, stachelte Herzen dazu an, für das russische Volk die Mission der Rettung der dem Untergang geweihten westlichen Zivilisation zu beanspruchen. „Europa geht einem schrecklichen Kataklysma entgegen“, schreibt Herzen, „die Feudalwelt geht zu Ende. Die politischen und die religiösen Revolutionen siechen dahin unter der Last ihrer Kraftlosigkeit [...]. Sie haben den Glauben an Thron und Altar zerstört, aber die Freiheit nicht ver wirklicht; sie haben in den Herzen Wünsche entfacht, die zu erfüllen sie nicht die Kraft besitzen. Parlamentarismus, Protestantismus – das alles war immer nur Aufschub, provisorische Rettung, ein machtloser Damm gegen Tod und Auferstehung.“90
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Ebd., S. 99 f. Gercen, Sobranie, Band 7, S. 309; ders., From the other Shore, S. 167. A. d. Ü. : Das englische Buch „From the other shore“ enthält außerdem den Text „The Russian People and Socialism. An open Letter to Jules Michelet“, aus dem dieses und die folgenden Zitate stammen. Die deutsche Übersetzung „Das russische Volk und der Sozialis-
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Zweifel, Sterilität und Schwerfälligkeit lähmten Europa. In Gesellschaften, in denen es keine Überzeugungen mehr gab, herrschte nur noch wechselseitige Furcht, mit anderen Worten : Gewalt. Die Erlösung winkte aus jenem Teil Europas, der bisher außerhalb des Hauptstroms der Geschichte gelegen hatte, von den slawischen Völkern, vor allem Russland. Das Paradox Russlands war, dass die von seiner Regierung verkörperte Herrschaft nackter, tyrannischer Gewalt vor der Welt die Tatsache verbarg, dass eine vollständige Trennung zwischen dem Volk und der Regierung Russlands bestand. Geschichtslos, arm, ohne irgendwelche erworbenen Rechte oder glückliche Erinnerungen war das russische Volk völlig frei vom Virus des Machtwillens. Es verstand überhaupt nichts von zentralisierter, abstrakter Macht oder jeglicher Form von Eigentum. Die russische Lebensweise wurde durch die Bauerngemeinde mit ihrer vollkommenen Gleichheit, dem gemeinschaftlichen Eigentum, der periodischen Neuverteilung des Landes, der perfekten, unabhängigen Selbstver waltung repräsentiert : „Zwischen ihnen herrscht ein fast unbegrenztes Vertrauen, sie kennen keine Kontrakte und schriftlichen Abmachungen.“91 Die Gemeinde war eine Festung gewesen, die das authentische russische Leben vor der mongolischen Barbarei bewahrte, vor kaiserlichem Despotismus, den europäisierten Grundbesitzern und der deutschen Bürokratie, ja sogar vor der westlichen Zivilisation, die ihr Leben gewiss durch das Privateigentum unterminiert hätte. Für Europa, das nun im Begriff war, den ersten Schritt in Richtung einer sozialen Revolution zu machen, war es ebenfalls ein Glücksfall, mit einem Land konfrontiert zu sein, das ein echtes Beispiel für einen Versuch – in gewisser Weise einen groben, barbarischen Versuch – zur Aufteilung des Landes unter jenen, die es bearbeiteten, vor weisen konnte.92 „Wenn die Slawen“, schreibt Herzen, „der Meinung sind, daß ihre Zeit gekommen ist, dann muß dieses Element der revolutionären Idee Europas entsprechen“93 – da dies le dernier cri der Geschichte sei. Doch Russland stellte nicht nur ein Beispiel für das kommunale Leben und die Lösung des Problems des Individuums gegenüber der Gesellschaft dar. Die Slawen waren auch berufen zu zeigen, wie echte Unabhängigkeit vom Moloch der abstrakten Gewalt im zentralisierten Staat und in der Familie der Nationen zu erreichen sei.
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mus. Brief an J. Michelet“ findet man jedoch nicht in „Vom anderen Ufer“, sondern in Herzen, Ausgewählte philosophische Schriften, S. 491–523. Im Folgenden werden ausschließlich die deutschsprachigen Verweise angegeben. Das obenstehende Zitat findet sich ebenda auf S. 493. Herzen, Das russische Volk und der Sozialismus, S. 505 f. Vgl. ebd., S. 507. Ebd., S. 501.
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Belinski und Herzen
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„Zentralisierung widerstrebt dem slawischen Geist, Föderalismus ist seinem Charakter viel eher eigen. Erst wenn sie sich als Bund freier, selbständiger Völker gruppiert hat, wird die slawische Welt schließlich in die wahrhaft historische Existenz eintreten.“94
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Ebd., S. 175.
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III. Der Ver lust der spi ri tu el len Geheim nis se der Herr schaft – Tscher ny schew ski und Dob rol ju bow Das Brüten über dem Dilemma von Kultur und Gerechtigkeit führte zu einer allmählichen Relativierung von Herzens revolutionärem Glaubensbekenntnis. Die herrschenden Klassen waren Ausbeuter, doch sie waren auch die Träger der Zivilisation; die Massen litten unter der Unterdrückung, doch sie waren auch ein roher, wilder Pöbel. Niemand wurde den Normen gerecht, zu denen er sich bekannte. Ein leichtes Nachbohren würde in allen idealistischen Haltungen immer Eigennutz, Garstigkeit, Gedankenlosigkeit und Heuchelei zutage fördern. Die ganze Menschheit lebte von Täuschung und Selbsttäuschung. Herzen hatte einen scharfen Blick für die unehrenhaften, versteckten Schlupfwinkel und ließ Einsichten aufblitzen, die von Marx, Nietzsche, Pareto, Freud und anderen systematisiert werden sollten. Das hatte viel mit Herzens eigener, unklarer Situation zu tun. Er war das uneheliche Kind eines reichen und hochgebildeten russischen Edelmannes und einer viel jüngeren und gänzlich farblosen deutschen Mätresse, die der Vater in seinem Anwesen als Dame des Hauses eingestellt, jedoch niemals förmlich geehelicht hatte. Alexander Herzen trug nicht den Namen seines Vaters. Er wurde dadurch geadelt, dass er in den Staatsdienst eintrat. Er wurde legitimiert und zum Alleinerben gemacht, obwohl ein älterer Halbbruder, der Sohn einer Leibeigenen, im Haus lebte. Dann gab es noch einen taubstummen Bruder, der 1851 mit Herzens Mutter bei einem Schiffbruch umkam. Herzens eigene Eheerfahrungen, die von Edward H. Carr in Romantiker der Revolution so atemberaubend erzählt werden, bestanden aus nichts als einer Abfolge von Träumen von der idealen Liebe, die sowohl wegen der Unzulänglichkeiten der Geliebten als auch der eigenen, kläglichen Versäumnisse unerfüllt blieben und in furchtbaren Tragödien endeten.95 Herzens Haltung zu Mutter und Vater war äußerst zwiespältig. Der leidenschaftliche Meister der Personenbeschreibung und unvergleichliche Analytiker des menschlichen Herzens hat in seinen umfangreichen Erinnerungen kein einziges Wort über die Mutter zu sagen. Herzen bewunderte den Geist und politischen Liberalismus des Vaters und war sich der Wertschätzung bewusst, welche dieser für ihn empfand, doch die grausam beleidigende Behandlung seiner Mutter sowie die allgemein neurotische und tyrannische Launenhaftigkeit und grundsätzliche Trägheit des alten Jakowlew machten ihn 95
Vgl. Carr, Romantiker der Revolution. A. d. Ü. : Diese Fußnote findet sich im englischen Original lediglich in den Anmerkungen im Anhang, nicht im Fließtext. Sie wurde von den Herausgebern dieses Bandes platziert.
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Tschernyschewski und Dobroljubow
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wahnsinnig.95z Die demütigenden Umstände, zu deren Änderung er nichts beitragen konnte, verstärkten das Gefühl der unabänderlichen Widerspenstigkeit der Dinge, mit anderen Worten : von Schicksalhaftigkeit. Doch die Erfahrung der Demütigungen verhinderte, dass sein Gefühl der Ambivalenz sich zu einer nietzscheanisch gnadenlosen Verachtung für die menschliche Art entwickelte. Es gab in Herzen kein stärkeres Gefühl als Entrüstung beim Anblick menschlicher Erniedrigung. Doch das wiederum brachte ihn nie dazu, die leibeigenen „Seelen“ zu befreien, die seinen Wohlstand produzierten, so wie ihn sein Sozialismus nicht davon abhielt, die Dienste eines der Rothschilds in Anspruch zu nehmen, um den Zaren zu zwingen, den Familienbesitz wieder herzugeben, den die Regierung zu konfiszieren versuchte.96 Klassenhintergrund, persönliche Erfahrungen und ideologische Enttäuschungen fügten sich zusammen, um Herzens Bewusstsein für die Gefahren zu erhöhen, welche die Zivilisation bedrohten; besonders für die Gefahr eines Bauernaufstandes in Russland. Herzens Zeitschrift Kolokol [ Die Glocke ] leistete immense Dienste als Plattform, von der aus die konkreten Übel des Zarismus gnadenlos gegeißelt wurden, doch als flammende Warnung an die junge Generation von Revolutionären der 1860er Jahre erschien sie auch unter dem ominösen Titel „Gefährlich !“, weil sie das Dilemma von Kultur und Gerechtigkeit rücksichtslos zugunsten der Letzteren löste.96a Tschernyschewski und Dobroljubow schienen zu einem Flächenbrand einzuladen. Abgesehen von versteckter oder indirekter Aufhetzung bemühten sie sich nach Kräften systematisch um die Unterminierung der Grundlagen des bestehenden sozialen Systems, indem sie die Herzen der Menschen von den Ketten befreiten, die Jahrhunderte der Indoktrinierung um sie gelegt hatten. Sie wollten die Menschen Wagemut lehren. Sie hatten beschlossen, alle ererbten Werte durch diametral entgegengesetzte Ideen, Empfindungen und Mythen zu ersetzen : eine revolutionäre Herausforderung und eine soziale Utopie.
1. Der schüchterne Wohltäter der Menschheit Pisarew erklärt die enorme Bedeutung von Tschernyschewskis Roman Was tun?, indem er sagt, „all jene, die sich von Routine ernähren oder darin schmoren“, mussten sich unwillkürlich über die Art entrüsten, in welcher der Roman „sich über ihre Ästhetik lustig macht, ihre Moral zerstört, den Betrug ihrer 95z A. d. Ü. : Iwan Alexejewitsch Jakowlew, der Vater von A. Herzen. 96 Vgl. Malia, Alexander Herzen, S. 389. 96a Vgl. Herzen, Pisma, Band 2, S. 393–399. A. d. Ü. : Diese Fußnote findet sich im englischen Original lediglich in den Anmerkungen im Anhang, nicht jedoch im Fließtext.
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Keuschheit beweist und seine Verachtung für die eigenen Richter nicht verhehlt“. Das Buch wurde zum Symbol für alle, „die jung und lebendig sind. [...] Niemals hat der neue Trend sich so entschlossen und mit Nachdruck erklärt.“97 Pisarew will darauf hinaus, dass Tschernyschewski sozusagen die Aufgabe erfüllte, die Bakunin sich selbst und seinen Nachfolgern auferlegte : zu zerstören, um aufzubauen, wobei Zerstörung eine notwendige Vorbedingung für die revolutionäre Schöpfung war. Dass Was tun ? dieses Ziel erreichte, wird durch den Maler Repin bezeugt, der erzählt, wie das Buch die Gemüter einer ganzen Generation entflammte : Es wurde mit Leidenschaft gelesen, in zerfledderten, gedruckten oder handgeschriebenen Ausgaben, und zusammen mit anderer verbotener Literatur und Bildern aufbewahrt. Bei vielen politischen Prozessen sah man es als Schuldbeweis an, wenn ein Angeklagter das Buch besaß. Es wurde von der Jugend nicht nur analysiert und endlos diskutiert, „es wurde zu ihrem Glaubensbekenntnis und Verhaltenskodex“.98 Obwohl er nur ein Publizist war ( zugegebenermaßen der führende Mitarbeiter des besten Periodikums jener Tage ), ohne Partei oder organisierte Untergrundbewegung hinter sich, wählte das Regime Tschernyschewski nicht umsonst für die exemplarische Strafe einer symbolischen Hinrichtung in einer öffentlichen Zeremonie aus, die den „bürgerlichen Tod“ öffentlich zur Schau stellen sollte, bevor er im Alter von 35 Jahren lebenslang nach Sibirien verbannt wurde.99 Er wurde kurz vor der Verhaftung und nachdem er dem Druck der Regierung widerstanden hatte, von seinem Herausgeberposten zurückzutreten, für so einflussreich gehalten, dass Dostojewski, als die Hauptstadt 1861 von einer Reihe von Feuersbrünsten heimgesucht wurde, mit der Bitte zu ihm kam, er möge bei den Revolutionären inter venieren, die angeblich hinter der Brandstiftung standen.100 Nach einer Reihe von fehlgeschlagenen Plänen seiner jungen Bewunderer, ihn aus dem Exil zu retten, erlaubte man Tschernyschewski schließlich 1883 – als Ergebnis eines Handels zwischen der zaristischen Regierung und der Partei des „Volkswillens“ [ Narodnaja Wolja ], die gerade Alexander II. ermordet hatte – wieder ins europäische Russland zurückzukehren. Im Austausch gegen die Freilassung des Verfassers von Was tun ? versprachen die Parteimitglieder, von einer Störung der Krönungszeremonie Alexander III. und der folgenden Feierlichkeiten abzusehen.101 Aus Walentinows Gesprächen mit Lenin in der zweiten Hälfte des ersten Jahrzehnts des
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Pisarev, Sočinenija, Band 4, S. 8. Zit. in Lampert, Sons against Fathers, S. 223. Vgl. ebd., S. 126–132. Vgl. Černyševskij, Polnoe sobranie, Band 1, S. 777. Vgl. Woehrlin, Chernyshevsky, S. 326.
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Tschernyschewski und Dobroljubow
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20. Jahrhunderts lässt sich erkennen,102 dass der Führer der Bolschewiki, genau wie Plechanow, Tschernyschewski als frühesten Wegbereiter der Revolution und ersten wirklich materialistischen Denker und sozialistischen Ökonomen Russlands verehrte, dessen Gespür für die Revolution nur mit dem von Marx vergleichbar war : ein Vorbild und eine Inspiration für Generationen russischer Revolutionäre103 – eine Tatsache, die der Verfasser des Kapitals bestätigte, als er Tschernyschewski „einen großen russischen Gelehrten und Kritiker“104 nannte. So wurde Tschernyschewskis Jugendtraum wahr. Am 29. September 1848 vertraut Tschernyschewski seinem Tagebuch seine innersten Gedanken an : „Um ehrlich zu sein [... ist es ] mein Schicksal [...] die Menschheit auf einen neuen Weg zu führen [...], einer der von Gott Auser wählten zu sein, um der Menschheit das Glück zu bringen, [...] eine neue Sicht auf das Leben [...], eine neue Orientierung, die von den kommenden Generationen ausgearbeitet werden soll, jemand wie Hegel, Platon oder Kopernikus.“105 Tschernyschewski war von seiner Herkunft weder ein vom Gewissen geplagtes Mitglied der Klasse der Landadligen noch das Kind geknechteter Leibeigener. Er stammte aus einer gebildeten und relativ sorgenfreien Priesterfamilie der ziemlich großen Stadt Saratow an der Wolga. Es gab an seinem Hintergrund, seiner Kindheit und Jugend wenig, das Narben hinterlassen, Groll erzeugt oder Träume von selbstbehauptender Rache hätte auslösen können. Belesen, eingebildet, äußerlich sehr unscheinbar, furchtbar kurzsichtig und physisch schwach, war der junge Tschernyschewski übertrieben schüchtern und hatte entsetzliche Angst, nicht gemocht und zurückgewiesen zu werden, kurzum : ein Plagegeist zu sein. Er spricht von seinem „unter würfigen, apathischen, schüchternen und unentschlossenen Charakter“.106 „Ich muss heiraten, auch weil ich auf diese Weise von dem Kind, das ich jetzt bin, zum Mann werde. Dann werden meine Scheu, Schüchternheit usw. verschwinden“,107 sagt er höchst entwaffnend. An anderer Stelle erwähnt er, dass er „die Art von Charakter [ besitze ], der geschaffen wurde, um untergeordnet zu sein“, und dass er von einer Ehefrau „geleitet“108 werden möchte. 102
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Vgl. Valentinov [ Walentinow ], Encounters with Lenin, S. 63–68; ders., Tchernychevski et Lénine (2 Teile ); außerdem wurden ver wendet : Plechanow, Historia, Band 2, der ganz Tschernyschewski gewidmet ist; Yarmolinsky, Road to Revolution, und die englische Übersetzung von Tschernyschewskis „Selected Philosophical Essays“ (zitiert als Chernyshevsky, Selected ). Vgl. Valentinov [ Walentinow ], Tchernychevski et Lénine, Teil 1, S. 101. Ebd., Teil 2, S. 172. A. d. Ü. : Siehe auch Marx, Nachwort zur zweiten Auf lage, S. 21; ders., Brief an die Redaktion, Band 19, S. 107. Černyševskij, Polnoe sobranie, Band 1, S. 127 f. Ebd., S. 358. A. d. Ü. : Vgl. auch Woehrlin, Chernyshevsky, S. 85. Ebd., S. 483. A. d. Ü. : Vgl. auch Woehrlin, Chernyshevsky, S. 78. Bogdanovič, Ljubov ljudej, S. 132; Woehrlin, Chernyshevsky, S. 73–86, bes. S. 79 f.
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Tschernyschewskis früheste und fehlgeschlagene Versuche, solch einen Durchbruch zu erzielen, lassen einen zusammenzucken oder lächeln. Schließlich fand er den Mut, beharrlich zu bleiben und selbst den starken Widerstand seiner Mutter gegen die Verbindung zu über winden. Sein Liebeswerben besaß alle edelgesinnte Reinheit des sentimentalen Idealismus. Er appellierte an seine Braut, sich ihm überlegen zu fühlen. Alles, was er wolle, sei, ihr von Nutzen zu sein. Bei der bald nach der Verlobung erfolgten Abreise nach St. Petersburg zu Studienzwecken bestand er darauf, sie solle sich frei fühlen, die Verlobung aufzuheben, während er sich einseitig an sie gebunden fühlen würde. Sollten ihre Gefühle für ihn erkalten, lasse er ihr auch in Zukunft die Freiheit, den besseren Mann zu wählen, während er, wenn man es ihm sagte, gehen würde. Er wollte von Olga auch mit „Du“ angesprochen werden, während er es bei ihr beim „Sie“ belassen würde.109 Nach der Hochzeit fühlte er sich siegestrunken. „Ich bin entschlussfreudig, wagemutig geworden; meine Zweifel, mein Zaudern sind verschwunden. Nun habe ich Willen, nun habe ich Charakter, nun habe ich Energie.“110 Später sagte er, dass er ohne Olga zu einem apathischen Oblomow heruntergekommen wäre.110z Sie brachte die in ihm schlummernden Kräfte her vor, schenkte ihm den Glauben an die Güte des Menschen, an Vernunft und Ehre. Die traurige Wahrheit ist jedoch, dass die beiden nie eine echte Beziehung erreichten und sie als Partnerin für einen Denker und Propheten ziemlich ungeeignet war. Tschernyschewskis eigenes ängstliches, ja panisches Pflichtgefühl gegenüber Frau und Kindern ließ niemals nach, und in den Tagen voller Schwierigkeiten und Gefahren, vor allem im Exil, war es für ihn ein Quell ständiger Qual. Die Seiten von Tschernyschewskis Tagebuch sind gefüllt mit Rousseau’schem manisch - depressivem Schwanken zwischen einer Stimmung verzehrender Selbstablehnung und Ausbrüchen siegreicher Selbstsicherheit, dem Bedürfnis, sich selbst zu erniedrigen, und Träumen von überragendem Ruhm.
2. Die Metaphysik der Revolution : Materialismus und Utilitarismus Während er das Klagelied seiner Schüchternheit und Scheu sang, wurde Tschernyschewski niemals müde zu wiederholen, dass er in Bezug auf seine Überzeugung absolut unnachgiebig sei. Er lag seiner unverständigen und ver wirrten Braut damit in den Ohren, sie sollte einer Heirat mit ihm vielleicht 109
Vgl. Černyševskij, Polnoe sobranie, Band 1, S. 535. A. d. Ü. : Vgl. auch Woehrlin, Chernyshevsky, S. 80, 84 f. 110 Ebd., S. 500. A. d. Ü. : Vgl. auch Woehrlin, Chernyshevsky, S. 78. 110z A. d. Ü. : Oblomow ist eine Figur aus Iwan Gontscharows gleichnamigem Roman, die den Prototyp des trägen Adligen und „überflüssigen Menschen“ darstellt.
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nicht zustimmen und müsse sich, wenn sie es doch tue, für die Gefahr wappnen, dass eines Tages die Gendarmen erschienen, um ihn mitzunehmen. Eine revolutionäre Feuersbrunst stehe unmittelbar bevor, und er würde ihr gewiss nicht fernbleiben, da er unfähig sei, den Anblick menschlicher Erniedrigung und Demütigung zu ertragen.111 Wir können durch sein Tagebuch verfolgen, auf welche Weise diese Gefühle sich unter dem Eindruck der Ereignisse von 1848/49 in Westeuropa sowie der langsamen Aushöhlung seines religiösen Glaubens an göttliche Führung zu revolutionärer Überzeugung und Entschlusskraft verfestigten. Er war nach eigenen Worten dabei, ein Extremist, Sozialdemokrat, Kommunist, roter Montagnard, revolutionärer Terrorist und glühender Anhänger Louis Blancs, Proudhons, Pierre Leroux’ und, mit weniger Entschiedenheit, Ledru - Rollins zu werden. Seine grundlegenden Denkkategorien besonders hinsichtlich der Religion und der Natur des Menschen stammten von Feuerbach, den er uneingeschränkt verehrte. Hegels Idee von der Dialektik der historischen Entwicklung lieferte einen weiteren sehr prägenden Einfluss, obwohl dessen Wider wille, die vollen politischen Schlussfolgerungen aus seiner Philosophie zu ziehen, Herzen verärgerte. Fouriers Kooperativismus ( doch nicht die „phalanstère“ als solche )111z wird in Was tun ? impliziert – ungeachtet Tschernyschewskis Abneigung gegen die Mischung aus realistischen Einblicken und bizarren Kunstgriffen in den Schriften des halb verrückten utopischen Sozialisten. Der Mann, mit dem Tschernyschewski sich am ehesten identifizierte, war Lessing, der Prophet des Lichts, des Fortschritts und weitherziger Menschlichkeit im 18. Jahrhundert. Helvétius lieferte die Elemente der Psychologie der Assoziation, der materialistischen Epistemologie und natürlich der utilitaristischen Ethik.112 Zu alledem kommt der Beitrag John Stuart Mills, dessen ökonomische Ansichten Tschernyschewski nicht weniger beeindruckten als sein Utilitarismus. Thomas Masaryk nannte Tschernyschewskis Botschaft „eine Art von Volksmessianismus“.113 Im Geiste Feuerbachs scheint Tschernyschewski seine 111
Vgl. Černyševskij, Polnoe sobranie, Band 1, S. 418; Plechanow, Historia, Band 2, S. 42 ff.; Lampert, Sons against Fathers, S. 182–188; Yarmolinsky, Road to Revolution, S. 114–119. A. d. Ü. : Vgl. auch Woehrlin, Chernyshevsky, S. 82 f. 111z A. d. Ü. : Phalansteren heißen die von Fourier geplanten sozialistischen Wohnkolonien. 112 Zu Tschernyschewskis Verbindlichkeit gegenüber früheren Denkern siehe : Černyševskij, Polnoe sobranie, Band 1, S. 929 f. ( Hegel ), 248 ( Feuerbach ), 385 ( Helvétius ), 178, 182 f. ( Fourier ); Band 4, S. 5–221 ( Lessing ), Band 7, S. 229, 39 f. ( Mill ). Ich danke Herrn Alex Dan für die Erlaubnis, das von ihm für seine Dissertation ( Dr. phil., Hebräische Universität, Jerusalem ) gesammelte Material über die Genese von Tschernyschewskis Ideen zu ver wenden. Siehe auch Woehrlin, Chernyshevsky, S. 31– 34, 53–55. 113 Masaryk, The Spirit of Russia, Band 2, S. 8.
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Befreiungsmission als die Aufgabe verstanden zu haben, dem Volk beizubringen, dass seine Unterjochung das Ergebnis einer Unter werfung unter falsche Ideen sei, die eine Zwangsherrschaft über ihre Gemüter ausübten, jedoch die Projektion sozialer Bedingungen darstellten. Es sei daher notwendig, schloss Tschernyschewski, diese sozialen Bedingungen offenzulegen – oder in eher anthropologischer Hinsicht damit anzufangen, die Gruppe der sozial Höherstehenden, die für sie verantwortlich waren, zu entmachten und die Leere ihrer Ansprüche zu entlar ven.114 Wie das Universum selbst, bestünden wir alle aus demselben Stoff – Materie und nur Materie : aus Mengen und Kombinationen von Materie, aus physiologischen Reflexen auf äußere Reize. Wir seien alle Teil der Natur und der natürlichen Evolution. Es gäbe keinen göttlichen Schöpfer und auch keine transzendentale Autorität, keinen Raum für Kirche, Fürsten und deren Helfer, Aristokratie oder Regierungen. Der Mensch sei sein eigener Meister und Gesetzgeber. Die scheinbar immateriellen Phänomene, die Geist und Seele zugeschrieben wurden, ergäben sich aus einer stärkeren Verdichtung oder größeren Verfeinerung der Materiepartikel, die Zusammensetzungen bildeten und in Kontakt miteinander kämen oder kollidierten, sich zusammentäten oder trennten, oder aus einer höher entwickelten Gewandtheit, um als Antwort auf Reize gewisse psychologische Funktionen zu erfüllen : Dasselbe Prinzip leitete Newton bei seiner Entdeckung der fundamentalen Naturgesetze, wie eine Henne, die Körner aus einem Haufen Unrat aufpickte.115 Aus quantitativen Unterschieden würden qualitative, Wasser würde zu Eis oder Dampf. Auf dieselbe Weise entwickelten die elementarsten und rohesten Empfindungen und Reflexe sich zu den feinsten und edelsten Gefühlen und Gedanken.116 Der Wille sei nicht die Manifestation einer spirituellen Kraft, frei von Determinierung durch die Natur. Er stellte „den subjektiven Eindruck [ dar ], der in unserem Bewußtsein die Entstehung eines Gedankens oder einer Handlung aus vorhergehenden Gedanken, Handlungen oder äußeren Vorgängen begleitet“.117 Kurzum, es gebe keinen Platz für den Anspruch auf angeborene Überlegenheit durch eine unabhängig existierende Seele oder Geist, und – das Wichtigste – es gebe keine höhere Sphäre des Geistes, die einer Kaste von Führern oder Mentoren mit einzigartigen und ausschließlich ihnen verliehenen höheren Attributen vorbehalten oder von diesen ver waltet würde. „Die Philosophie sieht im Menschen das, was Medizin, Physiologie und Chemie in ihm 114
115 116 117
Vgl. Černyševskij, Polnoe sobranie, Band 7, S. 38 f., 415; Band 4, S. 841 f.; Plechanow, Historia, Band 2, S. 135 ff., 197 ff., 212–214, 262; Lampert, Sons against Fathers, S. 197–202. Vgl. Tschernyschewski, Das anthropologische Prinzip in der Philosophie, S. 148. Vgl. ebd., S. 147 f. Ebd., S. 121; vgl. auch Plechanow, Historia, Band 2, S. 111, 314, 315 f.
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sehen [...], daß sich [...] keinerlei Dualismus erkennen läßt, [...] da alles, was im Menschen vor sich geht und sich offenbart, allein seiner realen Natur entspringt.“118 Mit Hilfe ihrer fünf Sinne seien alle Menschen fähig, dieses erkennbare Universum zu erfassen oder dessen Gesetze zu ergründen und unsere Umwelt zu kontrollieren. Die Sichtweise, die unsere Sinneseindrücke als Illusionen oder unklare Wahrnehmungen betrachtet, deren Erkennungsvermögen durch abstrakte Konzepte funktionsfähig gemacht würden; die die Welt der Sinne als Reich von Zufall und Chaos darstellte, in die allein die Vernunft Bedeutung und Regelmäßigkeit hineinbringe; die schließlich die Idee eines verborgenen, höheren, langfristigen Plans postulierte – kurz, alle vorgeblichen Wahrheiten und Ideale von und über unsere konkrete Existenz, unsere Bedürfnisse, Wünsche, Fähigkeiten und Ziele hinaus seien eine Verhöhnung des Lebens. Sie liefen darauf hinaus, diese Welt als minder wertig zu verdammen, nicht wert, sich mit ihr zu beschäftigen, sowie konkrete Ereignisse und das menschliche Leben als fahle Schatten abzutun; nicht als eigenständige Ziele, sondern als Karikaturen realer überlegener Dinge. Der Mensch werde dadurch des Glaubens und Willens beraubt, die Realitäten der Gegenwart zu verbessern, und in Verzweif lung und Resignation gestürzt. Jede Art von Idealismus implizierte eine Trennung in Menschen, die fantasielos waren, die immer in einer Welt der Schatten leben würden, und einen esoterischen Teil der Menschheit, der allein fähig war, Zwiesprache mit den reinen Ideen zu halten, frei, nach ihnen zu suchen, dazu bestimmt, als deren Sprecher zu handeln sowie als Führer für die weniger Begabten oder Privilegierten. Kultur wurde zum exklusiven Besitz einiger weniger, und die Vielen wurden zur Arbeit gerufen, damit die Kultur von den Auser wählten bewahrt werden konnte. Doch die Wahrheit war, dass wir alle von denselben Kräften motiviert wurden – der Abwägung des Nutzens, dem Wunsch nach Genuss, der Angst vor Schmerz. Tschernyschewski kannte in diesem Punkt kein Pardon und tolerierte keine Täuschung oder Selbsttäuschung. Selbst die liebende Mutter oder die untröstliche Witwe, selbst der Held, der sich für ein Ideal, sein Land, die Ehre, das Wohl seiner Mitmenschen opferte, taten dies, weil es ihnen Zufriedenheit verschaffte, ihren Wert in den eigenen Augen oder der Meinung anderer erhöhte, oder weil sie weitsichtig und standhaft genug waren, zwischen kurzfristiger Befriedigung und langfristigem Vorteil zu unterscheiden und die Investition von Mühe gegen den später zu erzielenden Profit abzuwägen.119 118 119
Tschernyschewski, Das anthropologische Prinzip in der Philosophie, S. 90; Plechanow, Historia, Band 2, S. 106–109. Vgl. Tschernyschewski, Das anthropologische Prinzip in der Philosophie, S. 156 f.; Plechanow, Historia, Band 2, S. 135 ff.
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Die Folgerung lautete, dass jeder auf die eine oder andere Weise ein Egoist und jeglicher Anspruch auf außergewöhnlichen heroischen Edelmut und Reinheit unzulässig war. Schon die bloße Forderung oder Erwartung einer Selbstaufopferung seitens anderer für vorgeblich idealistische Ziele war illegitim, denn Letztere verbargen für gewöhnlich monopolistische Interessen. Wir seien alle gleich, strebten alle nach Freude, und deshalb habe ein jeder dasselbe Recht auf Glück. Die Neigung, zwischen grober Lust und feinem Vergnügen zu unterscheiden, wobei nach Ersterer angeblich das gemeine Volk verlange und Letzteres nur von außergewöhnlichen Leuten genossen werde, war wieder eine Funktion und Bestätigung des Wunsches, die Ungleichheit aufrechtzuerhalten. Und insofern als die Unterscheidung echte Ungleichheit widerspiegelte, war sie wiederum das Ergebnis der sozialen Situation, eines Systems der Klassenunterschiede. Der Utilitarismus bot einen sicheren Maßstab und ein Instrument, um Gleichheit sicherzustellen. Er ermöglichte es, die Bedürfnisse der Menschen zu beurteilen und die Natur und den Grad der Befriedigung abzuschätzen und konnte so als Instrument dienen, um Gerechtigkeit sicherzustellen : für bestimmte Mengen an Freude gewährte Anteile an Freude wurden einer größeren oder kleineren Zahl von Menschen zugeteilt. Außerdem war der Egoismus darauf ausgelegt, das effektivste Mittel für den sozialen Zusammenhalt zu werden, weil er uns lehrte, vernünftig und berechnend zu sein – also, mit Tschernyschewskis Worten, rational.120 Rationalität bedeutet in diesem Kontext die Anerkennung des Rechtes anderer auf Glück und die Erkenntnis, niemand könne Wohlergehen erreichen oder dauerhaft halten, wenn die Bedürfnisse anderer nicht erfüllt würden. Ein soziales System, das auf diesen Wahrheiten aufbaute und dem aufgeklärte und fähige Menschen vorstünden, würde darin Erfolg haben, egoistische Bestrebungen zu koordinieren, indem diese entsprechend belohnt und bestraft würden und das Glück des Einzelnen vom Wohlergehen der Gesellschaft abhängig gemacht würde. Das ist es, was der Roman Was tun ? sich zu erreichen vornimmt, indem er beweist, wie rationaler Egoismus mit Sicherheit zur edelsten Selbstlosigkeit führen würde, zu Selbstaufopferung und einer asketischen Selbstdisziplin allererster Güte. Tschernyschewski wollte nichts von der Erbsünde hören. Er war sich absolut sicher, dass „außer einigen wenigen, moralisch kranken Personen alle anderen Menschen, sowohl unter dem gewöhnlichen Volk wie unter den Aufgeklärten, das Rechte tun wollen; und wenn sie Falsches tun, dann nur, weil die üble Umgebung, in der sie leben, sie dazu zwingt“.121 Das ist guter Helvétius und 120 121
Vgl. Tschernyschewski, Das anthropologische Prinzip in der Philosophie, S. 160–170; Plechanow, Historia, Band 2, S. 139, 144, 147 f. Černyševskij, Polnoe sobranie, Band 10, S. 916.
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Holbach. Es zeigt die Ver wandlung der Suche nach dem freien und spontanen Individuum in die Ansicht, dass der Mensch ein vollständiges Produkt seiner Umgebung sei und die Umgebung dergestalt manipuliert werden könne, dass sie den sozial erwünschten Typus produzierte : „die Auffassung des Menschen von seiner Verpflichtung gegenüber anderen verbessern, aus ihm einen besseren Menschen zu machen; in ihm ein Gefühl für Gerechtigkeit und Ehre zu entwickeln.“122 Die moderne Wissenschaft stand zur Verfügung, um uns dabei zu helfen, den erwünschten Menschentypus heranzuzüchten. „Die Natur wissenschaften haben sich so weit entwickelt, daß sie ein reiches Material zur exakten Lösung moralischer Probleme liefern.“123
3. Sozialistischer Realismus in den Künsten Tschernyschewski hatte das triumphierende Gefühl, dass sein narrensicheres System eine Rechtfertigung von Wissenschaft, wissenschaftlicher Objektivität und Genauigkeit darstellte. Alle Ideen, die sich nicht mit wissenschaftlichen Methoden analysieren und verifizieren ließen, waren daher Vorurteile, Aberglauben, Fehler und Selbsttäuschungen, die von Interessengruppen, privilegierten Gruppen und herrschenden Klassen gefördert wurden, um den Geist der Ausgebeuteten zu vernebeln und ihre eigene herrschende Position sowie ihre Ansprüche auf Bevorzugung zu legitimieren. Nur die exakten Natur wissenschaften verdienten den Titel „Wissenschaft“. Geisteswissenschaften und Kunst waren suspekt. Es fehlte ihnen an der Genauigkeit der exakten Wissenschaften, und sie boten wenige Möglichkeiten für eine Verifizierung. Vor allem waren sie mit einer schlechten Vergangenheit belastet wegen der althergebrachten Verbindung mit der Idee der „liberalen Künste“, mit dem Konzept einer höheren Beschäftigung für Menschen, welche die Muße, den freien Verstand, einen besonders feinen Geschmack hatten, um sich damit zu beschäftigen. Das traf zu allererst auf die Literatur und die anderen Künste zu. Die Wissenschaft war von sich aus egalitär. Objektive Wahrheiten drangen zu jedem normalen Verstand in gleicher Weise durch. „Als Basis für ihre Theorien sieht [ die moderne Wissenschaft ] die von den Natur wissenschaften entdeckten Wahrheiten. Diese Wahrheiten wurden entdeckt durch die genaueste Analyse der Fakten; sie sind so glaubhaft wie die Drehung der Erde um die Sonne, das Gesetz der Schwerkraft, die Wirkung chemischer Ver wandtschaft. Aus diesen Prinzipien, die jenseits jeden Disputs oder Zweifels stehen, zieht die moderne Wissenschaft ihre Schlüsse mit derselben 122 123
Ebd., S. 910. Tschernyschewski, Das anthropologische Prinzip in der Philosophie, S. 118.
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Sorgfalt, die bei der Entdeckung [ dieser Prinzipien ] vonnöten war. Sie akzeptiert nichts ohne genaueste, allumfassende Überprüfung und zieht aus dem, was sie akzeptiert, keine Schlüsse außer jenen, die notwendiger weise aus den logisch nicht zurückzuweisenden Tatsachen und Gesetzen folgen. Wenn ein Mensch diese neuen Ideen einmal akzeptiert hat, lässt ihm ihre Beschaffenheit keinen Weg zurück zu den Zugeständnissen an die phantastischen Irrtümer vergangener Zeiten. [...] Daher besteht die grundlegende Eigenschaft der heutigen philosophischen Ansichten in ihrer unerschütterlichen Gültigkeit, die jegliche Meinungsschwankung ausschließt“.124 Tschernyschewski wollte nichts mit der Hegel’schen Ansicht von Kunst als der ersten Phase in der menschlichen Wahrnehmung des absoluten Geistes, neben Religion und Philosophie, zu tun haben, oder gar mit Schellings Konzept, das der Kunst die Aufgabe zuwies, uns höhere als die gewöhnlichen Einsichten zu eröffnen. Diese Ansätze verleugneten die Objektivität und Eigenständigkeit der Realität wie auch deren Erkenntnisfähigkeit. Die Kunst um der Kunst willen würde sich als Falle für Menschen erweisen, die dem Elend der Existenz entkommen wollten. Sie liefen vor der Verantwortung des Lebens und den Pflichten gegenüber ihren Mitmenschen weg hin zu einer Illusion und zu Opiumträumen. Die Verehrung der Kunst um der Kunst willen, ohne Bezug zu den Problemen des wahren Lebens, die Beschäftigung mit der Form ohne Berücksichtigung des Inhalts kaschierte gefühllose Gleichgültigkeit gegenüber den Leiden der Menschheit, ja Schlimmeres als Gleichgültigkeit, da sie eine Zustimmung zum Status quo darstellte. Diese Art romantischer Kunst, die solipsistische Besessenheit mit eigenwilligen Eigenschaften, neurotischen Zwangslagen und Abweichungen von der Norm, ermüdende Selbstanalyse, furchtsame Leidenschaften oder sentimentale Melancholie zum Ausdruck brachte, war ein weiteres Anzeichen für Stolz und Arroganz, für ungemilderten und ungesunden Egoismus.125 „Hinweg mit erotischen Problemen“, ruft Tschernyschewski in seiner Rezension von Turgenews Asja aus, „der moderne Leser findet keinen Gefallen an ihnen, denn er befasst sich mit der Verbesserung der Ver waltung und des Justizwesens, mit Finanzfragen und mit dem Problem der Befreiung des Bauernstandes“.126 Kunst muss sich mit dem Leben befassen. Sie muss Demut gegenüber der Natur bekennen. Jeder Versuch, ein Reich der Schönheit zu erschaffen, verfeinerter, erhabener, reiner als das Leben, war verdammt, denn er hatte den Beigeschmack von Idealismus, des Leugnens der Bedeutung des Lebens. Sie muss124 125 126
Černyševskij, Izbrannye Filosofskie sočinenija, Band 3, S. 202 f.; vgl. Woehrlin, Chernyshevsky, S. 134 f. sowie die dazugehörige Anmerkung 16 auf S. 372. Vgl. Černyševskij, Polnoe sobranie, Band 2, S. 271, 273 f., 514–516. Ebd., Band 5, S. 166.
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te von dem Glauben durchdrungen sein, dass keine künstlerische Leistung eine Verbesserung der Natur, der unübertroffenen Schönheit des echten Apfels, der echten Orange, der echten Probleme des Lebens darstellte. Nicht dass Kunst dazu aufgerufen sei, das Leben einfach zu kopieren, nachzuahmen oder zu fotografieren. Sie sollte sich mit den bedeutsamen Dingen im Leben befassen, vor allem mit dem menschlichen Bemühen, das Leben zu verbessern und den niemals endenden Aufstieg zu höheren und edleren Formen des Lebens wiederzuspiegeln und zu unterstützen.127 Bei dieser Aufgabe sollte die Kunst sich natürlich auf kreative und effektive Weise der Vorstellungskraft und Einsicht bedienen : durch kluge Wahl von Thema und Objekt, durch Isolierung der her vorstechendsten oder mächtigsten Aspekte des Lebens, durch angemessene Her vorhebung und Dramatisierung dessen, was vermittelt werden sollte, sowie durch die Anregung von Enthusiasmus und Glauben. Tschernyschewski verurteilte die traditionelle Vorstellung von der Tragödie als Kampf gegen das blinde Schicksal, weil eine solche Auffassung des Schicksals ihm ein Gräuel war. Für ihn war das Tragische einfach das Entsetzliche im Leben, und das Erhabene war lediglich das quantitativ Gewaltige.128 Die Kunst sollte den Klassencharakter ästhetischer Kriterien beachten. Sie war aufgerufen, die Lebensfreude in der Art her vorzuheben und zu preisen, in der einfache Leute beispielsweise auf die Schönheit eines gesunden, kräftigen, rotwangigen, vollbusigen Mädchens reagierten, im Gegensatz zu der aristokratischen Neigung, ungesunde Blässe, zerbrechliche Körper, zierliche kleine Füßchen zu liebkosen. Kurzum, das Objekt der Kunst war nicht isolationistischer Individualismus, sondern die Gesellschaft, das soziale Unterfangen – „Menschlichkeit und Sorge um die Verbesserung des menschlichen Lebens im Geiste Schillers und Byrons“. „Der Künstler wird zum Denker und Philosophen, und die Kunstwerke erhalten wissenschaftliche Bedeutung, während sie in der Sphäre der Kunst verbleiben.“129
4. Totale Hingabe Tschernyschewski hatte mit einem Aufruf an den Menschen begonnen, sich von hemmenden Ängsten und das Leben abwürgenden Tabus zu befreien; zu wagen, man selbst zu sein, sein eigenes Leben zu leben, kurzum, das Joch der 127
128 129
Vgl. ebd., Band 2, S. 10–14, 85 f.; siehe auch Woehrlin, Chernyshevsky, Kapitel 6 : Aesthetics and Literary Criticism, S. 144–186; Plechanow, Historia, Band 2, S. 271–367; Lampert, Sons agaist Fathers, S. 208–225. Vgl. Černyševskij, Polnoe sobranie, Band 2, S. 24–26, 177–179. Ebd., Band 2, S. 86; Band 3, S. 302; vgl. Plechanow, Historia, Band 2, S. 286–305; Walicky, Rosyjska Filozofia, S. 282 ff.
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menschlichen Unfreiheit abzuwerfen, das von selbstsüchtigen Interessen und verdummenden Lehren auferlegt wurde. Dabei predigte er schließlich die Notwendigkeit der Selbstdisziplin, der Hingabe an die Gesellschaft, der Tugenden eines Soldaten im Dienste des Fortschritts. Die menschliche Befreiung von den Fesseln wurde schließlich als kollektive Anstrengung für die allgemeine Emanzipation und als ununterbrochener, mächtiger Kampf wahrgenommen. Statt befreit zu werden, stand das Individuum nun der Herausforderung gegenüber, seine aufrichtige Hingabe an die allgemeine Sache beweisen zu müssen, sich zu engagieren, niemals zurück oder über die Schulter zu schauen, sich niemals über seine angeblich verlorene Ursprünglichkeit oder Glaubwürdigkeit Gedanken zu machen, sondern ein neuer Mensch zu werden. Der Beweis für die Hingabe war die Handlung. Jede Unterscheidung zwischen Theorie und Praxis – was ich tun möchte und was ich tatsächlich tue, wozu ich mich bekenne und wie ich mich tatsächlich verhalte – war pietätlos, hatte den Beigeschmack von Heuchelei. Wie bei jeder wahren Religion umfasste der Dienst an der Sache den Glauben und die Tat gleichermaßen. Kein Wunder, dass Tschernyschewski gegenüber Zögern, Schwanken und Zweifeln, der Neigung, beide Seiten einer Frage zu sehen sowie von der Komplexität und Relativität von Sachverhalten beeindruckt zu sein, zutiefst misstrauisch war. Er hatte keine Geduld mit dem Kompromiss, mit der Rücksichtnahme auf verschiedene Meinungen und Interessen, mit dem goldenen Mittelweg, schrittweisem Vorgehen oder ganz besonders dem Liberalismus. Sie schienen ihm alle Beweise für Ausflüchte zu sein, für einen Mangel an Überzeugung, für selbstsüchtige Feigheit oder für die Unfähigkeit, die guten Dinge im Leben hinter sich zu lassen. Daher der selbstgerechte, denunzierende, scharfe Ton, die Weigerung, Grautöne zuzulassen, ja die Rohheit und oft vorgetäuschte und herausfordernde Ungehobeltheit. Weder Tschernyschewski noch sein jüngerer Freund, Dobroljubow, der die Vergangenheit und die Seele eines Seminaristen hatte, der ständig die Sünden der Menschheit und seine eigenen zählte, hätten irgendein Verständnis für den alles durchdringenden Sinn für Ambivalenz eines Mannes wie Herzen entwickeln können.130 Herzens Genusssucht, seiner Liebe zu den guten Dingen des Lebens, seinem Zurückweichen vor Fanatismus, Anstößigkeit, Hysterie und schrillen Stimmen wie auch Turgenews anspruchsvollem Ästhetizismus und dessen Zögern, sich einer Sache zu verschreiben, begegnete Tschernyschewski mit dem unnachgiebigen und morbiden : „Doch ich denke.“131 Herzen war über die „neuen Menschen“ entsetzt, mit deren Ansichten er natürlich sympathi130 131
Vgl. Lampert, Sons against Fathers, S. 261–271. Lampert nennt ihn hier einen „literarischen Robespierre“. Vgl. Woehrlin, Chernyshevsky, S. 251–257.
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sierte, deren Hingabe an die Sache er zutiefst respektierte, doch deren plumper Extremismus ihn alarmierte.132 Er nannte diese Menschen der sechziger Jahre „die überflüssigen und reizbaren Menschen“, die „Daniels auf der Newa“, die Menschen hassten, welche aßen, ohne mit den Zähnen zu knirschen, und die kein schönes Bild oder liebliches Musikstück auch nur für einen Augenblick die Missstände der Welt vergessen lassen konnte.132z Der Kontrast zwischen Tschernyschewskis ausweichender Schüchternheit und ungelenker äußerer Scheu und seiner eisernen Entschlossenheit, die ihn furchtlos gegenüber „schmutzigen, betrunkenen Bauern mit Knüppeln, gegenüber Gemetzeln“133 machten, die verletzende Arroganz und Gerissenheit, die sich im ständigen Versteckspiel mit der Zensur zeigte – das alles brachte Turgenew dazu, Tschernyschewski „eine Natter“ und Dobroljubow „eine Kobra“134 zu nennen. Tschernyschewskis Verhaftung wurde unbeabsichtigter weise von Herzen herbeigeführt, als sein Brief mit dem Angebot, die Zeitschrift Der Zeitgenosse [„Sowremennik“] im Ausland herausgeben zu helfen, falls sie von der Obrigkeit geschlossen würde, von der Polizei abgefangen wurde. Die Regierung war auch überzeugt, dass Tschernyschewski der Verfasser des aufrührerischen Manifestes an die Bauern war – eine Frage, die nie abschließend geklärt werden konnte.135 Kawelin, der Prototyp eines russischen Liberalen der Jahrhundertmitte, schrieb, er habe große Zuneigung für Tschernyschewski empfunden, „doch einen ungehobelteren, taktloseren und eingebildeteren Mann“136 habe er nie getroffen ! Tschernyschewski und Dobroljubow behandelten die Liberalen als tatsächliche oder potentielle Verräter. Sie blockierten revolutionäre Energie, während sie als Verteidiger der Rechte der Menschen und Gegner des Despotismus erschienen. Wie die Liberalen von 1848 im Westen würden sie sich gewiss um den Zaren versammeln und der alten Ordnung zu Hilfe eilen, sobald die Massen die Arena beträten. Sie waren rückgratlose Rhetoriker, träge und ausschweifende Oblomows.137 132
Gercen, Sočinenija, Band 7, S. 347 f.; ders. ( Hg.), Kolokol, Nr. 44 (1859); ders., Pisma, Band 2, S. 393 ff., Einführung von Walicki, S. 37; Woehrlin, Chernyshevsky, S. 109, 252, 254, 256. 132z Vgl. Woehrlin, Chernyshevsky, S. 109 f. 133 Černyševskij, Polnoe sobranie, Band 1, S. 419; Band 6, S. 418. 134 Plechanow, Historia, Band 2, S. 61. A. d. Ü. : Vgl. auch Woehrlin, Chernyshevsky, S. 256. 135 Siehe zu Herzens Rolle : Woehrlin, Chernyshevsky, S. 119; zum Manifest vgl. Chernyshevsky, Selected, S. 11; Walicki, Rosyjska filozofia, S. 270 ff. 136 Kawelin, zit. in Woehrlin, Chernyshevsky, S. 109. 137 Vgl. Černyševskij, Polnoe sobranie, Band 5, S. 668 f.; Plechanow, Historia, Band 2, S. 433–436, 440 f.; die charakteristischsten Äußerungen zum Thema waren Tschernyschewskis Unterscheidung zwischen Liberalen und Demokraten in seinem Artikel
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Dobroljubow behandelt russische Liberale und die Aristokratie gleichermaßen als Oblomowtum, als „überflüssige Menschen“, die bis zur Morbidität von Kultur gesättigt seien. „Ja, alle diese Oblomows haben die Prinzipien, die man ihnen eingeprägt hat, nie in Fleisch und Blut aufgenommen, sie haben sie nie bis in die letzten Konsequenzen durchgeführt, sie sind nicht bis zu der Grenze gegangen, wo das Wort zur Tat wird, wo das Prinzip mit dem innersten Bedürfnis der Seele verschmilzt, sich in ihm auf löst und zur einzigen Kraft wird, die den Menschen vor wärtstreibt. Darum lügen diese Menschen auch beständig, darum versagen sie in jedem besonderen Fall ihrer Tätigkeit. Darum hängen sie auch mehr an abstrakten Ansichten als an lebendigen Tatsachen; allgemeine Prinzipien sind ihnen wichtiger als die einfache Lebenswahrheit. Sie lesen nützliche Bücher, um zu wissen, was man schreibt; sie schreiben hochsinnige Artikel, um sich an dem logischen Aufbau ihres Gedankenflusses zu begeistern; sie sagen kühne Dinge, um dem Wohllaut ihrer Phrasen zu lauschen und die Hörer zum Lob zu veranlassen. Aber was weiter kommt, welches Ziel all dieses Gelese, Geschreibe, Gerede hat – das wollen sie entweder überhaupt nicht wissen, oder es macht ihnen nicht gar zuviel Sorge.“138 Dies war der Beginn des schicksalhaften Duetts in der russischen Geschichte, das der Revolution von 1917 vorausging. Der Wortführer des Liberalismus, Kawelin, warnte davor, „den Verfall der morschen sozialen Formen zu beschleunigen. [...] mit Bedacht, behutsam voranschreiten, kein Öl in die Flammen gießen, keine ungesicherte Kerze in das Pulvermagazin mitnehmen ! Lasst stürmische Gedanken sich beruhigen, lasst die Dinge sich herauskristallisieren ! [...] Jedes neue Unternehmen erfordert Anstrengungen, große Anstrengungen; habt Geduld !“139 Darauf antwortete „der Gründer des Materialismus und Kommunismus auf russischem Boden“ – nach den Worten Jurij Steklows, des führenden Biographen Tschernyschewskis – mit der Erklärung, in der Geschichte sei noch nie ein großer Durchbruch ohne große Erschütterungen erreicht worden.140 Kawelin war davon alarmiert, dass der niedere russische Adel „sich mit einer Verfassung beschäftigte“.141 Es „beängstigt mich so sehr, dass ich an nichts anderes denken kann. [...] Unser historisches Schicksal ähnelt sehr dem Frankreichs“, wo es die Adligen waren, welche die Mas-
138 139 140 141
über „Parteikämpfe in Frankreich unter Ludwig XVIII. und Karl X.“; ders., Polnoe sobranie, Band 5, S. 215 f.; und vor allem Dobroljubow, Was ist Oblomowtum?, S. 226–268; ders., Wann endlich kommt der Tag ?; vgl. Matlaw (Hg.), Belinsky, Chernyshevsky and Dobrolyubov, S. 133–175, 176–226. Dobroljubow, Was ist Oblomowtum ?, S. 260; zu Dobroljubow vgl. Walicki, Rosyjska filozofia, S. 300 ff. Lampert, Sons against Fathers, S. 83. Steklov, N. G. Chernyshevsky. Lampert, Sons against Fathers, S. 84.
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sen am Vorabend von 1789 zur Revolution angestachelt hatten, und zwar „durch ihre Unvernunft [...], ihre doktrinäre Haltung oder Unreife“.142 Tschernyschewski wies auf Turgots Misserfolg als Beispiel für die Sinnlosigkeit eines schrittweisen Vorgehens hin.143 Wie zu erwarten, verknüpfte Tschernyschewski die Ansichten eines Diskussionsteilnehmers mit dessen sozialer Stellung. Die Ansichten jedes Philosophen „sind schon immer unter dem mächtigen Einfluss ihrer sozialen Lage ausgearbeitet worden, als Philosophie [...] einer bestimmten politischen Partei“.144 Kant war ein Anhänger der Französischen Revolution, doch er schreckte vor Terrormethoden zurück. Fichte tat das nicht. Hegel war ein moderater Liberaler, doch extrem konser vativ bei der Anwendung seiner Prinzipien, bereit dazu, die überholte reaktionäre Vergangenheit mit revolutionären Methoden zu bekämpfen, doch sehr darauf bedacht, die Dynamik der Revolution zu drosseln.145 Der Kampf gegen die menschliche Erniedrigung und für die Autonomie der menschlichen Persönlichkeit bedeutete vor allem einen Kampf gegen Klassenherrschaft und Klassenunterdrückung und in Russland gegen die Leibeigenschaft der Bauern und für die Bauernemanzipation. Sein leidenschaftlicher Glaube an die überragende Bedeutung der Klassenfrage machte Tschernyschewski intolerant gegenüber dem, was er nationalistischen Humbug nannte, gegenüber jeder Idealisierung der Besonderheit des russischen Wesens, der russischen Vergangenheit, der besonderen Institutionen Russlands oder seiner einzigartigen Mission. Im Vergleich mit den großartigen kulturellen Errungenschaften des Westens besaß Russland kaum eine Geschichte oder ein lebenswertes Leben. Es hatte nichts zu den Wissenschaften und Künsten beigetragen, sondern war nur eine kolossale Garnison und Militärmaschinerie, wie Attilas Hunnen.146 Da für ihn die soziale Klassenfrage so zentral war, achtete Tschernyschewski kaum auf politische Strukturen und Institutionen. Manchmal spielte er mit dem Gedanken, dass eine Diktatur, selbst eine monarchische Diktatur, der einzige Weg zur Ver wirklichung der allgemeinen Wohlfahrt und zur Über windung von Klassenegoismus und ökonomischer Ausbeutung sei.147
142 143 144 145 146 147
Ebd. Vgl. Černyševskij, Polnoe sobranie, Band 5, S. 316 f. Ebd., Band 7, S. 223. Vgl. ebd.; Plechanow, Historia, Band 2, S. 167. Vgl. Černyševskij, Polnoe sobranie, Band 14, S. 48; Plechanow, Historia, Band 2, S. 218–222. Vgl. z. B. Černyševskij, Polnoe sobranie, Band 1, S. 121 f.; Plechanow, Historia, Band 2, S. 251 ff.
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Es waren nicht politische Formen, sondern die sozialen Strukturen, die für Tschernyschewski von entscheidender Bedeutung waren. „Es spielt keine Rolle, ob es einen Zar gibt oder nicht“, schrieb der junge Mann in sein Tagebuch, „ob es eine Verfassung gibt oder nicht; was zählt, sind soziale Beziehungen, die Frage, ob eine Klasse eine andere ausbeutet.“148 „Es wird am besten sein“, schreibt er an anderer Stelle, „wenn uns die Autokratie in Leibeigenschaft hält, bis sich ein Geist der Demokratie entwickelt hat, damit mit dem Anfang der Volksregierung die Macht de jure und de facto in die Hände der niedrigsten und zahlenmäßig größten Klasse übergeht – die der Bauern und Handwerker und Arbeiter, damit wir jede Art von Übergangsstaat vermeiden können.“149 Herzen nicht unähnlich, wurde Tschernyschewski von dem ersten Reskript des Zaren Alexander II. von den Beinen gerissen. „Ihr liebt Gerechtigkeit“, zitierte er den Psalmisten, „und hasst die Bosheit. Deshalb hat Gott, Euer Gott, Euch gesalbt. [...] Die Geschichte Russlands wird sich von diesem Jahr an so sehr von allem unterscheiden, was vorher war, wie sich die Ära Peters [ des Großen] von den frühen Zeiten unterschied. Das neue Leben, das für uns beginnt, wird im Vergleich zu unserem früheren Leben ebenso viel schöner, blühender, strahlender und glücklicher sein.“150 Einige Historiker meinen, in dieser Hymne auf den Zaren ein Stück raffinierten Machiavellismus zu entdecken : Tschernyschewski machte sich von Anfang an keine Illusionen über den Ausgang der Emanzipation der Leibeigenen. Alles, was er wollte, war, die mögliche Enttäuschung der Bauernmassen zu verstärken und die Revolution näher zu bringen.151 Ob nun Tschernyschewski vorübergehend von Enthusiasmus ergriffen wurde oder nach dem Prinzip „je schlechter, desto besser“ handelte : Er schwankte nie in seiner theoretischen Haltung, alles Land einschließlich des Feudalbesitzes gehöre der Nation, genauer gesagt den arbeitenden Bauern, und folglich in seiner beharrlichen Forderung nach Landbefreiung.152 Obwohl er bereit war, den Grundherren eine Entschädigung zukommen zu lassen, um nicht eine ganze Klasse mit einem Federstrich zu zerstören, hätte er nie zugestimmt, diese Entschädigung von den Bauern zahlen zu lassen. Sie sollte allenfalls vom Staat kommen. Er wollte natürlich nichts von irgendwelchen Diensten der befreiten Bauern für die Grundherren hören : „Die Pflichtarbeit beizubehal148 149 150 151 152
Tschernyschewski, Pisma Filozoficzne, Band 2, S. 383 f. Ebd., S. 426 f.; vgl. auch Walicki ( Hg.), Filosofie społeczna, Band 1, S. LX. Černyševskij, Polnoe sobranie, Band 5, S. 65 ff. Vgl. Woehrlin, Chernyshevsky, S. 189 f.; Černyševskij, Polnoe sobranie, Band 13, S. 187 f. Vgl. z. B. Černyševskij, Polnoe sobranie, Band 5, S. 65–107, 500–570; Plechanow, Historia, Band 2, S. 53–55, 423–427, 436, 415–419; Woehrlin, Chernyshevsky, S. 189– 202, Zitat : S. 190.
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ten würde im Wesentlichen bedeuten, das Leibeigenschaftsgesetz beizubehalten. Das Volk könnte das nicht anders verstehen, und es hätte Recht. Es ist nicht nötig zu sagen, welche Konsequenzen es haben würde, wenn das Volk mit der Überzeugung zurückgelassen würde, dass die Leibeigenschaft intakt bleibt.“153 Tschernyschewski schien beinahe erleichtert aufzuatmen, als es ihm gelang, die Ergebnisse der großen Reform als arglistige Abmachung zwischen dem Zaren und den Grundherren zu demaskieren, durch die die Form der Leibeigenschaft zwar geändert, die Substanz aber beibehalten werden sollte. Das tat er in den berühmten Briefen ohne Adresse154 vom Februar 1862, die eigentlich an den Zaren gerichtet waren, doch deren Veröffentlichung die Zensur verboten hatte. In manchen Fällen, schrieb er, mussten die „emanzipierten“ Bauern nunmehr 1,10 Rubel für den einen Rubel bezahlen, den sie vorher entrichtet hatten.155 Da die Ereignisse gezeigt hatten, dass halbherzige Maßnahmen jede Hoffnung auf wahre Reformen zunichtemachen und die historische Allianz zwischen Autokratie und Aristokratie stützen sollten, musste das ganze System von der Wurzel her ausgerottet werden.156 Das bedeutete eine erneute Bekräftigung der Bedeutung der Politik. Im Exil hielt Tschernyschewski dem Argument, politische Reformen könnten keinen einzigen hungrigen Bauern ernähren, entgegen, politische Freiheit sei wie die Luft zum Atmen : Man könne mehrere Tage auf Nahrung verzichten, doch man überlebe nicht länger als wenige Minuten ohne Luft.157 Tschernyschewskis frühere Unterschätzung der Politik war auch durch seine Gleichsetzung des Konstitutionalismus mit der Herrschaft der Bourgeoisie und dem Funktionieren des Marktmechanismus bedingt.158 Ihm begann bewusst zu werden, dass ohne Freiheit kein effektiver Kampf gegen die Allianz des Monarchen mit der Aristokratie und kein revolutionärer Wandel ohne die Ergreifung der politischen Macht möglich war. Tschernyschewski war unfähig, sein Vertrauen allein in die Fähigkeit der wirtschaftlichen Kräfte zur sozial - ökonomischen Restrukturierung Russlands zu setzen.159 Die Ökonomie war kein Problem von Produktion und wirtschaftlichem Wachs153 154 155 156 157 158 159
Černyševskij, Polnoe sobranie, Band 5, S. 737, 734. Ebd., Band 10, S. 90–114. A. d. Ü. : Vgl. auch Woehrlin, Chernyshevsky, S. 201 f. Vgl. ebd., S. 114. Vgl. z. B. ebd., Band 5, S. 703 f. Vgl. Oksman ( Hg.), N. G. Chernyshevsky, Band 2, S. 72 f.; Walicki ( Hg.), Filosofie społeczna, Band 1, S. LXI. Vgl. Černyševskij, Polnoe sobranie, Band 5, S. 217. Vgl. ebd., Band 4, S. 713; Band 5, S. 577 f., 589 f.; Woehrlin, Chernyshevsky, S. 202– 208; Plechanov, Izbrannye filosofskie proizvedenija, Band 4, S. 309–317; ders., Historia, Band 2, S. 199, 435 f., 443.
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tum, sondern von gleicher Verteilung und davon, den wahren Produzenten allen Reichtums gerecht zu werden : den arbeitenden Massen, indem ihnen das gesamte Nettoprodukt ihrer Arbeit garantiert wurde. Er definierte Ökonomie als „die Wissenschaft von dem materiellen Wohlergehen des Menschen in Abhängigkeit von den Objekten und Gegebenheiten der Arbeit“.160 Wie die Narodniki und deren Erben, die Sozialrevolutionäre, bevorzugten Tschernyschewski und Dobroljubow die Unterteilung der Menschheit in Arbeiter und parasitäre Müßiggänger statt in Proletarier und Bourgeois.161 Tatsächlich neigten sie dazu, den Menschen mit dem Arbeiter gleichzusetzen, wobei sie den Müßiggänger als eine Art Nicht - Menschen behandelten oder auf jeden Fall als jemanden, der es versäumte, seine Menschlichkeit und Freiheit durch die greifbaren Auswirkungen von Arbeit – dem wesentlichen Mittel zur Selbstdarstellung des Menschen, seinem Anrecht auf Anerkennung und Rechte und der einzigen Quelle sozialen Wohlstands – zur Geltung zu bringen. „Der Mensch ist keine ökonomische Maschine“, schrieb er, „sondern ein lebendes Wesen, das auf der einen Seite mit verschiedenen Bedürfnissen und auf der anderen mit Vernunft ausgestattet ist. Sie vergessen, dass in der menschlichen Gesellschaft über die blinden, irrationalen, gnadenlosen Prinzipien des Verhältnisses von Angebot und Nachfrage hinaus ein anderes Prinzip sich durchsetzen sollte – das Gesetz der Befriedigung natürlicher menschlicher Bedürfnisse und der rationalen Organisation der ökonomischen Kraft. Unter der Annahme, dass das beste System ohne das Eingreifen einer rationalen Absicht mittels irgendeines Instinktes der Hersteller gebildet wird, lehnen sie die Notwendigkeit einer Theorie ab und akzeptieren die Unantastbarkeit der Praxis.“162 Das erklärt, warum Tschernyschewski, obwohl er kein reiner Agrarier war und die Industrialisierung als unvermeidlich und wünschenswert begrüßte, als einer der ersten russischen Denker die zwingende Notwendigkeit predigte, das Stadium des uneingeschränkten Laissez - faire, des Konkurrenzkapitalismus und seiner unvermeidlichen Folge, ein Massenproletariat, zu überspringen.163 Ohne jegliche Idealisierung der Landgemeinde, von der er glaubte, sie sei entstanden und beibehalten worden, weil die Bauern sie als vorteilhaft für sich selbst ansahen, betrachtete Tschernyschewski diese schließlich zusammen mit den städtischen Industriekooperativen als Grundpfeiler der künftigen sozialistischen Organisation der Produktion an. Sie war vor allem ein Mittel, um die Phase der kapitalistischen Organisation und Zentralisierung mit all den elen160 161 162 163
Lampert, Sons against Fathers, S. 190. Vgl. Černyševskij, Polnoe sobranie, Band 7, S. 36. Ebd., Band 4, S. 713. Vgl. ebd., S. 744.
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den Verhältnissen und der Ungerechtigkeit, die sie mit sich brachte, zu umgehen. Er führte die Hegel’sche „Dreieinigkeit“ an, um seinen Glauben zu stützen, dass die dritte und letzte Phase gewöhnlich eine Wiederherstellung der ersten in weit höherer und differenzierterer Weise sei.164 Er erwartete auch, dass die Landgemeinde der Zukunft alle von der modernen Technologie und Großproduktion bereitgestellten Gerätschaften nutzen würde. Während er alte Institutionen und Sitten wie auch asketische Traditionen keineswegs romantisch idealisierte, lehnte Tschernyschewski die Leidenschaft für ökonomisches Wachstum als Selbstzweck ab und hielt die Ansicht, dass dieses geeignet sei, indirekt alle zu begünstigen, auch die Arbeiter, für Humbug.165 „Unser Sibirien, wo einfache Menschen Wohlstand genießen, ist England überlegen, wo die Mehrheit der Menschen extreme Not leidet.“166
5. Elite und Gewalt Tschernyschewski konnte Freiheit nur insoweit als real ansehen, als sie Wohlergehen sicherte. Formale Freiheit ohne ökonomische Sicherheit war für ihn ein Hohn. Die Politik konnte nicht vom sozialen Problem getrennt werden. Die Bauernfrage war daher gleichzeitig das soziale wie auch politische Problem Russlands. Bereits in den frühen 1850er Jahren, doch dann unwiderruf lich unter dem Eindruck der Enttäuschung bezüglich der Bauernemanzipation, reifte in Tschernyschewski die Überzeugung, die Rettung für die Bauern werde weder aus dem Handeln der Regierung noch aus den objektiven Mechanismen der Ökonomie noch aus dem aufgeklärten Eigeninteresse oder der Großzügigkeit des Adels erwachsen. Die Bauern konnten sich nur durch ihre eigenen Anstrengungen retten, nämlich durch einen gewalttätigen Aufstand: eine Revolution. 1850 erlebte er eine „unwiderstehliche Erwartung der Revolution und eine Sehnsucht danach“167 und war sich sicher, es handele sich um eine Frage von nur wenigen Jahren. Früh genug dachte er sich einen Plan aus, ein gefälschtes Manifest herauszubringen, das den Bauern im Namen des Heiligen Synods Freiheit und Land gab.168 Der dadurch verursachte Aufruhr würde zu blutigen Aufständen führen. Obwohl diese unterdrückt werden würden, 164 165 166 167 168
Vgl. ebd., Band 5, S. 363, 387–390. Vgl. Lampert, Sons against fathers, S. 193 f. Tschernyschewski, Pisma filozoficzne, Band 1, S. 90; Walicki ( Hg.), Filosofie społeczna, Band 1, S. LX. Lampert, Sons against Fathers, S. 182. Tschernyschewski, Pisma filozoficzne, Band 1, S. 356 f., 418. Vgl. Lampert, Sons against Fathers, S. 182. Vgl. ebd., S. 372 f.
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wären die Massen zur Genüge aufgewühlt, um es bald danach wieder zu versuchen. Er machte sich auch Gedanken über den Tyrannenmord. „Erwacht aus eurem Schlaf“, rief er den Mushiks unter Anspielung auf die großen bäuerlichen Jacqueries der Vergangenheit zu.169 Er war sich der enormen Gefahren bewusst, die er heraufbeschwor, wenn er den tief sitzenden heftigen Groll der Bauernmassen weckte, ihr tief ver wurzeltes Misstrauen und den Hass gegen alle anderen Klassen und jene Leidenschaft für die Zerstörung, die keine Kunstdenkmäler und keine kulturellen Werte verschonen würden. Doch der „Lauf der Geschichte hat keine Ähnlichkeit mit dem Straßenpflaster des Newski - Boulevards : einmal verläuft er über staubige, schmutzige Felder, dann durch Sümpfe, dann durch Wildnis“.170 Es mag nicht nur die schwache Reaktion der Bauern auf die Enttäuschung durch das Emanzipationsgesetz – nur einige vereinzelte Unruhen – gewesen sein, sondern auch gerade die Angst vor den Massen, die eines Tages Amok laufen und die Zivilisation zerstören würden, die Tschernyschewskis Gedanken auf eine elitäre Organisation und strengen Voluntarismus lenkten. Tschernyschewskis Elite, wie sie in Was tun ? erscheint, ist eine Elite von Verständnis und Charakter, eines rationalen Egoismus, der zu reinstem, selbstaufopferndem Idealismus und konstruktivem sozialen Bemühen getrieben werden kann.171 Dessen exemplarischer Vertreter, der Athlet des Sozialismus, Rachmetow, versteht den Verlauf der Geschichte, die Anforderungen der Stunde, die Gebote der Wissenschaft und Sozialmoral und hat die Fähigkeit und Charakterstärke und gleichzeitig den Mangel an eigennützigen Versuchungen und Ablenkungen, also alle notwendigen Tugenden, um das praktisch auszuführen, was er in der Theorie fordert : Er lebt ein extrem asketisches Leben. Er schläft auf einem Nagelbett. Er sagt seinen Genossen in der Kooperative : „Mein Bett ist dein Bett, meine Frau ist deine Frau.“171z Lopuchow, sein Genosse, zieht sich zurück, als er spürt, dass seine Frau ihre Zuneigung auf einen anderen übertragen hat, und bleibt mit beiden befreundet. Sein ganzes Leben ist eine Vorbereitung auf die beschwerliche Aufgabe im Interesse des Volkes.172
169
Lampert, Sons against Fathers, S. 183. Vgl. Tschernyschewski, Pisma filozoficzne, Band 1, S. 372 f. 170 Lampert, Sons against Fathers, S. 184; Černyševskij, Polnoe sobranie, Band 7, S. 923. 171 Vgl. Tschernyschewskij, Was tun ?. Zur berühmten Erklärung von 1860/61 „An die Bauern der Grundbesitzer“, die Tschernyschewski zugeschrieben und als Hauptanklagepunkt bei seinem Prozess ver wendet wurde, vgl. Woehrlin, Chernyshevsky, S. 274–287. 171z Zitat nicht nachweisbar. 172 Vgl. Tschernyschewskij, Was tun ?, S. 382–408 ( A. d. Hg. : Hier findet man eine Beschreibung Rachmetows ); Hare, Pioneers of Russian Social Thought, S. 195–198.
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„Ihre Zahl ist gering, aber sie machen das Leben der anderen erst lebenswert; ohne sie würde es schal werden und versauern. Ihre Zahl ist gering, aber sie ermöglichen allen Menschen das Atmen; ohne sie würden die Menschen ersticken. Rechtschaffene und gute Menschen gibt es viele, solche hingegen nur sehr, sehr wenige; allein jene wenigen in der großen Menge – sie sind [ das Thein im Tee,] die Blume des edlen Weins, sie verleihen der Menge Saft und Kraft, denn sie sind die Blüte der Besten, die Förderer der Förderer, sie sind das Salz des Salzes der Erde.“173 In seiner Huldigung Lessings schreibt Tschernyschewski der Rolle einer moralischen und intellektuellen Elite recht explizit mehr Wirksamkeit zu als ökonomischen und politischen Entwicklungen.174 „Obwohl Politik und Industrie sich mit mehr Lärm im Vordergrund der Geschichte bewegen mögen, zeugt Geschichte dennoch davon, dass Wissen die essentielle Energie ist, welcher sowohl die Politik als auch die Industrie und alles andere im Leben untergeordnet ist.“175 Tschernyschewski scheint sich nicht an seiner früheren Aussage zu stören, dass ökonomische Bedingungen „die Grundursachen für fast alle Geschehnisse auf anderen Gebieten und in den höheren Sphären des Lebens“ seien.176 Für Tschernyschewski war es immer noch die Meinung, welche die Welt regierte. Diesbezüglich war Fortschritt der Fortschritt von Aufklärung und Verständnis unter den Aufgeklärtesten, Feinfühligsten und Wagemutigsten. Sie waren wie die Vorhut der erobernden Armee, die Ersten, die das Ziel erreichten. Die übrigen würden mit Sicherheit schließlich dazustoßen und sich der Avantgarde anschließen. Von dem Willen nach Wissen und dem Wunsch nach Glück geleitet, konnten die Massen gar nicht anders als zu erscheinen, und wenn sie erst einmal den Gipfel erreicht hatten, würden sie das Hochland bis zum fernsten Horizont erblicken und frohlocken.177 Wahrscheinlich trug niemand mehr zur Erschaffung des Mythos und Ideals bei, ja des lebenden Beweises des Volksdieners, des hingebungsvollen Kämpfers für die Erlösung der Massen als Mitglied eines halb - religiösen, halbmönchischen Ordens, als Tschernyschewski. Der Westen kann die tiefe Ernsthaftigkeit, mit der Berufsrevolutionäre, ja Idealisten aller Art in Russland und Polen mit ihrer Berufung umgingen, kaum verstehen. Herzen sagte, die russische Generation nach 1862 stamme fast gänzlich aus Was tun ?.178 Berdjajew 173 174 175 176 177 178
Černyševskij, Polnoe sobranie, Band 11, S. 210; Hare, Pioneers of Russian Social Thought, S. 196 f. A. d. Ü. : Siehe auch Tschernyschewskij, Was tun ?, S. 408. Vgl. Černyševskij, Polnoe sobranie, Band 4, S. 5–221; Plechanow, Historia, Band 2, S. 278. Černyševskij, Polnoe sobranie, Band 4, S. 6. Ebd., Band 3, S. 357. Vgl. ebd., Band 7, S. 429–433. Vgl. Gercen, Sobranie, Band 8, S. 381.
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bezeichnete die Schrift als eine Art Katechismus des russischen Nihilismus.179 Tschernyschewski war sich dessen bewusst und voller Erwartung. „Erst vor kurzem ist dieser Typ entstanden, aber er verbreitet sich rasch. Er wurde mit seiner Zeit geboren. [...] Nach einigen Jahren [...] wird man ihnen zurufen [...]. Stolz und bescheiden, streng und milde [...] wird [ dieser Typ wieder ] erscheinen, zahlreicher und unter besseren Formen, weil er dann schon mehr des Guten vorfinden wird. [...] Dann wird es keinen besonderen Typ geben, weil alle Menschen zu diesem Typ gehören und nicht begreifen werden, wie es eine Zeit hat geben können, in welcher er als ein besonderer Typ betrachtet wurde und nicht als die allgemeine Natur aller Menschen.“180 Die Eignungsprüfung dafür, zur Avantgarde zu gehören und sich als ihr Mitglied zu verhalten, bestand im Selbstopfer und nicht in der Vormachtstellung als geborener Anführer gegenüber anderen. Es ist kein Zufall, dass Tschernyschewski bei einem solch starken Kontrast zu Marx und Engels die Gefahren für die sozialistische Brüderlichkeit und Gleichheit in der dar winistischen Theorie des Kampfes ums Dasein, der natürlichen Auslese und des Überlebens der Stärkeren schlummern sah.181
179 180
181
Vgl. Berdjaev [ Berdjajew ], Istoki i smysl russkogo kommunisma, S. 43. Černyševskij, Polnoe sobranie, Band 11, S. 145. Vgl. auch Valentinov [ Walentinow ], Tchernychevski et Lénine, Teil 1, S. 107. A. d. Ü. : Siehe auch Tschernyschewskij, Was tun ?, S. 299. Vgl. Černyševskij, Polnoe sobranie, Band 10, S. 737–772; Plechanow, Historia, Band 2, S. 175 f., 181, 187.
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IV. Die Wider sprüch li chen – Baku nin und Law row Die russischen Revolutionäre der Periode nach der Emanzipation waren von einer Reihe von Dilemmata geplagt. Sie waren entschlossen, die gesamte russische soziale Ordnung, ja den historischen russischen Staat, abzuschaffen. Zugleich waren sie aufs Äußerste bestrebt, Russland davon abzuhalten, sich auf den scheinbar unvermeidlichen Pfad der kapitalistisch - industriellen Revolution und eines bürgerlich - liberalen Regimes zu begeben. Somit ersetzten sie die menschliche Wahlfreiheit durch das vorrangige Vertrauen in die historische Dialektik. Extremer Revolutionsgeist ging Hand in Hand mit der Verherrlichung des russischen Nationalismus und der Forderung, die bürgerlich demokratische Revolution des Westens zu umgehen und an ihrer Stelle eine sozialistische Revolution, basierend auf der alten, russischen Dorfgemeinde, herbeizuführen. Die Zeit war jedoch gegen sie. Russland begann gerade seine industrielle Revolution, und der Kapitalismus drohte, die bäuerlichen Kommunen aufzulösen und die russischen Massen zu proletarisieren. Somit war es eine Sache von höchster Dringlichkeit : jetzt oder nie. Entweder würde die Revolution hier und jetzt geschehen oder sie würde auf unbestimmte Zeit aufgeschoben; auf jeden Fall ginge die einmalige Chance, eine wunderbare sozialistische russische Gesellschaft zu errichten, ohne die Frustration und die Not des Westens erfahren zu müssen, unwiederbringlich vorüber.
1. Massenspontaneität und revolutionärer Voluntarismus Wer sollte die Revolution durchführen ? Im Idealfall die bäuerlichen Massen selbst, in den Fußstapfen der Jacqueries von Stenka Rasin und Pugatschow. Die russischen Theoretiker machten sich jedoch keine Illusionen bezüglich deren Rückständigkeit, Gleichgültigkeit und ihres Mangels an Organisation und revolutionärem Bewusstsein. Auch diejenigen, die wie Michail Bakunin die revolutionären und sozialistischen Instinkte des Mushik verherrlichten und einen gewaltsamen Bauernaufstand prophezeiten, unterschieden eindeutig zwischen einem elementaren Aufstand und der konstruktiven Phase des Wiederaufbaus der sozialen und politischen Ordnung.182 182
Als repräsentative Texte mögen die beiden Programme der Zemlya i Volya [ Land und Freiheit ] und der Artikel „What may be expected of the Revolution ?“ des radikalen Populisten Tichomirow dienen; alle sind enthalten in den zwei umfangreichen Bänden mit Texten zum russischen Populismus, die von Andrzej Walicki herausgegeben wurden, siehe Walicki, Filozofia społeczna, Band 1, S. 117, 119, 120–122; Band 2,
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Die Revolutionäre verabscheuten die Idee, sich selbst über die Massen zu stellen, das Recht des Volkes zu usurpieren, für sich allein zu entscheiden und zu agieren sowie das eigene Schicksal zu bestimmen. Aber es musste eine Elite geben, eine Avantgarde, ja auf die eine oder andere Weise eine revolutionäre Diktatur. Die russischen Denker betrieben grenzenlose geistige Akrobatik, um dieser Vorstellung abzuschwören, indem sie hierfür ein Modell entwarfen, um sich dann gegenseitig zu versichern, dass die revolutionäre Diktatur nicht ewig andauern, sondern ausklingen werde und dann die Massen die Macht übernehmen und eine Föderation freier Gemeinden auf den Ruinen eines zentralisierten Zwangsstaatsapparates aufbauen würden. Während die Revolutionäre dazu erzogen wurden, in die Volksseele einzutauchen, sich selbst und ihre Besonderheit gegenüber der Einfachheit des bäuerlichen Lebensstils zurückzunehmen, ja sogar ihre Universitätsstudien aufzugeben, mussten die Propheten unweigerlich die größten Schmerzen in der Kaderausbildung der elitären Führungsschicht auf sich nehmen. Der vielleicht aufrichtigste und nobelste Repräsentant dieser Sichtweise war Piotr Lawrow (1823–1900), ein ehemaliger Artillerieoffizier und Professor der Militärakademie. Seine große Besorgnis um das Dilemma der Revolution führte ihn spät im Leben zu Sozialismus, Exil, Emigration und intensiven publizistischen Aktivitäten als Herausgeber der Vperyod. Im Westen entwickelte Lawrow engen Kontakt zum westlichen Sozialismus und genoss unter anderem die Freundschaft von Marx und Engels.183 Hatte einmal das Bewusstsein der historischen Ungerechtigkeit, die einer Kultur innewohnte, die das exklusive Privileg der herrschenden Klasse war und auf Kosten der Arbeiterklasse aufrechterhalten wurde, den öffentlichen Geist ergriffen, insbesondere die Besten unter den Privilegierten, würden sie nicht ruhen – lehrte Lawrow in seinen Historischen Briefen (1868) –, bis sie ihre Schuld den Benachteiligten zurückgezahlt und ihr Unrecht wiedergutgemacht hätten. Aus Abscheu gegenüber stupider Routine und Gleichgültigkeit gegenüber dem aus Gewohnheit und Tradition stammenden Bösen und selbstver-
183
S. 552–558. Siehe auch Bakunin, Four Anarchist Programmes, bes. den Abschnitt „The Programme of the Slav Section in Zurich“, S. 175–177 [ A. d. Ü. : Auch zu finden in ders., Staatlichkeit und Anarchie, S. 656–658]; Maximoff ( Hg.), The Political Philosophy of Bakunin, Teil 4, Kapitel 9 : On the Morrow of the Social Revolution, S. 409–415. Die ausführlichsten Abhandlungen zum russischen Populismus, die ver wendet wurden, sind Venturi, Roots of Revolution; Wawrykowa, Rewolucyine Narodnictwo, und Pomper, Peter Lavrov. Vgl. die gelungene Einleitung des englischen Übersetzers und Herausgebers James P. Scanlan in Lavrov, Historical Letters, S. 52, 58 ( im Gegensatz zu den Ansichten G. Plechanows und M. Ostrogorskis war für Juri Steklow der Lawrowismus der „originale russische Mar xismus“); Wawrykowa, Rewolucyine Narodnictwo, S. 194; Pomper, Peter Lavrov, S. 126 f.
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Bakunin und Lawrow
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ständlich nicht ohne den Einfluss sozialistischen Gedankenguts legte Lawrow all seinen Nachdruck auf die wesentliche Rolle des kritischen Denkens, auf eine unaufhörliche Überprüfung der existierenden Realität, ihrer Grundlagen, Voraussetzungen und Konsequenzen. In diesem besonderen Moment wurde das kritische Denken der Epoche in die Pflicht genommen, den Feldzug der vereinten Arbeiter gegen das monopolistische Kapital zu organisieren, indem die gefügige Unter werfung der Arbeiter unter ihre Ausbeuter, die Akzeptanz eines angeblich durch die Beschlüsse der Vorsehung und die Gesetze des Universums als eine Strafe für die Sünden der Vorfahren auferlegten Schicksals umgewandelt wurden in Stolz auf ihre produktiven Fähigkeiten und die Tugenden der Arbeit.184 In seinem Essay über Die Definition des Fortschritts von Nikolai K. Michailowski sagt Lawrow, das Idealbild der Gerechtigkeit sei tatsächlich zu allen Zeiten mit der Vorstellung von menschlicher Würde verknüpft gewesen. Wer die menschliche Würde eines anderen verletze, sei stets als ungerecht angesehen worden. Nur waren die alten Kriterien fehlerhaft, vage oder einfach falsch.185 Nun jedoch hatte das kritische Denken Wege gefunden, allen Mitgliedern der Gesellschaft die Anerkennung ihrer menschlichen Würde zu gewähren sowie das Recht auf den gleichberechtigten Genuss von Gütern, gleiche Bedingungen für die individuelle Entwicklung eines jeden und eine größtmögliche Beteiligung an der Mehrung des Wohlstandes.186 Mit Lawrows eigenen Worten : „Die Entwickelung der Persönlichkeit in physischer, geistiger und sittlicher Beziehung; die Verkörperung der Wahrheit und Gerechtigkeit in den gesellschaftlichen Formen – das ist die kurze Formel, die, wie mir scheint, alles umfasst, was man als Fortschritt ansehen kann.“187 Nikolai K. Michailowski (1842–1904), ein weiterer Sprecher der Volkstümler von glänzender Integrität, stieß auf ein nahezu unüber windbares Hindernis, das bereits Auguste Comte und Herbert Spencer vor ihm erkannt hatten.188 Im Hinblick auf das Individuum bedeutete der Fortschritt eine freiere, vollere und diversifiziertere Selbstentfaltung, kurzum : die Ausbildung einer vollständigen Persönlichkeit. Im sozialen Bereich bezeichnete der Fortschritt jedoch eine wachsende Differenzierung, Arbeitsteilung und Spezialisierung – alles wurde zur Erlangung eines größeren Arbeitsertrages, einer größeren Effizienz und eines sparsameren Kräfteeinsatzes benötigt. In primitiven, einfachen Gesellschaften ohne Arbeitsteilung zwangen die Umstände den Menschen, all seine Möglichkeiten zu nutzen, weiterzuentwickeln und umzusetzen, 184 185 186 187 188
Vgl. Lawrow, Historische Briefe, S. 102–110, 207, 367 f. Vgl. Walicki, Filozofia społeczna, Band 1, S. 180. Vgl. ebd., S. 181. Walicki, Filozofia społeczna, Band 1, S. 50; Lawrow, Historische Briefe, S. 69. Vgl. Walicki, Filozofia społeczna, Band 1, S. 409–602.
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da er all seine Bedürfnisse und die seiner Familie selbst zu befriedigen hatte. In der modernen Gesellschaft wurde der Mensch dagegen zunehmend zu einem Rädchen, einem Spezialisten mit winziger Funktion, während all seine Bedürfnisse unter Einsatz unzähliger Experten durch die Gesellschaft befriedigt wurden. Seine Persönlichkeit wurde zunehmend gehemmt und verkümmerte, ganz zu schweigen von all den Einschränkungen, die komplexe moderne Stadtgesellschaften seiner Entscheidungs - und Bewegungsfreiheit auferlegten. Was also für die moderne Gesellschaft Fortschritt war, bedeutete Rückschritt für das Individuum. Im Gegenteil, das primitive Leben war tatsächlich eine Schule des Charakters und das Saatbeet der persönlichen Entwicklung.189 Allerdings befassen wir uns hier nicht mit Michailowskis Methoden, dieser Problematik entgegenzuwirken – wie der Unterscheidung zwischen einfacher und zusammengesetzter Arbeitsteilung, wobei die erstgenannte Methode dazu diente, so viel persönliche Initiative und individuelle Diversifizierung wie möglich zu retten.190 Wir erwähnen ihn als ein Beispiel für die Verstrickungen, in welche die Narodniki - Denker in ihrer Beschäftigung mit dem Problem der Würde der menschlichen Persönlichkeit in einer egalitären modernen Gesellschaft gerieten. Ein Gefühl der Schuld gegenüber Millionen von Leibeigenen veranlasste sie, die ursprüngliche Ehrlichkeit und Leichtgläubigkeit der Bauern zu idealisieren und sich oft selbst scharf als Parasiten, als impotente Schwätzer, Heuchler, wirkungslose Hamlets zu geißeln. In einigen Fällen führte dies in der Tat zu einer Form von volkstümlichem Antiintellektualismus : Instinkt, Empirismus, alte Traditionen und Bräuche wurden als bessere Schule und zuverlässigerer Leitfaden als Erkenntnis und logisches Denken gelobt. Aber Lawrow war ein gründlicher Rationalist, der keine Geduld mit intuitivem Denken und Handeln aus Instinkt und Gewohnheit hatte. Die Tätigkeit, welche er als die kreativste betrachtete, war, wie wir bereits angedeutet haben, das kritische Denken, und was er am meisten fürchtete, war eine stagnierende, gedankenlose Gesellschaft. In seiner Polemik gegen Michailowski, der so gar nicht wusste, wie er die menschliche Vielfältigkeit mit der Gleichheit und die Gerechtigkeit mit der Modernität versöhnen sollte, wies Lawrow darauf hin, dass kritisches Denken immer dem Kopf eines Außenseiters, oft eines exzentrischen Individuums entsprang und niemals allen Köpfen zur gleichen Zeit.191 Lawrows Philosophie war folglich stark aktivistisch. Insofern sie zu bewusster Anstrengung und überlegter Wiederherstellung der Wirklichkeit aufrief und die Rolle des kritischen Denkens zum Instrument der Veränderung erhob, war 189 190 191
Vgl. ebd., S. 411–426, 525–527. Vgl. ebd., S. 449–493. Vgl. Lawrow, Historische Briefe, S. 75–80.
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sie dazu bestimmt, die intellektuelle Elite an die Spitze der Gesellschaft zu setzen. Lawrows Unterscheidung zwischen Kultur und Zivilisation lief darauf hinaus, der rational - sozialen Technik den Vorzug über die instinktive, gewohnheitsmäßige soziale Existenz in der biologischen Gesellschaft zu geben. Lawrow lehrte einen „subjektiven Typ der Soziologie“ und missbilligte das Reden von ehernen Gesetzen oder objektiven Gesetzen der Geschichte. Aus seiner Sicht waren Letztere Rationalisierungen, her vorgebracht von existierenden Establishments, die sich durch Bemühungen, die Realität zu verändern, gefährdet fühlten.192 Ebenso dachte er, jede bedeutsame Geschichtsschreibung sei subjektiv. Ein Historiker mit dem Glauben an ein Ideal sowie an Werte, die sich im Prozess ihrer Realisierung befanden, also mit dem Glauben, Geschichte habe eine Richtung, war verpflichtet, denjenigen Momenten oder Ereignissen entscheidende Bedeutung beizumessen, die für ihn die Entwicklung des angeblich vorherbestimmten Kurses der Geschichte gefördert ( oder gehemmt) zu haben schienen und die „indifferenten“ Ereignisse, Probleme und Epochen als konsequenzlos zu behandeln. Solch eine Philosophie maß die größte Bedeutung den aufgeklärten Führern und inspirierten Propheten bei, das heißt einer bewussten Minderheit und einer Avantgarde von Aktivisten. Ohne sie würde die Geschichte tatsächlich zu einer abgestandenen Lache.193 Die russische Dorfkommune schien zugleich Schutz vor unpersönlicher Zentralisation und vor Elitismus zu bieten. Alexander Herzen, Nikolai Tschernyschewski und die anderen Theoretiker mit einem lebhafteren Bewusstsein für wirtschaftliche Probleme oder einem größeren Wider willen, slawophile Romantik einzubringen, waren geneigt, allen Nachdruck auf die Landgemeinde als eine wirtschaftliche Institution, eine Form kollektiven Besitzes und periodischer Neuverteilung von Land zu legen. Afanasi Schapow, der Volkspublizist, beschäftigte sich vorrangig mit der Mir, der Dorfversammlung. Er stellte sich Russland als ein gewaltiges Panorama aus direkten Demokratien vor, in denen die Generalversammlung aller Mitglieder Entscheidungen einstimmig annimmt, Kontakt zu den Miry der Nachbarschaft auf der Grundlage der Gleichheit hält, die entfernte Zentralregierung als eine hinzugefügte, fremde Macht sieht, an die Abgaben – Steuern – bezahlt werden und der Männer für die Armee gestellt werden müssen. Die Dorfversammlungen stellten das wirkliche Russland dar und hatten durch ihre schiere Existenz – wie er mit Herzen annahm – das authentische Russland vor dem tatarischen Joch, der zaristischen Autokratie, vor den Reformen Peters des Großen, vor deutscher Bürokratie und anderen Zwängen der Unterdrückung und Auf lö192 193
Vgl. ebd., S. 49–63, 360–368. A. d. Ü. : Siehe auch Pomper, Peter Lavrov, S. 88 f. Vgl. Lawrow, Historische Briefe, S. 49–63, 360–368; Pomper, Peter Lavrov, S. 88–90, 103.
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sung bewahrt. In diesem Zusammenhang könne die bevorstehende Revolution als eine Art Erneuerung und Renovierung betrachtet werden. Die Miry würden Russland übernehmen : die Massen durch sich selbst, für sich selbst, nicht nur durch die Beseitigung der zaristischen Autokratie und Bürokratie, auch nicht, indem sie den Staat annahmen als das Geschenk einer außenstehenden selbsternannten revolutionären Avantgarde, die den Anspruch erhob, über die Früchte ihrer Arbeit zu wachen.194 Die Probleme der politischen und sozialen Revolution, von Führern und Geführten, der Miry, von bürgerlicher Spontaneität und revolutionärer Organisation wurden auch in den frühen 1870er Jahren unter dem Einfluss der Pariser Kommune und der Auf lösung der Ersten Internationale als ein Ergebnis der Marx - Bakunin - Kontroverse besprochen. Die Pariser Kommune zeigte sich als eine neue Staatsform, ja als ein Anti - Staat. Sie „personifizierte die Anti- Staats - Idee, die soziale Revolution, [...] die lebende Verneinung der Diktatur und Regierung !“195 Sie war eine direkte Demokratie, eine direkte Selbstregierung durch die Menschen in ständiger Versammlung, die totale Verneinung der Herrschaft des Menschen über den Menschen und – in Marx’ Worten – der Bürokratie, Kirche, Armee, Polizei, mithin des ganzen Überbaus eines Staatsapparates, des Wachhundes der privilegierten Klasse. Bakunin und Lawrow teilten diese Meinung. Letzterer geriet ins Schwärmen angesichts einer Revolution ohne große Namen, gemacht von unbekannten Menschen, vom Volke selbst, von einfachen Arbeitern, „ehrlich, intelligent, energisch“, die den Mythos der unentbehrlichen Rolle der Bourgeoisie und des Beamtentums in die Luft sprengten. „Die Kommune hatte [...] gezeigt, dass eine Arbeiterregierung möglich war.“196 Aber warum war die Kommune dann gescheitert ? Die Bakunisten hatten ihre eigene Antwort. Der Volksaufstand war von den Jakobinern übernommen und nicht genutzt worden. Anstatt die Kraft des Volkes einfach freizulassen und sie, unmittelbar nachdem der Boden bereitet worden war, die Arbeit der instinktiv vorgegebenen Zerstörung in Vorbereitung auf die Blütezeit schöpferischer Energie in kleinen direkten Demokratien tun zu lassen, griffen jakobinisch geschulte Führer ein. Sie übernahmen das Ruder und begannen Verfügungen von oben zu erlassen, die dazu bestimmt waren, die bourgeoisen 194 195 196
Vgl. Walicki, Filozofia społeczna, Band 1, S. 5–19. Zit. in Venturi, Roots of Revolution, S. 439. Siehe auch Grützner, Die Pariser Kommune. Venturi, Roots of Revolution, S. 454; Pomper, Peter Lavrov, S. 119–125, 202 f.; Bakunin, The Paris Commune; Maximoff ( Hg.), The Political Philosophy of Bakunin, S. 235 : „Federation [...] ignoring [...] national differences and State Boundaries; [...] French proletariat [...] State patriotism is all in the past.“ Ebd., S. 272 : „It wanted the unity of the nation, of the people, [...] not [...] of the State.“
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Missbräuche durch die revolutionäre Diktatur, d. h. eine andere Form der Zentralregierung, zu beseitigen. Wie es Rousseau vorhergesehen hatte, wurden die Vertreter des Volkes bald zu seinen Herrschern und Diktatoren. Das Volk verlor wie zur Zeit der Französischen Revolution das Interesse an der Kommune und billigte die Hinrichtung seiner Führer durch die Guillotine.197 Lawrow ist in seiner Analyse der Gründe für das Scheitern der Kommune nicht weit von den Bakunisten entfernt. Er stimmt dem verhängnisvollen Erbe von 1793 zu, aber legt sein Augenmerk auf das Fehlen intellektueller Vorbereitung, eines klaren Blickes und eines starken Willens, den Staat durch ein sozialistisches Wirtschaftsprogramm zu ersetzen. Die Kommune scheiterte an der Aufgabe, ein wahrer Arbeiterstaat und Kern eines sozialistischen Zusammenschlusses zu werden, weil es an Mut und Weitsichtigkeit fehlte, um das proletarische Streben von den bourgeoisen Interessen zu trennen. Was Lawrow ins Auge zu fassen schien, ist eine syndikalistische Gesellschaft, „die unabhängige Kommune des Proletariats“, die aus einem Zusammenschluss syndikalistischer Gemeinden besteht.198 Obwohl er scheinbar von der Ökonomie spricht, zielt er tatsächlich auf die Vernichtung der Politik durch eine totale sozial - ökonomische Transformation mit einem einzigen Schlag in Form direkter Aktion durch die Massen.199 „Unter keinen Umständen“, schreibt Lawrow, „haben die Sozialisten das Recht zu vergessen, dass in der jetzigen Phase des historischen Kampfes das Wirtschaftsproblem alles andere dominiert und dass bis die wirtschaftliche Revolution in allen fundamentalen Punkten durchgeführt ist, nichts erledigt wurde [...]. Heute existiert kein Bereich, weder ein religiöser noch ein nationaler oder politischer, in dem die proletarischen Arbeiter das moralische Recht besitzen oder besitzen könnten, dem Weg der herrschenden Klasse teilweise oder ganz zu folgen.“200 Lawrows Verurteilung des zentralisierten Staates ist auch in den Gründen sichtbar, die er für das Scheitern der Ersten Internationale anführt. Diese zerschellte am Fels der zentralisierten Macht : Die Generalversammlung war bestrebt, zur zentralen Regierung „eines Staates ohne Territorium“ zu werden, zusammengesetzt aus den nationalen Parteien der existierenden bourgeoisen Nationen. Die einzelnen Teile, aus denen die Internationale bestand, ärgerte die Bevormundung von oben; sie verloren das Interesse an sozialistischem
197 198 199 200
Venturi, Roots of Revolution, S. 439–441. Lawrow, Historische Briefe, S. 263 f.; Szamuely, The Russian Tradition, S. 308 f.; Wawrykowa, Rewolucyine Narodnictwo, S. 196 ff., 203, 210 ff. Vgl. Lavrov, Historical Letters, S. 59 ( Einleitung zur englischen Ausgabe ); Lawrow, Historische Briefe, S. 241–270, 322–325; Venturi, Roots of Revolution, S. 455. Peter Lawrow, Parizhskaya Kommuna, zit. in Venturi, Roots of Revolution, S. 455.
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Internationalismus und beschäftigten sich vor wiegend mit den Realitäten ihrer eigenen Länder.201 Trotz ihrer Abscheu gegenüber einer zentralisierten Macht und ihrem Glauben an Massenspontaneität konnten selbst Bakunins Anarchisten und Lawrows Anti - Etatisten nicht die Unreife der russischen Bauern und die absolute Notwendigkeit einer revolutionären Avantgarde übersehen.
2. Anarchie und diktatorische Führung In seinem berühmten Brief an Sergej Netschajew vom 2. Juni 1870 lehnt es Bakunin ab, „den Nutzen oder sogar die Möglichkeit irgendeiner Revolution“ zu erkennen, „ausgenommen einer spontanen oder einer sozialen Volksrevolution. [...] Jede andere Revolution wäre unehrlich und schädlich und würde sowohl die Freiheit als auch die Menschen vernichten, da sie die Massen zu neuen Formen der Armut und Sklaverei verdammen würde.“202 Jede andere Art der Revolution – wie ein verschwörerischer Staatsstreich, Barrikaden – wurde wegen der starken Verbreitung zentralisierender Kräfte wie Eisenbahnen, Telegraphen, moderne Waffen und neue militärische Organisationen und Ver waltungstechniken unmöglich – sämtlich Techniken der systematischen Versklavung und Ausbeutung der Massen. Außerdem waren die Menschen – fährt Bakunin fort – infolge ihrer Ignoranz und Uneinigkeit nicht in der Lage, ein Programm zu formulieren, es zu systematisieren und sich zur Verfolgung ihrer Ziele zusammenzuschließen. Sie brauchten Helfer. „Wo kann man solche Helfer finden ? Das ist die schwierigste Frage in jeder Revolution.“203 Aus Lawrows Sicht folgten die Massen immer dem Banner, das im entscheidenden Moment das präziseste Programm verkündete und die klarsten Ziele festlegte. Die Massen folgten denen, die entschlossen waren und nicht zögerten. Wenn solch eine straffe Leitung nicht von den zielstrebigsten und aufrichtigsten Mitgliedern der Intelligenzija zu erwarten war, würden sie unvermeidlich in die alten Traditionen zurückfallen und ihren natürlichen, traditionellen Vorgesetzten folgen. „Und dann werden selbst die heldenhaftesten Taten, die gar uneigennützigsten Energien nicht in der Lage sein, eine Rückkehr zu den alten Teufeln, wenn auch in etwas veränderter Form, zu verhindern.“204 201 202 203 204
Vgl. ebd. Confino, Daughter of a Revolutionary, S. 250; Bakunin, Revolutionary Organization, S. 182. Bakunin, Revolutionary Organization, S. 189. A. d. Ü. : Siehe auch Confino, Daughter of a Revolutionary, S. 256. Lawrow, Parizhskaya Kommuna, zit. in Venturi, Roots of Revolution, S. 456. Siehe auch Wawrykowa, Rewolucyine Narodnictwo, S. 158 ff.; Pomper, Peter Lavrov, S. 52, 139, 147–149.
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All die russischen Propheten der Revolution, mit Ausnahme Tkatschows und Sergej Netschajews, gaben sich große Mühe sicherzustellen, dass die revolutionäre Spitze niemals in eine von Ambitionen, Prahlerei, Machtliebe und Egoismus angetriebene Oligarchie ausarten würde. Sie musste unbedingt eine Elite des Dienens, der Selbstaufopferung und des Märtyrertums bleiben. Mit ihrem Leben sollten sie ein Beispiel totaler Hingabe, asketischer Selbstverleugnung, ruhelosen Einsatzes im Dienste der Sache geben. Sie waren nicht darauf aus zu führen, anderen Menschen ihre Auffassungen und Ideen aufzudrängen. Es war ihre Aufgabe, herauszufordern, bewusst zu machen, dabei zu helfen, sich zu artikulieren und all das zu systematisieren, was in uner weckten und halb schlafenden Gedanken, in Träumen und Wünschen, in Instinkten der Menschen schlummerte. Sie gingen nicht zu den Menschen, um ihnen etwas beizubringen, sondern um in ihren Geist einzudringen, ihre Gefühle entschlüsseln zu lernen, um sie verstehen zu können, um sich selbst besser auf sie einzustellen und um zu lernen, wie sie wirksam eine helfende Hand reichen und den Bauern ihr Wissen und ihre Schulung zur Verfügung stellen könnten. Bakunin, der so sicher annahm, dass die Massen Europas revolutionsschwanger waren, hatte keinen Zweifel an dem, was der historische allgemeine Wille der russischen Mushiks seit den Tagen von Stenka Rasin und Pugatschow bis zu seinen eigenen Tagen sei. Es wurde wiederholt von ihnen in langwierigen Unruhen, in Redeweisen und Sprichwörtern, in den Beratungen der Miry und in ihren Träumereien über bessere Tage zum Ausdruck gebracht : gemeinsamer Besitz von Land und die Befreiung vom Zugriff des Staates, von Beamten, Polizisten, Steuereintreibern und selbstverständlich Grundbesitzern.205 Die Revolutionäre kamen zu den Menschen, um ihren Mut zu wecken, sie von ihren Ängsten und Hemmungen zu befreien; nicht um zu führen, sondern um den Willen der Massen freizusetzen. „Derjenige, der an der Spitze der Volksbewegung stehen will, muss es [ das ‚Volksprogramm‘ ] als ein Ganzes akzeptieren und ausführen. Demjenigen, der versucht, den Menschen sein eigenes Programm aufzuzwingen, wird der schwarze Peter zugeschoben.“206 Bakunins Rezept für eine Versöhnung der Massenspontaneität mit der moralischen Führung von außen war eine verdeckte geheime Avantgarde : der Umsturz der „sogenannten bürgerlichen Zivilisation durch eine spontane, unsichtbar geführte Volksrevolution, nicht durch eine offizielle, sondern durch eine namenlose und kollektive Diktatur, bestehend aus jenen, die zugunsten der völligen Volksbefreiung von jeglicher Unterdrückung und überall zur
205 206
Vgl. Maximoff ( Hg.), The Political Philosophy of Bakunin, Teil 4, Kapitel 1 : The Rationale of Revolutionary Tactics, S. 351–358. Confino, Daughter of a Revolutionary, S. 256.
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Unterstützung eines allgemeinen Zieles und in Übereinstimmung mit einem allgemeinen Programm agieren“.207 Die Revolution bricht spontan aus und wird von einer geheimen Bruderschaft geführt, die geheime Kader der lokalen Führung vorbereitet und diese einem geheimen Zentralkomitee untergeordnet hat.208 Alle agieren in absoluter Diskretion und unterliegen strengster Disziplin. Ist einmal eine Entscheidung von der Bruderschaft getroffen worden, sind alle zu bedingungslosem Gehorsam verpflichtet. Anordnungen werden von oben mit Hilfe von vertrauenswürdigen und erprobten Genossen getroffen.209 Bakunins Entschluss, den Taktstock nach beiden Seiten zu schwingen – populäre Spontaneität und geheime, diktatorische Manipulation –, ist einigermaßen verblüffend. Es ist außerdem schwer zu erkennen, wie Bakunin, Anhänger des Voluntarismus, sich überhaupt von jenen unterscheidet, die eine deterministischere Sicht hatten und auf solchen Bedingungen wie der Reife der historischen Entwicklung und der gegebenen Gelegenheit bestanden. „Demnach muss nicht das einzige Ziel einer geheimen Gesellschaft die Bildung einer künstlichen Macht außerhalb des Volkes sein, sondern das Wachrufende, Vereinigende und Organisierende der spontanen Macht des Volkes. Demzufolge ist die einzig mögliche, die einzig revolutionäre Armee nicht außerhalb des Volkes. Sie ist im Volk selbst. Es ist unmöglich, das Volk gekünstelt aufzuwecken. Volksrevolutionen werden aus einer Reihe von Ereignissen geboren oder aus historischen Strömungen, die fortlaufend und gewöhnlich langsam, vom Untergrund und unsichtbar, zunehmend die Massen erfasst, durchdringt und erregt, bis die verborgenen Kräfte vom Grund auftauchen und ihr unruhiges Wasser alle Barrieren bricht und alles zerstört, was sich ihr in den Weg stellt.“210 Revolutionen können nicht künstlich erzeugt, sie können bestenfalls durch einen organisierten, revolutionären Untergrund angetrieben und erleichtert werden. Es gab historische Perioden, in denen Revolutionen einfach unmöglich waren; dann gab es wieder Perioden, in denen sie unvermeidlich waren. „In welcher der beiden [ Perioden ] befinden wir uns heute ? Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass wir in einer Phase der allgemeinen, unvermeidlichen Volksrevolution sind. [...] Eine soziale Volksrevolution ist überall, in ganz Europa, unvermeidlich. [...] Alle Geheimgesellschaften, die sich wünschen, wirklich nützlich für sie zu sein, sollten als Erstes alle Ner vosität, alle Ungeduld ablegen. Sie dürfen nicht schlafen, im Gegenteil, sie müssen jederzeit so gut wie möglich bereit sein, immer in Alarmbereitschaft und immer in der Lage, jede zufällige Mög207 208 209 210
Ebd., S. 241. Vgl. ebd., S. 259–267. Vgl. ebd., S. 264–266. Ebd., S. 250.
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lichkeit zu nutzen. Aber zur gleichen Zeit müssen sie mit allem Notwendigen ausgestattet und organisiert sein – nicht für einen schnellen Aufstand, sondern für eine langwierige und geduldige Untergrundarbeit, gleich deinen [Netschajews ] Freunden, den Jesuitenbrüdern.“211 Die Betonung liegt demnach auf permanenter Mobilität und nicht weniger auf der Notwendigkeit, umsichtig und geduldig zu sein. Die Geheimorganisation ist nicht dazu da, die Armee der Revolution darzustellen. Das Volk als Ganzes ist die revolutionäre Armee. Die Bruderschaft ist ihr Hauptquartier, „ein Organisator der Volksmacht“, ein Vermittler zwischen populärem Instinkt und revolutionären Gedanken. „Das Bestreben, dem Volk deine eigenen Gedanken aufzuzwingen – seinen Instinkten fremd – beinhaltet den Wunsch, es einem neuen Staat unter würfig zu machen. [...] Die Organisation muss in aller Ernsthaftigkeit die Idee akzeptieren, dass sie ein Diener und Helfer ist, aber niemals ein Befehlshaber des Volkes, niemals, unter welchem Vor wand auch immer, sein Manager, nicht einmal unter dem Vor wand des Volksgemeinwohls.“212 Aber wir wollen sehen, wie diese geheime, kollektive Organisation oder, wie Bakunin selbst sie nannte, die „kollektive Diktatur unserer Organisation“,213 agieren wird und welche Aufgaben sie sich selbst stellt. Sie ist dazu angehalten, nicht nur den Erfolg der Revolution des Volkes durch Propaganda und Vereinheitlichung der Volksmacht sicherzustellen; nicht nur die ganze existierende wirtschaftliche, soziale und politische Ordnung komplett zu zerstören, sondern nach dem Sieg mit allen Mitteln die Auferlegung einer jeglichen Staatsmacht, selbst in ihrer eigenen revolutionären Form, über das Volk zu verhindern, „weil jede [ solche ] Macht, wie auch immer sie sich selbst nennt, unweigerlich das Volk alter Sklaverei in einer neuen Form unter werfen würde“.214 In einer sehr wichtigen Passage definiert Bakunin die Hauptaufgabe und den Zweck der Organisation : „Dem Volk zu helfen, Selbstbestimmung auf der Basis von vollständiger und umfangreicher Freiheit zu erreichen, ohne die geringste Beeinträchtigung durch eine provisorische Macht oder eine Übergangsmacht, das heißt ohne jegliche Vermittlung des Staates.“215 Bakunin wiederholt noch einmal seinen Ausdruck bitterer Feindschaft gegenüber jeglicher „amtlichen Macht“, jeder „öffentlich anerkannten Dikta211 212 213 214 215
Bakunin, Revolutionary Organization, S. 183; Confino, Daughter of a Revolutionary, S. 250 f. Confino, Daughter of a Revolutionary, S. 258 f. Vgl. auch Bakunin, Revolutionary Organization, S. 183. Confino, Daughter of a Revolutionary, S. 259. Ebd. Vgl. auch Bakunin, Revolutionary Organization, S. 191. Confino, Daughter of a Revolutionary, S. 259. Vgl. auch Bakunin, Revolutionary Organization, S. 191.
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tur“, „sogar, wenn es eine ultra - revolutionäre Macht ist“.216 Aber er ist sich selbst der Tatsache bewusst, dass der Leser sich fragen wird, wie Anarchisten die Menschen ohne Zwang und ohne Macht beeinflussen können. Wie wollen sie die Revolution anführen ? „Eine unsichtbare Macht – von niemandem anerkannt und auferlegt –, durch welche die kollektive Diktatur unserer Organisation die mächtigste sein wird; je unsichtbarer und unerkannter sie bleibt, desto mehr bleibt sie ohne offizielle Rechtmäßigkeit und Bedeutung.“217 Mit anderen Worten : durch Manipulation. Bezeichnender weise stellt sich der Gegner aller Staatsmacht, auch einer provisorischen oder temporären Macht, keinesfalls die Auf lösung und das Verschwinden der geheimen, diktatorischen Organisation nach dem Sieg des Volkes vor. Im Gegenteil, er befürchtet, dass inmitten einer erfolgreichen, spontanen Revolution in Russland, nachdem das Volk all seine Unterdrücker verjagt, alle Staatsgesetze und - macht abgeschafft und alle Dämme gebrochen hat, inmitten allgemeiner Anarchie „die enorme Menge an Schmutz, welche sich in den Menschen angestaut hat, aufgewühlt wird und an die Oberfläche tritt“.218 Schlaue, ambitionierte und skrupellose Usurpatoren der Macht werden dann an verschiedenen Stellen auftauchen und sich gegenseitig bekämpfen. Die vereinte Geheimdiktatur wird sich einschalten, um die Menschen davor zu bewahren, „ohne Ziel und Plan zu kämpfen“.219 Wird ihre Inter vention nicht eine Usurpation darstellen ? In welcher Weise ist ihr Anspruch auf das Recht, die Massen zu führen, besser begründet als der anderer anonymer Leute, die vorgeben, diesen Anspruch zu haben ? Wenn die Menschen das Recht zur ungehemmten Selbstentfaltung haben sollen : Warum sollte die geheime Organisation sich überhaupt einmischen und das Volk nicht nach seinem Instinkt handeln lassen ? Kleine, anonyme Gruppen dieser Organisation, die überall über das gesamte Gebiet des Reiches verstreut sind, „fest vereint, inspiriert durch ein allgemeines Wunschbild und ein allgemeines Ziel, das überall angewendet wird“, verfolgten ein Ideal, „welches das Wesen der menschlichen Instinkte, Wünsche und Anforderungen ausdrückt“, „stark in ihrer Solidarität, die all die unklaren Gruppen zu einem organischen Ganzen verbindet, [...] um sich selbst herum ein Kreis von Menschen, mehr oder weniger der gleichen Idee zugetan und natürlich ihrem Einfluss unter worfen“.220
216 217 218 219 220
Confino, Daughter of a Revolutionary, S. 259; Bakunin, Revolutionary Organization, S. 191. Bakunin, Revolutionary Organization, S. 192. Confino, Daughter of a Revolutionary, S. 260. Ebd., S. 260; Bakunin, Revolutionary Organization, S. 192 f. Confino, Daughter of a Revolutionary, S. 260; Bakunin, Revolutionary Organization, S. 192 f.
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Seine Charakterisierung der Geheimorganisation – keine wirkliche Partei mit Eigeninteressen wie jede andere, sondern Quintessenz des Volkes – lässt Lenins Konzept der bolschewistischen Partei erahnen. „Diese Diktatur ist frei von jeglichem Eigeninteresse, jeglicher Eitelkeit und Begierde, weil sie anonym, unsichtbar ist und weder Vorteil noch Ehre noch offizielle Anerkennung der Macht einem Mitglied der Gruppe oder der Gruppe selbst verschafft. Sie bedroht nicht die Freiheit des Volkes, weil sie frei von allem öffentlichen Charakter ist. Sie ist nicht wie die Staatsmacht über dem Volk plaziert, weil ihr ganzes, durch ihr Programm definiertes Ziel in der vollsten Ver wirklichung der Freiheit des Volkes besteht. Diese Diktatur widerspricht nicht der freien Entwicklung und Selbstbestimmung des Volkes oder ihrem Aufbau von unten, entsprechend ihren eigenen Gewohnheiten und Instinkten, da sie sich nur nach den Menschen richtet, durch den natürlichen, persönlichen Einfluss ihrer Mitglieder, die keine Macht besitzen. Sie sind wie ein unsichtbares Netz über alle Regionen, Distrikte und ländlichen Gemeinden verstreut, und jeder Einzelne versucht in seinem eigenen Gebiet und in Übereinstimmung mit anderen, die spontane Revolutionsbewegung des Volkes in Richtung eines allgemeinen Plans, welcher im Vorfeld beschlossen und festgelegt wurde, einzuleiten. Dieser Plan für den Aufbau der Volksfreiheit muss erstens bezüglich seiner Hauptprinzipien und Ziele fest und klar umrissen sein, um die Möglichkeit von Missverständnissen und Abweichungen durch ihre Mitglieder auszuschließen, die aufgefordert werden, bei seiner Ver wirklichung zu helfen. Zweitens muss er umfangreich und menschlich genug sein, um all die unausweichlichen Veränderungen zu erfassen und aufzunehmen, die sich durch unterschiedliche Umstände entwickeln, sowie alle verschiedenen Bewegungen, die sich aus der Vielfalt des Staatslebens ergeben.“221 Die Aufgabe bestand nicht nur darin, Propaganda zu treiben, die Organisation innerhalb des Volkes selbst aufzubauen und die „geteilte Stärke des Volkes“ zu einer mächtigen Kraft zu vereinen, die den Staat zerbrechen könnte, sondern auch darin, „imstande [ zu sein ], in der Mitte der Revolution selbst zu bleiben, ohne wegzubrechen oder seine Richtung am Tag nach der Volksbefreiung zu ändern“.222 Es ist überflüssig zu sagen, dass der geheimen Organisation, besonders ihrem harten Kern, dem aus drei bis fünf Mitgliedern bestehenden, von der Gesellschaft – „der Volksverbrüderung“ – für eine unbestimmte Zeit gewählten Exekutivkomitee, bedingungslos zu gehorchen war (ausgenommen dann, wenn ihre Anordnungen dem Programm und Gesetzen, die durch
221 222
Confino, Daughter of a Revolutionary, S. 261; Bakunin, Revolutionary Organization, S. 193 f. Ebd.
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die Gemeinschaft als Ganzes angenommen worden waren, widersprachen ). Die ( vom Zentralkomitee ernannten ) Brüder oder Führer der regionalen Gruppen müssen aus Personen bestehen, „die äußerst zielstrebig, intelligent und möglichst klug sind, zum Beispiel klug durch Erfahrung, die leidenschaftlich und unbeirrbar ergeben sind, so weit wie möglich alle persönlichen Interessen abgelegt und auf Leben und Tod allem abgeschworen haben, was Menschen anzieht, allen materiellen Annehmlichkeiten und Freuden, jeder Befriedigung des Ehrgeizes, des Standesdenkens und des Strebens nach Ruhm. Sie müssen ganz und gar von einer Leidenschaft erfüllt sein : der Volksbefreiung. Sie müssen Menschen sein, die zeit ihres Lebens auf persönliche historische Bedeutung verzichten, ja sogar darauf, dass ihr Name nach ihrem Tod in die Geschichte eingeht.“223 Solche Personen brauchten vor allem Leidenschaft. Das notwendige Maß an Selbstverleugnung konnte nicht durch Argumentation oder Fremdüber wachung und Zwang erreicht werden. Leidenschaft bedeutete Energie. Zugegebenermaßen ist „Energie ohne bewusste Anleitung ergebnislos und absurd. Verbunden mit Leidenschaft benötigt man Verstand, eiskalt und berechnend, real und praktisch, aber auch auf der Theorie basierend, geschult durch Wissen und Erfahrung, weiträumig, aber Details nicht übersehend, imstande, Menschen zu verstehen und zu erkennen, imstande, Realitäten, Beziehungen und Bedingungen zu erfassen.“224 Aber „nur Leidenschaft kann in einem Menschen dieses Wunder, diese Kraft ohne Mühe herbeiführen“.225 Deren Quelle lag nicht im Nachdenken und in starker, intellektueller Überzeugung, sondern entsprang den aktuellen Bedingungen, die so zwangsläufig zu augeprägten Formen von Empörung, Protest, Hass, Wut führten, dass man keine andere Wahl und nichts zu verlieren hatte als die Sehnsucht nach Rache und einer Erlösungsvision. Die größten Quellen einer solchen leidenschaftlichen Energie fanden sich aus Bakunins Sicht bei den Räubern, Dieben, Landstreichern, Banditen und Ausgestoßenen der russischen Gesellschaft. So geschmacklos eine solche Idee für von Schönheit erfüllte Seelen auch sein mochte, diese Kräfte mussten mobilisiert und genutzt werden. Dies sei eine erschreckende Vorstellung, räumt Bakunin ein, aber die russische Revolution sei nun einmal ein schreckliches Ereignis.226 Lawrows Schwierigkeiten waren zwar größer als diejenigen Bakunins, aber im Ganzen stimmten ihre Sichtweisen überein. Er war sich mit dem anarchis-
223 224 225 226
Confino, Daughter of a Revolutionary, S. 261 f.; Bakunin, Revolutionary Organization, S. 194. Confino, Daughter of a Revolutionary, S. 263. Ebd., S. 262. Vgl. ebd., S. 255; Bakunin, Revolutionary Organization, S. 186 f.
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Bakunin und Lawrow
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tischen Propheten einig, wenn er ausdrücklich feststellte, dass „die revolutionären Sozialisten ihre alten Ideen aufgeben müssen, nämlich den Staat wiederaufbauen zu können, nachdem es ihnen gelungen war, ihn durch einen glücklichen Verlauf zu zerstören, indem sie dem Gesetz gemäß eine neue Regierungsform einführten und diese den unvorbereiteten Massen zum Geschenk machten. Wir wollen keine neue verbindliche Autorität, die den Platz von dem einnimmt, was bereits existiert, was auch immer der Ursprung dieser neuen Autorität sein mag.“227 Aber wie wir bereits gesagt haben, war Lawrow durch und durch Rationalist. Er verachtete „fanatische religiöse Revolutionäre“.228 Er war misstrauisch gegenüber irrationaler Begeisterung und Enthusiasmus. Er glaubte nicht an die Stabilität oder Dauerhaftigkeit revolutionärer Veränderungen, die nicht sorgfältig durchdacht, nicht auf Daten und Statistiken aufgebaut waren und nicht nach Plan durchgeführt wurden. Glaube war kein Ersatz für kritisches Denken. Jede Art von Irrationalismus und Verunglimpfung des Verstandes und Studiums war ihm verhasst, so wie er akademisches Karrierestreben und die Ansprüche von Menschen mit Diplomen auf Vorzugsbehandlung ver urteilte. Lawrow beschäftigte sich mit der Frage, wie „das Proletariat mit dem intellektuellen Teil der Bourgeoisie zu vereinen sei, welcher sich ihrer Stellung aus tiefer Überzeugung anschließen möchte“.229 Sein Szenario für eine Revolution sieht nach einigen schwer wiegenden lokalen Zwischenfällen eine Reihe von gleichzeitig ausbrechenden Unruhen vor. Die Armee weigert sich wenigstens in Teilen, gegen das Volk vorzugehen. Die Mitglieder der sozialrevolutionären Vereinigung innerhalb der bestehenden Miry und Artels ( organisierte Gruppen bäuerlich - industrieller Arbeiter ), die ihre Kameraden mit revolutionärer Propaganda durchdrungen haben, treten als Organisatoren her vor. Sogleich werden Schritte eingeleitet, um Land zugunsten der bäuerlichen Gemeinden zu beschlagnahmen, Landbesitzer und Kulaken zu vertreiben oder zu töten sowie jeglichen Besitz zu „einem einzigen Gut aller Arbeiter“ zu vereinen. Sind die alten Autoritäten erst einmal gestürzt, wird die sozialrevolutionäre Vereinigung in einen natürlichen Kern der neuen Gesellschaftsorganisation umgewandelt. Lawrow fügte eilig hinzu, dass „sie nichts Neues oder Künstliches erfinden müssen, sie sind bereits Mitglieder von Gruppen, die sich im Laufe der Geschichte im Volk, in den bäuerlichen Kommunen und Handwerkergruppen, herausgebildet haben.“230 Diese Tatsache bewahrte sie in Lawrows Augen davor, zu einer scharf umrissenen, zentralisierten und übergestülpten, diktatorischen Autorität zu werden, einer Revo227 228 229 230
Venturi, Roots of Revolution, S. 458. Ebd., S. 459. Ebd., S. 461. Ebd., S. 463 f.
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lutionsdiktatur. Die Revolution würde von einer Mehrheit mit Inspiration und Initiative und unter der Führung einer organisierten Minderheit des Volkes (unter Einschluss eines kleinen Anteils der Intelligenzija ) vollzogen. Ein nationaler Zusammenschluss der russischen Revolutionskommunen und Artels würde aus den Ruinen des zentralisierten russischen Zarenreichs erwachsen, als Schöpfer eines neuen Arbeitersozialismus agieren und sich auf ein allgemeines Eigentumsrecht und obligatorische Gemeinschaftsarbeit stützen, wobei er seine Inspiration aus den sozialrevolutionären Zellen zöge und dadurch den Gefahren des Extremismus, der Uneinigkeit und Verantwortungslosigkeit in einer ungewissen Situation entginge.
3. Die Abschaffung des Staates Um sicherzustellen, dass keine Parteimitglieder eine Gruppe, eine Bürokratie oder einen Staatsapparat bildeten, betrachtete Lawrow als wirksamstes Mittel ihren Verbleib in den Kommunen und Artels sowie die Fortsetzung ihrer Teilhabe an den allgemeinen Aufgaben, physische Arbeit inbegriffen. Die von den Aktivisten ausgeübte Wachsamkeit und Kontrolle, vor allem aber die Reinheit ihres Charakters und ihre Hingabe für die allgemeine Sache würden die wirkungsvollste Garantie sein. In dem Durcheinander und Tumult der Revolution mochte zum Beispiel ein „leitender Rat, der die Herrschaft einer Minderheit repräsentieren würde“, unvermeidlich für die Organisation und Lagerung von Vorräten sein; aber „die Vorsteher müssen sich erinnern, dass so tatkräftig ihre Aktivitäten vielleicht im ersten Moment sind, sie [ aber ] keine moralischen Rechte haben, ihre Diktatur eine einzige Minute länger als notwendig aufrechtzuerhalten“.231 Bei der ersten Gelegenheit würden sie zurücktreten und die ganze Macht den freien Zusammenschlüssen der Menschen überlassen. Obwohl er die Notwendigkeit verstand, eine zentralisierte Organisation für die Deckung der Grundbedürfnisse zu haben, warnte Lawrow eindringlich vor einer stehenden Armee und nationalen Polizei. Er sah die Gefahr einer Koalition kapitalistischer Staaten, die versuchen würden, das Revolutionsregime zu ersticken. Seine Verteidigungspläne basierten auf Partisanenkriegsführung und der Hilfe von Sozialisten und Arbeitern in den inter venierenden Ländern, um die Kriegserfolge ihrer Regierungen zu sabotieren, „falls es an Russland wäre, die Unruhen zu beginnen“, bevor es zu offenen ( revolutionären ) Ausbrüchen in anderen Ländern käme. Die Möglichkeit, dass Russland zur Speerspitze der europäischen oder der Weltrevolution würde, ließ Lawrow para231
Szamuely, The Russian Tradition, S. 310.
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doxerweise auf die antiintellektuelle Haltung Bakunins zurückfallen. Zur Hundertjahrfeier anlässlich des Aufstandes von Pugatschow 1773 schrieb er einen Artikel, in dem er die Bedeutung dieser Jacquerie mit der Amerikanischen Revolution, der Französischen Revolution und dem Volksaufruhr in England im späten 18. Jahrhundert verglich : „Die Manifeste eines ungebildeten Kosaken, der einem absurden religiösen Glauben folgte, unterschrieben mit dem gefälschten Namen eines unbekannten Idioten [ Peter III.], beinhalteten zentralere soziale Grundsätze, stichhaltigere Versprechen, bedrohlichere und zuverlässigere Prophezeiungen für die Zukunft als diese [ Manifeste ], welche in all den humanitären Kodizes von Katharina II. enthalten waren und sogar in all den liberalen und radikalen Prophezeiungen gegen Thron und Altar an den Ufern von Themse, Seine und Delaware widerhallten.“232 Bakunin schrieb in der gleichen Weise : „Einst verwurzelt in der zynischsten und brutalsten Realität des absolutesten Staates, greifen die Russen jetzt nach den gewagtesten menschlichen Ideen und der absolutesten Verneinung des Staates.“233 Während er darüber klagte, Russland befinde sich „am Schwanzende der europäischen Zivilisation“, forderte der gemäßigt sozialistische Ökonom Flerowski, Autor des ABC der socialen Wissenschaften (1873), und davor von Die Lage der Arbeiterklasse in Russland (1869), die Russen in ähnlicher Weise auf, für „eine große Idee“ einzutreten. Damit meinte er den Sozialismus : ein auf allgemeiner Solidarität und Kooperation fußendes soziales System, das den Klassenkampf, der die westliche Welt zerriss, ausschloss. Das würde es den Russen ermöglichen, eine große und glanzvolle Rolle in der Geschichte zu spielen, sich selbst an die Spitze der Zivilisation zu stellen und die Menschheit zu führen.233a Lawrow war ein gebildeter Mann und zu bewandert in der Geschichte der Französischen und anderer Revolutionen, um trotz seines Glaubens an die menschliche Natur und den erzieherischen Einfluss guter Lehren sowie gerechter Institutionen nicht beunruhigt zu sein angesichts der Gefahr von konterrevolutionärem Umsturz, Sabotage, Intrige und Missbrauch der Macht seitens einiger revolutionärer Funktionäre sowie angesichts der Tatsache, dass diese die eigentliche Ursache und das Grundprinzip terroristischer Revolutionsdiktaturen bildeten. „Einige mögen es für das Beste halten, die üblichen Methoden der alten Gesellschaft zu gebrauchen : ein sozialistisches Gesetzbuch mit einem geeigneten Paragraphen ‚Über Bestrafungen‘ aufzusetzen; aus den verlässlichsten Personen ( natürlich hauptsächlich aus Mitgliedern der sozial232 Venturi, Roots of Revolution, S. 465. 233 Wawrykowa, Rewolucyine Narodnictwo, S. 162. 233a Walicki, Filozofia społeczna, Band 1, S. LXXXVII–LXXXIX.
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revolutionären Vereinigung ) eine ‚Öffentliche Sicherheits‘ - Kommission für Rechtsprechung und Strafe auszuwählen; eine kommunale und regionale Polizeitruppe von Kriminalbeamten zur Auslöschung von Gesetzesbruch zu organisieren sowie Anstandswächter zur Wahrung der ‚öffentlichen Ordnung‘ zu etablieren; ‚offensichtlich gefährliche‘ Menschen unter sozialistische Polizeiüber wachung zu stellen; eine ausreichende Anzahl an Gefängnissen und wahrscheinlich auch an Galgen zu errichten, zusammen mit einer entsprechenden Auswahl an sozialistischen Gefängniswärtern und Henkern; und dann, eine sozialistische, gesetzliche Gerechtigkeit in Kraft zu setzen und diese ganze verjüngte Maschinerie der alten Ordnung im Namen der Prinzipien des Arbeitersozialismus in Gang bringen.“234 Lawrow verabscheute solch eine Entwicklung und setzte all sein Vertrauen in „direkte Volksgerichtshöfe“, die wüssten, welche Maßnahmen bei Kriminellen am zweckmäßigsten seien : in der Art, in der die Bürger wehren im Wilden Westen der Vereinigten Staaten agiert hatten. „Pöbelherrschaft“235 nannte es Tibor Szamuely. Niemand erkannte besser als Lawrow die Gefahr, dass eine Minderheitenrevolution in einer Minderheitendiktatur endete, wie man aus seiner Streitschrift gegen Tkatschow An die russische sozialrevolutionäre Jugend ersehen kann. „Sowohl Geschichte als auch Psychologie beweisen, dass jegliche unbegrenzte Macht, jegliche Diktatur sogar die besten Menschen verderben kann und dass sogar sehr gebildete Menschen mit dem Wunsch, durch Verfügungen ihren Nationen zu helfen, darin nicht erfolgreich sein können. Jede Diktatur muss sich selbst durch Zwangsgewalt, durch blindlings gehorsame Waffen abgrenzen. Jede Diktatur ist durch Gewalt gezwungen worden, nicht nur die Reaktionäre zu unterdrücken, sondern auch die Menschen, die einfach mit diesen Methoden nicht einverstanden sind. Jede verhängte Diktatur hatte mehr Zeit, Aufwand und Energie im Kampf um die Macht gegen ihre Rivalen aufzubringen, als ihr Programm mit Hilfe der Macht durchzusetzen. Der Glaube, dass eine Partei, wenn sie einmal die diktatorische Macht ergriffen hat, dann freiwillig verzichten wird, kann nur vor der Ergreifung in Betracht gezogen werden; im Kampf der Parteien um Macht, in Tumulten der offenen und versteckten Intrigen wird jede Minute eine neue Notwendigkeit für den Erhalt der Macht schaffen, eine neue unüber windbare Hürde für ihren Verzicht. Die Diktatur ist den Händen des Diktators nur durch eine neue Revolution zu entreißen. Könnte unsere revolutionäre Jugend jemals einwilligen, als Podium für den Thron einiger Diktatoren zu dienen, die – selbst mit dem besten Willen der Welt – nur eine neue Quelle von sozialem Elend werden können, aber die 234 235
Szamuely, The Russian Tradition, S. 311. Ebd., S. 312.
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vermutlich nicht einmal selbstlose Fanatiker wären, sondern Menschen mit außergewöhnlichen Ambitionen, Machthunger um der Macht willen und Machthunger für sich selbst ? Lass die russischen Jakobiner die Regierung bekämpfen. Wir werden sie nicht daran hindern. Wir wünschen ihnen alles Gute, und sie sollen versuchen, von ihrem Erfolg Gebrauch zu machen. Aber die Partei der sozialen Volksrevolution wird immer ihr Feind sein, sobald irgendeiner von ihnen es wagt, die Macht zu ergreifen, die den Menschen und sonst niemandem gehört [...]. Die Staatsmacht muss direkt in eine Autonomie der Volksgemeinschaften, Volksversammlungen und Volkskreise umgewandelt werden. Dies ist keine Frage von zweitrangiger, sondern von erstrangiger Bedeutung. Die Staatsmacht, wer auch immer diese ausübt, ist dem sozialistischen Gesellschaftssystem feindlich gesinnt. Jegliche Minderheitenmacht bedeutet Ausbeutung, und eine Diktatur kann nichts anderes bedeuten. Wir können ein Programm einer diktatorischen Revolution keinesfalls als das der sozialen Revolution anerkennen. Wir werden nicht nur morgen die Anhänger der Diktatur bekämpfen – auch heute können wir uns ihr nicht anschließen.“236 Die Frage drängt sich auf, ob er – angesichts Lawrows Unfähigkeit und Unwillen, die Jakobiner aufzuhalten, obwohl er nicht mit ihrer Art der Vorbereitung und Ausführung der Revolution übereinstimmt, und seiner Bereitschaft, von ihren Erfolgen Gebrauch zu machen – sie bekämpfen würde, wenn sie gewonnen hätten. Würde er versuchen, die Revolution rückgängig zu machen, oder würde er sie als die Ver wirklichung des Willens der Geschichte akzeptieren ? Und würde er sich nicht genauso verhalten, sollte seine eigene Anhängerschaft – die revolutionären Sozialisten – trotz aller Beschwörungen und Warnungen angesichts des Erfolges ihrer revolutionären Unternehmungen jakobinisch werden ?
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Ebd., S. 293 f.
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V. Eine rus si sche Ver si on tota li tä rer Demo kra tie – Tkat schow Die Zweideutigkeiten, Skrupel, Selbsttäuschungen und Sinnlosigkeiten der Anarchisten und Volkstümler – volle Selbstentfaltung und absolute Gleichheit, perfekter sozialer Zusammenhalt und die Abwesenheit von Zwang, eine Elite und keine Unterordnung, eine Revolution und keine zentrale Autorität, eine Diktatur ohne Kommissare – forderten jemanden mit klarem Verstand und einer Abneigung gegen Unsinn und Geschwätz, dem es eine Freude war, die konfusen Denker, edelgesinnten Moralisten und himmelstürmenden Doktrinäre durcheinanderzubringen, um den gordischen Knoten zu lösen.
1. Der Kommissar Diese Rolle nahm Piotr N. Tkatschow (1840–1884) ein.237 Er wurde in eine verarmte niedere Adelsfamilie hineingeboren und lebte das Leben eines typischen revolutionären Aktivisten inner - und außerhalb des Gefängnisses; Verschwörer und Journalist, einst Gefährte des unsäglichen Netschajew – eine Verbindung, die er niemals dementierte –, dann Emigrant im Westen und Mitglied einer extremistischen russisch - polnischen Gruppe. Dort war er Herausgeber der Zeitschrift Nabat [ Sturmglocke ], die eine karge Leserschaft hatte und sich mit durchschlagender Polemik mit solch berühmten Nestoren wie Lawrow und Engels befasste. Dann verband er sich eng mit den französischen Blanquisten. Sein turbulentes Leben endete in einer französischen Irrenanstalt, ohne dass er eine Schule oder Organisation hinter sich zurückgelassen hätte. Als ein unnachgiebiger Sucher nach Konsistenz mit einem scharfen Auge dafür, das Fehlen dieser Eigenschaft bei anderen zu entdecken, verfing er sich dennoch in einem Netz von Unstimmigkeiten. Obwohl er einer der frühesten 237
Der Großteil von Tkatschows Arbeiten finden sich in Kosmins ausgewählten Werken über sozialpolitische Themen : Tkačëv, Izbrannye sočinenija na social’no - političeskie temy. Diese wurden ursprünglich in den Jahren 1932/33 in vier Bänden in Moskau herausgegeben. 1935 und 1937 wurden sie um zwei weitere Bände ergänzt. Eine große Hilfe stellte die beachtliche Auswahl in Walickis zweibändiger Anthologie dar : Walicki, Filozofia społeczna. Zwei Monographien über Tkatschow stammen von : Weeks, The First Bolshevik; Hardy, Peter Tkachev. Siehe außerdem die langen Kapitel über Tkatschow in den bereits zitierten umfangreichen Arbeiten von Venturi, Roots of Revolution; Wawrykowa, Rewolucyine Narodnictwo; Szamuely, The Russian Tradition; Yarmolinsky, Road to Revolution.
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Tkatschow
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russischen Verfechter der mar xistischen Ökonomie war, wurde er das bemerkenswerteste Beispiel eines russischen Jakobiners von der Art Babeufs und Blanquis. Als Prediger der Vorrangstellung der Ökonomie ver wandelte er sie in eine Dienerin der Politik und ersetzte wirtschaftlichen Determinismus durch die krasseste Art des Voluntarismus sowie durch beharrliche Agitation für die gewaltsame Inbesitznahme der Macht. Er befür wortete immer wieder die Idee einer terroristischen Diktatur. Eine Minderheit sollte jeden zur Freiheit zwingen, indem alle gleich wurden, ja identisch in all ihren Gedanken, Gefühlen und Voraussetzungen, so dass inmitten totaler universeller Einstimmigkeit der Staat eines Tages dahinschwinden könnte. Kurzum : Tkatschow kann vielleicht als der konsequenteste Theoretiker der russischen Version einer Ideologie totalitärer Demokratie vor Lenin angesehen werden. Zu der Zeit, als Netschajew verhasst war, wurde Tkatschow, sein Verbündeter, wie selbstverständlich eine bête noire. Doch wie Plechanow bestätigte, wurde er weiterhin gelesen, und nach den Misserfolgen des „Ganges ins Volk“238 wurden viele Gemüter von ihm bewegt. Jedenfalls bezweifelte Tkatschow selbst niemals, dass seine Ideen sich durchsetzen mussten. Es gibt Gründe anzunehmen, dass er nicht bloß ein Vorläufer Lenins war, sondern auch tatsächlichen Einfluss auf ihn hatte. Als er über die Narodnaja Wolja, die Volkspartei, schrieb, bemerkte Lenin in Was tun ?: „Vorbereitet durch die Propaganda Tkatschows und unternommen mit Hilfe des ‚einschüchternden‘ Terrors, der auch wirklich einschüchterte, war der Versuch, die Macht zu ergreifen, erhaben.“239 Noch deutlicher ist das Zeugnis von Bontsch - Brujewitsch, eines engen Vertrauten Lenins : „Wladimir Iljitsch las und untersuchte äußerst gewissenhaft all diese alte revolutionäre Literatur, wobei er Tkatschow besondere Aufmerksamkeit schenkte und bemerkte, dass dieser Autor näher an unserem Standpunkt war als irgendjemand anderes. [...] Wir sammelten diese [ Tkatschows ] Artikel und übergaben sie Wladimir Iljitsch. Nicht nur W[ ladimir ] I[ ljitsch ] las die Arbeiten Tkatschows, er empfahl uns allen, uns mit den wertvollen Arbeiten dieses einzigartigen Denkers vertraut zu machen. [...] W[ladimir] I[ ljitsch ] würde den Rat geben, die Studien mit dem Lesen von Tkatschows ‚Nabat‘ zu beginnen. [...] ‚Das ist grundlegend und wird Ihnen enormes Wissen geben.‘“240 Bontsch - Brujewitsch fügt hinzu, es sei „eine unwiderlegbare Tatsache [...], dass die russische Revolution in erheblichem Maße nach den Ideen Tkatschows verlief. Die von einer Revolutionspartei nach den Prinzipien strikter Zentralisation und Disziplin durchgeführte Machtergrei238
239 240
Vgl. Plechanov, Sočinenija ( Werke ), Band 24, S. 154 f. A. d. Ü. : Gang ins Volk : Synonym für die Bewegung der Narodniki, der russischen Revolutionäre der 1860er und 1870er Jahre. Lenin, Was tun ?, Band 5, S. 531. Zit. in Szamuely, The Russian Tradition, S. 318; Weeks, The First Bolshevik, S. 5.
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fung fand an einem im Voraus festgelegten Termin statt. Und diese Partei agierte, nachdem sie die Macht ergriffen hatte, in vielerlei Hinsicht im Sinne Tkatschows.“241 Tibor Szamuely zitiert auch den einflussreichen frühen sowjetisch - russischen Historiker Pokrowski, der Tkatschow den Titel des „ersten russischen Mar xisten“ gab und Tkatschows Jakobiner den „bolschewistischen Flügel“ der Revolutionsbewegung nannte. Tkatschows Biograf Kosmin betrachtete seine beharrliche Fürsprache für die Errichtung einer vereinigten zentralisierten Partei als „eine gigantische historische Leistung“.242 Tkatschow besteht auf Objektivismus. Er will nichts mit dem Subjektivismus zu tun haben, den das Ideal persönlicher Erfüllung impliziert. Obwohl er der materiellen Entwicklung den Vorrang gab, wollte er keinerlei historischen Relativismus zulassen. Ein universelles, ewiges und objektives Kriterium war imstande, die unfehlbare „Offensichtlichkeit“ und folglich die absolute Wahrheit festzulegen. Dieses Kriterium war „bestimmt durch unsere äußerliche Erscheinung und somit dieselbe innere Veranlagung“. „Daher existiert ein absolutes Kriterium der Wahrheit [...], die Möglichkeit einer unfehlbaren Weltanschauung, das heißt ein absolutes, allgemein verbindliches Kriterium des Fortschritts.“243 Ein Beispiel war die Prämisse, dass Menschen sich zur Bildung einer Gesellschaft mit dem Ziel vereinigen, „ein glückliches Leben und Zufriedenheit“ zu erlangen. Ein ähnlich sicheres Axiom war, dass Gleichheit keineswegs auf politische und juristische oder sogar wirtschaftliche Gleichheit reduziert werden dürfe. Sie beinhaltet „eine biologische, physiologische Gleichheit, aufrecht gehalten durch den gleichen Typ von Erziehung und den gleichen allgemeinen Lebensstandard [...]. Das ist das endgültige und einzig mögliche Ziel der menschlichen Gesellschaft; das ist das wichtigste Kriterium des historischen und sozialen Fortschritts. Alles, was die Gesellschaft näher an dieses Ziel bringt, ist fortschrittlich, alles, was sie zurückhält, ist rückschrittlich. [...] Auf diese Art und Weise bekommt das Wort Fortschritt eine präzise und besondere Bedeutung, und die Partei des Fortschritts erhält ein festes und unveränderbares Banner, ein Motto, das keine Doppeldeutigkeiten und Unklarheiten duldet.“244 Es überrascht nicht, dass Tkatschow individualistische Vorstellungen von Selbstentfaltung oder Selbstvollendung als Narzissmus entlarvt, als versteckte bürgerliche Selbstzufriedenheit, als den Anspruch, von überlegener Herkunft
241 242 243
244
Zit. in Szamuely, The Russian Tradition, S. 318. Zit. in ebd., S. 318 f. Pokrovskij, Izbrannye proizvedenija, Band 4, S. 378, 380. Tkatschow, zit. in Walicki, Filozofia społeczna, Band 1, S. 283; Wawrykowa, Rewolucyine Narodnictwo. Siehe auch Hardy, Peter Tkachev, S. 183, 239 f., 228 ( concept of truth ), 80–84, 161, 178–180 ( progress ). Tkačëv, Izbrannye sočinenija, Band 2, S. 206 f.
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zu sein und deshalb Sonderbedingungen für die Selbstverbesserung und Erhaltung esoterischer Eigenheit gewährt zu bekommen. Über Lawrows kritische Persönlichkeit urteilt Tkatschow vernichtend, es sei „unsereins, der entscheidet, was bleiben und was sich verändern muss. Es ist unsereins, der den Fortschritt vorantreibt; es ist unsereins, der der Menschlichkeit den Weg zeigt, es ist unsereins, der für alles den Ton angibt. Oh arglose Selbstschmeichelei ! Wenn man euch an eine Abfallgrube heranführen und sagen würde : ‚Singt ein Lob auf den Duft der Abfalldämpfe, beweist uns auf wissenschaftliche Weise, dass der Abfall das gesündeste und schmackhafteste Essen ist‘, [...] ihr würdet den gegebenen Befehl mit kriechender Demut durchführen. [...] Ihr zeigt uns den Weg zum Fortschritt ! Ihr geht doch selbst nur in die Richtung, in die man euch treibt. Ihr seid bloß das Echo des wahrhaften Lebens, der praktischen Bedürfnisse, der Träume, der täglichen Routine.“245 Das schlechte Gewissen, das Gefühl einer zu begleichenden Schuld war eine Ausflucht dafür, nichts zu unternehmen, um die Situation zu ändern. Seufzen und noble Gefühlsäußerungen galten als adäquater Ersatz für Handlungen, als ein Zeichen des Verständnisses für den wachsenden Verdruss der Benachteiligten. Der Glaube an die Volksspontaneität war eine Rationalisierung des Wider willens, sich durch Handeln im Hier und Jetzt sowie in eigener Person festzulegen.246 Die Anbetung der Kommune und des Mir ermöglichte es den Slawophilen, den Status quo zu verteidigen. Die Mushiks waren eine solch glückliche, tugendhafte und zufriedene Gruppe, ein Vorbild russischer Authentizität; warum die Leibeigenschaft antasten ?247 Das Beharren auf der Notwendigkeit, die Massen zu unterrichten und die Revolution vorzubereiten, war gleichbedeutend mit dem Hinauszögern auf unbestimmte Zeit und nur ein anderer Vor wand dafür, in absehbarer Zeit nichts zu tun und weiterhin die Rolle des Erziehers oder Führers zu genießen. Außerdem war schon die Vorstellung einer Revolution nach gründlicher Vorbereitung, wenn die Mehrheit für die revolutionäre Sache gewonnen war, absurd. Die eigentliche Idee einer Revolution beinhaltete den Aufstand einer Minderheit. Wenn eine Revolution erst von allen oder beinahe allen gewollt war, gab es keine Notwendigkeit mehr für sie. In seinem „Brief an den Vperyod- Herausgeber“ ( Lawrow ) beklagt sich Tkatschow, dies sei die Stimmung, die sich in der Arbeiterbewegung im Westen durchgesetzt habe. Dies komme im deutschen Programm der Internationale, dem Programm eines stetigen, friedlichen Fortschritts, zum Ausdruck.
245 246 247
Tkačëv, Izbrannye sočinenija, Band 5, S. 178; Walicki, Filozofia społeczna, Band 1, S. 353–355; Venturi, Roots of Revolution, S. 406. Vgl. Tkačëv, Izbrannye sočinenija, Band 1, S. 326 f.; Wawrykowa, Rewolucyine Narodnictwo, S. 237. Vgl. Tkačëv, Izbrannye sočinenija, Band 1, S. 328.
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Tkatschow fragt : „Verstehen Sie nicht, dass der Unterschied zwischen Revolution ( im gewöhnlichen Sinn des Wortes ) und friedlichem Fortschritt darin besteht, dass Ersteres durch eine Minderheit getragen wird und das Zweite durch eine Mehrheit [...] ? Eine gewaltsame Revolution kann nur dann stattfinden, wenn die Minderheit nicht länger gewillt ist zu warten, bis die Mehrheit selbst ihre Bedürfnisse erkennt, und wenn sie sich entscheidet, sozusagen dieses Bewusstsein der Mehrheit aufzuzwingen, wenn sie versucht, das zwar immer verborgene, aber immer gegenwärtige Gefühl der Unzufriedenheit bis hin zur Explosion zu bringen [...]. Und wenn diese Explosion stattfindet, versucht die Minderheit, ihr eine bewusste und rationale Gestalt zu geben sowie sie in bestimmte Richtungen zu lenken.“248
2. Ökonomischer Determinismus und menschliche Entschlossenheit Der eigentliche und prophetische Beitrag Tkatschows lag in seiner sonderbaren Mischung aus wirtschaftlich - mar xistischem Determinismus und extremem politischen Voluntarismus. Tkatschow soll der erste Autor gewesen sein, der Marx in einer russischen Publikation erwähnt, und zwar 1865 in Verbindung mit Marx’ Kritik der politischen Ökonomie und in einer Art und Weise, die deutlich macht, dass er es als gegeben ansah, dass jeder intelligente und ehrliche Mensch mit Sicherheit das Vorherrschen des ökonomischen Faktors anerkennen würde.249 Aber in welcher Hinsicht ? Auf den ersten Blick scheint Tkatschow den wirtschaftlichen Faktor als entscheidend für all unsere Haltungen zu betrachten. Es gibt von ihm eine merkwürdige Anmerkung über den Bauernkrieg in Deutschland im Jahre 1525. Er beschreibt ihn als einen Wendepunkt in der deutschen Geschichte, ja der europäischen Zivilisation. Die Panik, die er im deutschen Bürgertum her vorrief, bewirkte, dass dieses sich mit dem Adelsstand verband. Die Bürger wurden feudalen Interessen unter worfen und ihr Horizont auf die engen Grenzen der kleinen Fürstentümer und freien Städte beschränkt. Die daraus resultierende Kluft zwischen gewagtem theologischen Denken und dem Elend der realen Existenz führte sie dazu, in ein romantisches Spießbürgertum und die Entwicklung metaphysischer Systeme zu verfallen.250 Der starke Anteil an bäuerlichem Realismus, der von konstantem und
248 249 250
Tkačëv, Izbrannye sočinenija, Band 3, S. 64 f.; Walicki, Filozofia społeczna, Band 1, S. 384–394. Siehe auch Hardy, Peter Tkachev, S. 254–258. Vgl. Tkačëv, Izbrannye sočinenija, Band 1, S. 69 f.; Wawrykowa, Rewolucyine Narodnictwo, S. 226. Vgl. Tkačëv, Izbrannye sočinenija, Band 1, S. 132.
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direktem Kontakt mit den Erfordernissen und Zwängen des Kampfes mit der Natur herrührte, wurde in Aberglaube und Mystik erstickt und verdreht.251 Darüber hinaus führt Tkatschow die veränderte Stellung der höheren Berufsstände und der Intellektuellen im Russland des 19. Jahrhunderts auf die wirtschaftlichen Einflüsse der Reformen der 1860er Jahre zurück. Die frühere einfache russische Wirtschaft gab ihnen keinen Spielraum, machte ihre Existenz sehr unsicher und hatte zur Folge, dass sie sich als Außenseiter fühlten.252 Die Anfänge der Industrialisierung und des Kapitalismus bewirkten eine starke Nachfrage ihrer Dienste und ließen ihnen eine wichtige Funktion und einen bedeutenden Status zukommen. Ihre frühere Identifikation mit der Sache der Revolution sollte daher nicht länger als selbstverständlich angesehen werden. Was bei Tkatschows mar xistisch - wirtschaftlichem Materialismus vollkommen fehlt, ist die Dialektik. Menschen, so glaubt er, wurden in erster Linie von ihrer wirtschaftlichen Situation und den entsprechenden Interessen geprägt. Tkatschow kennt jedoch keine vorbestimmte Entfaltung einer Form, von sozialen Gegensätzen, die objektiv auf das dénouement einer klassenlosen Gesellschaft hinwirken. Er weist – wie schon gesagt – heftig jede Form eines sozialen historischen Automatismus zurück, aus Angst, dies werde alle revolutionären Bemühungen abtöten und den Status quo unterstützen. Er dementiert jegliche Analogie zwischen einem Organismus und der Gesellschaft, zwischen Natur und Geschichte.253 Mit einem tiefen Misstrauen gegenüber der menschlichen Natur kann er sich nur einen hobbesianischen Krieg aller gegen alle vorstellen, wenn es erst einmal dem Prinzip der natürlichen Selektion erlaubt ist, frei zu walten.254 Das eigentliche Ziel der Geschichte – und mit Ziel meint Tkatschow ein bewusstes Ziel, das Menschen sich selbst setzen – besteht darin, dem ständigen Konkurrenz - und Existenzkampf ein Ende zu setzen. Seine Haltung zu den Landgemeinden und den Bauern im Allgemeinen ist durch diese Einstellung bestimmt. Obwohl er die sozialistischen Merkmale und Möglichkeiten der bäuerlichen Gemeinden begrüßt, macht er auf ihre negativen Seiten aufmerksam, wie zum Beispiel die fest verankerte Verehrung des Zaren, die abergläubische Religion, die hoffnungslos engstirnigen Ansichten, die Erblast der Gewohnheiten und Traditionen, das Fehlen jeglichen Interesses
251 252 253 254
Vgl. ebd., S. 131. Vgl. ebd., S. 276 f.; Venturi, Roots of Revolution, S. 406; Wawrykowa, Rewolucyine Narodnictwo, S. 234 ff.; Hardy, Peter Tkachev, S. 230–238. Vgl. Tkačëv, Izbrannye sočinenija, Band 2, S. 181 f., 188–193, 196 f., 204, 206, 208, 212; Tkačëv, Izbrannye sočinenija, Band 5, S. 300–302, 306 f. Vgl. Tkačëv, Izbrannye sočinenija, Band 3, S. 225; Band 2, S. 139; Walicki, Filozofia społeczna, Band 1, S. 295, 311 f., 318–320.
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und Solidaritätsgefühls für die Bauern anderer Gemeinden.255 An sich war diese Institution neutral. Die alten Kräfte mochten sie als ein eingefrorenes, stagnierendes Erbe bewahren, aber in den Händen der Revolutionäre könnte sie zum Instrument der sozialistischen Transformation werden. Es gibt in Tkatschows Arbeit nur einen sehr schwachen Versuch, den egalitären Kommunismus als die Funktion der Veränderungen in den Produktionsweisen zu präsentieren. Der Zweck der Maschine ist es, als Vehikel der Gleichheit zu fungieren. Durch Vereinfachung und Erleichterung der Arbeit stellt sie gleiche Anforderungen an alle. Indem sie geistige Aufmerksamkeit erforderte, verringerte sie die Kluft zwischen Angestellten und Arbeitern.256 Die Wahrheit ist, dass für Tkatschow wirtschaftliches Interesse, ökonomischer Druck und Unzufriedenheit nur insofern von Bedeutung waren, als sie den Drang nach Veränderung und revolutionärer Entschlossenheit stärkten oder schwächten. Entbehrung und das Fehlen wirtschaftlicher Sicherheit schienen ihm die bedeutendsten Kräfte zu sein, die das europäische Proletariat antrieben. Aus sich selbst heraus vermochten sie kaum die Revolution zu beschleunigen. „Der historische Fortschritt hat derartige Bedingungen geschaffen, dass die allgemeine Summe der Bedürfnisse aller Individuen in der gegebenen Gesellschaft nicht durch die allgemeine Summe der Mittel gedeckt werden kann, die sie befriedigen sollten [...]. Einige hatten die Möglichkeit, zu viel für die Entwicklung ihrer Persönlichkeit aufzuwenden, und andere zu wenig [...]. Die Geschichte hat uns daher keineswegs näher gebracht, sondern ständig die Gesellschaft vom Erreichen des ersehnten Zieles ( der Gleichheit ) entfernt; mit anderen Worten müssen wir den historischen Fortschritt nicht als eine fortschrittliche, sondern als eine rückschrittliche Bewegung ansehen.“257
3. Jetzt oder nie Das Eingreifen des menschlich - bewussten Willens war daher notwendig. Dies brachte Planung und eine anhaltend zweckmäßige Ausführung mit sich. Den Gradualisten und denen, die an friedlichen und allmählichen Fortschritt glaubten, hielt Tkatschow entgegen, ihre Sichtweise sei viel utopischer als die Vorstellung eines gründlichen Aufräumens und einer vollständigen revolutio-
255 256 257
Vgl. Tkačëv, Izbrannye sočinenija, Band 3, S. 64 f.; Walicki, Filozofia społeczna, Band 1, S. 385–402; Hardy, Peter Tkachev, S. 240–244, 252, 262, 272. Vgl. Tkačëv, Izbrannye sočinenija, Band 2, S. 192–194. Ebd., S. 203 f. Siehe auch Walicki, Filozofia społeczna, Band 1, S. 330 f.; Hardy, Peter Tkachev, S. 181.
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nären Transformation. Ähnlich wie ein Gedankengang musste die soziale Entwicklung eines gegebenen Systems in Etappen voranschreiten, von denen keine übersprungen werden konnte. Sie war eng mit Tatsachen und Interessen verknüpft, die nicht einfach abgeschafft werden konnten. Aber es war um vieles einfacher, eine existierende Ordnung wegzufegen und von Grund auf wieder aufzubauen. Die Stunde des Zuschlagens schlug und die beste Aussicht auf Erfolg bestand, wenn eine Entwicklungsphase sichtlich an ihr Ende kam und die nächste Phase sich noch nicht angekündigt oder noch nicht herauskristallisiert hatte. Das war die Zeit, eine Utopie aus dem Nichts aufzubauen. In diesem Zusammenhang fürchtet sich Tkatschow nicht vor dem Wort Utopie. Utopie war ein Entwurf, der eine Logik bis zum Äußersten ausdehnte, eine Reihe chemisch reiner Vernunftschlüsse, so wie ein Plan für eine soziale Transformation sein sollte.258 Natürlich konnten solche Anstrengungen zur Niederringung enormer Mächte und Interessen, Einrichtungen und Gewohnheiten nicht ohne Einwirkung von Gewalt und Terror unternommen werden. Ein friedlicher Übergang von einer sozialen Form zur nächsten war mit Sicherheit gerade „eine der nicht vorhandenen Utopien, welche die Menschheit schon immer erfunden hat, um ihr Gewissen zum Schweigen zu bringen und ihre Vision zu verschleiern“.259 Jedoch konnte solch ein Durchbruch niemals durch die Massen selbst erfolgen, ignorant, träge und unterdrückt wie sie waren. Es oblag der aufgeklärten Avantgarde, die Initiative im Namen der Massen als Antwort auf ihre unartikulierte Sehnsucht zu ergreifen. Was bedeutete es, die Initiative zu ergreifen? Nicht Propaganda und Vorbereitung der Massen. Dies würde eine hoffnungslose und langwierige Angelegenheit sein und ein Vor wand, keine entscheidende Handlung durchzuführen. Die wirkliche Aufgabe bestand darin, die Macht zu ergreifen, eine politische Revolution zu bewerkstelligen, um mit Gewalt die soziale Revolution durchzuführen. Und dies war in Russland ein kategorischer Imperativ von höchster Dringlichkeit.260 Tkatschow sieht das Russland seiner Tage als ein klassisches Beispiel für die Gefahr, die darin lag, der Geschichte ihren Lauf zu lassen. Nabat, Tkatschows Zeitschrift, war ein Alarmruf, eine Warnung vor den Gefahren des Wartens. In seiner berühmten Polemik mit Engels formulierte Tkatschow Ansichten, die man im Lichte der bolschewistischen Revolution als wahrhaft prophetisch ansehen kann.261 Tkatschow fühlte mit größerer Intensität als 258 259 260 261
Vgl. Tkačëv, Izbrannye sočinenija, Band 1, S. 404–407; Walicki, Filozofia społeczna, Band 1, S. 265–268. Zit. in Venturi, Roots of Revolution, S. 402. Vgl. Tkačëv, Izbrannye sočinenija, Band 3, S. 264–268. Vgl. Walicki, Filozofia społeczna, Band 2, S. 496–512; Weeks, The First Bolshevik, S. 113–116.
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irgendjemand sonst die Bedrohung des bürgerlichen Kapitalismus, der bereits dabei sei, die Revolution zu verzögern oder sie für Generationen unmöglich zu machen. In einem schulmeisterlichen Artikel tadelte Engels diesen grünen Studenten für seine Arroganz und Ignoranz gegenüber dem ABC des Sozialismus. Er versuchte, ihm die orthodoxe These von der Unvermeidlichkeit einer bürgerlich - liberalen Phase und der Unmöglichkeit eines wachsenden, reifenden und sich für einen revolutionären Durchbruch organisierenden Proletariats vor Eintritt dieser Phase einzuhämmern.262 Politische Beziehungen waren eine Funktion sozial - ökonomischer Kräfte. Tkatschow rächte sich auf gleiche Weise und warf Engels bürokratische Arroganz und völlige Ignoranz gegenüber den russischen Bedingungen vor.263 Er war der Erste, der auf marxistische Wirtschaftsbegriffe zurückgriff, um die Möglichkeit einer politischen Revolution zu beweisen, ja die Notwendigkeit einer revolutionären Ergreifung der politischen Macht in einem rückständigen Land, noch bevor die sozialen Bedingungen und mit ihnen verbundenen politischen Institutionen herangereift waren – um die soziale Revolution durch die Ukase einer diktatorischen politischen Macht durchzuführen. In jedem normalen Land waren Staat und Regierung die Repräsentanten und Verteidiger eines Klasseninteresses. In Russland hing das zaristische Regime hingegen in der Luft und existierte in einem sozialen Vakuum. Der Adel war bankrott und unfähig, die Bauern waren dem Staat völlig entfremdet, und es existierte keine Mittelschicht. Demzufolge gab es keine Schwierigkeiten, solch ein Regime zu stürzen, nachdem es einen Krieg verloren hatte, in eine schwere Wirtschaftskrise ver wickelt und von Volksunruhen unter Druck gesetzt worden war. Abgesehen von der Armee und Bürokratie existierte keine soziale Macht, die glaubwürdig genug, interessiert und bereit zu seiner Verteidigung war.264 Eine diktatorische Revolutionsregierung würde sicherlich nicht weniger Massenzuspruch haben als der verhasste, hinfällige und bankrotte Zarendespotismus. Wenn der Absolutismus des Zaren sich selbst in schändlicher Isolation halten konnte, warum sollte die revolutionäre Diktatur, die Trägerin der tiefsten Hoffnungen der Massen, nicht fähig sein zu überleben ? Zu warten bedeutete, dem zaristischen Regime Zeit zu geben, eine feste Grundlage in einer breiten Mittelschicht zu erlangen, die mit der verzweifelten Suche nach Möglichkeiten beschäftigt war, das wachsende Proletariat auszubeuten, und die ein Interesse an einer Allianz mit der Zarenarmee und -büro-
262 263 264
Vgl. Szamuely, The Russian Tradition, S. 295, 298; Tkačëv, Izbrannye sočinenija, Band 3, S. 459. Vgl. Tkačëv, Izbrannye sočinenija, Band 3, S. 88–98; Hardy, Peter Tkachev, S. 203– 211. Vgl. Tkačëv, Izbrannye sočinenija, Band 3, S. 91 f.
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kratie gegen die Arbeiterklasse entwickelte. Die Auf lösung der bäuerlichen Gemeinden durch den bürgerlichen Individualismus schritt voran und mit ihr der Kult des Privateigentums und das Wachstum einer habgierigen Klasse von Kulaken. Russland war vom Verlust des vielversprechendsten Kerns eines sozialistischen Wiederaufbaus der Gesellschaft und Wirtschaft bedroht – der Dorfgemeinde.265 „Haben wir das Recht zu warten ? Haben wir das Recht, Zeit auf die Umerziehung zu verschwenden ? Bedenken Sie, dass jede Stunde, jede Minute, die uns von der Revolution trennt, die Menschen Tausende von Opfern kostet; schlimmer noch : es vermindert allein die Möglichkeit auf Erfolg. Der gegenwärtig stärkste Feind, der uns gegenübersteht, ist unsere Regierung mit ihren bewaffneten Streitkräften und ihrer enormen materiellen Macht. Zwischen der Regierung und den Menschen gibt es keine vermittelnde Kraft, die für längere Zeit die Volksbewegung stoppen könnte, wenn sie erst einmal begonnen hätte [...]. Daher können wir nicht warten. Deshalb fordern wir, dass in Russland eine Revolution unumgänglich ist, und zwar jetzt, in diesem Moment. Wir können keinerlei Aufschub, keinerlei Verzögerung erlauben. Jetzt oder – vielleicht schon sehr bald – nie. Jetzt sind die Umstände zu unseren Gunsten – innerhalb der nächsten zehn oder zwanzig Jahre werden sie gegen uns sein.“266 Wie konnten die russischen Bauern und Arbeiter geschult und auf eine Revolution vorbereitet werden in einem Land, das keine Redefreiheit kannte, keine freie Presse, keine Versammlungsfreiheit, keine Möglichkeit legaler Organisation, zur Gründung von Gewerkschaften oder gar zur Erlangung einer Anleitung seitens der Intelligenzija ? Tkatschow hatte keine Schwierigkeiten, die sinnlosen Bemühungen der „reaktionären Revolutionäre“ herauszustellen, illegale Genossenschaften in Städten und Dörfern sowie Klassen für Erwachsenenbildung zu organisieren oder Propaganda zu machen. Zum Scheitern verurteilt wegen der fehlenden wirtschaftlichen Basis und Handlungsfreiheit, als revolutionäre Zellen unfähig aufgrund von Zerstreuung und des Fehlens einer landesweiten Organisation, würde jeglicher Erfolg, den sie haben mochten, zur Einführung westlicher Modelle und der Spaltung der Miry beitragen.267 Unter diesen Umständen konnte die Initiative für eine revolutionäre Veränderung nur von einer selbsternannten Minderheit, einer Avantgarde, ausgehen. Keine der Bedingungen des russischen Lebens, die nach Veränderung riefen, und keines der Elemente, die sozialistische Möglichkeiten in sich bargen, konnten
265 266 267
Vgl. ebd., S. 69, 219, 273; Walicki, Filozofia społeczna, Band 1, S. 393 f., 395–405. Tkačëv, Izbrannye sočinenija, Band 3, S. 69 f. Siehe auch Hardy, Peter Tkachev, S. 196–208, 247–286. Vgl. Tkačëv, Izbrannye sočinenija, Band 3, S. 92 f., 272 f., 275.
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ohne das Handeln einer entschlossenen Minderheit wirksam werden. Dies betraf, wie bereits angedeutet, in erster Linie die Dorfgemeinde. Es war immer noch ein weiter Weg von den Lebensweisen, welche die selbstver walteten Bauernkommunen bestimmen – basierend auf periodischer Neuverteilung von Land und Unterordnung des Individuums unter das Kollektiv –, bis zum vollendeten Kommunismus. „Aber sie stellten gewissermaßen den Samen des Kommunismus dar; dieser Keimling möge blühen, aber er könne ebenso gut schwinden und sterben.“268 Sollte die Wirtschaft Russlands eine Wendung in Richtung eines bürgerlichen Kapitalismus erfahren, würde die Dorfgemeinde das gleiche Schicksal wie die alten westeuropäischen Gemeinden ereilen : sie würde sterben. „Sollte die Revolution hingegen rechtzeitig einen Damm errichten, um die sich schnell bewegenden Wellen des bürgerlichen Fortschritts aufzuhalten, den Fluss stoppen und ihm eine andere, entgegengesetzte Richtung vorgeben, dann wird sich unsere jetzige bäuerliche Dorfgemeinschaft zweifelsohne, unter günstigen Bedingungen, allmählich zu einer sozialistischen Kommune entwickeln.“269 Ohne einen Anstoß von außen würde die Dorfgemeinde ein Fossil bleiben. „Das gesellschaftliche Ideal unseres Volkes verharrt in den versteinerten Formen seiner Existenz. Jenseits der jahrhundertealten Form der Besitzverhältnisse, jenseits der patriarchalischen Kriecherei vor den Würdenträgern, einer Unter würfigkeit, die in ihr Blut übergegangen ist, jenseits der passiven Unterordnung des Individuums unter die Kommune, jenseits der traditionellen Familienbeziehungen und desgleichen – sehen die Menschen nichts und wollen nichts wissen. Gib ihnen die Möglichkeit, ihr Leben so zu führen, wie sie wollen, und du wirst sehen, dass sie keine Veränderung in ihm vornehmen werden [...] und es die gleiche bäuerliche Welt mit ihren veralteten, versteinerten Gepflogenheiten und ihrem unerschütterlichen Konser vatismus bleiben wird. Und so sind die positiven Ideale unserer Bauern noch nicht revolutionär; sie können noch nicht als die Vorbilder der sozialistischen Revolution angenommen werden.“270 Die Dorfgemeinde musste durch eine Infusion mit modernen Strukturelementen und Geldern von außen wiederbelebt und in neue Bahnen gelenkt werden, um „fähig zu sein, das stabile Gleichgewicht abzuwerfen [...]. Wir werden vergeblich in den volkstümlichen Vorbildern nach jeglicher Vorstellung von diesen neuen Elementen und neuen Faktoren suchen [...], wir werden sie nur in den sozialistischen Programmen der revolutionären Minderheiten finden. Das ist der Grund dafür, dass die Idee, welche durch diese Minderheit bekun268 269 270
Ebd., S. 263; Walicki, Filozofia społeczna, Band 1, S. 538. Ebd., S. 263. Ebd., S. 264.
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det wurde, als eine revolutionäre Idee und eine Idee weiterer Horizonte zur Zeit der Revolution das volkstümliche Vorbild dominieren muss.“271
4. Die revolutionäre Diktatur der minoritären Avantgarde Tkatschow erklärte, es sei unmöglich, vom Volk zu erwarten, dass es eine entscheidende Rolle beim Aufbau der kommunistischen Gesellschaft spiele. „Diese Rolle [...] gehört ausschließlich der revolutionären Minderheit.“272 Aber wenn das Volk auch keine Bedeutung als positive revolutionäre Kraft besaß, würde es als „eine negative Kraft, als eine Kraft der revolutionären Zerstörung“273 sehr effektiv sein. „In der Tat ist unser Volk der wahrhafte Gegner der Grundbesitzer und der Machthaber [...]. Wenn dieser Hass die Gelegenheit findet, sich in vollen Zügen zu entfalten – wird das Volk in einem gewaltigen Sturm die heutigen Verteidiger und Beschützer des Status quo vernichten, es wird das Land, welches ihm entzogen wurde, zurücknehmen, es wird alles, was bis jetzt seine Welt und die Miry erstickt und unterdrückt hat, zerstören und schreckliche Rache an seinen Feinden nehmen. Aber es wird nicht weiter gehen.“274 Dann würden die Massen in ihre Dorfgemeinschaften und Familien zurückkehren, um freier und zufriedener ihre geliebten alten Traditionen zu pflegen. Das ist der Grund, warum die Minderheit nicht zurücktreten darf, sobald die Massen die alte Ordnung zerstört haben. Sie muss ihre revolutionäre Aktivität in das wirkliche Herzstück des bäuerlichen Lebens tragen – sie muss bestrebt sein, dieses von den alten Formen, die dem kommunistischen Fortschritt feindlich gegenüberstanden, zu befreien und diese durch diejenigen zu ersetzen, die am besten für ihre progressiven Anforderungen und Aufgaben geeignet sind. „Gerade, um imstande zu sein, ihre destruktiven revolutionären Aktivitäten auf diesem Gebiet fortzusetzen, in dem es schwierig ist, auf die aktive Unterstützung und Kooperation der Mehrheit des Volkes zu zählen, gerade dafür muss die revolutionäre Minderheit die Kraft, Macht und Autorität haben. Je größer diese Kraft ist, desto bestimmter und dynamischer wird die Macht sein, desto vollständiger und umfassender wird die Ver wirklichung der Idee der sozialen Revolution und desto leichter wird es sein, einen Konflikt mit den konser vativen Elementen des Volkes zu vermeiden.“275 271 272 273 274 275
Ebd., S. 388. Tkačëv, Izbrannye sočinenija, Band 3, S. 265. Ebd. Ebd.; Walicki, Filozofia społeczna, Band 1, S. 388. Tkačëv, Izbrannye sočinenija, Band 3, S. 265 f.; Walicki, Filozofia społeczna, Band 1, S. 389.
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Ohne bei dieser Umstrukturierung der traditionellen Formen auf die aktive Unterstützung des Volkes für die revolutionäre Avantgarde zählen zu können, braucht die revolutionäre Avantgarde keine Angst zu haben, dass „das Volk den Revolutionären seine passive Unterstützung ver weigern wird. Ganz im Gegenteil, sie können mit Fug und Recht gerade auf diese Unterstützung zählen : Schließlich ist ihr revolutionäres Vorbild in seinen Grundzügen das gleiche konser vative Vorbild des Volkes, nur vollständiger entwickelt [...]. Auf diese Art und Weise wird die revolutionäre Minderheit die zerstörerische revolutionäre Stärke des Volkes benutzen, um die Feinde der Revolution zu vernichten, und sie wird die Grundlage einer neuen, rationalen Form der Existenz errichten, und zwar unter Berufung auf den allgemeinen Geist des positiven Ideals, [ das heißt ] auf die konser vativen Kräfte des Volkes.“276 Tkatschow weigert sich, dem Volk zu schmeicheln, indem er wie Lawrow predigt, die Menschen könnten sich selbst retten. Er weigert sich, „auf die Schultern des Volkes die große und mächtige Tat der sozialen Revolution aufzubürden“.277 Solange die Menschen sich in den gegenwärtigen wirtschaftlichen und politischen Gegebenheiten befänden, könnten sich weder Lawrows Ideen und Ideale noch ihre eigene Einstellung zu ihrer Umwelt ändern, und daher „werden die Menschen auch in Zukunft so hilf los bleiben, wie sie heute sind“.278 Tkatschow kommt zu dem Schluss, dass all jene, die dem Volk predigten, es solle warten und Geduld haben, Heuchler seien. „Weder jetzt noch in Zukunft wird das Volk imstande sein, eine soziale Revolution zu ver wirklichen, wenn es sich selbst überlassen bleibt. Nur wir, die revolutionäre Minderheit, können es tun – und wir müssen es tun, so bald wie möglich !“279
5. Die soziale Revolution von oben Und so muss die soziale Revolution von oben im Sog der politischen Revolution gemacht werden, das heißt : gewaltsame Machtergreifung und plötzliche Transformation des Ausbeuterstaates in einen volksrevolutionären Staat. Diese Aufgabe muss von der revolutionären Avantgarde mit höchster Geschwindigkeit, Entschlossenheit und Rücksichtslosigkeit erledigt werden, mit anderen 276 277 278 279
Tkačëv, Izbrannye sočinenija, Band 3, S. 266 f.; Walicki, Filozofia społeczna, Band 1, S. 390 f. Tkačëv, Izbrannye sočinenija, Band 3, S. 268; Walicki, Filozofia społeczna, Band 1, S. 392. Ebd. Tkačëv, Izbrannye sočinenija, Band 3, S. 268; Walicki, Filozofia społeczna, Band 1, S. 394.
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Worten mit „Gewalt [...] Zentralisation, strenger Disziplin, Geschwindigkeit, Entschlusskraft und Handlungseinheit. Jegliche Zugeständnisse oder Zweifel, jegliche Kompromisse, Uneinheitlichkeit der Befehle oder Dezentralisation der kämpfenden Kräfte können nur ihre Energie schwächen, ihre Arbeit lähmen und jegliche Aussicht auf Sieg zunichtemachen. Dagegen muss die konstruktive revolutionäre Handlung, obwohl sie mit den destruktiven Handlungen einhergehen muss, auf Grund eben dieser Eigenschaft auf dem exakt entgegengesetzten Prinzip beruhen. Die erste basiert hauptsächlich auf materieller, die zweite auf geistiger Kraft; die erste beruht auf Geschwindigkeit und Einheit, die zweite auf der Festigkeit und Vitalität der herbeigeführten Veränderungen. Erstere muss mit Gewalt und letztere mit Überzeugung durchgeführt werden. Die Ultima Ratio der ersten ist der Sieg, so wie die Ultima Ratio der zweiten der Wille und der Verstand des Volkes ist.“280 In diesem Zusammenhang rechnete Tkatschow mit dem bakunistischen Anarchismus ab. Bedenkt man seine Geringschätzung der Befähigung der Massen zu revolutionärer Initiative und ihrer Bereitschaft zur Veränderung, hat der Organisator in Tkatschow keine Schwierigkeiten, Bakunins Vorstellung einer anonymen geheimen Diktatur dreier Führungspersonen zu verspotten : Wenn der volksrevolutionäre Instinkt der Hauptfaktor war, warum bedurfte es dann einer solchen Diktatur, und wenn eine Anleitung von außen nötig war, wie effektiv konnte diese ohne Organisation sein; und wenn ihre Rolle wesentlich war, was blieb von der Volksspontaneität übrig ?281 Die gleichen Argumente galten auch gegenüber Lawrow und wurden, wie wir gesehen haben, von Tkatschow gegen diesen ins Feld geführt. Darüber hinaus enthielt Tkatschows Bewertung der elementar - destruktiven Rolle der Massen bei einem revolutionären Umbruch ein gutes Quantum Bakuninismus. Aber da war noch mehr. Tkatschow stellte sich das ultimative Dahinschwinden des Staates vor. Und das würde umso schneller geschehen und in einer gründlicheren Art und Weise, je strikter, diktatorischer und gründlicher die Aktivitäten der siegreichen, revolutionären Minderheit beim Entwurzeln der alten Ordnung, der Mächte von gestern, und beim Verändern der sozialen Gegebenheiten und Mentalitäten der Menschen wären.282 Gerade bei einem revolutionären Umsturz, wenn alle Beschränkungen gefallen waren und jeder Art von Ideen, Meinungen, Ambitionen und gar Per versitäten freier Lauf gelassen wurde, konnte das Chaos nur durch eine harte, weitsichtige und absolut geschlossene Minderheit verhindert werden, die allen
280 281 282
Tkačëv, Izbrannye sočinenija, Band 3, S. 225 f.; Venturi, Roots of Revolution, S. 419. Vgl. Tkačëv, Izbrannye sočinenija, Band 3, S. 252–255, 277–318, 325, 362 f. Vgl. ebd., S. 223 f.
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Fraktionalismus über wand, indem sie ihre intellektuelle und spirituelle Überlegenheit über die Mehrheit siegen ließ und die geistige Macht, die Lawrow und Bakunin so sehr liebten, in materielle Macht ver wandelte.283 In der besten Tradition Babeufs und Buonarrotis stellte sich Tkatschow eine verfassunggebende Versammlung vor, die nicht von Hinz und Kunz und unter den Bedingungen freier Diskussion und Propaganda gewählt war, sondern erst einberufen wurde, nachdem die Massen der alten Klassen und Ängste sowie ihrer Vorurteile entwöhnt worden waren. Wenn sie erst frei waren, das eigene Glück unabhängig zu wählen und an seine unmittelbar bevorstehende Ankunft zu glauben, konnte es keinen Zweifel mehr geben, wie sie wählen würden. Eine derart gewählte Versammlung würde die Handlungen der revolutionären Minderheitendiktatur mit dem größten Enthusiasmus als Erfüllung ihrer kühnsten Träume begrüßen.284 Mit anderen Worten : Zuerst galt es, faits accomplis zu schaffen und nicht ein Mandat zu erhalten, um Reformen durchzuführen. Die zu ergreifenden Maßnahmen waren auf sozial - ökonomischem Feld die Transformation der auf Familienbesitz basierenden Gemeinden in voll entwickelte, auf gemeinschaftlichem Besitz und gemeinschaftlicher Arbeit aufgebaute Kommunen sowie die Nationalisierung des ganzen Landes und jener Produktionsmittel, die vom Klassenfeind konfisziert worden waren. Viel bedeutungsvoller und im russischen revolutionären Umfeld gewagter und einzigartiger war Tkatschows babouvistischer Plan, eine totale geistige Transformation des Volkes zu bewirken sowie seine Lösung der Dichotomien der integralen Persönlichkeit und des gesellschaftlichen Zusammenhalts, von Freiheit und Gleichheit, Spontaneität des Instinktes und der Postulate des Rechts. Wirkliche Gleichheit war nur möglich, indem alle Menschen nach einem Modell geformt und dazu erzogen wurden, das Gleiche zu wollen, ohne sich nach Unterscheidung, Präferenz, Eigenart und Individualismus zu sehnen; ohne Bedürfnisse zu empfinden, die nicht jeder hatte. Das war ein Rezept für wirkliche Anarchie im Sinne des Fehlens einer Regierung. Ohne das bedeutete Anarchie Chaos und Krieg aller gegen alle. „Die Gesellschaft kann ihre Aufgabe nur vollständig erfüllen, wenn erstens, sie die Lebensziele aller ihrer Mitglieder vereint, das heißt : gleiche Bedingungen für die Erziehung und weitere Tätigkeiten zu schaffen, die ganze chaotische Vielfalt der Individuen ( was das Ergebnis des rückschrittlich - historischen Prozesses war ) auf einen Nenner zu bringen, auf die gleiche Ebene; zweitens, wenn sie die Möglichkeiten und Bedürfnisse miteinander in Einklang bringt, 283 284
Vgl. ebd., S. 224; Hardy, Peter Tkachev, S. 256–270. Vgl. Tkačëv, Izbrannye sočinenija, Band 3, S. 227; Walicki, Filozofia społeczna, Band 2, S. 97 ff., 87–106.
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das heißt : in ihren Mitgliedern nur solche Bedürfnisse fördert, die durch den gegebenen Grad der Arbeitsproduktivität befriedigt werden können oder solche, die einen direkten Einfluss auf das Wachstum der Produktivität haben oder auf die Reduktion all dessen, was die Erhaltung und Entfaltung der Individualität anbelangt; drittens, wenn die gleichberechtigte und möglichst vollkommene Befriedigung aller Bedürfnisse ihrer Mitglieder garantiert wird [...]. Wenn sich alle Mitglieder der Gesellschaft auf der gleichen Entwicklungsebene der menschlichen Individualität befinden, dann sind ihre Lebensziele identisch; und nur dann, wenn ihre Lebensziele identisch sind, befinden sie sich in der absoluten Harmonie mit dem Ziel der Gesellschaft. Wo keine solche Harmonie besteht, wo die Gesellschaft die Ziele einiger Individuen nur erfüllt, indem sie anderen Unrecht zufügt, wo die Verschiedenheit der Individuen eine Vielfalt an und Widersprüche zwischen individuellen Zielen erzeugt, dort ist die Erfüllung der Hauptaufgabe des Staates logisch unmöglich. Andererseits wird die Aufgabe der Gesellschaft ebenfalls nicht erfüllt, wenn jeder das Recht hat, seine Individualität oder die seiner Kinder zu entwickeln ohne Rücksicht auf Quantität und Qualität der Mittel, die der Gesellschaft zur Verfügung stehen“,285 ganz zu schweigen von einer Situation, in der jeder frei war, sich mit Gewalt die Dinge, die er sich wünschte, in jeder beliebigen Menge zu nehmen. Absolute „biologische, physiologische Gleichheit“ durch das Einebnen aller Bedürfnisse und Befriedigungen und eine geeignete Umerziehung – „das ist das endgültige, das einzig mögliche Ziel der menschlichen Gesellschaft“.286 Dies erforderte, einige Bedürfnisse zu unterdrücken und andere durch ein vorgeschriebenes System der bürgerlichen und sozialen Schulung zu entwickeln, die Abschaffung der Familie, die Entfesselung von Gemeinschaftsgefühl und Zuneigung in den kollektiven Institutionen der Selbstregierung bzw. Selbstver waltung.287 Tkatschow forderte weder einen losen Zusammenschluss von Gemeinden in einem Abgeordnetenkongress mit begrenzten Mandaten noch Gruppen erleuchteter Individuen noch unorganisierte geheime Inspirateure des Volkes, sondern die extrem selbstbewusste Diktatur einer geschlossenen und disziplinierten revolutionären Minderheitspartei. Befürchtungen, eine revolutionäre Avantgarde könnte nach der Machtergreifung in eine Oligarchie ausarten, begegnete Tkatschow mit Argumenten, die später von Lenin aufgegriffen wurden. Die revolutionäre Partei war die Quintessenz des Volkes, stand weder über ihm noch außerhalb von ihm. Die
285 286 287
Tkačëv, Izbrannye sočinenija, Band 2, S. 205 f.; Hardy, Peter Tkachev, S. 169–176, 180 f. Tkačëv, Izbrannye sočinenija, Band 2, S. 207; Hardy, Peter Tkachev, S. 181. Vgl. Walicki, Filozofia społeczna, Band 2, S. 99; Tkačëv, Izbrannye sočinenija, Band 3, S. 227.
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Partei bestand nicht aus Politikern, die darauf aus waren, Macht zu gewinnen und eine Karriere im eigenen Interesse zu machen. Warum sollte „diese Minderheit, die teilweise durch ihre soziale Position, teilweise durch ihre Ideen zusammengebracht worden war und die vollständig den Interessen des Volkes zugetan war, sich nach der Eroberung der Macht plötzlich in einen Tyrannen ver wandeln ?“288 Diejenigen, die von der Macht korrumpiert worden waren, waren für gewöhnlich bereits korrupt gewesen, bevor sie diese erlangt hatten – wie Napoleon, Cäsar und ihresgleichen. Die anderen, Cromwell, Washington, Robespierre, erhielten sich ihre strengen Tugenden und ihre Hingabe für die Sache des Volkes bis zum Ende. „Robespierre, ein Mitglied des Konvents, der allmächtige Herrscher über das Schicksal Frankreichs, und Robespierre, ein unbekannter Provinzanwalt, war ein und dieselbe Person. Macht veränderte nicht im Geringsten seinen moralischen Charakter oder seine Ideale und Neigungen, nicht einmal seine privaten Gewohnheiten.“289 Unter diesen Umständen war das dringendste und wichtigste Problem die Ausbildung der Mitglieder der revolutionären Minderheit und die Natur ihrer Organisation. „Ihr Unterscheidungsmerkmal [...] liegt in der Tatsache, dass all ihre Aktivitäten, ja ihre ganze Lebensform von einem Ehrgeiz, einer leidenschaftlichen Idee beherrscht werden : die Mehrheit der Menschen glücklich zu machen und so viele wie möglich an den reich gedeckten Tisch des Lebens einzuladen. Die Ver wirklichung dieser Idee wird zum einzigen Beweggrund ihrer Handlungen, weil diese Idee vollständig mit ihrem Verständnis vom persönlichen Glück verschmolzen ist. Alles wird dieser Idee untergeordnet, alles geopfert – sofern man hier überhaupt von Opfer sprechen kann.“290 Die eng geknüpfte, strikt zentralisierte, äußerst disziplinierte Bruderschaft würde von diesem höchsten Ziel geleitet werden, welches das Kriterium für jegliche Werte, Handlungen und Moralvorstellungen bildete. Sie würde keinerlei formale, abstrakte Ethik anerkennen. Für sie hatte Moral nur Bedeutung in Bezug auf dieses Endziel, im Gegensatz zu jenen Spießbürgern, die behaupteten, dem Gebot „Du sollst nicht stehlen !“ zu gehorchen und, während sie „die Unantastbarkeit von anderer Menschen Taschentücher predigen, [...] diese sehr wohl aus den Taschen ihrer Nächsten klauen, wenn sich eine Gelegenheit dazu bietet“.291
288 289 290 291
Tkačëv, Izbrannye sočinenija, Band 3, S. 250. Ebd., S. 251. Tkačëv, Izbrannye sočinenija, Band 1, S. 174. Ebd., S. 208.
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VI. Wenn „Bestän dig keit den Punkt der Monst ro si tät erreicht“ – Net scha jew und Baku nin Der russische Revolutionär im 19. Jahrhundert hörte unablässig den Ruf : „Kain, wo ist dein Bruder Abel ?“ Während er die guten Dinge des Lebens genoss, zermarterte er sich das Hirn über das Schicksal der Menschen, die sich diese Dinge nicht leisten konnten, und darüber, dass er den Unterdrückten nicht zu Hilfe eilte und die Versklavten nicht befreite. Er war dazu erzogen, sich selbst als zügellosen Komplizen einer Verschwörung zu sehen, eines ruchlosen, zur Ausbeutung und Unterdrückung des größeren Teiles der Nation errichteten Systems.
1. „Ist alles erlaubt und nichts verboten ?“ – Zwecke und Mittel Obwohl sie totale Selbsthingabe zur Folge hatte, war die Mission des Revolutionärs doch auch eine selbsternannte Rolle, die Usurpation eines Amtes. Die Mission verlangte totale Selbstverleugnung und vollständige Selbsthingabe, aber sie war unrealisierbar ohne entschiedene Selbstbehauptung, ohne dass sich die Revolutionäre frei und dazu berufen fühlten, waghalsige Entscheidungen zu treffen, Taten von enormer Wichtigkeit zu vollbringen, ohne Autorisierung, Beratung oder Kontrolle seitens jener, die von diesen Handlungen betroffen waren. Kurzum, die Kehrseite der Selbstaufopferung war der Eigenwille. Und ebenso die Gefahr der Immoralität. Ihre Mission war es zu rebellieren, gegen das Gesetz zu handeln, gegen eine Legalität, die ein wahrhaftiges Übel war. Dies ermöglichte, erforderte und rechtfertigte unkonventionelle und gesetzeswidrige Handlungen, Tricks, Betrug und Gewalt. Da nur fanatische Entschlossenheit und rücksichtsloses Handeln wirksam und erfolgreich sein konnten, wurde die Fähigkeit dazu zum Test nicht nur für Effizienz, sondern auch für die Stärke und Tiefe der Überzeugung und Hingabe. Die Abscheu vor dem vorhandenen Königreich des Bösen und der Mut, im Verlauf seiner Zerstörung vor nichts zurückzuschrecken, verlangte einen gleichermaßen tiefen wie leidenschaftlichen Glauben an die absolute Güte, Reinheit und Erlösungskraft jener Welt, welche die Revolutionäre zu erschaffen bestimmt waren. Je edler die Vision der kommenden Dinge, desto stärker schien die Rechtfertigung einer rücksichtslosen Haltung im Hier und Jetzt gegen das Königreich des Teufels.
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Wir sehen uns hier mit einer Welt moralischer Doppeldeutigkeiten konfrontiert, ironischer weise ausgespielt gegen eine Philosophie, deren simple, um nicht zu sagen : primitive, Axiome und Alternativen dazu bestimmt waren, ihre eigentliche Wirklichkeit zu verleugnen, ja sogar die schiere Möglichkeit des Relativismus. Keine andere Episode der gesamten revolutionären russischen Tradition könnte diese Dilemmata so grell beleuchten wie der berühmte Fall Netschajew.
2. Der Prototyp eines Revolutionärs Im Jahr 1847 geboren und früh der Mutter beraubt, wurde S. G. Netschajew als ein Mitglied einer großen ver waisten Familie von einem strengen Vater, einem Handwerker, aufgezogen, in der eintönigen, schmutzigen und armseligen Stadt Iwanowo, die sich gerade zu einem wichtigen Zentrum der Textilindustrie entwickelte. Anhand der wenigen Informationen und Hinweise über seine Kindheit und Jugend können wir uns ein Leben ausmalen, das angefüllt war mit Erfahrungen, die nagende Erinnerungen, Hass und Wut hinterlassen. Eine grenzenlose, unerbittliche Tatkraft ermöglichte es Netschajew, eine gewisse Bildung zu erlangen, aber er fiel durch sein erstes Examen für ein Lehrerdiplom. Er blieb standhaft und schaffte es, mit neunzehn Jahren eine Zeit lang Lehrer zu werden und sein Studium als externer Student fortzuführen. Er hatte ein mürrisches Auftreten und verhielt sich wie ein ungehobelter, verbitterter Eigenbrötler, „kein Produkt unserer Welt, der Intelligenzija [...], ein Fremder für uns“292 – wie Wera Sassulitsch bezeugte. Bei seiner Ankunft in der Schweiz 1869, um sich Bakunin anzuschließen, hatte Netschajew schon eine beachtliche Liste revolutionärer Aktivitäten vorzuweisen, auch wenn seine Geschichte, ein Emissär einer großen, von einem allmächtigen Zentralkomitee geführten revolutionären Organisation zu sein, bereit, im kommenden Jahr – 1870 – zuzuschlagen, und jene von seiner eigenen dramatischen Flucht aus unentrinnbaren Gefängnissen ein fantastisches Garn war, das auf kaum mehr als einem Körnchen Wahrheit basierte. Netschajew war Mitglied einer kleinen Gruppe ultrarevolutionärer Studenten („Komitee der Russischen Revolutionären Partei“) gewesen und hatte mit Tkatschow und dem Bakunisten Ralli zusammengearbeitet. Er war von der Bibel des revolutionären Untergrundes der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts berauscht, Buonarottis Geschichte der Babeuf’schen Verschwörung der Gleichen. Darüber hinaus hatte er mit Tkatschow einen revolutionären Leitfaden, Das Programm der Revolutionären Aktion, erarbeitet.293 292 293
Zit. in Venturi, Roots of Revolution, S. 359. Vgl. ebd. S. 361–363; Szamuely, The Russian Tradition, S. 252; Confino, Violence dans la violence, S. 43 ff.
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Netschajew und Bakunin
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Wera Sassulitsch spricht von Netschajews übertriebenem und unüberlegtem Hass auf die Welt, wie er sie sah. „Dieser Hass richtete sich nicht nur gegen die Regierung und Ausbeuter, sondern gegen die Gesellschaft als Ganzes und gegen die gebildete Gesellschaft [...], gegen die Reichen und Armen, gegen Konser vative, Liberale und Radikale [...]. Die Kinder dieser gehassten Gesellschaft, durch unzählige Bande miteinander verbunden [...] und mehr nach Liebe als nach Hass strebend, waren für ihn nur Werkzeuge oder Mittel und definitiv nicht Genossen oder Schüler.“294 „Diese Realität ohne jegliche Kultiviertheit trifft mich so hart“, schrieb Netschajew, „dass ich in die Luft springen muss [...], so sehr, dass es mir nicht gestattet ist, in Apathie zu versinken, die Schönheiten der Welt zu betrachten, [ein ] Königreich der Verrückten – so schrecklich und unnatürlich sind die menschlichen Beziehungen zueinander; so fremd und unglaublich [ ist ] ihr Verhalten gegenüber der Masse von Ungerechtigkeit, Wider wärtigkeit und Gemeinheit, die unser soziales Regime bildet“.295 Ob von Bakunin allein verfasst oder gemeinsam von Bakunin und Netschajew oder von Netschajew allein : der Katechismus eines Revolutionärs, die bekannteste Verlautbarung des Netschajewismus, ist eine unmissverständliche, wenn auch überlange Betrachtung über das Bild des Revolutionärs und seines Rufs im russisch - revolutionären Milieu seit der Zeit, als Tschernyschewski das Portrait eines neuen Menschen ( Rachmetow ) gezeichnet hatte. In der Tat verdankte es nicht wenig den verschiedenen Erklärungen und Manifesten aus der Feder Bakunins und Tkatschows Artikel Der Mensch der Zukunft und die Helden der Bourgeoisie (1868). Eine mikroskopische Auslegung, die entschlüsseln würde, wer wessen Lieblingsausdruck gebrauchte, übernahm oder ver warf, würde angesichts des in den Kreisen der prämar xistischen russischen Revolutionäre vorherrschenden Eklektizismus etwas pedantisch erscheinen. Der Katechismus ist ein antiintellektuelles Dokument par excellence, und seine Botschaft ist ein Ruf nach totaler und absoluter Hingabe.296 Er behandelt Reden, Diskussionen, theoretische Analysen, sogar das Studium als harmlose Unterhaltung, als einen Ersatz für das Handeln, als Rationalisierung von Untätigkeit, als in die Irre führend, die Aufmerksamkeit ablenkend, den menschlichen Charakter und die Entschlusskraft schwächend, Zweifel und Unsicherheiten säend und als Hebel des Karrieristentums und einen Freibrief für Zügellosigkeit. Nur Studienfächer, die direkt auf Aktion zielen, sagen wir : die Produktion von Bomben, wie zum Beispiel Chemie und Physik, werden geduldet. 294 295 296
Confino, Violence dans la violence, S. 64. Venturi, Roots of Revolution, S. 362; Confino, Violence dans la violence, S. 68. Vgl. Confino, Violence dans la violence, S. 225.
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„Für uns ist eine Idee nur von Bedeutung, insofern sie der großen Sache der radikalen und universellen Zerstörung dienen kann. Aber in keinem der Bücher, die wir heute lesen, gibt es solch eine Idee. Wer sich selbst mithilfe von Büchern über die revolutionäre Sache unterrichtet, wird niemals etwas anderes als ein revolutionärer Faulpelz sein. Eine Idee, die fähig ist, der Volksrevolution zu dienen, kann nur in revolutionärer Aktion ausgearbeitet werden [...]; praktische Erprobung und Kundgebungen haben alle ein und dasselbe unerschütterliche Ziel : gnadenlose Zerstörung mit allen Mitteln. Alles, was nicht diesem Kurs folgt, sehen wir als fremd und feindlich an. Wir wollen uns selbst nicht auf irgendeine revolutionäre Phrasendrescherei reduzieren lassen, die heute so freigiebig von doktrinären Meistern der Papierrevolution praktiziert wird. Wir haben jeden Glauben an das Wort verloren; für uns ist das Wort nur von Bedeutung, wenn die Handlung dahinter erkennbar ist und sofort darauf folgt.“297 Darin war Netschajew in der Tat das Echo Bakunins. „Geh zum Volk“, schrieb Bakunin, „dort ist dein Weg, dein Leben, dein Lernen [...]. Junge, gebildete Männer müssen nicht die Volkswohltäter werden, nicht dessen Diktatoren und Führer, sondern lediglich ein Instrument für das Volk, um sich selbst zu befreien, die Vereiniger der volkseigenen Kräfte und Stärken. Um die Fähigkeit und das Recht zu erhalten, der Sache zu dienen, muss die Jugend selbst abtauchen und sich im Volk ertränken. Ignoriere die Bildung, in deren Namen die Menschen versuchen, dich anzuketten und dich von deiner Macht zu lösen. Bildung dieser Art muss zusammen mit der Welt sterben, deren Ausdruck sie ist. Neues und lebendiges Lernen wird zweifelsohne später geboren werden, nach dem Volkssieg, aus dem befreiten Leben des Volkes selbst.“298 In einem anderen Programm, Wie die revolutionäre Frage sich selbst darstellt, versprüht Bakunin giftigen Hohn über sozialistische Verschwörer, junge Doktrinäre, bücher verliebte Revolutionäre, revolutionäre Staatsmänner im Lehnstuhl und zukünftige Diktatoren, die „Revolution spielen, aber unfähig sind, sie zu machen, [...] die Verkommenheit der Universität, [...] die einzig wirklich Schule ist das Volk“.299 Die Mitglieder des revolutionären Untergrundes sollten laut Bakunin ihr erforderliches Wissen durch die Infiltration der intelligenten und erfahrenen Männer in die Gruppe der Hausierer, Bäcker usw. erlangen; indem sie dem Geschwätz zuhörten, mit Prostituierten verkehrten; durch Sammeln und Verbreiten von Gerüchten; und durch Auf - Du - und - Du - Sein mit der Polizei, alten Führungspersonen und „den sogenannten kriminellen Elementen der Gesellschaft“. 297 298 299
Confino, Daughter of the Revolutionary, S. 230. Zit. in Venturi, Roots of Revolution, S. 368. Ebd.
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Netschajew und Bakunin
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Die revolutionäre Organisation war nach Bakunin und Netschajews Katechismus als Mönchsorden gedacht, nicht als politische Partei. Wer sich ihr anschloss, legte ein Gelübde ab, das auf den Eid hinauslief, einen anderen Charakter anzunehmen, sich aus der Welt zurückzuziehen; seinen eigenen Willen aufzugeben; seinen persönlichen Interessen, natürlichen Neigungen und Verpflichtungen zu entsagen; den Sitten und Gebräuchen, Codes und Standards der Gesellschaft abzuschwören; sich selbst einem einzigen Ziel unterzuordnen – der Revolution; blind den Befehlen derer zu gehorchen, deren Aufgabe und Recht es war, diese zu geben; und alles nach dem einzigen Kriterium zu beurteilen, ob es die Revolution fördere oder hemme, und dementsprechend zu handeln. Unweigerlich wird man an den jungen Mann erinnert, der Jesus um die Erlaubnis bat, seiner Familie Lebewohl zu sagen, bevor er ihm folgte, und weil er zurückschaute, abgewiesen wurde. „Der Revolutionär ist ein engagierter Mann. Er hat keine eigenen Interessen, Angelegenheiten, Gefühle, Bindungen, Eigentum, nicht einmal einen Namen. Alles in ihm ist durch ein einziges ausschließliches Interesse, einen einzigen Gedanken, eine einzige Person eingenommen – die Revolution.“299z Der Revolutionär befand sich im Krieg mit der existierenden Gesellschaft. Ihre Gesetze, Prinzipien und Konventionen waren ihm ein Gräuel, und so fühlte er weder irgendeine Pflicht ihr gegenüber noch irgendein Gefühl von Scham oder Schuld, sich ihr zu widersetzen. Moralisch war, was diese Realität zu zerstören half, unmoralisch, was sie aufrechterhielt und förderte. „Er verachtet die öffentliche Meinung. Er verachtet und verabscheut die existierende Sozialmoral in all ihren Erscheinungsformen und Äußerungen. Für ihn ist alles moralisch, was der Revolution zum Triumph verhilft. Unmoralisch und kriminell ist alles, was ihr im Weg steht.“300 Der Revolutionär muss lernen, sein eigenes Ich zu über winden und neu zu gestalten. Unerbittlich sich selbst gegenüber, muss er auch unerbittlich gegenüber anderen sein. All die zarten Gefühle von Ver wandtschaft, Freundschaft, Liebe, Dankbarkeit und sogar Ehre müssen in ihm erstickt sein zugunsten einer kalten und zielstrebigen Leidenschaft für die revolutionäre Sache. Es gab für ihn nur ein Vergnügen, einen Trost, eine Belohnung und eine Genugtuung – den Erfolg der Revolution. Tag und Nacht darf er nur einen Gedanken und ein Ziel haben – gnadenlose Zerstörung. In seinem kaltblütigen und unermüdlichen Streben nach diesem Ziel muss er bereit sein, sowohl selbst zu sterben als auch mit seinen eigenen Händen alles, was der Vollendung im Weg steht, zu zerstören.301 299z Confino, Daughter of a Revolutionary, S. 224. 300 Ebd., S. 225. 301 Vgl. ebd.
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„Die Natur eines wahren Revolutionärs hat keinen Platz für irgendwelche Romantik, Sentimentalität, Begeisterung oder Enthusiasmus. Sie hat keinen Platz für persönlichen Hass oder Rache. Die revolutionäre Leidenschaft, welche in ihm eine ständige Geistesverfassung wird, muss zu jedem Zeitpunkt mit kalter Kalkulation verbunden sein. Immer und überall darf er nicht sein, was seine Antriebe, seine persönliche Neigung aus ihm machen würden, sondern was das allgemeine Interesse der Revolution vorschreibt.“302 Nicht Gefühle, sondern die Vereinigung im Streben nach der gemeinsamen Sache macht aus Männern Freunde. Der Grad der Freundschaft war durch den Nutzen des Freundes für die Sache bestimmt. Diejenigen, die „den gleichen Grad an revolutionärem Verständnis und Leidenschaft“303 besaßen, sollten Angelegenheiten gemeinsam diskutieren und danach streben, so oft wie möglich „zu einstimmigen Entscheidungen zu kommen“, während sich jeder bei ihrer Durchführung so weit wie möglich auf sich selbst verlassen sollte. Die Einstellung gegenüber weniger erprobten Mitgliedern der Bewegung sollte die eines Vorgesetzten gegenüber jenen sein, „die nicht vollständig initiiert sind“. Diese waren wie ein Kapital, das sparsam zu ver wenden war. Der Revolutionär betrachtete sich selbst auch als „das Kapital, das dem Triumph der revolutionären Sache gewidmet war“, und wenn er mit dem Problem konfrontiert war, ob er Risiken eingehen und wie viel er zur Rettung von Kameraden riskieren solle, durfte er nicht von persönlichen Gefühlen geleitet werden, sondern vom Kalkül des revolutionären Nutzens : Welche „Menge an revolutionärer Energie“304 war der Teil des revolutionären Kapitals wert, den der Genosse repräsentierte ? Bei seiner Vernichtungsmission darf sich der Revolutionär nicht durch Mitleidsgefühle, Rücksicht auf und Zuneigung zu irgendeinem Teil oder Aspekt der abscheulichen Realität dieser existierenden Gesellschaft behindern lassen: „Alles [ wäre ] schlechter für ihn, wenn er eine Familie, Freunde und Nahestehende in dieser Welt hätte; er ist kein Revolutionär, wenn sie seine Hand nehmen können.“305 Gleichzeitig war er aufgerufen, jede Klasse, jedes Milieu und jede Institution zu infiltrieren, um von innen her bei ihrer Zerstörung mitzuwirken oder sie, falls notwendig, um der Sache willen zu manipulieren. Zum Beispiel sollten politisch ambitionierte Menschen und Liberale unterschiedlicher Couleur in etwa der gleichen Weise behandelt werden, wie Marx in seiner Ansprache an die Kommunistische Liga die kleinbürgerlichen Demokraten behandeln wollte : Indem man den Anschein erweckte, mit ihnen zu 302 303 304 305
Ebd. Ebd., S. 226. Ebd. Ebd., S. 227.
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Netschajew und Bakunin
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kooperieren, vortäuschte, „ihnen blind zu folgen“, sie aber in Wirklichkeit manipulierte und kontrollierte, indem man „all ihre Geheimnisse aufstöbert und sie aufs Äußerste kompromittiert, so dass sie irreversibel verstrickt und dazu benutzt werden, ein Chaos im Staat zu erzeugen“.306 Auf ähnliche Weise sollten „zu endlosen, müßigen Reden neigende Doktrinäre, Verschwörer und Revolutionäre“307 dazu gebracht werden, extrem gewaltsame Erklärungen abzugeben. Der Teil des Katechismus mit dem Titel Die Haltung unserer Gesellschaft zum Volk liest sich wie ein von Bakunin verfasstes Manifest, und sein anarchistischer Charakter steht teilweise im Widerspruch zu dem von Netschajew, dem Meister Tkatschows, leidenschaftlich verfochtenen Jakobinismus. Es beginnt mit der Verkündigung einer Politik des „je schlechter desto besser“. Die Organisation sah ihre Aufgabe nicht darin, den einfachen Arbeitern Hilfe zu bringen, sondern „totale Emanzipation und Glück des Volkes [...] durch eine alles zerstörende Volksrevolution“.308 Diese Revolution voranzutreiben würde „eine Intensivierung und eine Zunahme jener Katastrophen und Übel begünstigen, die letztendlich die Geduld der Menschen erschöpfen und zu einem Volksaufstand führen“309 müsse. Aber was ins Auge gefasst wurde, war nicht „eine geregelte Bewegung nach dem klassischen westlichen Vorbild“,310 ein Wechsel des politischen Personals, bei dem das Eigentum und die traditionelle soziale Ordnung einer sogenannten Zivilisation und Moral intakt blieben. „Die einzige Revolution, die die Menschen retten kann, ist eine, die das gesamte staatliche System beseitigt und alle staatlichen Traditionen des Regimes und der Klassen in Russland vernichtet.“311 Auffallend anarchistisch und nicht - jakobinisch ist Paragraph 24; die Gesellschaft wird davon Abstand nehmen, dem Volk irgendeine Organisation von oben aufzudrängen, in der Hoffnung, das siegreiche revolutionäre Volk werde selbst die geeigneten Institutionen für sein Glück schaffen.312 „Unsere Aufgabe ist schreckliche, totale, universelle und erbarmungslose Vernichtung“;313 es fällt kein Wort über das Recht und die Pflicht der revolutionären Avantgarde, das Schiff der Revolution bis in seinen endgültigen Hafen zu steuern.
306 307 308 309 310 311 312 313
Ebd., S. 228. Ebd. Ebd., S. 229. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. ebd. Ebd.
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Ähnlich bakunistisch ist der Paragraph, der von der Notwendigkeit einer Allianz mit „der unerschrockenen Welt der Räuber“ handelt, welche „die einzigen wahren Revolutionäre in Russland [...] seit der Gründung der Staatsmacht durch die Moskowiter [...] gegen den Adel, Beamtenapparat und Priester [...], Handelsgilden und geizige bäuerliche Profitmacher“314 seien. In den Artikeln von Netschajews Narodnaja Rasprava [ Volksrache ] begegnen wir einem grimmigen Aktivismus. Die Probe einer revolutionären Gesellschaft ist die Handlung, die Tat. „Eine maßvolle und überaus umsichtige Organisation geheimer Gesellschaften, die überhaupt kein äußeres, praktisches Zeichen von Aktivitäten zeigen, ist nach unserer Meinung nichts anderes als ein lächerliches, abscheuliches, kindisches Spiel. Wir bezeichnen als ‚wirklich‘ nur eine Reihe von Handlungen, die etwas völlig zerstören : eine Person, eine Sache oder eine Einstellung, die ein Hindernis für die Befreiung des Volkes ist.“315 Eine revolutionäre Gesellschaft erweist ihren Wert, indem sie allen Gefahren und Schwierigkeiten trotzt und eine Abfolge individueller Handlungen und Opfer ins Werk setzt, die einem streng geordneten und abgesprochenen Plan folgen, und zwar „durch eine Reihe von gewagten, ja sogar kühnen Unternehmungen, die ins Leben der Menschen platzen, um sie zu inspirieren, an uns und an sich selbst zu glauben“, wodurch sie angetrieben werden, die historische Aufgabe zu bewältigen. Alle Gedanken und Energien müssen sich um die Tat im Hier und Jetzt drehen, ohne sich um Theorien und Pläne für die Phase nach der Revolution zu scheren. Die früheren Revolutionäre „waren eifrig mit der tadellosen Umsetzung ihrer eingebildeten Pläne für das zukünftige Leben des Volkes beschäftigt und verpassten ihre Gelegenheit, die Menschen von den Konventionen des Staates und der Klasse zu befreien [...], sich in lokale Revolten zu stürzen und diese zu einem einzigen, schrecklichen, alles zerstörenden Volksaufstand zusammenzuführen“.316 Die Details in Bezug auf unverzügliches Handeln lesen sich wie ein Programm für die Narodnaja - Wolja - Terrorgruppe oder gar einer heutigen Guerilla-Organisation. Die zu liquidierenden Personen waren führende Regierungsbeamte und Armeeführer, die besonderen Eifer an den Tag legten – „unbedingt zu vernichten“; „Menschen von großer Wirtschaftskraft“, die egoistisch waren oder eine Hilfe für ihre Klasse oder ihren Stand darstellten – zu enteignen oder auf andere Art unschädlich zu machen; käuf liche Autoren und Publizisten, die für das Establishment arbeiteten – zum Schweigen zu bringen („auch wenn dies bedeutet, ihnen ihre Zunge abzuschneiden“).317 314 315 316 317
Ebd., S. 229 f. Ebd., S. 230. Ebd., S. 232. Ebd., S. 233.
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Die Exekution des Zaren wurde für längere Zeit aufgeschoben, damit er weiterhin alle sich entfesselnden Rachegelüste der Massen auf sich zöge „in einem göttlichen Blitzschlag, der die Aristokratie treffen wird, da sie in ihrer Verdorbenheit und Gemeinheit schwelgt [...] am Tag der Volksgerechtigkeit“,318 wenn sie sich erheben „aus ihrem langen und qualvollen Schlummer [...], um die Ketten der Sklaverei zu zerreißen und mit ihren eigenen Händen diesen Kopf mit seiner widerlichen Krone zu zerschmettern“.319
3. Absolute Konsistenz oder menschliche Pathologie ? In diesem Zusammenhang müssen wir auf den Netschajew - Iwanow - Mordfall eingehen, der die russische Gesellschaft, ihren revolutionären Flügel eingeschlossen, schockierte und von Dostojewski als ein Beweis dafür verewigt wurde, dass nichts als verboten angesehen werden kann und alles erlaubt ist, sobald sich Menschen vom Felsen des Gottesglaubens loslösen.320 Es ist unsicher, ob Netschajew wirklich Iwanow der Spionage oder der Bereitschaft verdächtigte, die Gruppe von Verschwörern, der beide angehörten und deren Anführer Netschajew war, bei der Polizei anzuzeigen, und ob er deswegen seine Ermordung vorbereitete. Zweifellos festzustehen scheint, dass Netschajew die Angelegenheit zu einem Testfall machen wollte. Die gemeinschaftliche Planung und Durchführung des Mordes waren als Etappe in der Erziehung zur Rücksichtslosigkeit gedacht, als Schocktherapie, um die Komplizen von Skrupeln und Hemmungen zu befreien, als eine Methode, um das Ausmaß ihrer Entschlossenheit und Hingabe zu testen, als eine Handlung, um die Angstbarriere zu über winden, als ein Mittel, um den Mitgliedern jegliche Möglichkeit des Rückzugs zu verschließen, als ein Instrument, die Gruppe durch kollektive Schuld und Angst vor Bestrafung zusammenzuschweißen und letztlich auch, um Netschajews Vorherrschaft als Anführer auf die Probe zu stellen, zu bestätigen und zu sichern.321 Es stellt sich die Frage, ob es angesichts der Philosophie der totalen Revolution, einer tödlichen Konfrontation zwischen den Kindern des Lichts und den Kindern der Dunkelheit, ein rationales, konsistentes und überzeugendes Argument gegen das Verbrechen geben konnte, abgesehen von rationalen Überlegungen bei der Abwägung unmittelbarer Risiken oder der Gefahr der Zerstörung der Bruderschaft selbst aufgrund eines Mangels an gegenseiti318 319 320 321
Ebd., S. 234. Ebd. Vgl. Dostojewski, Die Dämonen; Conrad, The Secret Agent. Vgl. Carr, Michael Bakunin, S. 390–409.
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gem Vertrauen und des Freibriefs zu lügen, zu betrügen, zu verraten und zu morden. Eine Untergrundorganisation, die mit umstürzlerischen, genauer gesagt mit terroristischen Aktivitäten begonnen hat, entwickelt eine Eigendynamik, die nur schwer zu stoppen ist. Die Narodniki - Bewegung „Gang ins Volk“ war durch vornehmste Antriebe und Ziele motiviert und verabscheute mit Sicherheit Blutvergießen. Aber als sie die Zwecklosigkeit ihrer Bemühungen und das Ausbleiben der Resonanz bei der Bauernschaft erkannte, begann sie sich gleichsam als einen einsamen, bedrängten Außenposten und ein Kommando zu sehen. Und so folgte die Eskalation, angefangen mit Wera Sassulitschs Schüssen auf General Trepow, um ihn für die grausame Demütigung eines gefangenen Kameraden zu bestrafen, und mit der überstürzten, fast improvisierten Entscheidung der Revolutionäre für den Fall einer etwaigen Festnahme, sich mit der Waffe gegen die Verhaftung zu verteidigen, über Vorkehrungen und Handlungen, um Gefangene und verurteilte Kameraden auf dem Weg ins Exil zu befreien, um Provokateure und Spione zu beseitigen, um sich für die Brutalität besonders unbeliebter Beamter und Gendarmen zu rächen, Angst und Panik zu säen, um Handlungen einzuleiten, die geeignet wären, die Machtlosigkeit der Regierung zu beweisen und sie der Lächerlichkeit preiszugeben, während zugleich der Eindruck eines allgegenwärtigen und allmächtigen terroristischen Exekutivkomitees entstünde; bis schließlich dazu, den Zaren zu beschatten und zu ermorden und auf die totale Auf lösung von Regierung und Gesellschaft hinzuwirken. Allerdings machten weder die Narodniki - Terroristen noch ihre Erben, die Sozialrevolutionäre, Gebrauch von der Taktik des „Der - Gesellschaft - ins - Gesicht - Spuckens“,322 Rache an der Gesellschaft als Ganzes zu nehmen für ihre Mitschuld am allgemeinen sozialen Übel durch den rücksichtslosen Gebrauch von Dynamit auf öffentlichen Plätzen ( und gegen Menschenmassen ), wie es im Westen – häufig geistesgestörte – Individualanarchisten taten. Von den allgemein akzeptierten Prämissen ausgehend, mag man die Frage aufwerfen, warum manche Jakobiner und andere Girondisten, Bolschewiki oder Menschewiki, Bakunisten oder Lawrowisten, in moderner Ausdrucksweise Falken oder Tauben werden.322z Handelt es sich um eine Frage tieferer oder weniger tiefer Überzeugung sowie eines umfassenden oder eher oberflächlichen Verständnisses der Doktrin, eines stärkeren oder schwächeren Charakters, mehr oder weniger ausgeprägter Skrupel, mehr oder weniger vorhandener Hemmungen ? Einige sind vielleicht in der Lage, bis zum bitteren Ende 322 Ivianski, Individual Terror. 322z Talmon bezieht sich hier auf das „Falke - Taube - Spiel“, ein Paradigma der evolutionären Spieltheorie.
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zu gehen. Andere werden vor einem bestimmten Hindernis stehen bleiben, da sie unfähig sind, es zu über winden, etwa mangels ausreichend starker Überzeugung oder Charakterstärke, sei es, um die Tat selbst auszuführen, sei es, um denen entgegenzutreten, die bereit sind, sie zu begehen. Da das Ziel, das sowohl von den Feuerschluckern als auch von denen, die vor der letzten Prüfung zurückschrecken, verfolgt wird, grundsätzlich das gleiche ist, werden die Unentschlossenen, sobald das allgemeine Ziel erreicht ist, vielleicht mit Methoden, die sie ablehnen, versuchen, die für das Rührei zerbrochenen Eier wieder zusammenzufügen ? Wo hört die Vernunft auf und wo beginnt die Psychologie, um nicht zu sagen : Pathologie ? Wenn rationale Unterschiede keine Erklärung bieten, kann es dann die soziale Herkunft ? Lenin nannte all seine gemäßigten sozialistischen Rivalen – die Zaudernden, Schwankenden, Unentschlossenen – im Gegensatz zu den harten, konsequenten Bolschewiki : Kleinbürger. Sollten wir diesen Klassenschimpfnamen nicht einfach als Metapher abtun und eine Erklärung in der Psychologie suchen, vor allem in Kindheitserfahrungen? Es scheint im absolut wahrhaftigen und gänzlich ungehemmten Gläubigen eine dämonische Kraft zu geben, der schwächere, gehemmtere Wesen (also die meisten Menschen ) nicht widerstehen können. Dieser Art ist Netschajews unheimliche und unglaubliche Großtat, als er, in Einzelhaft, seine Wärter im schrecklichsten Gefängnis des Zarenreiches in Komplizen, Laufburschen, gehorsame Werkzeuge ver wandelt, die Nachrichten vom und zum Exekutivkomitee der Narodnaja Wolja bringen, welche diesem den Befehl erteilen, ihn freizulassen, und die dann dem Plan folgen, den Zaren zu ermorden.
4. Die Spinne im Netz – Bakunin und Netschajew Die Diskussion über Bakunins Anteil an der Formulierung von Netschajews letztem Katechismus hält unvermindert an. Was Inhalt, Ideen, Form und Stil angeht, gibt es weder Hinweise, die widerlegen, noch solche, die schlüssig beweisen, dass Bakunin seine Hand im Spiel hatte. Selbst in seinem berühmten Abschiedsbrief besteht Bakunin darauf, dass „unsere Programme“ (gemeint war auf Netschajews Seite das „Programm der Russischen Revolutionären Partei“) zunächst identisch waren und erst am Vorabend ihrer Trennung infolge des unerhörten Verhaltens des jungen Netschajew gegenüber dem Nestor der internationalen europäischen Revolution und Märtyrers der russischen Revolution divergierten. Er betrog Bakunin systematisch. Er schrieb hinter seinem Rücken einen drohenden Brief an einen Verleger, mit dem Bakunin einen Vertrag über eine Übersetzung von Das Kapital abgeschlossen hatte, in dem er diesen aufforderte, er solle aufhören, den alten Revolutionär zu belästigen, da
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dieser mit viel wichtigeren Dingen beschäftigt sei – der Revolution.323 Dieser Brief löste einen internationalen Skandal aus und war einer der Schläge, die den Bruch zwischen Marx, dem „teutonisch - judäischen Anbeter der Staatsmacht“ in den Worten Bakunins, und dem verrückten, barbarischen, russischen Hochstapler, wie Marx den Anarchistenführer nannte, beschleunigte.324 Netschajew belagerte dann Natalja Herzen, indem er versuchte, ihr Geld und die Kontrolle über die Zeitschrift ihres verstorbenen Vaters ( Die Glocke ) zu erlangen. Als sich diese Versuche als erfolglos erwiesen, begann er, sie mit Heiratsangeboten zu belästigen, ungeachtet ihrer Abscheu gegen ihn als Person, in welcher – wie sie es markant ausdrückte – „Konsequenz den Punkt der Monstrosität erreicht“325 habe. Michael Confino zitiert folgende Passage : „Weißt Du noch, wie böse Du warst, als ich dich einen Abrek und deinen Katechismus einen Katechismus der Abreks nannte ? Du sagtest, dass alle Menschen so sein sollten, dass eine vollständige Verleugnung des Selbst, aller persönlichen Wünsche, Vergnügen, Gefühle, Neigungen und Verpflichtungen normal, natürlich und alltägliche Bedingung von jedem ohne Ausnahme sein sollten. Du wünschtest und wünschst noch immer deine eigene selbstlose Grausamkeit, deinen eigenen wahren und extremen Fanatismus zu einem allgemeinen Lebensgesetz zu machen. Du erhoffst eine Absurdität, Unmöglichkeit und totale Verneinung von Natur und Gesellschaft.“326 Es ist sehr kurios, dass in seinen berühmten Briefen an und über Netschajew zur Zeit ihres Bruchs die Iwanow - Affäre in der Liste der Vor würfe und von Bakunin offengelegten Charakterzüge Netschajews keinerlei Erwähnung findet. Natalja Herzen behauptete, sie habe zu dieser Zeit nichts davon gewusst, aber Tatsache ist, dass sie davon wusste.327 Und so müssen wir zu dem Schluss gelangen, dass keiner der beiden durch diese cause célèbre erschüttert oder abgestoßen wurde. Es ist schwer zu sehen, wie Bakunin, der bewährte und passionierte Anstifter, der Geheimhaltung, Irreführung und Täuschung bei dem praktizierte, was er als einen Teil des Krieges gegen ein böses, allmächtiges Regime und für die glückliche Zukunft der Menschheit ansah, Netschajew Heuchelei und Lügen vor werfen konnte. Es lief alles auf eine Frage der Taktik hinaus, auf wirksame 323 324 325 326
327
Vgl. Prawdin, The Unmentionable Nechaev, S. 46. Masters, Bakunin, S. 163 f., 195 f. Confino, Daughter of a Revolutionary, S. 290. Ebd., S. 243 f.; Brief von Bakunin an Netschajew vom 2. Juni 1870. In : Confino, Nechaev et le meurtre de l’étudiant I. Ivanov; Confino, Violence dans la violence, S. 106–149. A. d. Ü. : „Abrek“ : nordkaukasischer Ausdruck für umherziehende Räuber, antirussische Partisanen, in Wäldern lebende Illegale. Vgl. Masters, Bakunin, S. 198–201.
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oder unwirksame Menschenbehandlung. Bakunin lehnte keineswegs Manipulation oder Irreführung zugunsten der Sache ab. Was sonst waren all seine Versuche, eine geheime Allianz als persönliche Machtbasis in seinem Kampf um Macht über die Internationale und gegen Marx zu schmieden ? Oder seine fiktiven Listen der Mitglieder nichtexistierender internationaler revolutionärer Komitees, um den Eindruck einer gewaltigen Macht zu erwecken ? Beim sorgfältigen Lesen von Bakunins Mammutbrief vom 2. Juni 1870328 an Netschajew und des anderen vom 20. Juni329 an seine engsten Freunde erscheinen sie nicht als Verurteilung, sondern als Verteidigung Netschajews. Bakunins heftiger Wider wille ihm gegenüber speist sich nicht aus der Missbilligung von Netschajews Philosophie und Methode als solcher. Sie beschränkt sich auf etwas in der Art : „Wie konntest du mir so etwas antun ?“, einem alten Kameraden, engsten Freund und Mitstreiter, der dich so sehr liebte und dir vertraute. Er fährt fort mit einer Moralpredigt über Netschajews Unkenntnis der menschlichen Natur, seine Selbstvergessenheit mit Blick auf den „alten Adam“, seine übertriebenen Erwartungen an Fleisch und Blut – die schwache, faule, voreingenommene, egoistische und dumme Menschheit. „Das zeigt deine Unerfahrenheit, deine Unkenntnis des Lebens und der Menschen und damit verbunden einen Fanatismus, der an Mystik grenzt. Deine Unkenntnis der sozialen Bedingungen, Gewohnheiten und Sitten, Ideen und der gewöhnlichen Gefühle der sogenannten gebildeten Welt macht dich unfähig, in ihr erfolgreiche Taten zu vollbringen, selbst wenn es darum geht, sie zu zerstören. Du weißt bis jetzt noch nicht, wie du Einfluss und Macht in ihr erlangst.“330 Von einem Propheten bedingungsloser Feindschaft zu dieser Welt stammend, der ihre totale Zerstörung predigte, mit der Gewissheit der Ankunft eines neuen Himmels und einer neuen Erde, sind dies eher erstaunliche Gefühle, die man eher bei Herzen vermuten würde. „Du verlangst und erwartest zu viel von den Menschen, da du ihnen Aufgaben gibst, die über ihre Kräfte gehen, in dem Glauben, alle Menschen seien von der gleichen Leidenschaft erfüllt, die dich beseelt. Zur gleichen Zeit glaubst du nicht an sie und bedenkst folglich nicht die Leidenschaft, die in ihnen geweckt wird, ihre Orientierung, ihre unabhängige ehrliche Hingabe für dein Ziel. Du versuchst, sie zu unterdrücken, sie zu ängstigen, sie durch externe Kontrollen zu binden, die sich meist als unangemessen erweisen [...]. Du sehnst dich nach einer Absurdität, nach etwas Unmöglichem, einer totalen Verneinung der Natur, des Menschen und der Gesellschaft. Dieser Wunsch ist fatal, denn er zwingt dich, deine Kraft 328 329 330
Vgl. Confino, Daughter of a Revolutionary, S. 238–280. Vgl. ebd., S. 291–300. Ebd., S. 243.
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zu vergeuden, beständig das Ziel verfehlend. Kein Mensch, wie stark auch immer, und keine Gesellschaft, wie perfekt auch immer ihre Disziplin und wie mächtig ihre Organisation auch sein mag, kann die Natur besiegen. Nur religiöse Fanatiker und Asketen könnten sie zu erobern versuchen [...]. Ich erkannte in dir einen gewissen mystischen pantheistischen Idealismus [...]. einen Idealisten, einen Propheten, wie einen Mönch der Revolution; dein Held sollte nicht Babeuf sein, nicht einmal Marat, sondern so etwas wie Savonarola, [...] näher bei den Jesuiten als bei uns. Dies ist deine gewaltige und besondere Stärke, [...] deine Blindheit.“331 Bakunins schmerzerfüllte Briefe strotzen vor Beteuerungen nicht nur von Zuneigung, sondern auch von Bewunderung und in gewissem Maße von Neid für den äußerst hingebungsvollen jungen Verschwörer. „Ich bin nicht böse auf dich und ich werfe dir nichts vor, weil ich weiß, dass du, wenn du lügst oder die Wahrheit verbirgst, es ohne Eigennutz tust und nur, weil du es für nützlich im Interesse der Sache hältst. Ich und alle anderen von uns lieben dich aufrichtig und haben einen großen Respekt vor dir, weil wir noch nie einen selbstloseren und der Sache zugetaneren Mann als dich getroffen haben.“332 „Ich erkannte ( und erkenne noch ) in dir eine große, man mag sagen, perfekte reine Kraft, frei von jeglicher Beigabe von Eigenliebe oder Eitelkeit, wie ich sie niemals in irgendeinem anderen Russen angetroffen habe; [...] du bist noch jung und rückhaltlos, [...] du kannst nicht lange auf dem falschen Pfad bleiben.“333 Bakunin ist sogar bereit, Rücksicht auf Netschajews mangelndes Vertrauen in ihn und auf seine Versuche zu nehmen, „mich als ein Mittel für sofortige, mir unbekannte Ziele zu benutzen“.333a Er billigte Netschajews Verschlossenheit bezüglich der Existenz und Natur der angeblichen revolutionären Organisation in Russland : „In solchen Bewegungen sollten selbst die vertrauenswürdigsten Menschen nur so viel wissen, wie für den Erfolg ihres jeweiligen Unternehmens notwendig ist [...]. Ich habe dir niemals indiskrete Fragen gestellt, [...] ich glaubte und glaube an dich.“334 Bakunin machte Netschajew nicht zum Vor wurf, die Stärke seiner angeblichen Organisation übertrieben dargestellt zu haben : „Dies ist eine objektive, oft nützliche und manchmal gewagte Haltung aller Verschwörer [...]. [ Aber ] du 331 332 333 333a
334
Ebd., S. 243 f. Ebd., S. 239. Ebd., S. 244. Ebd. A. d. Ü. : Im englischen Original wurde die Fußnote 328 ( bzw. 333 in der vorliegenden dt. Übersetzung ) im Fließtext zweimal vergeben. Um die bestehende Abweichung vom englischen Original ( siehe Anmerkung in Fußnote 6) nicht noch größer werden zu lassen, wurde auch hier die Fußnote ein zweites Mal vergeben und mit „a“ als Einschub Talmons gekennzeichnet. Ebd., S. 244 f.
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hättest mit mir als einem Gleichgestellten, von Person zu Person reden und mir dein Programm und deinen Aktionsplan zwecks Billigung vorlegen sollen [...]. Du warst zu fanatisch auf deinen Plan und dein Programm versessen, um sie jemandem zur Kritik vorzulegen.“335 Der Abschiedsbrief beinhaltet jedoch auch einen erstaunlichen Vorschlag zu erneuter Zusammenarbeit. „Um diesen Zusammenschluss noch enger und beständiger zu machen“,336 besteht der alte Mann darauf, dass Netschajew sein System gänzlich ändern und gegenseitiges Vertrauen, Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit zur Grundlage ihrer künftig Beziehungen machen solle. Doch obgleich er gegen jesuitische Methoden wettert, fährt er fort : „Alle ner vösen, feigen, ambitionierten und egoistischen Menschen bleiben aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Sie können ohne ihr Wissen von der Gesellschaft als Waffen benützt werden, aber keinesfalls dürfen sie ihrem Kern angehören.“337 Aber Bakunin bleibt eine Aussage darüber schuldig, wer ihren Wert beurteilen wird. Da in Bakunins Konzept Kooptation von oben erfolgt, würde diese Aufgabe einzelnen Führern obliegen. In Paragraph 8 legt Bakunin fest, dass „im Prinzip jedes Mitglied das Recht hat, alles zu wissen. Aber nutzlose Neugier ist verboten, [...] ebenso das ziellose Gespräch, [...] um Einzelheiten herauszufinden“,338 abgesehen vom allgemeinen Programm und der allgemeinen Richtung. Bakunin ver warf seine ganzen Vorbehalte gegen Netschajew, soweit Grundsätze und nicht die persönliche Abneigung eines vertrauensvollen Mannes, der hinters Licht geführt und lächerlich gemacht worden war, betroffen waren, wenn er die vorgeschlagene reformierte Gesellschaft in ihrer Führungsstruktur beschrieb, innerhalb derer er mit Netschajew zu kooperieren bereit war, und zwar als „ein Körper, ein fest verbundenes Ganzes, geführt durch das Zentralkomitee und unermüdlich tätig im Untergrundkampf gegen die Regierung und gegen andere Gesellschaften, gleichgültig, ob sie feindlich gesinnt oder unabhängig von ihr handeln“.339 Krieg gegen nicht - feindliche, aber unabhängige Gesellschaften brachten, kurz gesagt, Ansprüche auf exklusiven Status mit sich und somit die Ächtung von Fraktionsgeist und Opposition in der eigenen Bewegung. Bakunin sagt im gleichen Atemzug : „Wo es Krieg gibt, da ist Politik und dort entsteht unausweichlich die Notwendigkeit für Gewalt, List und Betrug.“340 Außerdem : „Gesellschaften, deren Ziele den unseren nahestehen, müssen gezwungen werden, mit unserer Gesellschaft zu fusionieren oder wenigstens ohne ihr Wissen unterge335 336 337 338 339 340
Ebd., S. 246. Ebd., S. 277. Ebd., S. 264. Ebd., S. 265. Ebd., S. 268. Ebd.
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ordnet und gefährliche Menschen aus ihr entfernt werden. Feindliche und hundertprozentig schädliche Gesellschaften sind aufzulösen, und schließlich muss die Regierung zerstört werden. All dies kann nicht durch bloßes Propagieren der Wahrheit erreicht werden; List, Diplomatie und Täuschung sind unerlässlich. Jesuitenmethoden oder gar Techtelmechtel sind notwendige und wunderbare Instrumente zur Demoralisierung und Vernichtung des Feindes, obwohl gewiss keine nützlichen Mittel, um neue Freunde anzuziehen und zu gewinnen.“341 Achtzehn Tage nach dem Mammutschreiben an Netschajew schreibt Bakunin am 20. Juni 1870 einen Rundbrief an seine engsten Freunde, der tatsächlich eine Verteidigung Netschajews darstellt. „Ich wenigstens habe nicht aufgehört, ihn als den von uns allen wertvollsten Mann für die russische Sache und die reinste oder ( um Serebrennikows Ausdruck zu ver wenden ) heiligste Person im Sinne seiner totalen Hingabe an die Sache und seine äußerste Selbstverleugnung zu betrachten [...], ausgestattet mit einer Energie, festem Willen und einem ruhelosen Eifer, wie ich ihnen niemals zuvor begegnet bin [...], ein Juwel, und man wirft keine Juwelen weg [...], während andere auf dilettantische Art und Weise herumstümpern. Er trägt Arbeiterkleidung, die anderen tragen weiße Handschuhe; er handelt, während die anderen schwätzen.“342 Bakunin erklärt, er habe gegen Netschajews Diktatur wegen ihrer jesuitischen Züge revoltiert, nicht aus Hochmut oder einer grundsätzlichen Ablehnung der Diktatur. „Aus meiner Sicht ist der Mann, der seine Aufgabe am besten erfüllt, der mehr tut und voller Hingabe ist – solange er verständig ist, sich selbst voll einsetzt und handelt – ein rechtmäßiger Diktator, das heißt ein Führer, Ansporner, Ermunterer und Inspirator für alle anderen, und diese folgen ihm natürlich.“343 Dies klingt in der Tat sehr nach einer Verherrlichung der persönlichen Diktatur und wie eine Erlaubnis für Netschajew, seine engsten Mitarbeiter, die richtig „gehandhabt“ und dorthin geführt werden mussten, wohin sie noch nicht ganz zu gehen bereit waren, zu manipulieren und unweigerlich auch zu betrügen. Aber selbst das Jesuitentum in Netschajew war nicht „das Resultat von einigen schlechten, tief in ihm ver wurzelten Eigenschaften – Egoismus, Eitelkeit, Strebsamkeit, Ruhmesdurst, Begierde, Machthunger [...]. Im Innersten seines ganzes Wesens und all seines Strebens liegt leidenschaftliche Liebe für die Menschen, eine Empörung für die Menschen und ein lang anhaltender Hass gegen alles, was sie unterdrückt [...]; alles ist einer vorherrschenden Leidenschaft untergeordnet [...], eine Organisation oder gemeinsame 341 342 343
Ebd. Ebd., S. 292. Ebd., S. 292 f.
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Kraft zu gründen mit der Fähigkeit, das große Werk der Zerstörung zu vollbringen – eine Verschwörung anzuzetteln.“344 Was folgt, ist ein bewegtes, verzweifeltes Bekenntnis, indirekt eine Anerkennung der Vergeblichkeit und des Bankrotts der revolutionären Bemühungen, bittere Enttäuschung über die Menschen, und für einen Anarchisten, der grenzenlos an die menschliche Güte und Spontaneität glaubt – eine schreckliche Apologie von Zwang und List. „Welch schrecklicher Desillusionierung kann man entlang der Straße begegnen – das ewige Missverhältnis zwischen der Größe des Ziels und der Erbärmlichkeit der Mittel, der Unzulänglichkeit und Ignoranz der Menschen – hundert Fehler auf eine erfolgreiche Entscheidung, ein ernster Mensch auf hundert geschwätzige und öde Geister. Und dann ist da auch noch das ewige Spiel der Nichtigkeiten, großen und kleinen Bestrebungen, Neid, Missverständnisse, Ausreden, Geschwätz, Intrigen – und dies alles im Angesicht einer mächtigen, vorzüglich organisierten, unterdrückenden und strafenden Macht, die man zu zerstören wünscht. Hundert Mal pro Woche macht man eine Geste der Hoffnungslosigkeit und Lustlosigkeit.“345 Ebenso verzweifelt ist die Beschreibung der russischen Gesellschaft. „Ein Land, in dem es wenig oder keine verbindende Begeisterung gibt oder wo anstatt der Leidenschaft des Herzens die Leidenschaft des Kopfes herrscht und handelt, wo man eher dem Argument als der Handlung zuneigt, in dem byzantinische Weihe weiterhin ihren korrupten Einfluss ausübt und wo andererseits wissenschaftliche Kritik, die erfolgreich die alte Moral zerstört hat, noch keine neue Moral her vorbringen konnte, in dem die wissenschaftliche Verneinung des freien Willens für die Mehrheit der Jugend eine nachgiebige und objektive Betrachtung ihrer eigenen Verdorbenheit bedeutet [...], die Auf lösung und Emanzipation des Charakters, die Abwesenheit jeglicher leidenschaftlicher Konzentration des Willens“346 – und die Formierung einer ernstzunehmenden Geheimgesellschaft nahezu unmöglich wird. Der hingebungsvolle Revolutionär, der andere mitreißen will, ähnelt Moses, der vom Berg Sinai herabsteigt und die Kinder Israels beim Tanz um das Goldene Kalb antrifft : „Er, der ehrlich, aber vergebens alle ehrenwerten Mittel ausprobiert hatte, ein junger Mann [...], leidenschaftlich bemüht, um jeden Preis eine mächtige und geheime kollektive Kraft zu erschaffen, und überzeugt, dass nur das Handeln einer solchen Kraft die Menschen befreien kann“,347 der die Unzulänglichkeiten der Jugend und die Aussichtslosigkeit sieht, dass sie sich freiwillig zusammenschließen werden, gelangt zu der Schlussfolgerung, dass 344 345 346 347
Ebd., S. 293 f. Ebd., S. 294. Ebd., S. 294 f. Ebd., S. 295.
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„sie unfreiwillig und unversehens vereint – und damit diese zur Hälfte auf Zwang und Betrug gründende Organisation nicht zerfiele, in solchem Maße ver wirrt und kompromittiert werden müssen, dass es ihnen unmöglich wird, sich alledem zu entziehen“.348 Dies führte Netschajew, „eine starke, leidenschaftliche, ehrenwerte und sehr aufrichtige Natur“,349 zum Jesuitentum. „Er sah keinen anderen Ausweg. Er musste entweder die Sache völlig aufgeben oder das jesuitische System übernehmen.“350 „Da er es nicht aufgeben konnte, trieb er das System schweren Herzens zu seinem äußersten, hässlichen Extrem [...], erbarmungslose Heftigkeit, weder sich selbst noch andere verschonend.“351 Netschajew erscheint als gekreuzigter Märtyrer : „Dieser Mann ist von Liebe erfüllt und kann in der Tat nicht anders sein. Eine Person ohne Liebe351z könnte nicht mit solch vollkommener Selbstverleugnung, solch einer totalen Vernachlässigung seiner eigenen Annehmlichkeiten, des eigenen Vorteils, persönlicher Begierden, Hoffnungen und Gefühle, ja selbst seines Rufes und Namens handeln. Denn er ist im Interesse der Befreiung des Volkes bereit, sich selbst der Schande, allgemeinen Verachtung und vollkommenen Nichtbeachtung preiszugeben. Gerade hier liegt seine tiefe, höchst couragierte und jungfräulich reine Rechtschaffenheit, und eben mit der Kraft dieser Reinheit und Rechtschaffenheit erdrückt er uns alle: ob wir es mögen oder nicht, wenn wir aufrichtig mit uns selbst sein wollen, müssen wir uns ihm beugen [...]. Er ist kein eingebildeter Egoist oder Intrigant [...], weil er nicht seine eigenen Ziele verfolgt, und er würde nicht nur keinen einzigen Menschen für seinen eigenen Nutzen, seinen eigenen Ruhm oder die Befriedigung seines eigenen Strebens opfern, sondern sich sogar für jeden selbst opfern. Dieser Mensch hat ein weiches Herz.“352 Aber wie konnte Netschajew in seinem Handeln nur so weit gehen, dass er seine besten Freunde schamlos belog, pausenlos gegen sie intrigierte, sie rücksichtslos ausbeutete und bewusst ihrem Ruf schadete ? Bakunin betont hier erneut die jesuitischen Methoden innerhalb der Organisation, nicht hingegen im Kampf gegen den organisierten Despotismus, bei dem er Strategien als unverzichtbar betrachtet. Bakunin zufolge war Netschajew vom Jesuitentum „leidenschaftlicher angezogen, weil es seiner eigenen Natur zuwider war“.353 Wegen dieser inneren Abneigung begann er mit charakteristischer Rücksichts-
348 349 350 351 351z 352 353
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 296. A. d. Ü. : Talmon hat statt „with no love“ „with love“ zitiert. Ebd. Ebd.
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losigkeit gegen sich selbst und gegen andere „und mit der Strenge eines religiösen Asketen oder Fanatikers“, in sich selbst und bei anderen „jegliche Regung persönlicher Gefühle, persönlicher Rechtschaffenheit und jegliche persönliche Verpflichtungen und Beziehungen im Allgemeinen“ auszumerzen, „weil er diese als kriminelle Schwäche betrachtete, [...] welche die Sache behinderte [...]. Er selbst und all seine Freunde unterzogen sich einem systematischen Umerziehungskurs, [...] der systematischen Vernichtung [...] von allem, was jedem Menschen persönlich wie gesellschaftlich ( nicht geheim, sondern öffentlich und sozial ) heilig und teuer ist.“354 Netschajew suchte verzweifelt nach einer Abkürzung, nach Möglichkeiten, in einer einzigen massiven, kompromisslosen Bemühung den tödlichen Stoß gegen den Feind zu führen, „die Unermesslichkeit der Staatsmacht“,355 wobei er sich völlig der „historischen Rückständigkeit, der Apathie, Sprachlosigkeit, unendlichen Geduld und der Trägheit unserer orthodoxen Menschen“ bewusst war, „die, wenn sie sich dessen bewusst wären und es wünschten, das gesamte Schiff des Staates mit einer Welle ihrer mächtigen Hand versenken könnten, aber immer noch den Schlaf des Todes zu schlafen scheinen“.356 Als der einzige Ansatzpunkt, um die russische Wirklichkeit zu kippen, erschien Netschajew die Jugend, aber er sah sie als „eine korrupte und dumme Herde plappernder Doktrinäre“.357 Es war das soziale Milieu, das sie verdarb. Netschajew beschloss, die Jugend müsse diesem Milieu entrissen werden: Karriere, familiäre Bande, romantische Bindungen und nutzlose soziale Beziehungen. Die Möglichkeit einer Karriere und jeglicher andere Ausweg mussten fest verschlossen werden. Junge Menschen mussten bis zum Äußersten kompromittiert und ihre Rückkehr in die Gesellschaft musste unmöglich gemacht werden; alle familiären Bindungen mussten gleichermaßen gekappt werden, wie auch alle Bindungen des Herzens und Beziehungen zur Gesellschaft, um auf diese Weise eine „Phalanx unerbittlich Geächteter“ zu bilden, „mit einer einzigen gemeinsamen Leidenschaft : den Staat und die Gesellschaft zu zerstören. Du musst zugeben, dass diese Phantasie nicht das Produkt eines Kleingeistes oder einer kümmerlichen Seele ist, und sie besitzt leider sehr viel Stichhaltigkeit und Wahrheit.“358 Jede ehrliche und realistische Person musste die existierende Gesellschaft mit Stumpf und Stiel zerstören wollen. „Er, der sich selbst nicht mit egoistischen Träumen und Illusionen, mit prächtigen, aber wirkungslosen Sehnsüchten und nutzlosem Geschwätz betrügt, [...] muss die radikale Vernichtung 354 355 356 357 358
Ebd., S. 297. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 298.
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der Gesellschaft wollen.“359 Aber für Handlungen in dieser Richtung ist eine spezielle Ausstattung erforderlich. „Sollte ich in der Lage sein, mich selbst ganz und aufrichtig dem Dienst dieser vernichtenden Mission hinzugeben, während es noch immer so viele Spuren von eifersüchtigen Verbindungen, Prahlerei, Ehrgeiz und gewohnheitsmäßiger, familiärer oder anderer emotionaler Bindungen zwischen mir und der Gesellschaft gibt ? Nein, wohl kaum. Müssen diese Bindungen dann zerstört werden ? Ja, sie müssen. Und wenn du nicht die Kraft hast, sie zu zerstören, engagiere dich nicht für die revolutionäre Sache !“360 Was war dann Netschajews Vergehen ? Charakteristischer weise spricht Bakunin von dessen „Fehler“, nicht von Vergehen oder Verbrechen. „Der Fehler des Barons bestand aus meiner Sicht nicht in dem Wunsch, die Jugend endgültig der Gesellschaft zu entreißen und sie mit ihr auf Kriegsfuß zu bringen – dies ist nach meiner Meinung eine sich aus der gegenwärtigen Gesamtsituation Russlands ergebende Notwendigkeit –, sondern in seinem ungeduldigen Verlangen, in möglichst kurzer Zeit eine so große Kraft wie möglich zu vereinen. Da er selbstverständlich nicht in der Lage war, in dieser Zeit der Verdorbenheit die Hunderte von Menschen zu finden, die seinem Programm gewachsen sein mochten, sammelte er wahllos Menschen und war, da zwischen ihnen ein sie wirklich einendes Band fehlte, gezwungen, sie durch Trugmittel, Zugeständnisse und Zwang zu binden, und erreichte schließlich den Punkt, an dem er gezwungen war, das jesuitische System in seiner Organisation einzuführen. Durch dieses Vorgehen verdarb er sie. Er verstand nicht, dass er nach der Zerstörung aller sozialen, familiären und emotionalen Bindungen zwischen den Mitgliedern seiner Organisation ein neues Band für sie innerhalb der Organisation selbst hätte schaffen müssen, und zwar kein negatives, sondern ein positives von leidenschaftlicher und brüderlicher Solidarität, basierend auf einem gemeinsamen Ziel, wechselseitiger Wahrheit und Vertrauen und auf den strengsten Garantien gegenseitiger Unterstützung.“361 Alle historische Erfahrung zeigt, dass diese nachhallenden allgemeinen Regeln jämmerlich irrelevant werden, wenn es zur Sache geht. Die Trennungslinie zwischen einer idealistisch kämpfenden Bruderschaft unter dem Druck gegensätzlicher Ansichten und einer von Intrigen geplagten herrschenden Clique ehrgeiziger oder eigenwilliger Prätendenten und Rivalen ist sehr dünn. Erbitterte Kämpfe müssen ausgefochten werden, zunächst mit Argumenten und um eine gute Position rangelnd, später durch psychologische Kriegsführung, und am Ende werden die Konflikte gelöst oder eher erstickt durch die einzig wirksamen Maßnahmen – Gefängnis, Folter und physische Liquidie359 360 361
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rung. Diese Praktiken werden allerdings nicht in Programmen verkündet, nicht von Theoretikern gelehrt und noch nicht einmal von den Führungspersonen im Detail beschrieben, ebenso wenig wie die schmutzigen Vorbereitungen in der Küche, wie zum Beispiel das Schlachten eines Huhns durch den Koch, ausführlich dargelegt oder gar von der Dame des Hauses beaufsichtigt werden. Vor dem Hintergrund der leidenschaftlichen Suche und heftigen Qualen der frühen russischen Revolutionäre erscheint Lenin als ihr Erbe, der Nutznießer ihrer Erfahrungen und Vollstrecker ihres Willens. Welterschütternde Ereignisse ermöglichten es ihm, Ideen von der Ebene doktrinärer Abhandlung und sektiererischen Lebens auf diejenige der globalen Konfrontation zu übertragen. Sein Programm und seine Organisation entstanden aus den Antinomien, welche die Narodniki plagten und zerstörten. Die langwierige Arbeit der Revolutionäre, die geistigen und so auch sozialen Wurzeln des Zarenregimes zu kappen, Menschen darin zu unter weisen, nicht ängstlich zu sein, standzuhalten und etwas zu riskieren, ermöglichte ihm den Entschluss, die Massen aus den verbliebenen Verknüpfungen, Bindungen und Loyalitäten zu reißen, die sie noch mit dem System verbanden, und sie unter den Bedingungen des Krieges zum Ungehorsam zu animieren. Sie ermöglichte ihm außerdem, ihre Bereitschaft zum Hochverrat in eine Probe ihrer Fähigkeit zu ver wandeln, die letzte Hürde aus Angst und Hemmung zu überspringen und ihre endgültige Emanzipation und volle Reife für die Revolution zu demonstrieren.
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Sechs ter Teil Lenin – inter na tio na ler Revo lu tio när und Archi tekt des neu en Russ lands
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I. Die Lehr jah re 1. Erbe und Erneuerer In Auf welches Erbe verzichten wir ?,1 Ende 1897 im Exil verfasst, weist Lenin entschieden den „an Chauvinismus grenzenden Nationalismus“2 der russischen Populisten zurück : „Haben wir auch nicht diese oder jene Züge der zivilisierten Menschheit aufzuweisen“,3 „so sind wir statt dessen dazu ‚berufen‘, der Welt neue Wirtschaftsweisen usw. zu zeigen. Jene Analyse des Kapitalismus und aller seiner Erscheinungsformen, die das fortschrittliche westeuropäische Denken geliefert hat, wurde in Bezug auf das heilige Rußland nicht nur nicht angenommen, vielmehr wurden alle Anstrengungen darauf gerichtet, Ausflüchte zu ersinnen, die es gestatten, für den russischen Kapitalismus nicht die gleichen Schlußfolgerungen zu ziehen, die hinsichtlich des europäischen gezogen worden sind.“4 Fünf Jahre später, in Was tun ?,5 verkündet Lenin : „Die Geschichte hat uns jetzt die nächste Aufgabe gestellt, welche die revolutionärste von allen nächsten Aufgaben des Proletariats irgendeines anderen Landes ist. Die Ver wirklichung dieser Aufgabe, die Zerstörung des mächtigsten Bollwerks nicht nur der europäischen, sondern ( wir können jetzt sagen ) auch der asiatischen Reaktion, würde das russische Proletariat zur Avantgarde des internationalen revolutionären Proletariats machen. Und wir haben das Recht anzunehmen, daß wir uns diesen Ehrennamen, den sich schon unsere Vorgänger [ die Narodnaja Wolja ], die Revolutionäre der siebziger Jahre, verdient haben, erwerben werden.“6 Ganz zu schweigen von den noch früheren Äußerungen über die besondere revolutionäre Mission Russlands durch Herzen, erklärte die berühmte Proklamation An die junge Generation schon 1861 : „Wir sind ein zurückgebliebenes Volk, und gerade darin liegt unsere Rettung. Wir glauben daran, daß wir dazu berufen sind, ein neues Prinzip in die Weltgeschichte einzuführen, unsere Stimme zu erheben; wir glauben, dass wir nicht Europas überalterte Ideen nachäffen sollten.“7 Ein Jahr danach forderte der russische Jakobiner und Prophet des blutigen Terrors, Zaichnewski, die Massen auf, sich gegen „die kaiser1 2 3 4 5 6 7
Lenin, Auf welches Erbe verzichten wir ? Ebd., S. 524. Ebd., S. 530. Ebd. Lenin, Was tun ? Ebd., S. 383. Shub, Lenin, S. 16.
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liche Familie“ und „die kaiserliche Partei“ zu erheben mit den Worten : „Tötet sie auf den öffentlichen Plätzen, in ihren Häusern, in den Straßen der Städte, Dörfern und Weilern ! [...] Die Beile heraus !“, wobei er diesen Aufruf bezüglich des russischen Schicksals mit der Aufforderung verband, „die ersten [ zu sein ], die hohen Ideale des Sozialismus [ zu ] ver wirklichen“.8 Oberflächlich betrachtet könnte es scheinen, Lenin verleugne das russische revolutionäre Erbe und sei zugleich dessen Vollendung. Der vermeintlich russische Weg zum Sozialismus war durch ein idealisiertes Bild des russischen Bauern inspiriert, das ihn auf Grund seiner Lebensweise innerhalb der Dorfgemeinde als einen Sozialisten sowie als instinktiven Revolutionär darstellte. Diese Vorstellung gründete auf einem illusorischen Konzept der Dorfgemeinde als einer noch nicht ausgereiften sozialistischen Gesellschaft. Auf die Arbeiten von Skaldin und Engelhardt über die russische Landwirtschaft zurückblickend, beschrieb Lenin die Mushiks der Dorfgemeinde als an den Boden gebunden.9 Besonders seit der Einrichtung des Amtes des Landhauptmannes im Jahre 1889 wurden sie nicht durch Bindungen natürlicher Solidarität oder Traditionen der Selbstregierung, sondern durch die ihnen auferlegte gemeinschaftliche Verantwortung zur Steuerzahlung und die Befolgung der repressiven Regierungsgesetze zusammengehalten. Die Gemeinde stellte auch eine Zwangsjacke bezüglich innovativer Initiativen und Verbesserungen dar. Weit davon entfernt, von ver wandtschaftlichen Empfindungen beseelt zu sein, waren die Bauern zu raffgierigen Egoisten geworden, die davon träumten, eines Tages ein Kulake zu werden. So wider willig leisteten sie die Hilfe, die sie ihren Nachbarn schuldeten, dass die Frauen nur jeweils ihre eigene Ecke des gemeinsamen Esstischs säuberten.10 Ein latenter, zentrifugaler Individualismus war durch das Eindringen des Kapitalismus in das Dorf massiv verstärkt worden. Die Kommune war dabei, sich aufzulösen, und die Mir wurde durch Klassenkonflikte zwischen reichen und armen Bauern zerrissen oder, mehr noch, landlose Bauern wanderten allmählich zur städtisch - industriellen Arbeit ab. Statt den Sozialismus in seinen eigenen Bahnen durch die Umgehung des Kapitalismus zu realisieren, wurde das Narodniki - Russland der Dorfgemeinde in den globalen Prozess der kapitalistischen Entwicklung hineingezogen. Die russische Arbeiterklasse, vor allem ihr dynamischster und am schnellsten wachsender Teil, das Industrieproletariat, wurde der Dialektik des internationalen Klassenkampfes für die Emanzipation des Weltproletariats unter worfen. Wenn die Narodniki - Vorstellung des homogenen arbeitenden Volkes, wonach die städtischen Arbeiter in Städten arbeitende Bauern waren und alle 8 9 10
Ebd., S. 17. Vgl. Lenin, Auf welches Erbe verzichten wir ?, S. 504–525. Vgl. ebd., S. 519 f.
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auf breiter Front gemeinsam in Richtung eines russischen Typs des Sozialismus marschierten, eine Illusion war, dann musste das vage populistische Konzept des russischen Volkes als einer etwas geheimnisvollen, sonderbaren und unabhängigen Einheit Lenin zufolge durch so klar definierte Kategorien wie Klasse, Klasseninteressen und Klassenbewusstsein ersetzt werden. Und dennoch war es die grundlegende Bedeutung, die er dem Bauernproblem in Russland zumaß – im Gegensatz zu dem Hauptaugenmerk der westlichen Sozialisten und der Menschewiki auf der industriellen Arbeit –, die zur Triebfeder von Lenins eigenständigem Beitrag zum mar xistischen Denken wurde, besonders zur sozialistischen Theorie und Praxis in den rückständigen Ländern außerhalb Europas, d. h. dem größeren Teil der Menschheit.11 In der Tat war Lenin sich der Möglichkeit und der Herausforderung, „den revolutionären Großbrand nach Europa zu tragen“, für den Zeitpunkt sehr bewusst, an dem die revolutionäre Allianz der Arbeiter und armen Bauern ( Letztere nahmen in Russland den Platz des Kleinbürgertums im Westen ein ) die radikale demokratische Revolution in Russland durch die Abschaffung des Absolutismus, die Vernichtung der Klasse der Grundbesitzer, die Verteilung ihres Landes an die Bauern und die Erlangung der proletarischen Hegemonie über die liberale Arbeiterklasse vollendet sein würde. Der Sieg eines Mindestprogramms des russischen Sozialismus, welches angesichts der Rückständigkeit Russlands das einzig Mögliche darstellte, würde mit Sicherheit die bereits aufgeflammten Revolutionen im Westen weiter anfachen; sie würden sich dann zu einer vollständigen sozialistischen Revolution entwickeln, die wiederum als ein mächtiger Impuls für die russische Entwicklung in Richtung einer sozialistischen Ordnung dienen würde. Beinahe in Umkehrung von Marx’ Ansicht, keine revolutionäre Revolution wäre gefahrlos, solange Russland als Gendarm der Konterrevolution bereitstünde, und sie daher nur durch einen siegreichen Krieg gegen Russland unter der Führung einer westlichen terroristischen Diktatur im Stil der Revolution von 1793 triumphieren würde, schien Lenin zu proklamieren, dass die europäische Revolution nur von Russland aus in Gang gesetzt werden könnte : eine Variation der Narodniki - Vision der russischen messianischen Sendung. Wenn Russland fähig war, diese Rolle zu spielen, lag das nicht einfach daran, dass es der Dreh - und Angelpunkt des europäischen Allianzsystems oder umgekehrt die Achillesferse des Weltkapitalismus war oder dass es einen solch riesigen Teil der Menschheit darstellte. Der Letzte wird der Erste sein : Die verspätete, aber auch überstürzte industrielle Revolution im rückständigen Russland würde von den neuesten, fortschrittlichsten Techniken des Westens pro11
Vgl. Mitrany, Mar xismus und Bauerntum, S. 71–73; Carr, The Bolshevik Revolution, Band 1, Kapitel 3 : 1905 and after, S. 45–69; Ulam, Die Bolschewiki, S. 248–250.
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fitieren, während die Knappheit bzw. der Mangel an Eigenkapital oder privater Initiative sowie militärische Belange den Staat dazu bringen würden, einzuschreiten und schwere und konzentrierte Industrie zu fördern, indem er auf ausländische Gelder und Investitionen zurückgriff. In diesem Zusammenhang verbündete sich Russland in verschiedener Weise mit dem westlichen monopolistischen Imperialismus. Es war zu einem Eldorado für das westliche Finanzwesen geworden, während es proklamierte, für seine Expansion „keine Grenzen in Asien anzuerkennen“12 und dementsprechend handelte. Angesichts der Ausbeutung seiner Massen durch eine Allianz ausländischer und einheimischer Monopolkapitalisten war Russland entschlossen, sich nicht von den anderen Großmächten bei der Unterdrückung unter worfener Völker und in den Kolonien abhängen zu lassen. Russland war daher ein verzerrtes Spiegelbild des internationalen Imperialismus. Wenn es Zweifel an der Bereitschaft des westlichen Proletariats für die sozialistische Revolution gab, so ging Russland schwanger mit einer Revolution, welche im 20. Jahrhundert nicht länger als ein rein regionaler politischer Aufstand blockiert und isoliert werden konnte. Lenin bot eine scharfe und gleichsam logische Antwort auf all die Dilemmata und Widersprüche, welche die Wortführer der russischen revolutionären Intellektuellen quälten. Er verankerte das Schicksal der russischen Revolution fest in der globalen Vision der Auf lösung der historischen Dialektik und reser vierte dennoch einen besonderen Platz für sie. Er machte weiterhin einen entschlossenen, allumfassenden Glauben zum Werkzeug des eifrigsten Voluntarismus und Aktivismus. Er verband dies mit einer Theorie der objektiven, unvermeidlichen Entwicklung und der spontanen Antwort, mit einer minuziös geplanten, organisierten Handlung, mit der Praxis einer höchst bewussten, organisierten Aktion, basierend auf einem allumfassenden Glauben an das endgültige Ziel, und der größtmöglichen, um nicht zu sagen : opportunistischen, Flexibilität in der Wahl der Taktik. Lenin war durch das Gefühl der Dringlichkeit angetrieben, das ein Echo der „Jetzt - oder - nie“ - Phrase der extremen Populisten, wie zum Beispiel Tkatschows, darstellte. Das beständige Gefühl, immer am Vorabend großer Ereignisse zu stehen, angesichts greifbarer Handlungsoptionen, welche den versprochenen Durchbruch bringen konnten, die jedoch zu einem schrecklichen Rückschlag führen würden, falls sie scheiterten, wurde beim Kriegsausbruch 1914 und noch mehr mit dem Sieg der Februarrevolution 1917 zu Lenins größter und unwiderstehlichster Antriebskraft. Die Niederlage des Zaren und dann der herrschenden Klassen und Gruppen, welche die Regierungsgewalt getragen hatten, musste
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Charques, The Twilight of Imperial Russia, S. 89.
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in seinen Augen mit Sicherheit in die vorherbestimmte Revolution münden. Ihr Sieg in Gestalt einer Militärdiktatur jedoch musste die revolutionären Kräfte zurückdrängen und wer weiß wie lange unterdrücken. Der ersten Möglichkeit entgegenzuarbeiten, beinhaltete die Entscheidung, das historische russische Reich im Sinne Bakunins und Tkatschows, wenn nicht sogar Lawrows, zu zerstören. Doch unter den Umständen eines nationalen Krieges – eine Möglichkeit, welche bei den Kalkulationen der Vorgänger keine Rolle gespielt hatte – lief dies auf den Entschluss zu einer Politik des nationalen Hochverrates hinaus. Solch eine gewaltige Entscheidung, die sich gegen zutiefst ver wurzelte Traditionen, Instinkte und Gewohnheiten richtete, konnte nur getroffen werden, wenn sicher war, dass sie die ersehnte Erlösung für Russland und sogar die Welt bringen würde, da die Menschheit angesichts der Alternative Sozialismus oder Barbarei am Abgrund balancierte.
2. Der Prophet des Krieges ( Lenin ) und der Prophet des Friedens
( Jaurès ) Es ist nie bezweifelt worden, dass es Lenin war, der trotz der allgemeinen Gegnerschaft, eine Zeit lang sogar beinahe aller seiner engsten Genossen, diese schicksalhafte Entscheidung traf, ebenso wie er während seiner ganzen Karriere am Ende immer bewiesen hatte, dass er bereit und fähig war, seinen Willen durchzusetzen und sich über die Wünsche anderer hinwegzusetzen oder sie wegzuwischen. Wir sind hier mit einem anderen Dilemma konfrontiert, das die russischen Propheten des 19. Jahrhunderts beschäftigte : die Rolle des „neuen Menschen“, der „kritischen Persönlichkeit“, von der man glaubte, sie sei dazu bestimmt, ihre eigene Individualität zu realisieren und gleichzeitig zu opfern, mit dem Gang der Geschichte zu gehen und dennoch gegen den Strom zu schwimmen. Lenins Persönlichkeit und historische Rolle erscheinen wie ein Gleichnis und eine Fallstudie dieser Dichotomie. Vor dem Hintergrund des revolutionären Lagers seiner Tage scheint Lenin sowohl aus ihr erwachsen zu sein als auch sie zu verleugnen. Alle glaubten an die historische Dialektik, an deren Ende das vorherbestimmte Ergebnis stehen würde. Alle glaubten an notwendige Entwicklungsstufen, die nicht übergangen werden könnten. Alle hielten an der Vorstellung fest, dass Geschichte nicht durch individuelle Entscheidungen oder wohlüberlegte Planung gemacht werde, sondern sich in Übereinstimmung mit objektiven Bedingungen entfalte. Russland war wie andere Länder auch nicht in der Lage, die bürgerlich - demokratische Revolution und die kapitalistische Phase zu überspringen, bevor es die proletarische Revolution erreicht hatte. Ein weiterer allgemein anerkannter Glaubenssatz war die Überzeugung, dass
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Geschichte durch Widersprüche angetrieben sei. Das Existierende ging immer schwanger mit seiner Negation. Es stellte sich jedoch die Frage : Sollte man den vollen Reifeprozess des Ersteren bis zur unvermeidlichen Reife der Späteren zulassen, oder sollte man den Sieg der negierenden Kraft mit allen Mitteln beschleunigen ?13 Lenin erlebte das Gefühl der Bewegung, der ewigen Schwingen des Krieges, der unüberbrückbaren Widersprüche, der herannahenden Krise mit einer Intensität und Dringlichkeit wie sonst niemand in seinem Kreis. Genossen sagten, er träume wahrhaftig 24 Stunden am Tag von der Revolution, und seine Unbeirrbarkeit sei aus diesem Grund unwiderstehlich.14 Am wichtigsten war allerdings die Tatsache, dass Bewegung, Widerspruch, Konflikt, Durchbruch und Veränderung für ihn eingeschlossen waren in eine sich entwickelnde Totalität, die vom eisernen Gesetz der historischen Unvermeidlichkeit zusammengehalten wurde. Der unaufhaltsame Gang der Geschichte konnte weder beeinflusst noch konnte es ihm erlaubt werden, durch menschliche Willkür, Launen, Vorlieben, Gefühle und rückständige Hemmungen beeinträchtigt zu werden. Diese unerschütterliche Beharrlichkeit wurde in schlagendster und für die meisten verblüffender Weise durch den 22 - jährigen Uljanow demonstriert, als er sich philanthropischer Hilfe für die Opfer der Hungersnot in der Samara Provinz entgegenstellte. „Die Hungersnot“ – so soll er gesagt haben – „ist die direkte Folge einer bestimmten Gesellschaftsordnung. Solange diese Ordnung bestehen wird, werden Hungersnöte unvermeidlich sein. Sie können nur dann verschwinden, wenn man das bestehende System abschafft. Da sie also unvermeidlich ist, ist eine Hungersnot heutzutage Träger des Fortschritts. Indem sie die wirtschaftliche Basis des Bauern zerstört, zwingt sie die bäuerliche Bevölkerung, ihr Heil in den Städten zu suchen. Auf diese Weise entsteht ein Proletariat, das die Industrialisierung der Nation beschleunigt [...]. Sie wird den Bauern zwingen, über die fundamentalen Bedingungen einer kapitalistischen Gesellschaftsordnung nachzudenken. Sie wird den Glauben an den Zaren und den Zarismus zerstören und helfen, den Sieg der Revolution zu beschleunigen.“ Die philanthropischen Reflexe der „Gesellschaft“ seien tatsächlich ein Ausdruck der bürgerlichen Angst vor Unruhen und vor letztendlicher Zerstö-
13
14
Vgl. Haimson, The Russian Mar xists, Kapitel 7, S. 117–141, Kapitel 8, S. 142–162; Keep, The Rise of Social Democracy, Kapitel 4, S. 107–148; Carr, The Bolshevik Revolution, Band 1, Kapitel 2 : Bolsheviks and Mensheviks, S. 26–44; Trotzky, The Russian Revolution, Kapitel I : Peculiarities of Russia’s Development, S. 1–13; Frankel ( Hg.), Vladimir Akimov on the Dilemmas of Russian Mar xism, S. 43–73; Dan, Der Ursprung des Bolschewismus, Kapitel 9 : Bolschewismus und Menschewismus, S. 194–317. Carr, The Bolshevik Revolution, Band 1, S. 34–37.
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rung der bürgerlichen Ordnung, „der Ausdruck jener sacharinsüßen Sentimentalität, die so charakteristisch für unsere Intelligenz ist“.15 Lenins Vision der historischen, durch Gegensatz und Konflikt angetriebenen Dynamik nahm die Form einer kriegerischen Konfrontation an, in welcher es keinen Stillstand, sondern nur Fortschritt oder Rückzug, Sieg oder Niederlage gab. Die siegreiche Partei war dauerhaft mobilisiert, jederzeit bereit, den latenten Krieg in einen tatsächlichen zu ver wandeln. Wenn Lenin vollkommen von der Vision der Revolution beherrscht war, dann war Jean Jaurès besessen vom Ideal des Friedens.16 Der eloquenteste und leidenschaftlichste Kämpfer gegen den Krieg in der Zweiten Internationale und tragisches Opfer des nationalistisch - militaristischen Wahnsinns war ein Prophet allgemeiner Aussöhnung und Eintracht. Lenins Kampf gegen den Krieg wurde von einem Propheten geführt, der das Schwert brachte und durch Zwietracht und Streit lebte und siegte. Die zwei Menschen repräsentieren diametral entgegengesetzte Mentalitäten, vielleicht sogar zwei unterschiedliche Epochen. Jaurès verkörpert das Beste des Humanismus der Zeit vor 1914; Lenin leitete die Eiszeit ein. Der Leser der vielbändigen Histoire socialiste de la Révolution française, hoch gelobt von zwei solch bitteren Antagonisten wie dem großen Dantonisten Aulard und dem Robespierristen Mathiez, ist nicht nur beeindruckt von dem aufschlussreichen und feinen Gespür für die wirtschaftlichen, sozialen und intellektuellen Bestandteile des zukünftigen Sozialismus und der Fülle an Daten und Zitaten, sondern vor allem von der außergewöhnlichen Großzügigkeit, mit der Jaurès, der eine „sozialistische“ Geschichte schreibt, alle Akteure des Dramas behandelt; Klassen, Parteien, Gruppen und vor allem Menschen.17 Der Autor schreckt davor zurück, irgendjemandem bösartige Motive zu unterstellen. Er gibt sich größte Mühe, die Umstände und Zwänge zu erklären, die Personen und Kräfte veranlassten, so zu handeln, wie sie es taten, manchmal schlecht und falsch, fast immer allerdings mit guten Absichten. Jaurès schreibt eher Instruktionen für den Sozialismus als eine Anklage gegen diejenigen Kräfte, die sich ihm entgegenstellen. Die gleiche Haltung dürfte in seiner gesamten politischen Karriere erkennbar sein. Es ist schwierig, die Elemente im Einzelnen zu bestimmen, die darin einfließen. Er hatte sicherlich eine Leidenschaft für Fairness. Es gab ein starkes Element des Relativismus, der von enormem Wissen, der Faszination der unbegrenzten Erfahrungsmöglichkeiten und einem tiefen Gefühl für die verblüffende Komplexität der Dinge herrührt. All 15 16 17
Shub, Lenin, S. 35. Zu Jean Jaurès siehe : Jackson, Jean Jaurès; Drachkovitch, Les Socialismes français; Goldberg, The Life of Jean Jaurès; Challaye, Jaurès. Vgl. Jaurès, L’Histoire socialiste de la révolution française, 8 Bände.
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dies konnte leicht dazu führen, dass er weniger begabten Menschen mit begrenzterem Horizont, eingeschränkterem Verständnis, aber größerem Selbstbewusstsein nachgab. Der weise alte russisch - französisch - jüdische Sozialist Charles Rappoport, der Jaurès sehr gut kannte und ihm sehr zugetan war, sagte : „Weil er die unendliche Ver wicklung von Dingen und Menschen sah und um sie wußte, hatte er eine gewisses Minder wertigkeitsgefühl – ein bewundernswürdiges und menschliches Minder wertigkeitsgefühl – angesichts von Männern, die aus einem Guß waren und gleich einer Kugel ihren Weg in der Richtung machten, in die sie ihr Egoismus und ihre Voreingenommenheit wiesen“,18 umso mehr angesichts von Menschen, die wie Lenin zudem unerschütterliche Überzeugungen besaßen. Briand spricht von Jaurès’ „ängstlichem Temperament, das dem gewöhnlichen Volk nicht zu trotzen wagt“.19 Jules Romains wundert sich über Jaurès’ Unfähigkeit, „die wesentliche Ungereimtheit, die Kette und Schuß des Lebens ist“,20 zu begreifen, und Rappoport wiederum ist der Meinung, „seine Güte und sein Idealismus ließen ihn Menschen und Dinge nicht in ihrer ganzen Erbärmlichkeit und Kleinlichkeit sehen“.21 Kein Wunder, dass Georges Sorel mit seinen leninistischen Sympathien sich Jaurès als seine bête noire aussuchte, als die Verkörperung kleinbürgerlicher Schlaffheit, Gewandtheit und opportunistischer Rückgratlosigkeit. Ein gewisser Zug eines Advokaten, der klug und einfallsreich genug war, jeden Fall zu übernehmen, verbarg sich möglicher weise in dem Intellektuellen, der Jaurès war. Doch handelte es sich offensichtlich nicht um einen Mangel an fester Überzeugung, sondern eher um eine außerordentlich poetische Befähigung zur Empathie, die den Eindruck einer pantheistischen Bereitschaft, alles zu umfassen oder, wenn man so will, eines Eklektizismus vermittelt. Die erstaunliche Schnelligkeit, mit welcher er zu Mitleid bereit war und zu einfallsreichen Erkenntnissen fand, verband sich mit einer unübertroffenen Begabung für das Wort, was Jaurès zu jenen großartigen Rhapsodien über jedes Thema trieb, das er berührte. Aus der Tiefe seiner umfassenden Liebe und seines Mitgefühls ver wandelte Jaurès die historische Dialektik, in völligem Gegensatz zu Lenin, in eine Hülle für sich permanent ergänzende Gegensätzlichkeiten, in eine sich stetig weiterentwickelnde Harmonie, eine zunehmende Versöhnung als Teil einer Bewegung zu endgültiger universeller Übereinstimmung. Seine Vision vom Frieden kommt dem hebräischen Konzept von „Schalom“ nahe, das Ganzheit, Heilung von Wunden, Zusammenfügen zerbrochener Teile, Wiederherstellung 18 19 20 21
Jackson, Jean Jaurès, S. 205 f.; Rappoport, Jean Jaurès, S. 201–203, 221 f. Jackson, Jean Jaurès, S. 206. Ebd., S. 205. Ebd.
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einer ursprünglichen Ordnung der Gerechtigkeit und Freundschaft bedeutet. Jaurès zufolge bedeutete Frieden, der Unordnung ein Ende zu machen, die aus Aggressivität, Habgier, dem Drang zum Wettbewerb und der Sehnsucht nach Herrschaft entsprang. So wurde der Sozialismus zum Synonym für Frieden. Denn wirklicher Friede würde alle Triebe besänftigen, die zu Aggression, Ungleichheit, Unterdrückung und selbstverständlich Krieg führen. „Ihre [ bürgerliche ] gewaltsame und chaotische Gesellschaft, auch wenn sie Frieden will, auch wenn sie in einem Ruhezustand scheint, trägt Krieg in sich, wie die schläfrige Wolke den Sturm trägt.“22 Aber der Sozialismus ist eine „Reise [...] durch die Wahrheit, durch die Realität, in Richtung der Gerechtigkeit, der größten Harmonie und der äußersten Schönheit des Einklangs zwischen Menschen mit freiem Willen [...]. Das menschliche Geschlecht wird nur durch eine gewaltige moralische Revolution gerettet werden [...]; ohne einen großen moralischen Umbruch, der die Kräfte des Rechts, der Gleichheit, des Friedens und der Wahrheit wiederherstellt, wird Europa in die katastrophalsten Ereignisse gestürzt werden.“23 Es war verständlich, dass viele von Jaurès’ Genossen insgeheim ihre Zweifel vor sich hin murmelten, ob er wirklich ein Sozialist sei oder ein Pazifist, sich fragten, was alle seine Prophezeiungen mit Klassenkampf zu tun hätten und seinen verderblichen Einfluss fürchteten. Weit davon entfernt, grundsätzliche Widersprüche zu betonen, war Jaurès begierig, die widersprüchlichen Elemente als sich gegenseitig in einer höheren Einheit ergänzende zu behandeln. Als Befür worter einer säkularen Gesellschaft, die frei von religiösen Hemmnissen war, als Gegner einer Kirche, die sich mit dem Royalismus und Militarismus verbündete und autoritäre Prinzipien aufrechterhielt, interpretierte Jaurès das Konzept der Göttlichkeit als Synonym für Spiritualität und Moralität und sah alle Schöpfung als von Gott erfüllt an. Der Anhänger der Schule des dialektischen Materialismus betrachtete den Idealismus als die Stimme und das Instrument des wirtschaftlichen Wandels und als das Medium, das die Möglichkeiten und Entwicklungen in der Sphäre der materiellen Kultur in bedeutsame und wohlwollende Vereinbarungen ver wandelte. Ganz ähnlich war der Sozialismus für ihn letztendlich ein gereinigtes und vergeistigtes Christentum.24 Nur wenige Apologien des Kapitalismus klingen begeisterter als Jaurès’ Hymne am Ende von Die neue Armee an die „riesige kapitalistische Sonne“, die in den Vereinigten Staaten aufging, wo sich eine neue Gesellschaft entwickelte „ohne unheilbaren Riß, ohne tödliche Verschiebungen [...], ohne die wesentliche und organische Einheit der
22 23 24
Jaurès, Textes choisies, Band 1, S. 88. Drachkovitch, Les Socialismes français, S. 104 f. Vgl. Jackson, Jean Jaurès, S. 130 f.
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menschlichen Gesellschaft zu sprengen“.25 Man ist erstaunt, im Kapitel 10 von Die neue Armee mit dem Titel Soziale und moralische Triebkräfte – Armee, Vaterland und Proletariat aus der Feder eines Mar xisten die Beschreibung der Beziehungen zwischen Kapital, Arbeit, der Nation und der Armee zu lesen. „Die Tatkraft der Arbeiterschaft, die proletarische Kampfbereitschaft rettete die Industrie vor einem knechtischen Verkommen. Sie war es, die den Kapitalismus selbst vor dem Verfall rettete, zu dem ein Absolutismus ohne Gegengewicht geführt hätte. Welch ein mißgestalteter, verderbter und nach kurzer Zeit abgestumpfter Cäsar wäre das moderne Kapital geworden, wenn es unter sich nur eine Plebs gehabt hätte. Zu seinem Glück und zum Glück der Zivilisation war es jedoch ein Volk von Gewissen, von Heroismus, das eine Idee lebte und von einem gleichzeitig althergebrachten und neugeborenen Stolz beseelt war; in diesem Volk lebten die vereinigten Kräfte und der doppelte Edelmut des Christentums und der Revolution, ein hoher Geist des Opfermutes, bestärkt durch eine hohe Hoffnung, die Entschlossenheit für sich zu kämpfen und das immer klarere Bewußtsein, für sich selbst kämpfend auch für alle Menschen zu kämpfen. Indem sie einander bedrängten, indem sie miteinander rangen, haben Kapitalismus und Proletariat, über alle Leiden und allen Haß hinweg, der Produktionsweise ebenso wie der technischen Entwicklung zu einem allgemeinen Fortschritt verholfen, dessen Früchte die beiden Klassen heute noch nicht gleichermaßen genießen, deren aber die Menschen beider Klassen dereinst in einer Gesellschaft teilhaftig sein werden, in der es keine Klassen mehr geben wird, in der die langen Fieberschauer des gleichzeitig schrecklichen und wohltätigen Krieges über wunden sein werden : in einer Gesellschaft gleicher und wieder versöhnter Menschen, in der die Arbeit mit der Gerechtigkeit wetteifern wird.“26 Jaurès behielt im Unterschied zu Bernstein die radikale Trennung von Proletariat und Bürgertum bei. Gegen Kautsky verteidigte er die Notwendigkeit des Kontakts zwischen den Klassen innerhalb der großen menschlichen Gesellschaft. „Wir wollen die Revolution, aber wir wollen nicht den ewigen Hass.“26y Sicherlich würde die frohe Erfüllung des menschlichen Schicksals kommen, „wenn schließlich alle Menschen zusammenleben“.26z Jaurès beschrieb sein sozialistisches Ideal als eine revolutionäre Evolution im Rahmen demokratischer Rechtmäßigkeit. „Zweifellos würde jegliche Initiative zerschlagen werden, wenn der kollektive Besitz den Gesellschaften durch Mächte von außen willkürlich aufgezwun25 26
Jaurès, Die neue Armee, S. 334, 346. Jaurès, Die neue Armee, S. 358; Jackson, Jean Jaurès, S. 185. A. d. Ü. : Die Übersetzung bei Jackson weicht von jener aus „Die neue Armee“ etwas ab. 26y Jaurès, Bernstein et l’évolution de la méthode socialiste, S. 398. 26z Ebd.
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gen und nach den Regeln der Eroberung eingeführt würde. Wenn das kollektive Besitzrecht aber durch das Anwachsen der kapitalistischen Bewegung und durch den Willen der Arbeiter ver wirklicht wird, wenn es gleichzeitig durch die unbewußte Aktion der Bourgeoisie und die bewußte Aktion des Proletariats vorbereitet wird, werden die Klassen, deren Widerstreit die Welt von heute zerreißt, gleichmäßig, wenn auch auf verschiedene Weise, in der Erreichung des gemeinsamen Eigentums siegreich sein. Die Arbeiterklasse wird der wirtschaftlichen Knechtschaft entronnen sein, sie wird das Recht des Mitbesitzes in der Gesellschaft erobert haben, wodurch sie endlich befreit sein wird, und aus dem vereinigten Produktionssystem das höchste Wohlergehen für alle herausholen. [...] Aber trotz ihrer Niederlage als Klasse wird auch die Bourgeoisie siegreich her vorgehen. [...] Sie wird in der neuen sozialen Einheit und der allen Menschen offenen neuen gemeinsamen Ordnung das ruhmvolle Ziel sehen, dem sie ohne ihr Wissen durch ihre unbeschränkte Tätigkeit, durch ihre fieberhafte Kühnheit und durch ihre unaufhörlichen technischen Revolutionen, durch die sie die Industrie antrieb und vergrößerte, den Weg bereitete. Diese kapitalistische Konzentration, die einst der Triumph einer Klasse war, wird nach der Revolution als der Keim der menschlichen Einheit erscheinen.“27 Jaurès verteidigte das Streikrecht als ein Recht, aber nicht als eine Handlung zu dem Zweck, anderen mit gewaltsamen Mitteln Bedingungen aufzuzwingen. Er sprach anerkennend von den edlen Motiven des Anarchismus und seinem Kampf für die ungehinderte Selbstentfaltung des Individuums, aber er empfand Schrecken gegenüber seinem Rückgriff auf Mord und gegenüber der Willkür, mit welcher er sich weigerte, ein Teil des organisierten gemeinschaftlichen Ganzen zu werden und dessen Willen zu beachten, kurzum gegenüber seiner Haltung, einen Krieg gegen die Gesellschaft zu führen.28 Jaurès wird für immer als der Prophet des Internationalismus und gleichzeitig als der Poet des Patriotismus in Erinnerung bleiben. Die Nation wurde von ihm als das Saatbeet der individuellen Persönlichkeit verstanden.29 Jeglicher Versuch, sie aufzulösen, war gleichbedeutend damit, einen Menschen zum Krüppel zu machen, gleichbedeutend damit, ihn all jener Gefühle, Verbindungen, Gewohnheiten und Loyalitäten zu berauben, die seinen Charakter formten, seine Identität, insbesondere der Menschen aus dem Volk mit ihrer tiefen Ver wurzelung in der gemeinschaftlichen Seele, in der heimatlichen Scholle und im Volkstum. Dies bedeutete, ihm Gewalt anzutun. Gleichzeitig betrachtete Jaurès den militanten Nationalismus als größten Feind des Patrio-
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Jackson, Jean Jaurès, S. 250 f. Vgl. ebd., S. 90 f. Vgl. ebd., S. 83–85.
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tismus und den Internationalismus als die Bedingung und Begleiterscheinung des Letzteren. Liebe, Großzügigkeit, menschliche Solidarität zwischen den Völkern, der Wille zu geben und zu nehmen, die Hoffnung auf internationalen Frieden waren die Attribute einer edlen Nation. Ein vor Aggression und Fremdenfeindlichkeit überschäumendes Volk würde mit Sicherheit die menschliche Natur per vertieren und nicht in der Lage sein, eine demokratische Lebensweise aufrechtzuerhalten. Letztendlich konnte nur ein sozialistisches Land die Solidarität fördern und alle Möglichkeiten einer Nation entwickeln, da es entschlossen war, Privilegien, Ungleichheit, Egoismus und Konkurrenzkampf zu beseitigen und nationale Brüderlichkeit in vollem Umfang zu realisieren.30 In scharfem Kontrast zu Lenin lehnte Jaurès vehement jegliche Andeutung ab, die sozialistische Revolution könne oder solle durch einen internationalen Krieg herbeigeführt werden.31 Wenn Sozialismus Frieden bedeutete, war es undenkbar, dass ein Krieg geführt werden sollte, um die Welt vom Krieg zu befreien. Letzteres war ein zu hoher Preis für die Revolution. Es würde die Menschheit in gefährlicher Weise brutalisieren und sie für den Sozialismus untauglich machen : ein Argument, welches Jaurès gegen Guesdes Ablehnung gebrauchte, Stellung zu beziehen im Streit zwischen unterschiedlichen Kategorien des Bürgertums, als den Letzterer den Dreyfus - Fall ansah. Jeder ungerecht behandelte Mensch, was auch immer sein sozialer Ursprung oder Beruf sein mochte, wurde für Jaurès zum Objekt sozialistischer Fürsorge. Und wenn Sozialisten es zuließen, dass die Gesellschaft hoffnungslos durch Falschheit, Ungerechtigkeit und Grausamkeit per vertiert würde, würden sie schließlich ohne das notwendige menschliche Material zum Aufbau des Sozialismus dastehen.32 „Ein europäischer Krieg könnte wohl eine Revolution gebären – und die herrschenden Klassen werden gut daran tun, dies zu bedenken. Aber er kann ebenso gut eine lange Periode von Krisen der Konterrevolution einer wütenden Reaktion, des erbitterten Nationalismus, der erstickenden Diktatur, des ungeheuerlichen Militarismus [...]. Und wir wünschen nicht, ein solch barbarisches Glücksspiel zu spielen; wir wünschen nicht, auf einen Wurf der Kriegswürfel alle Sicherheit und fortschreitende Emanzipation des Proletariats zu setzen, all die Sicherheit einer gerechten Autonomie, die – über alle Trennung und Zersplitterung hinweg – der volle Sieg der europäischen sozialistischen
30 31 32
Vgl. Drachkovitch, Les Socialismes français, S. 175–180; Jaurès, Textes choisies, Band 1, S. 187–191. Vgl. Drachkovitch, Les Socialismes français, S. 108; Jaurès, Textes choisies, Band 1, S. 95–102, 126–131. Vgl. Jackson, Jean Jaurès, S. 120 f.
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Demokratie jedem Volk [...] bietet.“33 Nicht weniger abstoßend als das Gespenst, das später Faschismus genannt werden sollte, war für Jaurès die andere mögliche Folge einer Revolution, die aus dem Krieg entstand : die Diktatur einer sozialistischen Minderheitssekte.34 Es wäre ungenau, wenn man sagte, Jaurès habe in naiver, rationalistischer Weise an die Gutherzigkeit des Menschen geglaubt. Er glaubte tatsächlich an die Möglichkeit, die menschlichen Aggressionstriebe zu läutern. Dies ermöglichte ihm übrigens, seine berühmten Synthesen zu erreichen : die Wirklichkeit des tief sitzenden Übels anzuerkennen und auf Heilung oder zumindest ein ablenkendes Mittel zu hoffen. Daher erkannte Jaurès auf dem Londoner Kongress der Zweiten Internationale den Drang nach kolonialer Expansion als universell an, „unaufhaltsam wie ein Naturgesetz [...], ein Bedürfnis nach Expansion und Abenteuer, welches heute alle lebensstrotzenden Völker antreibt“.35 Jeglicher Versuch, ihn zu hemmen, könnte dazu führen, chauvinistische Leidenschaften in den nicht - demokratischen Nationen zu entflammen, sowie dazu, dass die republikanischen Systeme in ein „caesarisches Regime der Eroberung, des lauten Ruhmes und der Plünderungen“36 ver wandelt würden. Abgesehen von der Pflicht, den Kolonialismus menschlich zu machen, bestand die Notwendigkeit, internationale Garantien für die freie Nutzung der großen historischen Landrouten und Seepassagen sowie der wirtschaftlichen Ressourcen der Welt zu erreichen. Schritt für Schritt wurde sich Jaurès der grundsätzlichen Entmutigung bewusst, welche durch das verursacht wurde, was er angesichts des imperialistischen Konkurrenzkampfes „einen permanenten Dreyfus - Fall“37 nannte. Die doppelzüngigen Intrigen der französischen Regierung, welche die erste Marokko - Krise 1905 auslösten, öffneten ihm diesbezüglich die Augen, wie auch für die Gefahr, dass Europa in naher Zukunft in einen Krieg schlittern könnte. Er schwankte heftig zwischen fatalistischem Horror und der Hoffnung, dass die gewaltigen globalen Interessen des Weltkapitalismus so miteinander verflochten seien, dass ein aufgeklärtes Eigeninteresse imperialistische Antagonisten von einem bewaffneten Konflikt abhalten würde. Sehr jaurèsianisch war selbstverständlich Jaurès’ Ringen mit den Dilemmata des nationalen und internationalen Krieges. Nationale Verteidigung gegen
33
34 35 36 37
Ebd., S. 162. A. d. Ü. : In Jacksons englischem Original ist von „social - democracy“ die Rede, die deutsche Übersetzung spricht von „sozialistischer Demokratie“, siehe englische Ausgabe, S. 125. Vgl. Jaurès, Textes choisies, Band 1, S. 131. Ebd., S. 98 f. Ebd., S. 99. Ebd., S. 38. Siehe auch Drachkovitch, Les Socialismes français, S. 88.
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ausländische Aggression war die heiligste aller Aufgaben, ja – im Blick auf den jakobinischen Patriotismus – der Test des moralischen Wesens der Nation, ihrer Liebe zur Freiheit und ihres Lebenswillens. Jaurès’ Internationalismus war niemals etwas anderes als die Vision eines Europas der Vaterländer. Er fand großzügige Worte für Her vé’s leidenschaftlichen Kampf gegen den Chauvinismus, aber seine Ablehnung der nationalen Eigenstaatlichkeit und jeglicher Form des Patriotismus als Gefäß eines aggressiven Nationalismus erinnerte Jaurès an nichts anderes als an die „Maschinenstürmer“, welche die Maschinen zerstörten, um die Ausbeutung der Arbeiter zu beenden.38 Die Auf lösung der Staaten würde nicht zu einer einzigen internationalen Gemeinschaft freier Menschen führen, sondern dazu, dass irgendein Caesar allen einen einzigen despotischen Willen aufzwänge.39 Die Neue Armee – Jaurès’ wichtigstes Buch – ist in der Tat ein leidenschaftliches Plädoyer dafür, das Vaterland zu verteidigen und dennoch internationalen Frieden zu garantieren. Diese pazifistische Schrift ist voll von der Begeisterung, mit der die Erinnerung an die Leistungen des großen Carnot und die berühmten Siege der französischen Armeen in der Vergangenheit den Autor erfüllten. Die Nation unter Waffen der Französischen Revolution ist das Modell für Jaurès’ „neue Armee“. Sie würde frei sein von den hierarchischen Eigenschaften der traditionellen stehenden Armeen und von den aggressiven, prahlerischen Antrieben, von denen die professionellen, aus Angehörigen der Oberschicht bestehenden Offizierkorps erfüllt waren. Sie würde umso effizienter und umso eindrucksvoller sein. Sie würde die unheilvolle Gemeinschaft der Interessen und Ziele der diplomatisch - militärisch - industriellen Kräfte, die eine Geheimdiplomatie praktizierten, untergraben. Wenn die Aufhebung der konkurrenzbetonten und ausbeuterischen Entwicklungen innerhalb der Nation eine Bedingung für ihr Verschwinden aus den Beziehungen zwischen den Nationen war, dann stellten das organisierte Proletariat und der Sozialismus durch Druck auf die jeweiligen Regierungen, durch internationale Aktionen gegen den chauvinistischen Militarismus und durch die Schaffung einer beständigen revolutionären Bedrohung für das imperialistische Establishment die beste Garantie für internationalen Frieden und die effektivste Kraft zur Verhütung des Krieges dar.40 Und dennoch, in seiner ständig schwankenden und verzweifelten Suche nach Mitteln, die Schrecken des Krieges abzuwenden, konnte Jaurès auch – zum Entsetzen Rosa Luxemburgs41 – zustimmende Worte finden für die beste38 39 40 41
Vgl. Drachkovitch, Les Socialismes français, S. 102–105. Vgl. Jaurès, Die neue Armee, S. 382–408, bes. S. 399. Vgl. Jackson, Jean Jaurès, S. 185–187. Vgl. Luxemburg, Entwurf zu den Junius - Thesen, S. 43–48.
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henden Allianzen und Gruppierungen der Großmächte als einen Mechanismus, der den europäischen Frieden sichere. Früh hatte er sogar ein gutes Wort für den Zaren, da er, historisch gesehen, „die Seele des russischen Volkes“42 gewesen sei. Mit der Zeit wuchsen allerdings sein Grauen vor dem russischen Despotismus sowie die Angst, dass Frankreich von ihm in einen Krieg gezerrt würde. Zeitweise legte Jaurès eine herablassende Einstellung gegenüber der deutschen Sozialdemokratie an den Tag, kritisierte sie wegen ihres Mangels an revolutionärer Begeisterung und beklagte die ihr fehlende Fähigkeit zu revolutionärem Handeln unter einem autoritären Regime. Dennoch war er voller Bewunderung für die fabelhaften theoretischen und organisatorischen Ressourcen der SPD.43 Jaurès war auch bereit, sich bei der Analyse der historischen Gründe für Deutschlands ruhelose Außenpolitik zurückzuhalten. Er erkannte mehrmals die im Grunde friedlichen Absichten seiner Herrscher an. Die Vorstellung eines Krieges zur Wiedergewinnung Elsass - Lothringens war ihm ein Gräuel.44 Er tröstete sich mit der Hoffnung, dass das Wachsen eines freiheitlichen und friedlichen Geistes auf beiden Seiten der Grenze die größtmögliche Autonomie der zwei umstrittenen Provinzen sichern würde. Jaurès ging sogar so weit, darauf zu bestehen, dass niemand von den deutschen Sozialisten eine Politik der Wieder vereinigung Frankreichs mit Elsass - Lothringen verlangen oder erwarten sollte. Kein Wunder, dass französische Nationalisten Jaurès verfolgten, „den preußischen Herrn Jaurès“, mit einer Bosheit, die schließlich einen patriotischen Mörder dazu anspornte, seine schreckliche Tat zu verüben, als Europa wirklich in den Abgrund blickte.44z Sein früherer Freund, der katholische Sozialist und Nationalist Charles Péguy, schrieb im April 1913, als Jaurès erbittert gegen das Gesetz zur Ausweitung des Militärdienstes auf drei Jahre kämpfte und auf der Versammlung in der Baseler Kathedrale donnernd mit einem internationalen proletarischen Aufstand gegen die Kriegstreiber drohte : „Dieser Repräsentant der imperialistischen, kapitalistischen und kolonisierenden Politik Deutschlands in Frankreich ist der allgemeinen Verachtung anheimgefallen. Dieser Hauptverräter [...] hat alle seine Kapitulationen mit Kränzen seiner falschen Heldentaten geschmückt. [ Er hatte ] eine krankhafte Manie, eine Monomanie [...]. [ Die Nationalversamm-
42 43 44 44z
Drachkovitch, Les Socialismes français, S. 72. Vgl. Jackson, Jean Jaurès, S. 193 f., 234 f. Vgl. Drachkovitch, Les Socialismes français, S. 109. Vgl. Jackson, Jean Jaurès, S. 234 : „Populäre Blätter hatten die ‚denkende‘ Öffentlichkeit gelehrt, was von diesem Jaurès zu halten war. ‚Herr‘ Jaurès wurde er in der nationalen Presse genannt – Jaurès - Thaler, der Pan - Germanist, der Agent des Kaisers und der Berliner Finanz, der bezahlte Preuße der ‚Humanité‘.“ Des Weiteren siehe ebd., S. 167 : „Her vé = Jaurès = Wilhelm II.“
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lung hätte ] Jaurès in einen Hinrichtungskarren gesteckt und in einem Wirbel von Trommeln diese mächtige Stimme erstickt.“45 Ungeachtet aller Spannungen, welche die 3. Republik erleben musste – wie den Panama - Skandal, den Boulangismus, die Dreyfus - Affäre, den Staat - Kirche- Konflikt sowie soziale Unruhen : Ihr Verlauf bestätigt Thiers’ Prognose, dass eine bürgerliche Republik die Franzosen am wenigsten spalten werde. Die große nationale Krise von 1914 offenbarte ein Frankreich, das einmütiger und unteilbarer war denn je. Die Stunde wurde von führenden Intellektuellen verschiedener Schulen und Überzeugungen als der Höhepunkt französischer nationaler Einheit, als eine weitere fête de fédération, als die vollständige Erfüllung der nationalen Idee beschrieben.46 Im Gegensatz dazu bereitete diese Dekade in Russland den Untergang der jahrhundertealten Ordnung vor. Man hat gesagt, das Geheimnis des Erfolges sei Zielstrebigkeit, was ein anderes Wort für Entschlossenheit ist. Jaurès sorgte sich hauptsächlich um Universalität. Man kann in seiner Furcht, irgendetwas Relevantes beim jeweiligen – für ihn immer vielfältigen – Thema auszulassen, einen Angstkomplex diagnostizieren. Seinem messianischen Pazifismus fehlte dadurch ein festes Ziel in Form eines erkennbaren Durchbruchs. Es blieb im Endeffekt vage und diffus. Wie bereits gesagt, war Lenin von einem sehr deutlich umrissenen Ziel hypnotisiert : der Revolution. Um sie zu erreichen, war er sehr darauf bedacht, alles von sich fernzuhalten, was ihn davon ablenken oder damit konkurrieren beziehungsweise auch nur seine ernsthafte Hingabe und permanente Beschäftigung mit dem Wesentlichen beeinträchtigen könnte. Gleichzeitig machte er alles dafür nutzbar. Er lehnte es ab, sich dem besänftigenden Einfluss der Musik und seiner Vorliebe für zeitintensive Schachspiele hinzugeben.47 Aber durch regelmäßige Übung und Urlaube hielt er seinen Körper und seine Fähigkeiten für die Sache in gutem Zustand.48 Er entsetzte Walentinow, indem er die Schriften von Mach und Avenarius als bürgerlichen Blödsinn abtat, ohne sie auch nur gelesen zu haben, und indem er darauf bestand, dass ein Revolutionär seine Zeit nicht mit Belanglosigkeiten verschwenden solle.49 Dann setzte er sich hin, studierte sie über mehrere Monate und schrieb ein ( klägliches) Buch, um die Seelen der Gläubigen dagegen zu stärken und zu immunisieren.50
45 46 47 48 49 50
Jackson, Jean Jaurès, S. 226. Vgl. Kriegel / Becker, 1914. La Guerre et le mouvement ouvrier français, S. 21–38. Vgl. Shub, Lenin, S. 46. Vgl. ebd., S. 47. Vgl. Valentinov, Encounters with Lenin, S. 251 f. Vgl. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus.
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Niemand kann mit Sicherheit sagen, was einen Menschen effektiver werden lässt : die völlig engagierte Persönlichkeit, die in der Lage ist, ihre ganze Kraft und all ihre Ressourcen auf das gewünschte Ziel zu richten, oder die Widersprüche, Verluste, das Gefühl der Nichterfüllung und Verletzung, welches von früheren Traumata, unglücklichen Erfahrungen oder irgendeiner anderen unbefriedigenden, misslichen Lage herrührt und sein Opfer dazu treibt, Hindernisse zu über winden, einen Ausgleich zu finden, sich würdig zu erweisen, wie zum Beispiel die sechs Premierminister Großbritanniens innerhalb einer Spanne von fünfzig Jahren, die vaterlos aufwuchsen. Es kann keinen Zweifel daran geben, dass Lenins außergewöhnliche Leistungsfähigkeit auf der ersten Eigenschaft beruhte, wenn wir den schrecklichen Schlag der Hinrichtung seines älteren Bruders wegen der Verschwörung zur Ermordung des Zaren Alexander III. unberücksichtigt lassen.51 Das wahre Geheimnis von Lenins Macht war seine fundamentale Bescheidenheit und das völlige Fehlen jeglicher persönlicher Eitelkeit. Nichts lag ihm ferner als die Spielereien eines Personenkultes, als Pose und persönliche Empfindsamkeit, als der Wunsch, im Rampenlicht zu stehen und bestätigt, geschweige denn bejubelt zu werden.52 Lenins Ansatz fehlte jegliche Spur von Befangenheit. Er glaubte, dass er immer gänzlich objektiv sei. Er fragte sich nie, ob sein Verhalten gegenüber anderen korrekt war, und er stellte nie seine eigenen Motive in Frage : Es gab kein bleibendes Gefühl von Schuld. So konnte er absolut unnachgiebig sein. Nicht, dass Lenin nicht häufig eingestand, einen Fehler gemacht zu haben. Er tat dies jedoch ohne jegliche Angst, sein Gesicht zu verlieren. Er ließ sich niemals durch den Vor wurf der Inkonsequenz beunruhigen. Sein gewaltiges Selbstbewusstsein basierte auf dem unerschütterlichen Glauben an den fest gefügten Monolithen der marxistischen Theorie als der unbestreitbaren Betrachtung der objektiven Realität und des historischen Fortschritts.53 Die dialektische Natur der Letzteren ermöglichte gleichzeitig jegliche Art von mentalem Zickzack - Kurs und jede akrobatische Taktik. Lenins Überzeugung von seiner Fähigkeit, die Bedürfnisse und Erfordernisse der Revolution auf Schritt und Tritt zu entschlüsseln, war so unschuldig und gänzlich frei von Gehemmtheit, dass man nicht von Einbildung oder Überheblichkeit reden konnte. Ebenso wie Selbstbetrachtung und Selbstzweifel seiner Natur fremd waren, so war sein Verhalten gegenüber anderen nicht durch ihre persönlichen
51 52 53
Vgl. Shub, Lenin, S. 7–11. Vgl. Balabanoff, Impressions of Lenin, S. 4 f. Vgl. Wilson, To the Finland Station, S. 364–376; Carr, The Bolshevik Revolution, Band 1, Kapitel 1 : The Foundations of Bolshevism, S. 3–25; Besançon, Les Origines intellectuelles du léninisme.
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Charakterzüge oder durch ihre Haltung ihm gegenüber geprägt, sondern durch das seiner Meinung nach objektive und ausschließliche Kriterium – ihre Relevanz für die Sache; es genügt, sich daran zu erinnern, wie Lenin die schrecklichen Dinge, die Trotzki vor 1917 über ihn sagte, durchgehen ließ. Ein persönlich tugendhafter Parteihäretiker war unendlich verachtenswerter, unberührbarer als ein skrupelloser Genosse, der zum Gigolo wurde, um finanzielle Mittel für die Partei einzutreiben, oder ein bolschewistischer Räuber, der „Requirierungen“ durchführte.54 Die meisten von Lenins frühen Genossen waren unfähig, solche natürlichen Impulse, Gefühle und Gewohnheiten abzulegen, eine ähnlich unmenschliche Objektivität zu erreichen. Sie begannen, sich von ihm erdrückt zu fühlen. Wera Sassulitsch beklagte sich, dass die Iskra- Gruppe sich von einer freiheitsliebenden Familie in eine persönliche Diktatur ver wandelt habe, bald nachdem Lenin ihr beigetreten war. Potresow glaubte, er müsse ersticken angesichts des Fehlens jeglicher Jugend im jungen Lenin.55 Trotzki nannte Lenin 1904 einen Robespierre, einen terroristischen Diktator, der danach strebe, die Parteiführung in ein Komitee für öffentliche Sicherheit zu ver wandeln.56 Lenins Dickköpfigkeit beim Kopenhagener Kongress der Zweiten Internationale im Jahre 1910 veranlasste Frau Krchichanowskaja auszurufen : „Er ist ein Mann gegen die ganze Partei. Er ist dabei, die Partei zu ruinieren. Wie erfolgreich würde die Partei sein, würde er verschwinden, sich in Luft auf lösen oder sterben !“57 1914 „erkannte“ Charles Rappoport „Lenins Leistungen an“. Weiterhin sagte er : „Er ist ein Mann mit eisernem Willen und ein unvergleichlicher Organisator [...]. Aber Lenin ist nur Sozialist. Wer sich ihm widersetzt, ist ein für allemal für ihn erledigt [...]. Er sieht in der Todesstrafe das einzige Mittel, das das Bestehen der Sozialdemokratischen Partei gewährleistet. Er erklärt jedem den Krieg, der nicht seiner Meinung ist. Anstatt seine Gegner in der Sozialdemokratischen Partei mit sozialistischen Mitteln, das heißt mit Argumenten zu bekämpfen, ver wendet Lenin nur chirurgische Eingriffe, nämlich die des ‚Aderlasses‘. Keine Partei könnte unter diesem sozialdemokratischen Zaren existieren, der sich für einen 54 55
56 57
Vgl. Shub, Lenin, S. 118–127. Vgl. ebd., S. 37, 70. A. d. Ü. : Konkret schrieb Potresow : „Es muß eine innere Ursache, die aus seinem Gefühlsleben entsprang, gewesen sein, die ihn zwang, alles Jugendliche in sich zu unterdrücken.“ Ebd., S. 37. Vgl. Deutscher, Trotzki, Band 1, S. 96–101. Shub, Lenin, S. 134. A. d. Ü. : Dieser Vorgang hat sich etwas anders zugetragen : „Während des Kongresses der sozialistischen Internationale [...] richtete sich die allgemeine Feindseligkeit hauptsächlich gegen Lenin. Während die russische Sektion ihre Sitzungen abhielt, hörte Madame Krchichanowskaja auf allen Seiten Äußerungen wie ‚ein Mann gegen die Partei‘, ‚er ruiniert die Partei‘, ‚wie glücklich wäre die Partei, wenn er verschwände, wenn er verginge, sich auflöste, stürbe !‘“ Ebd.
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Über - Mar xisten hält, aber in Wirklichkeit nichts anderes als ein erstklassiger Abenteurer ist. [...] Ein Sieg Lenins [ würde ] die schlimmste Bedrohung der russischen Revolution bedeuten [...]. Lenin würde sie so fest umschlingen, dass sie ersticken müßte.“58 Ähnlich nannte Wjatscheslaw Menschinski, später der Leiter der sowjetischen Geheimpolizei, Lenin 1916 „einen politischen Jesuiten, der seit vielen Jahren den Mar xismus dem Zweck des Augenblicks angepaßt hat. [...] Dieses illegitime Kind des russischen Absolutismus hält sich nicht nur für den einzigen natürlichen Erben des russischen Thrones, [...], sondern auch der sozialistischen Internationale.“59 Lenin wurde von der unerschütterlichen Überzeugung angetrieben, dass das Ziel des Sozialismus niemals durch schrittweise Reformen und durch Methoden wechselseitiger Zugeständnisse, Kompromissbereitschaft und Kompromisse erreicht werden könne, sondern nur, indem die siegreiche Macht, die Vollstreckerin des historischen Willens, dem besiegten Feind gewaltsam ihren Willen aufzwang, ihn buchstäblich als eine soziale und politische Kraft vernichtete. Diese Entschlossenheit entstand aus einem absoluten Misstrauen gegenüber dem Gegner, ja sogar gegenüber jeglichem potentiellen oder realen Verbündeten im Kampf, der möglicher weise das Interesse und den Wunsch haben könnte, einen Teil des Weges mit der Armee zu gehen, die sich den Weg zur totalen Konfrontation erkämpfte. Sie mochten benutzt und sollten manipuliert werden, aber immer in dem vollen Bewusstsein, dass sie Fremde seien, selbst wenn sie eine Zeit lang Mitläufer waren, dass sie absolut heimtückisch und unzuverlässig seien und sich letztendlich als geradezu feindselig erweisen würden und dass sie als ein Hindernis bei der endgültigen Vollendung des Unternehmens eliminiert werden müssten. Die großen Durchbrüche in der Geschichte waren laut Lenin nicht durch parlamentarische Beratungen und Resolutionen bewirkt worden, sondern durch Gewalt. Faire Beteiligung, ehrliches Spiel, freie Rede, ein gebührender Anteil an allen Interessen und Abstufungen der Meinung und die Akzeptanz von Mehrheitsentscheidungen – dies könnten niemals Ziele an sich sein. Solches entspränge einer statischen Sicht der Geschichte. Lenins Vorstellung war gänzlich dynamisch, gekennzeichnet von der Idee des Werdens und des Strebens nach einem Ziel. Allianzen bargen eine große Gefahr für eine Partei, die entschlossen war, einen Durchbruch zu erzielen. Sie würden mit Sicherheit eine schwächende Wirkung auf ihre Tapferkeit und Kampfentschlossenheit haben. Eine revolutionäre Klasse und mehr noch Partei hatte die Pflicht, sich gegen alle Ande58 59
Ebd., S. 151. Ebd., S. 180.
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ren abzuschließen, deutlich zu machen, wie sehr sie sich von anderen Parteien unterschied; sie musste um jeden Preis ihre Unabhängigkeit bewahren, selbst wenn sie aus taktischen Gründen mit ihnen zusammenarbeitete. Sie musste immer darauf bedacht sein, nicht zu deren Anhängsel oder von ihnen ausgetrickst und verraten zu werden. Mehr noch, keine Allianz mit anderen war zulässig, außer unter der Bedingung, dass die Partei einen dominierenden Einfluss und ihre Hegemonie ausüben und ihre Ziele durchsetzen konnte, ob direkt und offen oder indirekt, indem sie Agenten überall in der Allianz einsetzte. Diese sollten nicht nur ein Zurückfallen verhindern und die Verbündeten dazu bringen, so weit wie möglich in dieselbe Richtung wie die siegreiche Macht zu gehen, sondern auch innerhalb der „Zellen“ die Brennpunkte und die Kader für die unvermeidliche Konfrontation mit den vorläufigen Waffenbrüdern vorbereiten. Die Diktatur war bereits in der ursprünglichen Haltung angelegt.60 In Polemiken mit Populisten und ihren Ablegern, den Sozialrevolutionären sowie den Ökonomen, den rechtmäßigen Mar xisten und Revisionisten und sogar den Sozialdemokraten wie Plechanow lehnte Lenin immer den Gebrauch von Konzepten und Begriffen wie Volksmassen, arbeitendes Volk, demokratische Kräfte, Freiheitskämpfer ab. Sie waren darauf angelegt, die Tatsache der Einzigartigkeit, Individualität und avantgardistischen Natur der proletarischen Klasse der Industriearbeiter zu ver wischen. Vor 1861 hatte das Bild der Volkseinheit einen Anschein von Wirklichkeit gehabt : Alle sozialen Kräfte, die nicht unmittelbar von der Leibeigenschaft profitierten, wurden von ihr beeinträchtigt oder waren gegen sie, weil sie wie ein Alpdruck auf der russischen Wirtschaft lag, eine schwere Last für soziale Beziehungen und politisches Streben war. Die Abschaffung der Leibeigenschaft und die dann folgende kapitalistische Entwicklung in Russland zerstörten die Illusion, es gebe eine gemeinsame Sache für alle Freiheitsanhänger.61 Es gab nur eine soziale Kraft, welche die Emanzipation des Menschen anstrebte : das klassenbewusste Industrieproletariat, wie es durch Lenins eigene Partei repräsentiert wurde. Allen anderen Kräften war vollständig zu misstrauen. Sie mussten absorbiert oder vernichtet werden.
60
61
Vgl. Haimson, The Russian Mar xists, Kapitel 11, S. 198–208; Keep, The Rise of Social Democracy, Kapitel 6, S. 183–215; Dan, Der Ursprung des Bolschewismus, S. 256– 266; Conquest, Lenin, S. 54–78; Lukács, Lenin, Kapitel 3 : Die führende Partei des Proletariats, S. 22–35; Shukman, Lenin, Kapitel 7 : The Party in Disarray, S. 123–140. Vgl. Lenin, Was sind die „Volksfreunde“ und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemokraten.
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3. Paranoia und selbsterfüllende Prophezeiung – der Kampf zwischen Autokratie und Revolution Die frühen 1860er Jahre waren ein Wendepunkt in der russischen Geschichte.62 Für viele Zeitgenossen, auch, wie bereits festgestellt, für die radikalen Gegner des zaristischen Regimes, schienen sie eine vollständige politische und soziale Transformation in Richtung auf den westlichen Konstitutionalismus anzuzeigen. Die Enttäuschung dieser Hoffnungen machte eine totale Revolution unumgänglich, da sie die letzten Fetzen der autokratischen Glaubwürdigkeit zerstörte. Lenins zwanghaftes Misstrauen war ein Auswuchs des krebsartigen Wachstums in der Politik Russlands – gegenseitige Angst, Misstrauen, Arglist und Doppelzüngigkeit –, welches das Ergebnis und dann wieder die Ursache für die historischen Entwicklungen war. Die politische Theologie des zaristischen Systems ruhte auf dem Felsen der von göttlichem Recht hergeleiteten Autokratie, einem Damm, der die Flut der schlummernden, wilden Anarchie zurückhielt. Das zaristische Establishment hatte schon lange erkannt, dass die bäuerliche Leibeigenschaft die Wurzel allen Übels in Russland war. Aber es fürchtete sich, daran zu rühren, damit nicht durch oberflächliches Herumwerkeln am eigentlichen Fundament der sozialen Ordnung möglicher weise das ganze Gebäude zum Einsturz gebracht werde.63 Russlands Niederlage im Krimkrieg offenbarte alle inneren Schwächen einer Macht, die bis dahin als unbesiegbar gegolten hatte. Nach nicht enden wollenden Überlegungen führte sie dazu, dass Alexander II. das berühmte Emanzipationsdekret erließ. Die persönliche Leibeigenschaft wurde abgeschafft. Aber beim näheren Hinsehen wird deutlich, dass das Befreiungsgesetz nicht nur dazu gedacht war, den Bauern Menschen - und Bürgerrechte zu gewähren und sie zu unabhängigen Besitzern der ihnen zugewiesenen Parzellen zu machen, sondern mehr noch dazu, die Interessen und den Status der Landbesitzer zu sichern.64 Es führte neue Formen ein, um die Bauern unter einer tyrannischen Kontrolle zu halten, so dass sie nicht zu einer sozialpolitischen Macht werden konnten. Den Bauern wurde das Land, das sie seit Generationen kultiviert und immer als ihr Eigentum angesehen hatten, nicht direkt 62
63 64
Vgl. Charques, The Twilight of Imperial Russia, Kapitel 1, S. 11–47; Florinsky, Russia, Band 2, S. 879–920; Chamberlin, Die Russische Revolution, Band 1, Kapitel 1, S. 1– 16; Venturi, Roots of Revolution, Kapitel 19, S. 507–557; Black, The Transformation of Russian Society, Teil 3 : Social Stratification, S. 233–350; Szamuely, The Russian Tradition, Kapitel 3, S. 23–36; Seton - Watson, Der Verfall des Zarenreiches, Kapitel 2, S. 36–66. Vgl. Florinsky, Russia, Band 2, S. 777; Willets, The Agrarian Problem, S. 111–113. Vgl. Florinsky, Russia, Band 2, S. 879–921; Robinson, Rural Russia, Kapitel 5, S. 64–93.
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übereignet. Ihnen wurde erlaubt, mehr als die Hälfte davon in jährlichen Raten auf 49 Jahre zu kaufen. Die Adligen behielten den Rest zurück, das berühmte otrezki, und zusätzlich wurde ihnen eine Entschädigung aus Staatsgeldern gezahlt. Die Bauern mussten nun eine armselige Existenz aus viel kleineren Parzellen erwirtschaften, und hinzu kam die erdrückende Last der jährlichen Tilgungsraten. Selbst vor 1861 beschäftigten die durchschnittlich zugeteilten Flächen den Bauern nur drei Tage die Woche. Der Mangel an Kapital und technischem Wissen, der geringe Umfang der weit zerstreuten Landstücke, die regelmäßigen Reibereien mit dem Gutsherrn, der die alleinigen Rechte an Weide, Waldland und Wasser beanspruchte, die Notwendigkeit für den Bauern, sich selbst als Tagelöhner mit seinen eigenen Pferden und Werkzeugen an den Adligen zu vermieten und von ihm ein Stück Land zu pachten, entweder gegen bare Münze oder auf Basis einer Ernteteilung – all dies bestand nach 1861 weiter, um die Bauern in wirtschaftlicher Knechtschaft zu halten. Dies umso mehr, als die ländliche Überbevölkerung den Landhunger in unerträgliche Dimensionen steigerte. 1897 stellten die Bauern noch fünf Sechstel der Bevölkerung von 130 Millionen. 1914 waren es noch 85 Prozent von 185 Millionen Menschen in Russland, Erwerbstätige in Industrie und Handel zählten nicht mehr als 8 bis 9 Millionen.65 Hinzuzurechnen sind die verheerenden Auswirkungen auf die europäische Landwirtschaft, welche die Erschließung der riesigen Grasebenen in der Neuen Welt für den Pflug sowie die bewusste Politik des regelrechten Diktators der russischen Wirtschaft für eine ganze Generation ( Witte ) hatten, der Russland auf Kosten des Dorfes industrialisieren wollte, indem Brot so billig wie möglich gehalten wurde.66 Von der Regierung angewandte Palliativmittel, um eine Katastrophe zu verhindern, wie zum Beispiel die Reduktion der Tilgungsgebühr in den Jahren 1881 und 1884, dann die Verlängerung der Zahlungen bis in die 1950er Jahre, die Einrichtung einer staatlichen Hypothekenbank für Bauern, um ihnen mit Krediten zu helfen, schließlich 1907 die gänzliche Abschaffung der Tilgungsgebühr und sogar die Unterstützung bäuerlicher Auswanderung und Ansiedlung in Sibirien, konnten kaum an der Oberfläche des Problems kratzen. Diese Maßnahmen vermochten es nicht, die Verringerung der durchschnittlichen bäuerlichen Parzellengröße von 35 Hektar im Jahr 1877 auf 28 Hektar im Jahr 1905 zu verhindern.67 Furchtbare Hungersnöte und Epidemien in den 1890er Jahren und den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts hatten verheeren-
65 66 67
Vgl. Charques, The Twilight of Imperial Russia, S. 198; Robinson, Rural Russia, S. 97–102.; Thalheim, Russia’s Economic Development. Vgl. Charques, The Twilight of Imperial Russia, S. 61 f.; Willets, The Agrarian Problem, S. 125–128. Vgl. Charques, The Twilight of Imperial Russia, S. 63, 136.
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de Folgen in den überbevölkerten Schwarzerderegionen und lösten Aufruhr unter den Bauern sowie Plünderungen der Herrensitze des Adels aus. 1897 war nur einer von fünf Bauern des Schreibens und Lesens kundig.68 Die Regierung fühlte sich hilf los angesichts dieser unbeherrschbaren Situation und war ohnehin aus sozialen und politischen Gründen über die gleichmäßig fortschreitende Verarmung des Adels beunruhigt. Die staatliche Hypothekenbank für den Adel ( später mit der staatlichen Hypothekenbank für die Bauern zu einer einheitlichen Hypothekenbank vereinigt ) war kaum in der Lage, die Pleitewelle aufzuhalten, die dazu führte, dass Adelsland in die Hände des Bürgertums und in vielen Fällen von Kulaken überging.69 Es gab eine zusätzliche Plage, welche wie ein absichtlich ausgeklügelter perfider Plan aussah, um die Bauern auszuquetschen, indem sie betrunken gemacht wurden : das Staatsmonopol auf Alkohol. Alkoholismus wurde zu einem Regierungsinteresse. 1914 machten die Einnahmen aus dem Wodka - Monopol den größten Einzelposten des Staatsbudgets aus – 1 000 Millionen Rubel von 3 500 Millionen Rubeln.70 1861 waren die Bauern weder den anderen Klassen gleichgestellt worden, noch hatte man ihnen volle individuelle Freiheit zugestanden. Sie blieben ein niedriger Stand, der diskriminierender Gesetzgebung unter worfen war. Ungeachtet der Tatsache, dass ihnen das Recht gewährt wurde, eigenen Besitz zu haben, zu heiraten, vor Gericht zu gehen, mussten sie als einzige Klasse in der Bevölkerung noch immer eine Kopfsteuer zahlen; und für ein weiteres Vierteljahrhundert blieben sie der körperlichen Züchtigung unter worfen. Obwohl fast befreit von der Vormundschaft der Grundherren, war der Bauer durch die neue Regelung umso strenger der Mir untergeordnet. Aus finanziellen und administrativen Gründen wurden die Dorfgemeinde und ihre Vorsteher und nicht die Bauern Eigentümer und Verantwortliche des befreiten Landes. Die Vorsteher waren ermächtigt, die Form der periodischen Verteilung des Landes „von den Toten zu den Lebenden“ festzulegen. Sie über wachten den Fruchtwechsel und andere landwirtschaftliche Abläufe, und aufgrund der gemeinschaftlichen Verantwortung für die Zahlung der Steuern hatten sie die Befugnis, das Recht auf Auswanderung zuzugestehen oder zu ver weigern. Sie erteilten eine solche Erlaubnis nur äußerst zurückhaltend, weil sie darauf hinauslief, die Steuerlast für die Gemeinschaft zu erhöhen. Sie forderten deshalb von jenen, denen sie Saisonarbeit an einem anderen Ort erlaubten, weiterhin ihren Steueranteil – als Gemeindemitglieder, die in Städten lebten. Es gab spezielle niedere Gerichte für Bauern. Alle Formen lokaler Selbstver waltung wur68 69 70
Vgl. Florinsky, Russia, Band 2, S. 1235. Vgl. ebd., S. 1217 f. Vgl. Charques, The Twilight of Imperial Russia, S. 199.
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den unterdrückt, als die Regierung entschied, kantonale Landhauptmänner mit umfangreichen Administrations - und Kontrollbefugnissen einzusetzen.71 Es war der letzte Staatsmann des Regimes von einigem Format, Stolypin, der den Mut und die Vorstellungskraft hatte zu versuchen, den Zarismus vor sich selbst zu schützen, und zwar in einer rücksichtslosen, neuen Art, die an Bach und Schwarzenberg in Österreich und Bismarck in Deutschland erinnerte. 1906 löste er die Dorfgemeinschaften auf. Seine Absicht war es, mit Staatshilfe eine große unabhängige Bauernklasse her vorzubringen, indem er die Wohlhabenden und Erfolgreichen bevorzugte, „die Vernünftigen und die Strebsamen“, und die weniger Erfolgreichen zu landlosen Arbeitern oder einer Reser vearmee für die Industrie machen wollte.72 Es ist eines der großen Wenns in der Geschichte, ob ein paar weitere Jahrzehnte internationalen Friedens und rechtsstaatlicher Evolution, wie sie 1905 begann, nicht möglicher weise den Aufstieg einer ländlichen Mittelschicht gesehen hätten, die stark genug gewesen wäre, zwischen dem Pachtsystem und der sozialistischen Revolution zu stehen. Die sozialistischen Revolutionäre hatten viele Gründe, solch einen Kurs zu fürchten. Für sie war es nur natürlich, aufgrund der jahrhundertealten Allianz des Zarismus mit dem Adel ein Bündnis zwischen Zarismus und Kulaken auf Kosten der ärmeren Bauernschaft zu vermuten. Das Schicksal der restlichen Reformen Alexanders II., die zunächst ebenfalls vielversprechend nach der Errichtung eines Konstitutionalismus aussahen, erbrachten den Revolutionären einen ausreichenden Beweis des unheilbar tückischen Charakters des zaristischen Regimes und seiner Entschlossenheit, die scheinbar liberalen Maßnahmen derart zu manipulieren, dass sie alle Hoffnungen auf Fortschritte im Bereich der Menschenrechte und der Volksouveränität zunichtemachen würden. Die 1864 eingerichteten Semstwos waren dazu gedacht, den Provinzialversammlungen ein gewisses Maß an Verantwortung für lokale Angelegenheiten zu geben, wie zum Beispiel die Unterhaltung der Straßen, Bildung, das Gesundheitswesen, wirtschaftliche Verbesserungen, insbesondere der Landwirtschaft.73 Obwohl sie gewählt werden sollten, war das Stimmrecht so zugeschnitten, dass dem Adel die absolute Hegemonie über die anderen Stände sicher war. Die zum Semstwo entsandten Bauern wurden vom Gouverneur aus ihm übermittelten Listen ausgewählt – zu einem Zeitpunkt, als die Selbstregierung durch die Einrichtung der Land-
71 72 73
Vgl. Florinsky, Russia, Band 2, S. 888–906, Robinson, Rural Russia, Kapitel 7, S. 243–265. Vgl. Charques, The Twilight of Imperial Russia, S. 177 f.; Seton - Watson, Der Verfall des Zarenreiches, S. 244–249. Vgl. Charques, The Twilight of Imperial Russia, S. 26–29; Florinsky, Russia, Band 2, S. 897 f.
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hauptmänner so gut wie abgeschafft war.74 Die Bauern hatten allesamt nur geringes Interesse und noch weniger Gefallen an den Semstwos, da die ihnen auferlegten Steuern durch die Staatspolizei erhoben wurden. Die eher gemäßigte Opposition setzte nicht wenig Hoffnung auf das „dritte Element“, das durch die Semstwos ins Leben gerufen wurde : lokale Regierungsbeamte, Statistiker, Ärzte, Ingenieure, Lehrer, landwirtschaftliche Experten und andere.75 Wesentlich wichtiger war die Frage, ob die Semstwos nicht nur ihre Rolle und ihr Ansehen behaupteten, sondern auch die Möglichkeit bekämen, ihre Aktivitäten allmählich auszuweiten und ein Partner beim Regieren des Landes zu werden, kurzum : ob sie sich zu einer Volksrepräsentation entwickeln und den Weg für eine legislative Versammlung ebnen und dementsprechend „das Gebäude“ der Reformen des Zaren - Erlösers „krönen“ würden. Das Regime war entschlossen, eine solche Entwicklung um jeden Preis zu verhindern.76 Zwischen der Regierung und den Semstwos entwickelte sich eine Katz - und Maus - Beziehung. Erstere war auf der Hut, keine Überlegungen über lokale administrative Angelegenheiten in die Diskussion über nationale Themen einfließen zu lassen, die Semstwos an der Überschreitung ihrer Befugnisse zu hindern und vor allem jegliche Versuche zu unterbinden, landesweite Semstwoverbände – auch solche der Vorsitzenden ihrer Komitees – zu schaffen, damit sie sich nicht einen Status nationaler Repräsentation anmaßten.77 Das heilige Prinzip der Autokratie musste erhalten bleiben. In seinem berühmten, aber äußerst mehrdeutigen Memorandum über die Semstwos legte Witte den Finger auf die eindeutige Alternative : aufgeklärte Autokratie oder die freie, fortschrittliche Entwicklung der Semstwos, zunächst zu einer beratenden, dann zu einer legislativen und schließlich zu einer verfassunggebenden Versammlung.78 Dies waren in der Tat die Meinungsabstufungen unter den Semstwo - Liberalen, als sie sich am Vorabend der Revolution von 1905 zu Wort meldeten und sich organisierten. In seiner Antwort auf die Petition des Semstwos von Twer hatte der neue und letzte Zar ein Jahrzehnt früher sämtliche derartige Ideen hinweggewischt, die den jahrhundertealten Traditionen der russischen Autokratie und ihrer angeblichen „Grundgesetze“ widersprachen.79 74
75 76 77 78 79
Vgl. Charques, The Twilight of Imperial Russia, S. 31 f.; Florinsky, Russia, Band 2, S. 897–900. A. d. Ü. : Der Landhauptmann ( „semski natschalnik“ ) wurde von der Regierung eingesetzt. Er kontrollierte die bäuerliche Selbstverwaltung in einem Kreis und fungierte auch als eine Art Friedensrichter. Vgl. Charques, The Twilight of Imperial Russia, S. 29; Florinsky, Russia, Band 2, S. 900 f.; Seton - Watson, Der Verfall des Zarenreiches, S. 128 f. Vgl. Charques, The Twilight of Imperial Russia, S. 29. Vgl. ebd., S. 32 f. Vgl. ebd., S. 56; Seton - Watson, Der Verfall des Zarenreiches, S. 122 f.; Florinsky, Russia, Band 2, S. 900; Brzezinski, The Patterns of Autocracy. Florinsky, Russia, Band 2, S. 1156; Charques, The Twilight of Imperial Russia, S. 54.
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Diese morbiden, aber nicht ungerechtfertigten gegenseitigen Verdächtigungen und Ängste, welche die unflexible Härte der Autokratie stärkten und den revolutionären Extremismus schürten, wirkten auch als eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Jede Seite gab der anderen hinreichend Grund, das Schlimmste zu befürchten und sich dementsprechend zu verhalten. Durch die Lockerung der Zensur, die Einführung des Laienrichtersystems, die Erleichterung der Beschränkung der universitären Autonomie und die Anerkennung eines gewissen Maßes an persönlichen Freiheiten als Krönung der beiden hauptsächlichen Reformen wurde das zaristische Regime hin - und hergerissen zwischen einerseits der Hoffnung, hierdurch die Unzufriedenheit zu verringern und so das Wesentliche ihrer Macht zu sichern, und andererseits der panikartigen Angst, durch diese Reformen die eigenen Grundlagen zu untergraben, indem man Schwäche offenbarte und dadurch Unruhen unter der Bevölkerung und Aufsässigkeit ermutigte.80 In den Augen der Revolutionäre war der fragmentarische Charakter der Zugeständnisse ein Beweis dafür, dass die Reformen nichts als ein taktischer Zug waren, um die Wachsamkeit und revolutionäre Energie des Volkes zu schwächen, kurz : um den Zarismus intakt zu halten. Das zwanghafte Misstrauen der polarisierten Kräfte sowie die Begrenztheit ihrer Grundlagen machten den russischen Liberalismus absolut ineffektiv, misstrauisch beäugt, verhasst und verachtet von den Protagonisten beider Extreme. Keine Seite glaubte, dass die Zeit die Dinge glätten könnte, dass ein Kompromiss in gutem Glauben eingehalten und sich zu einem Geben und Nehmen entwickeln würde. Es war noch immer notwendig, die Angelegenheit bis zum bitteren Ende auszufechten. Dies bedeutete seitens des Establishments eine Art von dauerhaftem Präventivkrieg, eine Strategie der Abschreckung und Repressalien, und seitens der revolutionären Opposition einen Zustand dauerhafter Rebellion und die totale Verneinung der Legitimität der existierenden Institutionen und Gesetze. Enttäuschungen angesichts der Reformen der 1860er Jahre brachten die Narodnaja Wolja zur Verschwörung und schließlich zu terroristischen Attentaten einschließlich der zahlreichen Anschläge auf das Leben Alexanders II. Als die „Diktatur des Herzens“ von Loris - Melikow versuchte, den Belagerungszustand zu über winden, unter den der revolutionäre Terror die Ver waltung in Form einer Politik der Zugeständnisse gebracht hatte, war die Antwort darauf die Ermordung des Zaren noch am selben Tag, an dem Alexander II. im Begriff war, einen Erlass zu unterzeichnen, der eine Verfassungsreform versprach. Es folgten lang anhaltende, heftige Repressionen, welche die revolutionäre Bewe80
Vgl. Florinsky, Russia, Band 2, S. 1152–1155.
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gung eine Zeit lang erfolgreich lähmten.81 In einer Atmosphäre polarisierter Konfrontation verblühte die schwache Pflanze des Liberalismus. Schon vor dem 31. März 1881 war der liberale Tschitscherin so erschrocken über den revolutionären Terror, dass er für einen Stillstand des liberal - demokratischen Fortschritts plädierte.82 Zunächst mussten um jeden Preis Recht und Ordnung wiederhergestellt werden. Den nihilistischen Zerstörern der sozialen Ordnung durfte man keine freie Hand lassen. „Ordnungsgemäße“ Repressionen, sogar durch eine despotische Regierung, waren immer noch der Verschwörung, dem Attentat und der Gewalt des Pöbels vorzuziehen. Solange der Terror wütete, konnte keine Erweiterung der Freiheit gewährt werden. Der Fortschritt in Richtung eines Verfassungssystems würde wieder in Gang kommen, so glaubten die Liberalen, sobald die Ordnung wiederhergestellt wäre. Die Revolutionäre ihrerseits waren überzeugt, dass eine Wiederherstellung des Staatsfriedens auch das Selbstbewusstsein der Autokratie und die Repression wieder stärken würde. Ein Stoß direkt in ihr Herz war notwendig. Lenin vergaß niemals, wie die liberalen Freunde der Familie diese nach der Hinrichtung seines älteren Bruders wegen der Verschwörung zur Ermordung Alexanders III. geächtet hatten.83 Vielleicht war das der Grund dafür, dass er von brodelndem Hass und Verachtung für jede Art von Liberalismus erfüllt war und zu der unerschütterlichen Überzeugung gelangte, wenn es darauf ankäme, würden die Gemäßigten es immer vorziehen, sich um das Establishment zu scharen, statt gemeinsame Sache mit den Freiheitskämpfern zu machen. Die Radikalisierung der revolutionären Bewegung wurde mit einer ähnlichen Radikalisierung der extremen Rechten beantwortet.84 Die damaligen führenden Sprecher der radikalen Reaktion waren Menschen mit einem viel höheren Intellekt als die Reaktionäre der Vergangenheit. Sie wurden durch eine selbstquälerische Hoffnungslosigkeit angetrieben, von der sie ergriffen worden waren, als sie ihren früheren Liberalismus als illusionär erkannt hatten. Diese Hoffnungslosigkeit hielt während ihrer gesamten langen, verzweifelten Suche nach Glauben und Gewissheit an und brachte sie dazu, fantastische Doktrinen einer theokratischen Autokratie auszuarbeiten. Dies war der Fall bei Katkow, dem einstigen Kameraden Herzens und Bakunins und späteren führenden Publizisten der Rechten, bei Dostojewski, der als Jugendlicher das traumatische Martyrium erlebt hatte, vor einem Exekutionskommando zu stehen, und schließlich bei Tichomirow, der sich von einem Führer des terroristischen Flügels der Narodnaja Wolja zum kompromisslosesten Verteidiger der 81 82 83 84
Vgl. ebd., S. 1083–1085. Vgl. Schapiro, Rationalism and Nationalism, S. 94–97. Vgl. Shub, Lenin, S. 7–11, 32 f. Vgl. Byrnes, Pobedonostsev on the Instruments of Russian Government.
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Autokratie und Repression wandelte. Pobedonoszew, der hoch gebildete Professor der Rechtswissenschaft, brachte es zu immensem Einfluss als Bevollmächtigter des Heiligen Synod, als vertrauter Berater zweier Zaren und Privatlehrer Nikolaus’ II., als dieser Thronfolger war. Er hielt das Banner des militanten Obskurantismus hoch und trug es noch als Achtzigjähriger nach der Revolution von 1905. Ein weiterer Prophet der extrem militanten Reaktion war Leontjew, ein Arzt mit vielseitigen wissenschaftlichen und literarischen Interessen. Er entwickelte sich zum dämonischen Priester eines Gottes des Zorns, der nicht Liebe, sondern Angst einflößte.85 All diese gequälten Seelen beanspruchten, danach zu streben, spezifische und authentische russische Traditionen wiederzubeleben. Jedoch auf die eine oder andere Weise wiederholten sie de Maistres Maxime : Selbst wenn das Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit lehrmäßig nicht haltbar sei, müsse man es eben erfinden, und der Henker sei Dreh - und Angelpunkt der Gesellschaft sowie ihr Retter. Ihre Absolutheiten verdienen es, den Absolutheiten der bedingungslosen Propheten am anderen Ende des russischen politischen Spektrums gegenübergestellt zu werden.
4. Die Metaphysik einer belagerten und zum Untergang verdammten Autokratie Die theokratischen Reaktionäre lehrten, die Wurzel allen Übels sei der individualistische Liberalismus, ja gar der Protestantismus, der direkte Vorläufer des Liberalismus; und sogar noch weiter zurück der römische Katholizismus aufgrund seiner Lehre über die Teilung der Macht zwischen Kirche und Staat.86 Die Doktrin der Gewissensfreiheit und unterschiedlicher Wahrheitsordnungen, der religiösen, politischen, doktrinären und rationalistischen Wahrheiten, untergrub den Glauben an eine einzige absolute Wahrheit, verbreitete Zweifel, förderte Arroganz und Willkür, führte zu Egoismus und brachte Sittenlosigkeit und Verbrechen her vor. Mangels akzeptierter Kriterien wurde die Freiheit zur Ursache sozialen Verfalls, von Hoffnungslosigkeit, Aufsässigkeit und gar Tod. Denn der Mensch ist von Geburt an schlecht, wankelmütig, schwach, und so würde er für immer bleiben. „Jeder Mensch ist ein Lügner“, predigte Pobedonoszew. „Jedes von einem Menschen gesprochene Wort ist ein leeres Wort der Selbsttäuschung.“87 Er fürchtete „die wilden Leidenschaften, die schlafend in 85 86 87
Vgl. Masaryk, Russland und Europa, Band 2, S. 211–221; Byrnes, Pobedonostsev. His Life and Thought; Kohn, Propheten ihrer Völker. Vgl. Berdiaev, Les sources et le sens du communisme russe, S. 7–26; Robinson, Part IV, S. 359–369. Byrnes, Pobedonostsev on the Instruments of Russian Government, S. 114.
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der Brust [ Russlands ] liegen“, welches „eine eisige Wüste und der Wohnsitz des bösen Mannes“ sei.88 Ohne den Glauben an einen allmächtigen, allwissenden, zornigen und strafenden Gott werde der Mensch Amok laufen. Die Verleugnung Gottes mache die Existenz von Gesellschaft, Nation und Staat unmöglich und führe zur Vorherrschaft des Nihilismus. „Der Unglaube ist die direkte – direkte ! – Negation des Staates.“89 Dies war auch die Überzeugung des jungen Bakunin gewesen, bevor ihn Feuerbach zu einem erbitterten Atheismus führte sowie – daraus erwachsend – zum extremen Anarchismus : „Wo es keine Religion gibt, da kann es keinen Staat geben.“ „Die Religion ist die Substanz, die Wesenheit des Lebens jedes Staates.“89z In gewisser Weise fand Feuerbachs Ansicht vom Glauben an Gott als einer Projektion der elenden sozialen Situation des Menschen eine eigenartige Bestätigung in der Vorstellung von der Notwendigkeit Gottes für die soziale Ordnung. Die Theokraten interessierten sich kaum für das rein metaphysische und theologische Problem der Göttlichkeit und ganz sicher nicht für individualistische Mystik, da das individuelle Emporstreben und die Suche nach direkter und unvermittelter Kommunion mit dem Schöpfer in Richtung anarchistischen Individualismus abschweifen könnten. Angesichts Russlands misslicher sozialpolitischer Situation war ihr Ziel die institutionalisierte Religion, eher die orthodoxe Kirche als Gott, eher die hierarchische Struktur als die Erlösung der Seele; die Repräsentanten Gottes auf Erden, die weltliche Verkörperung des Prinzips der absoluten Autorität und Einheit des Glaubens, der Zar - Gott eher als die heilige Dreifaltigkeit. Die theokratische Autokratie war eine zugleich moralische, soziale und politische Notwendigkeit. Es handelte sich nicht um ein persönliches Vorrecht, sondern um eine heilige Pflicht, nicht um eine erhabene Position, sondern um eine beschwerliche Mission. Pobedonoszew wurde niemals müde, gegenüber den Zaren, denen er diente, darauf zu dringen, dass sie kein Recht hätten, die Autokratie zu beschränken, und schon gar nicht, sie zu verleugnen. Sie würden sündhaft die Gesellschaft in Chaos und Anarchie stürzen.90 Er beklagte, dass der „erbärmliche und unglücksselige“ Alexander II., der Zaren - Reformer, die ihm verliehene Macht vergeudete.91 Pobedonoszews Schüler und Jünger, der glücklose Nikolaus II., konnte sich nie von den Lehren seines Mentors befreien. Der letzte Zar schaufelte möglicher weise sein 88 89
Ebd., S. 114 f. Masaryk, Russland und Europa, Band 2, S. 222 f. Vgl. auch Maximoff ( Hg.), The Political Philosophy of Bakunin, Teil 1, Kapitel 10 : Religion in Man’s Life, S. 105–114; Venturi, Roots of Revolution, S. 37. 89z Masaryk, Russland und Europa, Band 2, S. 222. 90 Vgl. Byrnes, Pobedonostsev on the Instruments of Russian Government, S. 118–120; Masaryk, Russland und Europa, Band 1, S. 133–135. 91 Vgl. Byrnes, Pobedonostsev on the Instruments of Russian Government, S. 120.
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eigenes Grab, als er bei der Thronbesteigung der Delegation der Semstwos, die zur Übermittlung einer demütigen Glückwunschadresse gekommen war, mitteilte, sie solle ihre sinnlosen Träume von einer Teilnahme der Semstwo - Repräsentanten an den internen Angelegenheiten der Regierung vergessen. „Ich werde das Prinzip der Autokratie so fest und unbeirrbar schützen, wie es mein [...] Vater tat.“92 Der große konser vative Historiker Kljutschewski soll im Vertrauen ein oder zwei Tage nach dem 17. Januar 1895 vorausgesagt haben, dass „die Romanow - Dynastie mit Nikolas II. enden wird. Wenn er einen Sohn hat, wird er nicht regieren.“93 Die Launen des westlichen Parlamentarismus, Parteiintrigen, Korruption, Volksverhetzung und rauf lustige Quertreiberei, die in den repräsentativen Institutionen der konstitutionellen Regime grassierten, der demoralisierende Einfluss der Massenpresse – all dies wurde von Pobedonoszew und seinesgleichen als düstere Warnungen zitiert. Die Theoretiker des Absolutismus wollten nicht, dass der Zar durch Gesetzbücher oder Richtersprüche eingeschränkt werde. Die abstrakten Prinzipien, durch die Letztere geleitet würden, könnten „zerstörerisch, selbstmörderisch und sündhaft“ werden.94 Um saint - simonistische Sprache zu ver wenden : Sie hielten es für einen Zaren für unabdingbar, ein loi vivante zu sein, eine Berufungsinstanz, die solche Fälle entscheiden könnte, welche von der herkömmlichen, abstrakten Klassifizierung, mit der sich das geschriebene Gesetz befasste, nicht erfasst würden. Mehr noch, sie waren der Ansicht, dass die scharfe Trennung in Autorität und eine stark in Teilbereiche gegliederte Bürokratie den Kern der russischen Autokratie, die Einheit des Willens bei der Entscheidungsfindung, bedrohe. Die Extremisten der theokratisch - absolutistischen Rechten lebten in Furcht vor menschlicher Willkür und vor der unausrottbaren, per versen Neigung des Menschen zu Zwietracht und Rebellion. Sie verabscheuten kritisches Denken. Letzteres war das Zeichen eines kranken Gemüts : Der Gesunde denkt niemals an die Gesundheit. Instinkt, Brauchtum, vor allem Glaube und Vertrauen waren die sicheren Führer, nicht logische Folgerung, die sich ständig in der Zwickmühle, zwischen Alternativen wählen zu müssen, verhedderte, gefangen in unvermeidbaren Widersprüchen und niedergedrückt durch relativistische Gegenüberstellung. Sie lehnten Bildung für die Massen eindeutig ab, von religiöser Anleitung oder vielmehr Indoktrination abgesehen. Sie schätzten vor allem die durch den religiösen Kalender vorgegebene Kanalisierung der Zeit, Energie und emotionalen Bedürfnisse, die Riten und die Liturgie sowie 92 93 94
Charques, The Twilight of Imperial Russia, S. 54. Ebd. Vgl. Byrnes, Pobedonostsev on the Instruments of Russian Government, S. 115 ( Zitat), 120 f.
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schließlich die patriarchalische Familie. Es lag eine Art von Pragmatismus in der Ansicht, dass Wahrheit durch Beständigkeit und erhoffte Ergebnisse überprüft werden müsse, womit sie Stabilität meinten, sogar wenn diese auf Stagnation hinauslief.95 Griechische Orthodoxie war definitiv kein universeller Glaube und beanspruchte auch nicht, dies zu sein. Leontjew, der byzantinischste der russischen Reaktionäre, kein ausgeprägter Slawophiler und sicher kein Populist, verspottete all die Vorstellungen von allgemeinem menschlichen Glück, Einheit, Gleichheit, Perfektion und Zufriedenheit. Dieser grimmige Denker wollte aus Angst vor Veränderung alles einfrieren, was aus seiner Sicht unweigerlich zur Anarchie führte. Genauso wenig würde er den Glauben an ewige und universelle moralische Werte, die auf philosophischen Naturgesetzen beruhten, aufrechterhalten. Wie Pobedonoszew entwickelte auch er eine Art historischen Materialismus : Die Wahrheit entfalte sich in der geschichtlichen Evolution oder mehr noch in der Kristallisierung der Lebensformen sowie in ihrer Verinnerlichung, so dass diese zu unbewussten automatischen Reflexen wurden. Es gab einen tieferen Grund für Leontjews vorbehaltlose Verneinung jeglicher Vision eines Königreichs Gottes. Seine Verachtung und sein Hass auf Menschen waren derart, dass er sich nicht wirklich mit der Erlösung der menschlichen Seele befasste, sondern mit ihrer Bestrafung. Menschenliebe war in seinen Augen gleichbedeutend mit einer Ablehnung Gottes. Und Gott war für ihn nicht ein Gott der Gnade, sondern einer des Zorns, der Angst und nicht Liebe weckte. Der Horror vor dem Menschen führte diesen menschenfeindlichen Propheten zu unerbittlichem Hass auf die Welt und das Leben als solches. Er wurde zu einem modernen Tertullian. Er legte insgeheim ein klösterliches Gelübde ab und verschrieb sich selbst einer anstrengenden asketischen Disziplin. Er hörte niemals auf, gegen den Anspruch der Wissenschaft zu wettern, die Geheimnisse der Schöpfung erklären zu wollen und sich zu ihrem Herrn zu machen. Er verdammte jegliche Philosophie als gottlos, welche geneigt war, den Menschen als Quelle ethischer Kriterien und als seinen eigenen Gesetzgeber zu sehen. Seltsamer weise erzeugte die Verneinung des Lebens durch diesen neuzeitlichen Tertullian und seine Geringschätzung des Menschen als Nebenprodukt eine Nietzscheanische Verehrung amoralischer Macht und ästhetischer Brillanz. Entsetzt und angewidert durch Selbstzufriedenheit, Selbstgefälligkeit und Mittelmäßigkeit, her vorgebracht von einem furchtsamen und schwankenden Bürgertum – wie es seiner Meinung nach in der Schweiz, in Dänemark und in den Niederlanden der Fall war – ruft er aus : „Wäre es nicht fürchterlich [...] und beleidigend zu denken, daß Moses den Sinai bestieg, daß die Griechen 95
Vgl. Robinson, Part IV Review.
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ihre schönen Akropolen errichteten, die Römer die punischen Kriege führten, daß der geniale schöne Alexander in einem federumwallten Helme den Granikus überschritt und bei Arbela kämpfte, daß die Apostel predigten, die Märtyrer litten, die Dichter sangen, die Maler malten und die Ritter auf den Turnieren glänzten, nur deshalb allein, daß der französische, deutsche oder russische Bourgeois in seinem hässlichen und komischen Gewande auf den Ruinen von all dieser vergangenen Herrlichkeit ‚individuell‘ und ‚kollektiv‘ sich wohlbefinden möchte ?“96 Die blutigen Kriege der Renaissance waren begleitet von unübertroffenem kulturellem Glanz. Die völlige Amoral der machthungrigen Renaissance - Condottieri und Eroberer in Lateinamerika mit ihrer überbordenden, über wältigenden Vitalität spottete der Regeln, Normen und Meinungen der Menschen. Nichts Großes war je ohne den Gebrauch von Zwang und Gewalt erreicht worden. „Politik [ sei ] keine Moral.“97 Leontjew bewertete den Sozialismus höher als den Liberalismus. Ersterer repräsentierte ein organisiertes, diszipliniertes, gemeinschaftliches Streben nach höheren Zielen, wohingegen Letzteres nur ein Gifthauch war. Nicht, dass er irgendwelche Sympathien für die Ziele des Sozialismus hegte. Dafür war er zu sehr beeinflusst von de Maistres schauriger Vision des Universums und der Geschichte als etwas zutiefst Irrationalem. Die Geschichte war durch unerbittliche, widersprüchliche Zwänge hin - und hergerissen. Sie troff von Blut und stöhnte vor Leid. Unbeugsame Menschen wurden durch zwangsläufige Frustrationen und Enttäuschungen zur Verzweif lung getrieben und fortgerissen von mörderischen Psychosen und Todeswünschen. Im späten 19. Jahrhundert wurde es schwierig, den Anschein gegenseitiger Liebe und Vertrauens zwischen dem Zaren und seinem Volk aufrechtzuerhalten, der nur gelegentlich durch kleine Randgruppen ver westlichter Per verser gestört wird. Daher die offene Verherrlichung nackter Gewalt durch die Verteidiger der Autokratie. Da der unschuldige, aufrichtige religiöse Glaube durch den verzweifelten Glaubenswillen ersetzt wurde, nahm die Religion immer mehr den Charakter eines politischen Instruments in den Händen des Caesaro - Papismus an. Leontjew sprach von der Notwendigkeit eines „eisernen Handschuhs“ und wollte reaktionäre Taktiken als eine Kunst behandelt und ausgeübt sehen, so wie die Revolutionäre die Revolution als eine Kunst betrachteten. Pobedonoszew war intensiv mit Plänen für die bewusste Verdummung der Massen beschäftigt, indem er ihnen jegliche säkulare Bildung ver weigerte und die religiöse Indoktrinierung verstärkte. Das Regime war mit Aufgaben, Verantwortungen und Bedürfnissen konfrontiert, die niemals durch ein Einfrieren des Status quo gelöst werden konn96 97
Masaryk, Russland und Europa, Band 2, S. 218. Ebd.
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ten. Es benötigte Macht, moderne Methoden, Technologie, Industrie. Dem loyalen Adel fehlte es an Kompetenz und Erfahrung, um damit umzugehen. Wirtschaftlich war er im Niedergang begriffen, und bedeutende Teile waren bereits zu sehr von liberaler Ideologie beeinflusst, um vertrauenswürdig zu sein. Die durch moderne spontane oder von der Regierung initiierte Entwicklungen her vorgebrachten Eliten waren von Kriterien, Werten, Gewohnheiten, Interessen und Zielen inspiriert, die in völligem Gegensatz zum geheimnisvollen Nimbus der zaristischen Autokratie standen. Pobedonoszew hatte kein Vertrauen in den Adel, weil er den Geist dessen fürchtete, was Rousseau partikulare Interessen und Bestrebungen nannte. Er konnte daher sein Vertrauen nur auf tatkräftige und aus eigener Kraft aufgestiegene, aber loyale Menschen setzen, um dem Zaren zu dienen und das Volk unter Kontrolle zu halten.98 Eine solche Einstellung war dazu geeignet, gewissenlose Opportunisten und Abenteurer zu ermutigen. Die Oberschicht wurde dem Regime immer stärker entfremdet, gerade als die entwurzelten Massen der Industriearbeiter dabei waren, die demütige und bedingungslose Gewohnheit des Gehorsams der Mushiks zu verlieren. Die Identifizierung des Staates mit Kirche, Politik und Religion, die Angst vor abweichender Meinung und Nonkonformismus – all dies stärkte den Spruch : „ein Glaube, ein Zar, eine Nation“. Aber man konnte der Tatsache nicht entkommen, dass es zig Millionen Untertanen des Zaren gab, die Sekten anhingen oder Gläubige einer anderen Religion als der Griechisch - Orthodoxen Kirche waren, ganz zu schweigen von Unterschieden bezüglich ethnischer Ursprünge, Sprache, Kultur und Orientierungen. Katkow schrieb : „Rußland braucht einen einheitlichen Staat und eine starke russische Nationalität : Schaffen wir eine solche Nationalität auf der Basis einer allen Bewohnern gemeinsamen Sprache, eines gemeinsamen Glaubens und des slawischen Mir. Alles, was uns im Wege stehen wird, stürzen wir um.“99 Pobedonoszew predigte, dass der Staat nur einen Glauben als wahr erkennt, ausschließlich die [ orthodoxe ] Kirche unterstützt und befür wortet, während alle anderen Kirchen und Glaubensbekenntnisse als minder wertig angesehen werden.100 Begleiterscheinungen dieser von den einflussreichsten Koryphäen des Regimes propagierten Lehren waren die brutale Verfolgung religiöser Minderheiten, eine entschlossene Politik der erzwungenen Russifizierung, die systematische Unterdrückung solch hoch entwickelter und alter Nationalitäten wie der Polen und Finnen sowie die stetige Herabsetzung ihres besonderen Status und die Beschneidung ihrer Autonomie mit dem Ziel ihrer Entnationalisierung. 98 Vgl. Byrnes, Pobedonostsev on the Instruments of Russian Government, S. 121. 99 Masaryk, Russland und Europa, Band 2, S. 198. 100 Vgl. Byrnes, Pobedonostsev on the Instruments of Russian Government, S. 124 f.
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„Derjenige, der den orthodoxen Glauben verlässt“ – schrieb Pobedonoszew – „hört auf, ein Russe zu sein, nicht nur in seinen Gedanken und Handlungen, sondern auch in seinem Lebens - und Kleidungsstil. [...] Die Kirche und allein die Kirche hat uns erlaubt, ein Russe zu bleiben und unsere verstreute Stärke zu vereinen.“101 Mit ihrer Allgegenwart, ihrem hartnäckigen Nonkonformismus, ihrer geistigen Energie, ihrem tiefen Groll über ihren minder wertigen Status und die staatlich geförderten Pogrome sowie ihrer herausragenden Rolle in der revolutionären Bewegung erschienen die Juden als die unverdaulichste und gefährlichste Minderheit, als eine beständige Verleugnung aller Werte und Ziele der zaristischen Theokratie. Pobedonoszews Gegenmittel bestand darin, eine Situation zu schaffen, in der ein Drittel der jüdischen Bevölkerung aussterben, ein Drittel auswandern und das restliche Drittel konvertieren würde.102 Die misslichste Tatsache war, dass die Großrussen nur 43 Prozent der Bevölkerung ausmachten. Die anderen 57 Prozent umfassten etwa 80 ausländische Nationalitäten. Das Problem sollte nach dem Schock, den die Nationalitäten 1905 erfuhren, nachdem sie eine Stimme in der neu geformten Duma erhalten hatten, besonders akut werden, ungeachtet all der ihnen auferlegten Restriktionen und Schikanen. „Die Duma muss russisch im Geiste sein“ – war der offizielle Spruch – „andere Nationalitäten [...] dürfen nicht und werden nicht die Macht besitzen, um ein Schiedsrichter in rein russischen Fragen zu sein.“103 Den Grenzregionen waren durch die Reformen von 1861 keine Semstwo - Institutionen gewährt worden, und nach 1905 wurden sämtliche Möglichkeiten der Wahlkreisverschiebung genutzt, um ihre parlamentarische Repräsentation in der Duma zu verringern.104 Da nicht jede Art von Diskriminierung und Einschüchterung durch offiziellen Ukas verkündet werden konnte, wurde Zuflucht dazu genommen, nationalistisch - religiöse Raserei unter dem großrussischen Lumpenproletariat und Kleinbürgertum anzustacheln und sie zu Pogromen aufzuhetzen.105 Daher die verschiedenen patriotisch - religiösen Ligen, besonders der „Bund des russischen Volkes“105z, unterstützt vom Zaren und verschiedenen Großfürsten und geringeren Größen sowie die berüchtigten „Schwarzen Hundert“, oft angeführt von Priestern oder Fanatikern unter den Freiberuf lern und aus dem Staatshaushalt finanziert. Dem 101 102 103 104 105
Ebd., S. 124. Vgl. ebd., S. 126. Charques, The Twilight of Imperial Russia, S. 173. Vgl. ebd.; Florinsky, Russia, Band 2, S. 1202. Einen differenzierteren Blick liefert Rogger, Russian Ministers and the Jewish Question; ders., Jewish Policy of Late Tsarism. 105z A. d. Ü. : Der „Bund des russischen Volkes“ existierte von 1905–1917 und war eine der bedeutendsten Organisationen innerhalb der Bewegung der „Schwarzen Hundert“.
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„ehrenwerten“ Nationalismus der Mittelschichten wurde misstraut, da er zur Forderung nach Anteilnahme an der Gestaltung der Politik und schließlich nach bürgerlicher Kontrolle durch das Volk führen könnte. Gemäß dem Vorbild der preußischen Reaktionäre in den frühen Tagen des 19. Jahrhunderts, die der Meinung waren, „Nation klingt jakobinisch“, fürchtete Leontjew, das Prinzip der Nationalität könnte zum Keim der Weltrevolution werden. Sogar Slawophilismus roch für ihn nach Kosmopolitismus. Pobedonoszew war wegen der gefährlichen Implikationen für die innere Situation in Russland selbst nicht sehr begeistert von der Unterstützung, die den nationalen Befreiungsbewegungen der Slawen unter türkischer Herrschaft gewährt wurde. Alexander III., gezwungen, eine Allianz mit dem republikanischen Frankreich abzuschließen und barhäuptig zu den Klängen der Marseillaise stramm zu stehen, machte sich selbst schwere Vor würfe, dass er mit Völkern und nicht einzig und allein mit Fürsten verhandelte.106 Vom inneren Standpunkt aus gesehen, schien die koloniale Expansion in den Fernen Osten weit weniger gefährlich als das Eingreifen auf dem Balkan, vom Traum der Eroberung Konstantinopels selbstverständlich abgesehen. Die inneren politischen Bedürfnisse des Zarismus stellten neben den wirtschaftlichen Belastungen und dem finanziellen Bankrott des Staates die Entscheidungsträger Russlands vor folgende Alternativen : die Revolution durch einen externen Krieg, insbesondere durch ein militärisches Abenteuer im Fernen Osten aufzuhalten oder um jeden Preis den Krieg sowie die Ver wicklungen zu verhindern, die vor allem an den westlichen Grenzen mit Sicherheit aus ihm erwachsen würden. „Was wir brauchen, um Russland von einer Revolution zurückzuhalten, ist ein kleiner siegreicher Krieg“ – sagte der allmächtige Plehwe zu General Kuropatkin, dem designierten Oberbefehlshaber im Fernen Osten am Vorabend des Russisch - Japanischen Krieges.107 In seinem berühmten Memorandum an den Zaren vom Februar 1914 schrieb P. N. Durnowo, der als Innenminister unter Alexander III. und Nikolaus II. diente : „Wenn der Krieg siegreich endet, dann wird das Absterben der sozialistischen Bewegung letzten Endes keine Schwierigkeiten bieten [...]. Aber im Fall des Mißerfolges [...] wird eine soziale Revolution extremster Art bei uns unvermeidlich sein [...]. Zunächst wird man alle Mißerfolge der Regierung zuschreiben wollen. In den gesetzgebenden Institutionen wird ein grimmiger Kampf gegen sie geführt werden, als dessen Ergebnis revolutionäre Aktionen im Lande beginnen werden. Diese letzteren werden sogleich sozialistische Losungen vorbringen, die einzigen, mit denen man hoffen kann, breite Schichten der Bevölkerung in Gruppen zusammenzufassen, zuerst die schwarze 106 107
Charques, The Twilight of Imperial Russia, S. 47. Ebd., S. 87.
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Umverteilung und nach ihr die allgemeine Verteilung von allem Hab und Gut. Die besiegte Armee, die außerdem während des Krieges ihre zuverlässigsten Kerntruppen eingebüßt hat und zum großen Teil von der allgemeinen Landgier des Bauern erfaßt ist, wird zu demoralisiert sein, um als Bollwerk für Recht und Ordnung zu dienen. Die gesetzgebenden Institutionen und die in den Augen des Volkes der wirklichen Autorität ermangelnden Parteien der Intelligenzija werden nicht die Kraft haben, die tobenden Wellen des Volkes, die sie selbst zum Aufbrausen gebracht haben, abzuhalten, und Rußland wird in hoffnungslose Anarchie geschleudert werden, deren Ende man sich nicht einmal vorstellen kann.“108 Dies ist eine Prognose, die von Lenin hätte stammen können, natürlich im Geiste der Hoffnung statt des Gefühls der Furcht, das Durnowos unheilvolle Warnung durchdrang. Ein auf Geben und Nehmen beruhender Konstitutionalismus erwies sich in Russland als unmöglich. Es fehlte ihm die natürliche Basis einer großen, unabhängigen und selbstbewussten Mittelschicht. Die Intellektuellen waren zu wenige und teilweise zu radikalisiert, um als Ersatz zu dienen. Die Liberalen erwiesen sich als Generäle ohne Armee, als Redner ohne Handlungsinstrumente. Das Regime begriff, dass von dieser Seite keine echte Gefahr drohte. Der gefürchtete Gegner war die soziale Revolution, die sozialistische Bewegung und die bäuerlichen Massen. Durnowo schrieb in seinem Memorandum : „[ In] Rußland [ haben ] die Volksmassen zweifellos die Prinzipien eines unbewußten Sozialismus angenommen [...]. Trotz der oppositionellen Einstellung der russischen Gesellschaft [...] ist eine politische Revolution in Rußland unmöglich, und jede revolutionäre Bewegung wird unvermeidlich zu einer sozialistischen ausarten [...]. Der gemeine Mann, Bauer oder Arbeiter, sucht keine politischen Rechte [...], der Bauer träumt davon, daß ihm fremdes Land frei zugeteilt wird, der Arbeiter, daß ihm alles Kapital und der ganze Gewinn des Fabrikanten gegeben wird. [...] Die russische Opposition ist durchweg intellektuell, und darin liegt ihre Schwäche, da zwischen der Intelligenzija und dem Volk ein tiefer Abgrund gegenseitigen Mißverstehens und Mißtrauens besteht.“109 Schon 1884 sagte Durnowos Vorgänger im Innenministerium, Graf Dmitri Tolstoi, dem Grafen ( später Kanzler und Fürst ) Bülow : „Jeder Versuch, in Rußland westeuropäische Formen der Regierung einzuführen, ist zum Scheitern verurteilt. Wenn das Regime des Zaren [...] gestürzt wird, dann kommt an seiner Stelle der Kommunismus, der reine, offene Kommunismus des Herrn Karl Marx, der kürzlich in London gestorben ist und dessen Theorien ich mit Aufmerksamkeit und Interesse studiert habe.“110 108 109 110
Dan, Der Ursprung des Bolschewismus, S. 311. Ebd. Ebd.
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Die russischen Revolutionäre wie Lenin, die niemals irgendwelche Illusionen über die Natur der russischen Autokratie hatten und nicht den geringsten Gedanken an die Möglichkeit oder Erwünschtheit irgendeines Kompromisses verschwendeten, sahen sich bestätigt in ihrer verächtlichen Ablehnung des Liberalismus als einer Kraft, die ein führender Faktor in der Revolution oder ein zuverlässiger Helfer in der Konfrontation mit dem zaristischen Regime hätte sein können. Bezüglich der mar xistischen Doktrin von der Unvermeidlichkeit einer bürgerlich - demokratischen Phase vor dem Erreichen des Sozialismus war ein Umdenken erforderlich. Es gab jedoch auch, wie wir sehen werden, die ernüchternde Lektion, dass trotz aller Schläge, welche sie im revolutionären Sturm der frühen Jahre des 20. Jahrhunderts 1904–1905 hatten hinnehmen müssen, Armee und Bürokratie als Ganzes fest zum Zaren standen. Den Bauern gelang es nicht, sich en masse zu erheben, und das Industrieproletariat erwies sich als zu schwach, um dem Ruf der Sozialisten zu folgen und die Revolution zu einem erfolgreichen Ende zu bringen.
5. 1905 – der Vorhang geht auf Die erste Hälfte der Regentschaft Nikolaus’ II. war eine Zeit des Maßnehmens für die verschiedenen politischen Kräfte in Russland. Wieder um diente die Lektion dazu, die Protagonisten in ihren jeweiligen Überzeugungen zu bestätigen. Der scheinbar eiserne Despotismus Alexanders III. hatte seine Hohlheit offenbart, als er sich als unfähig erwies, mit der schrecklichen Hungersnot fertig zu werden, die 1891 zwanzig der fruchtbarsten südlichen Provinzen heimsuchte und im Jahr darauf von einer weiteren gefolgt wurde. Die „Gesellschaft“, an erster Stelle die Semstwos, mobilisierte die Hilfe für die Leidenden. Die Autoritäten versuchten zunächst, die Nachrichten von der Katastrophe aus der Presse herauszuhalten. Als dies unmöglich wurde, bemühten sie sich, Informationen über die freiwillige Hilfe aus der Bürgerschaft zu unterdrücken.111 Im Frühjahr 1896 kam der Schock des bis dahin größten industriellen Streiks in Russland. In St. Petersburg legten 40 000 Arbeiter, hauptsächlich aus der Textilindustrie, die Arbeit aus wirtschaftlichen Gründen nieder, allerdings nicht ohne durch die Mar xistische Union im Kampf für die Befreiung der Arbeiterklasse, besonders ihre zwei jungen Führer Uljanow ( Lenin ) und Martow, dazu aufgefordert und angeleitet worden zu sein.112 Der Streik überschnitt 111 112
Vgl. Charques, The Twilight of Imperial Russia, S. 32; Florinsky, Russia, Band 2, S. 1148. Vgl. Charques, The Twilight of Imperial Russia, S. 76 f.; Wolfe, Lenin, Trotzkij, Stalin, S. 164–166; Getzler, Martov, Kapitel 2 : Revolutionary Apprenticeship, S. 21–44.
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sich fast mit der unheilvollen Katastrophe von Chodynka, die sich während der Feierlichkeiten nach der Krönung des neuen Zaren infolge der Fahrlässigkeit der Regierung ereignete und dreizehnhundert Opfer unter den Menschenmassen forderte, die sich zur Entgegennahme von Geschenken versammelt hatten.113 Die Missernte von 1901, der 1897 und 1898 ähnlich schlechte Ernten vorausgegangen waren, führte zum weiträumigen Ausbruch bäuerlicher Unruhen – Plünderung, Brandstiftung und gelegentlich Mord –, die durch wahllose Erschießungen und Massenauspeitschungen unterdrückt wurden. Nach einer langen Zeit der Unterdrückung gingen die russischen Studenten 1895 in Moskau auf die Straßen. 1899 begann in St. Petersburg ein Studentenstreik, der sich auf alle russischen Universitäten ausdehnte und dazu führte, dass die höheren Bildungseinrichtungen für ein halbes Jahr geschlossen blieben, woraufhin die Behörden rechtswidrig große Teile der Studenten zur Armee einzogen.114 Das Jahr 1901 brachte die Wiederbelebung des Narodnaja - Wolja - Terrors durch die „Kampforganisation“ der Sozialistischen Revolutionären Partei, ausgelöst durch den altehr würdigen Veteranen und Gründer der Narodnaja Wolja, den jüdischen grand bourgeois und Ingenieur Mark Natanson.115 Die Ermordung des Bildungsministers Bogolepow durch den Studenten Karpowitsch leitete eine Terrorkampagne ein, die hunderte Opfer unter den höchsten Würdenträgern des Staates ( Großfürsten, führende Minister wie Plehwe, Sipjagin, Stolypin und andere, Provinzgouverneure, Generäle und Polizeibeamte ) forderte. Diese Terrorkampagne der Sozialistischen Revolutionäre wurde von zwei jüdischen Anführern gelenkt, dem legendären Gerschuni und dem dämonischen Doppelagenten Jewno Asef.116 Im Jahre 1903 paralysierte der Generalstreik im südlichen Russland die russische Schwerindustrie. Ihm waren blutige Zusammenstöße zwischen streikenden Arbeitern und Regierungstruppen im Ural vorausgegangen. Es war kein geringer Schock für die Regierung, dass die Streiks im Süden von den regierungsgestützten Gewerkschaften unter der Führung Subatows begonnen wurden, dessen Idee es gewesen war, solche Gewerkschaften zu gründen, um die Arbeiter dem Sozialismus zu entwöhnen. Dies diente den Ultras in der Regierung als zusätzlicher Beweis dafür, wie gefährlich es war, Initiative von unten welcher Art auch immer zuzulassen, selbst wenn sie von offizieller Seite angeregt worden war.117 113 114 115 116 117
Vgl. Charques, The Twilight of Imperial Russia, S. 54 f. Vgl. ebd., S. 67 f. Vgl. Dan, Der Ursprung des Bolschewismus, S. 214 f.; Chamberlin, Die Russische Revolution, Band 1, S. 32–37. Vgl. Charques, The Twilight of Imperial Russia, S. 70 f.; Chamberlin, Die Russische Revolution, Band 1, S. 37, 40. Vgl. Charques, The Twilight of Imperial Russia, S. 79–82; Keep, The Rise of Social Democracy, S. 102–105.
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Die Antwort der Anhänger der Autokratie bestand in einer Welle anti - jüdischer Pogrome, deren Höhepunkt das grausame Kischinew - Massaker war, und zunehmenden Schikanen gegen die wieder auf lebenden Initiativen in Semstwo- Kreisen. Plehwe ging so weit, statistische Erhebungen zu untersagen, da regelmäßiger Kontakt mit Bauern und Arbeitern übel gesinnten Mitgliedern des „dritten Elements“ allzu einfache Möglichkeiten zu revolutionärer Agitation böten.118 Da die Konser vativen unter den Semstwo - Mitgliedern inzwischen zu der Schlussfolgerung gelangt waren, dass man der zaristischen Bürokratie die Regierung des Landes nicht ohne eine gewisse Teilhabe und Kontrolle durch die nationale Elite überlassen könne, gerieten die Behörden in Angst vor den Konsequenzen, die es haben würde, wenn den Semstwos eine Teilhabe an der Ver waltung zugestanden würde. Zusätzlich zu der Weigerung, die Organisation der Nahrungsversorgung zu gestatten, untersagte die Regierung allen regionalen und selbstverständlich auch landesweiten Semstwos Versammlungen. Witte erlaubte staatlich unterstützte Provinzkomitees zu den Problemen der Landwirtschaft unter dem Vorsitz von Gouverneuren ( und in den Bezirken der Vorsteher des Adels ) nur, um andere Vorsitzende von Semstwo - Vorständen oder auserlesene Vorstandsmitglieder einzuladen und sie davor zu warnen, ihre Befugnisse zu überschreiten und zu allgemeiner Kritik an der Regierung überzugehen. Dies hielt die Komitees nicht von innovativen und weitreichenden Vorschlägen zum Landproblem ab, wie zum Beispiel die Abschaffung des gesonderten bäuerlichen Standes und damit der administrativen Vormundschaft über die Bauernschaft, die Auf lösung der Dorfkommune, eine Steuerreform sowie – der weitestgehende Vorschlag – die zwangsweise Übergabe von Staats - und klösterlichem Land samt der dazu gehörenden Anhängsel an die Bauern. Als Antwort darauf formulierte das Manifest des Zaren vom Februar 1903 das Prinzip der Unantastbarkeit der Kommune neu, versprach aber Hilfe für Mitglieder, die diese verlassen wollten.119 Schon bald danach setzte die Regierung der gemeinschaftlichen Verantwortlichkeit der Mitglieder der Kommunen für Steuerzahlungen und andere Verpflichtungen ein Ende. Das Wort „Verfassung“ blieb verboten, und keinerlei neue Form der Zusammenarbeit mit den Semstwos wurde auch nur angedeutet. Zu dieser Zeit hatten die russischen Liberalen bereits mit illegalen, wenn nicht gar revolutionären Aktivitäten im Untergrund begonnen.120 Nach einer Reihe privater Semstwo - Treffen wurde auf einer im Ausland, in Stuttgart, abge118 119 120
Vgl. Charques, The Twilight of Imperial Russia, S. 84 f. Vgl. ebd., S. 75. Vgl. Florinsky, Russia, Band 2, S. 1168; Charques, The Twilight of Imperial Russia, S. 84–87.
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haltenen Konferenz im Juni 1902 ein Parteikern und eine Zeitschrift („Oswoboshdenije“ – Befreiung ) unter der gemeinschaftlichen Chefredaktion des berühmten Historikers Miljukow und des ehemaligen mar xistischen Ökonomen Peter Struve gegründet. Ihre Ziele waren die Abschaffung der Autokratie und die Errichtung eines rechtsstaatlichen Regimes, wobei keine genauen Wege zu ihrer Umsetzung aufgezeigt wurden.121 Nach den vorbereitenden Konferenzen in St. Petersburg und der Schweiz formierte sich im Rahmen einer geheimen Konferenz verschiedener Gruppen der Liberalen im Januar 1904 ein Dachverband unter dem Namen „Union der Befreiung“. Aus patriotischen Gründen wurde beschlossen, alle Aktivitäten bis in die Zeit nach dem russischjapanischen Krieg zu verschieben. Angesichts der frühen Katastrophen an der Front im Fernen Osten gingen die liberalen Elemente jedoch weiter. Sie übernahmen eigenständig oder in Zusammenarbeit mit den Autoritäten – trotz Plehwes Opposition – verschiedene dringliche Kriegsaufgaben wie zum Bespiel die Pflege von Ver wundeten und Kranken sowie die Fürsorge für Familien gefallener Soldaten. Die Ermordung Plehwes am 15. Juli 1904, die fortwährenden Schicksalsschläge an der Front, die Ver wirrung an der Spitze, die kläglichen Reformversuche von Plehwes unscheinbarem Nachfolger, Fürst Swjatopolk - Mirski ( wie die Abschaffung der Auspeitschung der Bauern sowie die Gewährung von Begnadigungen ), ermutigten die Opposition dazu, das verdeckte Spiel aufzugeben und ihr wahres Gesicht zu zeigen. Dies taten sie vom 30. September bis zum 9. Oktober auf einer Konferenz in Paris, an der bis auf die Bolschewiki und Menschewiki, die sie boykottierten, alle oppositionellen Gruppen einschließlich der Sozialrevolutionäre teilnahmen. Sie verabschiedeten die bedeutsame Resolution für „ein freies demokratisches System auf der Grundlage eines universellen Wahlrechts“ und erkannten auch die Rechte der russischen Nationalitäten auf Selbstbestimmung an.122 Auf der Konferenz begann sich die künftige Spaltung der Liberalen in die doktrinären westlich orientierten Radikalen unter der Führung Miljukows – der niemals die hypnotische Wirkung von Erinnerungen an die Französische und die Englische Revolution abzuschütteln vermochte – und die konser vativen Gradualisten unter Maklakow abzuzeichnen, wobei Letztere den vollständigen Bruch mit den russischen Traditionen und die revolutionäre Dynamik der abstrakten radikalen Prinzipien fürchteten.123 Dem französischen Modell von vor 1848 folgend, beschloss die Opposition, ihrer Unzufriedenheit und dem
121
122 123
Vgl. Charques, The Twilight of Imperial Russia, S. 85; Keep, The Rise of Social Democracy, S. 73; Galai, The Liberation Movement in Russia, bes. Part 2 : The Formation of the Liberation Movement, S. 109–193. Vgl. Florinsky, Russia, Band 2, S. 1169 f. Vgl. Karpovich, The Two Types of Russian Liberalism.
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dringenden Verlangen nach Reformen öffentlich durch eine Reihe landesweiter Bankette Ausdruck zu verleihen. Ohne Erlaubnis seitens der Regierung versammelten sich die Führer der Semstwos am 6. November zu einer Konferenz in Moskau unter dem Vorsitz des höchst angesehenen Schipow, dem die Regierung früher einige Male den Vorsitz des Moskauer Semstwos untersagt hatte. Die auf der Konferenz angenommenen elf Thesen umfassten einen Katalog bürgerlicher Freiheiten, die Demokratisierung der Semstwos und Stadt Dumas, die Aufhebung der Notstandsgesetze, eine Amnestie und, am aller wichtigsten, die Einberufung einer repräsentativ - legislativen Versammlung (ein Kompromiss zwischen einer beratenden und einer verfassunggebenden Versammlung ). Dies war eine revolutionäre Programmatik, obwohl sie nicht so weit ging, eine verfassunggebende Versammlung zu fordern, die den Ruf nach einer revolutionären – selbst wenn sie friedlich blieb – Veränderung des Regimes durch eine souveräne Volksversammlung beinhaltet hätte.124 Obwohl er zutiefst empört war, erließ der Zar als Antwort am 12. Dezember einen Ukas über „Maßnahmen zur Verbesserung der Staatsordnung“. Das ursprüngliche Konzept beinhaltete ein Versprechen, von den Semstwos gewählte Mitglieder zum Staatsrat einzuladen. Im letzten Moment wurde der Zar von Pobedonoszew überredet, das Versprechen zu streichen und es durch eine Mahnung an die Adresse der Semstwos und Stadt - Dumas zu ersetzen, von Versuchen der Verletzung der Grundgesetze Russlands abzusehen.125 Kaum hatte sich der Schock über diese Abfuhr des schwankenden Regimes gegenüber einer von moderaten Kräften ausgesprochenen allgemein verbreiteten Forderung gelegt, wurden das Regime und ganz Russland von einem wahren Erdbeben erschüttert – dem Blutsonntag : den Schüssen vor dem Winterpalast auf eine friedliche Massendemonstration, deren Teilnehmer unter der Führung des Priesters Gapon heilige Bilder und Porträts des Zaren trugen.126 Inmitten eines Sturms aus Industriestreiks, Studentenunruhen, Morden und öffentlichem Aufruhr begann das Zarenregime sichtbar zu wanken. Ein von Pobedonoszew entworfenes Manifest forderte alle vernünftigen Kreise auf, sich um den Zaren zu sammeln, um die alten Fundamentalgesetze zu verteidigen; ein weiteres erkannte das Recht einer jeden Person an, Beschwerden einzureichen und dem Zaren Ratschläge zu erteilen, und ermutigte solche Stellungnahmen; noch eines, das wichtigste : das Bulygin - Reskript, verkündete die Unveränderlichkeit der autokratischen Prinzipien und die Entscheidung des Zaren, „gewählte Vertretungen des Volkes an den einleitenden Diskussionen 124 125 126
Vgl. Florinsky, Russia, Band 2, S. 1169–1171; Charques, The Twilight of Imperial Russia, S. 108 f. Vgl. Charques, The Twilight of Imperial Russia, S. 109 f. Vgl. Chamberlin, Die Russische Revolution, Band 1, S. 44–46.
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der Legislative teilnehmen“ zu lassen.126z Dies lief auf eine von oben gegebene Verfassung und die Einrichtung einer beratenden Versammlung hinaus.127 Das war ein Durchbruch. Das grundlegende Problem der Verortung der souveränen Macht blieb jedoch ungelöst. Vielmehr war der Zar weiterhin dessen Ursache. Die Bühne schien – nicht unähnlich den frühen Tagen der 1789er Revolution – bereitet für die entscheidende Schlacht zwischen Freiheit und Absolutismus. Der Befreiungsbund und die ins Leben gerufenen Gewerkschaften reichten sich die Hände, um eine Gewerkschaft der Gewerkschaften zu bilden, unter der Führerschaft von Miljukow und mit einem klar radikaldemokratischen Programm. Sogar der Semstwo - Kongress erhob am 27. Februar die Forderung nach einer gesetzgebenden Versammlung, die auf der Grundlage des allgemeinen Wahlrechts gewählt würde. Am 6. Juni empfing der Zar eine Semstwo - Delegation, die auf die Notwendigkeit einer gesetzgebenden Versammlung pochte. Als Erwiderung erklärte der Zar seine Bereitschaft, eine repräsentative Versammlung einzuberufen, hielt aber an der Heiligkeit der historischen Prinzipien des russischen Staates fest, was selbstverständlich Autokratie bedeutete.128 Wie konnte beides in Einklang gebracht werden ? Die Klärung erfolgte Ende Juli am Tag nach einer Reihe von Beratungen der Prinzen von Geblüt und der Vorsteher der Ver waltung am Peterhof, die erneut die Unveränderlichkeit des Autokratieprinzips bestätigten und die Modalitäten für die Wahl der beratenden Versammlung festlegten. Diese erwiesen sich als ein Spottbild demokratischer Wahlen. Das vorgeschlagene System war eindeutig dazu bestimmt, die Nation zu spalten beziehungsweise ihre Entwicklung zu behindern – so durch die Einrichtung getrennter Stände, durch indirekte Wahlen zu getrennten Wahlmännergremien, mit Ausnahme der Landbesitzerklasse, die ein direktes Wahlrecht erhielt. Die städtischen Arbeiter und gebildeten Klassen wurden praktisch entrechtet, die Einwohner der Städte mussten einen großen Besitz nachweisen, während den als loyal geltenden Bauern ein beträchtlicher Teil der Sitze in der Versammlung gesichert wurde. Schließlich erhielt die Versammlung nur das Recht eingeräumt, Gesetzesentwürfe zu diskutieren und gegenüber dem Zaren Stellungnahmen abzugeben.129 Neben der nationalen Schande der Odyssee der russischen Flotte am Kap der Guten Hoffnung, die mit den grotesken Schüssen in britischen Gewässern 126z A. d. Ü. : Das Bulygin - Reskript wurde von Alexander Bulygin (1851–1919) am 18. Februar 1905 veröffentlicht. Es versprach die Schaffung einer konsultativen Versammlung, religiöse Toleranz, Redefreiheit und eine Verringerung der bäuerlichen Tilgungszahlungen. Zum Zitat vgl. Charques, The Twilight of Imperial Russia, S. 114. 127 Vgl. Charques, The Twilight of Imperial Russia, S. 114. 128 Vgl. ebd., S. 118. 129 Vgl. ebd., S. 122.
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auf schottische, für japanische gehaltene, Fischer begonnen hatte und mit dem Untergang nahezu der ganzen Flotte bei Tschushima endete, sowie den Enthüllungen über kriminelle Korruption in den höchsten Rängen der zivilen und militärischen Instanzen, brachte dieser kaiserliche Affront das Volk, und zwar diesmal einschließlich der Bauern, in Aktion. Die neu errungene Autonomie der Universitäten und die Entstehung eines Netzwerkes von Arbeitersowjets – mit dem Sowjet der Hauptstadt an der Spitze, geführt vom jungen Trotzki und mit Par vus - Helphand als dem entscheidenden Mann im Hintergrund130 – sowie die Errichtung einer Bauerngewerkschaft unter Victor Tschernow als Spiritus Rector öffneten alle Schleusen.131 Die Streikbewegung entwickelte sich schnell zu einem landesweiten Generalstreik, der die gesamte Wirtschaft lähmte, während die Bauernunruhen das Gespenst einer allgemeinen Jacquerie heraufbeschworen.132 Die Idee einer Militärdiktatur unter dem Großherzog Nikolai Nikolajewitsch, dem Onkel des Zaren, wurde angeblich fallen gelassen, als der Kandidat einen Revolver zog und mit Selbstmord drohte.133 Das war der Hintergrund des berühmten Zaren - Manifestes vom Oktober 1905. Das Manifest sah aus wie eine Verfassung.134 Es gewährte sämtliche zivilen und demokratischen Freiheiten. Es versprach, das Wahlrecht auf alle Klassen auszudehnen, denen es im Bulygin - Reskript vorenthalten worden war. Statt die Unantastbarkeit des Autokratieprinzips zu wiederholen, statuierte es „das unveränderliche Prinzip, dass kein Gesetz in Kraft tritt ohne die Zustimmung der Staats - Duma, welche die von der Krone ernannten Autoritäten kontrolliert“.135 Die entscheidende Frage war die Zuverlässigkeit des Zaren. Der Brief, den er an seine Mutter schrieb und in welchem er seine Scham und Demütigung über das, was er getan hatte, zum Ausdruck brachte, ließ keinen Zweifel daran, dass davon keine Rede sein konnte.136 Das vermuteten nicht nur die radikalen Revolutionäre, sondern auch Miljukow, der, als sei er ein Echo Mirabeaus, behauptete, es habe sich nichts geändert und der Kampf gehe weiter.137 Maklakow wollte glauben, dass die neuen Zugeständnisse, wenn man sie erst einmal ohne gewaltsame Eingriffe durch revolutionäre Methoden zur Wirkung kommen ließe, eine Eigendynamik entwickeln könnten, die zu einem konser vativen Typ von Konstitutionalismus führen würde. Doch es sollte nicht sein. 130 131 132 133 134 135 136 137
Vgl. Florinsky, Russia, Band 2, S. 1176–1178. Vgl. ebd., S. 1173–1176; Charques, The Twilight of Imperial Russia, S. 137 f. Vgl. Florinsky, Russia, Band 2, S. 1176 f. Vgl. Charques, The Twilight of Imperial Russia, S. 128. Vgl. ebd., S. 128 f. Ebd., S. 129. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 131.
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Die Schlacht der Prinzipien sollte als ein teilweise bewaffneter Kampf um die Macht, verkompliziert noch durch den aufflammenden Klassenkonflikt, ausgefochten werden. Als Hunger den fortgesetzten Generalstreik zum Erliegen brachte, veröffentlichte der Petersburger Sowjet eine Resolution für den Achtstundentag ( anstelle des 1896 eingeführten 11,5 - Stunden - Arbeitstages ). Die Arbeitgeber, die zum größten Teil am Kampf für eine Verfassung teilnahmen und die streikenden Arbeiter sogar finanziell unterstützten, antworteten jetzt mit einer allgemeinen Aussperrung. Der Streik kam zu einem Ende.138 Die Behörden verhafteten den Anführer, den Vorsitzenden des Petersburger Sowjets Chrustalow - Nosar. Seine Nachfolger, ein Triumvirat mit Trotzki an der Spitze, erließen am 2. Dezember einen Aufruf an die Bevölkerung, die Steuerzahlung zu ver weigern und Bankeinlagen zurückzuziehen. Ein zweiter, von den Sowjets verkündeter Streik verlief nach drei Tagen im Sande. Mit einem guten Vor wand ausgestattet – dem staatsfeindlichen, illegalen Manifest des Sowjets – und nicht länger durch den Streik zurückgehalten, fasste die Regierung Mut und verhaftete den ganzen Sowjet.139 In ähnlicher Weise wurde der Beschluss des Kongresses der Bauerngewerkschaft über die gewaltsame Beschlagnahmung großer Ländereien und die Einberufung einer konstituierenden Versammlung mit der Verhaftung der gesamten Führungsriege beantwortet.140 Meutereien flackerten auf, in Kronstadt und bei der Baltischen Flotte, in Odessa („Potemkin“) und Sewastopol ( das Kriegsschiff Ochakow mit Kapitänleutnant Schmidt ), aber die loyalen Regierungstruppen unterdrückten sie ohne Schwierigkeiten.141 Währenddessen standen Polen und Finnland in Flammen, da die Missstände dort, wie das Nationalitätenproblem im Allgemeinen, im Zaren - Manifest ignoriert wurden. Das Moskauer Proletariat erhob sich zu einer Rebellion, die nach wenigen Tagen niedergeschlagen wurde. Durch die Ultras in der Umgebung des Zaren angespornt und von den Unterstützungsversprechen des Zaren ermutigt, ging der Pöbel des „Bundes des russischen Volkes“ und der „Schwarzen Hundert“ unter Aufwieglern wie Dubrowin und Purischkewitsch auf die Straßen, um Mutter Russland gegen die jüdische Vorherrschaft, verräterische Rebellen und die ausländischen Nationen zu verteidigen, die sich alle verbündet hätten, um den Vater des russischen Volkes zu ermorden und das Russische Reich zu zerstören und zu zerreißen.142 Der neue, alte Innenminister,
138 139 140 141 142
Vgl. ebd., S. 134. Vgl. ebd., S. 135 f. Vgl. Florinsky, Russia, Band 2, S. 1181. Vgl. ebd., S. 1182. Vgl. Florinsky, Russia, Band 2, S. 1175 f.; Charques, The Twilight of Imperial Russia, S. 133.
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Durnowo, fand die Kraft, um 45 000 revolutionäre Agitatoren zu deportieren.143 Während mit Finnland moderat umgegangen wurde, lag die Hauptlast des Regierungsterrors auf Polen. Eine Reihe neuer Zaren - Erlasse ver wirrte all jene, die ihr Vertrauen auf einen Sinneswandel des Zaren setzten. Das Wahlgesetz gewährte den Landbesitzern 31 Prozent der Sitze in der kommenden Duma, den Bauern 42 Prozent und den städtischen Wählern 27 Prozent. Der Staatsrat wurde in ein Oberhaus umgewandelt, in dem die eine Hälfte der Mitglieder von der Krone und die andere Hälfte von den Semstwos, dem Adel, der Kirche, den wirtschaftlichen und industriellen Interessenvertretern, den Universitäten und der Akademie der Wissenschaften ernannt wurde. Den zwei Häusern wurde die gleiche legislative Macht übertragen. Alle Gesetzesanträge wurden uneingeschränkt der Zustimmung des Zaren unter worfen. Die Budgets für Armee und Marine, Gericht und Staatskredite waren als Zaren - Vorrecht ausgenommen. Versammlungs - und Vereinsrecht wurden unter Polizeiaufsicht gestellt.144 Die krönende Errungenschaft stellte der Ukas vom 23. April 1906 über die neuen Grundgesetze dar, der verkündete : „Dem Imperator aller Russen gehört die höchste autokratische Macht. Unter werfung unter seine Macht, nicht nur aus Angst, sondern als eine Tatsache des Gewissens, ist durch Gott selbst angeordnet.“145 Miljukow, der früher darauf beharrt hatte, dass das Oktobermanifest als das Versprechen einer verfassunggebenden Versammlung verstanden werden sollte, nannte die neuen legislativen Erlasse „eine Verschwörung gegen das Volk“.146 Er ver wies auf die Tatsache, dass der Zar all seine alten Vorrechte behielt : Krieg zu führen und Frieden zu schließen, als die höchste Autorität der orthodoxen Kirche zu fungieren, willkürlich die Duma einzuberufen und aufzulösen, Minister zu ernennen und abzusetzen. Selbst ein von zwei Dritteln des Hauses unterstütztes Misstrauensvotum war von der Genehmigung des Zaren abhängig. Der Duma wurde keinerlei Möglichkeit eingeräumt, diese Grundgesetze zu ändern.147 Und dennoch fanden sich in der ersten Duma überhaupt keine Unterstützer der Regierung, es sei denn, wir zählen als eventuelle Unterstützer die konser vativ - liberalen Oktobristen mit ihren zwölf Sitzen, die sich von den Konstitutionellen Demokraten ( Kadetten ), die 180 Sitze bekamen, abgespalten hatten. Die 73 Tage, in denen die erste Duma existieren durfte, waren mit Pro-
143 144 145 146 147
Vgl. Charques, The Twilight of Imperial Russia, S. 142. Vgl. Florinsky, Russia, Band 2, S. 1186 f.; Charques, The Twilight of Imperial Russia, S. 144 f. Charques, The Twilight of Imperial Russia, S. 148. Ebd., S. 149. Florinsky, Russia, Band 2, S. 1190–1192.
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testen gegen die Ver waltung ausgefüllt. Alle in der Adresse der Duma an den Thron formulierten Forderungen wurden als unzulässig abgelehnt, unter anderem die einer gegenüber der Duma verantwortlichen Regierung, eines allgemeinen und direkten Wahlrechtes, einer Abschaffung der Notstandsgesetze, der Aufhebung der Todesstrafe und nicht zuletzt jene der Beschlagnahmung großer privater Ländereien.148 An diesem letzten Punkt scheiterte die erste Duma. Die Regierung erklärte, dass „das Prinzip der Unveräußerlichkeit und Unantastbarkeit des privaten Eigentums das grundsätzliche Recht der Regierung überall auf der Welt ist“.149 Weiterhin verkündete die Regierung, dass sie mit der Ausarbeitung eines Entwurfs für eine Agrarreform befasst sei. Die Duma appellierte an die Nation, auf ein Gesetzeswerk zu warten, das von den nationalen Repräsentanten ausgearbeitet werden sollte. Dies lieferte dem Herrscher einen Vor wand, die Duma als Strafe für illegale Handlungen aufzulösen. An einem Sonntag umstellten Truppen den Taurischen Palast, schlossen das Gebäude und schlugen die Bekanntgabe der Auf lösung an. Wieder Mirabeau nachahmend, versammelte Miljukow die Mitglieder der Duma in Vyborg ( Finnland ). Dort warf die Rumpfversammlung dem Zaren den Fehdehandschuh hin, indem sie die Bevölkerung aufrief, keine Steuern zu zahlen, Bankeinlagen zurückzuziehen und die Einberufung zur Armee zu ver weigern. Die Sozialdemokraten riefen ihrerseits zum Generalstreik auf. Auf beides erfolgte keine Reaktion.150 Stattdessen kam es zu einer erheblichen Steigerung von Terror und Gegenterror. Ersterer forderte 1 600 Opfer im Jahr 1906 und 2 500 im Jahr 1907, ohne die Epidemie politischer „Zwangsenteignungen“ von Banken zu zählen. Zwischen September 1906 und April 1907 verurteilten die Militärgerichte ( ohne Rechtsmittel und mit der Befugnis, Urteile unmittelbar zu vollstrecken ) 683 Menschen zum Tode.151 Im Gegensatz zu den Fundamentalgesetzen und ohne dass die Regierung einen Termin für neue Wahlen festgesetzt hätte, setzte Stolypin währenddessen seine Agrarreformen fort, die, wie wir wissen, zu einer Veränderung der Besitzverhältnisse in Russland führen sollten : „agrarischer Bonapartismus“ nannte es Lenin.151z Die zweite Duma, in der die Kadetten mit weniger als der Hälfte ihrer vorherigen Mitglieder vertreten waren, zeigte markante Polarisierungen. Die sozialistischen Parteien entschieden sich, sie nicht zu boykottieren, und erhielten 65 Sitze, während die extrem nationalistische, antisemitische Rechte eine erhebliche Repräsentanz erhielt. Die zweite Duma
148 149 150 151 151z
Vgl. Charques, The Twilight of Imperial Russia, S. 151 f., 154 f. Ebd., S. 154. Vgl. ebd., S. 158 f. Vgl. ebd., S. 161–163. Vgl. ebd., S. 166.
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musste ihr Dasein nach einigen hundert Tagen vorzeitig aufgeben. Sie weigerte sich, die parlamentarische Immunität der sozialistischen Abgeordneten aufzuheben, die aufgrund erfundener Beweise einer Verschwörung zur Ermordung des Zaren und der Anstiftung einer Meuterei in der Armee angeklagt waren.152 Inmitten von Massendemonstrationen und einer Flut von Petitionen an den Zaren seitens der „Schwarzen Hundert“ und anderer patriotischer Gremien, begleitet von Pogromen und anderen Gewaltakten, erließ die Regierung ein neues Wahlgesetz, das nichts als ein Staatsstreich war. Die Repräsentation der Landbesitzer wurde von 31 auf 50 Prozent erhöht, die der Bauern ( die nicht die erwartete Loyalität gezeigt hatten ) von 42 auf 22,5 Prozent reduziert, die der städtischen Arbeiter von 4 auf 2 Prozent gesenkt und die der Nationalitäten, besonders der Polen und der städtischen Wähler, am drastischsten gekürzt.153 Die dritte nach diesem Wahlrecht gewählte Duma überlebte die gesamte Amtsperiode, ohne der Regierung viel Ärger zu bescheren. In den Augen der Linken war diese Entwicklung eine Konterrevolution. Die Zurschaustellung des Konstitutionalismus hatte anscheinend ein Ende gefunden, da sie nicht länger als notwendig erschien.154
6. Lenin – Spalter und Revolutionsstratege Während der Jahre der mühsamen Kämpfe zwischen den sozialistischen Fraktionen, der revolutionären Unruhe und der Misserfolge und Enttäuschungen, die nach 1905 in eine Periode der Abtrünnigkeit vom Liberalismus ( im Falle Struves ) beziehungsweise der religiösen Mystik mit Berdjajew, Bulgakow und anderen mündete, nach Jahren einer müden Akzeptanz sowohl der Einschränkungen als auch der vom reformierten Zarismus angebotenen bescheidenen Möglichkeiten wurde Lenin von seinem unerschütterlichen Glauben an die historische Dialektik und an das Schicksal des Schiffs der Geschichte aufrecht gehalten – das revolutionäre Industrieproletariat, das von seiner eigenen Partei geführt wird. Er war weder vom Verhalten der Liberalen überrascht noch von den Handlungen der Autokratie schockiert. Ebenso wenig wurde sein Glaube an den endgültigen Sieg der russischen Revolution je erschüttert, weil er sicher war, dass die historische Unvermeidlichkeit, der Begleiter des wirtschaftlichen Determinismus, auf seiner Seite war, ungeachtet der momentanen Ver wirrungen auf politischer Ebene. Der unumkehrbare Fortschritt der Industrialisierung in Russland würde sowohl Kleinlandwirtschaft als auch 152 153 154
Vgl. ebd., S. 168–172. Vgl. Florinsky, Russia, Band 2, S. 1197–1199. Vgl. ebd., S. 1199–1201.
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Kleinindustrie hinwegfegen, welche die Basis und die Wählerschaft des Populismus und Liberalismus bildeten, mit ihren Illusionen von Individualrechten, Klassenzusammenarbeit, nationaler Einheit, nationalem Konsens, ewigen und universellen Werten, und mit ihnen die Unschlüssigkeit, wenn es zur Konfrontation und zur Entscheidung käme. Der Kapitalismus brachte eine stetig wachsende Zahl klassenbewusster, bestens organisierter Industriearbeiter mit sich. Sie waren dazu bestimmt, die Welt des Sozialismus zu gestalten. Und auf dem Weg zum endgültigen Ziel waren sie auch die einzigen wahren Kämpfer für die Demokratie. Die städtische Arbeiterklasse war wahrlich revolutionär, da sie eine Klasse entwurzelter Individuen darstellte, die weder an bestehende Institutionen gebunden noch irgendwelchen Interessengruppen verpflichtet war. Sie war wahrlich radikal, weil ungeschützt und unbehindert durch Tradition, Gebräuche, Präzedenzfälle, Gewohnheiten und Tabus. In ihrem Kampf für Rechte, bessere Bedingungen und Maßnahmen gegen die Ausbeutung musste sie gegen despotischen Autoritarismus, hierarchische Vorherrschaft und Willkür kämpfen, mit anderen Worten : für eine revolutionäre, demokratische Freiheit. Dies machte sie zur Avantgarde der Kämpfer für die Demokratie, zum einzigen konsequenten Bannerträger der Befreiung.155 Aber ihre wahre Situation – entstanden durch starke industrielle Konzentration – machte sie auch zu einer Kraft, welche die soziale Revolution im Gefolge der bürgerlich - liberalen bewirken musste. Anders als die verstreuten Kleinproduzenten auf dem Land, im Handwerk und in der Kleinindustrie konnten die Arbeiter leicht durch den richtigen Mentor darin unterrichtet werden, über den Tellerrand zu schauen und die Funktionsweise des kapitalistischen Systems als Ganzes, seine Produktionsweise, seine Organisationsformen, Gesetze und Entwicklungsrichtungen zu erfassen. Sie konnten daher dazu ausgebildet werden, als Pioniere des revolutionären Sozialismus zu handeln. Ein klares Verständnis der alles entscheidenden Realität des Klassenantagonismus und nicht nur die Notwendigkeit, die Arbeitsstunden zu kürzen, eine Lohnsteigerung zu erreichen, einen Streik zu gewinnen oder eine Gewerkschaft zu gründen, musste ihre Augen für die Notwendigkeit, ja für die Unvermeidlichkeit einer totalen sozialen Transformation öffnen, die durch das Zusammenwirken der natürlichen Entwicklungen und des gewollten revolutionären Angriffs zustande kommen sollte. Es war zwingend erforderlich, dieses allumfassende Bewusstsein zu fördern und nicht den Arbeitern ihre eigene Vision und ihre auf unmittelbare Gewerkschaftsziele 155
Vgl. Lenin, Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution, S. 31–49; Keep, The Rise of Social Democracy, Kapitel 3, S. 67–106; Haimson, The Russian Mar xists, Kapitel 6, S. 92–114; Shub, Lenin, Kapitel 7 : Vom Krieg zur Revolution, S. 153–181; Meyer, Leninism, Kapitel 6, S. 107–144.
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beschränkten Interessen zu belassen. Nicht dass das, was von den sozialistischen Publizisten „Agitation“ für die konkreten Bedürfnisse und Forderungen der Arbeiter genannt wurde, als unwichtig und unwürdig beiseite geschoben werden sollte. Es war unerlässlich, Agitation mit Propaganda zu kombinieren, d. h. das Werk der Indoktrinierung, dessen Aufgabe es immer sein würde, die jeweilige Gegenwart auf die große Strategie des sozialen und revolutionären Kampfes, auf die Gesamtheit des historischen Ablaufs, der zur revolutionären Lösung führen würde, zu beziehen. Dies war die Bedeutung der langwierigen Debatte über Spontaneität und Bewusstsein. So, wie die Dinge lagen, bedeutete Ersteres, hinter dem Klassenkonflikt sowie den Angelegenheiten und Situationen, wie sie sich plötzlich ergaben, hinterherzuhinken; Letzteres bedeutete, sie als Symptome, Möglichkeiten, Phasen, Bestandteile und Aspekte der anhaltenden, langfristigen Kriegsanstrengung zu behandeln.156 Diese Unterscheidung stand auch hinter der Polemik über die Beziehung zwischen wirtschaftlichem Kampf und politischem Streben. Die Ökonomen glaubten, dass der kumulative Effekt der Plänkeleien über wirtschaftliche Themen und soziale Bedingungen eo ipso zur politischen Konfrontation führen würde und dazu bestimmt war, ein politisches Bewusstsein auszubilden und die Arbeiter zu einer politischen Macht zu formen. Lenin teilte diesen Optimismus nicht. Er fürchtete, dass die Arbeiter in einen opportunistischen Morast und in kleinbürgerliche Mentalität absinken würden.157 Genauso wenig hatte er die Geduld, lange zu warten. Er konnte sich nicht mit stückweisen Reformen und Verbesserungen zufrieden geben. Er betrachtete sie als Stützen der bestehenden Ordnung und des herrschenden Establishments sowie als eine Methode, die revolutionäre Energie zu dämpfen und sie durch eine Stimmung der Versöhnung der Nation und der Klassen zu ersetzen. Es bestand die Gefahr, die Gestalt, die Größe und die historische Rolle einer revolutionären Klasse verkümmern zu lassen, die dazu bestimmt war, das Angesicht der Erde zu verändern, nicht weil dies einfach gerecht, erstrebenswert und edel, sondern weil es absolut unvermeidlich war. Damit das passieren würde, musste dieser Glaube den Menschen eingeflößt werden. Das auf der mar xistischen Theorie beruhende Konzept des totalen Prozesses ist die „objektive Wahrheit“.157y „Auf dem Wege der Marxschen Theorie fortschreitend, werden wir uns der objektiven Wahrheit mehr und mehr nähern“, schreibt Lenin in seinem Materialismus und Empiriokritizismus, „auf jedem anderen Weg aber können wir zu nichts anderem gelangen als zu Kon156
Vgl. Keep, The Rise of Social Democracy, S. 88–91; Haimson, The Russian Marxists, S. 132–139. 157 Vgl. Lenin, Was tun ?, S. 394 f. 157y Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, S. 138.
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fusion und Unwahrheit.“157z „Man kann aus dieser aus einem Guß geformten Philosophie des Marxismus nicht eine einzige grundlegende These, nicht einen einzigen wesentlichen Teil wegnehmen, ohne sich von der objektiven Wahrheit zu entfernen, ohne der bürgerlich - reaktionären Lüge in die Fänge zu geraten.“158 „Der orthodoxe Mar xismus“, sagte Lenin zu Walentinow, „erfordert keinerlei Revision, weder im Denkerischen noch in seiner Theorie der politischen Ökonomie oder der Theorie der historischen Entwicklung.“159 Da es für Lenin auf sozialpolitischer Ebene nur eine Linie der Abgrenzung gab, nämlich jene, die das Proletariat vom Bürgertum, den Mar xismus vom Nicht - Mar xismus trennte, weigerte er sich, irgendetwas zwischen mar xistischer Orthodoxie und bürgerlicher Ideologie anzuerkennen, wobei Letztere per definitionem Opportunismus war, da diese kein Ziel habe, außer den Status quo beizubehalten, auf Umstände zu reagieren und aus günstigen Gelegenheiten ihren Vorteil zu ziehen. Es war dieser energische und unbeirrbare Glaube, der Lenin dazu führte, so sehr auf Beständigkeit zu beharren und angesichts von Schlaffheit, Zögerlichkeit, Unschlüssigkeit, Unentschlossenheit, Rückgratlosigkeit und Schwanken ( diese Begriffe finden sich auf jeder Seite seiner Schriften ) so irritiert, abgestoßen und entsetzt zu sein. Alle, die nicht seiner Meinung waren – Narodniki, Sozialrevolutionäre, Ökonomen, Revisionisten, Menschewiki, vor allem Liberale jeglicher Art, sogar Mitglieder seiner eigenen Partei wie Sinowjew und Kamenew –, und jegliche Meinungsänderung wurden mit dieser Reihe von Attributen bedacht, denen die Schwere, die Energie, die Entschlossenheit seiner eigenen Überzeugung gegenüberstand. In gewisser Weise lief alles auf eine psychologische Unterscheidung zwischen den Strikten und den Nachgiebigen, Jakobinern und Girondisten hinaus. „Der Jakobiner, der untrennbar verbunden ist mit der Organisation des Proletariats, das sich seiner Klasseninteressen bewußt geworden ist – das ist eben der revolutionäre Sozialdemokrat. Der Girondist, der sich nach den Professoren und Gymnasiasten sehnt, der die Diktatur des Proletariats fürchtet, der sich um den absoluten Wert der demokratischen Forderungen sorgt – das ist eben der Opportunist.“160 Der Glaube an die vollkommene und unteilbare Wahrheit der mar xistischen Theorie, die Gleichsetzung ideologischer Beständigkeit mit der Überlegenheit des persönlichen 157z 158 159 160
Ebd. Ebd., S. 329. Lenin zu Walentinow, zit. in Shub, Lenin, S. 85. Lenin, Ein Schritt vor wärts, zwei Schritte zurück, S. 387; vgl. auch Keep, The Rise of Social Democracy, S. 143–147, Zitat : S. 144; Dan, Der Ursprung des Bolschewismus, S. 204–211; Conquest, Lenin, S. 34–43; Lukács, Lenin, Kapitel 2 : „Das Proletariat als führende Klasse“, Kapitel 3 : „Die führende Partei des Proletariats“, S. 12– 35.
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Charakters zusammen mit der Überzeugung, letztendlich müssten alle großen Probleme mit Gewalt gelöst werden, waren der Grund dafür, dass Lenin skrupellos Menschen und Wahlen manipulierte, Komitees mit eigenen Leuten besetzte, dass er dazu bereit war, jene, die ihm im Weg standen, zu diskreditieren und schlechtzumachen. Walentinow war beispielsweise entsetzt über Lenins Bereitschaft, die Tatsache auszunutzen, dass ein Bruder Plechanows Offizier bei der Zarenpolizei war und es eine starke physische Ähnlichkeit zwischen beiden gab.161 Wie bereits erwähnt, wurden Menschen allein nach ihrer Beziehung zur Sache bewertet. Häretiker waren daher die Schlimmsten von allen. Als Mar xist musste Lenin jede Eigenschaft in Klassenbegriffe übersetzen. Kein Wunder, dass all seine Gegner petit bourgeois wurden, was auch immer ihre Ursprünge und Beschäftigung waren; eine Klasse, die keine war, zum Sterben verurteilt, ohne Richtung, zwischen dem Proletariat und dem echten Bürgertum schwebend, sich an vagen und abstrakten menschlichen Illusionen und angeblich ewigen Werten wie Moral, Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit, der Nation festklammernd. Wenn Menschen davor bewahrt werden sollten, zu schwanken und abzuweichen, Dinge davor, ihren eigenen Kurs zu nehmen, und wenn verhindert werden sollte, dass Situationen sich planlos entwickelten, dann musste es eine führende Hand geben, eine Organisation. „Gebt uns eine Organisation von Revolutionären, und wir werden Rußland aus den Angeln heben“,162 erklärte Lenin. In Was tun ? berichtet er von einem Gespräch mit einem Parteigenossen, das beide in ihrem Glauben zu bestärken schien, in allen Fragen der gleichen Meinung zu sein. Doch sobald sie zur Frage der Organisation kamen, erkannten sie, dass sie tatsächlich in nichts übereinstimmten.163 Lenins Konzept der Organisation einer sozialistischen Arbeiterpartei, wie es in Was tun ? und in den Debatten des Zweiten Kongresses der russischen Sozialdemokratischen Partei in Brüssel und London beschrieben und nach der Spaltung in der Abhandlung Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück ausgearbeitet wird, steht in völligem Gegensatz zur impliziten Ansicht der meisten Menschen.164 Sie sollte keine freie Ansammlung von Menschen, Gruppen und Organisationen sein, deren Mitglieder gemeinsame Ideen teilten und jederzeit damit beschäftigt waren, diese durch Diskussion zu klären, ihren Dienst an
161 162 163 164
Vgl. Valentinov, Encounters with Lenin, S. 199–201. Lenin, Was tun ?, S. 483. Vgl. ebd., S. 468. Vgl. Keep, The Rise of Social Democracy, S. 141–148; Haimson, The Russian Marxists, S. 189–194; Ulam, Lenin and the Bolsheviks, S. 176–216; Meyer, Leninism, Kapitel 5, S. 92–106.
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der Sache zu leisten, wenn nötig und möglich, während sie ihr Leben führten und ihre Interessen in der Welt als Ganzes verfolgten, die Repräsentanten zu einer nationalen ( oder regionalen ) Konferenz schickten, auf der führende Gremien gewählt wurden, ausgestattet mit Instruktionen und unter Kontrolle der Partei als Ganzes, die wiederum das demokratische Prinzip umsetzte, dass die Initiative von unten kam und die Exekutive nach dem Willen der Wähler handelte. Sie war stattdessen von Lenin als eine mobile Kampftruppe konzipiert, die Befehle von einem Hauptquartier erhielt. War das höchste Gremium erst einmal von der Parteikonferenz ernannt und aus Menschen mit nachweislichem Verständnis von der mar xistischen Theorie zusammengesetzt – folglich auch fähig, die Entwicklungen der Geschichte zu entschlüsseln und die gesamte Strategie der sozialistischen Revolution zu planen –, so war es auch qualifiziert und dringend aufgefordert, über die unmittelbaren Taktiken zu entscheiden, die sich aus wechselnden sozialpolitischen Situationen in Bezug auf das Fernziel ergaben. Wie in einer Armee sollte das Hauptquartier untergeordnete Autoritäten ernennen, sie kontrollieren und ihnen Befehle geben, und deren Pflicht war es, die Befehle wie treue Soldaten auszuführen.165 Solch eine Partei war ein Mönchsorden qualifizierter Revolutionäre, die an die strengste Disziplin gebunden waren, ein kämpfendes Kommando im Zustand ständiger Alarmbereitschaft. Lenin war der Ansicht, Demokratie bestehe darin, die richtigen Leute in den führenden Gremien der Partei zu platzieren, und nicht in der Kontrolle durch das Volk, in bürgerlicher Initiative oder der Wahl der Offiziere. Unter russischen Bedingungen war kameradschaftliches Vertrauen unerlässlich und Demokratie zu spielen unmöglich und schädlich. Was man brauchte, war nicht eine Massenpartei, sondern eine kleine, fest gefügte, streng disziplinierte Organisation, um „Tropfen und Rinnsale der Volkserregung zu sammeln und [...] zu konzentrieren“166 und den gesamten Ablauf zu beherrschen. Die Stellungnahme der gescheiterten ersten Sozialdemokratischen Konferenz von 1898 und dann die Iskra- Erklärungen sprachen von der Notwendigkeit klarer und scharfer Grenzen zwischen der Armee, die das Gebäude der Autokratie belagerte, und allen anderen politischen Kräften. Auch Martow hatte einst darauf bestanden, „einen eisernen Ring um die Iskra- Agenten“167 zu legen. Lenin übertraf dies, indem er zu einem Belagerungszustand gegenüber den „unbeständigen und wankenden Elementen“168 in der Arbeiterbewegung selbst aufrief. Beim zweiten Kongress stimmten Lenin und Plechanow noch 165 166 167 168
Vgl. Hahlweg, Lenin und Clausewitz. Lenin, Was tun ?, S. 434. Haimson, The Russian Marxists, S. 132. Ebd., S. 180; Dan, Der Ursprung des Bolschewismus, S. 205.
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immer in ihrem Widerspruch zum „jaurèsianischen Wortlaut“ von Martows Resolution überein.169 Nur allmählich begriffen die Protagonisten, dass es bezüglich der Frage der Organisation und dementsprechend auch in grundlegenden Angelegenheiten eine Kluft zwischen ihnen gab. Lenins Gegner, wie Martinow, stellten schnell klar, dass Lenins Vorstellungen von proletarischem Bewusstsein und Organisation keineswegs mit Marx’ Lehren vom Vorrang der objektiven Bedingungen und Entwicklungen übereinstimmten, da der Unterschied zwischen breiter Massenorganisation und einem überschaubaren Orden qualifizierter Revolutionäre dem Unterschied zwischen Spontaneität und Bewusstsein, zwischen der Reaktion der Arbeiter auf objektive Umstände und ihrer Anleitung durch intellektuelle Außenseiter entsprach. Das Dogma wurde entscheidender als das Leben, wenn Arbeiter aus Fleisch und Blut zu Prädikaten und Schatten des historischen Ablaufs, der Dialektik wurden und zudem einer Gruppe intellektueller Verschwörer unter worfen wurden.170 Axelrod beklagte die Unterdrückung der Individualität; Martow beschwor den Schatten Blanquis, kleiner Untergrundgruppen, die von der allgemeinen Masse der Menschen abgeschnitten waren und die sozialen und wirtschaftlichen Realitäten nicht wahrnahmen.171 Lenin fuhr fort, gegen die Schwäche, das Sich - Winden und die Charakterlosigkeit seiner Gegner zu wüten, die nicht verstanden hätten, dass Individualität nur Respekt verdiene, ja nur dann Bedeutung habe, wenn sie inmitten widerstreitender Strömungen dem Kurs des historischen Ablaufs fest verhaftet blieb.172 Martows Definition eines Mitgliedes der SDAPR sei eine breite, diffuse Organisation, die Opportunisten die Tür öffne, die bereit seien, sich als Mitglieder einer Partei zu betrachten, ohne zu irgendeiner Organisation der Partei zu gehören, sondern nur unter ihrer Kontrolle und Leitung arbeiteten.173 Dies bedeutete für Lenin das Fehlen jeglicher Kontrolle und Führung. Die opportunistische Tendenz, „ihre Abneigung gegen den Gedanken [...] des Aufbaus der Partei von oben nach unten, ausgehend vom Parteitag und der von ihm geschaffenen Körperschaften; ihr Bestreben, von unten nach oben zu gehen und jedem Professor, jedem Gymnasiasten und ‚jedem Streikenden‘ das Recht zu geben, sich zu den Parteimitgliedern zu zählen; ihre Feindseligkeit gegen den ‚Formalismus‘, der vom Parteimitglied die Zugehörigkeit zu einer
169 170 171 172 173
Second Congress Proceeding, zit. in Keep, The Rise of Social Democracy, S. 120 f. Vgl. Frankel ( Hg.), Vladimir Akimov on the Dilemmas of Russian Marxism, S. 43–73. Vgl. Keep, The Rise of Social Democracy, S. 127–129; Haimson, The Russian Marxists, S. 174 f. Vgl. Keep, The Rise of Social Democracy, S. 127–130; Dan, Der Ursprung des Bolschewismus, S. 200–202. Vgl. Haimson, The Russian Marxists, S. 175.
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von der Partei anerkannten Organisation verlangt“174 – all dies bezeichne „ihre Vorliebe für die Psychologie des bürgerlichen Intellektuellen, der bereit ist, nur ‚platonisch die organisatorischen Beziehungen anzuerkennen‘; ihre Nachgiebigkeit gegenüber opportunistischer Spitzfindigkeit und anarchistischen Phrasen; ihre Tendenz zum Autonomismus gegen den Zentralismus“.175 Lenin bestand darauf, „daß die Parteimitglieder tatsächlich an der Organisierung arbeiten. Von der ‚Organisierung der Partei‘ reden und unter dem Deckmantel des Wortes Partei jede Unorganisiertheit und jedes Durcheinander verteidigen, heißt leere Phrasen dreschen“ :176 Besser würden zehn Arbeiter nicht zur Partei zugelassen als dass ein Schwätzer unbemerkt durch das Sieb hindurchgehe.177 In Was tun ? fürchtete Lenin am meisten Arbeiter, die aufgrund mangelnder äußerer Führung durch bürgerliche Intellektuelle in einen Gewerkschaftsopportunismus hineinglitten. Im Laufe der Zeit fürchtete er sich mehr vor der Neigung der Intellektuellen zu Individualismus und eigenem Willen, und er begann, sein Vertrauen in die Disziplin zu setzen, die den Industriearbeitern durch die Fabrik eingeflößt werde.178 Die Partei war schließlich nicht als Plattform für intellektuelle Debatten, sondern für die Organisation einer proletarischen Diktatur gedacht. Es lohnt sich hier, eine Resolution eines bolschewistischen Komitees im Ural zu zitieren : „Die Vorbereitung des Proletariats auf die Diktatur ist eine so wichtige organisatorische Aufgabe, daß ihr alles übrige untergeordnet werden muß. Unter anderem besteht die Vorbereitung darin, eine Stimmung zu schaffen, die einer starken, mächtigen proletarischen Organisation günstig ist. [...] Man kann einwenden, daß Diktatoren ganz von selbst erschienen sind und erscheinen. [...] Aber es war nicht immer so, und in der proletarischen Partei darf diese Erscheinung nicht spontan oder opportunistisch sein. Hier ist der höchste Grad der Bewußtheit mit unbedingtem Gehorsam zu verbinden – eins muß die Ursache des anderen sein.“179 Es wäre unfair zu sagen, dass Lenin nichts anderes war als ein Kommissar, der an die ausschließliche und höchste Wirksamkeit der Organisation und an nichts anderes glaubte. Sein Konzept der Sozialistischen Partei kam mutatis mutandis dem katholischen Konzept der Kirche nahe. Es verkörperte und arti-
174 175 176 177 178 179
Vgl. Lenin, Ein Schritt vor wärts, zwei Schritte zurück, S. 326 f. Ebd., S. 327. Ebd., S. 364. Keep, The Rise of Social Democracy, S. 129. Vgl. Lenin, Ein Schritt vor wärts, zwei Schritte zurück, S. 392–394. Dan, Der Ursprung des Bolschewismus, S. 207.
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kulierte den fortschreitenden Gang der Geschichte. Sie wurde zu den Urim und Thummim der historischen Dialektik, hatte sie erst einmal nach anhaltender Suche und Diskussion ihren Standpunkt formuliert. Dies war keine Angelegenheit parlamentarischer Mehrheitsbeschlüsse oder gar der Sichtweise, die durch Massenwahlen im Hier und Jetzt geäußert wurde. Der allgemeine Wille, konzipiert als der Wille der Geschichte, war nicht in den gegenwärtig artikulierten Ansichten der Menschen zu finden, sondern in der oft unbemerkten Tendenz der historischen Entwicklung und ihrer Unvermeidbarkeit sowie, was auf dasselbe hinauslief, in den unbewussten und unausgesprochenen Wünschen der Massen. Jene, die in dieser Hinsicht den Nerv der Menschen trafen, die ersten, welche die Richtung der Geschichte verstanden, sprachen im Namen des Proletariats. Als ob er auf Trotzkis frühe Kritik am Substitutionsprinzip antworten wollte – die Nation durch die Klasse, die Klasse durch die Partei, die Partei durch das Zentralkomitee, das Zentralkomitee durch einen Diktator180 – sagte Lenin 1920 : „Klassen werden von Parteien geführt und Parteien wieder um von einzelnen Individuen, Führer genannt. Das ist das ABC. Der Wille einer Klasse wird manchmal von einem Diktator ausgeführt [...]. Die sowjetsozialistische Demokratie ist durchaus nicht unvereinbar mit individueller Macht und Diktatur [...]. Was not tut, ist eine individuelle Regierung und die Anerkennung der diktatorischen Machtbefugnisse eines einzigen Mannes [...]. Alle Phrasen über gleiche Rechte sind Unsinn.“181 Die Revolution von 1905 war für Lenin eine Stunde der Prüfung für das russische Volk, vor allem für das Proletariat, und ein Test seiner eigenen Ideen. Sie war ein Triumph der Spontaneität. Sie war von den Sozialdemokraten weder vorbereitet noch begonnen noch wirklich geführt worden, geschweige denn von den Bolschewiki. Die sozialistischen Gruppen waren auf den Zug aufgesprungen und wurden im Rahmen der stürmischen Ereignisse aktiv, bemüht, sie mit mehr oder weniger Erfolg zu lenken. Selbst der St. Petersburger Sowjet verdankte seinen Anfang ironischer weise eher einer Initiative des Establishments.182 Er wurde dann von den sozialistischen Intellektuellen Trotzki und Par vus übernommen, wobei Ersterer ihn sehr effektiv für seinen Einstieg in die Weltgeschichte nutzte. Lenin blieb zunächst kühl gegenüber der Entstehung eines Arbeiterregierungsrates und spielte keine Rolle in ihm. Sein rudimentärer Charakter und der über wiegende Einfluss der Menschewiki drohten die Unabhängigkeit der bolschewistischen Bestandteile zu beeinträch-
180 181 182
Trotzki, Naschi Polititscheskie Sadatschi, zit. in Deutscher, Trotzki, Band 1, S. 96. Shub, Lenin, S. 84. Vgl. Chamberlin, Die Russische Revolution, Band 1, S. 43–53; Carr, The Bolshevik Revolution, Band 1, S. 45–48; Keep, The Rise of Social Democracy, S. 175–182.
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tigen und die Bolschewiki zu einem „Anhängsel“ zu machen.183 Ebenso wenig wusste Lenin in dieser Zeit das politische Potential eines Sowjet - Netzwerkes zu schätzen, im Gegensatz beispielsweise zu Axelrod, der sich früher um solche Möglichkeiten Gedanken machte.184 Es roch noch immer zu sehr nach einer Gewerkschaftsorganisation. Seine Aufmerksamkeit wurde von den Dilemmata beansprucht, die eine bürgerlich - demokratische Revolution für den proletarischen Sozialismus erzeugte. Er hielt am mar xistischen Kanon fest, nach dem es unmöglich war, diese Phase zu überspringen und direkt zu einer proletarisch - sozialistischen Revolution voranzuschreiten. Um mit Letzterem Erfolg zu haben, waren eine ausgereifte sozial - ökonomische ( das hieß industrielle ) kapitalistische Struktur sowie ein hohes Maß an proletarischem sozialistischem Bewusstsein notwendig; beides war im damaligen Russland nicht zu finden. Dies konnte sich nur unter bürgerlich - kapitalistischer Herrschaft und unter einem Regime entwickeln, das den Arbeitern parlamentarische demokratische Freiheiten bot, um sich zu organisieren und ein militant - sozialistisches Bewusstsein zu entwickeln. Lenin war jedoch davon überzeugt, dass dem schwachen liberalen Bürgertum Russlands der Mut und die menschlichen Ressourcen fehlten, um sich der Lage gewachsen zu zeigen und die bürgerlich - demokratische Revolution durchzuführen, und er war sich auch sicher, dass es aus Angst vor dem Proletariat, wenn es hart auf hart kam, eine Einigung mit dem Zarismus einer allgemeinen Front mit einer entschlossenen sozialistischen Avantgarde vorziehen würde. „Erkennen doch alle Sozialdemokraten an, daß in Rußland die politische Revolution der sozialistischen Revolution vorausgehen muß; sollte man sich also nicht mit allen politisch oppositionellen Elementen zum Kampf gegen den Absolutismus vereinigen und den Sozialismus einstweilen zurückstellen, ist das nicht für die Verstärkung des Kampfes gegen den Absolutismus unbedingt erforderlich ?“,185 schrieb Lenin. Lenin war zu beidem bereit, aber nur sehr bedingt. Da das erste Ziel darin lag, die zaristische Autokratie sowie die sie stützenden sozialen Kräfte abzuschaffen, sollten die Sozialdemokraten zu diesem Zweck „die fortschrittlichen Gesellschaftsklassen gegen die reaktionären, die Bourgeoisie gegen die Vertreter des privilegierten und ständischen Grundbesitzes und gegen die Beamtenschaft, die Großbourgeoisie gegen die reaktionären Gelüste des Kleinbürgertums“186 unterstützen, um die kleinen Produzenten zu schützen und 183 184 185 186
Vgl. Shub, Lenin, S. 90–101. Vgl. Dan, Der Ursprung des Bolschewismus, S. 235–239. Lenin, Die Aufgaben der russischen Sozialdemokraten, S. 336. Ebd.
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Industriekonzentration und kapitalistische Formen zu stoppen. All dies „gegen den gegebenen Feind“, ohne irgendwelche sozialistischen Prinzipien aufzugeben. „Ohne aber von den zeitweiligen Bundesgenossen etwas für sich zu erwarten und ohne ihnen irgendwelche Zugeständnisse zu machen.“187 Lenin war sich vollkommen der noch eher bedingten Bereitschaft dieser potentiellen Verbündeten bewusst, mit der Arbeiterklasse im Streben nach politischen Freiheiten gemeinsame Sache zu machen. Die Feindschaft aller anderen Klassen, Gruppen und Schichten der Bevölkerung gegenüber der Autokratie war nicht absolut; ihre Demokratie schaute immer zurück. Das Bürgertum konnte nicht anders als begreifen, dass die industrielle und soziale Entwicklung durch den Absolutismus verzögert wurde; doch es fürchtete die vollständige Demokratisierung des politischen und sozialen Systems und könnte jederzeit eine Allianz mit dem Absolutismus gegen das Proletariat eingehen. Das Kleinbürgertum hatte von Natur aus zwei Gesichter; auf der einen Seite strebte es in Richtung Proletariat und Demokratie; auf der anderen Seite „[ neigt es] der Festigung seiner Stellung als Kleineigentümer wegen [...] zu den reaktionären Klassen“187z sowie zu klerikalen, chauvinistischen, antisemitischen Bündnissen und Bruderschaften. Es war wahrscheinlich, dass es eine Allianz mit der herrschenden Klasse gegen das Proletariat eingehen würde. Außerdem wurde die Intelligenzija zwischen dem Hass auf die obskurantistische Unterdrückung und materiellen Interessen hin - und hergerissen, was sie dazu bringen könnte, „ihren oppositionellen und revolutionären Elan für ein Beamtengehalt oder für eine Beteiligung an Profiten und Dividenden zu verkaufen“.188 Der einzige beständige und resolute Kämpfer für die republikanische Demokratie war das Proletariat : der einzige „entschlossene Feind des Absolutismus“.189 Es würde niemals einen Kompromiss mit dem Absolutismus schließen, und es würde niemals zurückschauen. Es musste daher zum Vorkämpfer im Kampf gegen den Absolutismus werden, ja die demokratische Revolution für das Bürgertum durchführen, während es die eigene Unabhängigkeit bewahrte. Letztendlich war ihr Erfolg bei dieser Aufgabe an die Bedingung geknüpft, sich nicht durch schüchterne und zurückhaltende Verbündete ner vös machen zu lassen. Waren erst einmal die Festung der Autokratie erobert, die parlamentarischbürgerliche Herrschaft errichtet und politische Freiheiten gesetzlich verfügt, sollte die proletarische Partei zurücktreten, sich zurücklehnen und die Möglichkeiten des neuen Regimes sich entwickeln lassen, wie es die Menschewiki 187 187z 188 189
Ebd. Ebd., S. 338. Ebd. Ebd.
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forderten, oder sollte die Partei der revolutionären Sozialisten – die Avantgarde des Proletariats – ihre Hegemonie während des Kampfes beibehalten und in dessen Verlauf die Grundlage für eine frühe Konfrontation mit dem liberalen Bürgertum legen ? Mar xistische Orthodoxie und demokratische Überzeugung diktierte den Menschewiki eine Politik der rigorosen Enthaltung. Sie würden nicht an der revolutionären Übergangsregierung teilnehmen, da diese eine bürgerliche Einrichtung sein würde. Aber sie würden auch alles Mögliche tun, um die Mittelklassen nicht abzuschrecken und in die Arme der feudal - absolutistischen Kräfte zu treiben. Tatsächlich stellte in den Augen der Menschewiki eine frei gewählte verfassunggebende Versammlung auf der Grundlage eines allgemeinen Wahlrechts und eine durch sie verkündete demokratische, möglichst republikanische Verfassung den Höhepunkt des Erfolges dar. Innerhalb dieses Rahmens würde der Klassenkonflikt seine Früchte in vollem Umfang tragen.190 Lenin betrachtete Freiheit nicht als ein Ziel, nicht einmal als ein zeitweiliges Ziel. In seinen Augen war sie nur eine Möglichkeit : für die Kapitalisten, die Arbeiterklasse auszubeuten, und für das Proletariat, sich zusammenzureißen und sich für eine soziale Befreiung zusammenzuschließen. Lenin fürchtete sich nicht davor, das Bürgertum zu verängstigen. Er forderte das Proletariat auf, eine Dynamik und Beharrlichkeit zu zeigen, die das Kleinbürgertum und die Bauern hinwegfegen und das Bürgertum zwingen würde, der Arbeiterschaft „mit knirschenden Zähnen“191 zu folgen. Die Sozialdemokraten waren verpflichtet, nicht nur der Übergangsregierung beizutreten, sondern eine Vorherrschaft über ihre nicht - sozialistischen Verbündeten zu erreichen. Lenin schrieb : „So können auch die Neuiskristen den Prozeß des sich vor ihren Augen abspielenden Kampfes leidlich beschreiben und erklären, sie sind jedoch völlig außerstande, für diesen Kampf die richtige Losung zu geben. Eifrige Marschierer, aber schlechte Führer, würdigen sie die materialistische Geschichtsauffassung dadurch herab, daß sie außer acht lassen, welche wirksame, führende und leitende Rolle in der Geschichte die Parteien spielen können und müssen, die die materiellen Bedingungen der Umwälzung erkannt und sich an die Spitze der fortgeschrittenen Klassen gestellt haben.“192 Die Menschewiki wollten, dass die Revolution der Arbeiter von unten kam: Lenin wollte sie von oben. Erstere wollten, dass die Sozialdemokratie die „Partei der äußersten revolutionären Opposition“193 blieb, außerhalb der Über190 191 192 193
Vgl. Dan, Der Ursprung des Bolschewismus, S. 229; Carr, The Bolshevik Revolution, Band 1, S. 38–44. Dan, Der Ursprung des Bolschewismus, S. 229. Lenin, Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution, S. 30. A. d. Ü. : Talmon spricht von „Menschewiki“, Lenin von „Neuiskristen“. Ebd., S. 31.
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gangsregierung, aber nicht illoyal gegenüber ihrer konstitutionellen Politik. Lenin konnte sich eine normalisierte Situation nicht vorstellen. Er war zu sehr von den konterrevolutionären Gefahren besessen, die über der bürgerlich demokratischen Errungenschaft schwebten. Der größte Dienst an der Demokratie, und einer, der effektiv nur von den bewussten proletarischen Massen geleistet werden konnte, bestand darin, die auf der Lauer liegenden Feinde zu bekämpfen und zu unterdrücken und ihre Wiederkehr zu verhindern. Dies konnte nur mit diktatorischen Methoden geschehen, die wiederum nur von einer revolutionären demokratischen Allianz des Proletariats und der erwachenden Bauernschaft gehandhabt werden könnten. „Und ein solcher Sieg wird eben eine Diktatur sein, d. h., er wird sich unvermeidlich auf militärische Gewalt, auf die Bewaffnung der Massen, auf den Aufstand stützen müssen, nicht aber auf diese oder jene, auf ‚legalem‘, ‚friedlichem Wege‘ geschaffene Einrichtungen.“194 Um effektiv zu sein, benötigte die Diktatur die Rückendeckung einer revolutionären Armee aus Arbeitern und radikalen Volkselementen. Sie müsste an die letzten Grenzen der radikalen Demokratie gehen, wie zum Beispiel den Bauern die Beschlagnahmung von Grundbesitz zu erlauben. „Das kann nur eine Diktatur sein, denn die Ver wirklichung der für das Proletariat und die Bauernschaft unverzüglich und unabweislich notwendigen Umgestaltungen wird den erbitterten Widerstand sowohl der Gutsbesitzer als auch der Großbourgeoisie und des Zarismus her vorrufen. Ohne Diktatur ist es unmöglich, diesen Widerstand zu brechen, die konterrevolutionären Anschläge abzuwehren.“195 Hier ist die Idee von Lenins revolutionärer demokratischer Diktatur der Arbeiter und Bauern, die „keine sozialistische, sondern eine demokratische Diktatur sein [ wird ]. Sie wird ( ohne eine ganze Reihe Zwischenstufen der revolutionären Entwicklung ) nicht imstande sein, die Grundlagen des Kapitalismus anzutasten“,196 indem sie den Privatbesitz abschaffte oder die Industrie verstaatlichte. Sie würde jedoch weit genug gehen, um die zaristische Bürokratie zu beseitigen, die Grundbesitzerklasse zu zerschlagen und die Arbeiter mit siegreichem Selbstbewusstsein sowie die besitzenden Klassen mit Angst und einem Gefühl der Unfähigkeit zu erfüllen. „Gelingt der entscheidende Sieg der Revolution, dann werden wir mit dem Zarismus auf jakobinische oder, wenn ihr wollt, plebejische Manier fertig werden.“197 In Zeiten einer Revolution bedeute Demokratie Diktatur : „daß [...] Abänderungsanträge durch Straßendemonstrationen und Interpellationen durch 194 195 196 197
Ebd., S. 44. Ebd. Ebd. Ebd., S. 46.
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Angriffsaktionen der bewaffneten Bürger eingebracht werden, daß die Opposition gegen die Regierung durch den gewaltsamen Sturz der Regierung ver wirklicht wird“.198 Und dass „die großen historischen Fragen letzten Endes nur durch Gewalt entschieden werden.“199 Lenins Konzept einer Arbeiter - Bauern - Allianz beruhte auf der scharfsinnigen Erkenntnis, dass eine Revolution der Landbesitzverhältnisse, die durch direkte Aktion der Bauern erreicht würde, unumkehrbar war. Er sah auch, dass die russischen Bauern, wie Bauern im Allgemeinen, keine politischen Ambitionen besaßen. Hatten sie einmal das Land der Grundherren in Besitz genommen und aufgeteilt, würden sie nach Hause gehen und die Fragen der politischen Souveränität den Arbeiterparteien überlassen. Letztere würden dann frei sein, die politischen Realitäten auf revolutionäre Art zu prägen. Jeder „Strahl des Lichts wird sie [ Bauern und Arbeiter ] enger miteinander verbinden zum Kampf für die Freiheit, sie werden dann ihre Revolution nicht der verächtlichfeigen und eigennützigen Bourgeoisie und den Gutsbesitzern überlassen, jene demokratische Revolution, die Land und Freiheit geben kann und alle in der bürgerlichen Gesellschaft denkbaren Erleichterungen des Lebens zu geben vermag, die die Werktätigen zum weiteren Kampf für den Sozialismus brauchen.“200 Da die Aussichten auf die Abschaffung des Zarentums in „jakobinischer Manier“ durch das Oktobermanifest, die Verhaftung des Petersburger Sowjets und des Bauernkomitees getrübt waren, kamen Lenin und die Bolschewiki zu der Überzeugung, dass ein bewaffneter Aufstand zur „rücksichtslose[ n ] Vernichtung ziviler und militärischer Führer der Gegenseite“201 vorbereitet werden müsse. Das Ergebnis war der Moskauer Aufstand. Lenin rief die Sowjets der Arbeiterdeputierten auf, sich von Organen des Streikkampfes, aus dem sie her vorgegangen waren, und von Organen der direkten Massenkämpfe in Organe des allgemeinen revolutionären Kampfes gegen die Regierung, schließlich in Organe des bewaffneten Aufstandes zu ver wandeln. Trotzdem reichten „Sowjets und ähnliche Massenkörperschaften für die Organisierung des Aufstandes noch nicht [ aus ]; um die Kräfte für den unmittelbaren Kampf, um den Aufstand im engsten Sinne des Wortes zu organisieren“;202 nur um die Massen zusammenzuschweißen und die Losungen der Partei weiterzugeben. Der Anstoß zur Vorbereitung, Planung und Führung des Aufstandes musste von einer getrennten Avantgarde ausgehen. „Der Aufstand
198 199 200 201 202
Ebd., S. 65 f. Lenin, Der Kampf des Proletariats und der Ser vilismus der Bourgeoisie, S. 542 f. Ebd., S. 544. Lenin, Die Lehren des Moskauer Aufstandes, S. 162. Lenin, Die Auf lösung der Duma und die Aufgabe des Proletariats, S. 111 f.
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[ ist ] eine Kunst und [...] die Hauptregel dieser Kunst [ ist ] die mit ver wegener Kühnheit und größter Entschlossenheit geführte Offensive.“203 Die Idee des bewaffneten Aufstandes wurde von Lenin zu einem Erkennungszeichen revolutionärer Glaubwürdigkeit erhoben. „Wer gegen ihn ist, wer sich nicht auf ihn vorbereitet, den muß man rücksichtslos aus der Zahl der Anhänger der Revolution streichen und zu ihren Gegnern, zu den Verrätern oder Feiglingen rechnen, denn es naht der Tag, an dem der Gang der Ereignisse, die Situation des Kampfes uns zwingen wird, Feinde und Freunde nach diesem Merkmal voneinander zu scheiden. Nicht Passivität müssen wir propagieren, nicht ein einfaches ‚Daraufwarten‘, dass die Truppen ‚übergehen‘ – nein, wir müssen die Trommel rühren und weit und breit verkünden, daß es notwendig ist, kühn und mit der Waffe in der Hand anzugreifen, daß es notwendig ist, hierbei die militärischen Führer zu vernichten und den allertatkräftigsten Kampf um die schwankenden Truppen zu führen“.203z Der Moskauer Aufstand habe „‚neue Barrikadentaktiken‘ [...] des Partisanenkrieges“ eingeführt, die „leicht bewegliche und außerordentlich kleine Abteilung : Zehnergruppen, Dreiergruppen, ja sogar Zweiertruppen“.204 „Die großen Schlachten der Geschichte konnten nur deshalb ausgetragen und die großen Aufgaben der Revolutionen nur deshalb gelöst werden, weil die fortgeschrittenen Klassen zu wiederholten Malen vorgestoßen sind und, um die Erfahrungen der Niederlagen reicher geworden, den Sieg errangen. Geschlagene Armeen lernen gut. Die revolutionären Klassen Rußlands sind im ersten Waffengang geschlagen worden, aber die revolutionäre Lage bleibt bestehen.“205 Aber die wichtigste Lektion, welche die verschiedenen sozialistischen Gruppen – Menschewiki, Bolschewiki sowie auch Trotzki und Par vus – lernten, war, dass das Gebäude des Zarismus, obwohl es heftig angegriffen wurde, den Sturm der Revolution von 1905 überstanden hatte, weil die Armee und die Bürokratie trotz einiger kleinerer Meutereien zum Zaren standen, die Bauern sich der Revolution versagten, das liberale Bürgertum sich als ein zaghafter, unzuverlässiger und verräterischer Verbündeter erwies und weil der Bewegung der Arbeiterklasse die Stärke, die Hartnäckigkeit sowie die klare Entschlossenheit fehlten, die Revolution zu einem siegreichen Ende zu führen. Das Regime überlebte, wenn auch äußerlich verändert. Es gab wenig Hoffnung, dass es bald durch eine erneute revolutionäre Welle gestürzt würde, die aus dem Inneren Russlands herrührte. Nur ein internationaler Sturm könnte es erneut erschüt203 203z 204 205
Lenin, Die Lehren des Moskauer Aufstandes, S. 162. Ebd. Ebd., S. 163. Lenin, Auf den Weg, S. 350 f.
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tern und den Rebellen innerhalb Russlands die notwendige Inspiration und Hilfe zukommen lassen.206 „Nur in einem Fall“, lautete der menschewistische Konferenzbeschluss, „müßte die Sozialdemokratie auf eigene Initiative alle ihre Anstrengungen darauf richten, die Macht zu ergreifen und sie möglichst lange in Händen zu behalten, nämlich dann, wenn sich die Revolution in den fortschrittlichen Ländern Westeuropas, in denen die Verhältnisse schon eine gewisse Reife für die Ver wirklichung des Sozialismus erreicht haben, ausbreitet. In diesem Falle könnten die engen historischen Grenzen der russischen Revolution erheblich erweitert werden, und es würde möglich sein, den Weg sozialistischer Reformen zu betreten.“207 In Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution äußert Lenin die Ansicht, dass die demokratische Arbeiter - und - Bauern - Diktatur in Russland „den revolutionären Brand nach Europa“208 tragen könne, wo sie eine sozialistische Revolution entfachen und wiederum der russischen demokratischen Diktatur den Sprung in den Sozialismus ermöglichen werde. Par vus - Helphand und Trotzki fügten ihrer Theorie der permanenten Revolution das fundamentale Bindeglied hinzu, das in Lenins eigenen Kalkulationen niemals fehlte : Der imperialistische Krieg, der sich abzeichnete, würde den Zusammenbruch des schwächsten Gliedes im internationalen Kapitalismus – Russlands – mit Sicherheit beschleunigen und dort eine Revolution bewirken, die von der demokratischen Diktatur übernommen würde. Sie wiederum würde die Glut der Revolution im Westen entfachen und die Arbeiter dazu animieren, eine internationale sozialistische Revolution zu machen.209 Der zeitliche Rückstand Russlands gegenüber dem Westen in Bezug auf die Reife für eine sozialistische Revolution würde sich dann erledigen. Implizit oder explizit liefen diese Spekulationen darauf hinaus, alle Hoffnungen auf einen internationalen Krieg als das Instrument der Revolution zu setzen. Dies wurde zum Grundpfeiler von Lenins Strategie im Ersten Weltkrieg. Die russische Niederlage war die erste Bedingung. Ein schwankendes Regime, unfähig, den Krieg zu führen, unfähig, die grundlegendsten Bedürfnisse der Bevölkerung zu Hause zu befriedigen, würde seine Glaubwürdigkeit verlieren. Die Niederlagen an der Front, die Dezimierung und Demoralisierung der Truppen würden es seines Hauptinstrumentes berauben. Unter dem Einfluss der Ereignisse und als Reaktion auf revolutionäre Agitation, angetrie-
206 207 208 209
Vgl. Scharlau / Zeman, Freibeuter der Revolution, S. 110–133; Deutscher, Trotzki, Band 1, S. 146–163. Dan, Der Ursprung des Bolschewismus, S. 266. Lenin, Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution, S. 44. Vgl. Scharlau / Zeman, Freibeuter der Revolution, S. 139–142; Deutscher, Trotzki, Band 1, S. 158 f.
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ben durch Hunger, am Sieg zweifelnd, aufgebracht durch unerträgliche Leiden, Offiziersbrutalität und Militärdisziplin und sich nach Frieden sehnend, würden die bäuerlichen Soldaten in Massen desertieren, um den Grundbesitz an sich zu reißen. Die Armee würde sich auf lösen, die unterdrückten Nationalitäten würden von einer glühenden Sehnsucht nach Befreiung ergriffen werden und Morgenluft wittern. Die Zerstörung der hauptsächlichen Stützen des Zarismus würde mit einem Streich vollendet werden. Die siegreiche Revolte der ganzen Nation gegen die Autokratie und für die Freiheit würde zu einer Herausforderung für die dynamischsten revolutionären Kräfte der russischen Gesellschaft werden, um die Revolution an die letzten Grenzen radikaler und proletarischer Demokratie zu führen. Dies würde die westliche Arbeiterklasse, voller Wut über die Leiden des Krieges, dazu anstacheln, sich zu erheben, wodurch ihre Regierungen von dem Versuch, die russische Revolution zu erdrosseln, abgehalten würden. Nach ihrem Sieg würden die Sozialisten des Westens der russischen Revolution helfen, die sozialistische Erfüllung zu erreichen. Lenin musste die Probleme der Nation, Krieg und Revolution, neu überdenken. Die Idee, die nationale Niederlage, den Zerfall der traditionellen russischen Gesellschaft und die Zerschlagung des historischen Russlands durch die Abspaltung der unterdrückten Nationalitäten dazu auszunutzen, eine Revolution zu starten – all dies verlangte eine Auseinandersetzung mit den tiefsten Traditionen, Loyalitäten, Instinkten und Gewohnheiten der Massen. Diese mussten zuerst untergraben, aufgeweicht und dann über wunden werden. Die Befreiung von ihnen war gleichbedeutend mit der Entfesselung der notwendigen revolutionären Energie für den letzten Schlag. In einem zu Beginn des Jahres 1906 entworfenen Revolutionsschema210 setzte Lenin voraus, dass „die revolutionär - demokratische Diktatur des Proletariats“ auf den zunehmenden Widerstand des liberalen Bürgertums stoßen werde, „abwartend in der dritten Periode und passiv in der vierten“, denn dieses „wird offen konterrevolutionär und organisiert sich, um dem Proletariat die Errungenschaften der Revolution zu entreißen. Auch der ganze wohlhabende Teil der Bauernschaft und ein beträchtlicher Teil der Mittelbauern ‚wird klüger‘, beruhigt sich und schwenkt zur Konterrevolution ab, um dem Proletariat und den mit dem Proletariat sympathisierenden armen Bauern die Macht aus der Hand zu schlagen. [...] Eine neue Krise und ein neuer Kampf [wächst und entbrennt ], wobei das Proletariat bereits für die Erhaltung der demokratischen Errungenschaften im Interesse der sozialistischen Umwälzung kämpft. Dieser Kampf wäre für das russische Proletariat allein nahezu hoffnungslos, und seine Niederlage wäre ebenso unvermeidlich wie die Niederlage der deutschen revolutionären Partei 1849/50 oder wie die Niederlage des 210
Lenin, Etappen, Richtung und Perspektiven der Revolution.
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französischen Proletariats 1871, wenn dem russischen Proletariat nicht das europäische sozialistische Proletariat zu Hilfe käme. [...] Unter diesen Umständen kann das russische Proletariat einen zweiten Sieg erringen. Die Sache ist nicht mehr hoffnungslos. Der zweite Sieg wird die sozialistische Umwälzung in Europa sein. Die europäischen Arbeiter werden uns zeigen, ‚wie es gemacht wird‘, und dann werden wir gemeinsam mit ihnen die sozialistische Umwälzung durchführen.“211
211
Lenin, ebd., S. 79 f.
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II. Krieg und Revo lu ti on 1. Die zweite internationale Debatte Wenn die Frage der Nation und Revolution der Hintergrund der innenpolitischen Spaltung in Reformisten und Radikale in der SPD war, galt dies selbstverständlich auf der internationalen Ebene, bei den Kongressen und Beratungen der Zweiten Internationale, umso mehr.212 Sei es die koloniale Frage, sei es das Problem der sozialistischen Partizipation in den bürgerlichen Regierungskoalitionen ( Millerandismus ), sei es das momentane Dilemma der Haltung der Arbeiterklasse zum Krieg : Trotz ihrer manchmal extremistischen Rhetorik wurde die Internationale durch unüberbrückbare Meinungsverschiedenheiten davon abgehalten, mehr als lediglich gewunden formulierte Erklärungen abzugeben, die anfällig für widersprüchliche Interpretationen waren. Sie war nicht in der Lage, klare, eindeutige Handlungsanweisungen zu formulieren, die alle nationalen Parteien binden würden. Während sie den allgemeinen Prinzipien huldigte, überließ sie die Entscheidung über die Art ihres Handelns den nationalen Parteien. Dies war Lenin eine dauerhafte Lehre, als er die berühmten Punkte 19 bis 21 der Dritten Internationale zu formulieren begann und die zentralisierte Entscheidungsgewalt zu einem Eckpfeiler des Komintern - Programms machte, bis hin zur Ver weigerung eines jeglichen autonomen Status für die nationalen Parteien. Vielleicht noch auffallender war die deutliche Entwicklung dieser Tendenz in Rosa Luxemburgs Leitfaden der Neuen Internationale, den sie während des Krieges der Führung der Spartakisten vorschlug.213 Wie wir sehen werden, gab sie bei diesem Anlass all ihre frühere Zurückhaltung in der Frage einer zentralisierten Führung auf. Der Internationalismus war ihr Augapfel. Wenn das weltweite Proletariat eine untrennbare Einheit war, dann musste es eine festgefügte gemeinsame Strategie haben. Mit all ihrer leidenschaftlichen Unterstützung revolutionärer Spontaneität erkannte Rosa Luxemburg, dass deklaratorischer Internationalismus bedeutungslos war. Er musste fest institutionalisiert sein. Der Gegner war eine zu starke und zu gefestigte Macht. Selbst in ihren kühnsten Träumen konnte sie sich allerdings nicht vorstellen, dass das Hauptquartier der Weltrevolution nicht in der Hauptstadt einer Föderation proletarischer Gemeinschaften liegen würde, sondern in einem völlig isolierten sozialistischen Staat, der dazu verpflichtet war oder verleitet werden würde, seine Position als Avantgarde der Weltrevolution 212 213
Vgl. Joll, The Second International. Vgl. Luxemburg, Entweder – Oder.
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zu benutzen, um seine eigenen Bedürfnisse und Interessen als Großmacht zu verfolgen.214
a) Kolonialismus Um es zu wiederholen : Für Rosa Luxemburg, Lenin und ihre Freunde war die Frage des monopolistisch - kapitalistischen Imperialismus die zentrale Achse ihres aktualisierten Mar xismus geworden, die neueste und endgültige Form des Klassenkonflikts innerhalb der Nation und auch, als die Vollendung der weltweiten sozialen und nationalen Polarisierung, zur Garantie der Unabwendbarkeit und des unmittelbaren Bevorstehens der Weltrevolution. Sie waren der Meinung, dass die Gegnerschaft zum militaristischen, imperialistisch gewordenen Nationalismus die tragfähigste proletarische Planke der Bühne der nationalen Politik wie auch der weltweiten revolutionären Strategie geworden war. Im Gegensatz dazu konnten die moderaten „sozial - imperialistischen“ Sprecher wie Bernstein, David, die Fabians und zumindest eine Zeit lang auch Kautsky sich paradoxer weise auf Marx’ internationalistische Verteidigung des Kolonialismus im dritten Band von Das Kapital berufen, als eine Unterstützung für den von den Nationalstaaten praktizierten Imperialismus. „Selbst eine ganze Gesellschaft, eine Nation, ja alle gleichzeitigen Gesellschaften zusammengenommen“, schrieb Marx, „sind nicht Eigentümer der Erde. Sie sind nur ihre Besitzer, ihre Nutznießer, und haben sie als gute Eltern den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen.“214z Wenn „die Wilden“ nicht wussten, wie sie ihre natürlichen Ressourcen nutzen und ihr Land verbessern konnten, und wenn der Reichtum ihrer Natur notwendig für den Fortschritt einer höheren Zivilisation war und das Wohl und der Fortschritt der unterentwickelten Völker die Hilfe der geschäftstüchtigen und dynamischen Fremden benötigten, sollte „die höhere Kultur“ gegenüber dem „bedingten Recht“ der Ureinwohner befugt sein, „das höhere Recht“ zu genießen.215 Es ist unnötig zu sagen, dass alle Sprecher auf sozialistischen Kongressen sich deutlich gegen brutale Ausbeutung und Unterdrückung der Kolonialvölker aussprachen, Gräueltaten verurteilten und vor gewissenloser Usurpation des natürlichen Reichtums und der wirtschaftlichen Möglichkeiten in rück-
214 Vgl. Luxemburg, Fragment über Krieg. 214z Marx, Das Kapital, Band 3. In : Marx / Engels, Werke, Band 25, S. 784. 215 Vgl. Braunthal, Geschichte der Internationale, Band 1, S. 311–313, Zitate : S. 312; Kautsky, Sozialismus und Kolonialpolitik, S. 43 f.; ders., Der Imperialismus, S. 908; ders., Nochmals die Abrüstung, S. 844–850; Noske, Kolonialpolitik und Sozialdemokratie; Kiernan, Mar xism and Imperialism, S. 6–17; Avineri, Karl Marx, S. 39–44.
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ständigen Ländern durch private monopolistische Interessengruppen warnten, die ihre jeweiligen Nationen in gefährliche Abenteuer und Konflikte mit Eingeborenen und rivalisierenden Imperialisten hineinzogen. Aber selbst jene, die den Imperialismus als Ausdruck des Drangs nach Eroberung, Unterjochung, Ausbeutung und Plünderung brandmarkten, schreckten vor den extremen theoretischen und praktischen Schlussfolgerungen Rosa Luxemburgs zurück. Was die meisten von ihnen wollten, war eine Humanisierung kolonialen Handelns und seine strengere demokratische und parlamentarische Kontrolle. Sie bestanden darauf, dass es die Pflicht der imperialen Staaten sei, zuerst die Lebensbedingungen der Einheimischen zu verbessern, sie dann auf die Selbstregierung vorzubereiten und ihnen schließlich die Unabhängigkeit zuzugestehen. Aus Angst vor politischen Verstrickungen, in welche die Regierungen eventuell durch kapitalistische Interessen geraten könnten, befür worteten einige von ihnen sogar Formen des Kolonialismus, die nicht an Regierungen gebunden waren, wie die Ausbeutung natürlicher Ressourcen durch private Initiativen und koloniale Ansiedlung durch Individuen oder Gruppen, welche die einfache Bevölkerung durch ihr Beispiel unterrichten und eine wirtschaftliche Infrastruktur für den modernen unabhängigen Staat vorbereiten würden. Kautsky ging in an einer Stelle sogar so weit zu behaupten, die imperialistische Ausbeutung der unterentwickelten Gebiete in Asien und Afrika könne durch die Verschränkung internationaler Konzerne und internationaler Wirtschaftsvereinbarungen in Fragen der Aufteilung von Kolonialgebieten und Einflusssphären gar zu einer friedlichen Aufteilung der Welt und zu reibungsloser internationaler Kooperation führen. Diese Auffassung stand in hartem Widerspruch zu den Ansichten des holländischen Radikalen van Kol, der 1904 beim Amsterdamer Kongress der Internationale die Resolution vorschlug, dass „koloniale Expansion [...] eine unvermeidliche Begleiterscheinung [...] des Kapitalismus in seiner neuen (nicht letzten !) Erscheinungsform“ – dem Imperialismus – sei.216 Letztere „trage die Drohung europäischer Kriege in sich, sei eine Quelle des Chauvinismus und bürde den Völkern wachsende Lasten für den Militarismus auf“,216z welche meist über indirekte Steuern und hohe Zölle auf importierte Waren des Grundbedarfs von den Massen bezahlt wurden. In ihrer eigenen Resolution auf dem Pariser Kongress im Jahr 1900 bezeichnete Rosa Luxemburg Kolonialismus und Militarismus als die beiden Aspekte eines neuen Phänomens in der Weltpolitik – eines Phänomens, dessen „Delirien [...] in den letzten
216
Vgl. Internationaler Sozialistenkongress zu Amsterdam, S. 23 f. A. d. Ü. : Das Zitat findet sich bei Braunthal, Geschichte der Internationale, Band 1, S. 313. 216z Braunthal, Geschichte der Internationale, Band 1, S. 315.
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6 Jahren 4 blutige Kriege herbeigeführt haben“.217 Sie prophezeite sogar, dass „der Zusammenbruch der kapitalistischen Ordnung nicht durch eine ökonomische, sondern durch eine politische, durch die Weltpolitik herbeigeführte Krisis erfolgen wird“,217z womit sie den internationalen Krieg meinte, der aufgrund imperialistischer Rivalitäten unvermeidlich geworden sei. Deutliche Echos von Rosa Luxemburgs Vorschlag hallten in der Resolution wider, die schließlich angenommen wurde, konkret in der Nennung der Bedrohung, dass der „Krieg in einen permanenten Zustand“ ver wandelt wird, in der Forderung, „die weltpolitische Alliance der Bourgeoisien und Regierungen zur Verewigung des Krieges durch eine Alliance der Proletarier aller Länder zur Verewigung des Friedens“ zu beantworten und durch die Betonung der Notwendigkeit, „eine gleichzeitige und gleichförmige Protestbewegung gegen den Militarismus ins Leben zu rufen“.218 Der Kongress folgte dieser radikalen Resolution nicht, sondern begnügte sich mit einer platten Stellungnahme, die „das Recht der Einwohner zivilisierter Länder, sich in Ländern niederzulassen, deren Bevölkerung sich in niederen Stadien der Entwicklung befindet“,219 bekräftigte und eine menschliche Behandlung der eingeborenen Bevölkerung, die Anerkennung ihres Rechts auf letztendliche Emanzipation und eine strikte parlamentarische Kontrolle der „reichen Cliquen“ forderte, die in die koloniale Plünderung verstrickt seien und die Schuld an der erniedrigenden Behandlung der Ureinwohner trügen. Beim Stuttgarter Kongress 1907 ver wies Kautsky erneut auf den Widerspruch zwischen dem sozialistischen Konzept des Rechtes auf nationale Selbstbestimmung und Kolonialismus jeglicher Art, sogar durch ein sozialistisches Regime, da dies immer noch die Herrschaft ausländischer Eindringlinge war, selbst wenn es ein wohlwollender Despotismus sein mochte. Die endgültige Resolution begann mit einer heftigen Schmährede gegen die bösen Eigenschaften des kapitalistischen Kolonialismus, der durch seine Natur „Sklaverei, Zwangsarbeit und Ausrottung“ der Einheimischen fördere, unter dem Vor wand einer zivilisierenden Mission, die regelmäßig durch systematische Plünderung, Versklavung und Gräueltaten Lügen gestraft wurde. Sie endet mit dem frommen Wunsch, dass „im Interesse der Entfaltung der Produktivkräfte eine Politik“ erarbeitet werde, „die die friedliche kulturelle Entwicklung gewährleistet und die Bodenschätze der Erde in den Dienst der Höherentwicklung der gesamten Menschheit stellt“.220 Mit anderen Worten : Auch wenn der Kolonia217 Internationaler Sozialistenkongress zu Paris, S. 27. 217z Ebd. 218 Ebd., S. 28. A. d. Ü. : Dieser Satz musste etwas umformuliert werden, um die Originalzitate unverändert einfügen zu können. 219 Internationaler Sozialistenkongress zu Amsterdam, S. 19. 220 Internationaler Sozialistenkongress zu Stuttgart, S. 39.
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lismus von Nationalstaaten ausging, wurde er nicht en bloc und unter allen Umständen zurückgewiesen. Tatsächlich dachte niemand ernsthaft, dass er durch irgendwelche anderen Mittel als den Staat fortgeführt werden könnte. Die Argumente der sozialistischen Verteidiger des Kolonialismus waren weitreichend. Indem sie gleichsam die Theorie ihrer Gegner akzeptierten, dass der Imperialismus notwendig und unumgänglich und die letzte Phase des Kapitalismus sei, fanden sie in ihm eine Rechtfertigung für die Intensivierung der kolonialen Aktivitäten, da diese die Revolution näher bringen mussten. Insofern er darauf berechnet war, den Kapitalismus zu Hause zu fördern, würde der Import billiger Rohmaterialien und der Export von Fertigerzeugnissen in die Kolonien sicherlich auch der Arbeiterklasse direkte Vorteile bringen. Die extrem zentralisierten und monopolistischen Formen der kapitalistischen Wirtschaft im Zeitalter des Imperialismus machten die Transformation einer kapitalistischen in eine sozialistische Wirtschaft einfacher. Ein Verbot der imperialistischen Expansion mochte sinnvoll sein, wenn es nicht bloß prinzipiell von allen gleichermaßen akzeptiert wurde, sondern wenn er die alten imperialistischen Mächte dazu brachte, sich gleichzeitig von ihren Herrschaftsgebieten zu trennen. Letzteres war kaum zu erwarten : Würde sich Großbritannien aus Indien zurückziehen oder wären die Yankees bereit, die Territorien der Vereinigten Staaten den Indianern oder Mexiko zurückzugeben ? Die antiimperialistische Agitation war daher eine List, um die kräftigen, jungen, über völkerten Nationen ihres Anteils an der Beute des Planeten zu berauben und Großbritannien und seinesgleichen das Feld zu überlassen.221 So wurden auch die deutschen Revisionisten wie Gerhard Hildebrand, der letztendlich aus der Partei ausgeschlossen wurde, Schippel, Quessel, Wolfgang Heine und Eduard David niemals müde festzustellen, dass im Vergleich zu England und Frankreich mit ihrem zeitigen Start als industrielle und koloniale Mächte Deutschland ein benachteiligtes Land und wie Italien eine junge proletarische Nation war. „Darum wäre es“, schrieb Hildebrand, „kein unsozialistischer Schritt, kein Rückfall in nationalistische Tendenzen, keine Unterstützung kapitalistischer Sonderinteressen, wenn die Arbeiter der kolonial benachteiligten Länder Deutschland und Italien in der gegenwärtigen Situation erklären würden : Wir sind für den Frieden, aber nur für einen Frieden auf der Grundlage der Gleichberechtigung.“221z „Kein Volk, das in seiner eigenen Entwicklung bedroht oder ungebührlich eingeschränkt wird, braucht sich um des lieben Friedens willen die allmähliche, im einzelnen oft fast unmerkliche, 221
Vgl. Joll, The Second International, S. 123–125; Niemeyer, The Second International, S. 95–116; Maehl, The Triumph of Nationalism, S. 28–31. 221z Hildebrand, Sozialistische Auslandspolitik, S. 62. A. d. Ü. : Siehe auch Maehl, The Triumph of Nationalism, S. 30 f.
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aber im Gesamteffekt schließlich mörderische Einschnürung seiner wirtschaftlichen Bewegungsfreiheit widerstandslos gefallen zu lassen.“222
b) Bürgerliche Koalitionsregierungen Um die Jahrhundertwende war die Zweite Internationale sehr stark mit dem Problem des Millerandismus beschäftigt. Der von einem sozialistischen Führer unternommene Schritt der Teilnahme an einer bürgerlichen Koalitionsregierung, welcher zufällig General Galiffet als Kriegsminister angehörte, einer der Schlächter der glorreichen Pariser Kommune, schien den beiden Grundprinzipien des Sozialismus – Klassenkampf und Internationalismus – zu widersprechen. Vor nicht allzu langer Zeit hatte ein Mann wie Guesde noch starke Bedenken gehabt, überhaupt an Nationalversammlungen teilzunehmen. Sogar nachdem er seine Bedenken über wunden hatte, bat er auf seinen Wahlplakaten die Messieurs les bourgeois, seine Klassenfeinde, nicht für ihn zu stimmen. Jetzt saß ein Sozialist in einem Kabinett, zu dessen Aufgaben es gehörte, Streiks mit Hilfe der Armee niederzuschlagen. Als Mitträger ministerieller Verantwortung würde er gezwungen sein, bürgerliche Mehrheitsentscheidungen zu akzeptieren, die den Interessen der Arbeiterklasse entgegenstanden. Auf der Ebene der internationalen Beziehungen konnte ein sozialistisches Mitglied eines bürgerlichen Koalitionskabinetts in einer Zeit streng definierter militärischer Allianzen und bewaffneter Lager, die sich zum Krieg gegeneinander verschworen, zu nichts anderem werden als zu einem Komplizen von Kriegstreibern. Er würde daher alle Prinzipien der internationalen Arbeitersolidarität verraten, die darauf zielten, die Arbeiterklassen davor zu schützen, sich gegenseitig abschlachten zu müssen. Auch zu diesem Thema nahm die Zweite Internationale eine Resolution an, die nach anfänglicher Verkündigung frommer Allgemeinheiten im Namen der Reinheit und des internationalen Charakters des proletarischen Kampfes gegen den internationalen Kapitalismus die Entscheidung über einen Beitritt zu Koalitionsregierungen jeder einzelnen nationalen Partei, je nach Umständen und lokalen Bedürfnissen, überließ.223 Es war einfach, den Millerandismus zu verurteilen. Wenige der Sozialisten außerhalb Frankreichs begriffen die Natur der Dilemmata, die Millerand dazu trieben, sich so zu verhalten, wie er es tat ( mit Jaurès’ Zustimmung ), und die
222 223
Hildebrand, Sozialistische Auslandspolitik, S. 2 f. Vgl. Joll, The Second International, S. 85–87, 94–99; Dolléans, Histoire du Mouvement Ouvrier, Band 2 : 1871–1936, Deuxième partie : Les temps héroïques du syndicalisme, Chapitre I : Internationale politique ou internationale syndicale ?; Lefranc, Le Mouvement socialiste sous la Troisième République, S. 105–117.
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etwa zwanzig Jahre später in ganz Europa, vor allem in Deutschland, höchste Dringlichkeit bekommen sollten. Die Dreyfus - Affäre und der drohende Staatsstreich der Rechten gegen die Dritte Republik konfrontierte die französische sozialistische Partei mit folgenden Alternativen : nach dem Prinzip „je schlimmer der Ärger mit dem Bürgertum, desto besser für die Revolution“ zu handeln, die Republik durch einen Militärputsch stürzen zu lassen oder der demokratischen Republik zur Hilfe zu eilen. Guesde, der, wie bereits gesagt, zuvor die sozialistische Beteiligung an parlamentarischen Wahlen damit gerechtfertigt hatte, dass eine „sozialistische Garnison in einer kapitalistischen Zitadelle“ stationiert würde, prophezeite, der „Ministerialismus“ werde die enttäuschten Hitzköpfe unter den revolutionären Sozialisten in die Arme des Anarchismus oder eines neuen Cäsarismus treiben, während Jaurès die „ouvertures de l’histoire“ im Sinne einer kräftigen Eroberungsbewegung guthieß. Bebel hingegen witterte wie Guesde eine gefährliche Falle.224
c) Das Gespenst des Krieges Von unendlich größerer Bedeutung war die Frage nach der Haltung des Proletariats gegenüber der Drohung des internationalen Krieges und dem Krieg an sich, wenn er trotz aller Bemühungen, ihn zu verhindern, einmal ausgebrochen war. Die späten Verlautbarungen von Marx und Engels hatten das Dilemma der Zweiten Internationale in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg vorausgesagt, die schreckliche Zwickmühle in den letzten paar Tagen vor der Lawine und schließlich die Katastrophe vom 4. August 1914, als die Parteien der kriegführenden Nationen, vor allem Deutschlands, mit der quälenden Alternative konfrontiert wurden, sich jetzt und sofort zu entscheiden zwischen dem, mit Engels’ Worten, Überlebenskampf ihrer Nationen, „our nation, right or wrong“,224z und der einheitlichen internationalen proletarische Front gegen den imperialistischen Krieg. Abgesehen davon, dass Engels für eine Revolution in Russland betete, die der SPD die Qual einer Entscheidung darüber ersparen würde, einen Krieg gegen Russland zu unterstützen oder nicht, hatte Engels seine düstere Vorahnung durch ständiges Wiederholen seiner Zuversicht gemildert, dass der Sozialismus schließlich gewinnen musste, was auch immer passieren und welchen Zickzackkurs die Geschichte nehmen würde. Dennoch ist es ein äußerst langer Weg von Engels eindringlicher Mahnung an die Repräsentanten der Arbeiter, für Kriegskredite in einem Verteidigungskrieg zu stimmen, zu einer proletarischen Politik der Ver wandlung eines Krie224 Vgl. Drachkovitch, Les Socialismes français, S. 24. 224z A. d. Ü. : Vgl. Kapitel 1, Fußnote 9z.
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ges der Nationen in einen europäischen Bürgerkrieg, indem man zu Ungehorsam, Generalstreik, Ver weigerung des Kampfes, Sabotage und schließlich bewaffneten Aufständen griff. Die Tendenz zur Zurückweisung einer jeglichen Vorstellung vom internationalen Krieg als der Geburtshelferin der Revolution, das Eintreten für eine Politik totaler Opposition gegen jegliche Form von Krieg, in vielen Fällen – Her vé, Liebknecht, Luxemburg, Lenin und andere – bis zu dem Punkt, jeden Unterschied zwischen einem Verteidigungskrieg und einem Aggressionskrieg zu bestreiten, hatte zweifellos mit einer wachsenden humanitären Einstellung zu tun, mit einer klareren Erkenntnis der Schrecken moderner Kriegsführung und der daraus resultierenden Angst um das Überleben der Zivilisation und ihrer moralischen Werte – wie es Bebel vor dem Reichstag sagte.225 Aber ihre stärkste, obgleich nicht immer ganz bewusste Motivation war die Furcht vor der Prüfung, mit der die Arbeiterklasse konfrontiert werden würde. Trotzdem, wie bereits angedeutet, gaben nicht alle Sozialisten die Erwartung auf, dass ein Krieg, wenn er trotz der proletarischen Opposition käme, in ein Instrument der Revolution ver wandelt würde. Am Vorabend von 1914 brütete Lenin, wie auch Par vus und Rosa Luxemburg, über den Möglichkeiten, die ein bewaffneter Zusammenstoß zwischen den Großmächten dem Proletariat eröffnen könnte. Er bezweifelte jedoch, dass Wilhelm II., Nikolaus II. und Franz Joseph, die sich darüber klar sein mussten, was ihnen bevorstand, sich wirklich entsprechend verhalten würden.226 Dass sich die imperialistischen Herrscher der ihnen bevorstehenden Gefahren zumindest in Russland bewusst waren, wissen wir aus dem bereits erwähnten, erstaunlich prophetischen Durnowo - Memorandum, das den Zaren davor warnte, Russland in einen Krieg mit dem kaiserlichen Deutschland schlittern zu lassen. Russland befand sich nicht in der Lage, solch einen Kampf durchstehen zu können; und war es erst einmal müde geworden, würde nicht eine politische Revolution, sondern eine Flut über Russland hereinbrechen, den Thron hinwegspülen, die soziale Ordnung zu Fall bringen und das Reich in ein Chaos aus Blut und Feuer stürzen. Durnowo war sich zudem sicher, dass auch die Hohenzollern durch einen Krieg gestürzt würden, gleich welches Ergebnis er hätte. Angesichts dessen erklärten alle Sozialisten die Doktrin zu einem Glaubensartikel, wonach Krieg dem kapitalistischen System inhärent sei. Aber dieses Dogma war offen für widersprüchliche Interpretationen. Eine davon lautete, 225 226
Vgl. Fainsod, International Socialism, S. 15–20; Niemeyer, The Second International, S. 108–116; Haupt, Socialism and the Great War. Vgl. Shub, Lenin, S. 153. A. d. Ü. : Im englischen Original spricht Talmon statt von Wilhelm II. und Nikolaus II. von „Willy“ und „Nicky“.
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es sei sinnlos zu versuchen, den Krieg hinwegzuzaubern, ohne zuerst den kompromisslosen Versuch zu machen, den Kapitalismus abzuschaffen. Aber diejenigen, die Sorge trugen, sich nicht für eine Anti - Kriegspolitik zu engagieren, waren auch genau diejenigen, die sich gegen ein revolutionäres Vorgehen gegen das kapitalistische System stellten. Als ein internationales Problem par excellence machte die Opposition gegen den Krieg gemeinsames internationales Handeln notwendig. Aber wie Kautsky nach dem August 1914 sagte : Angesichts einer losen Föderation nationaler Parteien – wobei das Internationale Sozialistische Büro in Brüssel kaum mehr als ein Postfach war und ganz gewiss kein Generalstab – gab es einfach nicht die Maschinerie für eine effektive Führung und schnelles Handeln in einem internationalen Notfall.227 Und diejenigen, die am meisten hätten besorgt sein müssen, die mörderische Prüfung eines Krieges abzuwehren, waren zugleich die Letzten, die bereit waren, ihre Parteien einer allgemeinen internationalen Autorität unterzuordnen. Auf dem Kongress der Zweiten Internationale gaben sich deutsche wie auch französische sozialistische Sprecher Mühe, das Bild ihres Landes in den Augen von Fremden nicht zu trüben. Sie wiesen Vor würfe der Kriegshetze gegenüber den jeweiligen Regierungen zurück. Die Trennung zwischen der Reputation des Staates und dem Prestige der jeweiligen sozialistischen Partei wurde ver wischt. Bebel begegnete Jaurès’ Kritik am Fehlen eines revolutionären Impulses in der größten und bestorganisierten Arbeiterpartei mit dem ausgefeiltesten theoretischen Rüstzeug in der Welt, der SPD, indem er auf die Schwäche der französischen sozialistischen Bewegung im Vergleich zu der Aussicht der SPD ver wies, bald eine Mehrheit im Land und in dessen Repräsentativkörperschaften zu erreichen. Während er mit Stolz feststellte, dass die französischen Sozialisten die Erben der revolutionären jakobinischen Tradition seien, ignorierte der Autor der monumentalen Histoire Socialiste de la Révolution Française keineswegs den heißblütigen Patriotismus der Verteidiger der einen und unteilbaren Republik gegen die konterrevolutionären Mächte. Bebel wiederum erinnerte stolz an die Beiträge des deutschen klassischen Humanismus und der dialektischen Philosophie sowie selbstverständlich Marx’, Engels’ und Lassalles zum allgemeinen Schatz der sozialistischen Ideen. Es führte zu einem großen Drama und stellte keine geringe Peinlichkeit dar, als Jaurès den deutschen Genossen erzählte, während die französischen Massen ihr Stimmrecht auf den Barrikaden errungen hätten, hätten es die deutschen Arbeiter als Geschenk von Bismarck erhalten, und Bebel zurückrief : „Und die neue Republik, die habt Ihr wieder nicht erobert, die bekamt Ihr durch Euren Feind Bismarck, als
227
Vgl. Kautsky, Die Internationale, S. 6 f.
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er nach Sedan Napoleon III. nach Wilhelmshöhe führte.“228 Die Herzen beider Veteranen, Männer, deren Gefühle und natürliche Großzügigkeit leicht zu erregen waren, wurden so weit gebracht, sich die magischen Worte „patrie“ und „Vaterland“ gegenseitig um die Ohren zu schlagen. Die Tatsache war nicht zu leugnen, dass das junkerdominierte Deutschland über ein weit fortschrittlicheres Sozialrecht mit entsprechenden Dienstleistungen verfügte als das republikanische Frankreich und die Reichsbehörden nie auf die Armee zurückgriffen, um Streiks zu brechen, wohingegen französischen Soldaten befohlen wurde, Streikende niederzuschießen.229 Im Vergleich zu der enormen Stärke und dem Wohlstand der konser vativen deutschen Gewerkschaftsbewegung waren die französischen Arbeiter vertretungen trotz ihres lautstarken Extremismus und ihrer antipatriotischen Haltung beklagenswert schwach. Bei genauerer Prüfung wird deutlich, dass die Führer der nationalen Parteien der Zweiten Internationale tatsächlich eher mit der Verhinderung eines Kriegsausbruchs und der Abwendung des Krieges beschäftigt waren als mit der Frage, wie dieser gestoppt werden könnte, wenn er erst einmal ausgebrochen war. Diese Möglichkeit erschien zu schrecklich, um sie in Erwägung zu ziehen. Dies war eine Flut, gegen die kein Mittel erfunden werden konnte. Eine Vielzahl an Ideen wurde geprüft, wie den Regierungen, Klassen, Interessen und Gefühlen zu widerstehen sei, von denen man annahm, dass sie zu Gunsten des Krieges arbeiteten. Man nahm an, dass die Abschaffung der stehenden Heere und ihre Ersetzung durch Volksmilizen die militärischen Kasten und Traditionen wegspülen und die Verbreitung pazifistischer Gedanken sicherstellen würde, da ein Volk in Waffen ohne Zweifel kein eigenes Interesse am Krieg habe und von chauvinistischer Leidenschaft frei sei, während es sich gleichzeitig im Falle einer Invasion als unbesiegbar erwiese.230 Bernstein brachte den klugen Einwand, in jenen Ländern, in denen eine Volksmiliz möglich sei, sei sie unnötig, und dort, wo sie notwendig erscheine, sei sie in absehbarer Zukunft nicht erreichbar.231 Das Prinzip der Ver weigerung von Militär und ganz sicherlich Kriegskrediten wurde fast einstimmig als eine bindende Verpflichtung für die Sozialdemokratischen Parteien akzeptiert. Geheimdiplomatie und chauvinistische Propaganda prangerte man als heimtückische Gefahren an, die mit allen Mitteln bekämpft werden sollten. Die französischen und britischen Sozialisten legten großen Wert auf das Prinzip der internationalen Schlichtung, die durch schrittweise Abrüstung einfacher und effektiver gemacht werden sollte.232 Wie gewöhnlich schwankte Kautsky zwischen sozia228 229 230 231 232
Internationaler Sozialistenkongress zu Amsterdam, S. 43. Vgl. ebd., S. 41 f. Vgl. Braunthal, Geschichte der Internationale, Band 1, S. 340–347. Zit. in Drachkovitch, Les Socialismes français, S. 253. Vgl. Niemeyer, The Second International, S. 112–114.
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listischem Radikalismus und demokratischem Humanismus und versuchte, beides zu verbinden : Die Vereinigten Staaten von Europa mit einer gemeinsamen Regierung und Armee und einem gemeinsamen Parlament würden das Gespenst des Krieges vertreiben und es gleichzeitig einem vereinigten europäischen Proletariat ermöglichen, den internationalen Kapitalismus zu besiegen.233 Die Unterscheidung zwischen einem Verteidigungskrieg, dem die Mehrheit zustimmte, und einem Aggressionskrieg, dem gegenüber sie sich verpflichtet fühlten, mit allen Mitteln Widerstand zu leisten, war äußerst schwer. Kautsky war der Realistischste, als er behauptete, es werde letztendlich unmöglich sein, in dieser Angelegenheit zu einer eindeutigen Definition zu kommen : Ein Angreifer in technischer Hinsicht mochte sich im Endeffekt lediglich gegen einen unmittelbar bevorstehenden Angriff verteidigen.234 Bernstein ging so weit zu behaupten, dass in modernen Zeiten ein Land den Krieg bereits halb verloren habe, das aufgrund tiefsitzender Skrupel nichts tat, um einem Feind zuvorzukommen und ihn daran zu hindern, in sein Territorium einzudringen und dort Krieg zu führen.235 Bebel beschied sich mit der Feststellung, man werde schon erkennen, wer der Angreifer und wer der angegriffene und sich verteidigende Staat sei.236 Den extremsten Standpunkt nahmen die französischen Syndikalisten ein, allen voran Gustave Her vé, der zukünftige Ultra Chauvinist und Faschist. Sie forderten bewaffneten Widerstand und einen Aufstand gegen jede kriegführende Regierung. Sie weigerten sich, in irgendeiner Weise zwischen einem gerechten und einem ungerechten Krieg zu unterscheiden. Sie riefen zum bewaffneten Widerstand und Aufstand gegen jede kriegführende Regierung auf. Wie Rosa Luxemburg lehnten sie es ab, ein Land, das keine Revolution gehabt hatte, als ein Vaterland anzuerkennen, das es verdient hätte, verteidigt zu werden. Sie hielten am Abscheu und der Verhöhnung jeder Form von patrie fest, nannten die Nationalflagge einen Lumpen auf einem Misthaufen und forderten Wehrdienstleistende offen zur Desertion auf.237 Der leidenschaftlich an internationale Vermittlung glaubende Jaurès wollte, wie wir bereits wissen, die Annahme oder Ablehnung einer Vermittlung zum Test für einen defensiven oder offensiven Krieg machen.238 Kurz vor seinem Tod wiederholte Bebel sehr nachdrücklich seine Überzeugung von der Pflicht des Sozialisten, sein Vaterland zu verteidigen. Bei dieser Gelegenheit 233 234 235 236 237 238
Vgl. Kautsky, Die Vereinigten Staaten Mitteleuropas. Vgl. Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der SPD, Essen, 15.–21. 9. 1907, S. 261. Vgl. Drachkovitch, Les Socialismes français, S. 254. Vgl. ebd., S. 263 f. Vgl. ebd., S. 87–92. Vgl. Jaurès, Textes choisies, Band 1, S. 147–163; Jackson, Jean Jaurès, S. 164–166.
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erweiterte er das Konzept der nationalen Verteidigung um die Sorge dafür, die Grenzen in Übereinstimmung mit den geographischen Bedingungen und der Natur der feindlichen Nachbarn zu sichern. Er ging auch auf die Wichtigkeit des Verteidigungswillens und hoher nationaler Moral ein, indem er mit Stolz auf die Tage von 1813, Gneisenau und Scharnhorst ver wies.239 Ähnlich forderte Noske – weit davon entfernt, die Notwendigkeit einer nationalen Verteidigung zu leugnen – dazu auf, aus demokratischen und patriotischen Gründen für eine demokratisierte Armee zu kämpfen, die frei von preußischem Kasernengeist und der Überheblichkeit der Junker - Offiziere und somit effektiver und moderner sein würde.240 Um es zu wiederholen : Das Hauptproblem in der Debatte über Sozialismus und Krieg bestand darin, was zu tun sei, wenn der Krieg einmal ausgebrochen war und alle Antikriegsagitation, Proteste, Demonstrationen, flammenden Reden, stürmischen Resolutionen und drohenden Warnungen an die herrschenden Klassen und ihre gedankenlosen oder egoistischen und verdorbenen Regierungen den Brand nicht hatten verhindern können. Die Ultralinken kannten nur eine Antwort : ein sich zum Massenaufstand entwickelnder Generalstreik. Vaillant und Keir Hardie schlugen auf dem Kopenhagener Kongress von 1910 einen auf Kriegstransporte und Kriegsproduktion begrenzten Streik vor.241 Aber jeder verstand, dass solch ein Streik nicht an diesem Punkt abgebrochen werden könnte. Er würde entweder im Keim erstickt oder zu einem Generalstreik und Bürgerkrieg anwachsen. Rosa Luxemburg war äußerst weitsichtig hinsichtlich der Gefahren, die im Nationalismus für den revolutionären sozialistischen Internationalismus lauerten. Sie schrieb : „Nicht umsonst vibriert in dem revolutionären Mar xismus die internationale Note so stark, nicht umsonst klingt der opportunistische Gedankengang stets in eine nationale Absonderung aus“.242 Der Stuttgarter Kongress der Zweiten Internationale 1907 wurde zur Bühne der folgenschweren Konfrontation zwischen diesen Haltungen.243 Es gab Anträge von Bebel, Jaurès, Vaillant, Guesde und schließlich den von Lenin und Martow unterstützten Nachtrag Rosa Luxemburgs. Bebel und Guesde wichen dem Thema in Wirklichkeit aus, indem sie feststellten, Krieg sei ein Ausdruck 239 240 241 242 243
Vgl. Drachkovitch, Les Socialismes français, S. 265. Vgl. Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der SPD, Essen, 15.–21. 9. 1907, S. 229–231. Vgl. Internationaler Sozialistenkongress zu Kopenhagen, S. 32; Joll, The Second International, S. 140–142; Drachkovitch, Les Socialismes français, S. 333–338. Luxemburg, Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie, Band 1, 2. Halbband, S. 422 f. Vgl. Internationaler Sozialistenkongress zu Stuttgart; Gankin / Fischer, The Bolsheviks and the World War, S. 55–66.
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der kapitalistischen Widersprüche. Wie bereits erwähnt, konnte dies dahingehend interpretiert werden, dass das eigentliche Problem die Abschaffung des Kapitalismus und nicht die des Krieges sei. War Ersteres erreicht, würde Letzteres aufhören, eine Bedrohung zu sein. Solange der Kapitalismus andauerte, gab es nicht viel, was die Arbeiter tun konnten, außer gegen Militäretats zu stimmen, pazifistische Agitation zu betreiben und, wie Bebel unermüdlich wiederholte, für die Demokratisierung der Streitkräfte als „einer grundlegenden Garantie für dauernden Frieden“ zu kämpfen. Jaurès war schnell dabei, den fatalistischen, defätistischen und zwecklosen Charakter dieser Haltung herauszustellen : Den Krieg zu verhindern bedeute, die Arbeiter zu einer Armee von unbesiegbarer Stärke zu mobilisieren.244 Die Jaurès - Vaillant - Resolution bekräftigte nochmals das Recht jeder Nation, einen Verteidigungskrieg zu führen. Wie im Falle des Aggressionskriegs legte sie weniger Nachdruck darauf, einen Krieg zu stoppen, der bereits ausgebrochen war, als auf die Aufgabe, seine Ausbreitung zu unterbinden : „Die Verhütung und Verhinderung des Krieges ist durch nationale und internationale sozialistische Aktionen [...] mit allen Mitteln, von der parlamentarischen Inter vention, der öffentlichen Agitation bis zum Massenstreik und zum Aufstand zu bewirken.“245 Bebel wehrte sich mit Händen und Füßen gegen den letzten Teil der Jaurès- Vaillant - Resolution. Er würde nicht weiter gehen, als die Arbeiter und ihre Repräsentanten dazu zu drängen, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um den Ausbruch eines Krieges zu verhindern und seine Beendigung zu bewirken, wenn er erst einmal begonnen hatte, und zwar „durch Anwendung der ihnen am wirksamsten erscheinenden Mittel“.246 Das bedeutete nicht nur eine Weigerung, klare Direktiven anzubieten, sondern auch, die Angelegenheit dem Ermessen der nationalen Parteien zu überlassen. In einer leidenschaftlichen Rede erklärte Bebel alle Bezugnahmen auf einen Generalstreik und einen bewaffneten Aufstand als unter den Bedingungen Deutschlands einfach unmöglich und nicht diskutierbar und zeichnete darüber hinaus das dramatische Bild eines Landes, das die totale Mobilisierung von sechs Mio. einberufenen Männern ( davon zwei Mio. SPD - Mitglieder ) [„Wo bekommen wir dann die Menschen für einen Generalstreik her ?“] erlebt hatte, begleitet von einer umfassenden Wirtschaftskrise, Hungersnot und Inflation. Könnte man in einer solchen Situation tatsächlich mit der Vorstellung eines Generalstreiks jonglieren ? Schon der erste Versuch würde im Spott untergehen und, sofern fortgeführt, auf die chauvinistische Erregung der Nation stoßen; Kriegsrecht 244 245 246
Vgl. Internationaler Sozialistenkongress zu Stuttgart, S. 89. Ebd., S. 86. Ebd.
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und Militärgerichte mit ihren uneingeschränkten Befugnissen gegenüber Verrätern wären die Folge.247 Guesde, der alte Linke, der in der französischen Union sacrée während des Krieges Minister werden sollte, sprach sich ebenfalls gegen die Idee eines Generalstreiks aus, da so gerade die kriegführenden Länder mit einer sehr klassenbewussten Arbeiterklasse benachteiligt würden, während Staaten mit einem eingeschüchterten, rückständigen, nicht streikenden Proletariat im Vorteil wären.248 Die angenommene Resolution erkannte an, dass es unmöglich sei, „die in den verschiedenen Ländern naturgemäß verschiedenen, der Zeit und dem Ort entsprechenden Aktionen der Arbeiterklasse gegen den Militarismus in starre Formen zu bannen“.249 Daran angehängt war die Luxemburg - LeninMartow - Erklärung : „Droht der Ausbruch eines Krieges, so sind in den beteiligten Ländern die Arbeiter und ihre parlamentarischen Vertreter verpflichtet, alles aufzubieten, um den Ausbruch des Krieges durch Anwendung entsprechender Mittel zu verhindern, die sich je nach der Verschärfung des Klassenkampfes und der allgemeinen politischen Situation naturgemäß ändern und steigern.“249z Die Arbeiter dränge es, „die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur politischen Aufrüttelung der Volksschichten und zur Beschleunigung des Sturzes der kapitalistischen Klassenherrschaft auszunutzen“.250 Die Ironie dabei war, dass die Resolution einstimmig angenommen wurde und weder der Kongress noch die Konferenzen bis zum August 1914 jener abschließenden Passage irgendeine Beachtung schenkten, die doch zum Eckstein des Leninismus und Luxemburgismus werden sollte. In seiner Rede in Paris nach der Rückkehr aus Stuttgart nahm Jaurès tatsächlich keinen Bezug darauf; er forderte die Massen nur vage auf, „den Keim der unheilvollen Kriege durch parlamentarische Handlungen oder durch soziale Handlungen zu brechen“.251 Die Luxemburg - Lenin - Martow - Ergänzung zur Stuttgarter Resolution wurde einstimmig akzeptiert, weil die meisten Delegierten nicht das Geringste mit einer Revolution im Sinne hatten. Noch weniger fassten sie eine kalkulierte und aktive Politik des nationalen Verrats – einen Aufstand – gegen ihre eigenen Regierungen und Streitkräfte im Kriegsfalle ins Auge. Im Endergebnis erkannten sie ganz einfach nicht, dass es genau das war, dem sie sich nach Rosa Luxemburgs Vorstellungen verschreiben sollten.
247 248 249 249z 250 251
Vgl. ebd., S. 100. Vgl. ebd., S. 86. Ebd., S. 65. Ebd., S. 102. Ebd. Jaurès, Textes choisies, Band 1, S. 150.
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2. Die Stunde der Wahrheit Die Agonie der Zweiten Internationale in den letzten Juli - und in den ersten Augusttagen des Jahres 1914 offenbarte, wie schwach und unentschlossen der proletarische Internationalismus war, als er nicht nur mit der Stärke der imperialistischen Mächte konfrontiert wurde, die auf Krieg hinauswollten oder unaufhaltsam in ihn hineinschlitterten, sondern ebenso mit Massenpatriotismus auf der einen und der Lähmung ihrer Führung auf der anderen Seite. Die Führung stand dieser Prüfung gänzlich unvorbereitet gegenüber. Jahrelang war sie hin - und hergerissen worden zwischen Panik, wenn internationale Krisen aufflackerten, und Optimismus, wenn es irgendwie gelungen war, diese zu über winden. Die Tatsache, dass es sich zweimal als möglich erwiesen hatte, die gefährliche Uneinigkeit zwischen den Großmächten um Marokko, die zu einem Krieg hätte führen können, zu über winden und die Tatsache, dass einige koloniale Streitigkeiten einvernehmlich entschieden wurden, der Krieg in Libyen und die Balkankriege lokal begrenzt blieben und durch eine Übereinkunft der Mächte zum Abschluss gebracht wurden, ließen die Sozialisten in dem Glauben, die großen kapitalistischen Interessen verstünden sehr wohl ihr grundlegendes längerfristiges Interesse an der Vermeidung eines Weltbrandes, der sie alle betreffen würde.252 Dies hatte die Sozialisten auch – vollkommen fälschlicher weise – dazu gebracht zu glauben, Umfang und Intensität des proletarischen Protestes gegen das Kriegsgeschrei – und das Gespenst der sozialistischen Revolution – hätten wesentlich dazu beigetragen, kriegslüsternen Regierungen und schießwütigen Generalstäben Einhalt zu gebieten. Der boshafte Victor Adler verspottete die hysterischen Wichtigtuer unter den sozialistischen Antikriegshetzern, welche die sozialistische Glaubwürdigkeit in Verruf brachten, indem sie so viel Wirbel um jedes bedeutungslose diplomatische Ereignis entfachten.253 Als die eigentliche Prüfung kam, waren die Führer der Internationale nicht in der Lage, die Situation in irgendeiner Weise zu beherrschen. Hendrik de Man, der als Dolmetscher bei dem unglückseligen internationalen Treffen der sozialistischen Führer in Brüssel am Vorabend des Kriegsausbruchs diente, beschrieb später, wie „angesichts der nackten Tatsachen und konkreten Verantwortlichkeiten von all den Diskussionen nichts zurückblieb außer dem Eindruck einer unrealistischen Wortfülle, unfähig, ihre Machtlosigkeit zu verstecken“.254 In der „Dépêche de Toulouse“ vom 30. Juli 1914 schrieb Jaurès : „Angesichts der furchtbaren Drohung, die über Europa schwebt, habe ich zwei 252 253 254
Vgl. Braunthal, Geschichte der Internationale, Band 2, S. 17–21. Vgl. Drachkovitch, Les Socialismes français, S. 346, bes. Fußnote 2. Ebd., S. 129.
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sich widersprechende Empfindungen. Die erste ist eine Art von Betäubung und eine Empörung, die der Verzweif lung nahekommt. Können achtzehn Jahrhunderte des Christentums, der wunderbare Idealismus des revolutionären Rechts und hundert Jahre Demokratie wieder zu einer solchen Barbarei zurückführen ? Man beginnt sich zu fragen, ob das Leben noch lebenswert ist.“255 Das ziellose Kommen und Gehen der Arbeiter veteranen, die hartnäckige, in so vielen feierlichen Erklärungen und Resolutionen wiederholte Erinnerung an den Ruf der sozialistischen Pflicht, das Gefühl der Hilf losigkeit angesichts der furchtbaren Tatsachen, die ansteigende, mitreißende Welle des Massenenthusiasmus oder eher der Massenpsychose, die unerträgliche Spannung, als welterschütternde, unkontrollierbare Ereignisse auf ein katastrophales Ergebnis zu treiben, die lähmende Angst – was war das für eine Erleichterung, als alle Möglichkeiten und Alternativen schließlich versperrt waren und, wie Rosa Luxemburgs alter Genosse Haenisch schrieb, es möglich war, aus voller Kehle zu singen : „Deutschland, Deutschland über alles.“256 Ein paar Tage früher hatte Südekum dem Reichskanzler Bethmann Hollweg versichert, wenn Deutschland sich im Krieg befände, würden die Sozialdemokratische Partei und die Gewerkschaftsbewegung nichts tun, was der Regierung Schwierigkeiten bereitete.257 Jenseits der Grenze erklärte der alte Kommunarde und Verfasser extremer Antikriegsresolutionen, Edouard Vaillant, am 2. August, dass „ein unglückseliges Schicksal [...] uns in den Verteidigungskrieg führt. Angesichts der Aggression werden die Sozialisten ihre patriotische Pflicht erfüllen.“258
a) Die Katastrophe vom August 1914 Am 4. August war es Hugo Haase, der zentristische Führer und Vorsitzende der Sozialdemokratischen Reichstagsfraktion und ein Jude ( einer der zukünftigen Gründer der USPD und ihr Repräsentant im Revolutionären Direktorat im November 1918, bekannt für seine antiimperialistische Einstellung ), der bewusst von der Partei ausgewählt wurde, um vor den gefüllten Rängen und Galerien des Reichstags die Resolution zur Zustimmung zu den Kriegskrediten und für die Unterstützung des Existenzkampfes der Nation zu verlesen.
255 256 257 258
Jackson, Jean Jaurès, S. 230. A. d. Ü. : Für die französische Fassung siehe Pech / Cazals, Jaurès, S. 882. Schorske, German Social Democracy, S. 290. Vgl. ebd., S. 291–294; Fainsod, International Socialism, S. 23–29; Joll, The Second International, S. 166 f. Drachkovitch, Les Socialismes français, S. 129 f.
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„Wenn sich jemals die sozialdemokratische Reichstagsfraktion in vollster Übereinstimmung mit dem Fühlen und Denken der Massen befunden hat, dann an jenem in der Geschichte unseres Volkes unauslöschlichen vierten August“,259 schrieb Haenisch. Statt der befürchteten Verhaftungen, der Schließung ihrer Büros, des Verbots ihrer Zeitungen bekam die deutsche Arbeiterbewegung zum ersten Mal einen Vorgeschmack davon, wie es war, ins Vertrauen gezogen, konsultiert und um Mitarbeit gebeten zu werden sowie dem Staat in Angelegenheiten von höchster Wichtigkeit wie der Mobilisierung aller verfügbaren Arbeitskraft, der Organisation der Kriegsproduktion, der Planung der Kriegswirtschaft und den Dienstleistungen in der Etappe zur Seite zu stehen. Einige, wie Scheidemann, später der erste Reichskanzler der Weimarer Republik, genossen sichtlich ihre Aufgaben, glücklich darüber, internationale Verpflichtungen vergessen zu dürfen; andere, wie Karl Kautsky, mussten ihr Gewissen beruhigen, indem sie resignierend anerkannten : Die Geschichte hatte bewiesen, dass die Internationale ein hilfreiches Instrument der Zusammenarbeit sozialdemokratischer Parteien in Friedenszeiten war, aber nutzlos in einem einmal ausgebrochenen Krieg. Deutschland führte nicht nur einen Verteidigungskrieg, sondern auch einen Kreuzzug im Interesse des internationalen Proletariats und für die Weltrevolution : Es kämpfte gegen das unsägliche zaristische Regime. Ähnlich konnten die französischen Sozialisten das Gespenst des preußischen Junkertums und Militarismus beschwören, die Bedrohung durch eine von diesen Mächten dominierte Welt, in der die Nationen versklavt würden und das Proletariat unter dem Stiefel einer brutalen Soldateska stöhne. „Diesmal“, schrieb Her vé, „marschieren alle : die Royalisten, die Bonapartisten, die Nationalisten, sie sind fast so aufgebracht wie wir, die ‚Staatslosen‘“.260 Ein französischer Syndikalist fragte sich : „Wie ist es möglich, dass ich, ein Anti - Patriot, Anti - Militarist, der nichts anerkennt als die Internationale, meinen Leidensgenossen Schläge versetze und vielleicht entgegen meiner eigenen Sache, meinen eigenen Interessen, für Feinde sterbe ?“261 Das aus dem Jahr 1793 stammende Bild des revolutionären Frankreich im Krieg und der Schrecken eines verpreußten Deutschland waren stark genug, solch weltberühmte Propheten der Revolution wie die beiden russischen Exilanten Plechanow und Kropotkin in Unterstützer der Kriegsanstrengungen ihrer Länder zu ver wandeln. Der alte Theoretiker des monistisch - dialektischen Materialismus und kompromisslosen Klassenkrieges, Plechanow, wurde einer
259 260 261
Ebd., S. 291. A. d. Ü. : Das deutsche Original, auf das Drachkovitch ver weist und dem das Zitat entnommen wurde : Haenisch, Die deutsche Sozialdemokratie, S. 20 f. Her vé, La Patrie en danger, S. 93; siehe auch Drachkovitch, Les Socialismes français, S. 179. Drachkovitch, Les Socialismes français, S. 153.
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der standhaftesten Verfechter des Burgfriedens in Russland – bis zu dem Punkt, dass er jegliche Streiks und Klassenpropaganda während der Dauer des internationalen Krieges missbilligte.262 Rosa Luxemburgs ganze Welt schien in Trümmern. Sie konnte sich niemals eingestehen – wie ein französischer sozialistischer Führer es tat, als er gefragt wurde, warum die Führung der französischen Partei ohne jeglichen Widerstand kapitulierte und Guesde, Vaillant, Thomas und Sembat in das Kriegskabinett entsandte –, dass die Massen tatsächlich so begierig nach Krieg waren, dass sie jeden Führer, der sich gegen den Krieg gestellt hätte, in Stücke gerissen hätten. Her vé, gestern noch Chefpropagandist der bedingungslosen Opposition gegen jede Form des Krieges, ob Angriffs - oder Verteidigungskrieg, entwickelte sich über Nacht zu einem fanatischen Kriegsbefür worter, der sein Publikationsorgan La Guerre Sociale in La Victoire umbenannte.263 Für Rosa Luxemburg war das alles Hochverrat, begangen von einer opportunistischen, karrieresüchtigen, kleinbürgerlichen Führung in vollkommenem Einklang mit ihrem Verhalten der letzten Jahre. Auch wenn sie an den Enthusiasmus des Volkes für den Krieg appellieren konnten, war es ihre Pflicht als Führer, dem allgemeinen Willen zu gehorchen, den historischen Erfordernissen des Proletariats und nicht den vorübergehenden und flüchtigen Stimmungen einer schlecht informierten, ungebildeten, einer Gehirnwäsche unter worfenen und voreingenommenen Bevölkerung nachzugeben. „Es gibt nichts wandelbareres“, schrieb die Prophetin der Massenspontaneität und Überlegenheit der Masseninstinkte, „als menschliche Psychologie. Zumal die Psyche der Massen birgt stets in sich, wie die Thalatta, das ewige Meer, alle latenten Möglichkeiten : tödliche Windstille und brausenden Sturm, niedrigste Feigheit und wildesten Heroismus. Die Masse ist stets das, was sie nach Zeitumständen sein muß, und sie ist stets auf dem Sprunge, etwas total anderes zu werden, als sie scheint. Ein schöner Kapitän, der seinen Kurs nur nach dem momentanen Aussehen der Wasseroberfläche steuern und nicht verstehen würde, aus Zeichen am Himmel und in der Tiefe auf kommende Stürme zu schließen ! Mein kleines Mädchen“, schrieb sie am 16. Februar Mathilde Wurm, „die ‚Enttäuschung über die Massen‘ ist stets das blamabelste Zeugnis für den politischen Führer. Ein Führer großen Stils richtet seine Taktik nicht nach der momentanen Stimmung der Massen, sondern nach ehernen Gesetzen der Entwicklung, hält an seiner Taktik fest trotz aller Enttäuschungen und lässt im Übrigen ruhig die Geschichte ihr Werk zur Reife bringen.“264 262 263 264
Vgl. Carr, The Bolshevik Revolution, Band 1, S. 66 f.; Baron, Plekhanov, Kapitel 17 : The Prophet Rejected, S. 337–361. Vgl. Drachkovitch, Les Socialismes français, S. 92. Luxemburg, Briefe an Freunde, S. 47.
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Wo Lenin von den Repräsentanten der Arbeiteraristokratie als von der imperialistischen Phase des Kapitalismus her vorgebrachten Verrätern sprach, griff Rosa Luxemburg auf eher ideologische Begriffe zurück, um den Hochverrat des Reformsozialismus zu erklären. Dies bringt sie an den Rand eines psychologischen Elitismus : individuelle Psychologie, kleinbürgerliche Mentalität, die traumatische Macht nationalistischer Zwänge standen hinter diesem Hochverrat. Rosa Luxemburg fühlte sich durch Kautskys Formulierung in ihrer Überzeugung bestätigt, dass nicht nur die Revisionisten, sondern auch die Zentristen niemals wirklich geglaubt und niemals den Drang verspürt hätten, die Internationale als ein Instrument der internationalen Revolution zu nutzen. Für sie war sie nur eine Plattform, und ihre Kongresse waren nichts weiter als ein Anlass zusammenzukommen, um platte Reden zu halten und heuchlerische Erklärungen abzugeben und anzuhören, wobei jede nationale Partei frei war, ihre Politik so zu gestalten, wie sie es wünschte. Es hatte überhaupt keine globale revolutionäre Strategie gegeben. Dies war jetzt ein imperialistischer Krieg, den Völkern aufgezwungen und weitergeführt gegen das internationale Proletariat, der das Weltproletariat zwang, einen neuen Typ der Internationale zu entwickeln, die das Hauptquartier des Weltproletariats in seinem Kampf gegen den internationalen, militanten Imperialismus und für die Weltrevolution sein würde : Eine globale Strategie war zu formulieren, Taktiken waren festzulegen, den verschiedenen nationalen Bereichen waren Kampfaufträge zu erteilen, wobei diese als lokale Fronten und nicht als autonome nationale Parteien betrachtet wurden.265
b) Märtyrertum und Erlösung Früher als die meisten Menschen jeglicher Orientierung hatte Rosa Luxemburg die enorme Tragweite dessen, was im August 1914 passierte, erfasst. Es war nicht nur der Schrecken des Verhaltens ihrer Genossen im Reichstag, das Scheitern ihrer eigenen Linie in der SPD und der Zusammenbruch der Zweiten Internationale; es war ein über wältigendes Gefühl, dass der Krieg einen Wendepunkt in der Geschichte markierte, einen „point of no return“. Stimmungen dieser Art gewannen allmählich allgemein die Vorherrschaft, als der Krieg voranschritt und die ungeahnten Schrecken der modernen Kriegsführung enthüllt wurden : das erschütternde Gemetzel, die Grausamkeit, das Leid, die Verschwendung von Menschenleben, die sinnlose Absurdität und totale Unberechenbarkeit von allem. Was am meisten irritierte, war in der Tat der Orientierungsverlust und die Erschütterung des Selbstbewusstseins einer 265
Vgl. Braunthal, Geschichte der Internationale, Band 2, S. 55–63.
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hochzivilisierten Gesellschaft durch den unersättlichen Moloch des Krieges. Mehr als ein Jahrhundert lang hatte sie keinen großen, länger andauernden internationalen Krieg erlebt. Sie war aufgewachsen im unerschütterlichen Glauben an den Fortschritt. Sie hatte tatsächlich jeden Grund, auf ihre gewaltigen Errungenschaften auf allen Gebieten, die kreative Anstrengungen erforderten, sowie in allen Bereichen des Lebens und der Rechtsstaatlichkeit stolz zu sein. Sie konnte sicher sein, sich selbst und ihre Umwelt unter Kontrolle zu haben, fähig zu sein, rationale Pläne aufzustellen und auszuführen, Kosten und Profite zu gewichten und einzuschätzen, Ursache und Wirkung zu ermitteln, kurzum : ihre Instinkte zu kontrollieren, ihr Schicksal zu gestalten, die Natur zu dominieren und ihr Umfeld zu formen. Der Krieg bestätigte scheinbar die Warnungen der isolierten, einsamen Propheten des Zorns, wie Nietzsche und Dostojewski, die solch ein masochistisches Vergnügen daran gefunden hatten, Illusionen und Täuschungen zu entlar ven, Irreführung und Selbsttäuschung zu offenbaren, verborgene Quellen aufzudecken, Heucheleien zu entlar ven sowie die Menschen zu ver wirren, indem sie alle Widersprüche, Gegensätze, Unstimmigkeiten, Absurditäten und selbstzerstörerische Gewohnheiten in all ihren Gedanken und Handlungen aufzeigten. Tatsächlich brachte der Krieg eine erschütternde Umkehrung der Werte mit sich. Gerissenheit, Betrug, Grausamkeit wurden zu Zeichen idealistischer Entschlossenheit und Hingabe verklärt, Zerstörung wurde zur höchsten Pflicht erhoben, Massenmord eine heilige Mission genannt. Wie kam es, fragte sich Sigmund Freud 1915, dass die kriegführenden Staaten diesen aggressiven und zerstörerischen Instinkten nicht nur freien Lauf ließen, sondern sie bestärkten und verherrlichten, ebenso wie gewissenlosen Betrug und Lügen sowie die Missachtung der moralischen Zwänge, die doch die Grundlage ihrer eigenen Existenz bildeten und die sie so beharrlich förderten ?266 Er kam zu dem bestürzenden Ergebnis, dass „der Staat dem Einzelnen den Gebrauch des Unrechts untersagt hat, nicht weil er es abschaffen, sondern weil er es monopolisieren will wie Salz und Tabak“.267 „Der Marsch in sechs Wochen nach Paris hat sich zu einem Weltdrama ausgewachsen“,267y schrieb Rosa Luxemburg in ihrer flammenden „Junius“ - Broschüre der Kriegszeit mit dem Titel Die Krise der Sozialdemokratie: „Die Massenschlächterei ist zum ermüdend eintönigen Tagesgeschäft geworden, ohne die Lösung vor wärts oder rückwärts zu bringen. Die bürgerliche Staatskunst sitzt in der Klemme, im eigenen Eisen gefangen; die Geister, die man rief, 266
Vgl. Freud, Zeitgemäßes über Krieg und Tod, Abschnitt 1 : Die Enttäuschung des Krieges, S. 1–12. 267 Ebd., S. 6; Fussell, The Great War and the Modern Memory. 267y Luxemburg, Die Krise der Sozialdemokratie („Junius“ - Broschüre ), S. 51.
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kann man nicht mehr bannen. Vorbei ist der Rausch. Vorbei der patriotische Lärm in den Straßen, die Jagd auf Goldautomobile, die einander jagenden falschen Telegramme, die mit Cholerabazillen vergifteten Brunnen, die auf jede Eisenbahnbrücke Berlins bombenwerfenden russischen Studenten, die über Nürnberg fliegenden Franzosen.“267z „Das Geschäft gedeiht auf Trümmern. Städte werden zu Schutthaufen, Dörfer zu Friedhöfen, Länder zu Wüsteneien, Bevölkerungen zu Bettlerhaufen, Kirchen zu Pferdeställen; Völkerrecht, Staatsverträge, Bündnisse, heiligste Worte, höchste Autoritäten in Fetzen zerrissen; jeder Souverän von Gottes Gnaden den Vetter von der Gegenseite als Trottel und wortbrüchigen Wicht, jeder Diplomat den Kollegen von der anderen Partei als abgefeimten Schurken, jede Regierung die andere als Verhängnis des eigenen Volkes der allgemeinen Verachtung preisgebend; und Hungertumulte in Venetien, in Lissabon, in Moskau, in Singapur und Pest in Russland und Elend und Verzweif lung überall. Geschändet, entehrt, im Blute watend, von Schmutz triefend – so steht die bürgerliche Gesellschaft da, so ist sie. Nicht wenn sie, geleckt und sittsam, Kultur, Philosophie und Ethik, Ordnung, Frieden und Rechtsstaat mimt – als reißende Bestie, als Hexensabbat der Anarchie, als Pesthauch für Kultur und Menschheit, so zeigt sie sich in ihrer wahren, nackten Gestalt.“268 Das unermessliche Leid und die Verschwendung von Menschenleben, die unaussprechliche Irrationalität der Tragödie waren zu viel, um sie so zu ertragen, als ob sie nichts wären außer einer bedeutungslosen Geißel. Kein Siegespreis schien den unendlichen Aufwand wert. So musste man zu Erwartungen einer ultimativen messianischen Erlösung und Wiedergutmachung Zuflucht nehmen. Die beispiellosen Übel mussten als der Preis für ein ähnlich außerordentliches Gut dargestellt werden. Daher die Phrasen „ein Krieg, um alle Kriege zu beenden“, „ein Krieg, um die Welt zu einem Heim für Helden zu machen“, „ein Krieg für Demokratie“, „für die Freiheit der Nationen“, „ein Krieg für die sozialistische Revolution“. Solche hochfliegenden Ziele wurden gesetzt, um alle Mittel, die schlimmsten Gräueltaten zu rechtfertigen, insbesondere da alle Versuche, Ideen und Hoffnungen auf einen einzigen, einfachen Durchbruch zielten : den Sieg, den plötzlichen Sprung von der Hölle des Schreckens in ein Paradies der Glückseligkeit. Es gab die schreckliche Versuchung, in der Tat ein Gefühl der Verpflichtung, alle und jegliche, besonders die effektivsten, schädlichsten und vernichtendsten Mittel von Mord und Zerstörung einzusetzen, da sie darauf berechnet waren, die Todesqualen sowie die Geburtswehen der neuen Welt zu verkürzen und daher als die menschlicheren erschienen. In diesem Gemisch aus Idealismus und Aggressivität wurden 267z Ebd., S. 51 f. 268 Ebd., S. 52 f.
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alle Hemmungen, die über die Jahrhunderte aufgebaut worden waren – das Zurückschrecken vor Mord, die Unfähigkeit zu verletzen, das Zurückschrecken vor brutaler Gesetzlosigkeit, der Respekt für die Rechte, die Würde und den Besitz anderer, das Bekenntnis zum Fairplay – in einer wahnsinnigen Orgie der Brutalität hinweggespült. Der Krieg brachte die tiefen Zwiespältigkeiten her vor : leidenschaftliche, selbstaufopferungsvolle Liebe zum eigenen Land und wilder Hass auf einen absolut teuf lischen Feind; heroische Kameradschaft in der Kampfeinheit und völlige Missachtung Außenstehender; heiliges Märtyrertum und krassestes Kriegsgewinnlertum. In den Jahren des Grabenkrieges entstand eine neue Art der Elite, die nicht aus einem Club, einer Vereinigung, Partei, Gilde oder Schulfreundschaft erwuchs, sondern aus zufällig zusammengewürfelten Menschen, die zusammen dem Tod ins Gesicht sahen, die eine gemeinsame Existenz, Nöte und Gefahren teilten, alle durch die Bande einer allumfassenden gemeinsamen Erfahrung verbunden. In der frühen Phase des Krieges kam das Offizierskorps aus einer aristokratischen, beinahe erblichen Kaste. Sie wurde bald ausgerottet, um ersetzt zu werden durch Menschen, die nicht nach sozialen oder politischen Kriterien bzw. solchen der Kompetenz oder Erziehung oder anderen, mehr oder weniger objektiven Maßstäben ausgewählt wurden, sondern nach der schwer fassbaren, undefinierbaren Qualität der Führung, mit andern Worten : nach aggressiver Rücksichtslosigkeit. Dies war das Saatbeet der Sturmtruppen der totalitären Bewegungen zwischen den zwei Kriegen. Am 5. August 1914 schrieb Henry James an Howard Sturgis das, was zu einer klassischen Bilanz der moralischen Wirkung dieses Krieges geworden ist: „Das Eintauchen der Zivilisation in diesen Abgrund aus Blut und Dunkelheit durch die rücksichtslose Tat dieser beiden berüchtigten Autokraten ist eine Tatsache, die das ganze lange Zeitalter preisgibt, in dessen Verlauf wir glaubten, dass sich die Welt, wenn auch mit Einschränkungen, allmählich verbessern würde. Die jetzige Erkenntnis der trügerischen Natur all dieser Jahre ist von einer Tragik, die in Worten nicht auszudrücken ist.“268a Diese niederschmetternden Erfahrungen des Ersten Weltkrieges führten zur ideologischen Polarisierung der Welt nach 1918, zu messianischem Kommunismus auf der einen Seite und Faschismus und Nationalsozialismus auf der anderen : Lenin und Rosa Luxemburg an einem Pol und Mussolini und Hitler am entgegengesetzten.
268a James, zit. in James, Autobiography, S. 248 f.
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3. Lenin : „Sozialismus oder Nationalismus“ Bucharin beschreibt Lenins Reaktion auf den Ausbruch des Krieges, nachdem er dank Victor Adlers Eingreifen aus dem Gefängnis entlassen worden war und Bern erreicht hatte : „Iljitsch lief wütend wie ein Tiger, und zwar wie ein unbezähmbarer, herum. Aber der große revolutionäre Prophet, der er war, verzweifelte keinen Augenblick, und keinen Augenblick verschränkte er hilf los die Arme. Seine erste Antwort auf die Kriegserklärung war ein Schlagwort, ein Schlagwort, das für den Gebrauch der Soldaten aller Armeen bestimmt war : ‚Kehrt eure Waffen gegen eure Offiziere !‘ Dieses Schlagwort gelangte nicht an die Öffentlichkeit. Die allgemeinere Formulierung war : ‚Macht aus dem imperialistischen Krieg einen Bürgerkrieg !‘ Ich entsinne mich der langen Diskussionen, die in unserem kleinen Kreise stattfanden, als Iljitsch plötzlich vorschlug, nicht nur die Partei völlig zu spalten, sondern sogar auf die Bezeichnung ‚Sozialdemokrat‘ zu verzichten. Als Grigori [ Sinowjew ] anfing, von Überlieferungen und Zahlen zu sprechen, bemerkte Lenin zornig und grimmig, ohne auf die anwesenden Frauen Rücksicht zu nehmen : ‚Jawohl, es ist viel Mist darunter‘ [...], und er begann mit leidenschaftlicher Energie seine Ideen über kommunistische Parteien und eine neue Internationale darzulegen, die revolutionär und aufrührerisch sein würde.“269 Die Frage in dieser Weise zu stellen, führte unter den Bedingungen eines internationalen Krieges zu den später von Lenin übernommenen Formulierungen : „Sozialismus oder Nationalismus“,270 und „daß die Sache des Sozialismus ohne den Kampf gegen die Sozialchauvinisten hoffnungslos verloren ist“.271 „Mar xismus“, sagt Lenin, „ist unvereinbar mit dem Nationalismus, mag dieser noch so ‚gerecht‘, ‚sauber‘, verfeinert und zivilisiert sein.“272
a) Nation, Klasse und das Recht auf nationale Selbstbestimmung Im Gegensatz zu Rosa Luxemburg, Karl Radek, Pjatakow und anderen, die bestrebt waren, auch nur die Existenz des Nationalismus - Phänomens zu leugnen, indem sie es als ein bewusst erfundenes Ablenkungsmanöver oder eine Täuschung behandelten, erkannte Lenin dessen immense Bedeutung, insbesondere nachdem die Revolution von 1905 nationalistische Spannungen unter 269 270 271 272
Shub, Lenin, S. 157 f. Lenin, Sozialismus und Krieg, S. 327; Holdsworth, Lenin and the Nationalities Question. Lenin, Sozialismus und Krieg, S. 327. Lenin, Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage, S. 19.
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den russischen Nationalitäten verursacht und in Asien zu Revolutionen in Persien, in der Türkei und in China sowie anderswo zu aufständischen Bewegungen geführt hatte.273 Er nannte es „eine sehr breite und tiefe geistige Strömung“.274 Es ist allerdings sehr wichtig, zugleich folgende Äußerung zu zitieren: „Der Sozialismus, der die Produktion ohne Klassenunterdrückung organisiert und den Wohlstand aller Staatsangehörigen sichert, gewährt dadurch den ‚Sympathien‘ der Bevölkerung freien Spielraum und erleichtert und beschleunigt gerade kraft dessen gewaltig die Annäherung und Verschmelzung der Nationen.“275 Die nationale Einheit war kein Selbstzweck – ebenso wenig wie das Recht der nationalen Selbstbestimmung. Die Selbstbestimmung des Proletariats schon. Erstere war eine Funktion Letzterer. Lenins Ausgangspunkt war tatsächlich die Ablehnung des Konzepts einer einzelnen Nation, mit anderen Worten des Vorranges der Nationalität. Die Wurzeln des Nationalismus waren „mit den Interessen der Herren Gutsbesitzer und Kapitalisten der Großmachtnationen sehr fest ver wachsen“.276 Es gab ein Vaterland der besitzenden Klassen und ein Vaterland der sozial benachteiligten proletarischen Massen. In dem einen schaute man in die Vergangenheit, in dem anderen in die Zukunft. Der ganze Mythos nationaler Größe und des Nationalstolzes war als Ausweitung der Ausbeutung der eigenen einheimischen, niederen Ränge mit Eroberung, Expansionismus und der Dominanz feudaler und später bürgerlicher Klassen über die unterjochten Völker verbunden. „Nationale Kultur“ beinhaltete die Sitten, die freien Künste, den Überbau dieser feudal - aristokratischen, kapitalistischen Herrschaft, „die Kultur der Gutsbesitzer, der Pfaffen, der Bourgeoisie“.277 Die nationale Ideologie des Proletariats war im Streben nach demokratischer Gleichheit, einem Regime sozialistischer Gerechtigkeit, nach proletarischem Internationalismus enthalten und basierte in puncto historischer Inspiration auf den Träumen und Prophezeiungen solcher Märtyrer der Revolution wie Radischtschew, der Dekabristen und der späteren Revolutionäre. Ihre Kultur war die „internationale Kultur des Demokratismus und der Arbeiterbewegung der ganzen Welt“.278 Lenin sagte : „So entnehmen wir jeder nationalen Kultur nur ihre demokratischen und ihre sozialistischen Elemente; entnehmen sie nur und unbedingt als Gegengewicht zur bürgerlichen Kultur, zum 273 274 275
276 277 278
Vgl. Lenin, Über den Nationalstolz der Großrussen. Ebd., S. 91. Lenin, Die Ergebnisse der Diskussion über die Selbstbestimmung, S. 330. Vgl. auch Davis, Nationalism and Socialism, Kapitel 8 : Lenin and the Formulation of a Marxist Nationality Theory, S. 185–214. Lenin, Über den Nationalstolz der Großrussen, S. 91. Lenin, Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage, S. 9. Ebd., S. 6.
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bürgerlichen Nationalismus jeder Nation.“279 Man könnte daher sagen : „Bürgerlicher Nationalismus und proletarischer Internationalismus – das sind zwei unversöhnlich feindliche Losungen, die den beiden großen Klassenlagern der ganzen kapitalistischen Welt entsprechen.“280
b) Imperialismus Der Bruch zwischen den zwei Nationalismen hatte sich zu einer Kluft erweitert, als nach 1871 die Bourgeoisie des westlichen Europa – mit Hilfe der Volksmassen – ihre fortschrittlichen und demokratischen Ziele der Abschaffung des feudalen Absolutismus, der Beseitigung mittelalterlicher Privilegien und Unterschiede und der Vereinigung ihrer Länder unter parlamentarisch - liberalem Regiment auf einheitlicher industriewirtschaftlicher Basis erreicht hatte. Dann übernahm die Bourgeoisie die feudalen Kriegertraditionen der Eroberung und Expansion und belebte sie wieder, indem sie sich zu neuen, weltweiten imperialistischen Abenteuern aufmachte. Kaum war der Binnenmarkt vollständig organisiert, wurden seine Grenzen für den dynamischen Kapitalismus auf der Suche nach höheren Profiten und neuen Rohstoffen und angesichts der Notwendigkeit, zu investieren und billige Arbeit zu sichern, zu eng. Die Binnenwirtschaft wurde in Trusts kartellisiert. Eine zentralisierte Wirtschaft brachte zentralisierte Regierungsformen mit sich. Freihandel wurde durch Monopole ersetzt. Ein monopolistischer Griff auf die Wirtschaft machte es erforderlich, der Anarchie des Laissez - faire ein Ende zu setzen.281 Dies führte zu Planung und Kontrolle, mit anderen Worten : zu sozialen Formen der Produktion. Aber es war nicht so sehr der industrielle Kapitalismus als der Finanzkapitalismus, der die kapitalistische Produktion rationalisierte : die riesigen Banken, die in parasitärer Weise ihre Kurse durch Geldleihen steuerten und Wucherprofite einsackten. Der späte Kapitalismus in seiner imperialistischen Form stellte den Höhepunkt der Entwicklung, aber auch den Beginn seines Untergangs dar. Er wurde reif für die Übernahme durch den siegreichen proletarischen Sozialismus.282 Doch die Erträge aus den Kolonien hatten es in der Zwischenzeit den herrschenden Eliten der imperialistischen Mächte ermöglicht, ihre Arbeiterklas-
279 280 281
282
Ebd., S. 9. Ebd., S. 11. Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus; Kiernan, Marxism and Imperialism, Kapitel 1 : The Mar xist theory of Imperialism and its historical formation, S. 1–68; Aveneri, Karl Marx, Einleitung. Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, S. 290–303.
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sen zu Hause mit höheren Löhnen und mehr Komfort zu bestechen. So entstand eine Arbeiteraristokratie mit eigenem Anteil am Imperialismus, und sie entwickelte eine kleinbürgerliche Mentalität.283 Die untere Mittelklasse wurde, unterstützt von der Massenregenbogenpresse und chauvinistischen Agitatoren, mit chauvinistischem Stolz und einem indirekten Gefühl von Macht und Abenteuer vergiftet.284 Lenin bezieht sich auf die berühmte Äußerung von Cecil Rhodes : „Wenn Sie den Bürgerkrieg [ zwischen den Klassen ] nicht wollen, müssen Sie Imperialisten werden.“285 Als ein Gegenmittel zu Sozialismus und Klassenkampf führte der Imperialismus auch zur Aushöhlung des liberal - demokratischen Ethos und seiner Institutionen. Wie Marx gesagt hatte : Keine Nation, die andere Nationen unterdrückte, konnte frei bleiben. In Anlehnung an oder als Echo von Rosa Luxemburg und Hilferding, dem sozialistischen Analytiker der Mechanismen des Finanzkapitalismus im Zeitalter des Imperialismus, und selbstverständlich orientiert an Marx’ Sicht des englisch - irischen Problems, bestand Lenin darauf, dass die koloniale Ausbeutung den herrschenden Kasten eine Machtbasis verschaffte, die zu absoluter Hegemonie über die anderen Klassen, ja über die gesamte Nation führen konnte.286 Die Ausgaben für Militär und Marine aufgrund der imperialistischen Rivalität und die Notwendigkeit, die unterjochten Bevölkerungen in Übersee niederzuhalten, waren zu einer furchtbaren Last für die Mutterländer und gleichzeitig zu einer Entschuldigung für autoritäre Politik geworden. Sie wurden zu Waffen in den Händen der imperialistischen Kasten. Sie schufen das Gefühl eines nationalen Notstandes, der die Beschränkung demokratischer Freiheiten erlaubte. Sie erleichterten die Bestechung von Ministern, Politikern und der Presse, um sie monopolistischen, als höchst wichtige nationale Anliegen verkleideten Interessen dienstbar zu machen. Schließlich förderten sie einen überheblichen Rassismus.287 Der wichtigste Aspekt des Imperialismus war die Ausweitung der kapitalistischen Ausbeutung auf alle Teile der Welt. Das Monopol zu Hause wuchs in globalem Maße durch das Erscheinen eines halben Dutzends Großmächte, die alle Ressourcen der Welt monopolisierten und den größten Teil der Menschheit zu ihren Sklaven machten. Eine ganze Hierarchie an Konflikten entstand: harter Wettbewerb zwischen den imperialistischen Mächten, zunehmende
283 284 285 286 287
Vgl. ebd., S. 198, 287–290. Vgl. ebd., S. 289–292. Ebd., S. 261. Belfort Bax, zit. in Lenin, Hefte zum Imperialismus, S. 606 f.; Kiernan, Mar xism and Imperialism, S. 7 f.; Davis, Nationalism and Socialism, S. 188 f. Vgl. Hilferding, Das Finanzkapital; Kiernan, Mar xism and Imperialism, S. 14–17.
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Spannungen zwischen den Veteranen des Kolonialismus – Großbritannien, Frankreich, Russland und Holland – und den hungrigen und verbitterten Neulingen wie Deutschland und Italien. Schließlich der rassisch - soziale Zorn der ausgeplünderten Nationen, der sich in revolutionären, sozial - nationalen Aufständen von bürgerlich - demokratischer oder bereits semiproletarischer Natur gegen die weiße Oberherrschaft Bahn brach. Die kolonialen Völker waren zum Proletariat der Welt geworden, konfrontiert mit einem globalen Kapitalismus in seiner letzten monopolistischen Phase.288
c) Der Versuch eines revolutionären Sozialisten einer Unterdrückernation Das Recht unterdrückter Nationalitäten auf nationale Selbstbestimmung und darauf, sich von dem Reich zu trennen, von dem sie einen Teil bildeten, wird von Lenin nicht als ein abstrakter, natürlicher Rechtsgrundsatz und als eine Ausweitung des Menschenrechts auf Freiheit befür wortet, sondern als das Recht, sich der Unterdrückung zu widersetzen, sowie als Mittel, den Status und die Situation aller Bereiche der Gesellschaft anzugleichen, so dass die Dominanz des einen über den anderen und gegenseitige Ausbeutung unmöglich gemacht würden. Mehr noch : Lenins wahres Ziel besteht darin, das Prinzip der Befreiung zur Schwächung, Untergrabung und Zerstörung der Macht des unterdrückerischen, imperialistischen Establishments einzusetzen, das die soziale und nationale Unterdrückung der Unterprivilegierten, welcher Art auch immer – seien es die Proletarier zu Hause oder die Eingeborenen in den Kolonien –, praktiziert. Der russisch - absolutistische Feudalismus war mehr als jede andere Macht in beiden Anklagepunkten schuldig. Ähnlich wie Rosa Luxemburg ist sich auch Lenin der Natur des nationalistischen Grolls und Ehrgeizes als einer machtvollen Ablenkung voll bewusst, welche die Aufmerksamkeit vom gemeinsamen internationalen Kampf gegen die kapitalistische Unterdrückung und für den Sozialismus ablenkt und die Arbeiterklassen der benachteiligten Völker daran hindert, das eigene Bürgertum mit ausreichender Energie zu bekämpfen. Dennoch unterscheidet sich Lenin grundsätzlich von Rosa Luxemburg, die darauf aus ist, die Realität des Nationalgefühls zu leugnen und es als eine Erfindung der bürgerlichen Intellektuellen oder als Täuschung anzusehen. Rosa Luxemburgs Ansatz bedeutet laut Lenin eine abstrakte, für einen Marxisten unzulässige Verallgemeinerung. Die konkreten objektiven und subjektiven Umstände einer unterdrückten Nation waren für eine marxistische Analyse der sozialen Situation und der Aussicht 288
Vgl. Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, S. 258–271; Kiernan, Mar xism and Imperialism, S. 37–60.
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auf eine Revolution grundlegend.289 Aber Lenin ist keineswegs bereit, irgendeiner ethnischen Gruppe, die sich von einer größeren Staatseinheit lösen und selbst einen unabhängigen Staat gründen möchte, einen Blankoscheck auszustellen, ein Versprechen bedingungsloser Anerkennung und Unterstützung zu geben. Trennung mag ein Recht sein, aber keinesfalls eine Pflicht, und da sie soziale Implikationen hat, sollte sie nicht jedermann auf Anfrage gewährt werden.290 Als ein guter Mar xist äußert Lenin wiederholt seine Überzeugung, dass der Fortschritt der Zivilisation und damit der des Sozialismus nach größeren politischen Einheiten verlange und zu ihnen führen werde, dass Partikularismus und winzige Stammesstaaten ein reaktionäres, mittelalterliches Relikt seien. Er ist sich sicher, dass eine separate politische Existenz, die von der größeren Einheit wegbricht, von den proletarischen Massen überhaupt nicht erwünscht wäre, wenn erst einmal das Stigma der Demütigung und der Stachel der Unterdrückung durch die Anerkennung ihres Rechts ersetzt wäre, sich von der Mehrheitsnation loszusagen, und ganz sicherlich nicht, wenn die größere Einheit eine sozialistische Gesellschaft geworden war.291 Das Recht der Selbstbestimmung und Sezession war daher letztlich kein Selbstzweck, sondern eine notwendige Vorbedingung und Phase auf dem Weg zur sozialistischen Bruderschaft und zum Zusammenschluss der globalen sozialistischen Gesellschaft, genauso wie die Diktatur des Proletariats eine Phase war, die auf dem Weg zur sozialistisch - klassenlosen, freiheitlichen Gesellschaft nicht übersprungen werden konnte.292 Lenins heftige Opposition gegen die kulturelle und nationale Autonomie, wie sie die österreichischen Mar xisten befür worteten, sowie gegen das vom Bund und anderen ethnischen sozialdemokratischen Parteien in Russland vertretene föderale Prinzip wurde durch die tiefe Überzeugung genährt, dass diese Tendenzen das Prinzip der Ewigkeit des nationalistischen Isolationismus exakt bestätigten und die internationale proletarische Einheit schwächten.293 Es war unnötig zu sagen, dass die Haltung der Polnischen Sozialdemokratischen Partei, die ihren Beitrag zum gemeinsamen Kampf gegen den Zarismus darauf reduzierte, für die nationale Unhabhängigkeit Polens zu kämpfen, schlicht und einfach kleinbürgerlicher Nationalismus und eine Absage an die sozialistische Doktrin war. Noch ein289 290 291 292 293
Vgl. Lenin, Über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, S. 397–406. Vgl. ebd., S. 423–427. Vgl. ebd., S. 426–428. Vgl. Lenin, Thesen und Referat über bürgerliche Demokratie und Diktatur des Proletariats, S. 471–482. Vgl. Lenin, Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage; ders., Die sozialistische Revolution und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen ( Thesen ); Stalin, Mar xismus und nationale Frage [ Nationale Frage und Sozialdemokratie, später : Nationale Frage und Mar xismus ], S. 266–333.
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mal : Sozialisten würden jede Forderung nach Selbstbestimmung und Abspaltung nur vom Standpunkt proletarischer Bedürfnisse und revolutionärer Strategie betrachten.294 Worum es bei Lenins Theorie tatsächlich geht, ist nicht so sehr der Standpunkt, den die unterdrückte Nationalität oder genauer das Proletariat einnimmt, sondern die Haltung, welche die Sozialisten der unterdrückten Nationen einnehmen. Er wiederholte immer wieder, dass es den Letzteren oblag, auf dem Recht der Ersteren zur Abspaltung zu bestehen, während von den Mitgliedern der unterdrückten Nationalitäten zu erwarten war, dass sie nicht willens seien, von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen.295 Die Großrussen dürfen keineswegs als chauvinistisch Handelnde erscheinen. „Besonders schwierig und wichtig ist hier die Aufgabe der Verschmelzung des Klassenkampfes der Arbeiter der unterdrückten und der der unterdrückenden Nationen.“296 Es gab keine drastischere und aufschlussreichere Prüfung für den internationalen revolutionär - sozialistischen Glauben als die Bereitschaft oder Zurückhaltung der Sozialisten herrschender Nationen, unterjochte Nationalitäten ziehen zu lassen und damit das historische Erbe der mächtigen Nation zu vermindern. Im Falle Russlands mit seinen 57 Prozent fremden Bevölkerungsanteilen ging es nicht nur darum, den Status Russlands als einer der großen Mächte zu sichern oder zu schwächen und seine Machtbasis den herrschenden Klassen zu sichern bzw. sie diesen zu nehmen, sondern um die Fortführung oder Auf lösung des russischen Staates. Lenin spricht davon, „sich mehr auf die bürgerlichen Mittel des Volksbetrugs“297 zu verlassen, „zum Beispiel darauf, die Kleinbürger und Bauern mit dem Gespenst des ‚Zerfalls des Staates‘ zu schrecken und sie mit Redensarten von der Vereinigung der ‚Volksfreiheit‘ mit den historischen Traditionen usw. zu betrügen“.298 Die Frage traf die revolutionären Sozialisten an einem wunden Punkt. Sie hatte sich im 19. Jahrhundert als größter Stolperstein in den Beziehungen zwischen polnischen Rebellen und russischen Revolutionären erwiesen. Die Polen weigerten sich leidenschaftlich, die Legitimität auch nur einer der Teilungen anzuerkennen, und bestanden auf einer Rückkehr zu den Grenzen von 1772. Für die Russen bedeutete dies eine Verdrängung Russlands aus Europa bis in die Umgebung von Smolensk und hinter den Dnjepr. Sie behaupteten, dass die
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Vgl. Lenin, Die nationale Frage in unserem Programm. Vgl. Lenin, Das revolutionäre Proletariat und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen. Lenin, Die sozialistische Revolution und das Selbstbestimmungsrecht ( Thesen ), S. 153. Lenin, Über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, S. 427. Ebd.
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Gebiete, die sich Russland im Zuge der ersten und zweiten Teilung angeeignet hatte, von breiten Massen von Weißrussen, Ukrainern und litauischen Bauern und nur von einer kleinen Schicht polnischer bzw. lediglich polonisierter Aristokratie und Kleinadliger bewohnt seien, von den Juden ganz zu schweigen. Darauf antworteten die Polen, der russische Anspruch, über diese zu herrschen, sei kaum begründeter als jener der Polen. Herzen war abgesehen von Bakunin der einzige nennenswerte russische Revolutionär, der bereit war, die polnische Sache im Aufstand von 1863/64 offen zu unterstützen. Zu dieser Zeit begann sich der ukrainische Separatismus ( aber noch nicht der weißrussische und litauische Nationalismus ) gerade erst zu rühren. Aber selbst er war sprachlos, als die Möglichkeit der Trennung Kiews von Russland vorgeschlagen wurde : „Kiew als eine ebenso russische Stadt wie Moskau [ und St. Petersburg ] an[ ge ]sehen.“299 Die Abtretung eines Teils des nationalen Territoriums war immer als Hochverrat betrachtet worden, sogar im Fall eines absoluten Monarchen : eine Verletzung der grundlegenden, organischen Gesetze des Reiches. In Deutschland erklärte der Generalsekretär der SPD, Ignaz Auer, das Thema Elsass und Lothringen für beendet. August Bebel schwor, keinen Zoll deutschen Bodens aufzugeben.300 Jaurès tadelte seine Landsleute dafür, dass sie von den deutschen Sozialisten eine Absichtserklärung über die Rückgabe der umstrittenen Provinzen verlangten. Wie wir sahen, würde er selbst wie auch deutsche sozialistische Führer nicht über die Forderung nach größerer Autonomie hinausgehen sowie über Äußerungen der Hoffnung, dass mit dem Fortschreiten des Internationalismus die Frage, auf welcher Seite der Grenze diese Gebiete lagen, irrelevant würde.301 Der Krieg von 1914/18 brachte die Frage auf schmerzlichste Weise auf die Tagesordnung. Lenin entschied, auf keinerlei Empfindlichkeiten Rücksicht zu nehmen, sondern die Menschen zu zwingen, Farbe zu bekennen. Schon 1893 erklärte Plechanow in seiner Funktion als Berichterstatter zur Frage von Sozialismus und Krieg auf dem Züricher Kongress der Zweiten Internationale, dass ein Krieg gegen den Zaren zur Stunde der Emanzipation der russischen Bevölkerung werden könne.302 Ganz ähnlich reichte er 1904 dem japanischen Abgesandten zum Internationalen Sozialistenkongress unter allgemeinem Beifall die Hand.303 Lenin betrachtete die Niederlage der zaristischen Armee gegen
299 300 301 302 303
Herzen ( Hg.), Kolokol [ Die Glocke ], S. 1214, zit. in Rosdolsky, Der Streit um die polnisch - russischen Staatsgrenzen, S. 170. Vgl. Wehler, Sozialdemokratie und Nationalstaat; Niemeyer, The Second International, S. 95–113. Vgl. Jaurès, Textes choisies, Band 1, S. 82–95; Jackson, Jean Jaurès, S. 160 f. Vgl. Dan, Der Ursprung des Bolschewismus, S. 156 f. Vgl. Joll, The Second International, S. 106.
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Japan als einen Schlag gegen den Zarismus und die russische Aristokratie, aber nicht gegen das russische Volk.304 Der jüdische Sozialist und Bundist Litvak beschrieb seine Ungläubigkeit, als er Lenin im August 1914 gehört hatte : „Wir waren auf das höchste erstaunt, als Lenin die Abtrennung der Provinzen an der Peripherie Rußlands befür wortete, der Ukraine, der Baltischen Provinzen und der übrigen. Als ich sagte, daß er wohl gescherzt habe, daß er Autonomie gemeint habe oder Föderation, aber doch sicherlich nicht daran dächte, Rußland von der Ostsee und dem Schwarzen Meer, den Lebensadern der russischen Wirtschaft, abzuschließen, antwortete er, es sei ihm völlig ernst damit.“305 Der Krieg stellte wie ein Prüfstein alle Sozialisten vor die Frage : Vaterlandsverteidigung oder Aufgabe; Teilnahme an den Kriegsanstrengungen, und sei es auch nur in der Form passiver Duldung, oder Befür wortung der Niederlage des eigenen Landes und seiner Regierung und dementsprechend ein gemeinsames Handeln mit gleichgesinnten sozialistischen Genossen anderer Länder, die sich in ähnlicher Weise gegen ihre eigenen Regierungen stellen und daher an einem internationalen Bürgerkrieg teilnehmen würden.306 „Wer die Teilnahme an diesem Krieg gutheißt“, schrieb Lenin, „der verewigt die imperialistische Unterdrückung der Nationen. Wer dafür eintritt, die Schwierigkeiten, in denen sich die Regierungen jetzt befinden, für den Kampf um die soziale Revolution auszunutzen, der verficht die wirkliche Freiheit wirklich aller Völker, die nur im Sozialismus durchführbar ist.“307 Lenin kannte keine Gnade für Sozialdemokraten der kriegführenden Nationen wie Kautsky, Renaudel, Turati, Henderson, Vander velde und selbstverständlich seine russischen Landsleute wie Plechanow, Potresow sowie in den frühen Tagen des Krieges sogar Trotzki und Martow, die sich zu eloquenten Allgemeinplätzen über einen demokratischen Frieden ohne Annexionen verstiegen, aber sehr vage und zögerlich wurden, wenn es um Einzelheiten wie die zukünftigen Grenzen ihrer eigenen Länder ging. Turati ging sogar so weit, strategisch zu verteidigende Grenzen für das zukünftige Italien zu fordern, unabhängig von der ethnischen Zusammensetzung der umstrittenen Territorien : „Die Berichtigung der italienischen Grenzen in Bezug auf das, was unbestreitbar italienisch ist und den Garantien strategischen Charakters entspricht.“308
304 305 306 307 308
Vgl. Tompkins, The Triumph of Bolshevism, S. 168. Shub, Lenin, S. 157. A. d. Ü. : „Bundist“ war die Bezeichnung für ein Mitglied des Allgemeinen jüdischen Arbeiterbundes von Litauen, Polen und Russland. Vgl. Fainsod, International Socialism, S. 13–84; Lenin, Sozialismus und Krieg. Lenin, Sozialismus und Krieg, S. 306. Turati, zit. in Lenin, Bürgerlicher und Sozialistischer Pazifismus, S. 186.
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Widerstand gegen den Feind war für Lenin eine Rutschbahn zum Imperialismus : „Die Schlußfolgerung ist, daß die herrschende Heuchelei nicht entlarvt wird, daß die Agitation ohne Leben bleibt und das Wichtigste, Grundlegende, Wesentliche, der Praxis Nächstliegende gar nicht berührt – das Verhältnis zu der Nation, die von ‚meiner‘ Nation unterdrückt wird. Martow und die anderen Auslandssekretäre haben es vorgezogen, den Kampf [...] gegen die Selbstbestimmung einfach zu vergessen [...]. Ein russischer Sozialdemokrat, der die Selbstbestimmung der Nationen annähernd so ‚anerkennt‘ wie die Herren Plechanow, Potresow und Co., d. h. ohne für die Freiheit der Lostrennung der vom Zarismus unterdrückten Nationen zu kämpfen, ist in Wirklichkeit ein Imperialist und ein Lakai des Zarismus. Was immer die subjektiv ‚edlen‘ Absichten Trotzkis und Martows sein mögen, objektiv unterstützen sie durch ihre ausweichende Haltung den russischen Sozialimperialismus. Die imperialistische Epoche hat alle ‚Groß‘mächte zu Unterdrückern einer Reihe von Nationen gemacht, und die Entwicklung des Imperialismus wird unvermeidlich auch in der internationalen Sozialdemokratie zu einer klareren Scheidung der Strömungen in dieser Frage führen.“309
d) Vom internationalen Krieg zum Bürgerkrieg Der Erste Weltkrieg hat die Menschheit in Sklavenhalterregierungen und versklavte Völker gespalten, in Raubstaaten, die für Kriegsbeute kämpften, und unterdrückte Völker sowie verführte proletarische Massen; in soziale Chauvinisten, die am historisch - nationalen Erbgut festhielten und versuchten, es auf Kosten anderer Völker zu vergrößern, und wahre sozialistische Revolutionäre, die entschlossen waren, den imperialistischen Krieg in einen internationalen Bürgerkrieg, einen weltweiten proletarischen Aufstand zu ver wandeln, um einem kriminellen, veralteten und torkelnden System der Unterdrückung einen letzten Schlag zu erteilen und die Emanzipation aller Benachteiligten der Welt zu erreichen. Eine noch heimtückischere Gefahr als die erklärten Sozialchauvinisten stellten aus Lenins Sicht die heimlichen Lakaien des Imperialismus dar, die sich als Pazifisten tarnten, sowie jene, die sich einredeten, der Sache des demokratischen Friedens zu dienen, indem sie eine internationale Beilegung des Krieges ohne Annexionen und Kriegsentschädigungen propagierten.310
309 310
Lenin, Die Ergebnisse der Diskussion über die Selbstbestimmung, S. 367 f. Vgl. Lenin, Die Konferenz der Auslandssektionen der SDAPR; ders., Der Zusammenbruch der II. Internationale; ders., Sozialismus und Krieg.
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Das Programm ihrer Sprecher auf den Konferenzen von Zimmer wald und Kienthal wie auch der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, die sich von der SPD abspaltete, bestand darin, die existierenden Staatsformationen und ihre Klassenstrukturen intakt zu halten, mit anderen Worten : den Klassenstaat zu lassen wie er war. Sie würden das Prinzip der nationalen Selbstbestimmung in der einen oder anderen Form annehmen, sich gegenseitig zusichern, keine Zuflucht zum Krieg zu suchen, internationale Abkommen und gegenseitige Entwaffnung zu akzeptieren.311 Jenen, die diese Ziele unterstützten, fehle es, so Lenin, an Bewusstsein oder sie seien dem Sozialpatriotismus zu sehr ergeben bzw. nicht internationale Revolutionäre genug, um zu begreifen, dass das Klassenstaatssystem im Zeitalter des Imperialismus ganz einfach nicht ohne koloniale Besitzungen, imperialistische Rivalität, schwere Aufrüstung und früher oder später Krieg auskommen konnte. Es war ein Hohn zu glauben, dass imperialistische Staaten Gebiete, in die sie Millionen investiert hatten und die ihre Machtbasis darstellten, aufgeben würden. Auf der Grundlage eines kapitalistischen Status quo war kein demokratischer Friede zwischen den imperialistischen Mächten möglich.312 Nur der durch eine Revolution errungene Sozialismus könnte das ganze Mächtesystem und die imperialistischen Ziele und Politiken hinwegschwemmen, alle Nationen frei und gleich machen und einen wahren demokratischen Frieden sichern. Es ist daher keine Übertreibung zu sagen, dass Lenins Ziel nicht Frieden im Sinne einer Beendigung der Feindseligkeiten und internationaler Abkommen zwischen Staaten war, sondern eine internationale Revolution in Form eines internationalen Bürgerkrieges zwischen besitzenden Klassen und revolutionären Kräften – mit dem Ziel, alle existierenden Staaten mit ihren derzeitigen Strukturen aufzulösen. Tatsächlich hörte Lenin niemals auf zu verkünden, dass er kein Pazifist sei und Sozialismus nicht Pazifismus bedeute.313 Es gab nur einen geringen Unterschied zwischen Lenin und Rosa Luxemburg samt ihrer Freunde in der Beurteilung der revolutionären Herausforderungen und Möglichkeiten, die der Krieg eröffnete. Erst von da an trennten sich ihre Wege. In ihrer Begierde, einen allgemeinen globalen Angriff auf das Bollwerk des Imperialismus zu starten und wegen ihrer Abscheu und Angst vor jeder nationalen Abweichung lehnte Rosa Luxemburg es ab, sich in irgendeiner Weise mit nationalistischen Zielen und Bewegungen einzulassen, von einer Allianz ganz zu schweigen, und sie war gegen die Auf lösung existieren-
311 312 313
Vgl. Fainsod, International Socialism, S. 63–85; Balabanoff, Impressions of Lenin, S. 36–44. Vgl. Lenin, Die Konferenz der Auslandssektionen der SDAPR; ders., Der Zusammenbruch der II. Internationale. Vgl. Lenin, Die Konferenz der Auslandssektionen der SDAPR.
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der Staaten und gegen die Unterstützung der Unabhängigkeit ihrer ethnischen Bestandteile und die Rückgabe der Gebiete, die während des Krieges annektiert worden waren. Das war eine Falle, reine Verschwendung, wenn nicht sogar ein gefährlicher Umweg.314 Alle Menschen waren aufgefordert, direkt auf eine sozialistische Weltgemeinschaft zuzusteuern, ohne Grenzpfähle, wie Pjatakow es formulierte.315 Lenin bezeichnete eine derartige Herangehensweise nicht nur als Utopismus, sondern auch als Opportunismus. Der gleichzeitige Marsch der ganzen Menschheit war angesichts der ungleichen Entwicklung ihrer verschiedenen Teile eine Illusion. Die Neutralisierung eines nationalistischen Aufstandes gegen die multinationalen und kolonialen Reiche bedeutete, auf den Gebrauch machtvoller Waffen gegen sie zu verzichten, was möglicher weise den entscheidenden Unterschied zwischen ihrem Überleben oder ihrem Niedergang ausmachen würde. Rosa Luxemburgs Politik spielte den imperialistischen Unterdrückern in die Hände. Wenn diese Politik sich durchsetzte, würden eine revolutionäre Waffe und eine Gelegenheit zu direktem und nachhaltigem Handeln zugunsten eines opportunistischen Abwartens der Ereignisse ungenutzt bleiben.316 Rosa Luxemburg lehrte, keine Nation könne wirklich frei sein und kein Volk einen Krieg der nationalen Befreiung führen, solange der Imperialismus weiterhin existiere. Sie stellte sich nutzlosen Abenteuern entgegen. In Lenins Augen bedeutete solch eine Sichtweise dasselbe wie die Feststellung, es sei zwecklos, für unmittelbare Rechte wie das Streikrecht, die Organisation von Gewerkschaften, das Recht auf Demonstration und Agitation zu kämpfen, solange die Revolution nicht eine sozialistische Ordnung etabliert habe.317 Selbst eine bürgerliche nationale Befreiungsbewegung in einer Kolonie stellte eine Division dar, die den gemeinsamen Feind angriff : den Imperialismus. Sie hatte auch eine soziale Bedeutung, nämlich als Teilnahme am Kampf gegen einen fremden Ausbeuter und Repräsentanten des allgemeinen Finanzkapitalismus. Außerdem würde eine siegreiche nationale Befreiungsbewegung, an der das lokale Proletariat teilhatte und die ein bürgerlich - demokratisches Regime einführen würde, automatisch den Beginn des Klassenkampfes zwischen dem lokalen Bürgertum und seinen Arbeiterklassen bedeuten – mit der sozialistischen Revolution als entferntem, aber vorherbestimmtem Ziel.318 314 315 316 317 318
Vgl. Badia, Rosa Luxemburg, S. 443–483; Nettl, Rosa Luxemburg, Anhang : Die nationale Frage, S. 809–829. Vgl. Lenin, Siebente Gesamtrussische Konferenz der SDAPR ( B ) ( Aprilkonferenz ), Kapitel 18 : Rede über die nationale Frage, S. 289–294. Vgl. Lenin, Über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, S. 448–461. Vgl. Lenin, Das revolutionäre Proletariat und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen. Vgl. ebd.
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„Denn zu glauben“, schrieb Lenin anlässlich des Irischen Osteraufstandes, „daß die soziale Revolution denkbar ist ohne Aufstände kleiner Nationen in den Kolonien und in Europa, ohne revolutionäre Ausbrüche eines Teils des Kleinbürgertums mit allen seinen Vorurteilen, ohne die Bewegung unaufgeklärter proletarischer und halbproletarischer Massen gegen das Joch der Gutsbesitzer und der Kirche, gegen die monarchistische, nationale usw. Unterdrückung – das zu glauben heißt, der sozialen Revolution entsagen. [...] Wer eine ‚reine‘ soziale Revolution erwartet, der wird sie niemals erleben. Der ist nur in Worten ein Revolutionär, der versteht nicht die wirkliche Revolution. [...] Die sozialistische Revolution in Europa kann nichts anderes sein als ein Ausbruch des Massenkampfes aller und jeglicher Unterdrückten und Unzufriedenen. Teile des Kleinbürgertums und der rückständigen Arbeiter werden unweigerlich an ihr teilnehmen – ohne eine solche Teilnahme ist ein Massenkampf nicht möglich, ist überhaupt keine Revolution möglich –, und ebenso unweigerlich werden sie in die Bewegung ihre Vorurteile, ihre reaktionären Phantastereien, ihre Fehler und Schwächen hineintragen. Objektiv aber werden sie das Kapital angreifen, und die klassenbewußte Avantgarde der Revolution, das fortgeschrittene Proletariat, das diese objektive Wahrheit des mannigfaltigen, vielstimmigen, buntscheckigen und äußerlich zersplitterten Massenkampfes zum Ausdruck bringt, wird es verstehen, ihn zu vereinheitlichen und zu lenken, die Macht zu erobern, die Banken in Besitz zu nehmen, die allen ( wenn auch aus verschiedenen Gründen !) so verhaßten Trusts zu expropriieren und andere diktatorische Maßnahmen durchzuführen, die in ihrer Gesamtheit den Sturz der Bourgeoisie und den Sieg des Sozialismus ergeben, einen Sieg, der sich durchaus nicht mit einem Schlag aller kleinbürgerlichen Schlacken ‚entledigen‘ wird.“319 Der Erste Weltkrieg und der Imperialismus bestätigten Clausewitz’ Wort, wonach der Krieg die Fortsetzung der Diplomatie mit anderen Mitteln sei. Die gleiche Beziehung bestand zwischen Bürgerkrieg und Klassenkampf. Der imperialistische Weltkrieg hatte eine Periode des Bürgerkriegs zwischen den revolutionären Kräften und dem Lager des Kapitalismus eingeleitet.320 Diese Bürgerkriege, die tatsächlich Kriege waren, konnten nur durch den gleichzeitigen allgemeinen Sieg aller Arbeiterklassen der Welt vermieden werden. Jedoch bestand angesichts der zeitlichen Verzögerungen und der Unterschiede in der Entwicklung der Nationen einmal mehr keine Möglichkeit eines solch dramatischen Endes. Es gab kein Entkommen aus einer Übergangsperiode der Bürgerkriege, die den Widerstand des Bürgertums, wo auch immer
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Lenin, Die Ergebnisse der Diskussion über die Selbstbestimmung, S. 363 f. Possony, A Century of Conflict, S. 20–23.
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möglich, brechen mussten. Vom Standpunkt des Sozialismus aus würden diese Verteidigungskriege patriotische Kriege sein.321 „Der Sozialismus kann nicht gleichzeitig in allen Ländern siegen. Er wird zuerst in einem oder einigen Ländern siegen, andere werden für eine gewisse Zeit bürgerlich oder vorbürgerlich bleiben. Das muß nicht nur Reibungen, sondern auch direktes Streben der Bourgeoisie anderer Länder erzeugen, das siegreiche Proletariat des sozialistischen Staates zu zerschmettern. In solchen Fällen wäre ein Krieg unsererseits legitim und gerecht, es wäre ein Krieg für den Sozialismus, für die Befreiung anderer Völker von der Bourgeoisie. [ Engels ] meinte nämlich die Verteidigung des siegreichen Proletariats gegen die Bourgeoisie anderer Länder.“322 Dies klingt sehr nach den Erklärungen der Französischen Revolution vom 19. November und 15. Dezember 1792 über das Recht und die Pflicht der Französischen Revolution, den revolutionären Patrioten zu Hilfe zu eilen, die sich wo auch immer gegen den Despotismus aufgelehnt hätten, und über die Behandlung befreiter Bevölkerungen, die das Geschenk der Freiheit als Feinde Frankreichs zurückwiesen. Die klassenbewusste Avantgarde der Revolution, das fortschrittliche Proletariat, erscheint inmitten und schließlich an der Spitze der bunt gemischten heterogenen, rebellierenden Kräfte, als Repräsentant und Vollstrecker des gemeinsamen Willens aller. Lenin scheint die Problematik des revolutionären allgemeinen Willens von den Grenzen einer gegebenen Gesellschaft oder eines Gebietes auf die globale Ebene zu übertragen. Ferner boten die Prämisse, dass die klassenbewussten Arbeiter eines Landes im Gegensatz zum nationalistischen Separatismus der bürgerlichen Klasse mit Sicherheit den Zusammenschluss mit dem siegreichen Proletariat einer benachbarten Nation anstreben würden sowie die Pflicht, einem Proletariat zu Hilfe zu eilen, das sich gegen seine Bourgeoisie verteidigte und sie zu zerschlagen bestrebt war, der Roten Armee einen Grund und ein Recht, die Abspaltung der Grenzländer Russlands zu verhindern und sogar einen weltweiten Feldzug der proletarischen Befreiung zu beginnen.
4. 1917 Die ausschlaggebende Frage in Russland zwischen der Februar - und der Oktoberrevolution war „Vaterlandsverteidigung“ vs. „Neigung zum Aufgeben“. Alle wichtigen Fragen – Doppelherrschaft, Landreform, ja sogar die wirtschaftlichen Probleme – waren davon abhängig. 321 322
Vgl. Lenin, Das Militärprogramm der proletarischen Revolution. Ebd., S. 74.
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a) Vaterlandsverteidigung und Neigung zum Aufgeben – die entscheidende Frage der Revolution Das Hauptargument der Kritik an der zaristischen Regierung in der Duma am Vorabend der Februarrevolution – wie die Kritik der „Revolution des Adelsstandes“ in Frankreich vor 1789 – war, dass die Autokratie bei der Führung des nationalen Krieges versagt habe. Die Hauptaufgabe der nationalen Verteidigung müsse daher von der Nation selbst übernommen werden, das heißt : von ihren gewählten Repräsentanten. Die fulminanten Reden von Miljukow, Kerenski und anderen gegen die Neigung zum Aufgeben und den Verrat auf höchster Ebene, mit ihren eindeutigen Anspielungen auf die Zarin, lesen sich wie die Äußerungen Vergniauds am Vorabend des 10. August 1792 – als die Jakobinerdiktatur bereits vor der Tür stand – gegen den Hof und Marie Antoinette. Nun war es Miljukows berühmte Erklärung vom 18. April als Außenminister der neu ernannten provisorischen Regierung, die den ersten Sturm in der jungen Republik entfachte. Der Minister sprach für jene, für die der Regimewechsel keine Abwendung von der Verteidigung und der Unterstützung dessen bedeutete, was sie als beständige Interessen und historischen Anspruch Russlands betrachteten, einschließlich der Aufrichtung des Heiligen Kreuzes auf der Hagia Sophia in Konstantinopel sowie auf eher weltlicher Ebene, aber von entscheidender Bedeutung, der Eroberung der Meerenge. Die Art und Weise, in der sich die zwei flüchtigen deutschen Schiffe Emden und Breslau in den ersten Tagen des Krieges in die Dardanellen geschlichen hatten und nach einer Weile die Türkei zwangen, auf der Seite der Mittelmächte in den Krieg einzutreten,323 wodurch nahezu alle russischen Exporte und Importe abgeschnitten wurden, ohne die Russland nicht fähig war, den Krieg weiterzuführen oder seine Bevölkerung zu versorgen, machte die hochgradige Ver wundbarkeit des Landes als einer gigantischen landumschlossenen Masse deutlich. Miljukow wollte auch Russlands Verbündete beruhigen und ihnen die Ehre der befreiten Nation zusichern.324 Ob sie nun direkten Anteil an der Zerstörung der Autokratie hatten oder nicht : Frankreich und England wurden durch die Februarrevolution ermutigt. Das verjüngte Russland würde jetzt – so glaubten sie – einen wahrhaft nationalen Krieg führen. Darüber hinaus schien nun das Stigma beseitigt, mit einem despotisch - feudalen Regime verbündet zu sein, das
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Vgl. Tuchman, The Guns of August, Kapitel 10 : Goeben ... An Enemy then Flying, S. 161–187. A. d. Ü. : Bei den Schiffen handelte es sich um die „Goeben“ und die „Breslau“. Vgl. Chamberlin, Die Russische Revolution, Band 1, S. 131–135.
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im Westen so vielen fortschrittlichen Menschen Sorge bereitete und aus dem die deutsche Propaganda so viel machte.325 Auf der anderen Seite erließ der Petrograder Sowjet bereits am 14. März einen „Appell an die Völker der ganzen Welt“ für einen demokratischen Frieden ohne gewaltsame Annexionen und Entschädigungen. Während er jedoch seine feste Entschlossenheit zum Ausdruck brachte, sich jeglicher Annexionspläne seitens der neuen Regenten Russlands zu widersetzen, legte er zugleich den patriotischen Schwur ab, dass „die russische Revolution [...] nicht vor den Bajonetten der Eroberer zurückweichen und sich durch fremde Streitkräfte unterkriegen lassen“326 werde. Bis zu Lenins Ankunft am 3. April und der Veröffentlichung seiner berühmten Thesen gaben sich sogar die bolschewistischen Sprecher der Stunde, wie zum Beispiel Kamenew, große Mühe, ihre Bereitschaft zur Unterstützung der nationalen Kriegsanstrengungen wiederholt zum Ausdruck zu bringen. Die scharfsinnigeren Führer der provisorischen Regierung erkannten recht früh die enge Verbindung zwischen dem Fortgang des Krieges und der künftigen sozialpolitischen Entwicklung zu Hause. Alarmiert wurden sie vom berühmten „Befehl Nr. 1“ des Soldatensowjets, durch den gewählte Soldatenkomitees über die Offiziere gestellt wurden.327 Er stellte einen weitreichenden Racheakt gegen die grausamen Bedingungen in der alten zaristischen Armee dar. Aber in Zeiten des Krieges, der Politisierung der Armee und eines allgemeinen Disziplinverlusts war dies ein tödlicher Schlag gegen die Kampfkraft der Armee, ja sogar gegen ihre Existenz als solche sowie gegen die nationale Einheit und die gesamte Gesellschaftsordnung. Miljukow flüchtete sich in die Hoffnung, der Kampf werde den Schaden ausgleichen. „Vielleicht wird manches durch den Krieg bewahrt werden; ohne den Krieg würde alles noch schneller zusammenbrechen“,328 soll er Nabokow erklärt haben, um Stimmen entgegenzuwirken, die sich für einen Separatfrieden mit Deutschland aussprachen. Trotz der Probleme und Belastungen, die sich aus der Existenz eines Systems der Doppelherrschaft ergaben, hätte sich dieses Arrangement mehr oder weniger zufriedenstellend entwickeln können, wären die Kriegsanstrengungen von beiden Seiten als eine nationale Angelegenheit akzeptiert worden. Vor dem Hintergrund eines derartigen nationalen Konsenses hätte man die Sowjets als einen Ausgleich für die vorangegangene Vorenthaltung des Wahlrechts präsen-
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Siehe auch Außenminister P. N. Miljukow an die Regierungen der Alliierten Mächte vom 1. Mai 1917, zit. in Chamberlin, Die Russische Revolution, Band 1, S. 410 f. Ebd., S. 402. A. d. Ü. : Chamberlin nennt den 15. März 1917 als Veröffentlichungsdatum. Vgl. ebd., S. 79–92, 397 f. Ebd., S. 98.
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tieren können, als eine Plattform für diejenigen, die nicht in der Duma vertreten waren, als eine Stimme von unten, ja sogar als einen Gehilfen der provisorischen Regierung, die sich inmitten des gewaltigen sozial - politischen Umbruchs mit einem überkommenen System zweifelhafter Loyalität und nachgewiesener Ineffizienz herumschlagen musste. Der Krieg hätte eine Gewähr dafür bieten können, dass Versuche, das Staatsschiff mit der provisorischen Regierung am Steuer ins Schwanken zu bringen, geblockt worden wären. Angesichts des allgemein akzeptierten Grundsatzes, dass eine verfassunggebende Versammlung die unbestrittene Legitimität und unbegrenzte Macht haben würde, ein neues Russland zu formen, war es auch möglich – im Namen der patriotischen Pflicht, die nationale Einheit und Kampfkraft zu bewahren –, Entscheidungen über solch dringliche Fragen wie den Drang der Bauern, Land von Großgrundbesitzern an sich zu reißen, oder die Rufe nach Unabhängigkeit seitens der Nationalitäten an den Grenzen Russlands zu verschieben. Auch Forderungen nach Verstaatlichung der Industrien hätte man aufschieben können. Der Krieg hatte die Wirtschaft in jedem Fall unter staatliche Kontrolle gebracht, und das vorrangige Problem bestand darin, ihre Funktionsfähigkeit zu sichern statt die Besitzverhältnisse umzustrukturieren. Lenins April - Thesen waren darauf berechnet, ein System der Doppelherrschaft unmöglich zu machen, indem aller Nachdruck auf die Notwendigkeit gelegt wurde, die Feindseligkeiten zu beenden. Der Krieg, den Russland von der zaristischen Regierung geerbt hatte, erklärte er, war von den neuen Regenten nicht zu einem Krieg der Nation gemacht worden. Es handelte sich noch immer um eine Allianz der räuberisch - imperialistischen Regierungen zur Unterdrückung und Ausplünderung schwächerer Nationen und der Kolonialvölker sowie zur Intensivierung der Ausbeutung des von ihrer Arbeiteraristokratie – den Lakaien der herrschenden Kasten und Kriegsprofiteure – hinters Licht geführten europäischen Proletariats. Die neuen Herrscher Russlands waren die kapitalistisch - aristokratischen Erben der Bürokraten der Autokratie.329 Eine Duma, die nach einem unverschämt undemokratischen Wahlrecht gewählt worden war, sowie die daraus her vorgegangene provisorische Regierung waren daher nicht die Repräsentanten und Bevollmächtigten der Nation, sondern Agenten volksfeindlicher Interessen und Komplizen einer internationalen Verschwörung. Daher die Parole : „Alle Macht den Sowjets“. Die Sowjets stellten die wahre Repräsentation der arbeitenden Massen und somit der Nation schlechthin dar. Lenin bot eine alternative Außenpolitik. Wenn erst einmal die Sowjets an die Macht gekommen waren, würden sie allen am Krieg beteiligten Staaten 329
Vgl. Lenin, Über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution; ders., Über die Doppelherrschaft.
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und, über die Köpfe der Regierungen hinweg, deren Völkern einen sofortigen Frieden vorschlagen. Ein derartiges Angebot würde ganz sicher von den kriegsmüden und erschöpften Massen aller Länder als eine Erlösung vom allgemeinen Blutbad bejubelt werden. Die Regierungen würden durch ihre Völker gezwungen, dem Aufruf zu folgen. Sollten sie sich ver weigern, würden die Massen mit Ungehorsam bis hin zu Aufständen und Revolution antworten. Der internationale Krieg würde auf diese Weise mit einem Schlag von einem latenten zu einem tatsächlichen internationalen Bürgerkrieg werden.330 Um dies zu erreichen, wurden die russischen Volksmassen, die in den Sowjets organisierten Arbeiter, Bauern und Soldaten, aufgefordert, die provisorische Regierung mit allen Mitteln zu stürzen – von systematischen Bemühungen, die Macht und das Prestige der staatlichen Institutionen zu untergraben, bis hin zum bewaffneten Aufstand. Die wichtigste und dringendste Aufgabe war es, die Anhänger der Landesverteidigung unter den Sowjets selbst, die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre, als Werkzeuge des imperialistischen Establishments und Verführer des Proletariats zu diskreditieren. War es denn nicht so, dass der zum Patrioten gewordene Vater des russischen Mar xismus, Plechanow, zu innerem Frieden und zur Beendigung des Klassenkampfes und der Streiks für die Dauer des Krieges aufrief ?331 Nichts hätte Lenins Plänen besser dienen können als der Eintritt der Sozialisten in die wiederhergestellte provisorische Regierung in der zweiten Maihälfte nach der Entlassung Miljukows und seines Kollegen im Kriegsministerium, Gutschkow. Der nicht - mar xistische Sozialist Kerenski ( Mitglied der Trudowiki) wurde Kriegsminister und eigentlicher Regierungschef.332 Es war abermals das Problem des Krieges, welches das Schicksal der Revolution etwa zwei Monate später wieder änderte. In der Hoffnung, die Nation in einheitlicher patriotischer Leidenschaft zusammenzuschmieden, startete die neue Koalitionsregierung ihre vom Unglück verfolgte Julioffensive. Dem Angriff ging eine Rundreise Kerenskis an die Fronten im Stil eines zweiten Danton – „De l’audace, et encore de l’audace, et toujours de l’audace !“332z – 330
Vgl. Lenin, Die Aufgaben des Proletariats in unserer Revolution, S. 51 f.; Lenin, Siebente Gesamtrussische Konferenz der SDAPR ( B ), S. 225–232, 240–247; Frankel, Lenin’s Doctrinal Revolution; Page, Lenin and World Revolution, Kapitel 2 und 3. 331 Vgl. Baron, Plekhanov. 332 Vgl. Chamberlin, Die Russische Revolution, Band 1, S. 137; Trotzky, The History of the Russian Revolution, Kapitel XVIII : The First Coalition, S. 358–372. 332z A. d. Ü. : „Kühnheit, nochmals Kühnheit und immer wieder Kühnheit.“ Das Zitat geht zurück auf Georges - Jacques Danton (1759–1794), der am 2. November 1792 in einer Rede vor der Nationalversammlung die Franzosen zum beherzten Kampf gegen die Österreicher, mit denen man sich im Krieg befand, aufrief. Er beendete diese Rede mit den Worten : „Pour les vaincre, il nous faut de l’audace, encore de l’audace, toujours de l’audace et la France est sauvée !“ [ Um sie zu besiegen, braucht man
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voran. Als die Offensive in einer Niederlage endete, war klar, dass die provisorische Regierung in eine Sackgasse geraten war.333 Lenins Haltung zum Krieg und sein Plan, die provisorische Regierung inmitten des Krieges durch Protestaktionen von unten aus dem Tritt zu bringen, wurde zunächst von seinen verständnislosen Kameraden mit verlegenem Schweigen und hochgezogenen Augenbrauen begrüßt. Seine sozialistischen Gegner antworteten mit spöttischem Lachen oder wütenden Protesten. Er kam ihnen wie eine Wiedergeburt Bakunins vor. Er klang wie ein Blanquist. Lenins Ideen trafen sie wie der Rausch eines besessenen Anarchisten ohne jegliches Realitäts - oder Verantwortungsgefühl, der das Chaos um des Chaos’ willen predigte.334 Sie selbst waren zu sehr behindert durch ihre Sorge um Recht und Ordnung, zu gehemmt durch ihren instinktiven Patriotismus und zu niedergedrückt durch ihr Grauen vor der Gewalt, um zu begreifen, was Lenin anstrebte. Ihre Verpflichtung auf demokratische und parlamentarische Legalität machte sie immun gegen Lenins Hauptargument, das er von den Jakobinern, Babeuf und natürlich Marx hatte : Große Entscheidungen und weitreichende soziale Veränderungen waren nicht durch Wahlen realisierbar, sondern nur dadurch, dass eine besitzende Klasse entmachtet und folglich zahm gemacht wurde, mit anderen Worten : indem sie als eine sozial - politische Macht vernichtet wurde. Und dies darüber hinaus durch direkte Aktion, noch bevor irgendeine nationale Wahl stattgefunden hatte. Der Aufruf an die Bauern, zu einer solchen direkten Aktion Zuflucht zu nehmen und unter Mitwirkung der gewählten Komitees das Land der Großgrundbesitzer zu beschlagnahmen, war darauf berechnet, letztere ihrer Besitztümer und damit ihrer Macht als Klasse zu berauben. Eine miesmacherische Antikriegspropaganda sollte die Bauernrekruten, die den Kern der Armee bildeten, zum Desertieren ermutigen, um sich ihren Teil an den beschlagnahmten Ländern zu sichern. Die Auf lösung der Armee war selbstverständlich gleichbedeutend mit dem Sturz einer anderen Säule des Establishments, der Offiziersklasse und – mehr noch – des bewaffneten Arms des bourgeoisen großgrundbesitzenden Klassenregimes. Lenins Plan, durch Verhaftungen, Gerichtsverhandlungen und die Exekution einiger Dutzend oder hunderter Spekulanten das Tun der Kriegsprofiteure zu beenden – eine Maßnahme, die seine feindseligen Zuhörer toben ließ, er sei ein zynischer Volksverhetzer ohne Kenntnis grundlegender Wirtschaftsgesetze –, sollte die Massen dazu anstacheln, die Wirtschaftskrise nicht als Folge objektiver Umstände zu sehen, sondern als das Ergebnis des bewussten Han-
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Kühnheit, nochmals Kühnheit und immer wieder Kühnheit, und Frankreich ist gerettet]. Vgl. Chamberlin, Die Russische Revolution, Band 1, S. 149–151. Vgl. Shub, Lenin, S. 221–227; Chamberlin, Die Russische Revolution, Band 1, S. 156–159; Trotzky, The Russian Revolution, S. 235–237.
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delns einer Bande von Räubern, die folglich ihr Recht auf Besitz ver wirkt hätten.335 Damit im Einklang war Lenins Beharren auf der unmittelbaren Verstaatlichung der Staatsbanken und der Banken im Allgemeinen sowie auf der Vergesellschaftung der großen Syndikate – Kartellen wie zum Beispiel der Zuckerindustrie.336 Dass die Kriegsanstrengungen durch derartige Belastungen und Umstrukturierungen gefährlich beeinträchtigt werden würden, beunruhigte Lenin nicht, für den der Krieg die Grundursache und der Inbegriff allen Übels und die vorherbestimmte Gelegenheit war. In einer Zeit der Engpässe und der Hungersnot konnten solche Handlungen in jedem Fall als durch den Krieg bedingte, unvermeidliche Notmaßnahmen präsentiert werden. Als der gute Mar xist, der er war, konnte Lenin auch argumentieren, dass der imperialistische Krieg die Bedingungen für breite wirtschaftlich - soziale Veränderungen geschaffen hatte. Die Mobilisierung, die Einberufung der Arbeiter zur Armee und die Übernahme von Führungsaufgaben durch Arbeiter, die faktische Verstaatlichung der Kriegsindustrien, die strenge staatliche Kontrolle der Produktion und schließlich die Rationierung – all diese Maßnahmen hatten bereits den Weg zu einem von oben gesteuerten Plansystem und zu einer Unterordnung der privaten Wirtschaftsinteressen unter die nationalen Bedürfnisse geebnet. Doch solange die durch den Krieg bedingte staatliche Leitung der Produktion und Verteilung von Kapitalisten ausgeübt wurde, die auch die Industrien zu ihrem eigenen Nutzen betrieben, wurde soziale Kontrolle mit Sicherheit aus persönlichem Interesse als eine Möglichkeit genutzt, um die Bevölkerung umso effektiver zu schröpfen und gigantische Gewinne aus dem nationalen Unglück zu erzielen. Die Nation, die in den Sowjets vertretenen Volksmassen waren aufgerufen, einzuschreiten und die Aufgabe zu übernehmen, die nationale Wirtschaft im Interesse der ganzen Nation zu führen : Arbeiterkontrolle.337
b) Ein bewusster Plan und die Macht der Umstände – Bolschewiki und Jakobiner Lenin fuhr fort zu behaupten, die Bolschewiki würden im Rahmen ihrer Kampagne, den herrschenden Klassen ihre Besitztümer, Privilegien und Macht zu 335
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Vgl. Shub, Lenin, S. 234–236; Lenin, Siebente Gesamtrussische Konferenz der SDAPR ( B ), S. 262–265; Gesamtrussischer Kongreß der Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten, S. 5–10. Vgl. Lenin, Die Aufgaben des Proletariats in unserer Revolution, S. 59; ders., Siebente Gesamtrussische Konferenz der SDAPR ( B ), S. 302–305. Vgl. Lenin, Siebente Gesamtrussische Konferenz der SDAPR (B), S. 302–305; ders., Gesamtrussischer Kongreß der Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten, S. 3–15.
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entziehen, das Bürgertum zu ent - und die Arbeiter zu bewaffnen und eine Revolutionsregierung durch revolutionäre Mittel und direkte Aktion zu etablieren, keineswegs versuchen, sofort ein doktrinäres sozialistisches System zu errichten.338 In der Sprache Robespierres, Saint - Justs und anderer Montagnards beharrte Lenin darauf, die Bolschewiki handelten unter dem Druck konkreter Entwicklungen und müssten mit einer Situation umgehen, die sich objektiv entwickelt habe und nicht nach einem Plan oder Dogma herbeigeführt worden sei. Die unternommenen Schritte waren neu, beispiellos und ungeplant wie die Revolution selbst.339 Sie waren dazu bestimmt, die Massen vor Ausbeutung und Elend zu schützen, aber auch dazu, die Rückkehr der Unterdrücker und Parasiten zu unbegrenzter Macht zu verhindern. Improvisiert als Reaktion auf verzweifelte Nöte, würden diese Handlungen, wenn sie auch nicht als bewusste Maßnahmen zur Etablierung des Sozialismus in Gang gesetzt wurden, doch durch ihre ganze Natur zum Sozialismus führen. Jedoch stellten sie an sich keinen Sozialismus dar.340 Indem Lenin so argumentierte, wiederholte er seine berühmten früheren Worte, ein Sozialdemokrat sei ein dem Sozialismus beigetretener Jakobiner, und die revolutionäre Freiheit von Unterdrückung sowie von Ängsten, Passivität, Egoismus und schlechten Gewohnheiten, die aus lähmender Knechtschaft resultierten, welche die Jakobiner bemüht waren, mit Hilfe der Herrschaft der Tugend ( oder der Schreckensherrschaft ) sicherzustellen, sei im 20. Jahrhundert unerreichbar, ohne dass sich grundlegende Bereiche der Produktion in öffentlicher Hand befänden und die Wirtschaft allumfassend gelenkt würde. In der Tat hatte der Kapitalismus selbst die Bedingungen, ja sogar die Notwendigkeit für Kollektivbesitz und zentralisierte Produktion geschaffen. Er hatte außerdem die dafür notwendigen Mittel in Form des Bankwesens, der Kontenführung und effektiver Kontrolle geschaffen. Darüber hinaus hatte der Krieg diesen Prozess enorm beschleunigt.341 Die jakobinische Diktatur, insbesondere die wirtschaftliche Diktatur, war genau deswegen gescheitert, weil das Zeitalter nur zerstreute Produktion in kleinem Maßstab kannte, ihm Erfahrung mit zentralen Maschinerien fehlte, von technologischen Mitteln ganz zu schweigen, und es zu unwissend, zu voreingenommen und auch zu ängstlich war, um eine systematische und dauerhafte landesweite Organisation der Wirtschaft ehrgeizig ins Auge zu fassen. Die Bolschewiki hatten Schienen, Autos, Telegraphen und Telefone, Elektrizität und Gas, riesige industrielle Konzerne 338 339 340 341
Vgl. Lenin, Die Aufgaben des Proletariats in unserer Revolution, S. 41–66. Vgl. Talmon, Die Geschichte der totalitären Demokratie, Band 1, S. 208–210. Vgl. Lenin, Gesamtrussischer Kongreß der Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten, S. 3–15. Vgl. ders., Siebente Gesamtrussische Konferenz der SDAPR ( B ), S. 302–305; Die drohende Katastrophe, S. 367–377.
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und Kartelle zu ihrer Verfügung und darüber hinaus eine unfehlbare Anleitung, die wirtschaftliche Theorie des Mar xismus – alles Dinge, die den Montagnards gefehlt hatten. Lenin wurde durch die gleiche Vision angetrieben wie Robespierre, der verkündet hatte, dass er und seine Freunde entschlossen seien, „den Willen der Natur zu erfüllen, das Schicksal der Menschheit zu bewältigen, die Versprechen der Philosophen zu ver wirklichen, die Vorsehung von der langen Herrschaft von Verbrechen und Tyrannei zu entbinden“.342 Der Unklarheit dieser frühen jakobinischen Version der endgültigen Erlösungsphase der Geschichte wurde jetzt Substanz verliehen – davon war dieser moderne Jakobiner absolut überzeugt – durch konkrete Inhalte von unwiderlegbarer wissenschaftlicher Gültigkeit und durch Beweise der historischen Unvermeidlichkeit. Robespierre hatte beten und die Herrschaft der Tugend mit Hilfe von Terror vorbereiten müssen, damit diese Vision wahr würde. Lenin hatte eine zuverlässige Analyse der objektiven Wirklichkeit und der Gesetze der Geschichte und Wirtschaft zur Hand, um sich von ihr leiten zu lassen.
c) Die Revolution polarisiert Trotz seiner Parole „Alle Macht den Sowjets“ war Lenin in den Anfangstagen sehr darauf bedacht, im Auge zu behalten, dass seine eigene Partei im Vergleich mit der Massengefolgschaft der Menschewiki und Sozialrevolutionäre eine Minderheit bildete.343 Er verleugnete jegliche blanquistischen Pläne der Bolschewiki, die Macht durch einen Putsch an sich zu reißen.344 Lenin war zuversichtlich, dass die Bolschewiki fähig sein würden – wie Marx es von den Kommunisten im Jahre 1850 erwartet hatte –, ihre gemäßigten und überlegenen Verbündeten dazu zu animieren und anzutreiben, über ihre ursprünglichen Absichten hinauszugehen, sie zu immer radikalerer Politik zu bewegen und sich dann selbst an die Spitze zu setzen. Lenin drängte seine Anhänger weiterhin dazu, sich über die Notwendigkeit klar zu sein, ihren Feinden die eigene Entschlossenheit zu versichern, dass man geduldig warten werde, bis sich die Meinung der Proletarier und Bauern der bolschewistischen Politik zuwende.345 Dies wurde mit dem jakobinischen Grundsatz begründet, wonach ein verzweifelter sozial - politischer Kampf, besonders inmitten eines 342 343 344 345
Vellay ( Hg.), Discours et Rapports de Robespierre, S. 326; siehe auch Talmon, Die Geschichte der totalitären Demokratie, Band 1, S. 140. Vgl. Lenin, Die Lehren der Revolution, S. 234. Vgl. Lenin, Der achtzehnte Juni; Trotzky, The Russian Revolution, S. 264. Vgl. Lenin, Über Kompromisse, S. 313–318; ders., Entwurf einer Resolution zur gegenwärtigen politischen Lage.
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nationalen Krieges in Verbindung mit Bürgerkrieg, die Nation mit Sicherheit zunehmend polarisieren werde. Es war vollkommen klar, dass sich ein Tauziehen entwickeln würde, bei dem eine der beiden extremen Seiten gewinnen musste, indem sie all die moderaten, zögernden, unentschlossenen, gehemmten und dadurch passiven sowie anpassungswilligen Elemente mit sich riss. Das Debakel der Julioffensive schien in den Augen einiger bolschewistischer Repräsentanten bereits zu solch einer Polarisierung zu führen. Die Bolschewiki waren die einzigen konsequenten und kompromisslosen Gegner des Krieges gewesen. Sie allein ragten aus der breiten Allianz der Sozialisten und Liberalen heraus, welche die katastrophale Offensive geplant und gewagt hatten. Das Scheitern des bolschewistischen Aufstandes unmittelbar nach der Niederlage bewies, dass sich die Bolschewiki eine übertriebene Meinung von der öffentlichen Stimmung und ihrer eigenen Stärke gemacht hatten. Der Wille zur Landesverteidigung war noch nicht völlig zermürbt. Die Regierung konnte immer noch auf die patriotischen Gefühle der Bevölkerung zählen.346 Sie brachte den Mut auf, eine Gegenoffensive zu starten, in deren Folge man Lenin und seine Verbündeten als bezahlte deutsche Agenten, Verräter der Nation anprangerte – Lenin, Sinowjew und andere waren gezwungen, unterzutauchen oder sich in Verstecke in Finnland zu flüchten – und Trotzki verhaftete.347 Diese Maßnahmen veranlassten die Bolschewiki, die Parole „Alle Macht den Sowjets“ aufzugeben, weil die rivalisierenden sozialistischen Parteien der Koalition ( und der Sowjets ) eindeutig zu den Feinden übergelaufen waren. Diese trugen nicht nur die Verantwortung für das verbrecherische militärische Wagnis, sondern hatten durch die Verfolgung der bolschewistischen Führer, die Schließung ihrer Zeitungen und die Aufwiegelung der Menschen gegen sie damit begonnen, die glaubwürdigsten und dynamischsten Repräsentanten des Proletariats zu vernichten.348 Der Austausch der Parole „Alle Macht den Sowjets“ durch den Ruf nach einer revolutionär - demokratischen Diktatur der Arbeiter und armen Bauern lief klar auf die Verlagerung der ausschließlichen Macht auf die bolschewistische Partei als Führer der betrogenen und verratenen Massen hinaus. Dies erinnerte an die Kampagne der Montagnards, die Girondisten am Tag, nachdem General Dumouriez, Brissots Schützling, zum Feind übergelaufen war, aus der Versammlung herauszudrängen, was dann in den Aufständen vom 30. Mai bis 2. Juni 1793 kulminierte. Es war die Kornilow - Affäre, welche die vollständige Polarisierung bewirkte, auf die Lenin gewartet und für die er gearbeitet hatte. Ein zaristischer General, der sich der provisorischen Regierung widersetzte und auf die Hauptstadt 346 347 348
Vgl. Shub, Lenin, S. 242–247; Chamberlin, Die Russische Revolution, Band 1, S. 153–165. Vgl. Shub, Lenin, S. 247 f.; Trotzky, The Russian Revolution, S. 264. Vgl. Lenin, Zu den Losungen.
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marschierte, um die „Anarchisten“ zu vernichten und auseinanderzutreiben, verpflichtete alle Anhänger der Revolution dazu, sich zusammenzuschließen und die konterrevolutionäre Verschwörung durch direkte Aktion ins Leere laufen zu lassen. Mitarbeiter der Eisenbahn stoppten einfach die Züge, und Soldaten liefen unter den Augen der ver wirrten, diskreditierten und machtlosen Kerenski - Regierung auseinander.349 Nicht alle Arbeiter traten sofort zum Bolschewismus über. Die Anhänger des Menschewismus und der Volkstümler, bis dahin zögernd, schwankend und unentschlossen – Lenins Lieblingsworte –, hatten einfach nicht mehr die Überzeugung und die Kraft, der wütenden Energie und Entschlossenheit der Bolschewiki zu widerstehen.350 Das Bürgertum, das Kornilow, dem Anführer der „Wilden Division“, auf der Demokratischen Konferenz als dem Retter Russlands351 zugejubelt hatte, verschwand als politische Macht. Lenin empfand es folglich als gerechtfertigt, die Parole „Alle Macht den Sowjets“ wieder aufzunehmen, obwohl die Bolschewiki noch nicht die gewünschte Mehrheit erreicht hatten. Ihre moralische Überlegenheit über die Gemäßigten in den Sowjets war gesichert, da sich das Blatt rapide zu ihren Gunsten wendete. Sie waren und verhielten sich wie eine kämpfende Avantgarde, tyrannisierten ihre ver wirrten Rivalen, die ihr Selbstbewusstsein verloren hatten. Bald sicherten sie sich die Mehrheit in den Sowjets der beiden Hauptstädte, Petrograd und Moskau.352
d) Der Allgemeine Wille und das revolutionäre Proletariat Würden die Bolschewiki in der Lage sein, die Regierungsverantwortung für das Land zu übernehmen, während sie noch immer eine vernachlässigbare Minderheit in der Nation als Ganzes waren ? Lenin hatte, was dies betraf, keine Bedenken. Wenn eine Viertelmillion Großgrundbesitzer dies gekonnt hatte, konnte das eine mehr oder weniger gleich große Anzahl bolschewistischer Parteimitglieder, voller Eifer, hoch organisiert und diszipliniert, ganz bestimmt.353 Und das war nicht alles : Seit Februar und unter der machtlosen und unfähigen provisorischen Regierung war Russland faktisch von niemandem regiert worden außer den resoluten Gruppen der Aktivisten – ob Sowjets, bäuerliche 349 350
351 352 353
Vgl. Chamberlin, Die Russische Revolution, Band 1, S. 177–184. Vgl. Podwojski, zit. in Shub, Lenin, S. 267 f. A. d. Ü. : Die Quelle bezieht sich ausschließlich auf Soldaten und deren Ver weigerung der Gefolgschaft, nicht auf die Haltung der Arbeiterschaft. Vgl. Deutscher, Trotzki, Band 1, S. 268 f.; Chamberlin, Die Russische Revolution, Band 1, S. 187. Vgl. Shub, Lenin, S. 268–270; Trotzky, The Russian Revolution, S. 265–270; Lenin, An das Zentralkomitee der SDAPR; Deutscher, Trotzki, Band 1, S. 274 f. Vgl. Lenin, Werden die Bolschewiki die Staatsmacht behaupten ?, S. 95.
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Komitees oder Parteizellen. Sie waren es, die ein Vakuum füllten angesichts des Fehlens einer effektiven Mittelschicht, von Institutionen der örtlichen Selbstver waltung, von Foren einer verantwortlichen Bürgerschaft und Formen der Volksinitiative und öffentlichen Kontrolle, eines Systems von checks and balances, ganz zu schweigen von Mitteln und Wegen, dem unverantwortlichen und willkürlichen Regieren von oben Widerstand entgegenzusetzen. In Anbetracht der russischen Situation einer gänzlichen Trennung von Regierung und Volk erschien Marx‘ Beschreibung des Staates und seiner Institutionen als einer bloßen Anhäufung von Zwangsinstrumenten wie Armee, Polizei, Bürokratie, Gerichten, Priesterschaft und bezahlten Schreiberlingen durchaus plausibel.354 Denn diese Institutionen konnten in Russland nicht als Kräfte einer historisch und demokratisch entstandenen Nation betrachtet werden. Indem es sie abschüttelte, würde das Volk in der Lage sein, zu seinem Recht zu kommen. Angesichts der Bedeutungslosigkeit des russischen Bürgertums konnten die Arbeiter in den Fabriken und Werkstätten und auf dem Land als eine undifferenzierte Menge dargestellt werden, eine Einheit mit einem gemeinschaftlichem Interesse, einem einzigen Willen, und dies mit weit größerem Recht als im jakobinischen Frankreich von 1793. Sie waren dazu aufgerufen, sich selbst direkt zu regieren, frei von der Vormundschaft durch Ausbeuter, in ihren Volksversammlungen – den Sowjets – ohne Verzögerung oder Zurückhaltung über ihre allgemeinen Aufgaben zu beratschlagen und Gesetze zu erlassen, ihre eigenen Entscheidungen durchzuführen, in Volksgerichten Gericht zu halten und schließlich mittels schierer Masse und bewaffneter Macht alle Konterrevolutionäre und Klassenfeinde durch rasche und beispielhafte Bestrafung einzuschüchtern.355 Sie waren von aufgeklärten Pionieren sowie erprobten und abgehärteten Veteranen des Kampfes für die Menschenrechte und Emanzipation inspiriert und geleitet, den Mitgliedern der Kommunistischen Partei, die der eindeutigste und gänzlich unbestechliche Sprecher des Proletariats war, ohne eigennützige Interessen und Bestrebungen. Ihre Formulierungen der wahren Interessen und innigsten Wünsche des unteilbaren Volkes der Arbeiter würden sicherlich von den Massen als ihr wahrer allgemeiner Wille anerkannt werden, wenn sie nur erst von Hemmungen, Ängsten, Unwissenheit und Ver wirrung befreit und gegen den Einfluss der fehlgeleiteten, widernatürlichen und egoistischen Elemente immunisiert waren. Das städtische, genauer : das fortschrittliche, bewusste industrielle Proletariat war der offenliegendste, empfindlichste Nerv des Volkes und trug aufgrund seiner Nähe zu den Arterien der Macht und der sozialen Organisation die größte Verantwortung für das Wohlbefinden der Massen. Die bäuerliche Mission 354 355
Vgl. Marx, Bürgerkrieg in Frankreich, zit. in Lenin, Staat und Revolution, S. 430–433. Vgl. ebd., S. 434–440.
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war, wie bereits gesagt, diejenige der Desorganisation. Ihre grundsätzlich individualistische und fragmentarische Produktionsweise und Existenz war in jedem Fall nicht dazu angetan, ihnen die Möglichkeit oder den Wunsch zu lassen, als eine politische Klasse in der Hoffnung zu handeln, die Macht zu erlangen und die sozial - politische Ordnung zu gestalten. Nachdem sie das Land der Grundbesitzer erhalten und aufgeteilt hatten, würden sie nach Hause gehen. Die städtischen Arbeiter würden übrig bleiben und dazu aufgerufen sein, die neue Gesellschaft zu formen.356 Es waren die Intuition und die Macht des Volkes, die als letzter Ausweg gegen alle Hindernisse und Gefahren auf dem Weg zum Sieg der Revolution standen. Als wahrer Souverän war das Volk nicht wie seine gewählten Bevollmächtigten in den legislativen Kammern durch irgendwelche institutionalisierten Vorgehensweisen, Präzedenzfälle oder Kontrollen in der Ausübung seiner Macht gebunden. Die Sache und der Wille des Volkes mussten gleichzeitig so aufgefasst werden, dass sie sich über das Tatsächliche und Unmittelbare, über das Hier und Jetzt hinaus erstreckten. Es umfasste eine Vorstellung von Dingen in ferner zeitlicher und örtlicher Zukunft. Seine Bannerträger wurden durch tiefe, gewaltige Gründe und große Perspektiven motiviert, wenn auch vorübergehend getrübt durch das Gegenwärtige und Besondere. Wo solch allgemeine Ziele auf dem Spiel standen und es um die weltweite historische Strategie ging, konnten derzeitige zahlenmäßige Mehrheiten oder Minderheiten nicht das endgültige Maß sein. Genauso wenig durfte die wahre Selbstäußerung der direkten Demokratie durch zufällige Mehrheiten eingeschränkt und verzerrt werden. Es handelte sich um einen Abschnitt eines unermesslichen historischen Prozesses, der auf einer gewaltigen, sich allmählich entfaltenden Leinwand zum Bewusstsein gebracht und fruchtbar gemacht werden würde. Lenin hätte warten können, bis die Bolschewiki ihre Mehrheit in den Petersburger und Moskauer Sowjets erhalten hätten. Doch er wartete weniger, um seiner Sache sicher zu sein, als vielmehr um die anderen, Freunde und Feinde, erkennen zu lassen, dass die zwei wichtigsten Ner venzentren und entscheidenden Außenposten des proletarischen Kampfes den Bolschewiki ein klares Mandat gegeben hatten. Im Gegensatz zu Kamenew, Sinowjew357 und selbst Trotzki358 hatte Lenin wenig oder gar keine Ver wendung für offizielle Befugnisse und akzeptierte Verhaltensregeln, keine Nutzanwendung für irgendein Mandat seitens einer internationalisierten Körperschaft, wie etwa des Allrussischen Kongresses der Sowjets oder irgendeiner anderen Versammlung oder 356 357 358
Vgl. Lenin, Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll; Trotzky, The Russian Revolution, S. 315 f. Vgl. Chamberlin, Die Russische Revolution, Band 1, S. 269–271; Carr, The Bolshevik Revolution, Band 1, S. 93–98. Vgl. Trotzky, The Russian Revolution, S. 281–285.
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eines Komitees. Er hörte Stimmen von oben, das heißt : die Stimmen der Geschichte. Aus seinem Versteck in Finnland, das zu einer Art Heiligtum geworden war, dem Allerheiligsten der Geschichte, schikanierte Lenin seine furchtsamen Kameraden. Ihr Unverständnis hinsichtlich der gigantischen Mächte, die ihn bewegten, und ihr furchtsames Zurücktreten vom Rande des Abgrunds führten dazu, dass sie seine donnernden Mahnungen, dass die Geschichte ihnen niemals ihre Untätigkeit und ihre Scheu vergeben würde, im Gedächtnis behielten. Es war die Stunde des Schicksals, die Stunde des Wagnisses, da die Massen und die politischen Eliten den Höhepunkt ihrer Orientierungslosigkeit und Unschlüssigkeit erreicht und ihre Standfestigkeit verloren hatten; die Macht lag auf den Straßen und wartete darauf, von jemanden aufgenommen zu werden, der sie wollte und wusste, was damit zu tun war. Das ist der Grund hinter seiner Rücktrittsdrohung und dem Entschluss, auf eigene Faust zu handeln, falls seine Kollegen sich weigerten, den Oktoberputsch zu starten.359 Genauso wenig – weniger noch als die Jakobiner – würde Lenin sich durch die nicht - bolschewistische Mehrheit in der verfassunggebenden Versammlung entmutigen lassen.360 Die Geschichte hatte nach dem Vorbild der Pariser Kommune von 1871 bereits ein fortschrittlicheres, demokratischeres und zuverlässigeres Forum der Selbstäußerung des Volkes entwickelt : die Sowjets.361 Diese Form der direkten Demokratie würde alle Arten der Herrschaft von Menschen über Menschen, entpersonalisierte Institutionen, nach Klassen strukturierte Repräsentation, schrittweise Wahlverfahren und Delegierung der Macht zum Zwecke der Deformation des wahren und unmittelbaren Willens der Massen abschaffen.
e) Proletarische Diktatur und klassenlose Einstimmigkeit Zunächst erscheint es verblüffend : So wie im Jahre 1793, als der Herrschaft des Terrors die eilige Verkündigung der demokratischsten Verfassung voranging, welche die Geschichte bis dato gekannt hatte – zehn Prozent der Wähler plus eins in der Hälfte der französischen Départements waren in der Lage, ein von der gesetzgebenden Versammlung angenommenes Gesetz außer Kraft zu setzen –, wurde die Errichtung des diktatorischsten Regimes in der modernen Geschichte durch ein derart ultrademokratisches, um nicht zu sagen anarchistisches und utopisches Traktat wie Staat und Revolution eingeleitet, das Lenin 359 360 361
Vgl. Lenin, Die Bolschewisten müssen die Macht ergreifen. Vgl. Lenin, Mar xismus und Aufstand. Vgl. Carr, The Bolshevik Revolution, Band 1, S. 93–95; Trotzky, The Russian Revolution, S. 281–283.
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im Sommer 1917 in der Zeit des Untertauchens verfasst hatte.362 War das Heuchelei ? Handelte es sich um einen Akt der Verteidigung und Entschuldigung, von Lenin ins Werk gesetzt, bevor er sich als Diktator eines riesigen Reiches etablierte ? Könnte ein so scharfsinniger, realistischer und persönlich ehrlicher Mensch die Diktatur des Proletariats im selben Atemzug als ein Instrument zur erbarmungslosen Unterdrückung der Bourgeoisie und aller konterrevolutionären Kräfte und gleichzeitig als fortschrittlichste Form der Demokratie beschreiben ? Glaubte Lenin ernsthaft, dass ein modernisierter und industrialisierter Staat von solchen Dimensionen und solcher Vielgestaltigkeit durch eine direkte Demokratie weitgehend ungebildeter Massen unter direkter Kontrolle der Arbeiter regiert werden könne und immer noch demokratischer sein würde als das System der bürgerlichen Demokratie in einer pluralistischen Gesellschaft mit ihren checks and balances? Ist es möglich, sich vorzustellen, Lenin habe wirklich das Verschwinden aller hierarchischen Ordnungen in einer komplexen modernen Gesellschaft mit einer zentralisierten Wirtschaft vor Augen gehabt, so dass alle Notwendigkeiten von auferlegter Disziplin und Zwang hinfällig und am Ende die Zwangsinstitutionen des Staates und der Staat selbst absterben würden ?363 Wie war eine so weitsichtige Person wie Lenin dazu in der Lage, alle komplexen menschlichen und sozialen Beziehungen auf nicht mehr als die Konsequenzen des Systems des Privateigentums und – in theologischer Sprache – auf kapitalistische Habgier zu reduzieren und zu glauben, dass nach der Enteignung der besitzenden Klassen und der Übergabe der Führung der gesamten nationalen Wirtschaft in die Hände des amorphen, in kleine Kommunen aufgeteilten Volkes die Angelegenheiten der Gesellschaft von einem Mädchen, dass einige Grundrechenarten beherrscht sowie Lesen und Schreiben kann, unter den Augen der einigen Nation ver waltet werden könnte ?364 Und dass das Verbrechen aus einer Gesellschaft beinahe verschwinden würde, sobald diese nur von Entbehrungen befreit war und durch die strikte Missbilligung des versammelten rechtschaffenen Volkes einen hemmenden Einfluss ausüben würde?365 Es genügt nicht festzustellen, dass solch eine Vision utopischer Harmonie und Glückseligkeit darauf berechnet war, die provisorische terroristische Diktatur des Proletariats als wahrlich niedrigen Preis darzustellen und ihre Strenge, ja Grausamkeit, als eine Art Verkürzung der Geburtswehen zu rechtfertigen. Der Schlüssel zu diesem Rätsel liegt in der Tatsache, dass die Avantgarde 362 363 364 365
Vgl. Lenin, Staat und Revolution. Vgl. ebd., S. 470–489. Vgl. ebd., S. 433. Vgl. ebd., S. 469 f.
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der messianischen Revolution sich nur durch den aufrichtigen Glauben an die Möglichkeit, ja Unvermeidbarkeit und an das unmittelbare Bevorstehen der großen Erfüllung berechtigt fühlen könnte, für sich zu reklamieren, den wahren Willen des Volkes auszudrücken und als Instrument der Geschichte zu handeln, wenn sie zu Zwangsmaßnahmen griff und unbegrenzte diktatorische Macht an sich reißen würde. Anderenfalls hätte sie vor sich selbst als ein extremer Heuchler und Zyniker dagestanden. Und das war sie nicht, zumindest nicht zu Beginn, trotz all der Heuchelei, Selbsttäuschung, Betrügerei und skrupellosen Grausamkeit und Tyrannei, die sie in Kürze praktizieren sollten. Kurzum, die messianische Idee war kein nachträglicher Einfall und keine Entschuldigung. Sie war der Ausgangspunkt. Die unvermeidlichen Frustrationen wurden zur Ursache für all die späteren Per versionen. Eine solch hochfliegende Vision musste allerdings zwangsläufig derart bittere Frustrationen mit sich bringen, die dann zu diesen Verzerrungen führten. Um es noch einmal zu wiederholen : Jegliche Erwartung der Einmütigkeit verlangt, ob wissentlich oder unwissentlich, die Oktroyierung eines einzigen Willens. Die fanatische Gewissheit, dass Einmütigkeit die letztendliche Gemütsverfassung aller anständigen Menschen war, musste eine extrem ungeduldige Intoleranz, Hass und Verachtung von Dissidenten erzeugen und dazu führen, den „Abweichungen“ ein Ende zu machen – das Phänomen von Menschen, die sich anscheinend weigerten, rational und frei zu sein. Ein hypnotischer Glaube an die endgültige Harmonie war der Grund für die Behauptung, die Diktatur sei nur eine Übergangsphase. Sie würde nur so lange dauern, wie die Menschen sich weigerten, frei und rational zu sein. Sobald sie rational, das heißt einmütig wären, würde es keinen Bedarf und keinen Ort für Zwang mehr geben und folglich auch nicht für den Staat an sich.
f) Nationalrevolutionäre Verteidigung Als ein Zwangsinstrument in den Händen der ausbeuterischen Klasse war der Staat ein historisches und vorübergehendes Phänomen. Der bürgerliche Nationalstaat war zu einem bestimmten kritischen Augenblick entstanden, als sich das aufsteigende Bürgertum für einen größeren Markt und damit für die Abschaffung feudaler Unterschiede zu interessieren begann. In einer klassenlosen Gesellschaft, in der alle Bürger in der Volksmiliz dienten, würde die Notwendigkeit einer besonderen Polizei beinahe überflüssig werden, weil das Volk als Ganzes die Beobachtung, das Richten und das Bestrafen übernähme. Durch Rotation würde es eine aktive Teilnahme aller Bürger an der Legislative sowie an der Ver waltung der Gemeindeangelegenheiten geben, und das höhere Beamtentum würde überflüssig werden. All dies spricht nicht nur für
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das Verschwinden des Staates als Abstraktum, sondern auch des Nationalstaates. Die Geschichte der Nation und des Nationalstaates hatte, ob im Guten oder Bösen, über die Jahrhunderte nicht nur aus der Geschichte der wirtschaftlichen Entwicklung und sich verändernden Gewohnheiten, sondern auch aus dem politischen Leben bestanden, aus konstitutionellen Kämpfen, Beziehungen zum Ausland einschließlich Krieg, Mythen und Ambitionen, aus einer Vielzahl von Ideen und einer Galerie von Helden. Diese zusammen formten die jeweilige Geschichte, das Schicksal und die historische Persönlichkeit der Nation. Wenn in der Zukunft Gesellschaften – sprechen wir ruhig von Nationen – so eindimensional, ja lediglich Sektionen einer homogenen, eindimensionalen Menschheit wären, was würde da das Recht auf Selbstbestimmung bedeuten ? Sicherlich würde es von keinerlei Bedeutung sein. So wie in einer klassenlosen Gesellschaft niemand Grund hätte zu klagen, er sei unfrei und wolle seine Unabhängigkeit behaupten, so würde in einer sozialistischen Welt keine Nation einen Grund oder eine Möglichkeit haben, jemand anderen zu unterdrücken, und daher hätte niemand einen Grund, über Unterdrückung zu klagen. Lenins Überlegungen zum Nationalitätenproblem entsprachen seinen syllogistischen Überlegungen zu Demokratie, proletarischer Diktatur und dem allmählichen Verschwinden des Staates.366 Es gab selbstverständlich ein Element des Opportunismus in seinem scheinbar liberalen Standpunkt hinsichtlich des Rechtes auf nationale Selbstbestimmung, da für Lenin immer eher die Tatsache von Interesse war, dass dessen Verleugnung eine Irritation darstellte, welche die ernsthafte Hingabe an die Sache der internationalen Revolution behinderte, als die nationale Unabhängigkeit im Sinne eines Selbstzwecks. Es handelte sich dabei noch mehr um eine taktische Maßnahme als um die Identifikation der Diktatur des Proletariats mit der Demokratie, da für Lenin Demokratie niemals faire Verteilungsgerechtigkeit bedeutete, die jedem Segment der Nation einen gebührenden Anteil an der Gestaltung der nationalen Politik zugestehen würde, sondern ausschließlich dazu bestimmt war, den Aufstieg und Sieg der Unterprivilegierten über die Privilegierten sicherzustellen. Dennoch : Gerade weil es keinen Grund gibt, die Aufrichtigkeit von Lenins starrem Glauben an die letztendliche Einmütigkeit im Rahmen einer einzigen Gemeinschaft zu bezweifeln, besteht auch kein Grund, die Aufrichtigkeit seiner Überzeugung von der schlussendlichen Bereitschaft aller sozialistischen Nationalitäten anzuzweifeln, einer föderalen Struktur und damit einer Weltgemeinschaft der sozialistischen Gemeinschaften beizutreten und mit ihr zu verschmelzen. 366
Vgl. Carr, The Bolshevik Revolution, Band 1, S. 418–428; Knei - Paz, The Social and Political Thought of Leon Trotzky, S. 547; Holdsworth, Lenin and the Nationalities Question; Pipes, The Formation of the Soviet Union, S. 34–49.
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Geopolitische Fakten, die Last der Geschichte und paradoxer weise die Umstände der Revolution selbst vereinten sich, um Lenins Vorstellung eines frühen Zusammenschlusses der sozialistischen Nationen zu einer einzigen sozialistischen Welt zerrinnen zu lassen. In noch größerem Ausmaß als die Deutschen und Ungarn in der Habsburger Monarchie waren die Großrussen das Herrenvolk im multiethnischen Russischen Reich.367 Mit der Ausnahme des Königreiches Polen, das durch den Wiener Kongress entstanden war, und des zur damaligen Zeit Russland angeschlossenen Finnlands, wo jeweils die Russen nur eine politische Vormachtstellung ausübten, stellten in allen anderen Provinzen des riesigen Reiches – mit all seiner enormen Vielfalt der geographischen Gegebenheiten, des Klimas, der sozioökonomischen Bedingungen, der kulturellen Entwicklung und des Nationalbewusstseins – die Großrussen entweder die Grundbesitzerklasse oder die Bourgeoisie oder die über wiegende Mehrheit der Stadtbewohner und tatsächlich oft auch die Masse der Industriearbeiter. Von den äußerst primitiven, des Lesens und Schreibens unkundigen ethnischen Gruppen in Sibirien über die muslimischen Fürstentümer und Nomaden Zentralasiens bis zu den baltischen Staaten, der fortschrittlichen Ukraine sowie Weißrussland und den Ländern der alten und ursprünglichen Kultur am Kaukasus setzte das Wachstum des Nationalbewusstseins mit Verzögerung ein, und seine Geschwindigkeit blieb, nachdem es erwacht war, niedrig. In der Ukraine, in Weißrussland und in Litauen war der Adel entweder russisch oder polnisch und die städtische Bevölkerung größtenteils jüdisch, russisch oder russifiziert. In Lettland und Estland waren die größeren Städte hauptsächlich von Deutschen gebaut und beherrscht worden, und die Juden stellten einen großen Teil der Einwohner, während die Landbesitzerklasse sich aus Russen oder Deutschen ( den baltischen Baronen ) zusammensetzte. Nur die Bauern in diesen Regionen waren wirklich Einheimische. Die Intellektuellen waren wieder um entweder Russen, Russifizierte oder Juden. Die gebildeten Teile der Bevölkerung, die der Russifizierung entgangen waren oder sich ihr widersetzt hatten, um zur Speerspitze des Nationalismus zu werden, bildeten eine kleine, beinahe marginale Minderheit. Sie verfügten daher nur über eine schmale soziale Basis und waren kaum in den Volksmassen ver wurzelt. Eine beträchtliche Anzahl dieser Nationalisten sprach und schrieb auf Russisch und kannte kaum die Sprachen, manche von ihnen mit sehr karger Literatur, die sie wiederzubeleben und zu den dominierenden zu machen wünschten. Die Unternehmerklasse in den Städten Zentralasiens und vieler Städte im Kaukasus bestand wiederum aus Großrussen. Einen großen
367
Vgl. Pipes, The Formation of the Soviet Union, S. 1–8; Carr, The Bolshevik Revolution, Band 1, S. 255 f.
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Teil der Industriearbeiter in der Ukraine stellten Großrussen.368 Das kultivierbare Land in Sibirien war von den landhungrigen Bauern aus Großrussland unter den Pflug genommen worden, und die Städte Sibiriens waren hauptsächlich von großrussischen Migranten und Verbannten gebaut worden und wurden von ihnen bewohnt. Vor diesem Hintergrund lag Lenin nicht ganz falsch, wenn er nationalpolitische mit sozioökonomischer Unterdrückung identifizierte. Während patriotische Russen vor der Idee zurückschreckten, ihr nationales Erbe aufzugeben, sah Lenin es als ein Ergebnis des Klassenraubs und als Hauptstütze der räuberischen Macht. Er sah die Bestrebungen der unterdrückten Nationalitäten als eine Hilfe an, wenn es darum ging, das Gebäude der despotischen Autokratie und der national - sozialen Ausbeutung niederzureißen. Aber es war gerade die Revolution, die dem Trend zur Abspaltung Einhalt gebieten sollte, ohne die großrussische Hegemonie zu schwächen; tatsächlich ver wandelte und stärkte sie diese nur. Solange der Krieg nicht zu einem Ende kam, der Bürgerkrieg fortgesetzt wurde und die westlichen Mächte ihre inter ventionistischen Aktivitäten nicht aufgegeben hatten, würde jede Provinz, die sich von Russland lossagte oder sich lossagen wollte, zwangsläufig oder wahrscheinlich von einer ausländischen Macht, die dem revolutionären Russland feindlich gegenüberstand, besetzt werden bzw. unter ihren Einfluss geraten. ( Auf dem Höhepunkt des Bürgerkrieges war Russland tatsächlich auf diejenigen Gebiete beschränkt, die Iwan der Schreckliche geerbt hatte.369) Die Bolschewiki hatten jeden Grund, solche Provinzen als Feindesland zu betrachten. Sie betitelten jede nationale Befreiungsbewegung, die nicht kommunistisch war, als „bürgerlichen Nationalismus“. Sie konnte bedingt von den Kommunisten unterstützt werden, wenn sie tatsächlich oder möglicher weise oder auch nur vorübergehend einen Verbündeten gegen einen gemeinsamen imperialistischen Feind darstellte. Es bestand immer die Hoffnung, dass die zeitweilige bürgerlich - proletarische Allianz durch einen revolutionären Klassenkampf beendet würde, sobald das Ziel der politischen Unabhängigkeit erreicht war. Anderenfalls würde das Proletariat als Beute der kapitalistischen Klasse überlassen, und der neue Klassenstaat wäre frei, sich den imperialistischen Staaten anzuschließen. Und ein revolutionäres proletarisches Russland war durch Ehre und Pflicht gehalten, dem Proletariat eines Nachbarstaates jede Hilfe zu leisten.
368 369
Vgl. Carr, The Bolshevik Revolution, Band 1, S. 253–258, 290–292. Vgl. ebd., S. 253.
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In der Ukraine traten all diese Dilemmata in den Vordergrund.370 Lenin dachte gar nicht daran, Polen oder Finnland zu gestatten, sich abzuspalten.371 Diese Nationen hatten eine so ausgeprägte Geschichte, Kultur und nationale Identität, wie sie weder die Ukrainer noch irgendeine andere Nationalität in Russland besaßen. Die Ukraine war die Kornkammer Russlands; und ein großer Teil von Russlands Kohle, Eisen, Öl und anderer natürlicher Rohstoffe kam aus der Donezk - Region. Ein Großteil der fortschrittlichsten Industrie Russlands war dort konzentriert. Die deutsche Armee hatte sich in der Ukraine eingerichtet, unterstützte aufeinanderfolgende nationalistische Marionettenregierungen und plünderte den Wohlstand des Landes. Nach dem deutschen Zusammenbruch fanden die ukrainischen Nationalisten in den Franzosen und Briten ihre Beschützer sowie, am unpassendsten, 1920 in den Polen, die bei ihrer Invasion der Ukraine bis nach Kiew gelangten. Viele der gefährlichsten und längsten Kämpfe des Bürgerkriegs fanden in der Ukraine statt. Es gab daher überragende wirtschaftliche, strategische und ideologische Gründe, die Errichtung feindlicher Außenposten nahe dem Herzen Russlands zu unterbinden. Die über wiegend großrussischen lokalen Bolschewiki in den Städten erhoben sich als Teil der allgemeinen revolutionären Anstrengungen auf jeden Fall in einer Revolte gegen die ukrainisch - bürgerlichen Nationalisten. Die ukrainischen Bauern für ihren Teil fürchteten, dass die Generäle der „Weißen“ die Grundbesitzer wieder zurückbringen würden. Sie versagten daher der ukrainischen Rada ihre Hilfe. Außerdem fürchteten die ukrainischen Nationalisten einen totalen Sieg der konterrevolutionären russischen Kräfte, die von der Wiederherstellung der Einheit des Reiches und der großrussischen Herrschaft darüber träumten. So verteidigte die Rote Armee beides, den russischen Boden und die sowjetische Revolution. Sie war verpflichtet, der neu ernannten kommunistischen Regierung der Ukraine dabei zu helfen, das Joch der einheimischen kapitalistischen Klasse abzuschütteln, und gleichzeitig war sie gezwungen zu verhindern, dass die Ukraine zur Speerspitze des Aufmarsches der feindlichen Kräfte würde, die das Vaterland des Sozialismus belagerten.372 Da der größte Teil des Krieges gegen die konterrevolutionären Generäle und die westlichen Expeditionskorps in den Grenzregionen von einer von Groß370 371
372
Vgl. ebd., S. 265; Chamberlin, Die Russische Revolution, Band 1, S. 344–348; Pipes, The Formation of the Soviet Union, S. 50–73. Vgl. Lenin, („Prager“) Gesamtrussische Konferenz der SDAPR, S. 477; ders., Finnland und Rußland; ders., Auftrag für die in den Betrieben und Regimentern zu wählenden Deputierten zum Sowjet der Arbeiter - und Soldatendeputierten; ders., Siebente Gesamtrussische Konferenz der SDAPR ( B ) ( Aprilkonferenz ), Kapitel 18 : Rede über die nationale Frage, S. 289–294. Vgl. Carr, The Bolshevik Revolution, Band 1, S. 289–307.
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russen rekrutierten und kommandierten Roten Armee geführt wurde, kombinierte der entstehende Mythos des Bürgerkrieges ideologisch - kommunistische und großrussisch - nationalistische Motive. Die Notwendigkeit des Wiederaufbaus und die Zunahme der ihn begleitenden Zentralisierung brachten die Großrussen und Juden überall in Russland in verantwortliche Positionen. Sie waren am besten ausgebildet und den Hauptschlagadern der Macht am nächsten. Die sowjetische Regierung hatte außerdem keine andere Wahl, als sich die Dienste der Mitglieder der zaristischen Bürokratie, des alten Offizierskorps, bürgerlicher Experten und Techniker zunutze zu machen. Für viele von diesen bedeuteten die Einheit und der Ruhm Russlands mehr als ihre Privat - oder Klasseninteressen. Die meisten der führenden Bolschewiki aus ethnischen Minderheitengruppen, die in der herrschenden Elite des sowjetischen Russland aktiv waren oder einflussreiche Positionen in den autonomen Regionen besetzten, waren leidenschaftlichere Zentralisten als die großrussischen Bolschewiki selbst, entweder aus tiefer internationalistischer Überzeugung – ein Internationalist zu sein, bedeutete unter diesen Umständen, die großrussische Hegemonie zu wünschen – oder mangels Rückhalt in ihren eigenen ethnischen Gemeinschaften.373 Die Entwicklung der Haltung Sowjetrusslands gegenüber den Minderheitennationalitäten in den Grenzregionen ähnelt der politischen Entwicklung in der Französischen Revolution – vom Versprechen des 19. November 1792, die unterjochte Bevölkerung zu befreien und ihr zu helfen, die Leibeigenschaft abzuschütteln und die Bedingungen zur Wahl der Freiheit zu erlangen, bis zum berühmten Erlass vom 15. Dezember 1792, der den befreiten Bevölkerungen befahl, die Freiheit zu wählen, das heißt die republikanischen Institutionen des revolutionären Frankreich, widrigenfalls sie als Feinde Frankreichs behandelt werden würden. Die Art, in der die UdSSR am Ende des Zweiten Weltkrieges das kommunistische Regime in allen Ländern einführte, die sie von NaziDeutschland zurückerobert hatte, erinnert in ähnlicher Weise an die Politik des nachthermidorianischen Frankreich, das bereits zu dieser Zeit seinen bekehrenden Enthusiasmus verloren hatte, indem es sich mit einer Reihe von Schwesterrepubliken umgab, deren Regierungen von Frankreich ernannt oder zumindest von ihm abhängig waren. Es war zu diesem Zeitpunkt schwierig zu sagen, ob sich Frankreich noch immer um die Verbreitung der Ideen der Menschenrechte, der Volkssouveränität und des säkularen Staates sorgte oder allein um seine eigene Sicherheit und seinen internationalen Einfluss.374
373 374
Vgl. ebd., S. 278–280. Vgl. Sorel, L’Europe et la Révolution française, Band 4, Band 5; Lefebvre, The French Revolution, 2 Bände, siehe bes. Band 1, Kapitel 2 : European Economy, S. 19–36.
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Die Oktoberrevolution wurde von Lenin in dem unerschütterlichen Glauben durchgeführt, dass in einem Land nach dem anderen die arbeitenden Massen unverzüglich Russlands Beispiel folgen würden, in einem Europa, dass unter den Schrecken des Krieges taumelte und von revolutionärer Unrast brummte. Russland stand am Anfang einer ganzen Prozession. Außerdem, wie Lenin und seine Verbündeten wiederholt zugaben, hätten sie sich niemals an ein derartig kühnes und gefährliches Unternehmen gewagt, wenn sie nicht sicher gewesen wären, dass der unvermeidliche konterrevolutionäre Kreuzzug der imperialistischen Regierungen – der Deutschen oder Alliierten – von den neu geschaffenen revolutionären proletarischen Regierungen im Keim erstickt würde, die entschlossen wären, das Überleben des Sowjetregimes zu sichern, und eifrig bemüht, es auf seinem Weg zum Sozialismus zu unterstützen. Lenin sah bereits in der Februarrevolution und in den sozialen Unruhen und rebellischen Bewegungen, die er in allen kriegführenden Ländern wahrzunehmen glaubte ( und gewaltig übertrieb ), den Beginn einer Ära des internationalen Bürgerkrieges. Über den Ausgang hatte er keinen Zweifel. Dieser Glaube diente den Bolschewiki als Anker, als ihr Glück in den Tagen von Brest - Litowsk und danach während des Bürgerkrieges seinen Tiefststand erreicht hatte. Lenin, Trotzki, Radek, Sinowjew, Pjatakow und all jene, deren Bewusstsein des universellen Charakters der kommunistischen Botschaft besonders ausgeprägt war, dachten in den frühen Tagen überhaupt nicht daran, sich auf das alte Spiel der Diplomatie zwischen souveränen, in Machenschaften verstrickten, Besitz ergreifenden und sich ständig misstrauenden konkurrierenden Staaten einzulassen. Es genügt, Trotzkis Bonmot zu wiederholen, als er zum Kommissar für Auswärtige Angelegenheiten ernannt worden war, er werde lediglich ein paar Proklamationen an die Arbeiter der Welt formulieren, die geheimen Verträge zwischen der zaristischen Regierung und der Entente über die Teilung der Beute nach dem Krieg veröffentlichen und dann den Laden schließen.375 Der gleichzeitige Ausbruch der Revolution in beiden kriegführenden Lagern der imperialistischen Mächte war ein notwendiger Glaubensartikel. Ohne diese Synchronisation lief das bolschewistische Russland Gefahr, von den Kräften, die noch kapitalistisch blieben, überrannt und vernichtet zu werden. Dieser Art war das bittere Dilemma in den Tagen von Brest - Litowsk. Ein separater sowjetischer Friede mit Deutschland schien den Sieg des preußischen Militarismus über die westlichen Demokratien zu sichern. Darüber hinaus stellte es eine unauslöschliche Schande für ein Proletariat dar, das gerade seinen revolutionären Sieg – im Namen der Proletarier aller Welt – errungen hatte, seine Karriere damit zu beginnen, sich einem drakonischen und ernied375
Vgl. Chamberlin, Die Russische Revolution, Band 1, S. 334 f.
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Lenin – internationaler Revolutionär
rigenden Frieden zu fügen, diktiert von einer imperialistischen Macht, die zu diesem Zeitpunkt der Gewinner des Krieges gegen die westlichen Demokratien zu sein schien und die dadurch in die Lage versetzt würde, die russische Revolution in der Wiege zu erdrosseln. Welch eine Ermutigung für die deutschen Chauvinisten und welch eine entmutigende Enttäuschung für die Arbeiter Europas, ja für die ganze Welt, die nach einem revolutionären Durchbruch strebte !376 Dies war das auf den ersten Blick unwiderlegbare Argument der Gegner des Friedens von Brest - Litowsk, die einen revolutionären Volkskrieg nach dem Muster der jakobinischen levée en masse von 1793 verlangten. Inmitten der leidenschaftlichen Polemiken der Vaterlandsverteidiger, die Lenin vor warfen, nicht ein bisschen von diesem jakobinischen Patriotismus an sich zu haben, den die revolutionäre Tradition so verherrlichte, begegnete er dem Hohn mit feierlichen Schwüren und wortgewandten Beschwörungen eines revolutionären patriotischen Krieges à l’outrance, wenn nur erst die proletarischen Massen ihr Land den Händen der russischen imperialistischen Banditen, die im Bunde mit den imperialistischen Räubern im Westen waren, entrissen hatten und sie es in das wahre Vaterland der Arbeiterklassen – die wahre Nation – ver wandelt hätten, das dann geliebt, geschätzt und verteidigt werden würde. Das bewaffnete Volk würde dann Wunder des Heldentums in der Verteidigung seines Landes gegen die kapitalistischen Eindringlinge vollbringen.377 Lenin war zu sehr Realist, um zu glauben, dass eine demoralisierte und aufgelöste Armee, eine erschöpfte und politisierte Bevölkerung in einem zerstörten Land jemals der Macht der deutschen imperialistischen Armee widerstehen könnte. Trotzkis exzentrischer Vorschlag, weder zu kapitulieren noch zu kämpfen – weder Frieden noch Krieg – als ein Ausweg aus diesem Dilemma, war mit ihm nicht zu machen. Obwohl Lenin begann, daran zu zweifeln, dass die Zeit für die Revolution im Westen reif sei – nur eine Schwangerschaft verglichen mit dem Baby, das in Russland bereits geboren worden war378 –, und sich in der Öffentlichkeit entschieden zu einem Kapitulationsfrieden bekannte, musste er sich verzweifelt an die Hoffnung einer bevorstehenden deutschen Revolution klammern, während er zur gleichen Zeit halbherzig versuchte, Präsident Wilson als einen Gleichgesinnten bezüglich seines Festhaltens am Prinzip der Selbstbestimmung und der Idee eines demokratischen Friedens zu umwerben.379
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Vgl. Carr, The Bolshevik Revolution, Band 3, S. 20–42, 50–58. Vgl. Lenin, Eine harte, aber notwendige Lehre; ders., Seltsames und Ungeheuerliches. Vgl. Lenin, Siebenter Parteitag der KPR ( B ), S. 73–96. Vgl. Carr, The Bolshevik Revolution, Band 3, S. 10 f.
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Sieb enter Teil Der All ge mei ne Wil le des welt wei ten Pro le ta ri ats – uni ver sel le tota li tä re Demo kra tie
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Die Verhandlungen in Brest - Litowsk wurden von Trotzki und anderen als eine geeignete Plattform präsentiert, um den Massen die titanische Natur der Konfrontation zwischen räuberischem Imperialismus und einer die Weltrevolution verkörpernden Nation vor Augen zu führen, damit diese auf die alliierten Regierungen einen unwiderstehlichen Druck ausübten, der russischen Bitte um Teilnahme an den Verhandlungen nachzukommen.1 Würden die Bolschewiki trotzdem auf sich gestellt und dazu gezwungen sein, sich der brutalen Gewalt zu beugen, würde das preußische „Diktat“ die deutschen Arbeiter zur Revolte anstacheln.
I. Die natio na le und die inter na tio na le Revo lu ti on Seit der Herausgabe des berühmten Dekrets über den Frieden einen Tag nach dem Oktoberputsch beschrieben sich die Bolschewiki selbst als Vorreiter der Weltrevolution.2 Das Wort „Russland“ erscheint nicht in offiziellen Bezeichnungen und Dokumenten. Nicht nur Mitglieder nationaler Minderheiten wie Kaukasier und Letten – nicht zu vergessen die beträchtliche Zahl an Juden unter den höchsten Entscheidungsträgern –, sondern auch Männer wie Rakowski, halb Rumäne und halb Bulgare, Karl Radek – der auf chamäleonartige Weise fähig war, einerseits die bolschewistische Partei zu repräsentieren und andererseits als Sprecher der sozialdemokratischen Partei in Polen und Litauen zu agieren, so wie er zuvor den österreichischen Sozialismus gegen die deutsche Sozialdemokratie ausgetauscht hatte – und Polen wie Dserschinski und Marchlewski waren Mitglieder der inneren Kreise der Regierungspartei. Außerdem wurden Versuche unternommen, auf russischem Gebiet Internationale Brigaden aus Kriegsgefangenen zu bilden.3 Radek proklamierte : „Wir sind nicht länger Moskauer, Bürger der Sowdepia, sondern die Avantgarde der Weltrevolution.“4 1 2 3 4
Vgl. Chamberlin, Die Russische Revolution, Band 1, S. 329, 363–367, 370; Wheeler Bennett, Brest - Litowsk, S. 193–195. Vgl. Degras, The Communist International; Bunyan / Fischer, The Bolshevik Revolution. Vgl. Carr, The Bolshevik Revolution, Band 3, S. 15 f. Ebd., S. 16. A. d. Ü. : Radek bezieht sich auf Sowdepia, also die Versammlungen von Deputierten auf verschiedenen Ebenen bis hinauf zum Ministerrat, eine vor allem von den Weißen für Sowjetrussland genutzte abwertende Bezeichnung. In der deutschen
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Der Allgemeine Wille des weltweiten Proletariats
Die Bolschewiki beharrten in Brest - Litowsk auf dem Recht auf Selbstbestimmung und zugleich auf dem internationalen Charakter der sozialistischen Revolution. Es verschlug ihnen den Atem, als General Hoffmann die Karte mit der berühmten blauen Linie entfaltete, auf deren linker Seite die weiten Gebiete lagen, über die die deutschen Besatzungstruppen, um es in seinen Worten auszudrücken, ihr Recht auf Selbstbestimmung beanspruchen und verteidigen würden.5 Als Trotzki mit einem Vortrag über die preußischen Stiefel, die über die Freiheiten der Völker hinwegmarschierten, begann, zahlte der scharfsinnige deutsche General mit gleicher Münze zurück, indem er fragte, welches Recht denn die Bolschewiki hätten, von der Respektierung des freien Willens der Bevölkerung zu sprechen.6 Dieser Meinungsaustausch fand am Tag der Auf lösung der frei gewählten Allrussischen konstituierenden Versammlung durch die bolschewistischen Matrosen statt. Unter verächtlichem Schulterzucken versprachen die Deutschen dennoch, keine Truppen von Russland an die Westfront zu verlegen, um so die Empfindlichkeiten des bolschewistischen Gewissens zu schonen, einer Gruppe von imperialistischen Räubern gegen die andere geholfen zu haben, und gaben ihre Zustimmung zu „organisierten Kontakten“ als Ersatz für die Möglichkeiten einer Verbrüderung zwischen den Soldaten, die die Bolschewiki gefordert hatten, um die Freundschaft zwischen den russischen und deutschen Armeen zu fördern.7 Die Arbeiterklasse im Westen, vor allem das deutsche Proletariat, rührte sich allerdings nicht einmal, als die deutschen Truppen am 18. Februar 1918 ihre Blitzoffensive gegen eine widerstandslose, beinahe nicht existente russische Armee wieder aufnahmen.8 Lenins Friedensangebot errang einen traurigen Sieg nach einer dramatischen Reihe widersprüchlicher und ergebnisloser Abstimmungen in den höchsten Gremien der Partei.9 Auf diese Weise entdeckten die Bolschewiki die Wirklichkeit der Nationalstaaten. Statt alle kapitalistischen und kriegführenden Staaten als eine einzige undifferenzierte, reaktionäre Masse zu behandeln, mit welcher kein Umgang erlaubt war, versuchten sie, die westlichen Alliierten gegen die Mittelmächte auszuspielen, um ( in Lenins Worten ) von der einen Räuberbande Kartoffeln und Munition gegen die ande-
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Quelle, auf die Carr ver weist, heißt es wortwörtlich : „Wir sind jetzt nicht ‚Moskowien oder Sovdepien‘ [...], sondern die Avantgarde der Weltrevolution im buchstäblichen Sinne des Wortes.“ Drahn / Leonhard, Unterirdische Literatur, S. 150. Vgl. ebd., S. 31 f. Vgl. Chamberlin, Die Russische Revolution, Band 1, S. 363–365. Vgl. Carr, The Bolshevik Revolution, Band 3, S. 27–29. Vgl. Chamberlin, Die Russische Revolution, Band 1, S. 371. Vgl. ebd., Band 1, S. 377; Carr, The Bolshevik Revolution, Band 3, S. 38 f.; Shub, Lenin, S. 337 f.
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re zu erpressen9z – obwohl dies bedeutete, die Propaganda gegen den Imperialismus vorübergehend abzuschwächen und sich auf die russischen Nationalinteressen zu berufen statt auf die Notwendigkeiten der sozialistischen Revolution. Nicht nur Bolschewiki der extremen internationalistischen Richtung sahen darin eine Rückkehr zur Politik Miljukows, sondern auch Martow.10 Die Dritte Internationale entstand – oder wurde vielmehr hastig zusammengeschustert –, als ob man dem Versuch, die Zweite Internationale bei der am 27. Januar 1919 in Bern einberufenen Konferenz wiederzubeleben, etwas entgegensetzen wollte.11 Am 24. Januar sprachen Lenin, Trotzki und Repräsentanten osteuropäischer und auf dem Balkan beheimateter kommunistischer Parteien oder Gruppen „allen Parteien, die sich der Zweiten Internationale entgegenstellen“, eine Einladung zu einem Kongress in Moskau aus.12 Die Liste der eingeladenen und teilnehmenden Parteien erinnert an die Methoden der Revolutionäre aus dem 19. Jahrhundert, etwa Mazzinis und Bakunins, und in gewisser Weise an Marx : indem Delegiertennamen von Parteien aufs Papier gebracht wurden, die faktisch nur in den Hoffnungen der Organisatoren existierten, indem man sich selbst oder Verbündete dazu ermächtigte, für Länder zu sprechen, in denen niemand gewillt oder in der Lage war, sich diesen anzuschließen, und indem kleinen lokalen Gruppen erlaubt wurde, Parteien zu repräsentieren, die sich gerade erst entwickelten.13 Kommunikationsstörungen, Regierungsschikanen und das Fehlen einer echten Organisation – alles Dinge, die die Handlungen der Splittergruppen, unausgereiften Parteien und bis dahin unentschlossenen prokommunistischen Fraktionen lähmten – waren die Ursache für den nicht - repräsentativen Charakter der Rumpfversammlung, die im März 1919 in Moskau zusammenkam. Das Ziel des Kongresses bestand darin, „ein gemeinsames Kampforgan zwecks permanenter Verbindung und planmäßiger Leitung der Bewegung, ein Zentrum der kommunistischen Inter-
9z A. d. Ü. : Eigentlich spricht Lenin von Kartoffeln und Waffen, vgl. dazu Lenin, Über die Krätze, S. 20 f. 10 Vgl. Carr, The Bolshevik Revolution, Band 3, S. 71. 11 Vgl. Cole, Communism and Social Democracy, Band 1, S. 290 f. 12 Ebd., S. 299 f.; Carr, The Bolshevik Revolution, Band 3, S. 118. A. d. Ü. : Das Zitat findet sich in dieser Form nicht im Einladungsschreiben, sondern es heißt : „Konkret schlagen wir vor, daß am Kongreß die Vertreter folgender Parteien, Gruppen und Strömungen teilnehmen sollen ( vollberechtigte Mitglieder der Kommunistischen Internationale werden ganze Parteien sein, die sich voll auf ihren Boden stellen ) : [...]“ [ es folgt die Auflistung – A. d. Ü.]. Kommunistische Internationale, Einladungsschreiben einiger kommunistischer Parteien, S. 48. 13 Vgl. Carr, The Bolshevik Revolution, Band 3, S. 119 f.; Cole, Communism and Social Democracy, Band 1, S. 301 f.
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Der Allgemeine Wille des weltweiten Proletariats
nationale“ zu schaffen, welches „die Interessen der Bewegung in jedem Lande den gemeinsamen Interessen der Revolution in internationalem Maßstab“ unterordnen sollte, sowie in der sofortigen Ergreifung der Staatsmacht durch die nationalen Parteien in ihren betreffenden Ländern.14 Die Konferenz war vollkommen von der russischen Delegation dominiert, die aus der obersten sowjetischen Führungsriege bestand : Lenin, Trotzki, Stalin, Sinowjew, Bucharin und Tschitscherin.15 Fünfunddreißig Delegierte repräsentierten kommunistische Parteien oder Gruppen aus neunzehn Ländern, aber mit zweifelhaften Mandaten. Zum Beispiel wurde Reinstein, der seinen Wohnsitz in Russland hatte, zum Repräsentanten der Vereinigten Staaten ernannt und Fineberg aus Großbritannien, der ebenfalls in Moskau lebte, wurde nur beratender Status zuerkannt. Eberlein, der Delegierte Deutschlands, hatte eigentlich den eindeutigen Auftrag, die Verschiebung der Gründung der Komintern zu verlangen, da die Bedingungen dafür noch nicht reif seien. Er äußerte sich dementsprechend und hätte an diesem Tag beinahe den Sieg davongetragen. Er wurde jedoch von dem österreichischen Delegierten zum Schweigen gebracht und kaltgestellt, als dieser in einem Weckruf zum Handeln eine unmittelbar bevorstehende, allgemeine Explosion in ganz Mitteleuropa verkündete. Die Länder Westeuropas – Belgien, Italien, Frankreich, England, Spanien und Portugal – waren beim Gründungskongress faktisch abwesend.16 Das von der neugegründeten Dritten Internationale verabschiedete Manifest an das Proletariat der gesamten Welt sollte „ein Zweites Kommunistisches Manifest“ darstellen.17 Ihm folgte ein Aufruf An die Arbeiter aller Länder, die Sowjetunion zu unterstützen und die Inter ventionspolitik ihrer Regierungen zu bekämpfen.18 Es gibt keinen Grund, die Aufrichtigkeit Sinowjews, des ersten Präsidenten der Komintern ( mit Radek als ernanntem Sekretär, aber mit Angelika Balabonowa, der Zimmer wald - Veteranin, als eigentlicher geschäftsführender Sekretärin – wenn auch nur für kurze Zeit ), Trotzkis und selbstverständlich Lenins anzuzweifeln, die die neue Internationale als „Vorläufer der internationalen Sowjetrepublik“19 beschrieben. Genauso wenig waren sie scheinheilig, wenn 14
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Carr, The Bolshevik Revolution, Band 3, S. 119. A. d. Ü. : Für den deutschen Wortlaut siehe Kommunistische Internationale, Einladungsschreiben einiger kommunistischer Parteien, S. 49. Vgl. ebd., S. 119 f. Vgl. Cole, Communism and Social Democracy, Band 1, S. 301–304. Ebd., S. 305. Degras, The Communist International, S. 38–47. A. d. Ü. : Für die deutsche Fassung des Manifests einschließlich des genannten Aufrufs siehe Kommunistische Internationale, Manifest an das Proletariat der ganzen Welt. Carr, The Bolshevik Revolution, Band 3, S. 125. A. d. Ü. : Konkret schrieb Lenin am 5. März 1919 : „Die Gründung der III., der Kommunistischen Internationale bedeutet
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Die nationale und die internationale Revolution
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sie sagten, die sowjetischen Kommunisten wären viel glücklicher gewesen, den Sitz der Komintern in Paris oder Berlin statt in Moskau einrichten zu können, „würde [ dies doch ] den vollständigen Triumph der proletarischen Revolution in Europa und vielleicht in der ganzen Welt bedeuten“.20 Da dies bis dahin nicht möglich war, befanden sich die russischen Kommunisten in einer Situation, die jener der Bergpartei 125 Jahre zuvor ähnelte und die von Robespierre in seiner großen Rede über die Doktrin der Revolutionsregierung definiert worden war : „Die zwei entgegengesetzten Genien, [...] die sich das Reich der Natur streitig machen, ringen in dieser großen Periode der menschlichen Geschichte in einem tödlichen Kampf miteinander, um die Geschichte der Welt unwiderruf lich zu entscheiden, und Frankreich ist der Schauplatz dieses furchtbaren Kampfes. Draußen sind alle Tyrannen entschlossen, euch einzukreisen; drinnen sind alle Freunde der Tyrannei in einer Verschwörung zusammengerottet: sie werden so lange weiter auf Verschwörung sinnen, bis dem Verbrechen jede Hoffnung entwunden sein wird. Wir müssen die inneren sowohl wie die äußeren Feinde der Republik unterdrücken oder mit ihr zugrunde gehen.“21 Die Bolschewiki legten eine wesentlich stärkere Betonung auf den universellen Charakter ihrer Botschaft als die Jakobiner. Ihre Erwartung einer sofortigen Reaktion aus anderen Ländern war weit lebendiger, da der Mar xismus zunächst einmal grundsätzlich internationalistischer war als das Jakobinertum. In der „Frage der Außenpolitik“, sagte Lenin, „sehen wir [...], daß wir zwei Hauptlinien vor uns haben – die proletarische Linie, die besagt, daß die sozialistische Revolution für uns das Wertvollste und Höchste ist und daß man abschätzen muß, ob sie im Westen bald ausbrechen wird, und die andere Linie – die bürgerlicher Linie, die besagt, daß ihr die staatliche Großmachtstellung und die nationale Unabhängigkeit am teuersten ist und über alles geht“.22 „Der ist kein Sozialist, der nicht durch Taten bewiesen hat, daß er zu schwersten Opfern von seiten ‚seines‘ Vaterlands bereit ist, wenn nur die Sache der sozialistischen Revolution tatsächlich vorankommt.“22y Dies bedeutet „die Bereitschaft, größte nationale Opfer ( selbst der Brester Frieden ) auf sich zu nehmen, wenn das der Entwicklung der internationalen Arbeiterrevolution dienlich
die Vorstufe für die internationale Republik der Sowjets, für den Sieg des Kommunismus in der ganzen Welt.“ Lenin, Errungenes und schriftlich Festgelegtes, S. 493. 20 Ebd., S. 124 ( Fußnote ). 21 Talmon, Die Geschichte der totalitären Demokratie, Band 1, S. 187 f.; Robespierre, Über die Prinzipien, S. 20. 22 Lenin, Tagung des Gesamtrussischen Zentralkomitees, 29. April 1918, S. 283. 22y Lenin, Brief an die amerikanischen Arbeiter, S. 52.
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ist“.22z „Wir sagten : Bist du Sozialist, so mußt du alle deine patriotischen Gefühle opfern im Namen der internationalen Revolution, die kommen wird, die noch nicht da ist, an die du aber, bist du Internationalist, glauben mußt.“23 Die internationale Revolution war jedoch nicht nur eine Herausforderung, sondern wurde, wie bereits gesagt, als eine Bedingung für das sowjetische Überleben angesehen. Die Jakobiner suchten ihr Heil nicht in auswärtigen revolutionären Bewegungen. Sie beteten leidenschaftlich dafür, aber als sie die Girondisten verdrängten, war die Hoffnung auf spontane Revolutionen anderswo verblasst. So „kann kein Zweifel daran bestehen“, sagte Lenin, „daß der Endsieg unserer Revolution eine hoffnungslose Sache wäre, wenn sie allein bliebe, wenn es in den anderen Ländern keine revolutionäre Bewegung gäbe. [...] Unsere Rettung aus all diesen Schwierigkeiten ist, wie gesagt, die Revolution in ganz Europa.“23z „So wird der englisch - französische und der amerikanische Imperialismus die Unabhängigkeit und Freiheit Rußlands unvermeidlich abwürgen.“24 Damit jedoch Revolutionen im Westen ausbrechen und erfolgreich sein könnten – und vorausgesetzt, dass der Kommunismus dort nicht ganz und gar ausstarb –, musste Sowjetrussland um jeden Preis überleben und mit Hilfe ausländischer Kommunisten mit allen erdenklichen Mitteln über Wasser gehalten werden. Das Manifest der Kommunistischen Partei erklärte : „Indem wir die Sowjetmacht wahren, erweisen wir dem Proletariat aller Länder in seinem unglaublich schwierigen, schweren Kampf gegen seine Bourgeoisie die beste, die stärkste Unterstützung. Einen größeren Schlag für die Sache des Sozialismus heutzutage als den Zusammenbruch der Sowjetmacht in Rußland gibt es nicht und kann es nicht geben.“24z „Wir sind jetzt, seit dem 25. Oktober 1917, Vaterlandsverteidiger, wir sind seit diesem Tage für die Verteidigung des Vaterlands. Denn wir haben durch die Tat bewiesen, daß wir mit dem Imperialismus gebrochen haben. Wir haben die schmutzigen und blutigen imperialistischen Verschwörer verträge annulliert und veröffentlicht. Wir haben unsere Bourgeoisie gestürzt. Wir haben den von uns unterdrückten Völkern die Freiheit gegeben. Wir haben dem Volke den Boden und die Arbeiterkontrolle gegeben. Wir sind für die Verteidigung der Sozialistischen Sowjetrepublik Rußland.“25 22z Lenin, Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky, S. 101. A. d. Ü. : Talmon hat dieses Zitat in stark abgewandelter Form wiedergegeben. 23 Lenin, Versammlung der Moskauer Parteiarbeiter, S. 203. 23z Lenin, Siebenter Parteitag der KPR( B ), S. 81. 24 Lenin, Wertvolle Eingeständnisse Pitirim Sorokins, S. 183. 24z Lenin, Stellungnahme des ZK der SDAPR ( Bolschewiki ) zur Frage des annexionistischen Separatfriedens, S. 45. 25 Lenin, Eine harte, aber notwendige Lehre, S. 48. A. d. Ü. : Talmon hat dieses Zitat in stark abgewandelter Form wiedergegeben.
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Die nationale und die internationale Revolution
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Das am 10. März 1919, vier Tage nach dem Moskauer Eröffnungskongress, mit den Unterschriften von Lenin, Trotzki, Sinowjew, Rakowski und Fritz Platten aus der Schweiz ( alles Teilnehmer der Zimmer walder Konferenz, die durch die Zusammenlegung mit der Dritten Internationale endete ) veröffentlichte Manifest der Dritten Internationale ist ein Entwurf für eine allgemeine kommunistische Revolution, die dazu ausersehen war, die Nationalstaaten zu beseitigen.26 Seine Grundannahme besteht in der Schlussfolgerung aus dem Zusammenbruch der Zweiten Internationale im Ersten Weltkrieg, dass der opportunistische Reformismus der Arbeiteraristokratie, der Hauptstütze des Kapitalismus im Zeitalter des Imperialismus, unauf löslich mit dem bürgerlichen Nationalismus samt seiner unvermeidlichen Begleiterscheinung, dem Krieg, verbunden war. Das wichtigste Erfordernis der Revolution war in dieser Hinsicht die Verhütung nationalistischer Abweichungen. Die Dritte Internationale als ein Instrument der Weltrevolution wurde daher unter eine streng zentralisierte Leitung gestellt, die tatsächlich als das Hauptquartier des globalen Lagers der Revolution im Kampf auf Leben und Tod gegen das Lager des Imperialismus agierte. Daher das unnachgiebige, als erste Bedingung der Zugehörigkeit formulierte Beharren auf dem Ausschluss eines jeden, der vom Sozialchauvinismus verdorben war – Kautsky, Turati, Henderson, Snowden, Longuet, Thomas und ihresgleichen –, sowie der leninistische Grundsatz der Taktik der rücksichtslosen Spaltung jener westlichen Parteien, in denen die Linken, die Mitte und die Rechten eine auf gegenseitiger Achtung, demokratischer Tradition und der Erinnerung ihres gemeinsamen Ursprungs und vergangener Erfahrungen basierende Kameradschaft bewahrten.27 Aber es gab noch einen weiteren Grund, den Kampf für den Ausschluss der reformistischen Sozialchauvinisten zur Bedingung sine qua non für die Zugehörigkeit zur Dritten Internationale zu machen. Wie die bolschewistische Partei war auch die Komintern nicht als eine allumfassende demokratische Organisation gedacht, die dazu bestimmt gewesen wäre, die größtmögliche Vielfalt der Ansichten widerzuspiegeln oder die Möglichkeit dazu zu bieten, sondern als ein Kampfbund, der unter der Leitung einer zentralisierten Führerschaft auf weltweiter Ebene in einem unaufhörlichen Kampf stand. Jede Art der Abweichung, besonders in ihrer nationalistischen Variante, war gefährlicher als der ausländische Feind, wenn eine weltweite Konfrontation das Ziel war. Eine bemerkenswerte Tatsache, die einige Analytiker in erhebliche Erklärungsschwierigkeiten brachte : Im Gegensatz zur Vorrangstellung, die Lenin der bolschewistischen Partei in Russland zusprach, ignoriert das Manifest die kommunistischen
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Vgl. Degras, The Communist International, S. 38–47. Vgl. Cole, Communism and Social Democracy, Band 1, S. 300 f.
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Nationalparteien gänzlich28 und verherrlicht den Rat der Arbeiter, Bauern und Soldaten als das alleinige Instrument der Arbeiter zur Erlangung der Macht, zur Umwandlung der Wirtschaft und zur Errichtung einer wahren proletarischen Demokratie.29 Es war gerade die Angst vor Insubordination und Abweichung, die die Politik der Degradierung der Nationalparteien diktierte. Aber da war vielleicht noch mehr : Eine Nationalpartei setzte den Nationalstaat als eine feste Einheit voraus. Entstanden aus den Grundbedürfnissen der Arbeiterschaft als solcher und hauptsächlich mit jenen Anliegen beschäftigt, von denen man annahm, dass sie überall gleich seien und für die die national - historischen Grenzen bedeutungslos waren, beabsichtigten die Sowjets, die Frage der national - territorialen Einheit zu umgehen, um frei zu sein von den damit verbundenen persönlichen Interessen, Traditionen, Ver wirrungen und Täuschungen. Die Arbeiter - , Bauern - und Soldatenräte schienen am besten für die Aufgabe geeignet, „die ganze Welt in eine für sich selbst arbeitende Gemeinschaft zu ver wandeln, die Verbrüderung und Befreiung der Völker zu ver wirklichen“.30 Die direkte Demokratie, die die Sowjets verkörperten, schien auch dem Vor wurf, undemokratisch zu sein, weniger ausgesetzt als die Kommunistische Partei; doch es war gerade die direkte Demokratie der Sowjets, die sie zu zuverlässigen Instrumenten der Diktatur des Proletariats machte. Je stringenter diese proletarische Diktatur gegen die alte Ordnung und die alten herrschenden Klassen handelte, desto schneller würde sie die wahre Demokratie auf den Thron bringen, sich selbst überflüssig machen und verschwinden. „In dem Maße, in dem der Widerstand der Bourgeoisie gebrochen, diese expropriiert und allmählich zu einer arbeitenden Schicht wird, verschwindet die proletarische Diktatur, der Staat stirbt ab und mit ihm die Klassen selbst. [ Die Räte sichern den Übergang ] zur klassenlosen, kommunistischen Gesellschaft.“31 Es bestand darüber hinaus kein Widerspruch, sondern die engste Verbindung zwischen einer zunehmend zentralisierten Struktur und „der Einbeziehung immer größerer Teile der Arbeiterschaft in die unmittelbare Kontrolle der Regierung“.32 Denn das Volk war eins und unteilbar. Die an die Stelle der 28 29 30
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Vgl. Carr, The Bolshevik Revolution, Band 3, S. 125 f.; Degras, The Communist International, S. 38–47; Cole, Communism and Social Democracy, Band 1, S. 305 f. Vgl. Cole, Communism and Social Democracy, Band 1, S. 306. Ebd. A. d. Ü. : Dieses Zitat findet sich nicht, wie bei Cole angegeben, im Manifest, sondern in den Richtlinien der Kommunistischen Internationale. Siehe Kommunistische Internationale, Richtlinien der Kommunistischen Internationale, S. 74. Ebd., S. 309 f. A. d. Ü. : Dieses Zitat findet sich nicht, wie bei Cole angegeben, im Manifest, sondern in den Richtlinien der Kommunistischen Internationale. Siehe Kommunistische Internationale, Richtlinien der Kommunistischen Internationale, S. 76. Ebd., S. 309. A. d. Ü. : Wörtlich heißt es : „Während dieser großen Umwälzungsperiode muß die Rätegewalt ununterbrochen den ganzen Ver waltungsapparat immer zentrali-
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Völker tretenden Proletarier würden ungleich mehr Freiheit besitzen als die Nationen in den jetzigen kleinen Nationalstaaten. Die wirtschaftlichen Entwicklungen des späten Kapitalismus hatten sie „für die Entwicklung der Produktivkräfte zu eng gemacht“.33 Sie hatten schon lange ihre Unabhängigkeit an die stärkeren, industrialisierteren Mächte und die internationalen imperialistischen Kräfte verloren. Ihre parlamentarischen Institutionen, ihre Parteien und ihre Presse waren von kapitalistischen Interessen, imperialistischem Druck und Bestechlichkeit korrumpiert worden und mehr Schein als Sein. Die Kriegszerstörungen und die verheerenden Wirkungen von Inflation und Hunger hatten die Doktrin von der Verelendung der Massen und dem unmittelbar bevorstehenden Tod des Kapitalismus radikal bestätigt.34 Der Krieg schließlich hatte die monopolistischen Kartelle und Konzerne, die aus dem freien Wettbewerb erwachsen waren, zu Werkzeugen eines gänzlich militarisierten Establishments gemacht. „All diese Grundfragen des wirtschaftlichen Lebens der Welt werden nicht durch den freien Wettbewerb, nicht durch Kombinationen nationaler und internationaler Trusts und Konsortien geregelt, sondern durch direkte Anwendung von militärischer Gewalt [...]. Hat die völlige Unterordnung der Staatsmacht unter die Gewalt des Finanzkapitals die Menschheit zur imperialistischen Schlachtbank geführt, so hat das Finanzkapital durch diese Massenabschlachtung nicht nur den Staat, sondern auch sich selbst vollends militarisiert und ist nicht mehr fähig, seine wesentlichen ökonomischen Funktionen anders als mittels Blut und Eisen zu erfüllen.“35 Nur die proletarische Revolution war fähig, die Existenz der kleinen Nationen zu sichern, denn sie würde eine Revolution sein, welche die Produktivkräfte aller Länder aus der Enge der Nationalstaaten befreit, „die Völker im engsten wirtschaftlichen Zusammenarbeiten auf der Grundlage eines allgemeinen Wirtschaftsplanes vereinigt und auch dem kleinsten und schwächsten Volke die Möglichkeit gibt, frei und unabhängig die Angelegenheiten seiner nationalen Kultur zu führen, ohne Schaden für die vereinigte und zentralisierte Wirtschaft Europas und der ganzen Welt“.36
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sierter aufbauen, andererseits aber eine immer größere Schicht des arbeitenden Volkes zur unmittelbaren Ver waltung heranziehen.“ Kommunistische Internationale, Richtlinien der Kommunistischen Internationale, S. 79. Degras, The Communist International, S. 42. A. d. Ü. : Wörtlich heißt es im Manifest: „Der nationale Staat, der der kapitalistischen Entwicklung einen mächtigen Impuls gegeben hat, ist für die Fortentwicklung der Produktivkräfte zu eng geworden.“ Kommunistische Internationale, Manifest an das Proletariat der ganzen Welt, S. 86. Vgl. ebd., S. 43. Cole, Communism and Social Democracy, Band 1, S. 313. A. d. Ü. : Siehe auch : Kommunistische Internationale, Manifest an das Proletariat der ganzen Welt, S. 85. Ebd., S. 314. A. d. Ü. : Siehe auch : Kommunistische Internationale, Manifest an das Proletariat der ganzen Welt, S. 87.
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Der Allgemeine Wille des weltweiten Proletariats
Die Befreiung der Individuen wie der Völker konnte nur ver wirklicht werden, indem sie wirtschaftlich abgesichert und von stärkeren Partnern unabhängig wurden – im Gegensatz zur abstrakten und formellen Gleichheit, die vom bürgerlichen Liberalismus gepredigt wurde.37 Dies war nur mit Hilfe einer allgemeinen Produktionsplanung möglich, wodurch Unterschiede hinsichtlich des natürlichen Wohlstands, der menschlichen Ressourcen und der Entwicklungsstufen ausgeglichen werden konnten, ohne dass die stärkeren Einheiten die schwächeren Partner dominieren und ausbeuten würden.38 Das Prinzip der Klassenlosigkeit in der einzelnen sozialistischen Gemeinschaft musste in der Nationengemeinschaft zur Vorherrschaft gebracht werden. Die Welt der Nationen würde somit durch eine Welt der wirtschaftlich klassenlosen und politisch undifferenzierten Gemeinschaften ersetzt werden. Es war das Verderben der Zweiten Internationale, sagt das Manifest von 1919, dass das Gravitationszentrum der Arbeiterbewegung während dieser ganzen Periode auf nationalem Boden, gänzlich im Rahmen der Nationalstaaten, auf die nationale Industrie begründet und auf die Sphäre des nationalen Parlamentarismus beschränkt blieb.39 Die Beschränkung des Handelns auf Bereiche innerhalb nationaler Grenzen förderte Reformismus und Opportunismus, die durch die Notwendigkeit der Anpassung an die Gegebenheiten, Interessen und Handlungsweisen des bürgerlichen Staates und seiner parlamentarischen Institutionen unweigerlich erzeugt wurden. „Jahrzehnte organisatorischer und reformatorischer Arbeit schufen eine Generation von Führern, die in ihrer Mehrheit das Programm der sozialen Revolution in Worten anerkannten, in Wirklichkeit aber es verleugneten und im Reformismus und in der Anpassung an den bürgerlichen Staat versumpften. [...] Parteien [...], die sich in untertänige Organe des bürgerlichen Staats ver wandelten.“40 Das gemeinsame Interesse des Weltproletariats war nicht die Gesamtheit der jeweiligen Interessen eines jeden Bestandteils der Gesamtheit, und ebenso wenig wurden dessen wahrer Wille und dessen Bestimmung durch die Vereinigung des Wollens der unterschiedlichen Elemente festgestellt und festgelegt. Ein Gesamtplan sollte die Teilinteressen mit dem allgemeinen Wohl in Übereinstimmung bringen und den Partikularismus bekämpfen, und zwar sogar jenen, der durch die unbegrenzte Kontrolle der Arbeiter über die Unternehmen, in denen sie arbeiteten, entstand. Partikularinteressen mussten den Mechanismen und Bedürfnissen der Gesamtheit untergeordnet werden. Das
37 38 39 40
Vgl. Degras, The Communist International, S. 139. Vgl. Cole, Communism and Social Democracy, Band 1, S. 309. Vgl. Degras, The Communist International, S. 46. Ebd. A. d. Ü. : Siehe auch : Kommunistische Internationale, Manifest an das Proletariat der ganzen Welt, S. 91 f.
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Die nationale und die internationale Revolution
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allgemeine Interesse wurde durch den allgemeinen Willen des Ganzen, des vereinten Weltproletariats in der gleichen Art ausgedrückt wie in der einzelnen Nation. Die Doktrin der totalitären Demokratie wurde folglich in beiden Phasen der messianischen Erfüllung auf die globale Ebene übertragen : Durch den revolutionären Kampf unter der Führung des weltweiten Generalstabs und dann in Form der Schaffung und Aufrechterhaltung einer einzigen Weltwirtschaft und Weltpolitik. Die Föderation ( wie sie in der UdSSR ver wirklicht wurde ) war eine Übergangsform auf dem Weg zu einer vollständigen Union der Arbeiter aller Nationen. Solch eine Union würde jedoch erst möglich sein, nachdem die kommunistische Erziehung alle Formen des Rassenhasses und des gegenseitigen Misstrauens zwischen den Rassen ausgemerzt, nachdem sie die kolonialen und rückständigen Völker nicht nur vom Joch des Imperialismus, sondern auch vom Erbe des Misstrauens und der Feindseligkeit gegen die unterdrückende Rasse ( einschließlich ihres Proletariats ) befreit haben würde – Gefühle, die durch ihren Dienst als Kanonenfutter und Sklaven der Kriegsmaschinerie im Ersten Weltkrieg verstärkt worden waren.41 Um diesen Prozess zu beschleunigen, wurde es „brennender, die [...] Diktatur des Proletariats aus einer nationalen Diktatur ( d. h. einer nur in einem Lande existierenden und zur Führung einer selbstständigen Weltpolitik unfähigen Diktatur ) in eine internationale Diktatur ( d. h. in eine Diktatur des Proletariats wenigstens in einigen fortschrittlichen Ländern, die fähig ist, einen entscheidenden Einfluß auf ganze Weltpolitik auszuüben )“ zu ver wandeln.42 Es ist schwierig, hier nicht den Schatten des Großen Bruders wahrzunehmen. Wahrer Internationalismus, so wird behauptet, bestehe nicht einfach im freien Geben und Nehmen unter nominell gleichrangigen souveränen Staaten, sondern in der Universalität des großen Befreiungsentwurfs, der es erfordert, dass die schwächeren Brüder ihre Eigeninteressen über Bord werfen und die bereits befreiten älteren und stärkeren Brüder im Namen ihrer noch versklavten oder naturgemäß schwächeren Ver wandten Opfer bringen. „Der kleinbürgerliche Nationalismus erklärt als Internationalismus die bloße Anerkennung der Gleichberechtigung der Nationen und hält ( ganz abgesehen davon, daß eine derartige Anerkennung nur in Worten geschieht ) den nationalen Egoismus für unantastbar. Der proletarische Internationalismus dagegen fordert : 1. die Unterordnung der Interessen des proletarischen Kampfes des einen Landes unter die Interessen dieses Kampfes im Weltmaßstabe; 2. von der Nation, die ihren Sieg über die Bourgeoisie durchführt, die Fähig41 42
Vgl. ebd., S. 141–144. Ebd., S. 142 f. A. d. Ü. : Siehe auch : Kommunistische Internationale, Leitsätze über die Nationalitäten - und Kolonialfrage, S. 173 f.
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Der Allgemeine Wille des weltweiten Proletariats
keit und Bereitwilligkeit, die größten nationalen Opfer zu bringen, um den internationalen Kapitalismus zu stürzen.“43 Doch elitäre, sich selbst aufopfernde Uneigennützigkeit gleitet allzu leicht in das Diktat jener ab, die Opfer gebracht und so viel geleistet haben.
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Ebd., S. 143. A. d. Ü. : Siehe auch : Kommunistische Internationale, Leitsätze über die Nationalitäten - und Kolonialfrage, S. 174.
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II. Die Bol sche wi sie rung der Drit ten Inter na tio na le In den ersten drei Jahren nach der Oktoberrevolution durchlief der sowjetischmissionarische Internationalismus viele Höhen und Tiefen. Genannt seien die großen Hoffnungen in den letzten Wochen des Krieges, als Revolutionen über Deutschland und Österreich hinwegfegten, der Aufstieg kommunistischer Regime in Bayern und Ungarn, die Ausbreitung sozialer Unruhen und Meutereien in den siegreichen westlichen Demokratien. Die Euphorie am Ende des Krieges wurde aber durch den Misserfolg der Spartakisten und den Tod Rosa Luxemburgs, Karl Liebknechts und Leo Jogiches’ in Deutschland, die Spaltung der deutschen Kommunistischen Partei – wobei die sektiererische KAPD die Hälfte von deren Mitgliedschaft mitriss – und den schnellen Zusammenbruch der kommunistischen Regierungen in Bayern und Ungarn zum Erlöschen gebracht.44 Mitte des Jahres 1919 waren die von Räten dominierten Teile Russlands von der Weißen Armee eingekreist, die auf Moskau vorzurücken schien und Unterstützung aus dem Westen und an allen Grenzen des Reiches aktive Rückendeckung von westlichen Expeditionskorps erhielt. Karl Radek, Paul Levi und Klara Zetkin äußerten resigniert, sogar auf europäischer Ebene werde „die Revolution ein langwieriger Prozess sein“;45 offizielle Äußerungen seitens der Sowjets versicherten den westlichen Mächten, und ganz unmittelbar den Polen, die Bolschewiki verteidigten lediglich ihre nationalen Interessen und „ihren eigenen Boden“ und hätten keinerlei Absicht, den Kommunismus zu verbreiten und ihn Nationen aufzuzwingen, die dafür noch nicht bereit waren.46 Der sowjetische Missionsdrang wurde dann durch die polnische Invasion in der Ukraine im Frühjahr 1920, durch die darauf folgende Niederlage der polnischen Kräfte und den schnellen Vorstoß der Roten Armee bis zu den Außenbezirken Warschaus – mit Lenins Worten „das letzte Bollwerk gegen den Bolschewismus“ auf dem Weg nach Berlin und „Angelpunkt des gesamten auf dem Versailler Vertrag fußenden imperialistischen Weltsystems“47 – entfacht.48 Die Bolschewiki wurden obendrein ungemein ermutigt durch die Entscheidungen der Mehrheiten der sozialistischen Parteien in Frankreich, Italien, Nor wegen und Bulgarien, der Dritten Internationale beizutreten, sowie durch den 44 45 46 47 48
Vgl. Carr, The Bolshevik Revolution, Band 3, S. 132–138. Ebd., S. 140. Vgl. ebd., S. 157–161. Ebd. S. 212. A. d. Ü. : Siehe auch : Lenin, Rede auf der IX. Gesamtrussischen Konferenz der KPR ( B ), S. 265. Ebd.
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Zusammenschluss der Mehrheit der USPD, die damals nicht weniger Mitglieder als die reformistische SPD hatte, mit der KPD.49 Begeistert über den rasanten Vormarsch der Roten Armee in Richtung Westen, den man auf riesigen Karten studierte, und über die Nachricht von der Gründung einer polnisch - sowjetischen Regierung, fühlte sich der zweite Kongress der Dritten Internationale dazu angeregt, die Sache Sowjetrusslands als die eigene zu proklamieren. „Das internationale Proletariat wird das Schwert nicht niederlegen, solange Sowjetrußland nicht ein Glied in der Föderation der Räterepubliken der ganzen Welt bildet“, und die Komintern wird „eine einzige kommunistische Partei sein, die Abteilungen in verschiedenen Ländern hat“, wird nicht nur ein „Briefkasten“ sein wie die Zweite, sondern eine „starke zentralisierte Institution“.50 Tuchatschewski, der siegreiche junge Kommandeur der sowjetischen Armeen, die Polen erobert hatten, ging sogar so weit, den Aufbau eines Generalstabs zur Führung der internationalen proletarischen Armee vorzuschlagen, die sich aufmachen würde, die Revolution in naher Zukunft zum Sieg zu führen.51 Der General wiederholte Trotzkis Äußerung, die dieser gegenüber dem ersten Kongress der Komintern gemacht hatte, „daß die kommunistischen Arbeiter, die in dieser [ sowjetischen ] Armee wirklich den Kern bilden, sich nicht nur als die Schutztruppe der russischen sozialistischen Republik führen, sondern auch als die Rote Armee der III. Internationale“.52 Trotz des russischen Rückschlags in Polen führten die sowjetischen Erfolge bei der Vernichtung der Weißen Armeen und der Befreiung der russischen Gebiete von feindlichen Truppen sowie der Misserfolg der westlichen Kommunisten bei der Revolutionierung ihrer Länder zur Bolschewisierung der Dritten Internationale. Die Oktoberrevolution wurde als ein Modell für alle kommunistischen Bewegungen dargestellt. Ganz so, wie die Revolutionäre des 19. Jahrhunderts davon besessen waren, die Stadien und Phasen der Französischen Revolution als eine Art Anatomie einer jeden Revolution zu verallgemeinern, wurden jetzt die Daten des Kalenders von 1917 – die Februarrevolution, 49 50
51 52
Vgl. ebd., S. 194 f. Die beste Studie zur wichtigsten Partei auf dem Kontinent : Kriegel, Aux Origines du communisme français. Carr, S. 189 f. A. d. Ü. : Siehe auch : Kommunistische Internationale, Der zweite Kongreß der Kommunistischen Internationale. Protokoll der Verhandlungen, S. 111, 238 f., 729. Anders als Talmons Formulierung nahelegt, ist die Charakterisierung als „starke zentralisierte Organisation“ in diesem Zusammenhang nicht auf die Dritte, sondern auf die Erste Internationale bezogen. Vgl. ebd., S. 211. Ebd., S. 210; siehe auch Florinsky, World Revolution and the U.S.S.R., Kapitel 2, S. 29–71. A. d. Ü. : Für die deutsche Fassung des Zitats siehe : Kommunistische Internationale, Der erste Kongreß der Kommunistischen Internationale, S. 49.
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Die Bolschewisierung der Dritten Internationale
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Lenins Aprilthesen, die Juli - Ereignisse, die Kornilow - Affäre und vor allem der Oktober – zu Teilen eines unvermeidlichen Musters erhoben, dem jede Revolution folgen würde. Die Thesen über die Hauptaufgaben der Kommunistischen Internationale, die der zweite Kongress am 19. Juli 1920 angenommen hatte,53 die Statuten der Kommunistischen Internationale vom 4. August,54 zwei Tage später gefolgt von den Aufnahmebedingungen zur Kommunistischen Internationale,55 Lenins Erklärungen im Verlauf des Kongresses56 und sein „‚linker Radikalismus‘, die Kinderkrankheit im Kommunismus“57 – alle atmen den Geist völliger Selbstgerechtigkeit und Intoleranz. Die Annahme des Manifests von 1919 und der neuen Verordnungen sowie der Ausschluss namentlich genannter opportunistischer Sozialchauvinisten wurden für jede Kandidatenpartei, in der der Kampf zwischen Extremisten und Moderaten noch nicht entschieden war, zur Hauptbedingung für die Aufnahme in die Komintern. Sie wurden eindringlich ermahnt, dem Beispiel der bolschewistischen Partei zu folgen, systematisch die Häretiker oder Trittbrettfahrer loszuwerden und einer kompakten kleinen Kampfpartei den Vorzug vor einem übergreifenden Lager zu geben.58 Ebenso kompromisslos war das Beharren auf der Befür wortung des Prinzips der Diktatur des Proletariats, einschließlich terroristischen Zwangs und Unterdrückung, und auf der absoluten Zurückweisung jeglicher Ideen eines schrittweisen und friedlichen Fortschritts in Richtung Sozialismus. Parlamentarismus wurde wiederholt als Ausdruck bürgerlicher Heuchelei und reformistischen Schwachsinns verurteilt.59 Es entstand das Dilemma, ob die Partei eine Sekte werden und mit ihrem Festhalten an makelloser revolutionärer Reinheit auf die Beteiligung an nationalen Parlamenten, am allgemeinen Gewerkschaftswesen, an Kooperativen und Stadtver waltungen verzichten sollte, oder ob sie sich als eine militante Kirche innerhalb der existierenden Arbeiterbewegung und - institutionen verhalten sollte, um den Einfluss der Opportunisten zu untergraben und die kom-
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54 55 56 57 58 59
Vgl. Degras, The Communist International, S. 113–127. A. d. Ü. : Siehe auch : Lenin, Thesen über die Hauptaufgaben des zweiten Kongresses der Kommunistischen Internationale. Vgl. ebd., S. 161–166. A. d. Ü. : Siehe auch : Kommunistische Internationale, Statuten der Kommunistischen Internationale. Vgl. ebd., S. 166–172. A. d. Ü. : Siehe auch : Kommunistische Internationale, Leitsätze über die Bedingungen der Aufnahme in die Kommunistische Internationale. Vgl. Carr, The Bolshevik Revolution, Band 3, S. 188–196. Lenin, Der ‚linke Radikalismus‘, die Kinderkrankheit im Kommunismus. Vgl. Carr, The Bolshevik Revolution, Band 3, S. 191–195. Vgl. Lenin, Der ‚linke Radikalismus‘, die Kinderkrankheit im Kommunismus, S. 13– 15.
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Der Allgemeine Wille des weltweiten Proletariats
munistischen Ideen in ihr zur Vorherrschaft zu bringen.60 Lenin äußerte sich entschieden gegen das linke Sektierertum.61 Die vorgeschlagene Lösung war eine Mischung aus legalem und illegalem Verhalten innerhalb des Staates und innerhalb aller Organisationen, denen sich die Kommunisten aus guten Gründen anschließen oder die sie infiltrieren sollten. In Der ‚linke Radikalismus‘, die Kinderkrankheit im Kommunismus mahnte Lenin seine Anhänger im Westen, entschiedenen Widerstand gegen alle Bemühungen opportunistischer Mehrheiten zu leisten, die Kommunisten aus den Gewerkschaften zu verdrängen.62 Er lehrte sie : „Man muß all dem widerstehen können, muß zu jedwedem Opfer entschlossen sein und sogar – wenn es sein muß – alle möglichen Schliche, Listen und illegalen Methoden anwenden, die Wahrheit verschweigen und verheimlichen, nur um in die Gewerkschaften hineinzukommen, in ihnen zu bleiben und in ihnen um jeden Preis kommunistische Arbeit zu leisten.“63 Die kommunistischen Parteien wurden beauftragt, geheime Zellen in allen Organisationen und Institutionen zu schaffen und strenge Kontrolle über deren kommunistische Repräsentanten, vor allem in den Parlamenten, auszuüben.64 Ähnliches Gewicht wurde auf eine nachhaltige Kontrolle und Zensur der Veröffentlichungen und Schriften von Parteimitgliedern gelegt.65
60 61 62 63 64 65
Vgl. Carr, The Bolshevik Revolution, Band 3, S. 201–205. Vgl. Lenin, Der ‚linke Radikalismus‘, die Kinderkrankheit im Kommunismus, S. 20– 27. Vgl. ebd., S. 33–41. Ebd., S. 40. Vgl. Degras, The Communist International, S. 120 f. Vgl. ebd., S. 122 f.
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III. Ost und West Die Kommunisten in den verschiedenen Ländern hatten somit den Auftrag, ihre Loyalität gegenüber der Weltrevolution über die gegenüber ihren eigenen Ländern zu stellen und ihre eigenen Regierungen und offiziellen Institutionen als Feinde zu betrachten – ganz in der Weise, wie die russischen Revolutionäre sich unter dem Zaren verhalten hatten. Westliche Delegierte wehrten sich. Die Konflikte zwischen ihnen und ihren russischen Mentoren um diese Frage offenbaren die grundsätzliche Kluft zwischen den Partnern aus Ost und West. Lenin forderte die westlichen Kommunisten, besonders die britische Delegation, dazu auf, den nationalen Befreiungsbewegungen in Indien und anderen Kolonien alle Unterstützung zu bieten, gerade auch in Form der nationalrevolutionären Variante als einem Weg, den britischen Imperialismus zu unterlaufen und das kapitalistische Regime in Großbritannien zu stürzen.66 Der britische Delegierte Quelch erklärte rundheraus, dass die Mehrheit der britischen Arbeiterklasse „die Unterstützung des revolutionären Kampfes der Kolonien gegen den britischen Imperialismus als Verrat ansehen“ und die Unterdrückung kolonialer Aufstände billigen würde.67 Radek entgegnete, das britische Proletariat werde sich nur dann vom kapitalistischen Joch befreien, wenn es die kolonialen Aufstände unterstütze. Die Qualität des britischen Kommunismus werde exakt an der Zahl der Verhaftungen ihrer Mitglieder gemessen, die ihr Leben für die Hilfe der kolonialen Aufständischen riskierten.68 Laut Lenins vom Zweiten Kongress angenommenen Thesen über die Nationalitäten - und Kolonialfrage eignete sich die sowjetische Form der Organisation vorzüglich für feudale und semi - feudale bäuerliche Bedingungen, „für vorkapitalistische Verhältnisse“.69 Sie hielten nicht länger an der Notwendigkeit fest, dass die rückständigen Länder eine Periode der kapitalistischen Entwicklung durchmachen müssten, bevor eine sozialistische Revolution begänne. „Wenn das siegreiche revolutionäre Proletariat unter ihnen eine planmäßige Propaganda treibt und wenn die Sowjetregierungen ihnen mit allen verfügbaren Mitteln zu Hilfe kommen, die sie geben können, dann ist es falsch anzunehmen, daß das kapitalistische Entwicklungsstadium für die zurückgebliebenen Völ-
66 67 68 69
Vgl. Carr, The Bolshevik Revolution, Band 3, S. 235–237. Vgl. ebd., S. 256. A. d. Ü. : Siehe auch Kommunistische Internationale, Der zweite Kongreß der Kommunistischen Internationale. Protokoll der Verhandlungen, S. 185. Vgl. Lenin, II. Kongreß der Kommunistischen Internationale, S. 233 f. Lenin, II. Kongreß der Kommunistischen Internationale, S. 231.
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ker unvermeidlich sei.“69z Bucharin sagte : „Wenn wir das Selbstbestimmungsrecht für die Kolonien [...] vorschlagen, so verlieren wir dabei nichts. [...] Eine harte Nationalbewegung [...] ist nur Wasser auf unsere Mühlen, denn sie trägt zur Zerstörung des englischen Imperialismus bei.“70 Mit ihrem russischen Hintergrund, ihren Erfahrungen mit dem Zarismus und ihrer messianischen Mentalität waren die Bolschewiki völlig unfähig, die Bedenken der westlichen Genossen zu verstehen, die von der Tatsache herrührten, dass diese sich trotz aller abstrakten Rhetorik nicht so völlig von ihren Ländern, Institutionen und Traditionen entfremdet fühlten, nicht so erdrückt und erstickt von ihren Regierungen, dass sie jedes Mittel und jede Handlung als rechtmäßig betrachtet hätten, um diese zu zerstören. Als ein anarchistischer Abgeordneter des Allrussischen Zentralen Exekutivkomitees der Sowjets 1918 betonte, dass sich das westliche Proletariat selbst „als Träger eines Teiles der Macht und als Teil des gleichen Staates, welchen es gerade verteidigt“, fühle, stürzte sich Lenin mit den Worten auf ihn, diese Sicht sei „derartiger Stumpfsinn, daß ich es mir schlimmer nicht vorstellen kann“.71 Ein mit verächtlichem Mitleid gemischter Funken des Verstehens ist allerdings in einer späteren Äußerung Lenins zu erkennen : „In Westeuropa gibt es fast keine Menschen, die einigermaßen große Revolutionen durchgemacht haben; die Erfahrungen der großen Revolutionen sind dort fast gänzlich vergessen; der Übergang aber vom Wunsch, revolutionär zu sein, und von Gerede ( und Resolutionen ) über die Revolution zur wirklichen revolutionären Arbeit ist ein sehr schwieriger, langsamer und qualvoller Übergang.“72 Sinowjew reagierte ähnlich auf Hilferdings Argument beim Hallenser Kongress,73 dass revolutionäre Phrasen von außen die Massen nicht aufwecken würden, solange die objektiven sozialökonomischen Bedingungen sie nicht zur Revolte brachten;74 er antwortete, die „Furcht vor der Revolution“ durchziehe „wie ein roter Faden [...] ihre ganze Politik“, die Angst vor „Zerrüttung“, „Hunger“ und vor dem, „was wir in Rußland haben“.75 69z Lenin, II. Kongreß der Kommunistischen Internationale, S. 232. 70 Carr, The Bolshevik Revolution, Band 3, S. 235 f. 71 Ebd., S. 180. A. d. Ü. : Siehe auch : Lenin, Tagung des Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitees, 29. April 1918, S. 298. 72 Ebd., S. 222. A. d. Ü. : Siehe auch Lenin, Brief an die deutschen Kommunisten, S. 539. 73 Carr, The Bolshevik Revolution, Band 3, S. 220. A. d. Ü. : Hilferdings Referat findet sich in : Protokolle der Parteitage der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Band 3, S. 179–204. 74 Protokolle der Parteitage der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Band 3, S. 188. 75 Carr, The Bolshevik Revolution, Band 3, S. 223 f. A. d. Ü. : Dieses Zitat findet sich auch in : Protokolle der Parteitage der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Band 3, S. 148 f.
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Ost und West
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Mit dem Misserfolg des deutschen kommunistischen Aufstands von 1923, der Normalisierung der politischen und sozialen Situation als Ergebnis der Stabilisierung der Währung, dem Beginn der Neuen Ökonomischen Politik und der resignierten Annahme des Slogans vom „Sozialismus in einem Land“ fanden sich die Kommunisten außerhalb Russlands in der Situation von „Nationalisten einer fremden Macht“75z, wie Léon Blum es ausdrückte. Sowjetrussland für seinen Teil konnte sich auf das Recht, ja sogar die Pflicht berufen, jeglichem Aufstand gegen die existierende kapitalistische Ordnung als einem aktuellen oder potentiellen Teil der Weltrevolution zu Hilfe zu eilen.
75z A. d. Ü. : Blum, Blick auf die Menschheit, S. 82. Konkret heißt es : „So war es ganz klar geworden, daß die Führung der kommunistischen Partei [ Frankreichs ] nicht ihr selbst gehörte, sondern ihr von außen vorgeschrieben wurde. Sie gehorchte blindlings den empfangenen Befehlen, und diese kamen nicht etwa von einer internationalen Organisation, sondern von einer fremden Macht, von einem Staat, der diese Befehle je nach seinen internationalen Interessen abänderte. Sie war also nicht etwa eine internationalistische, sondern ganz einfach eine ausländische nationalistische Partei.“
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IV. Das Mut ter schaf – die ost eu ro pä i schen Natio nen unter dem roten Schat ten So ernst diese Angelegenheit für die westlichen Staaten war, für die neu geschaffenen oder wiederhergestellten, aber gefährdeten Nationalstaaten an den Grenzen der UdSSR stellte sie einen Grund zu schwer wiegender und unmittelbarer Besorgnis dar. Ihre Völker hatten seit Generationen das Joch der russischen Herrschaft getragen oder in seinem Schatten gelebt. Ihre neu gewonnene nationale Unabhängigkeit war das kleine Schaf des armen Mannes – eine sehr unsichere Sache. Ihre parlamentarischen und demokratischen Institutionen hatten keine Wurzeln, und ihr Erbe wirtschaftlicher Rückständigkeit und sozialer Ungerechtigkeit hemmte ihre ersten Schritte. Die Gefahr von Seiten des russischen Kolosses wurde keineswegs durch das universelle Bekenntnis des postzaristischen Russlands gemindert. In gewisser Weise wurde sie heimtückischer und drängender. Die sowjetischen Herrscher konnten mit gutem Gewissen erklären, sie seien nicht darauf aus zu erobern, sondern zu befreien, während sie die schwächeren Nationen nicht nur ihrer Unabhängigkeit, sondern im Namen der sozialistischen Weltrevolution auch ihrer historischen Individualität und besonderen Traditionen beraubten. In einem unveröffentlichten und unvollendeten Artikel, der 1928 nur im Grünberg - Archiv unter dem Titel Fragment über Krieg, nationale Frage und Revolution gedruckt wurde, versuchte Rosa Luxemburg in den letzten Tagen ihres Lebens, angesichts der Entwicklungen in und um Sowjetrussland Alarm zu schlagen. Der Aufstieg der neuen Nationalstaaten in Mittel - und Osteuropa und die enthusiastische Unterstützung, die sie seitens der sozialistischen Parteien jener Länder und von jenem Teil des internationalen Proletariats erhielten, der das bürgerliche Wilson’sche Friedensprogramm der gestrigen Imperialisten gänzlich verinnerlicht hatte, schloss eine Klassenaussöhnung unter dem Banner der nationalen Wiederauferstehung, die Abwendung vom Klassenkrieg im Geiste des 4. August 1914 und die Rettung der bürgerlichen Ordnung vor dem Bankrott ein. „Der Gedanke des Klassenkampfes kapituliert hier vor dem nationalen Gedanken. Die Harmonie der Klassen in jeder Nation erscheint als Voraussetzung und Ergänzung der Harmonie der Nationen, die im ‚Völkerbund‘ aus dem Weltkriege steigen soll. Der Nationalismus ist augenblicklich Trumpf. Von allen Seiten melden sich Nationen und Natiönchen mit ihren Rechten auf Staatenbildung an. Vermoderte Leichen steigen aus hundertjährigen Gräbern, von neuem Lenztrieb erfüllt, und ‚geschichtslose‘ Völker, die noch nie selbständige Staatswesen bildeten, verspüren einen heftigen Drang zur Staatenbil-
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Das Mutterschaf – die osteuropäischen Nationen
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dung. Polen, Ukrainer, Weißrussen, Litauer, Tschechen, Jugoslaven, zehn neue Nationen des Kaukasus [...] Zionisten errichten schon ihr Palästina - Ghetto, vorläufig in Philadelphia.“76 Der alte Pedant Kautsky begrüßte den Aufstieg der neuen Nationalstaaten auf den Ruinen der nicht mehr bestehenden Reiche als einen Sieg der Demokratie, als lebte er noch immer im Zeitalter des Risorgimento und nicht im Zeitalter des Imperialismus. Rosa Luxemburg tadelte die Bolschewiki für ihren fatalen Fehler : die Annahme des Prinzips der nationalen Selbstbestimmung und die Anerkennung des Rechtes zur Abspaltung von Russland. Es war der unsterbliche Dienst der Oktoberrevolution, die soziale Revolution auf die Tagesordnung der Geschichte gesetzt, die Klassen in einem Krieg auf Leben und Tod unwiederbringlich polarisiert und den Humbug der Klassenzusammenarbeit und parlamentarischen Prozeduren gesprengt, den modus vivendi zwischen Sozialismus und Kapitalismus zerstört, den Sozialismus von einem harmlosen Wahlkampfslogan für eine ferne Zukunft in ein ernsthaftes, blutiges Problem der Gegenwart ver wandelt und einen weiteren Juni 1848 unmöglich gemacht zu haben. Die bolschewistische Revolution hatte die internationale Bourgeoisie mit Angst und Schrecken und unbarmherzigem Hass auf das Gespenst der proletarischen Diktatur erfüllt. „Diese Gefühle sind heute der innerste Kern der nationalen Delirien in [ der ] kapitalistische[ n ] Welt.“77 Sie „sind der objektive historische Inhalt [...] der sich anmeldenden Nationalismen“.78 Die Bourgeoisie der neuen Nationalstaaten fand die Legitimation für ihre Klassenherrschaft und die Strangulierung des proletarisch - revolutionären Erwachens und Handelns in ihrer gemeinsamen Furcht vor dem alten nationalen Feind und Unterdrücker, Russland, und in ihrer Angst vor der Bedrohung, die kosmopolitische Ideologien für die Unabhängigkeit und Glaubwürdigkeit der nationalen Existenz darstellten. Und in der Tat verbanden die Feste der nationalen Auferstehung und Brüderlichkeit in den „kleinen Nationen“ die Imperialisten der verschiedenen Länder, während die Brüderlichkeit der Nationen im Völkerbund die imperialistische Verschwörung gegen die UdSSR und das internationale Proletariat verdeckte. Zur gleichen Zeit – und das fühlte die Bourgeoisie aller Länder – „sieht sie hinter ihrem Rücken schon das unvermeidliche, nahende Verhängnis : das sich aufreckende Riesengespenst der sozialen Weltrevolution, das schweigend im Hintergrunde die Bühne betreten hat [...], die den Sozialismus zur historischen Notwendigkeit und die Weltrevolution unvermeidlich macht [...] – die Diktatur des Proletariats“.79 Der Umbruch des Krieges, die Verzweif lung der betro76 77 78 79
Luxemburg, Fragment über Krieg, S. 143. Ebd., S. 147. Ebd. Ebd., S. 148 f.
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Der Allgemeine Wille des weltweiten Proletariats
genen Massenarmeen, der Bankrott aller Staaten und der Verlust aller moralischen Autorität durch ihre Führer hatten Bedingungen zur Machtergreifung geschaffen, wie sie keiner Klasse jemals zuvor von der Geschichte zuteilgeworden waren. Die Schwierigkeiten bestanden allein in der Unreife des Proletariats und ihrer Parteien und Führer. Das Proletariat schreckte vor der Unermesslichkeit der Aufgabe zurück. „Aber sie muß, sie muß [...], um aus Nacht und Graus die geschundene Menschheit ins Licht der Befreiung zu führen.“80 Denn die Geschichte hatte entschieden : Sozialismus oder Barbarei. Die Bolschewiki hatten sich ihre gefährlichsten Feinde selbst herangezüchtet. Mit ihrer Phrase der nationalen Selbstbestimmung hatten sie die Abspaltung der Finnen, Polen, Ukrainer ( ihr Nationalismus „war [ vor dem Oktober ] eine Seifenblase, eine Fatzkerei etlicher Dutzend Professoren und Advokaten, die meist selbst nicht ukrainisch reden können“81) und die Schaffung bürgerlicher Klassenstaaten legitimiert, die nicht ohne unerbittliche Feindschaft zum bolschewistischen Russland überleben konnten. Durch ihr Erscheinen schwächten und bedrohten diese neuen Staaten die schiere Existenz des sozialistischen Staates. Da Letzterer die aus der Abspaltung lebenswichtiger Gebiete entstandenen Verluste nicht hinnehmen und die imperialistischen Verschwörungen in diesen Regionen nicht tolerieren könnte, würde das bolschewistische Russland gezwungen sein, mit einer Kampagne der Unterdrückung zu antworten. Und dies würde die sowjetischen Führer zwingen, „die Jagd auf den Nationalismus und den Völkerbund [ zu stoppen ]. Die Sozialisten müssen die Schulbank drücken, um das ABC neu zu lernen in der Praxis, aber in einer verkürzten Form.“82 Das Friedensprogramm der bürgerlichen Gesellschaft war nicht realisierbar. Darin lag die historische Garantie des unmittelbaren Bevorstehens der Revolution und ihres Sieges. Aber der sowjetische Staat würde gezwungen sein, Zuflucht im Zwang zu suchen und terroristische Maßnahmen gegen abtrünnige Nationalitäten anzuwenden, und dies würde den in Russland selbst beginnenden terroristischen Trend unerbittlich stärken.
80 81 82
Ebd., S. 149. Ebd., S. 145. Ebd., S. 142.
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V. Die Wie der ein set zung der Zwei ten Inter na tio na le und die Voll en dung des Schis mas Die Zweite Internationale nahm die Vorkriegsformel ihrer Überzeugung – „politisches System des Sozialismus“ – bei ihrem Kongress im Juli 1920 in Genf an, fast zur gleichen Zeit, als die Dritte Internationale ihre Glaubensartikel in Moskau neu formulierte.83 Ihr grundsätzlicher Unterschied zur kommunistischen Linie war die Haltung gegenüber der Wirklichkeit und Überlegenheit der Nation als Ganzes und an sich – „die Gemeinschaft als ein Ganzes“ – und deren Verkörperung im Parlament, das „alle die Volksbestrebungen und Wünsche vom Standpunkt der Gemeinschaft als Ganzes“84 darstelle. „Die Regierung der Nation wird ihre Exekutive sein.“84z Die Anmaßung irgendeiner „aufrührerischen“, von einer besonderen revolutionären Mission und vom Recht auf direkte Aktion und terroristische Gewalt getragenen Minderheitengruppe mit der Autorisation, „die Volksfreiheit zu zerstören“,85 wurde entschieden ver urteilt. „Jegliche Tendenz, einen Industriestreik automatisch in eine politische Revolution umzuwandeln, kann nicht stark genug ver urteilt werden.“86 Außerdem wurde Arbeit weit definiert, um nicht nur unabhängige Handwerker und selbstverständlich Landwirte einzuschließen, sondern auch „all jene, die ihre Betätigung in der Produktion von Hilfsmitteln jeglicher Art [ haben ]“,86z d. h. sogar Manager und Arbeitgeber. Die Basis erwartete die Schaffung einer sozialistischen Gemeinschaft „durch die tätige Eroberung der Regierungsmacht“, aber nur mit demokratischen Mitteln, niemals durch den Gebrauch diktatorischer Macht. Ihre wahre raison d’être und „historische Mission“ lag darin, „die Demokratie zur Ver vollständigung zu führen“.87 Alle Formen des Syndikalismus wurden kurz abgefertigt. „Es wird Aufgabe des Parlamentes sein, die allgemeinen Linien der sozialen Politik zu bestimmen und die Gesetze zu machen; es wird entscheiden, auf welche Industrien und Dienstleistungen das Prinzip der Sozialisation angewandt wird und unter welchen Bedingungen; es wird die höchste finanzielle Kontrolle ausüben“ und 83 84 84z 85 86 86z 87
Cole, Communism and Social Democracy, Band 1, S. 323 f. Ebd., S. 325. Ebd., S. 326. Ebd., S. 325. Ebd. Ebd. Ebd. A. d. Ü. : Im englischen Original findet sich diese Fußnote zwar im Fließtext, jedoch nicht in den Anmerkungen.
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dabei den Gewerkschaften alle Einrichtungen garantieren.88 Das Dokument spricht vage von der Möglichkeit, einen Nationalen Industrierat einzurichten, der aus Repräsentanten der verschiedenen Handels - und Berufsorganisationen bestehen solle. Er sollte jedoch nur ein Beratungsgremium für das Parlament sein. In der weltweiten Arbeiterbewegung war damit die Spaltung vollendet : in gläubige Anhänger einer messianischen Weltrevolution mittels eines gewaltsamen Durchbruchs und die Befür worter eines auf demokratischem Reformismus basierenden Nationalstaates.
88
Ebd., S. 326. A. d. Ü. : Im englischen Original findet sich diese Fußnote zwar im Fließtext, jedoch nicht in den Anmerkungen.
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Ach ter Teil Von Georges Sorel zu Benito Mussolini
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I. Die Hin ter las sen schaft von Geor ges Sorel – Mar xis mus, Gewalt, Faschis mus Georges Sorel lebte lange genug, um die bolschewistische Revolution als eine große Erfüllung zu erkennen und zu begrüßen, und wenn auch nicht lange genug, um Mussolini zu dem geglückten Marsch auf Rom zu gratulieren, so doch, um sein fasziniertes Interesse am und seine starke Bewunderung für den aufsteigenden Faschismus zum Ausdruck zu bringen. Es gibt die Geschichte, wonach in ein und derselben Woche in den späten 1920er Jahren die Botschafter des sowjetischen Russlands und des faschistischen Italiens im Auftrag ihrer jeweiligen Regierungen mit finanziellen Angeboten an den Direktor der Nationalbibliothek in Paris herantraten, um den Grabstein auf Georges Sorels Grab zu reparieren.1z Ob die Geschichte nun wahr ist oder nicht – kurz vor seinem Tod sprach Sorel jenes Gebet, auf das Anhänger beider Ideologien mit einem eifrigen Amen hätten antworten können : „Aber möchte ich noch, bevor ich in die Grube steige, die Demütigung der hoffärtigen Demokratien erleben können, die heute zynisch triumphieren !“1 Wenn Benedetto Croce von Georges Sorel als einem der „zwei einzigen selbständigen Denker, die der Sozialismus gehabt hat“,2 sprach ( der andere war Karl Marx ), so sah Wyndham Lewis, der erbitterte Hasser des Spießbürgertums, ein grausamer Spielverderber und einer der ersten Intellektuellen im Westen, der Hitler mit einem eigens verfassten Buch zujubelte, in Sorel „den Schlüssel zu jeglichem zeitgenössischen politischen Denken“.3 Wiederholt erkannte auch Mussolini Sorel als seinen Lehrer an : „Was ich bin, verdanke ich Sorel.“4 Und Sorel wiederum nannte Mussolini „einen Mann, nicht weniger außergewöhnlich als Lenin [...], dessen Format das aller derzeitigen Staatsmänner übertrifft, [...] kein Sozialist aus der Bourgeoisie; er glaubte niemals an den parlamentarischen Sozialismus“.5
1z 1 2 3 4 5
Vgl. Andreu, Notre maître G. Sorel, S. 306. Sorel, Über die Gewalt, Anhang 3 : Für Lenin, S. 354. Croce, Randbemerkungen, S. 221. Lewis, The Art of being ruled, S. 128. Variot, Propos de G. Sorel, S. 57. Siehe ebenfalls Meisel, The Genesis of G. Sorel, S. 219 ( auch Fußnote 20). Variot, Propos de G. Sorel, S. 55 f. Vgl. auch Humphrey, Georges Sorel, S. 22; Meisel, The Genesis of G. Sorel, S. 230.
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Trotz Lenins Ablehnung Sorels als eines „bekannten Wirrkopfs“5z beschrieb Sorel Lenin als den größten Theoretiker, den der Sozialismus seit Marx gesehen habe, und als einen Staatschef, dessen Genialität an Peter den Großen erinnere6 – in seinen Bemühungen, Russland „dem Aufbau einer Republik von Produzenten zuzuführen, die fähig sind, eine ebenso fortschrittliche Wirtschaftsweise zu ergreifen, wie sie unsere kapitalistischen Demokratien besitzen“.6z Obwohl er bescheiden feststellte, er „habe zwar keinerlei Grund anzunehmen, daß Lenin meinen Büchern Ideen entnommen hat“,7 war Sorel sich mit Stolz gewiss, dass sein „Syndikalismus eine starke Neigung zum Bolschewismus hatte“.8 Im Lichte dieser Aussagen ist die Meinung des französischen Faschisten Ramon Fernandez nicht überraschend, wenn er 1937 sagte, dass „Georges Sorel das totalitäre Regime direkt inspirierte“.9 Die neuere Wissenschaft ist zunehmend geneigt, ihr Augenmerk auf die seltsame Begegnung vor 1914 zu richten – zwischen dem alternden Sorel und einigen seiner syndikalistischen Schüler auf der einen Seite und ein paar jungen ultrarechten Nationalisten in Frankreich und Italien auf der anderen Seite als einer Art Vorspiel zum Faschismus nach 1918. Es ist unmöglich, nicht die Ähnlichkeit in Gedanken und Ausdrucksweise zwischen den jungen Radikalen der Neuen Linken von heute und des Autors von Über die Gewalt siebzig Jahre zuvor zu sehen.
1. Der heroische Sprung Sorel war ein Suchender. Seine ruhelose und leicht zu entmutigende Suche, sein zögernder Enthusiasmus und seine bittere Desillusionierung verkörpern die geistige Biographie seines Zeitalters, die klägliche Pilgerfahrt des modernen Menschen, der die alten Sicherheiten verloren hat. Sorel war fasziniert von der Legende des wandernden Juden, die „die höchsten Bestrebungen der Menschheit symbolisiere, die verdammt ist, immer zu wandern, ohne jemals
5z 6 6z 7 8 9
Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, S. 294; Pirou, Georges Sorel, S. 49. Sorel, Über die Gewalt, Anhang 3 : Für Lenin, S. 346; Pirou, Georges Sorel, S. 49; Humphrey, Georges Sorel, S. 23. Sorel, Über die Gewalt, Anhang 3 : Für Lenin, S. 352. Ebd., S. 345. Sorel, Lettres à Paul Delesalle, S. 234. Fernandez, Charles Péguy, S. 150. A. d. Ü. : Siehe auch Sartre, Georges Sorel, S. 1 (Avant - Propos ). Talmon nennt als Quelle Variot und Meisel, doch hier ist das Zitat nicht zu finden; deshalb wurden diese Angaben nicht in die deutsche Fassung übernommen.
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die Ruhe kennenzulernen“.10 In seiner vehementen Ablehnung dessen, was das 18. Jahrhundert als oberflächlichen und optimistischen Ersatz für die religiöse Theodizee zu bieten hatte, und in seiner Abscheu vor der darauf basierenden bürgerlichen Zivilisation trifft sich Sorel mit den großen Propheten des Zorns des 19. Jahrhunderts : de Maistre, Carlyle, Schopenhauer, Burckhardt, Nietzsche, Dostojewski, Ibsen und anderen. Georges Sorel wurde 1847 in eine royalistisch - bürgerliche Familie in der Normandie hineingeboren ( er war ein Cousin des Historikers Albert Sorel, Autor des Monumentalwerkes L’Europe et la Révolution Française ) : Es war ihm bestimmt, sich gerade zu dem Zeitpunkt in der Welt zu orientieren, als Frankreich 1870/71 durch das Martyrium der nationalen Niederlage und des Bürgerkrieges ging – die Kommune – und dann der schmerzhaften Autopsie zu folgen, der die Geschichte Frankreichs von solch konser vativen Denkern wie Taine, Renan, Le Play und anderen unterzogen wurde, indem sie die Revolution von 1789 verantwortlich machten für das Hin und Her von Revolution, Anarchie, Terror, bonapartistischer Diktatur und Restauration, riesigen Eroberungen und schrecklichen Niederlagen, dem Triumph der Freiheit und ihrem Untergang. Der Aufstieg der Massen erfüllte diese Autoren mit Furcht. Was das allgemeine Wahlrecht betraf, das die Dritte Republik – eine jämmerliche Karikatur der großen Revolution – für die Ewigkeit geschaffen zu haben schien: Hatte es nicht im Jahre 1848 Louis Napoleon Bonaparte an die Macht gebracht und es ihm ermöglicht, sowohl als Erwählter der Massen als auch als Verteidiger des bürgerlichen Eigentums gegen die Rote Revolution der Freiheit die Luft abzuschnüren ? Die Launen der blinden Masse und die damit verbundene Demagogie konnten nicht länger durch die üblicher weise genannten Dämme – wiederhergestellte Monarchie, Religion oder Staatsautorität – im Zaum gehalten werden. Nichts zeigt besser den Einfluss, den diese nationalen Selbstzweifel auf Sorel hatten, als sein häufiger Bezug auf Ernest Renans sorgenvolle Frage : „Wovon wird man nach uns leben ?“, nachdem die ererbten christlichen Denkgewohnheiten und konser vativen Hemmschwellen ihre Macht völlig verloren hatten ( die sie eindeutig schon die ganze Zeit über verloren ).11 Um sich diese ver wirrenden Angelegenheiten selbst zu erklären, verließ der Bauingenieur ( Straßen und Brücken ) den Regierungsdienst im Alter von 45 Jahren und setzte sich mit einer geringen Pension sowie dem Band der Ehrenlegion in einem Vorort von Paris zur Ruhe, um zu studieren, nachzudenken und zu schreiben. Er pflegte Umgang mit intellektuellen Kreisen, die aus sehr jungen Männern bestanden, meist Jüngern des linken Spektrums, besuch10 11
Sorel, Über die Gewalt, S. 24. Freund, Georges Sorel, S. 17.
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te regelmäßig die Vorlesungen von Henri Bergson am Collège de France und wahrte das Andenken an seine ( angeblich des Lesens und Schreibens unkundige ) Frau, die 1897 kinderlos verstorben war. Im Übrigen wurde Sorel niemals müde, Keuschheit als die höchste aller Tugenden zu preisen, als Zeichen sittlicher Gesundheit und sozialen Zusammenhalts, und ihr Fehlen als Beweis für Krankheit und Entartung zu stigmatisieren. Schon die Titel seiner frühesten Bücher – Contributions à l’étude profane de la Bible (1889), Le procès de Socrate (1889) und La Ruine du monde antique (1898) – verraten Sorels Beschäftigung mit dem Phänomen der Integration und Desintegration, des Verfalls und der Wiedergeburt. Während die Abhandlung über die Bibel ein Versuch ist, den naiv - heroischen Ton der biblischen Geschichten und ihren erzieherischen Wert als Gegenmittel zum Utilitarismus und zu revolutionärer Ideologie her vorzuheben,12 ist Procès de Socrate ein Essay über den sorglosen Intellektuellen, der, indem er die Wege der Menschen von einem abstrakten Standpunkt aus befragt und kritisiert, die instinktiven Sicherheiten, die ehernen Traditionen, die lebenserhaltenden Vorurteile und die ererbten institutionellen Rahmenbedingungen der Nation untergräbt. Sokrates wird für seinen arroganten Versuch verurteilt, die weltliche, konkrete, „soziale“ Realität der Familie durch ein abstraktes Ideal einer „erfundenen sittlichen Familie“ und den organisch und historisch strukturierten Staat durch ein grundsätzlich „kirchliches“ Konzept der Gesellschaft zu ersetzen, basierend auf reinem Verstand und spirituellen Werten, und auch dafür, dass er einen ekstatischen und orgienhaften Rauschzustand befeuert hat, der zu revolutionären wie tyrannischen Lösungen einlädt.13 La Ruine du monde antique ist eine Studie über Zerfall und Niedergang. Das späte Römische Reich hatte seine Stärke, sein Leben, all die Werte und Institutionen, welche es groß gemacht hatten, durch zu viel Selbstbewusstsein und durch jenseitige Spiritualität selbst untergraben. Der Sieg des Christentums war durch die Ausbreitung orientalischer Kulte und introspektiver Philosophien vorbereitet worden, die „überall die Saat [...] der Hoffnungslosigkeit und des Todes säten“,14 sowie durch den Vorrang der persönlichen Erlösung vor Land, Familie und sozialen Bindungen, der Heiligkeit vor dem Gesetz, der Armut vor der produktiven Anstrengung, des Verzichts vor der Verantwortung, der Kontemplation vor dem männlichen Kampf, des himmlischen Vaterlandes vor der Stadt. „Le Moyen Âge peut commencer; il n’y a plus de cité, plus de droit.“15
12 13 14 15
Vgl. Andreu, Notre maître G. Sorel, S. 46–48. Vgl. Freund, Georges Sorel, S. 18, 34 f. Andreu, Notre Maître G. Sorel, S. 203. Freund, Georges Sorel, S. 69. A. d. Ü. : Deutsche Übersetzung : „Das Mittelalter kann beginnen; es gibt weder Staat noch Recht mehr.“
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Zu einem späteren Zeitpunkt stellte Sorel das frühe Christentum als den mächtigsten Impuls in Richtung spiritueller und sozialer Wiedergeburt inmitten des totalen Zerfalls dar. Eine naive, knappe, aber heroische Botschaft, die es ihren Gläubigen ermöglichte, sich selbst zu den Höhen eines energischen neuen Anfangs zu erheben – die ricorsi Vicos. Die Nebeneinanderstellung von Zerfall und Reintegration, Niedergang und Wiedergeburt drückt Sorels tiefste und beständigste Gefühle aus : seinen aggressiven und unermesslichen Pessimismus und seine Sehnsucht nach Erlösung. Dieser Pessimismus „ist weit mehr eine Metaphysik der Sitten als eine Theorie der Welt“. Er lässt sich zurückführen auf unsere „durch Erfahrung erworbene Erkenntnis von den Hindernissen, die sich der Befriedigung unserer Einbildungen ( imaginations ) entgegenstellen“ und auf die tiefe „Überzeugung von unserer natürlichen Schwäche“.16 Der Pessimist sieht die vorherrschenden „sozialen Bedingungen als Bildungselemente eines Systems, das durch ein ehernes Gesetz zusammengehalten wird“, das entweder als etwas Unvermeidliches als Ganzes unterstützt werden oder aber zum Verschwinden gebracht werden müsse „durch eine Katastrophe“, die alles mit sich reißt. Daher solle man nicht bestimmten Personen die Schuld für das bestehende Schlechte geben und sich nicht auf unvollständige Reformen einlassen.17 In einer Sprache, die sehr an de Maistre, Schopenhauer, Burckhardt und Nietzsche erinnert, übergoss Sorel all jene mit Hohn, die einfache Lösungen und schnelle Verbesserungen versprachen und Glück als unser Recht und Freude als legitimes Ziel des Menschen ausriefen. Schmerz und Leid fesseln uns ans Leben; seine Wirklichkeit, Würde und Tiefe; die Suche nach Vergnügungen kennzeichnet die Flucht davor, ein Wegrutschen von seinem unaufhaltsamen Lauf. Verfall faszinierte Sorel wie im Übrigen so viele Philosophen der Geschichte und Kultur, von denen die extreme Rechte viel von ihrer Inspiration bezog. Die natürliche Tendenz in Richtung Auf lösung und Zerfall war für ihn ein universelles Gesetz. Zivilisation sei ein höchst gefährdetes Besitztum und nur mit äußerster Mühe aufrechtzuerhalten. Jedem Anzeichen von Nachlässigkeit folgten schnell Verfall, Zusammenbruch und Ruin. Die Barbarei schleiche sich immer in die schwachen Bollwerke, die gegen sie errichtet würden. Was unserem Leben Bedeutung und Größe gebe, sei der Zustand der Spannung und des unnachgiebigen Kampfes, um die Kräfte des Zerfalls und der Zerstörung und vor allem die Sehnsucht und das Streben nach Erlösung abzuwehren. Sorel sah diese „Erlösung“ nicht in der Ruhe der Entspannung oder in Schopenhauers liebevoller Vereinigung mit der Kunst in einem allumfassenden Nir wana; oder in Burckhardts Vision eines säkularen Neomönch16 17
Sorel, Über die Gewalt, S. 19. Ebd., S. 20.
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tums als einer Zuflucht für einige Auser wählte; er sah sie vielmehr im Geiste Nietzsches, in der Freude, die sich mit dem Herausreißen aus dem Labyrinth der Fallstricke und aus dem Sumpf der Schwäche einstellt : der heldenhafte Sprung in eine neue und besonders anstrengende Disziplin, die entschlossen gewählt wurde, ohne jemals zurück oder zur Seite zu blicken – eine klösterliche Ordnung, die frühen puritanischen Gemeinden, die Grande Armée. Dieser Glaube – Pessimismus verbunden mit einer Vorstellung von Erlösung – war eine Doktrin, „ohne welche in der Welt niemals etwas sehr Hohes geschehen ist“.18 Dies ist eindeutig eine religiöse Grundeinstellung. Sorel war nie ein Gläubiger; er benutzte nie das Wort „Gott“; aber er hörte nie auf, von der Religion fasziniert zu sein und über religiöse Probleme zu schreiben. Sünde und Reinheit, Schuld und Erlösung, eigensinnige Arroganz und objektive Gewissheit, Recht und Zwang, Legitimität und Revolution – diese Vermutungen liegen seiner Suche zugrunde.19
2. Die Revolte gegen die Politik Bis 1893/94 war Georges Sorel zu einem richtiggehenden Mar xisten geworden. Er schrieb : „Ich halte die Theorie von Marx für die größte Neuerung, die in die Philosophie seit Jahrhunderten eingeführt wurde [...]. All unsere Ideen müssen sich zwangsläufig heute um neue Prinzipien versammeln, die durch den wissenschaftlichen Sozialismus gestellt werden [...]. Der menschliche Geist weigert sich, mit der alten wirtschaftlichen Skepsis zufrieden zu sein [...], mit der Registrierung der Fakten, mit dem Debattieren über Gewinnbilanzen, mit dem Vergleichen des wachsenden Wohlstands in verschiedenen Ländern.“20 Das Augenmerk ist eindeutig nicht auf die Übel des Kapitalismus oder die Leiden der Armen gerichtet, sondern auf objektive Gewissheit und unpersönliche Notwendigkeit, im Gegensatz zu den „subjektiven, persönlichen und simplen Begriffen einer Philosophie, die dem Zufall überlassen ist“, emotionalen Vorzügen oder spekulativer Vermutung.20y Der archimedische Punkt der mar xistischen Philosophie war laut Sorel das Konzept des Menschen „tout entier, comme travailleur“ [ als Ganzes, als Arbeiter ], niemals getrennt „von den Maschinen, mit denen er sein Leben verdient“, mit anderen Worten : die konstante und vertraute Beziehung zwischen Mensch und Maschine; zwischen der kreativen Freiheit des Arbeiters als eines Werkzeugmachers, eines homo faber, 18 19 20 20y
Ebd., S. 15. Vgl. ebd., 22–24. Sorel, Science et Socialisme, S. 511. A. d. Ü. : Siehe auch ders., D’Aristote à Marx, S. 94. Sorel, D’Aristote à Marx, S. 261.
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Manipulators inerter Stoffe auf der einen und den unerbittlichen Bestimmungen, die durch das Medium und die Werkzeuge zurückgeworfen werden, auf der anderen Seite.20z Im Vergleich dazu stellten die abstrakten Ideologismen der Intellektuellen und die ‚möchtegern‘ - metaphysischen, ewig sittlichen Prinzipien der Philosophen vage Vermutungen, Einbildungen oder emotionale Zustände dar. Sorel geht so weit zu behaupten, dass die großen theoretischen Fortschritte in der Wissenschaft in den meisten Fällen nichts anderes darstellten als Verallgemeinerungen technologischer Erfindungen. Diese Suche nach Gewissheit sowie seine Abscheu gegenüber Willkür und Unklarheit veranlasste Sorel von vornherein, eine integrale Gewerkschaftsbewegung als Ausdruck aller echten Werte ins Auge zu fassen und sozialistische Parteipolitik im Zeichen und in der Gefahr der Korruption zu sehen. Sorel erwartete, dass die Interessenverbände ein separates und unabhängiges Königreich Gottes, Träger einer neuen Moralität und neuen Zivilisation werden würden. Die Idee der Abspaltung, der gänzlichen Trennung von der umgebenden Welt, hatte Sorel in dieser Phase noch nicht gänzlich ausgearbeitet, aber die Bevormundung durch die professionellen Politiker an der Spitze der politischen Arbeiterparteien hatte er bereits scharf kritisiert.21 Bevor Sorel die Möglichkeit hatte, diese Ideen zu entwickeln, wurde er tief in die außerordentlichen Erfahrungen ver wickelt, die Frankreich zur Jahrhundertwende in den Grundfesten erschütterten. Wenn er zum Dreyfusianer wurde, so war Sorel nicht wirklich an der Vernichtung der Macht der Kirche, der Armee oder des militanten Chauvinismus als Selbstzweck interessiert. Er verschrieb sich mit Haut und Haaren einer Mystik, die gegen eine andere Mystik gesetzt wurde : dem Kampf für eine abstrakte Gerechtigkeit und reine Wahrheit gegen die angeblich lebensspendenden und machterhaltenden Kräfte des nationalen Mythos, der Vorurteile und der Tradition, die durch „die sozialen Autoritäten“ vergangener Tage repräsentiert wurden. In gewisser Hinsicht schlug sich Sorel auf die Seite der Sokratiker, die er früher so scharf verurteilt hatte. Sorels Hoffnungen auf reinigende ricorsi wichen bald der Ernüchterung. Laut den Worten einer anderen wichtigen Figur, die ähnliche Erfahrungen durchmachte, Charles Péguy, degenerierte die Dreyfus - „Mystik“ zu „Politik“. Die Dreyfus - Affäre und ihre Folgen, sagte Sorel, 20z Ebd., S. 96. 21 Vgl. Sorel, L’Avenir socialiste des syndicats; ders., Mes raisons du syndicalisme. Beide Aufsätze wurden aufgenommen in Sorel, Matériaux d’une théorie du prolétariat, S. 77–133, 239–286. Siehe auch ders., D’Aristote à Marx, S. 263–267. A. d. Ü. : Der Aufsatz „Mes raisons du syndicalisme“ erschien 1910 zunächst auf Italienisch unter dem Titel „Le confessioni. Come divenni sindacalista“ in mehreren Teilen in der Zeitschrift „Il divenire sociale“ ( zwischen dem 1. März und dem 16. Mai ), dann im Juli 1910 als Buch unter dem gleichen Titel.
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„produzierten eine außerordentliche Anhäufung von Zufällen, ganz ähnlich denen, die manchmal einen Physiker in seinem Labor auf eine ganz uner wartete Weise und unter fast transparentem Schleier Gesetze erkennen lassen, die langen methodischen Untersuchungen entgangen waren“.22 Die Auswirkungen der Affäre offenbarten „die Unzulänglichkeit der derzeitigen sozialistischen Theorien“.22y Indem sie sich nicht - proletarischen Kräften im Kampf für nicht unbedingt proletarische Ziele anschlossen, verloren die Arbeiter ihre eigene Identität und die Klarheit ihrer proletarischen Zielsetzung. Antiklerikalismus erwies sich in der Tat nur als ein Sprungbrett für machthungrige Demagogen beider Seiten, nämlich die bürgerlichen Radikalen und die sozialistischen Politiker. Das „mar xistische Prinzip des Klassenkampfes“ war „definitiv vom demokratischen Ozean der Einheit des Volkes weggespült worden“.22z Sorel zieht eine bedeutsame Lehre aus diesem Fehler : „Die parlamentarischen Sozialisten hatten viel von ihrem Ansehen verloren; Gewalttäter hatten sich mit Ruhm bedeckt.“23 Diese Affäre offenbarte die immense Bedeutung nachhaltigen, direkten Handelns, „das sehr häufig mit Gewalttaten einherging“, als einer Methode, die sich von sporadischen Gewalttaten unterschied, die nicht mehr waren als „einfache Unfälle, die den normalen Fortschritt“ einer Bewegung „stören“.23z Diese Entdeckung erforderte eine Revision des Mar xismus oder vielmehr eine Rückkehr zu seiner ursprünglichen Tradition. Sorels Neubewertung der sozialistischen Lehren wurde nicht nur unter dem Eindruck der Dreyfus - Affäre vollzogen, sondern auch – was nicht weniger wichtig ist – unter dem Einfluss und in direktem Bezug auf die große „revisionistische“ Kontroverse, die von Eduard Bernstein an der Jahrhundertwende ausgelöst wurde.24 Sorels Reaktion auf die revisionistische Häresie sollte zusammen mit den gewaltsamen Reaktionen Lenins, Mussolinis ( der erste Kommunist in Europa, insofern als er die Reformisten aus der Partei zwang ), Rosa Luxemburgs und Par vus - Helphands gesehen werden. Ihr Standpunkt war eine leidenschaftliche, erneute Parteinahme für den revolutionären Voluntarismus und Elitismus sowie für Marx’ frühen revolutionären und universalistischen Messianismus im Gegensatz zu Bernsteins Neigung, die sozialistischen Parteien zum linken Flügel der parlamentarischen Demokratie und zu einem wesentlichen 22
Sorel, Matériaux d’une théorie du prolétariat, S. 284. A. d. Ü. : Siehe auch ebd., S. 356 ( Fußnote ). 22y Ebd., S. 254. 22z Ebd., S. 263. 23 Ebd., S. 283. 23z Ebd., S. 284. 24 Ebd., S. 284–286.
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Teil der nationalen Politik zu machen. Die Abscheu vor dem revisionistischen Verzicht auf die Revolution trieb andere in eine gänzlich andere Richtung. Einer der italienischen Theoretiker des Syndikalismus ( er wurde später ein Prophet des korporativen Staates und ein enger Mitarbeiter des Duce ), Sergio Pannunzio, führt den Beginn seiner Entwicklung weg vom Sozialismus und hin zum Faschismus auf die Erschütterung zurück, welche die „revisionistische Häresie“ in ihm ausgelöst habe. Im Gegensatz zu den oben erwähnten Antirevisionisten akzeptierte Sorel Bernsteins ganze sozial - ökonomische Kritik des orthodoxen Mar xismus, zog aber diametral entgegengesetzte politische Schlussfolgerungen. In La décomposition du marxisme (1908) stimmt Sorel mit der These überein ( ja er vertritt sie gar mit noch mehr Nachdruck als Bernstein ), dass der Kapitalismus überhaupt nicht gescheitert sei.25 Mehr noch, das Voranschreiten der kapitalistischen Produktion und ihrer unvermeidlichen Begleiterscheinung, der Gewerkschaftsbewegung, hatte nicht nur die Lebensbedingungen der Arbeiter verbessert, sondern auch dem Klassenkampf etwas an Schärfe genommen, seitdem Tarifverhandlungen die Arbeiter eher zu Partnern des Managements als zu dessen Feinden gemacht hatten. In den frühen Tagen der industriellen Revolution waren es die Finanziers und Wucherer, die – völlig ohne Kenntnis von den Problemen der Technologie – die Gesetze für Industrielle und Ingenieure festgelegt hatten, während gleichzeitig die Arbeiter, dumme Rohlinge, vom Pflug oder aus der Werkstatt weggeholt, mit brutalen Methoden in Schach gehalten werden mussten. Aber mittler weile hatten sich technisch gebildete Arbeitgeber durchgesetzt, und Arbeiter hatten gelernt, die Maschinen zu bedienen und sie sogar zu mögen. Der Kapitalismus hatte ausreichende Anpassungskräfte entwickelt, um vorübergehende Krisen zu bewältigen. Es gab daher keine technologischen oder sozial - ökonomischen Gründe, sich in den Kapitalismus einzumischen, nicht einmal im Bereich der Gehälter und Löhne, da durch den Kapitalismus eine raue Art der Gerechtigkeit der Entlohnung proportional zum Beitrag ver wirklicht wurde. Der Sozialismus werde dies nicht ändern, weil in dieser Hinsicht der Mar xismus, wie Sorel behauptet, der Manchester - Schule näherstand als den „gerechtigkeits“ - besessenen Utopisten der früheren Tage ( die in narrensicheren Entwürfen und perfekter egalitärer Gerechtigkeit dachten, bewusst und künstlich ersonnen, und ohne Bezug auf die Funktionsweise des Produktionsmechanismus ).26 Wenn dies so ist, warum dann überhaupt eine Revolution ? Diese Frage stellt sich besonders hartnäckig, da Sorel keinerlei Sympathie hegt für das, was 25 26
Ins Englische übersetzt von Horowitz, Radicalism and Revolt against Reason, S. 207– 254. A. d. Ü. : Für die deutsche Übersetzung siehe Sorel, Die Auf lösung des Marxismus. Vgl. Sorel, Die Auf lösung des Mar xismus, S. 46 f.
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er als die moderne Version der Jacquerie sieht – den neidischen Wunsch der Armen, zum Zwecke der Gleichheit Besitz umzuverteilen. Und wenn die Revolution, aus moralischen oder anderen Gründen, absolut notwendig ist, werden wir nicht auf die Idee einer gewaltsamen Ergreifung der politischen Macht zurückgeworfen, um die sozialistische Ordnung durch Gewalt einzuführen – mit einem Wort „Blanquismus“ ? Sorel wird die Revolution nicht aufgeben, aber er wird den Blanquismus zurückweisen, und das aus sehr originellen (wenn auch falschen ) Gründen. Blanquismus, behauptet er, beabsichtigte nicht wirklich den Aufstand einer Klasse, sondern die Übernahme der revolutionären Mission durch eine politische Partei, und zwar durch bürgerliche Intellektuelle, die weder die Bedürfnisse und Lebensweise noch die wahren Sehnsüchte der echten Arbeiter teilten. Hier erreichen wir den Knotenpunkt, der bereits in Sorels Theorie des revolutionären, auf der Idee der Gewalt basierenden Syndikalismus angedeutet wurde. Sorel sieht das – in Interessensverbänden organisierte – Proletariat nicht im Sinne von Armen, die für einen größeren Anteil am Kuchen kämpfen, sondern als eine Kraft, die durch die Vorherbestimmung der Geschichte eine neue Zivilisation und eine heroische Moralität auf den Ruinen der zerstörten bürgerlichen Welt aufbaut. Die Glaubwürdigkeit dieser Kraft und die Einzigartigkeit ihrer Zielsetzung wurden beeinträchtigt und verzerrt durch professionelle Politiker, durch Intellektuelle und durch die korrumpierende Wirkung der parlamentarischen Parteipolitik. Sorel glaubt, er kämpfe für eine Rückkehr zum wahren Marx. Er versucht, Marx als einen Propheten der kampfbereiten Klasse und als Feind der Parteipolitik darzustellen. Er versäumt es, die relevanten Passagen des Kommunistischen Manifests wie auch den berühmten Artikel 7a der Allgemeinen Regeln der Internationale zu erwähnen : „In seinem Kampf gegen die kollektive Macht der besitzenden Klassen kann das Proletariat nur dann als Klasse handeln, wenn es sich selbst als besondere politische Partei im Gegensatz zu allen alten, von den besitzenden Klassen gebildeten Parteien konstituiert.“26z Aber er zitiert mit inbrünstiger Zustimmung die abschließende Passage von Das Elend der Philosophie, Marx’ berühmter Abrechnung mit Proudhon : „Der Gegensatz zwischen Proletariat und Bourgeoisie [ ist ] ein Kampf von Klasse gegen Klasse, ein Kampf, der, auf seinen höchsten Ausdruck gebracht, eine totale Revolution bedeutet. Braucht man sich übrigens zu wundern, daß eine auf den Klassengegensatz begründete Gesellschaft auf den brutalen Widerspruch hinausläuft, auf den Zusammenstoß Mann gegen Mann als letzte Lösung ? [...] Kampf oder Tod; blutiger Krieg oder das Nichts. So ist die Frage unerbittlich gestellt.“27 26z Marx / Engels, Resolutionen des allgemeinen Kongresses zu Haag, S. 149. 27 Marx, zit. in Sorel, Die Auf lösung des Mar xismus, S. 35. A. d. Ü. : Bei Talmon wird das Zitat leicht verkürzt und modifiziert wiedergegeben. Der letzte Satz dieses Zitats
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Sorel macht viel aus dem Rundschreiben der Internationale ( an dem Marx’ Anteil unsicher ist ) gegen Bakunins „Allianz der sozialistischen Demokratie und der Internationalen Arbeiterassoziation“. Darin wird die Idee lächerlich gemacht, über die Massen („Kanonenfutter“) eine Avantgarde von Menschen aus den privilegierten Klassen zu setzen, die als „Vermittler zwischen der [...] revolutionären Idee und den Volksinstinkten“ fungieren sollen, um „Advokaten ohne Klienten, [...] Ärzte [...] ohne Patienten und ohne Kenntnisse, [...] Studenten vom Billard, [...] Handlungsreisende und sonstigen Commis und besonders [...] Journalisten der kleinen Presse [...], die in der Internationalen endlich eine ‚Carriere‘ und einen ‚Ausweg‘ fanden“,28 in den Vordergrund zu rücken. Sorel zitiert mit Freuden Engels Beschreibung des politischen Kampfes im modernen ( bürgerlichen ) Staat : eine „Gruppe ( corps ) Intellektueller, die mit Sonderrechten ausgerüstet ist und die Mittel besitzt, die man politische nennt, um sich gegen die Angriffe anderer Gruppen ( groupes ) Intellektueller zu verteidigen, die darauf aus sind, sich selbst die Vorteile öffentlicher Ämter zu verschaffen. Die Parteien bilden sich, um sich in den Besitz dieser Ämter zu setzen.“29 Sorel lehnte nicht nur die Trennung zwischen bürgerlichen Politikern und sozialistischen Politikern ab, sondern richtet wegen ihrer größeren Scheinheiligkeit auch all seine Verachtung gegen Letztere. Das waren zwei gänzlich unterschiedliche Dinge : zum einen der revolutionäre Elan einer Klasse, die aus Instinkt und in aller Einfachheit handelte, einer Klasse, die ihre Ausbildung beendet, ein Ideen - und Normensystem sowie einen juristischen Rahmen geschaffen und das volle Bewusstsein ihrer historischen Mission dafür erlangt hatte, eine neue Zivilisation zu errichten und eine neue moralische Ordnung; zum anderen die Duldung professioneller Parteipolitiker, die auf die Revolution bauten, weil sie ihnen „das Objekt ihrer Begierde“, den Staat, ausliefern würde. Sorel beruft sich auch zustimmend auf Bernsteins Enthüllung der Heuchelei, die den Staatsbeamten, professionellen Politikern und Zeitschriftenbesitzern unter dem Deckmantel der formalen bürgerlichen Souveränität alle Entscheidungen zu treffen erlaubt, sowie auf Bernsteins Definition der Diktatur des Proletariats : „die Diktatur von Klubrednern und Literaten“.29y
stammt nicht von Marx, sondern von George Sand. Darauf weist auch Sorel hin. Siehe Sand, Jean Ziska, Einleitung, S. 8. Siehe außerdem Marx, Das Elend der Philosophie, S. 182. 28 Marx, zit. in Sorel, Die Auf lösung des Mar xismus, S. 54 f. A. d. Ü. : Siehe auch Marx, Ein Komplott gegen die Internationale Arbeiterassoziation, S. 364, 382 f. 29 Sorel, Die Auf lösung des Mar xismus, S. 53. A. d. Ü. : Der Bezug zu Engels konnte nicht nachgewiesen werden. 29y Bernstein, Die Voraussetzungen des Sozialismus, S. 183.
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Grundsätzlich stehen wir hier einem Problem gegenüber, das nie aufgehört hat, die Menschheit zu ver wirren : der Frage nach der Legitimität der Politik. Ihre völlige Unbestimmtheit und ihr schwer fassbarer Charakter, die Mischung aus abstraktem Prinzip und starkem Ehrgeiz, aus objektiven Zielen und bloßer Schauspielerei, aus rationalem Argument und schmutzigen Tricks; ihr scheinbarer Abstand von konkreten, messbaren und wirklich notwendigen Dingen – all dies führt zu der verzweifelten Schlussfolgerung : Was auch immer Politiker, Menschen ohne besondere Ausbildung, letztendlich Dilettanten, sagen oder tun, ist nur eine Maske und ein Vor wand für ihr Streben nach Macht, nach Macht um ihrer selbst willen. „Politik !“ ruft Paul Valéry aus, „bei diesem Wort verschlägt es mir die Sprache [...]. Ich halte die politische Notwendigkeit, alles das auszubeuten, was im Menschen das seelisch Niedrigste ausmacht, für die größte Gefahr der gegenwärtigen Zeit.“29z Sorel würde bürgerliche Politik hinzufügen, aber er meint demokratische Politik : den Wettkampf um Macht oder eher um die Gunst der Menschen, die den Preis der Macht in Händen halten. Sorel behauptet, Politik dieses Typs entstand in Europa, genauer : in Frankreich, erst am Ende des 18. Jahrhunderts, als eine Funktion einer neuen Weltanschauung. Dies führt ihn dazu, eine grundsätzliche Neubewertung der Tradition des 18. Jahrhunderts vorzunehmen. Er ver wirft sie restlos als ein kolossales Durcheinander, als eine Entfremdung; und so rechtfertigt sie seine Prophezeiung ihres bevorstehenden Ablebens durch das Wirken des siegreichen Proletariats. „Alle unsere Anstrengungen“, schreibt Sorel, „müssen dahin gehen zu verhindern, daß die bourgeoisen Ideen die aufsteigende Klasse vergiften; deshalb werden wir niemals genug tun können, um das Band zwischen dem Volke und der Literatur des 18. Jahrhunderts zu zerbrechen, [...] um dieses ganze Gerüst konventioneller Lügen zu vernichten und das Prestige zu ruinieren, das jene, die die Popularisierung des 18. Jahrhunderts betreiben, noch immer genießen.“30 Dies erinnert an Mussolinis Prahlerei im Jahre 1926, für die sich viele Parallelen in den Äußerungen von Sprechern des Faschismus und Nazismus finden lassen : „Wir vertreten ein neues Prinzip in der Welt : den ausgesprochenen, kategorischen, endgültigen Gegensatz zur Demokratie, zur Plutokratie, zur Freimaurerei, kurz zu allen unsterblichen Prinzipien von 1789.“31
29z Valéry, Für eine ‚Société des esprits‘, S. 448. Der erste Satz des Zitats konnte nicht belegt werden. 30 Sorel, Les Illusions du progrès, S. 276, 285 f. A. d. Ü. : Siehe auch Freund, Der falsche Sieg, S. 71. 31 Mussolini, Opera omnia, Band 22, S. 109. A. d. Ü. : Siehe auch Mussolini, Schriften und Reden, Band 8, S. 93, Fußnote 16.
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In seiner völligen Ablehnung der Werte des 18. Jahrhunderts und dem bewussten Bestreben, sie durch andere, ja entgegengesetzte Prinzipien zu ersetzen, trennt sich Sorel nicht nur von der liberal - demokratischen Tradition der Moderne, sondern letztlich auch von jeder bis dahin bekannten Schattierung des Sozialismus.
3. Gewalt, Terror und Erneuerung In Les illusions du progrès behandelt Sorel die zentrale Frage, auf deren Grundlage er seinen Kampf gegen die Traditionen des 18. Jahrhunderts führt : jenen Glauben an eine finale heilsbringende Phase des historischen Fortschritts, an die vorherbestimmte Auf lösung aller Widersprüche und Konflikte hin zu einem Zustand der Eintracht, der Harmonie, resultierend aus dem endgültigen Sieg der grundsätzlichen Rationalität und sozialen Natur des Menschen über alle störenden und korrumpierenden Einflüsse der vergangenen Zeiten – Ignoranz und Egoismus, Unterdrückung und böse Lehren. Die wesentlichen Merkmale dieser Religion des Fortschritts waren ihr abstrakter Universalismus und ihr humanitärer Optimismus. Sorel bekundete seine erbitterte Feindschaft gegenüber dieser Religion des Friedens und der Eintracht im Namen einer Religion des Kampfes und Krieges. Er betrachtete die Gegensätzlichkeit beider Denkansätze als fundamental. Sorels treuester Schüler, Edouard Berth, unterstrich dies und berief sich auf Nietzsches kompromisslose Herausforderung („Bist du Pazifist oder bist du kriegerisch ?“) und Proudhons berühmte Abhandlung über den Platz des Krieges im Plan der Zivilisation ( seine Rolle als Inspirator aller großen Werte ). Es gab entweder das eine oder das andere. Jede der beiden Grundhaltungen bestimmte ein Wertesystem, eine Moralität, ein Verhaltensmuster, das jeweils ganz und gar unvereinbar mit dem anderen war; kurz : ein System der Eintracht auf der einen Seite und der Gewalt auf der anderen, der universellen Versöhnung oder des Sieges der Besten. Sorel ignoriert gänzlich die humanistischen und universalistischen Bestandteile des 18. Jahrhunderts sowohl bezüglich ihres ursprünglichen Impulses als auch ihrer ultimativen Vision des Sozialismus.32 Der blinde Optimismus der Rationalisten ruft bei Sorel wütende Verachtung her vor. Er hat eine bösartige Freude am Widerstand, an der Aufsässigkeit
32
Vgl. Sorel, Les Illusions du progrès, S. 316 f.; Berth, Les Méfaits des intellectuels, S. 95–97; Valois, La Monarchie et la classe ouvrière, S. CXXIX–CXXXIII. A. d. Ü. : Diese Fußnote steht im englischen Original ein paar Zeilen weiter oben, wurde in der vorliegenden Übersetzung jedoch an diese Stelle verschoben, da sich Talmons Literaturangaben auf den ganzen Abschnitt beziehen.
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und Unfügsamkeit der Dinge; er ist hypnotisiert von unlösbaren Widersprüchen und Konflikten. Sorel verachtet Descartes, den Philosophen der Klarheit und Harmonie, und verehrt Pascal, den gequälten Propheten, der von der Mystik des Bösen niedergedrückt wird und von einer Sehnsucht nach Erlösung erfüllt ist. Der Erste verkörpert die „kleine Wissenschaft“ des selbstgefälligen Positivismus und des automatischen Mechanismus, der Letzte repräsentiert die „große Wissenschaft“ – die wahre Idee, die über unfassbaren Abgründen schwebt.33 Um ein charakteristisches Beispiel zu nennen, kritisiert Sorel scharf den sozialen Katholizismus der modernistischen Bewegung in der Kirche Leos XIII. und den Versuch, die Mysterien, Absurditäten und Irrationalitäten der offenbarten Religion als Parabeln und Symbole der rationalen Wahrheit und liberalen sozialen Ethik wegzudiskutieren. Natürlich bevorzugt er eine harte, gänzlich unverdauliche Religion. Humanitärer Rationalismus erscheint Sorel als eine kolossale Lüge mit lähmender und korrumpierender Wirkung, die den arroganten und unberechenbaren Wunsch ausgebrütet hat, volle Genugtuung schnell und billig zu erhalten und feige den Realitäten des Lebens und den Lehren der Geschichte zu entfliehen. Dieser Rationalismus vereinfacht die Mysterien der Natur und die Komplexität der Existenz durch seine Enzyklopädien und Gesetzessammlungen, seine wortgewandte Rhetorik und seine Luftschlösser, und er fördert eine gewissenlose Bereitschaft zu Kompromiss und Verhandlung. Konflikt und Krieg sind die Väter aller wahren Moralität und männlichen Verantwortung. Wir brauchen uns nicht durch Sorels teils heftige, teils ziemlich abstruse Kritik von den Wurzeln der Philosophie des 18. Jahrhunderts abbringen zu lassen. Wichtiger für uns ist Sorels Beziehung zur weitreichenden und dauerhaften Entwicklung der rationalistischen Ideologie. Denn die Französische Revolution brachte den befremdlichen Typus des fanatischen, in Eile befindlichen ‚Möchtegern‘ - Retters her vor, der sich selbst befugt glaubt, alle dazu zu zwingen, frei zu sein. Der Ausrottung aller üblen Aufsässigen oder zumindest all jener, die vom Kurs abwichen, all jener, die durch die Geschichte verdammt waren, würde allgemeines Glück folgen. Das üblichere Produkt der „Religion des Fortschritts“ waren jedoch die professionellen Politiker oder Intellektuellen in der Politik, die sich in politischen Parteien zusammenschlossen, um angeblich den Menschen zu dienen und sie in die Richtung des gewünschten Zustandes der sozialen Glückseligkeit zu führen, tatsächlich aber die Menschen mit Versprechungen, Schmeicheleien und Tricks dazu beschwatzten, ihnen die Macht zu überlassen. Ihre progressive Ideologie hatte wenig echte Bedeutung. Rhetorikern, Sophisten, Abenteurern, 33
Vgl. Sorel, Les Illusions du progrès, S. 1–6, 40–46. A. d. Ü. : Zur „Kleinwissenschaft“ siehe auch Sorel, Über die Gewalt, S. 165–175.
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Spekulanten, Clowns – allen war gemeinsam, dass sie sich weder mit wirklichen Problemen beschäftigten, noch in irgendwelchen alten Gruppenloyalitäten wurzelten, noch Teil historischer Institutionen waren : Sie waren letztendlich alle Parasiten. Sie setzten auf die Frustrationen und neidischen Unzufriedenheiten der Menschen. Sie ermutigten das träge Verlangen nach einfacher Genugtuung. Ihre Waffen waren List und Gerissenheit. Gegen „bürgerliche Täuschung und Verfall“ ( mit sozialistischen Politikern als integralem Bestandteil ) gerichtet, zeigt das Erscheinen des Proletariats reinigende ricorsi an. Das Proletariat kommt, um Krieg, nicht um Frieden zu bringen, um Bürden hinzuzufügen, nicht um sie zu mindern; um die Spannung zu erhöhen, nicht um Entspannung zu bieten. Es kämpft weiter im vollen Bewusstsein seines Schicksals, die Erde zu erben : nicht um zu einer Übereinkunft mit dem existierenden Establishment zu gelangen, sondern um es gänzlich auszurotten. Seine Helden sind Kämpfer, keine Politiker, Diplomaten oder Vermittler.34 Das neue, revolutionäre und alles ver wandelnde Prinzip, das mit der modernen industriellen Leistung – in Verbindung mit der Maschine – zusammenhängt, ist ein Instrument der kreativen Freiheit, eine Garantie der Rechtschaffenheit, eine Bildungsdisziplin, ein günstiger Ausgangspunkt, um Dinge in ihrer vollen Greifbarkeit und Interaktion zu sehen – im Gegensatz zur Verschwommenheit, Abstraktheit und Unbestimmtheit wie auch der moralischen Nachlässigkeit und egoistischen Willkür der liberal - demokratischen und sozialistischen Politik, ja der bürgerlichen Gesellschaft im Allgemeinen. Sorels Bezugspunkte, Metaphern und Gleichnisse entstammen alle den Bereichen der religiösen Bewegungen und des Krieges. Die häufigsten Worte sind Ehre und Ruhm, Großartigkeit, Heldentum, Männlichkeit und Erhabenheit. Er vergleicht Gewerkschaften und die von deren Seite drohenden Generalstreiks mit den frühen Christen oder den extremen protestantischen Sekten, die auf die Wiederkunft Christi warten, sowie mit Mönchsorden, die entstanden waren, um die Kirche zu reinigen.35 Sorel sagt wieder und wieder, es sei ohne Bedeutung, dass diese historischen Erwartungen niemals erfüllt worden seien. Von Bedeutung sei nur, dass in jedem Fall der Mythos genug Dynamik entfaltete, um die Entschlossenheit der Gläubigen zu bestärken und sie in kleine Königreiche Gottes zu ver wandeln – mit einem Ethos, einer hohen Moralität, ja einer eigenständigen Kultur, in energischer Opposition zu der verkommenen Welt um sie herum. Das stolze Selbstbewusstsein, eine höhere Zivilisation und Moralität zu repräsentieren, musste die Arbeiter zu puritanischen Tugenden inspirieren : Liebe zur Arbeit um ihrer selbst willen, Präzision 34 35
Vgl. Sorel, Les Illusions du progrès, S. 9 f., 54–57, 80–92, 135 f., 146–150, 184 f. Vgl. Sorel, Über die Gewalt, S. 332 f.
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und Loyalität, Pflege des Erbes der zukünftigen Generationen dieser Erde. Das erlöste Proletariat würde vor allem durch die heldenhafte Selbstlosigkeit und Uneigennützigkeit gekennzeichnet sein, wie sie für Kreuzzüge und Soldaten der Freiheit besonders kennzeichnend sind. Um selbst rein und standhaft zu bleiben, war es für die Arbeiter absolut notwendig, sich selbst gänzlich von der unverbesserten Welt abzugrenzen. Das bedeutete als Erstes, die Vormundschaft der Politiker und Intellektuellen mit all ihren Machenschaften und korrupten Praktiken abzuschütteln. Als Zweites bedeutete es Klassenkampf à l’outrance: keine Verhandlungen mit Arbeitgebern. Je isolierter die Gewerkschaften waren, desto mehr würden sie auf ihre eigenen Ressourcen zurückgeworfen; desto bewusster würden sie sich ihrer eigenen Identität und hohen Berufung; desto reicher und tiefer und authentischer würden ihre eigenen Werte. Über direkte Aktionen und Streiks werde der Kampf auch schrittweise ein neues und gänzlich autonomes juristisches System herausbilden, das auf der Moralität einer Bruderschaft im Krieg basiere. Krieg würde – Proudhons Vorstellung gemäß – die Tugenden des Heldentums, totale Hingabe, ein Solidaritätsgefühl, Recht und Ehre her vorbringen. Die Streiks würden sicher neue Konzepte und neue Modelle der Beziehung zwischen Führern und Geführten erzeugen und stärken ( die Ersteren verkörperten den wahren Allgemeinen Willen und nicht den mystischen Allgemeinen Willen der Demokratie Rousseaus ). Die Besetzung von Fabriken würde die Arbeiter daran gewöhnen, sich selbst als die legitimen Besitzer und Lenker des sozialen Wohlstands zu sehen. Der physische Zusammenstoß mit Arbeitgebern, der Staatsgewalt und Streikbrechern würde die Streikenden lehren, Gewalt zu gebrauchen. Gestützt durch den Geist einer revolutionären Armee, würden die Arbeiter nicht durch Neid, Rachelust oder Beutegier, geschweige denn von Selbstmitleid bewegt werden. Sie wünschten einen sauberen Kampf – ein Gottesurteil – in der heldenhaften Tradition des mittelalterlichen Rittertums. Aber ihr Feldzug wurde auch im Geiste einer napoleonischen Entschlossenheit, den Feind zu vernichten, betrachtet.36 Es war die Idee des Generalstreiks, die das Proletariat in seinem heldenhaften Kampf inspirieren und bestärken sollte. Der Generalstreik bildete den großen Mythos, aber er war eindeutig keine utopische Idee. Die Utopie war nach Sorel ein intellektuelles Projekt, die Beschreibung einer erstrebenswerten Situation, die eine Verbesserung im Vergleich zu der derzeit existierenden darstellen würde. Der Mythos war jedoch keineswegs eine Wahrheit, die analysiert und seziert werden musste, sondern eine Macht, welche die Seele berührt, ein Ensemble von Vorstellungen, das all unsere Fähigkeiten fordert und antreibt.37 36 37
Vgl. ebd., S. 129–131. Vgl. ebd., S. 43 f.
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Auf ihn waren all unsere Antriebe und Bestrebungen, Träume und Hoffnungen gerichtet. Er war eine Vision des Lebens als Drama, ein Aufruhr der endgültigen Erfüllung wie der revolutionäre Durchbruch oder die Parusie, die Wiederkehr des Messias oder der letzte Befreiungskrieg. Der Mythos setzte den Menschen nicht als ein Geschöpf des Verstandes voraus, sondern als ein beeinflussbares Wesen, dessen intuitives Verständnis von und Reaktion auf eine moralisch erbauliche, heldenhafte Idee ihn zu jenem élan vital hinrisse, der ihm den Bereich der kreativen Freiheit eröffnete. Er würde dann aufhören, ein Glied in der Kette der natürlichen Kausalität zu sein und sich ( im Geiste Henri Bergsons ) in Richtung eines einzigartigen Schicksals bewegen.38 Der Generalstreik bedeutete den Sieg der Gewalt am Ende einer Reihe von Konflikten. Sorels eloquente Schriften lesen sich wie eine poetische Beschwörung, eher wie eine Prophezeiung als eine Prognose oder ein Entwurf. Wir wissen nicht, wie das große Drama der Gewalt sich wirklich entfalten sollte. Uns wird versichert, es werde sich weniger in Blutvergießen oder Akten der Brutalität mit vielen Opfern oder unermesslicher Zerstörung ausdrücken. Dies geschähe nur in geringem Umfang; es werde eher den Charakter einer Warnung haben. Was Sorel im Sinn gehabt zu haben scheint, ist der über wältigende Wille zum Sieg, die höchste Zuversicht von Eroberern, die eiserne Entschlossenheit, bis zum bitteren Ende zu gehen, angesichts derer jener Gegner ins Straucheln gerät, dem es an der Überzeugung und Selbstsicherheit derjenigen fehlt, die das augenscheinliche Schicksal verkörpern und sich dessen bewusst sind. „Eine auf der Feigheit des Bürgertums beruhende Sozialpolitik, die darin besteht, stets vor der Drohung mit Gewalttätigkeiten zurückzuweichen, muß unfehlbar die Idee erzeugen, daß das Bürgertum zum Tode verurteilt und sein Verschwinden nur noch eine Frage der Zeit sei. Jeder Konflikt, der zu Gewalttätigkeiten Anlaß gibt, wird derart ein Vorpostenkampf, und niemand vermöchte vorherzusehen, was aus solchen Gefechten her vorgehen kann. [...] Jedesmal, wo man ins Handgemenge kommt, [ meinen ] die Streikenden die große napoleonische Schlacht ( diejenige, die die Besiegten endgültig zermalmt) anheben zu sehen; derart wird durch die Praxis der Streiks die Vorstellung einer katastrophalen Revolution erzeugt.“39 Zu einem späteren Zeitpunkt definierte Sorel Gewalt als „eine geistige Lehre, de[ n ] Wille[ n ] mächtiger Geister, die wissen, wohin sie gehen“, als die unerbittliche Entschlossenheit, die endgültigen Ziele des Mar xismus durch Syn38 39
Vgl. ebd., S. 138 f., 141 f., 143–145. A. d. Ü. : Der Begriff „élan vital“ wurde von Henri Bergson geprägt. Ebd., S. 79. Vgl. auch ebd., S. 30 f., 37 f., 41 f., 65, 67 f., 73 f., 75, 89 f., 94, 97, 134 f., 138 f., 154, 160.
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dikalismus zu erreichen. Lenin hat uns mit einem eindrucksvollen Beispiel dieser psychologischen Gewalt ausgestattet.40 Die Entschlossenheit der Gegner und das Schwanken der Angegriffenen bedingten sich gegenseitig. Die Möglichkeit und die Bereitschaft, zur Gewalt Zuflucht zu nehmen, wurde eine Frage des Glaubens und der Zugehörigkeit zu den Erwählten. „Das Proletariat organisiert sich [...], indem es sich als die große Triebkraft der Geschichte ansieht [...]; es hegt das sehr deutliche Gefühl des Ruhmes, [...] seine[ r ] geschichtliche[ n ] Rolle [...] und des Heldentums [...]; [ es sehnt sich danach ], das volle Maß seines Wertes [ zu ] erweisen.“41 Sorel greift dabei auf das Vokabular einer ernsten Entschlossenheit zurück. Der letzte Gewaltakt beim siegreichen Streik wäre „nicht mehr als die notwendige Anstrengung, die alten Zweige auf den Boden fallen zu lassen“.41z Der Fall würde dem letzten Brechen des Gletschers ähneln, der sich von seiner alten Grundlage löst, „nachdem ihm die Sonne über Jahrhunderte zugesetzt hatte“.42 Eine Apologie der Gewalt?42z Sorel widmete einige Seiten der Unterscheidung, die später zum Allgemeingut der Ideologen der Gewalt jeglicher Art werden würde. Zwang war ein Instrument, die bestehende Macht ( heutzutage als Establishment bezeichnet ) zu behaupten. Ziel der Macht ist, „die Organisation einer bestimmten sozialen Ordnung aufzurichten, in der eine Minderheit regiert, während die Gewalt auf die Zerstörung eben dieser Ordnung hinzuwirken strebt. Das Bürgertum hat seit Beginn der Neuzeit die Macht angewendet, während heute das Proletariat gegen sie und gegen den Staat auf dem Wege der Gewalt reagiert.“43 Diese Gewalt war versteckt und getarnt, operierte nicht so sehr mit den Waffen des direkten Zwanges, sondern manipulierte die Hebel der Macht, blockierte heimtückisch alle Versuche einer Veränderung oder beraubte sie schlau jeder Effektivität, während auf Formen und Ritual großen Wert gelegt wurde. „So sehen wir ökonomische Kräfte sich in engster Weise mit der politischen Kraft vermischen und endlich den Kapitalismus sich bis zu einer Stufe ver vollkommnen, wo er einer direkten Anrufung der öffentlichen Macht, abgesehen von ganz außergewöhnlichen Fällen, nicht mehr bedarf.“43z
40
Variot, Propos de G. Sorel, S. 55–57, Zitat : 55. A. d. Ü. : Siehe auch Freund, Der falsche Sieg, S. 83. 41 Sorel, Über die Gewalt, S. 197. Siehe auch ebd., S. 252 f., Anhang 2 : Apologie der Gewalt, S. 339–341. 41z Sorel, L’Éthique du socialisme, S. 289. 42 Variot, Propos de G. Sorel, S. 43; Sartre, Georges Sorel, S. 191. 42z Zu finden in : Sorel, Über die Gewalt, Anhang 2 : Apologie der Gewalt, S. 339–341. 43 Sorel, Über die Gewalt, S. 203. 43z Ebd., S. 206.
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Sorel zeigt eine interessante Neigung zur mar xistischen Beschreibung des bürgerlichen Staates als der Exekutive der ausbeutenden Klassen ( und zu Engels’ Anprangerung des parlamentarischen „Schwachsinns“), indem Intellektuelle und Politiker mit Kapitalisten und ihren Handlangern gleichgesetzt werden : „Die auf Wahlen eingestellte Demokratie ähnelt in hohem Maße der Börsenwelt; in beiden Fällen muß man auf die Naivität der Massen einwirken, die Mitwirkung der großen Presse erkaufen und durch eine Unzahl von Listen ‚dem Zufall zu Hilfe kommen‘; es besteht wirklich kein großer Unterschied zwischen einem Finanzmann, der aufsehenerregende Geschäfte, die in ein paar Jahren scheitern werden, auf dem Markte einführt, und dem Politiker, der seinen Mitbürgern eine Unzahl von Reformen verspricht, von denen er nicht weiß, wie er sie zum Ziele führen kann, und die sich somit lediglich in eine Anhäufung von Parlamentspapier umsetzen werden. [...] Demokraten wie Geschäftsleute verfügen über eine ganz eigene Wissenschaft, um ihre Gaunereien durch Beschlüsse von Versammlungen gutheißen zu lassen; [ es hängt ] mit diesen tiefen psychologischen Ver wandtschaften zusammen [...] : die Demokratie ist das Schlaraffenland, wie es sich die skrupellosen Finanzleute träumen.“44 Kurz, das Regime des bürgerlichen Liberalismus beruhte auf Gerissenheit und Vorgaukelung. Sorel erklärte die Gewalt, die er predigte, als edel und ritterlich, weil sie offen und direkt war und eine volle und unmissverständliche Verbindlichkeit festlegte, ohne Täuschung, Zurückhaltung oder bequeme Rückzugswege. Wie beim Terror ging es immer nur darum, Angst oder Selbstbewusstsein durch Demonstration zu erzeugen. Andreu nennt jenen Satz „extraordinär“, in dem Sorel sich fragte, „ob der Terror durch die Vernichtung so vieler Gebildeter und Ideologen Frankreich nicht einen Dienst erwiesen hat. Vielleicht hätte Napoleon seine Ver waltung nicht so leicht konsolidiert, wenn seinem Regime nicht eine große Säuberungsaktion vorausgegangen wäre.“45 Gewalt war letztendlich das Zeichen der Authentizität. Der Umschwung von der Heuchelei ( die nur ein anderer Weg war, um das Streben nach „Authentizität“ auszulegen ) führte zur Verherrlichung von Instinkt und Zwang und zur Verachtung der unaufrichtigen Menschen, besonders der Intellektuellen. Je größer die Verachtung der üblichen „Falschheit“, desto größer der Ruhm der Gewalt. Sorel dachte über die Unterschiede zwischen der Schwere nach, mit welcher alte, heldenhafte Gesellschaften Betrug und Täuschung straften ( während man nachsichtig mit Gewaltverbrechen umging ), und den schweren Strafen für Gewaltverbrechen ( verbunden mit der nachsichtigen Behandlung der 44 45
Ebd., S. 268 f. Andreu, Notre maître G. Sorel, S. 192.
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Betrüger ) in modernen kommerziellen Gesellschaften. Er tadelte die rohe Gerechtigkeit, die dem Täter durch primitive Gesellschaften gemäß ihrer alten Auffassung von Ehre widerfuhr. Sicher hätte der Messerstich eines ehrlichen, aber gewalttätigen Menschen weniger ernsthafte moralische Konsequenzen als Diebstahl und Betrug oder die Ausschweifungen der Lust. Denn die Barbarei, klagte Sorel, neige dazu, durch List ersetzt zu werden.46 Zu Beginn des Ersten Weltkrieges spekuliert Sorel über zwei mögliche Wege, den bürgerlichen Verfall und die ihn begleitende sozialistische Demoralisierung zu hemmen. Am Ende der Insegnamenti sociali della economica contemporanea schreibt er, dass „ein großer Krieg [ den er als nicht wahrscheinlich ansieht ] die Unterdrückung der Ursachen zur Folge haben mag, welche heute dazu neigen, den Geschmack der Mäßigung und das Streben nach sozialem Frieden vorzuziehen“.46y Er werde sicher „Menschen, die den Willen haben, zu regieren“, an die Macht bringen.46z Sorels andere Hoffnung ist „eine starke Ausdehnung der proletarischen Gewalt, die den Bürgern die revolutionäre Wirklichkeit zeigen und ihnen die humanitären Plattheiten verleiden würde, mit denen Jaurès sie einschläfert“.47 In der Tat will Sorel, dass die Kapitalisten kämpfen, dass sie an sich selbst und an ihre Klasseninteressen glauben und wie die frühen Großindustriellen oder die amerikanischen Räuberbarone agieren. Sollen sie sich um ihr eigenes Geschäft kümmern und nicht wie Philanthropen mit einem sozialen Bewusstsein handeln, immer bereit zu vermitteln und nachzugeben. Diese Weichheit war ein Zeichen der Ver weiblichung, und sie demoralisierte die Arbeiter. Indem sie wären, was die Geschichte für sie vorsah – raue und rücksichtslose Aufgabensteller –, würden die Arbeitgeber ihr Potential bis zum Letzten entwickeln, ihre Arbeiter als Kämpfer auf Trab halten und damit den Tag der Konfrontation schneller näher rücken lassen. „Wenn die herrschenden Klassen nicht mehr den Mut haben zu regieren und sich der Vorrechte ihrer Lage schämen, wenn sie sich ereifern, ihren Feinden Entgegenkommen zu beweisen und ihren Abscheu vor jeder Spaltung in der Gesellschaft verkünden : dann wird es schwieriger, im Proletariat jene Idee der Spaltung aufrechtzuerhalten, ohne die es dem Sozialismus unmöglich sein würde, seine historische Rolle zu erfüllen.“48 46
Vgl. ebd., S. 183; Sorel, Über die Gewalt, S. 114 f. A. d. Ü. : Siehe auch Sorel, Über die Gewalt, Kapitel 6, Unterkapitel II, S. 223–236, bes. Abschnitt B. 46y Sorel, Insegnamenti sociali della economica contemporanea, S. 338. A. d. Ü. : Siehe auch Sorel, Über die Gewalt, S. 91 ( Fußnote ). Hier heißt es : „Die Annahme eines großen europäischen Krieges erscheint im Augenblick als nicht sehr wahrscheinlich.“ 46z Sorel, Über die Gewalt, S. 90 f. 47 Sorel, Über die Gewalt, S. 91. 48 Ebd., S. 221.
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Reformistische Sozialisten, die als Friedensstifter fungieren wollten, die für den „sozialen Frieden“ und die nationale Einheit arbeiten, waren Verräter der Arbeiterklasse und Zerstörer der Moralität. „Schließlich [...] wurde der Antipatriotismus ein wesentliches Element des syndikalistischen Programms [...], mit dem Syndikalismus untrennbar verbunden.“49 In Worten, die an Lenins Elitismus erinnern, sagt Sorel, die Gewerkschaften müssten sich weniger um die größtmögliche Anzahl von Anhängern als um die Organisation der energischen Elemente bemühen; revolutionäre Streiks wären ausgezeichnet dazu geeignet, ein solches Ergebnis durch Ausjäten der Pazifisten herbeizuführen.50
4. Zwischen Marx und Mussolini Wie würde die Situation am Tag nach dem siegreichen Generalstreik aussehen? Welche Art der Gesellschaft war wünschenswert oder würde wahrscheinlich entstehen ? Hier ist Sorel ärgerlicher weise vage und macht viele Ausflüchte. Er hatte den Utopismus von Anfang an zurückgewiesen. Er glaubt an die unvorhersehbare Bergson’sche Kreativität des élan vital. Er war bereit, Mussolinis berühmter Phrase zuzustimmen : „Jedes System ist eine Täuschung, jede Theorie ist ein Gefängnis.“50v Aber was Sorel zum Thema sagt, erinnert sehr stark an Lenins alt - linke Konzeptionen aus Staat und Revolution und an die heutigen Auffassungen der „Neuen Linken“.50w Sorel lehnt die Idee jeglicher Führung, Über wachung oder Kontrolle von außen und oben ab ( diese Aufseher würden immer an die nächste Wahl denken ). Er konnte sich keine Tribunale, Strafen oder Gefängnisse vorstellen, um das siegreiche Proletariat zu bezwingen. Es würde keine Notwendigkeit für irgendetwas dieser Art geben. Gefestigt in der revolutionären Ideologie und durch das Feuer des Streiks gehärtet, würden die Arbeiter in der Art wahrer Soldaten der Freiheit ( oder viel49
Ebd., S. 222 ( siehe auch die Fußnote ). A. d. Ü. : Im französischen Original „Réflexions sur la violence“ heißt es in der entsprechenden Fußnote auf S. 281 : „L’essentiel est que pour les ouvriers révolutionnaires l’antipatriotisme apparaisse inséparable du syndicalisme.“ Auch in der deutschen Fassung ist an jener Stelle von „Syndikalismus“ die Rede. In der englischen Fassung jedoch liegt offensichtlich ein Übersetzungsfehler vor. Es heißt : „Anti - patriotism appears an inseparable part of Socialism.“ Siehe Sorel, Reflections on violence, S. 187. Da sich Talmon an der englischen Fassung orientiert hat, ist auch bei ihm von einem „inseparable part of Socialism“ die Rede. Dies wurde in der vorliegenden Übersetzung korrigiert. 50 Vgl. ebd., S. 335 f. 50v Balte, Mussolini, S. 74. Ein Zitat aus einer Rede oder einem Artikel Mussolinis ist nicht nachweisbar. 50w Vgl. Lenin, Staat und Revolution.
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leicht von Gotteskriegern ) eine her vorragende Mischung aus Würde, Stolz, individualistischer Eigenständigkeit sowie enthusiastischer Bereitschaft und Befähigung entwickeln, um sich in kooperativer Weise zu engagieren. Sie würden daher in ihrer völligen Einmütigkeit total frei sein. Die Schlüsselworte sind hier „Häufungen heldenhafter Taten“,50x „für welche die Quelle ihrer guten Führung in ihrer Begeisterung floß“,50y „was die Stelle der späteren Disziplinidee vertrat“,50z „mit dem größtmöglichen Ungestüm voran“.51 Wenige Zeilen später macht Sorel die sehr aufschlussreiche Bemerkung, dass, als Ergebnis seines leidenschaftlichen Individualismus auf der einen Seite und seines feinen Gespürs für Verantwortlichkeit auf der anderen, der Soldat der revolutionären Armeen „für die Generäle oder die Beamten, die er nach irgendeiner Niederlage unter der Anschuldigung der Pflichtversäumnis hinrichten sah, keinerlei Mitleid verspürte; [...] der Mißerfolg konnte sich eben in seinen Augen durch nichts anderes erklären als durch einen sehr schweren Fehler, für den seine Führer verantwortlich zu machen seien. [...] veranlaßten [ ihn ], harte Maßregeln gegen Männer gutzuheißen, die nach seiner Anschauung am Unglück der Armee und an der Fruchtlosigkeit so vielen Heldenmutes schuld waren.“52 Offensichtlich erscheint da, wo absolute Perfektion vorherbestimmt ist, jedes Versagen als bösartig, per vers und verräterisch. Wo Einmütigkeit – eine Einmütigkeit, die konstant erneuert wird – als unvermeidlich erachtet wird, muss jede abweichende Meinung als willkürlich und eigennützig erscheinen. Einmütigkeit muss mit allen Mitteln hergestellt werden. Der Weg von der perfektionistischen Anarchie zum demokratischen Zentralismus ( vielleicht besser totalitäre Demokratie genannt ) ist nicht weit. Und dennoch, auch wenn es viele und starke Berührungspunkte zwischen Sorel und dem Bolschewismus geben mag, der Geist und die Stimmung, die seine Schriften durchziehen, passen in keiner Weise zur proletarischen Mentalität und sind der mar xistischen Philosophie und sozialistischen Werten fremd. Nicht ohne Grund reagierte ein syndikalistischer Führer, als man ihn fragte, ob er von Sorels Arbeit beeinflusst worden sei, mit einem Schulterzucken und der Antwort, er lese nur Alexandre Dumas!52y Die Realität sah anders
50x 50y 50z 51 52 52y
Sorel, Über die Gewalt, S. 292. Ebd., S. 292 f. Ebd., S. 294. Ebd., S. 295. Ebd., S. 299 f. Vgl. Dolléans, Proudhon, S. 491. Bei dem genannten sozialistischen Führer handelt es sich um Victor Griffuelhes, den Generalsekretär (1902–1909) der „Confédération générale du travail“ ( Allgemeiner Gewerkschaftsbund ).
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aus. Von wirklichen Arbeitern konnte kaum erwartet werden, dass sie Aufrufen zu heroischer Selbstverleugnung Gehör schenkten, um die erhabene Moralität eines anderen auf den Thron zu erheben, oder sich mit der Vorstellung anfreundeten, dass sie übermenschliche Anstrengungen im Namen irgendeiner Mythologie unternehmen sollten. Trotz Sorels hartnäckiger Beteuerung, als „glaubwürdiger Diener des Proletariats“52z in Erinnerung bleiben zu wollen, trennt er sich entschieden vom Sozialismus und nähert sich dem Faschismus. Es ist wahr, dass Lenin, wie Marx vor ihm, einen elitären Ton anschlug; er attackierte das Bürgertum ( und mit ihm die Menschewiki und Sozialrevolutionäre ) wegen ihres Spießbürgertums, ihrer Schlaffheit, ihrer Heuchelei und lobte die Entschlossenheit und Bestimmtheit seiner eigenen revolutionären Kämpfer. Dennoch waren heldenhafte Qualitäten für ihn niemals Selbstzweck, sondern nur ein Mittel, um schnell zu einem endgültigen Regime der sozialen Gerechtigkeit zu gelangen; sie waren allenfalls Zeichen der Hingabe. Die Entfaltung von Dynamik oder die Errungenschaften des Ruhmes sind keine Werte an sich. Die sozialistische Revolution wird nicht gemacht, um eine höhere Art des Menschen zu schaffen. Die Institutionen des sozialistischen Systems erzeugen ganz sicher bessere Menschen : besser vor allem, weil sie weniger habgierig und kooperativer, rationaler und zivilisierter sind; aber sicher nicht, weil sie von einem kampf lustigen Drang zur Selbstentfaltung als Mitglieder irgendeiner höheren Elite oder eines Herrenvolks erfüllt sind. Nichts ist dem Sozialismus fremder als Nietzscheanismus. Daher kann man die Lehren Sorels kaum als Sozialismus bezeichnen. Was sie tatsächlich darstellen, ist eine nietzscheanische Zurückweisung bürgerlichen Kleingeistes und bürgerlicher Täuschung sowie eine Philosophie der Elite in der Art Nietzsches, die auf das Proletariat angewandt wird. Sorel drehte den Spieß Nietzsches um. Während der Prophet von Der Wille zur Macht die sozialistische Ideologie als eine Sklavenethik anprangerte, erwartete Sorel eine Neubewertung aller Werte und die Inthronisierung einer heldenhaften Zivilisation, die aus dem Proletariat erstehen werde. Seine Gewerkschaften waren aufgefordert, die soziale Führung zu übernehmen, die in der Vergangenheit von den herrschenden Familien einer Aristokratie ausgeübt wurde.53 Der Ausgangspunkt beider Denker war ( wie bereits erwähnt ) derselbe : die Abscheu vor der Schäbigkeit, Scheinheiligkeit, Niederträchtigkeit und Mittelmäßigkeit der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Das Wiederauf leben heldenhafter Tugenden war für beide Propheten ein Zweck an sich. Es ist kaum zutreffend, wenn man sagt, Sorels Ziel habe darin bestanden, den politischen 52z Sorel bezeichnete sich in seiner Widmung zu seinem Werk „Matériaux d’une théorie du prolétariat“ als „ser viteur désintéressé du prolétariat“. 53 Vgl. Sorel, Über die Gewalt, S. 288 f.
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autoritären Staat der bürgerlichen Intellektuellen durch „ein Netzwerk freier Gewerkschaften“ zu ersetzen. Dieser neue Typ sozialer Organisation hatte in seinen Augen keinen Nutzen an sich, nur den eines Instrumentes der neuen heroischen Moral. Trotz Sorels Beschäftigung mit juristischen Konzepten und Institutionen war seine Absicht wirklich eine Veränderung der Herzen und nicht eine neue institutionelle Ordnung. Sorels Verherrlichung des Sinnes des sichtbaren Schicksals, des Willens zur Eroberung und der Freude am Kampf als Väter aller heldenhaften Tugenden ver wandelt diese von bloßen Mitteln in einen Selbstzweck. Heldenhaft für was ? In letzter Konsequenz spielte der Zweck keine große Rolle. Im Grunde sprach Sorel mit tiefer Bewunderung von den heldenhaften Qualitäten der Bourgeoisie in ihren besten Jahren. Er ermahnte das Proletariat, kämpferisch und kompromisslos zu sein, so dass sogar ihre ver weichlichten menschenfreundlichen Arbeitgeber die kriegerischen Tugenden, welche die frühen Großindustriellen charakterisierten, wiederherzustellen vermochten.54 Sorel setzte auf das heldenhafte Proletariat und nicht auf die wiedergeborene Bourgeoisie – wie er es vielleicht hätte tun können und wie es tatsächlich einige seiner Anhänger taten –, weil er scheinbar im Hegel’schen Sinne annahm, dass die nächste Phase der Geschichte dem Proletariat gehöre. Er tat dies nicht, weil er das Proletariat als eine unterdrückte Klasse erlösen wollte. Er sprach mit der gleichen Bewunderung vom Heldentum der Spartaner, den frühen Christen, den apokalyptischen protestantischen Sekten, den Mönchsorden, den Soldaten der Grande Armée und den Anhängern Mazzinis. „Und dies eine wird in den allgemeinen Verfall der moralischen Werte nicht mit hineingezogen werden : wenn nur die Arbeiter genügend Energie aufbringen, um den bürgerlichen Verderbern den Weg zu versperren, indem sie auf ihr Entgegenkommen mit der deutlichsten Brutalität antworten. [...] Die Verbindung zwischen dem Sozialismus und der proletarischen Gewalt, die ich zu Beginn dieser Untersuchungen aufgewiesen hatte, erscheint uns jetzt in all ihrer Macht. Der Gewalt verdankt der Sozialismus die hohen moralischen Werte, durch die er der modernen Welt das Heil bringt.“55 „Die proletarische Gewalt erscheint derart [...] als etwas sehr Schönes und sehr Heldenhaftes [...] im Dienste der zutiefst begründenden Interessen der Zivilisation [...]; sie vermag die Welt vor der Barbarei zu erretten. [...] Grüßen wir daher die Revolutionäre, wie die Griechen die spartiatischen Helden grüß-
54 55
Ebd., S. 90. Ebd., S. 305 f.
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ten, die die Thermophylen verteidigten und so dazu beitrugen, der antiken Welt das Licht zu erhalten.“55y Die Wende kam bald : Sorel lehnte den Syndikalismus als „Hyper - Demagogie“ ab – wie er den Sozialismus zuvor wegen seiner „Demagogie“ und „Dummheit“ abgelehnt hatte. Sorel stolperte in eine neue Sicht der historischen Möglichkeit ( oder wurde dazu verlockt ) : die extrem nationalistisch - royalistische Rechte als Kandidat für ein Wiederauf leben der Kraft und des Heldentums. Er erteilte einem bizarren Liebäugeln einer Handvoll junger Enthusiasten der syndikalistischen Linken mit der extremen Rechten seinen Segen. Es handelte sich nicht wirklich, soweit es Sorel selbst betraf, um eine freudenvolle Vermählung mit der royalistisch - nationalistischen Sache; eher war es eine halbherzige, angespannte, durch eine gewisse Unstimmigkeit erschwerte Beziehung. Aber die jungen Schüler, die vom Syndikalismus kamen und noch keine ungeschehen zu machende Vergangenheit hatten, waren ebenso wie jene, die vom Integralen Nationalismus kamen, fähig, die Angelegenheit mit ungetrübter Wonne zu genießen. Ein wichtiges Ereignis in Sorels Annäherung an die Rechte war sein Artikel über Charles Péguy mit dem Titel Le Mystère de la Charité de Jeanne d’Arc (1910).55z Darin begrüßte er das stolze und herausfordernde Wiederauf leben des traditionellen katholisch - französischen Patriotismus und Militarismus als die Rache der Anti - Dreyfusianer an dem „Abschaum der Humanität“ der Sorbonne ( und der Demokratie im Allgemeinen ).56 Sorel prophezeite, diese alt neue Idee sei dazu bestimmt, das zeitgenössische Denken anzuleiten. Die programmatische Erklärung der Cité Française, des totgeborenen Organs der syndikalistisch - nationalistischen Allianz, wurde unterzeichnet von Sorel ( der es entwarf ), seinen beiden Schülern Georges Valois und Édouard Berth und den beiden Royalisten Pierre Gilbert und Jean Variot ( dem Autor der Propos de Georges Sorel ). Das Ziel der Herausgeber war es, die „französische Intelligenz von all jenen Ideologien zu befreien [...], welche Europa im letzten Jahrhundert dominierten“.57 Egal welche Unterschiede sie trennten, sie 55y Ebd., S. 106 f.; Andreu, Notre maître G. Sorel, S. 178. Siehe zum letzten Satz des Zitats auch Freund, Der falsche Sieg, S. 77, hier weicht jedoch die deutsche Übersetzung etwas von jener in „Über die Gewalt“, die hier wiedergegeben wird, ab. 55z Vgl. Sorel, Le Réveil de l’âme française. 56 Andreu, Notre maître G. Sorel, S. 71 f. A. d. Ü. : Siehe auch Sorel, Le Réveil de l’âme française, S. 1. 57 Andreu, Notre maître G. Sorel, S. 327. A. d. Ü. : Im Original heißt es konkret : „L’œuvre d’organisation est aujourd’hui entravée, souvent rendue impossible, par les idéologies qui ont eu cours en Europe au siècle passé. La première nécessité est donc de libérer l’intelligence française de toutes ces idéologies.“ Zur Zeitschrift „Cité française“ siehe auch Meisel, The Genesis of G. Sorel, S. 183–185.
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waren vereint in der Meinung, dass „für jegliche Lösung der Probleme der modernen Welt [...] es absolut notwendig sei, die demokratischen Institutionen zu zerstören [...] als die größte soziale Gefahr für alle städtischen Klassen, an erster Stelle für die Arbeiterklassen. Demokratie vermischt die Klassen, um einige Gruppen von Politikern, die mit Finanziers verbunden sind oder von ihnen dominiert werden, zu befähigen, die Produzenten auszubeuten.“57z Die Herausgeber verpflichteten sich, das Selbstbewusstsein jeder sozialen Klasse durch die Entwöhnung von den verdummenden Lehren der Demokratie zu heben und ihre ursprüngliche Kraft und ihren Sinn für ihre Mission wiederherzustellen. Für einige Jahre wirkte Sorel regelmäßig an der nationalistischen L’Indépendance mit; auch tauchte er wie ein wider williger Schutzpatron im Cercle Proudhon auf, wo seine Schüler und die jungen rechten Enthusiasten ( Henri Lagrange, Gilbert Maire, René de Marans, André Vincent) versuchten, mit dem Segen von Maurras, Barrès und anderer nationalistischer Koryphäen, eine Art von französischem nationalen Sozialismus zu entwickeln – Proudhon gegen Marx –, der die Demokratie bekämpfen würde, „der irr witzigste der Träume [...], ein tödlicher Fehler“. Kapitalismus war ebenfalls der Feind : „Das kapitalistische Regime, das in der Gesellschaft zerstört, was die demokratischen Ideen im Bereich des Geistes zerstören, die Nation, die Familie, die Sitten, ersetzt das Gesetz des Goldes durch das Gesetz des Blutes.“58
5. Nihilismus : von Sorel zu Valois Derjenige, der Sorel als den Grundstein für eine wahre und vollblütige faschistische Philosophie nutzte, war Georges Valois. Valois wurde der „gescheiterte“ französische Mussolini genannt, weil er 1925 versucht hatte, den Triumphzug des Duce nach Rom nachzuahmen ( und dem es nicht gelungen war, Paris zu erreichen ).59 Er begann als einer der wildesten jungen Linken im linken Spektrum und zog dann jahrelang durch die Welt – nach Südostasien, Russland und zu anderen weit entfernten Orten. Bei seiner Rückkehr nach Paris erlebte Valois eine Offenbarung : die Idee der elitären Autorität. Er schrieb ein Buch mit dem Titel L’homme qui vient. Philosophie de l’autorité und widmete es den
57z Andreu, Notre maître G. Sorel, S. 327. 58 Ebd., S. 84. Vgl. auch ebd., S. 67 f. ( auch die Fußnote ). Außerdem : Meisel, The Genesis of G. Sorel, S. 185–190. 59 Vgl. Nolte, Three Faces of Fascism, S. 473 ( Anmerkung 54); Eugen Weber, Nationalism; Guchet, Georges Valois; Sternhell, La Droite révolutionnaire en France, S. 364– 372, 385–400.
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„jungen, dynamischen Menschen, deren intellektuelle Fähigkeiten jedoch betäubt und deren Muskeln durch Wollust ermüdet waren“,59y als Ergebnis einer Philosophie der moralischen Anarchie, die seit Generationen die Beseitigung aller Beschränkungen gelehrt hatte. Valois definiert sein neues Ideal als „Arbeit und ihre Bedingungen : Autorität und der Staat“.59z Er beabsichtigt, die „horde juive triomphante“ der Dreyfus - Affäre aufzuhalten.60 Valois rief den Krieg gegen die drei Propheten aus, die „den Ruin über die moderne Welt brachten, [...] drei große Kriminelle, drei große Betrüger, Väter der Lügen [...] Jean - Jacques Rousseau, der falsche Mann der Natur, Immanuel Kant, der falsche Mann der Pflicht, und Karl Marx, der falsche Mann der Notwendigkeit“.60z Valois macht seine eigenen Propheten aus : an erster Stelle Sorel; dann Charles Maurras, Carlyle, Kipling, H. G. Wells; den mittler weile vergessenen Wissenschaftler René Quinton; die alten Meister ( de Maistre, de Bonald, Auguste Comte und Taine ), aber vor allem Nietzsche. „Ich verdanke Nietzsche meine Befreiung. Zu der Zeit, als wir durch den demokratisch - humanitären Sumpf wateten, [...] unsere Energie in der Bemühung, unwichtige Probleme zu lösen, verschwendeten, [...] zwang uns Nietzsche [...], mit Ehrlichkeit die wahren Probleme zu betrachten [...], uns selbst ohne Mitleid zu sehen; [...] der Befreier unserer Energie.“61 Tatsächlich ist Valois’ ganze Theorie nichts weiter als eine verschwommene, grobkörnige und launische Variation von Nietzsche und Sorel. Sorels elitäres Konzept der proletarischen Gewerkschaften und ihrer Erweckungsmission wird von Valois in eine Vision der Herrschaft geborener Herrn, „Peitschenträger“, über die versklavte, träge, schweinische Masse ver wandelt.61z Die Herren sind nicht länger eine vererbbare soziale Klasse wie eine alte Aristokratie – etwas Unmögliches im 20. Jahrhundert – oder eine Elite des Verstandes, sondern Menschen, die mit der undefinierbaren Gabe der Führung ausgestattet sind und sich in dar winistischem Kampf und Kräftemessen bewähren. Man erkennt sie, wenn man sie sieht, diese Männer an der Spitze, die Nachfolger der mittelalterlichen Barone, der berühmten Condottieri und der großen Kapitalisten. Ihr Erfolg ist ihr Weg zur Legitimität. Der „Stärkste wird sich selbst unanfechtbar zeigen [...] niemand wird seine Qualifikation
59y 59z 60 60z 61 61z
Valois, L’Homme qui vient, S. VIII. Ebd. Ebd., S. IX. Ebd., S. X. Ebd., S. XXIV f. Vgl. ebd., Abschnitt „L’homme au fouet, ou le premier noble, ou le premier capitaliste, ou l’initiateur de la civilisation“.
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anzweifeln, wenn er erst einmal all die anderen besiegt hat“.62 Kümmere dich nicht um die Mittel. Ohne den rücksichtslosen und hemmungslosen Drang nach Macht und Führung würde niemals jemand an die Spitze kommen. Es waren die unfähigen, aber neidischen und gerissenen Demagogen der Demokratie, die von „Rechten“ und „Gerechtigkeit“ sprachen und den Massen schmeichelten. Sorels frühestes Interesse galt der Authentizität, Gewissheit und dem sozialen Zusammenhalt. Er suchte sie zuerst in der Wirklichkeit der organischen Geschichtstradition, dann nacheinander in der mar xistischen Lehre, in den unerbittlichen Bestimmungen der produktiven Leistung, in den Bedingungen des Proletariats, schließlich in lebensspendenden kollektiven Mythen. Er hörte niemals auf, selbstgewollte Willkür und intellektuelle Landstreicherei zu fürchten und zu hassen. Georges Valois geht viel weiter als sein Meister, wenn er den instinktiven Willen zur Macht des Individuums und die intuitiven Verbindungen der Blutsgemeinschaft – „la verité charnelle“ – zur Würde des Absoluten erhebt. Die Instinkte waren von größter Bedeutung und nicht der Intellekt. Die Mission des Menschen bestand keineswegs darin, die Welt zu kennen oder sich selbst erkennen zu lernen, sondern zu kämpfen. „Das Mittel, welches du einsetzen möchtest, um dich selbst zu kennen – die Intelligenz – ordne es unter und nutze es nicht für Aufgaben, für die es nicht gemacht wurde : es ist ein Geschenk, welches dir weder gegeben wurde, damit du dich vielleicht selbst kennst, noch damit du vielleicht deine raison d’être [...] kennst, sondern um nach den Erfahrungen deiner Instinkte zu wissen, auf welche Weise dir die dich umgebenden Dinge vielleicht dienen und zu deinem Wachstum beitragen können.“63 Wir sind hier mit der Angst vor der Analyse und dem Denken konfrontiert, mit der Scheu davor, zwischen Alternativen zu wählen, und dem Verlangen, unbekümmert durch mächtige Instinkte oder in diesem Fall den Zwang der Gewohnheit vorangetrieben zu werden. „Falsche Weisen oder Lügner !“, ruft Valois aus. „Zu sagen, dass der Mensch durch seine Intelligenz gesteuert wird, ist ein Fehler oder eine Lüge. Der Mensch wird von seinen Instinkten geleitet [...]. Was ist sein Gehirn ? Ein Organ wie sein Fuß, seine Hand, sein Auge, von seinem Instinkt gebraucht [...]. Wer befiehlt in der lebenden Natur ? Es ist der Lebensinstinkt.“63y Die Macht zu handeln war der Fähigkeit zu denken übergeordnet. „Intellektuelle !“, rief Valois, „Wenn ihr wahre Führer seid, sprecht im Namen eurer Energie, fragt nicht nach Macht, nehmt sie ! Wenn ihr stark 62 Valois, L’Homme qui vient, S. 22. 63 Ebd., S. 145. 63y Ebd., S. 150 f.
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seid, werden euch alle als Führer anerkennen.“63z Alle kreative Stärke kam aus dem Instinkt und „deshalb wird der Herr des Lebens, der Aristokrat, niemals ein Intellektueller sein, sondern ein energischer Mensch, derjenige, dessen Lebensinstinkt am stärksten ist“.64 Das oberste Faktum im Leben – sowohl des Menschen als auch der Nationen – war Krieg. „Alles, was wir die friedlichen Errungenschaften der Zivilisation nennen, sind Schöpfungen des Krieges; die Zivilisation selbst ist die Frucht des Krieges [...], und die Nationen, die heute daran arbeiten, [...] eine Zivilisation des Friedens zu schaffen, wurden nur durch den Krieg geformt und pflegen ihre Friedensarbeit, die Solidarität und Brüderlichkeit durch nichts anderes als Krieg. Krieg ist das grundlegende Gesetz des Lebens und für die Menschen ist es der einzige Weg, um die höchste Ebene ihres Lebensinstinktes zu erreichen.“65 Diese Wahrheit musste sich nicht in tatsächlichem Kampf ausdrücken. Kriegerische Rivalität war auch in der Ansammlung von so viel Macht gegenwärtig, dass alle Gefahren von innen und außen abgewehrt würden, ohne in den Krieg zu ziehen. Der Krieg ist „eine glückliche Notwendigkeit für die Zivilisation“.66 Er war auch ein Mittel, um soziale Gerechtigkeit unter den Nationen zu realisieren, indem Länder und Ressourcen trägen und unfähigen Nationen entrissen wurden, die sie nicht zu gebrauchen wussten und daher ihre souveränen Rechte über diese missbrauchten.67 Die demokratischen Politiker – eine Brut, die in der Französischen Revolution entstand – repräsentierten eine Art von Anti - Elite der „Deklassierten aller Klassen“.67y „Das demokratische Regime ist im wahrsten Sinne des Wortes eine organisierte, systematische Zerrüttung der Nation und bringt seinen eigenen Untergang mit sich.“67z Was den Sozialismus betraf, so war er nur eine neue Form der parlamentarischen Ausbeutung, die einfach nur die Wahlformel änderte, aber „das gleiche Ziel wie die anderen Parteien verfolgte – die Eroberung der Macht wegen des Reichtums, zu dem diese Eroberung verhilft“.68 Hinter der Anti - Elite der demokratischen und sozialistischen Politiker, einer losen Masse von Abenteurern, die kamen und gingen, stand eine Anti Elite, die hinter den Kulissen handelte, aber durch die eindeutigste Identität 63z 64 65 66 67 67y 67z 68
Ebd., S. 152. Ebd., S. 155. Ebd., S. 168. Ebd., S. 177. Ebd., S. 173, 177, 180. Valois, La Monarchie et la classe ouvrière, S. 9. Valois, L’Homme qui vient, S. 208. Valois, La Monarchie et la classe ouvrière, S. 17 f.
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verbunden war und fortbestand : die Juden.69 Die Politiker waren nichts weiter als die Marionetten oder Agenten dieser jüdischen Macht. Die Juden waren eine Anti - Elite par excellence: wenige nur und physisch schwach, ohne aristokratische Traditionen oder kriegerische Qualitäten, Intellektuelle und Logiker, die Erfolg haben und die Macht erhalten konnten, die sie ersehnten, nicht indem sie sich selbst auf eine grundsätzliche und unwiderstehliche Art in Szene setzten, sondern nur durch Manipulation und Planung. Sie repräsentierten und verkörperten alles, was nicht instinktiv und konkret, sondern abstrakt und universell war. Seit so langer Zeit vom Heimatland und seinen Bestrebungen getrennt, ohne ein eigenes Land, ohne Anteil an den schweren produktiven Anstrengungen, hatten sie zwei Waffen entwickelt, die kein bestimmtes Heim oder Volk hatten : Ideen und Geld. Sie wurden die Instrumente, mit deren Hilfe diese Fremden sich wie Würmer ihren Weg in die französische Gesellschaft bohrten und den natürlichen Widerstand und gesunden Egoismus einer tief ver wurzelten und eigenwilligen Nation über wanden. Gegen französische instinktive Gewissheiten, Traditionen und Gebräuche, das französische Konzept der Gerechtigkeit, erklärten und festigten sie ein abstraktes universelles Naturgesetz, die Idee des Menschen per se, ewige ideale Gerechtigkeit. Ihr Gelobtes Land war gegen den authentischen natürlichen französischen Patriotismus gerichtet : Die Franzosen wurden dazu verlockt, die abstrakte Ideologie der Revolution als ihre nationale Ideologie anzunehmen. Die fremdartigen Juden konnten daher als großartige Franzosen auftreten, während sie eine eng verbundene separate Einheit blieben. Der Finanzkapitalismus, Laissez - faire Liberalismus, Rationalismus, sogar Sozialismus, sie alle beruhten auf dem Klassenkampf – alle waren jüdische Mittel, um das Selbstbewusstsein, den Zusammenhalt, die Einheit und Authentizität der französischen Nation zu untergraben.70 Die parlamentarische Demokratie wurde zur passenden Fassade für die Drahtzieher. Vordergründig ein Ausdruck und eine Garantie der bürgerlichen Souveränität, war sie nur eine Tarnung für verborgene, aber reale Mächte. Sorel hatte bereits die Aufmerksamkeit gelenkt auf die große Ähnlichkeit und tatsächliche Verbindung zwischen Spekulanten, die an der Börse zockten, und parasitären, um Macht pokernden demokratischen Politikern. Er tat dies, ohne die Juden eigens zu erwähnen. Jedoch entwickelte sich Sorel, der Dreyfus Anhänger, letztendlich zu einem unerbittlichen Antisemiten, der Europa aufforderte, sich gegen die jüdische Gefahr in derselben Weise zu verteidigen, wie die Amerikaner die Gelbe Gefahr bekämpften; er beschuldigte die jüdischen Mitglieder der bolschewistischen Partei des Terrors der Tschekisten. Die Juden 69 70
Vgl. ebd., S. 38–43. A. d. Ü. : Siehe auch ebd., S. 291–326. Vgl. ebd. A. d. Ü. : Siehe auch ebd., S. 291–326.
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( behauptete Valois ) hatten ihre Agenten in allen Parteien, aber in letzter Zeit hatten sie ihre Aufmerksamkeit auf die Sozialisten konzentriert : um der besseren Tarnung willen und um sicherzustellen, dass sie die Erben der enteigneten französischen Bourgeoisie am Morgen der Revolution würden, die sie im Geheimen planten. Sobald es dem revolutionären Generalstreik gelang, jegliche Produktion lahmzulegen, konnte das darauffolgende Chaos nur mit Hilfe flüssiger Geldmittel – Gold – über wunden werden. Die jüdischen Finanziers hätten es in ihren Safes aufbewahrt; sie würden dann als Retter erscheinen, Hilfe anbieten, aber einen hohen Preis fordern, nämlich die Vorherrschaft über das wirtschaftliche und politische Leben der französischen Nation. „Es ist wahrscheinlich, dass sich eine schreckliche antisemitische Bewegung entwickeln und in Form des schönsten Massakers an Juden in der Geschichte zutage treten wird.“71 Die Juden würden dann ausländische Truppen rufen, um sie zu retten, damit Juden und Ausländer zusammen die Beute teilen könnten. Einige Teilnehmer der von Valois initiierten und ausgewerteten Debatte über La monarchie et la classe ouvrière sahen die Juden als Handlanger der Feinde Frankreichs – Englands, Deutschlands und Italiens. Andere stellten die Juden als Feind jeder echten Nation dar und forderten eine internationale Allianz gegen die allgemeine jüdische Gefahr. Georges Valois selbst prägte die Phrase: „L’or juif contre le sang français“,71z jüdisches Gold gegen französisches Blut. Daher erschienen die Juden als der Dreh - und Angelpunkt der gesamten Theorie, mit dessen Hilfe sich die Widersprüche zwischen Sozialismus und Nationalismus auf lösen ließen.
71 Ebd., S. 41. 71z A. d. Ü. : Zitat in dieser Form nicht nachweisbar. Vgl. aber Valois, La Monarchie et la classe ouvrière, S. 38–43, 291–326.
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II. Mus so li ni und das faschis ti sche End ziel Georges Sorel war in Italien bekannter als in Frankreich. Einige seiner Schriften erschienen zuerst oder sogar nur auf Italienisch. Er unterhielt eine intensive Korrespondenz mit führenden italienischen Denkern wie zum Beispiel Croce und Pareto. Jede seiner Veröffentlichungen wurde von Publizisten unterschiedlichster Couleur rege kommentiert. Jede Tages - und Wochenzeitung in Italien, gleich welcher politischen Orientierung, bemühte sich um ein Inter view mit dem gefeierten Autor von Über die Gewalt.72 Sein einstiger ergebener Anhänger Benito Mussolini schwor Sorel erst ab, als dieser begann, mit der extremen nationalistischen Rechten in Frankreich zu liebäugeln; umso auffallender ist die Tatsache, dass die Bewegung, die der extreme sozialistische Revolutionär schließlich in der Form des diktatorischen Regimes des Faschismus inthronisierte, tatsächlich eine Synthese aus Syndikalismus und Nationalismus war.73 Ohne vorschnell die einfache Schlussfolgerung zu ziehen, Georges Sorel sei der Vater all dessen gewesen, lässt sich doch der Ruhm seines Namens in Italien kaum bestreiten. Eine besondere Affinität zu Sorels Ideen und Gefühlen muss in der Luft gelegen und darauf gewartet haben, artikuliert und systematisiert zu werden. Kein Land zeigt nach dem Ersten Weltkrieg so deutlich die Dilemmata und Spannungen einer Gesellschaft, die großen sozialen und ideologischen Anstrengungen ausgesetzt war angesichts der widersprüchlichen Herausforderungen der Weltrevolution und der anderen, nationalistischen Selbstbehauptung.74 Im krassen Kontrast zu Russland, mit dem es nicht wenig Ähnlichkeit hatte, war es der nationalistische und diktatorische Faschismus, der in Italien obsiegte.
72 73 74
Vgl. Megaro, Mussolini in the Making, S. 232 f.; Roth, Roots of Italian Fascism; Santarelli, Le Socialisme national en Italie. Vgl. Megaro, Mussolini in the Making, S. 234 f. Italien nach 1918 : Nenni, Sei anni di Guerra civile; Mack Smith, Italy, S. 307–313; Salvemini, The Origins of Fascism in Italy; Valeri, La lotta politica in Italia, Kapitel XV: Guerra e dopoguerra, S. 469–516, Kapitel XVI : I socialisti al bivio, S. 517–532; Seton - Watson, Italy from Liberalism to Fascism, Kapitel 12 : The democratic Failure, S. 505–560.
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1. Die Besonderheiten der Vergangenheit Italiens – die Abwesenheit eines italienischen nationalen Mythos Das ver wirrende Paradoxon der italienischen Geschichte war folgende Tatsache: Obgleich Italien anscheinend durch Geographie und Geschichte dazu ausersehen war, eine politische Einheit zu bilden, war es vor 1861 niemals ein Nationalstaat gewesen – trotz des enormen gemeinsamen kulturellen Erbes, der einheitlichen Religion seiner Bewohner, des relativen Fehlens von Minderheiten und des Segens natürlicher Grenzen. Selbstverständlich gab es die großen natürlichen Unterschiede zwischen dem Norden und dem Süden, regionale Besonderheiten und sehr unterschiedliche lokale Traditionen. Aber diese waren sicher nicht größer als in einigen der größeren Nachbarländer, in denen eine starke Dynastie, eine zentralisierte Regierung, wirtschaftliche Bedürfnisse und eine vereinigende Ideologie sich als stark genug erwiesen hatten, um zentrifugale Faktoren und Tendenzen zu über winden. Das einzige größere Hindernis für die italienische Einheit war der christianisierte Mythos von Rom als Verkörperung des Papsttums. Wie die Dinge lagen, gehörte Italien nicht nur einfach seiner Bevölkerung. Sein wahres Herz war auch das Herz des universellen Christentums. Den Italienern war es im Namen der Menschheit anvertraut. Mächtige ausländische Invasoren – deutsche Kaiser und französische Könige – waren hypnotisiert durch den Vorrang, den ihnen der direkte Einfluss auf das Papsttum zusätzlich zu den Möglichkeiten gab, die ein Stützpunkt in Italien eröffnen könnte, um die Herrschaft über das Mittelmeer und damit die weiträumige Erschließung des Nahen Ostens zu erreichen. Es gab einen weiteren Faktor, welcher der Vereinigung im Wege stand. Die italienische Elite verfügte über einen enormen Wirkungsbereich, in dem sie ihre Potentiale und Ambitionen ver wirklichen konnte : zunächst im Christentum allgemein und dann als die Beauftragten und aktiven Fortsetzer der reichsten, ältesten und ungebrochensten kulturellen Tradition Europas. Begabte Italiener nahmen einen unverkennbaren und dauerhaften Platz in der Geschichte ein: als Künstler, Architekten, Schriftsteller, Gelehrte, Wissenschaftler, Erzieher, Seefahrer und Entdecker der Kontinente, königliche Ratgeber, Diplomaten, Minister, Ehepartner von mächtigen Königen, an vielen Orten als Bankiers und Generäle, in jedem europäischen Land von Lissabon bis Moskau. Diese Tatsachen ermutigten und ermöglichten andere weitreichende Entwicklungen. Die großen Stadtrepubliken an der Küste und die berühmten Handels - und Kulturzentren wie Florenz richteten all ihr Streben auf überseeische Unternehmungen, Handel und Kolonisation, auf die Kultivierung ihrer starken Stadt - und Gemeindetraditionen mit ihren bitteren Klassenauseinandersetzungen, Parteikämpfen, Familienrivalitäten und den großen Taten der Con-
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dottieri, die diese mit sich brachten. Sie nahmen das unmittelbare italienische Hinterland kaum noch wahr, sondern entwickelten ein extremes Gefühl für die ewige Notwendigkeit, miteinander zu wetteifern. Es war die massive Präsenz des Papsttums und die Allgegenwart seiner spirituellen Herausforderung, die der italienischen Bewegung der nationalen Befreiung und Einigung, dem Risorgimento, eine ganz besondere Wendung gab. Da es sich gegen die Verkörperung und das Symbol der transzendentalen wie universellen Autorität und gleichzeitig gegen die Länder des Ancien Régime stellte, musste es revolutionär, republikanisch und antiklerikal werden. Aber der Mythos der Einmaligkeit und gleichzeitig der universellen Bedeutung Roms war so tief im italienischen Bewusstsein ver wurzelt, dass die Forderung nach säkularer nationaler Selbstbestimmung als eine schwache, unzureichende, ja erniedrigende Herausforderung erschien im Vergleich zum Mythos der universellen Kirche, der Erbin des imperialen Mythos.
2. Das Risorgimento – ein „verstümmelter“ Traum Daher entwickelte sich der Traum der Wiedergeburt der italienischen Nation zu einer Vision nicht nur eines politischen Systems, sondern einer neuen spirituellen Gemeinschaft, einer universellen Botschaft der Reinheit und Wiederbelebung, eines Dritten Roms an der Spitze befreiter, vereinigter und erlöster Nationen, die jede für sich die tiefsten und authentischsten Werte ausdrückten und die zusammen eine neue universelle Kirche der brüderlichen, ein universelles Ziel verfolgenden Nationen formten. Ein derart hohes Amt und solch eine Berufung verlangten dazu passende Mittel und Methoden. Das große Erwachen eines großen Volkes, des selbstlosen Kurators eines universellen Versprechens, würde sich nicht dazu erniedrigen, dubiose Kriegslisten, diplomatische Tricks, egoistische Sittenlosigkeit anzuwenden. Es würde seine Ziele durch einen Appell an idealistische Herzen und im offenen, von selbstaufopfernden Helden und Märtyrern geführten Kampf erreichen.75 Unglücklicher weise klaffte ein unüber windbarer Abgrund zwischen Anspruch und Realität. Die Bewegung zur nationalen Befreiung und Einigung Italiens war größtenteils das Streben einer Minderheit – der studentischen Jugend, der Intellektuellen und eines Teils des Bürgertums. Die breiten bäuerlichen Massen, besonders im Süden, blieben hier von unberührt. Die Millionen von Katholiken wurden durch ihre religiösen Überzeugungen zurückgehalten. Viele Aristokraten bewahrten ihre feudale Loyalität gegenüber den 75
Der Mythos des Risorgimento : Salvemini, Mazzini; Kohn, Propheten ihrer Völker, Kapitel 3; Woolf, The Italian Risorgimento; Maturi, Interpretazioni del Risorgimento.
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Dynastien. Das unentwickelte städtische Proletariat war unwichtig. Auch gab es nicht die mächtigen wirtschaftlichen Interessen und Tendenzen, welche die Mittelschicht anderswo dazu brachten, große Märkte, Zollunionen und parlamentarische Institutionen anzustreben. Der natürlichen Grundvoraussetzungen des industriellen Kapitalismus – Kohle, Eisen und Öl – beraubt, war das Land kaum auf dem Weg zu einer industriellen Revolution. Schließlich bewiesen die lokalen Verfassungen, Traditionen und Loyalitäten ein im Vergleich zu den hochgesteckten Forderungen nach einer abstrakten nationalen Einheit weitaus mehr Durchhaltevermögen und eine größere Anziehungskraft, als sich die Idealisten und Doktrinäre einzugestehen bereit waren. Nachdem eine kläglich schlechte Vorbereitung und militärische Unzulänglichkeit zu erniedrigendem Versagen auf dem Schlachtfeld geführt hatte, war es dem liberal - konser vativen Cavour überlassen, die nationale Befreiungsbewegung zu „diplomatisieren“, indem er die Sache Italiens vor den Karren Napoleons III. spannte – in den Augen der Anhänger Mazzinis und Garibaldis ein höchst unangenehmer und ambivalenter Verbündeter. Ein vereintes Italien entstand nicht als Ergebnis eines spontanen, universellen Aufstands der italienischen Nation, sondern als die Frucht einer Intrige, die von Cavour mit Gleichgesinnten in anderen italienischen Staaten ersonnen wurde und Letztere unter die Regierung Piemonts bringen sowie gleichzeitig den revolutionären Volkselementen ihren Teil zugestehen sollte.76 Unter Garibaldis Tausend, die Sizilien befreiten, fanden sich nur 24 Sizilianer. Das vereinte Italien musste dann die unangenehme Erfahrung machen, 1866 bei Lissa und Custozza von den Österreichern vollständig geschlagen zu werden. Es erhielt Venedig von seinen siegreichen preußischen Verbündeten. In den Besitz seiner Hauptstadt Rom kam es erst mit dem Niedergang des Zweiten Empire Napoleons III. Da er nicht wagte, die Missbilligung der katholischen Weltmeinung sowie jener Mächte zu provozieren, die sich weigerten, Rom als die Hauptstadt des vereinigten Italien anzuerkennen, zog König Vittorio Emanuele nicht triumphierend in seine wiederhergestellte Hauptstadt ein, sondern schlich sich in die Ewige Stadt, als ob er der gerade durch eine Flut schwer erschütterten Bevölkerung Trost zusprechen wollte, verlas die Proklamation, die Rom zur Hauptstadt machte, und kehrte am selben Tag schnellstens nach Turin zurück.77 Die Art und Weise, in der die italienische Nation ihre Einheit erhielt, hinterließ ein quälendes Gefühl der Nichterfüllung, der verfehlten Größe, einer schmerzhaft blamablen Lücke zwischen Bestreben und Realität, Anspruch und Substanz, der klangvollen Rhetorik, großspurigen Haltung und ihrer kläglichen Umsetzung. Diese klaffenden Doppeldeutigkeiten und Zwiespältigkeiten trie76 77
Vgl. Mack Smith, Cavour and Garibaldi. Vgl. Thayer, Italy and the Great War, S. 9.
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ben die Italiener dazu an, sie zu überbrücken, es der Welt zu zeigen und sich selbst ihren wahren Wert zu beweisen. Nachdem Italien vereint worden war, entdeckten die Italiener, dass die italienische Nation erst noch geschaffen werden musste. Sie war keineswegs aus einem Guss fertig entstanden, weder aus einer großen Revolution noch aus der Feuerprobe des Krieges. Das große Ideal hatte die Menschen nicht über sich selbst erhoben. Der düstere Poet der Ernüchterung, Reue und Wut, Oriani, beklagte „die Helden, welche Soldaten wurden, und die Märtyrer, die sich in Beamte ver wandelten“.78 Italien wurde durch die „heldenhafte Pflicht Weniger“ geschaffen. Nachdenkliche Italiener wurden sich schmerzlich der Tatsache bewusst, wie wenig Italien eine wirkliche organische Nation war. Vom sozial ökonomischen Standpunkt aus betrachtet hatte es zwei Irlands, eins im Süden, Sizilien, und eins im Norden, die Emilia - Romagna. Es hatte kaum eine politische Tradition, auf die es trotz einer Vielzahl an Mythen zurückgreifen konnte : keine britische Verfassung als Ergebnis eines langsamen und organischen Reifeprozesses, keine Monarchie, die idealisiert werden konnte, wie die der Bourbonen, die noch immer im republikanischen Frankreich unter nostalgischen Royalisten existierte, und kaum eine Armee mit einer Ehrentafel der kriegerischen Heldentaten und Siege sowie einer unver wechselbaren Identität. „Italien zerbrach“, schrieb Oriani, „während der Revolutionen von 1821 und 1831 zu einfach; 1848 überall in den Städten und auf dem Land besiegt, 1859 kaum siegreich [...]; schmählich geschlagen 1866 auf der todbringenden Ebene von Custozza und zu Wasser bei Lissa; Italien – dem Garibaldi nicht seinen Mut, Mazzini nicht sein Genie und Cavour nicht seinen gesunden Menschenverstand einhauchen konnte –, das Rom 1870 heimlich betrat.“79 Das Risorgimento war eine revolutionär - demokratische Bewegung, die das Prinzip der Volksouveränität über alles erhob. Dies war sein Legitimitätstitel, auf den es sich gegenüber dem Papsttum und anderen transzendentalen und autoritären Prinzipien berief. Aber sein idealisiertes Westminster - Bild weckte noch mehr Erwartungen, die in Italien nicht erfüllt werden konnten. Das italienische Parlament wurde zum Inbegriff für das Fehlen eines Prinzips, fragwürdige Übereinkünfte und Notlösungen sowie das Fehlen von Verantwortung. Es beruhte eine ganze Zeit lang auf einem eng begrenzten Wahlrecht, das nur rund zwei Prozent der Bevölkerung umfasste. Das Allgemeine Wahlrecht ließ bis 1912 auf sich warten. Nur ungefähr die Hälfte der Wähler machte von seinem Recht Gebrauch.80 Ein Einmann - Wahlkreis - System ohne propor78 79 80
Oriani, zit. in : Thayer, Italy and the Great War, S. 53. Oriani, zit. in : Thayer, Italy and the Great War, S. 136. Thayer, Italy and the Great War, S. 46; Salvemini, Fu l’Italia prefascista una democrazia ?, S. 14–20.
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tionale Repräsentation ver wandelte parlamentarische Sitze in Besitztümer lokaler einflussreicher Personen und Patrizierfamilien, die sämtlich der Entwicklung großer moderner Parteien mit einem festen Programm und Parteidisziplin entgegenarbeiteten und zur Manipulation durch erfahrene Politiker im Zentrum, wie Giolitti, einluden.81
3. Auf der Suche nach einem Mythos und Macht Die Geringschätzung für die gewählte Regierung führte zum Verlangen nach etwas Besserem außerhalb des Institutionenrahmens. Italien war zu kultiviert für simplen Populismus. Die Nation war auch viel zu differenziert dafür. Spekulative Geister, die nach dem wirklichen und wahren Italien suchten, flüchteten sich in ver worrene Philosophien, in einen rousseauistischen allgemeinen Willen, tief begraben in der Seele der unkorrumpierten Massen und doch artikuliert und ver wirklicht von einer Elite, ja einem Gesetzgeber voller Genialität – der Traum Carlo Pisacanes –; keine einfach zu lösende Gleichung.82 Manche vertieften sich in Hegel’sche Konzepte des Staates als eines Hortes universeller Vernunft, unpersönlichen Strebens und objektiven moralischen Willens.83 Deutschland hatte den preußischen König mit seinem Adel und seiner Bürokratie; aber an eine Allianz von Thron und Altar, wie sie das französische konterrevolutionäre Denken verherrlichte, war nicht zu denken in einem Italien, das gegen erbitterten päpstlichen Widerstand entstanden war. Die Absage an leere Rhetorik, Wortgepränge und Tatenlosigkeit sowie ein nostalgischer Respekt für mittelalterliche kommunale Traditionen nährten früh Spekulationen über eine Art Ständestaat : ein Netzwerk ökonomischer, beruf licher und gewerblicher Organisationen, um die rein politischen parlamentarischen Körperschaften zu ersetzen oder sie zu ergänzen.84 Angesichts der italienischen Traditionen, dem starken Einfluss Machiavellis auf das italienische Denken und der Entwicklungen, denen Italien entgegensah, ist es nicht überraschend, dass die bekanntesten Denker Europas an der Jahrhundertwende Italiener waren : Pareto, Mosca, Michels und andere. Insofern sie die Staatskunst, die Aneignung und Ausübung der Macht, als ein moralisch neutrales Phänomen und technisches Problem behandeln und
81 82 83 84
Vgl. Valeri, La lotta politica in Italia, Kapitel VI : Il trasformismo, S. 141–161; Procacci, Appunti in tema di crisi dello stato liberale. Vgl. Thayer, Italy and the Great War, S. 35. Vgl. ebd., S. 128–130. Vgl. ebd., S. 124–142, 220–232; De Ruggiero, The History of European Liberalism, S. 275–343; Croce, A History of Italy.
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nicht als ein Instrument, eine Bedingung oder die Vorbereitung zur Realisierung objektiv erwünschter Werte, folgen die italienischen Elite - Theoretiker der von Machiavelli begründeten Tradition. Der Autor von Der Fürst war fasziniert von den Mitteln und Wegen, um große und erstaunliche Taten zu vollbringen, die nachhaltig wirksam waren. Er kümmerte sich nicht um heilige Prinzipien, sondern darum, wie man Macht erhalten und steigern, ihren Einfluss fester und tiefer und daher unentbehrlicher und unbezwingbarer und schließlich nützlich machen kann, wenn Existenzsicherheit ein Ziel an sich ist, in einer Welt, die ständig am Rande der Anarchie steht.85 Ein siegreicher Fürst und Eroberer aus eigenem Recht mochte in seinem Verhalten gegenüber seinen Zielpersonen eventuell im natürlichen Verlauf der Ereignisse zu Beständigkeit gelangen, mochte seine Versprechen ihnen gegenüber halten, ihren Besitz und ihre Rechte respektieren, da solches Verhalten seine Herrschaft festigen und stabilisieren würde. Aber letztendlich würde er nur auf Grund vernünftiger Überlegung in solch einer Weise handeln. Er mochte zum Beispiel entscheiden, es sei das Klügste, neu eroberten Völkern Verbitterung zu ersparen, wenn es sich als unmöglich oder undiplomatisch erwiese, sie auszurotten oder zu vertreiben. Wenn der Usurpator einige einflussreiche Magnaten liquidieren muss, wird er darauf achten, nicht die Güter zu beschlagnahmen, welche die voraussichtlichen Erben zu erlangen hoffen. Denn sie würden den Mord an ihren Ver wandten vergeben, nicht aber die Usurpation ihres Besitzes, von dem sie glaubten, dass er ihnen zustehe.86 Es liegt unbestreitbar etwas Zynisches und Hoffnungsloses – die Politik der kulturellen Verzweif lung – in den Überlegungen Paretos, Moscas und Michels’, nicht im Blick auf die ideellen Ziele, die sie verfolgten, wohl aber hinsichtlich des Kreislaufs der regierenden Eliten, der Art, in der sie an die Macht gelangen, sich an ihr halten, sich als mächtig beweisen und dann beginnen, Herrschaft und Selbstbewusstsein zu verlieren, Respektlosigkeit und Aufsässigkeit unter den Regierten provozieren, um schließlich durch eine neue Elite, die sich schon bereithält, ersetzt zu werden.87 Michels stellt die Trägheit und Gleichgültigkeit der gewöhnlichen Partei - und Gewerkschaftsmitglieder in den Mittelpunkt und sieht das Auftauchen und die Selbstverewigung bürokratischer Oligarchien als ein Naturgesetz an.88 Subtiler und hinterlistiger ist die Herangehensweise Paretos; in geringerem Maße trifft dies auch auf die empirischen Betrachtungen Moscas zu.89 85 86 87 88 89
Vgl. Meinecke, Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte; Chabod, Machiavelli and the Renaissance, S. 79–105; Gilbert, Machiavelli and Guicciardini. Vgl. Machiavelli, Der Fürst, Kapitel 17. Vgl. Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Vgl. ebd. Vgl. Mosca, Die herrschende Klasse; Pareto, The Mind and Society; Parsons, Pareto.
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Paretos Theorie der Residuen hat die Annahme zum Ausgangspunkt, dass menschliches und in dieser Beziehung politisches Verhalten in unterschiedlichem Ausmaß von triebhaften Impulsen, ererbten und gewohnheitsmäßigen Arten der Reaktion und ritualisierten Überbleibseln oder Residuen einer primitiven Grundmentalität geformt wird. Zum Beispiel ist das tiefe Bedürfnis, Aggregate zu bewahren, d. h. Verbindungen von Ideen und Antworten, das charakteristische Merkmal der Konser vativen. Der Drang, Widersprüche auszugleichen und an ihnen herumzudoktern, die Neigung zu kritisieren, abzulehnen, zu rebellieren und in Bestandteile zu zerlegen, neue Kombinationen auszuprobieren und Innovationen vorzustellen ist die Wurzel der Aufsässigkeit. Die zwei Einstellungen wechseln sich als öffentliche Stimmungen ab : ein Pendelschlag. Bei denen, die in der einen oder der anderen Periode an die Macht kamen, handelte es sich jeweils um Menschen, in denen diese Neigungen gegenwärtig waren, die sich in einer verdichteteren Art betätigten und daher kampf lustiger, beherrschter und freier von Hemmungen waren, sie zum Ausdruck zu bringen. Dieser Grad an Intensität gab ihnen die Möglichkeit, sich eine Vormachtstellung und Wirksamkeit zu sichern. Kurzum, sie erreichten und ver wirklichten Ziele, nicht weil sie nach ihnen um ihrer selbst willen strebten, sondern wegen ihrer Fähigkeit, auf die Stimmung der Öffentlichkeit einzugehen, der einen oder anderen Reihe von Residuen zu einem gegebenen Zeitpunkt nachzugeben.90 Das Bemühen um Effektivität und schließlich ihre Verehrung, die so sehr das italienische politische Denken, seine literarische und künstlerische Ausrichtung und sein allgemeines Klima beeinflusste – D’Annunzio, Papini, Marinetti –, darf als eine Voraussetzung des Faschismus gesehen werden. Beide, die extreme Linke und die extreme Rechte, waren von Herausforderung, Stärke, Gewalt, Aktion, Konfrontation und Durchbruch fasziniert. Für die extreme Linke wurde diese Stimmung am Vorabend des Jahres 1914 durch Mussolini repräsentiert, durch die revolutionären Syndikalisten wie Bianchi, de Ambris, die zukünftigen führenden Helfer des Duce; und für die extreme Rechte durch die italienischen nationalistischen Literaten wie Corradini, Federzoni, Coppola, Prezzolini und andere.91 Beide Strömungen repräsentierten eine Reaktion gegen den positivistischen Trend und mechanische Formen des Argumentierens, die dem Risorgimento die Romantik ausgetrieben hatten, und beharrten auf der exklusiven Gültigkeit analytischen Denkens, während sie jede weitläufige Verallgemeinerung über metaphysische Bindungen, Endziele, ewige Wahrheiten und transzendentale Notwendigkeiten ablehnten. 90 91
Vgl. Keller, Elites. Vgl. Thayer, Italy and the Great War, S. 198, 203, 216–218, 237; Vivarelli, Il dopoguerra in Italia, Band 1, S. 262–265.
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Oriani äußerte seine Sehnsucht nach den Orkanen der Hegel’schen Gedanken und den Stürmen der napoleonischen Kriege. Er wollte „die Gipfel der Metaphysik mit Hegel erklimmen, während die Luft immer dünner wird und die tapfersten Gefährten ersticken und herunterfallen“.92 In der Literatur verherrlichte diese Stimmung den Byron’schen Helden und seine Revolte gegen bürgerliche Mittelmäßigkeit, gegen die Heuchelei des juste milieu, die niedere List demokratischer Politiker, das langweilige Leben ringsherum. Die Selbstgefälligkeit und Selbstzufriedenheit der menschlichen Ethik, das kleinliche Nützlichkeitsprinzip und die Abscheu vor Gefahr, Risiko, Abenteuer und Grausamkeit wurden als Zeichen des Verfalls missbilligt und verspottet. Oriani, Corradini und selbstverständlich D’Annunzio begannen wie Auguste-Maurice Barrès als narzisstische Priester im Tempel des culte de moi und gelangten über die Missachtung der Menge und des hoi polloi zu einer prometheischen Haltung. Auf den fernen Gipfeln inspirierender Führerschaft bleibt der Held allein, aber ist künstlerisch kreativ in der Manipulation der Menge, in der Ver wandlung formlosen menschlichen Staubs in das Instrument großer entscheidender Handlungen, in der Ausformung und Kanalisierung der Energien der Nation.93 Die italienischen Pioniere des Expressionismus und Propheten des Futurismus verbreiteten ihre Faszination mit gewaltigen Ausbrüchen instinktiver Gewalt, dem Kult der Sexualität, der Männlichkeit, Geschwindigkeit, moderner Technologie, schierer Größe und empörender Neuheit, verrückten Taten und gewaltigen Massen - Festspielen.94 Diese hallten wider in den bombastischen imperialistischen Beschwörungen von Schlacht, Eroberung und kolonialem Abenteuer mit seiner Befreiung von den Beschränkungen und Unpässlichkeiten des modernen Stadtlebens und der Verbindung mit den Elementen, der Wüste und der wilden Primitivität.95 Viele Stimmen begannen, eine Feuer - und Bluttaufe zu fordern, um die italienische Nation wieder zu einen und zu stärken, sie zu prüfen und sie zum Zwecke der Erfüllung ihrer offensichtlichen imperialen Bestimmung zu reinigen, wofür das Risorgimento nur ein erster, nicht ganz erfolgreicher Anlauf war.
92 93 94 95
Oriani, zit. in Thayer, Italy and the Great War, S. 135. Vgl. Mosse, The poet and the exercise of political power, S. 35 f.; ders., Die Nationalisierung der Massen. Vgl. Mosse, The poet and the exercise of political power; ders., Die Nationalisierung der Massen. Vgl. Thayer, Italy and the Great War, S. 256–270.
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4. Die offenkundige Bestimmung Italiens Dies war selbstverständlich weitgehend ein Ausdruck der Frustration und eines anhaltenden Gefühls der Nichterfüllung. Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert offenbarte sich die Bestimmung in imperialistischer Expansion und der Herrschaft über die Ozeane.96 Italien erschien zu spät zu Tisch. Da Italien der Status einer Großmacht honoris causa nur wider willig und voller Spott zugestanden wurde, zählte es nicht im Rat der Mächte. Seine militärische Schwäche war Gegenstand des Spotts, und seine Unzuverlässigkeit, sein skrupelloses Manövrieren – das Schicksal der Schwachen – und sein beständig mageres und hungriges Aussehen machten es verachtenswert. Italien verfügte über das Alleinstellungsmerkmal, 1896 in Adua eine vernichtende Niederlage durch afrikanische Eingeborene – die Äthiopier – erlitten zu haben. Die ausschwärmenden überflüssigen Armen des Südens, deren natürlicher Siedlungsplatz, wie die Italiener glaubten, Afrika war, wurden in die Vereinigten Staaten, Lateinamerika und anderswohin verfrachtet, um dort entwurzelt zu werden und wegen ihrer niederen Beschäftigungen und ihrer wesentlichen Beteiligung an der Mafia den Namen Italiens dem Spott und der Verleumdung preiszugeben. Die Vision von römischen Adlern, die Afrika zurückeroberten, römischen Legionen, die erneut auf den alten römischen Straßen überall an den Küsten des Mittelmeeres marschierten, den Grundstein für ein wiederherzustellendes Römisches Reich legten und die italienische, durch gesättigte, plutokratisch - dekadente Völker wie England und Frankreich am Boden gehaltene Nation vor ihrem Abstieg zum Proletentum retteten, blitzte erneut am Horizont auf, als Italien am Vorabend des Ersten Weltkrieges mit der Eroberung Libyens begann. Großspurige Rhetorik brach alle Hemmungen und Bescheidenheit.97 Das Abenteuer erschien umso pathetischer, als es begann, nach Scheitern auszusehen. Die Italiener besetzten gerade eben die Küstengebiete. Im Landesinneren blieben die Araber ungezähmt. Es gab keinen Platz für europäische Siedlungen. Am ärgerlichsten aber war, dass Libyens riesige Ölvorkommen bis nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges unentdeckt blieben. Es liegt etwas Unangenehmes in den Hymnen auf Stärke, Gewalt und den unerbittlichen dar winistischen Kampf ums Überleben und um die Macht, wenn sie von den Repräsentanten einer militärisch erfolglosen Nation angestimmt werden. D’Annunzio war voller Neid auf den „deutschen Instinkt zur Vorherrschaft“ und für die Art, in der England „sein Maul öffnete, um das Uni96 97
Vgl. Langer, The Diplomacy of Imperialism, Kapitel 3 : The Triumph of Imperialism; Halévy, A History of the English People, Band 5, S. 69–136. Vgl. Thayer, Italy and the Great War, S. 233–270; Valeri; La lotta politica in Italia, Kapitel XII : La guerra libica e il nazionalismo, S. 327–370.
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versum zu verschlingen“.98 In seinem Rückblick, Regno, beklagte Corradini „all die Zeichen der Altersschwäche, die Gefühlsduselei, den Doktrinarismus, den übertriebenen Respekt für das vergängliche Leben und für die Schwachen und Bescheidenen [...] im intellektuellen Leben des italienischen Mittelstands, welcher herrscht und regiert“.99 Papini verbesserte den Propheten des Nationalismus und verspottete den schwachsinnigen bürgerlichen Respekt vor der Unantastbarkeit des Lebens. „Menschliches Leben“, spottete er, „ist heilig; der Atem einer bedeutungslosen Kreatur kostbarer als ein Reich; die Leben einiger tausend Wilder wichtiger als die Macht einer Nation. Die Angst vor Blut wurde der Alptraum des modernen Mannes, der verfolgt wird, wie so viele Frauen, kleine Lady Macbeths des 19. Jahrhunderts, von dem Geist des Todes. [...] Das Prinzip des Lebensrechts ist vollkommen ohne rationale Rechtfertigung. Das Wort ‚Recht‘ ist eine verbale Travestie. Ich habe das Recht, etwas zu tun, wenn ich es tun kann, wenn ich die Mittel, die Macht für die entsprechenden Taten habe.“100 „Gib mir einige Männer, die fühlen und verstehen, was ich zu tun wünsche, und mit ihrem verderblichen Einfluss werden sie [...] die Welt verändern“, lautet Papinis Quasi - Versprechen des Faschismus. „Rom hatte immer eine universelle und herrschende Mission“,101 erklärte er. Wo wird man die Gleichgesinnten finden ? Keinesfalls in der legalen Regierung, den gesetzgebenden Kammern, da es, wie Prezzolini es ausdrückt, dort keine „größere Befreiung des Vaterlandes, keine größere Eroberung [ geben könnte ] [...] als das Bewusstsein für das Schlechte im Parlament“.102 Nicht unter den „Rechtsanwälten, zynischen Opportunisten, Politikern [...], dem schwachen, kranken Teil des Landes“ werden sie zu finden sein, sondern unter „jenen mutigen Industriellen Mailands [...], jenen Bauern Apuliens und unter den landwirtschaftlichen Arbeitern der Romagna und Veneziens“ sowie den Hafenarbeitern Genuas.103
98 99 100 101 102 103
D’Annunzio, zit. in Thayer, Italy and the Great War, S. 193. Corradini, zit. in Thayer, Italy and the Great War, S. 194. Papini, zit. in ebd., S. 194. Papini, zit. in ebd., S. 196 f. Prezzolini, zit. in ebd., S. 197. Vgl. Papini, zit. in ebd., S. 197. A. d. Ü. : Da Talmon dieses Zitat in stark modifizierter Form wiedergegeben hat und sich die vorliegende deutsche Übersetzung an Thayer orientiert, waren an dieser Stelle größere Abweichungen von Talmons Fassung unvermeidbar.
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5. Krieg als Revolution Die Nationalisten waren zu Beginn nicht mehr als eine literarische Clique, die zögerte, als eine unter mehreren Parteien ins politische Leben einzutreten, aus Angst, ihren typischen Charakter als Träger einer – keiner anderen im italienischen öffentlichen Leben gleichenden – Botschaft der Wiedererstehung zu verlieren. Doch gründeten sie schließlich eine Partei und erlangten am Vorabend des Ersten Weltkrieges eine bescheidene parlamentarische Repräsentation.104 Unter den Gruppen, die sie als elementare und zu ihren Denkweisen und Methoden bekehrbare Kraft erkannten, waren die extrem - revolutionären Sozialisten, die Mussolini, der junge sozialistische Duce – wie er bereits genannt wurde – repräsentierte. Vergessen war deren Besessenheit vom Klassenkampf, ihr Antimilitarismus, Antipatriotismus, ihre Vision einer totalen internationalen Revolution. In ihnen brannte das Feuer, sie hatten die Ner ven, die Entschlossenheit, die antibürgerliche Leidenschaft, vor allem den Eroberungswillen und den Mut dazu, waren frei von hinderlichem Zweifel und wurden von ihrem Sendungsbewusstsein angetrieben. Sie waren bereit zum Handeln und lebten wie am Vorabend eines großen gewaltsamen Durchbruchs. Die Nationalisten träumten von einer Wiedergeburt durch die imperialistische Tat, vor allem durch einen Krieg, die Syndikalisten von einer Wiedergeburt durch die Taufe einer blutigen Revolution. Krieg – so lehrten die Nationalisten – war ein Teil der Natur der Revolution. Daher hieß es : Krieg oder Revolution. Tatsächlich hatte der Syndikalist Angelo Olivero erklärt : „Ein Volk, das keinen Krieg führen kann, kann keine Revolution machen.“105 „Gemessen am Rest der Welt sind wir ein proletarisches Volk. Nationalismus ist unser Sozialismus. Wenn dies feststeht, muss der Nationalismus auf der Wahrheit gründen, dass Italien moralisch und materiell eine proletarische Nation ist“, heißt es in dem Manifest, das im Dezember 1910 von der gerade gegründeten Nationalistischen Vereinigung in Florenz unter der Führung von Corradini, Scipio Sighele, Maurizio Maraviglia, dem ( einzigen ) Antisemiten Francesco Coppola, Federzoni und anderen veröffentlicht wurde.106 In der Diskussion der italienischen Ausgabe von Sorels Über die Gewalt arbeitete Corradini die Gründe heraus, warum Nationalismus und Syndikalismus trotz dogmatischer Unterschiede zusammenfinden könnten : „Eine Doktrin, jede Doktrin, existiert nicht so sehr in ihrem Programm als vielmehr in der Macht der Handlung, welche ihr Programm freisetzen kann. [...] Wenn dies 104 105 106
Vgl. Chabod, A History of Italian Fascism, S. 34. Oliviero, zit. in Thayer, Italy and the Great War, S. 203. Ebd., S. 207.
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akzeptiert wird, können wir uns einen Syndikalismus vorstellen, der an den Küsten der Nation Halt macht und nicht weiter geht, der aufhört, international zu wirken, dafür aber auf nationaler Ebene arbeitet. Die Arbeiter vereinigen sich nicht länger auf einer weltweiten Basis, sondern im Rahmen der Nation. Sie vereinigen sich, um Macht national und nicht überall auf der Welt zu gewinnen. Wenn dies geschehen würde, würde der größte Gegensatz zwischen den zwei Lehren unterdrückt werden.“107 Von Bedeutung war der Eroberungs - und Expansionsdrang, kurzum der Wille zur Macht, den Syndikalisten und Imperialisten gemeinsam hatten. Das bedeutete, dass Gewalt die Methode war, die beide in Anspruch nahmen, mit anderen Worten : direkte Massenaktion, die wiederum größten Zusammenhalt, Konzentration der Kraft, eiserne Disziplin und äußerste Rücksichtslosigkeit erforderte. Es war einfach, Soldaten gegen Arbeiter auszutauschen, Krieg gegen Massenaktion, die Vernichtung des nationalen Feindes und die Inbesitznahme seines Vermögens gegen die kapitalistische Klassenordnung. Der entscheidende Faktor war abermals der Wille zur Macht seitens jener, die den Drang verspürten und die Fähigkeit hatten, Macht auszuüben. Hier war eine Erfahrung, eine Entdeckung, die Europa quälte, eine universelle Doktrin, ein Merkmal der „Wiedergeburt der kollektiven Werte der Existenz“ : dieser „unbeugsame [...] Wille zur Vorherrschaft, [...] dieser tragische Imperialismus des Menschen über die Natur“.108 Die Fülle dieser Erfahrung brachte die nationalistischen Imperialisten sowie die Syndikalisten in „scharfen und absoluten Gegensatz zu allem, wofür dieses Italien, von dem wir nichts halten und von dem wir uns abzulösen wünschen, repräsentativ ist“,109 ein ver weiblichtes, sanftes, pazifistisches, humanitäres, kleingeistiges, schüchternes Italien, das sich in Recht und Ordnung sowie Notlösungen flüchtete. Kurzum, die beiden Richtungen repräsentierten den Geist der Erneuerung durch Revolution oder Krieg in Italien. Es ist schwer zu entscheiden, ob die italienischen imperialistischen Nationalisten eine Doktrin zur objektiven Wahrheit und zum Selbstzweck erklärten oder Ausschau nach einem Mythos hielten wie Sorel, der die Menschen aufwiegeln, beschäftigen und dazu antreiben würde, Supermenschen zu werden, ihre mittelmäßige Menschlichkeit zu über winden. Reiner Imperialismus schien mehr zu bieten als das Mittel, um den italienischen Bevölkerungsüberschuss zu bewältigen und dem Wunsch nach einem Platz und Status unter den Nationen zu entsprechen : den notwendigen Mythos. 107 108 109
Corradini, zit. in ebd., S. 217. Corradini, zit. in ebd., S. 218. A. d. Ü. : Bei Thayer sind diese zwei Zitate in umgekehrter Reihenfolge wiedergegeben. Amendola, zit. in ebd., S. 218.
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6. Mussolinis sozialistisches Credo – Revolution und Gewalt Das entscheidende Merkmal des Mar xismus des jungen Mussolini war, mehr noch als bei seinen gleichgesinnten Zeitgenossen im Ausland – Guesde, Rosa Luxemburg, Lenin, Her vé und den radikalen Niederländern – Revoluzzertum. Mussolinis außerordentliche Belesenheit, sein journalistischer Drang, sein Wissen unmittelbar an seine Leser weiterzugeben, und sein propagandistisches Bedürfnis, Menschen für seine Ideen zu begeistern, brachten ihn – neben der erstaunlichen Fähigkeit, Eindruck zu erwecken – dazu, einen weiten Kreis an Fragen zu berühren : unvermeidlicher weise eine ökonomische Lehre, wie Mehr wert, fallender Gewinnsatz, agrarischer Sozialismus, und Probleme, die durch die Kämpfe der Gewerkschaften her vorgerufen wurden.110 Aber er hatte eindeutig weniger Sensibilität und Verständnis für sie als die anderen revolutionären Sozialisten. Er war ein Produkt der verschwörerischen und aufständischen Traditionen seiner heimischen Provinz, der Emilia - Romagna, und der Sohn eines Vaters, der in seiner Jugend in bakunistischen Kreisen aktiv gewesen war. Benito Mussolinis Aufmerksamkeit lag auf Mitteln und Wegen, den Kapitalismus durch eine direkte Revolte niederzuringen. Streiks, Wahlen, Demonstrationen, Kampf für bessere Bedingungen waren nur Geplänkel in der Vorbereitung auf die katastrophale Konfrontation, die durch den Generalstreik ausgelöst werden würde. Parlamentarische Idiotie war kein Weg zur Revolution. Sie dämpfte die revolutionäre Energie und begünstigte Illusionen über eine schrittweise Reform. Krieg à l’outrance, ein fortwährender Kampf zwischen zwei sich gegenseitig ausschließenden Welten – die eine erobernd, die andere verloren –, das war das Bild des Sozialismus, das Mussolini vor Augen hatte,111 wenn er vom Sozialismus der lateinischen Nationen seiner Tage sprach, wie Georges Sorel es lehrte, der „ein viel sichereres Verständnis des Mar xismus bot als jener, der aus Deutschland importiert wurde und nicht wiederzuerkennen war :112 [...] einen barbarischen Sozialismus“.113 Wie die Radikalen in anderen Ländern glaubte Mussolini, dass im frühen 20. Jahrhundert der Mythos des Nationalstaates zur Hauptstütze des Bürger110 111 112 113
Vgl. Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche, S. 200–219; Nolte, Marx und Nietzsche; Vivarelli, Benito Mussolini dal socialismo al fascismo, S. 445–447. Vgl. Megaro, Mussolini in the Making, S. 104–107, 126, 218–221, 233, 280–296. Mussolini, Opera omnia, Band 2, S. 167. Megaro, Mussolini in the Making, S. 218. A. d. Ü. : Konkret heißt es bei Megaro : „He had what he called a ‚barbaric‘ conception of socialism.“ A. d. Ü. : Das Zitat vom „barbarischen Sozialismus“ findet sich wie angegeben bei Megaro. Talmon verweist jedoch in diesem Zusammenhang außerdem auf M. Gallo, L’Italie de Mussolini, S. 22–24.
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tums geworden sei. Es war die Aufgabe der revolutionären Sozialisten, diesen Nerv zu durchtrennen. Patriotismus war ein Gegengift zum Klassenkampf. Das sogenannte nationale Interesse war ein Deckmantel für die Interessen der herrschenden Klassen. Die Imperative der Außenpolitik, die bewaffnete Stärke erforderten, waren das Staatsgeheimnis des kapitalistischen Regimes. Der Mythos des Nationalstaates mit seiner patriotischen Mystifizierung und dem Militarismus als Stützen musste konstant und schonungslos im Verhältnis zur Tiefe der Wurzeln bekämpft werden, die er im Bewusstsein des Volkes geschlagen hatte. Daher Mussolinis her véistische und syndikalistische Phrase von der Nationalflagge als „dem Lappen auf einem Misthaufen“, sein Aufhetzen zur Fahnenflucht, sein Spott über die Armee und ihre Symbole.114 Krieg wurde von den Herrschern benutzt, um die Klassen in einer einzigen Nation zu vereinen und um Zwietracht unter dem Proletariat der verschiedenen Nationen zu säen. „Diese Nationalismen sind nur Versuche, Ablenkungsmanöver der Bourgeoisie, um das große Ereignis, das das Ende der Vorgeschichte der Menschheit bezeichnen wird, um ein Jahr, um einen Tag zu verzögern.“115 1910 schrieb Mussolini : „Monarchie, Heer, Krieg ! Das sind die drei geistig - ideologischen Leuchttürme, um die sich die Schmetterlinge des italienischen Nationalismus – Spätentwickler – versammelt haben. Drei Wörter, drei Institutionen, drei Absurda !“116 Die Bourgeoisie will Krieg, singt Kriegshymnen, weil sie törichter weise glaubt, dies befreie sie vom Sozialismus.117 Mussolini wird niemals müde, die mar xistische Binsenweisheit von der Fiktion, welche die Idee des Vaterlandes darstelle, zu wiederholen : „Wir haben gelernt, dass es in der Welt nur zwei Väterländer gibt, das der Ausgebeuteten und das der Ausbeuter.“ „Für euch, ihr rechten Reformisten, ist das Vaterland eine Art Fetisch, der von allen angebetet werden kann.“ „Wir gestehen unsere Häresie. Wir können einen patriotischen Sozialismus nicht fassen.“ Er kennt nur „einen Sozialismus, der einen all - menschlichen und universalen Charakter hat“.118
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115 116 117 118
Vgl. Megaro, Mussolini in the Making, S. 81–86, Zitat : S. 86. A. d. Ü. : Gustave Her vé hatte einst aufgefordert : „Wirf die Fahne auf den Misthaufen !“ Siehe Jackson, Jean Jaurès ( dt. Ausgabe ), S. 167. Mussolini, Opera omnia, Band 3, S. 281. A. d. Ü. : Siehe auch Nolte, Marx und Nietzsche, S. 289. Ebd., S. 280. A. d. Ü. : Siehe auch Nolte, Marx und Nietzsche, S. 289 f. Vgl. Mussolini, Opera omnia, Band 4, S. 234. Ebd., S. 155. A. d. Ü. : Talmons englische Fassung weicht hier stark vom italienischen Original ab, vor allem bezüglich der Reihenfolge der Zitate. Siehe auch Nolte, Marx und Nietzsche, S. 292.
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Dies war gute leninistische Doktrin : „Wir werden im Kriegsfalle, statt an die Grenzen zu eilen, den Aufstand im Innern entfesseln.“119 Und während die Bourgeoisie im Begriff ist, das koloniale Kriegsrisiko zu einem Weltbrand auszuweiten, „müssen wir dafür bereit sein“.120 In der Zeit des Libyenkrieges erklärte Mussolini das arabische und türkische Proletariat zu Brüdern und die bürgerlichen Italiener zu Feinden der italienischen Arbeiterklasse.121 Angesichts der wachsenden wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Abhängigkeit der Nationen untereinander und des wachsenden proletarischen Internationalismus „[ glauben wir, dass ] beim Ausbruch der sozialistischen Revolution in einem Land die anderen [ Länder ] sie entweder nachahmen werden oder das Proletariat so stark sein wird, die nationale Bourgeoisie an jeder bewaffneten Inter vention zu hindern“.122 In einem Artikel, der am 11. April 1909 veröffentlicht wurde, beschreibt Mussolini den Zusammenstoß zwischen nationalistischem Militarismus und sozialistischem Internationalismus als die Achse des Kampfes zwischen bürgerlichem Kapitalismus und revolutionärem Sozialismus. „Die Gründe für diese wirtschaftliche Depression, für dieses allgemeine Unbehagen müssen in den Methoden der Außenpolitik der Kamarilla des österreichischen Hofes und in den Kämpfen zwischen den verschiedenen Nationalitäten im Reich gesucht werden. Die Millionen, die sich dem Wohle des Volkes widmen sollten, wurden stattdessen von der Armee verschluckt unter dem Vor wand der Notwendigkeit der militärischen Bereitschaft. Militarismus ! Hier ist der riesige Blutsauger mit tausenden glitschigen Tentakeln, die unablässig das Blut der Völker und ihre besten Energien aufsaugt ! Hier ist das Ziel unseres Kampfes ! Wir müssen der Ausbreitung der Barbarei ein Ende setzen, hinausschreien, dass die Armee jetzt eine organisierte Schule der Kriminalität ist und dass sie nur dazu dient, das Kapital und die Profite der Bourgeoisie zu beschützen. Wir dürfen uns nicht davor fürchten zu bekräftigen, dass wir internationale Sozialisten weder Grenzen noch Flaggen haben und dass wir jeden Stahl, jede Institution hassen, die existiert, um Menschen zu töten, um Energie zu verschwenden, um den Fortschritt der Arbeiterklasse
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121 122
Ebd., Band 3, S. 137. A. d. Ü. : Siehe auch Nolte, Marx und Nietzsche, S. 292. Ebd., Band 4, S. 59. A. d. Ü. : Auch hier weicht Talmon sehr stark vom italienischen Original ab. Das Originalzitat lautet : „Il proletariato italiano deve tenersi pronto a effettuare lo sciopero generale.“ – „Das italienische Proletariat muss sich bereithalten, den Generalstreik durchzuführen.“ Vgl. ebd., S. 130; Nolte, Marx und Nietzsche, S. 296. Mussolini, Opera omnia, Band 5, S. 180; Nolte, Marx und Nietzsche, S. 296. A. d. Ü.: Talmons englische Übersetzung weicht stark vom italienischen Original ab.
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zu unterdrücken.“123 „Das Proletariat ist durch den Krieg dazu aufgerufen, sein Blut zu vergießen, nachdem es seinen Schweiß in der Fabrik vergossen hat.“124 Aber es ging nicht nur darum, den Krieg durch einen Generalstreik zu verhindern oder zu stoppen. „Krieg führt fast immer zur Revolution“,125 erklärte Mussolini wie ein Echo Lenins, Guesdes und Rosa Luxemburgs. In einer Debatte in der Camera del Lavoro in Trient legte Mussolini am 25. Juni 1909 die Prioritäten für die Zeit des Ausbruchs des Krieges fest : „Die Sozialisten haben [ dann ] eine einzige Pflicht : Der Krieg an der Grenze muss das Signal für den Generalstreik, den Aufstand, den Bürgerkrieg im Inneren sein.“126 Ende September 1911 versuchte Mussolini, diese Doktrin beim Ausbruch des Krieges Italiens gegen die Türkei zur Eroberung Libyens auszuprobieren. Als Sekretär der Partei in Forli erklärte er einen – von Sabotageakten begleiteten – Generalstreik. Dieser schlief nach wenigen Tagen ein, und Mussolini landete im Gefängnis. Nach seiner Freilassung im März 1912 war es diese Episode, die es ihm ermöglichte, einen gewaltsamen Feldzug gegen die Reformisten in der Partei, Bissolati und Bonomi, zu starten, weil sie den Zusammenbruch des Streiks ver ursacht hätten, und sie aus der Partei zu drängen – um dann im November des Jahres einstimmig zum Herausgeber des Hauptparteiblattes Avanti mit Sitz im Zentralkomitee gewählt zu werden.127 Vor kurzem noch ein unbedeutender hungernder Vagabund, ein Deserteur der Armee und stürmischer, unter den italienischen Arbeitern der Schweiz tätiger sozialistischer Unruhestifter mit Lehrerdiplom, war der junge Mussolini nun auf dem besten Weg, der unbestrittene Führer der italienischen sozialistischen Partei zu werden.128 Man könnte sagen, dass das Kennzeichen für das Festhalten am mar xistischen Sozialismus, trotz der voluntaristischen, ja heroischen Akzente bei Marx und Engels, die Betonung unvermeidlicher Entwicklungen war und dass deshalb mit der Betonung individuellen Verhaltens die Entfernung vom ur-
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Mussolini, Opera omnia, Band 2, S. 7. Mussolini, Opera omnia, Band 4, S. 234. A. d. Ü. : Talmon gibt dieses Zitat etwas ungenau wieder. Deshalb weicht die vorliegende Übersetzung von der englischen Vorlage ab. Ebd., Band 4, S. 74. A. d. Ü. : Ähnlich ebd., S. 234 : „La guerra precede, prepara la rivoluzione.“ Ebd., Band 2, S. 170. Vgl. De Felice, Mussolini il rivoluzionario, S. 127, 133–135. A. d. Ü. : Siehe auch ebd., S. 98, 102 f., 110, 113, 115 f., 125–127. Siehe außerdem Ledeen, Renzo de Felice and the Controversy over Italian Fascism. Vgl. Megaro, Mussolini in Making, S. 144. A. d. Ü. : Siehe auch ebd., Kapitel 3 : Switzerland, S. 49–117; De Felice, Mussolini il rivoluzionario, Kapitel 2, S. 23–45, Kapitel 3, S. 46–61.
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sprünglichen Mar xismus umso größer wurde.129 Der Zwiespalt ist von großer Bedeutung für Lenins Theorie der ( revolutionären ) Avantgarde und sein kompromissloses Urteil über die reformistische Führung im Westen und den nichtbolschewistischen russischen Sozialismus – Opportunisten, letztendlich Liquidatoren, sämtlich kleinbürgerlichen Geistes. Heldentum, Selbstaufopferung und Mut sind von Lenin her vorgehobene Qualitäten des wahren proletarischen Kämpfers. Aber er würde niemals so weit gehen zu behaupten, dass diese von außen manipuliert werden könnten oder sollten. Die berühmte Rote Woche, die im Juni 1914 am Vorabend der Sarajevo Krise begann und sich schnell zu einem Generalstreik in ganz Italien ausweitete – dem ersten politischen Streik in der Geschichte – schien für Mussolini, der eine entscheidende Rolle dabei spielte, fast eine Revolution zu sein.130 In einem Artikel in seinem theoretischen Journal Utopia nannte Mussolini die Ereignisse gleichwohl unvermeidlich. Warum ? Weil zu viel Spannung in der Luft lag. Er führte diese Akkumulation nicht auf natürliche Bedingungen, sondern auf eine revolutionäre Gemütsverfassung zurück, den Wunsch und die Erwartung, etwas Neues zu sehen; und in eindeutig Sorel’scher Sprache auf „diese glühende Erwartung – quasi mystisch –, die Young auf seinen Reisen in Frankreich am Vorabend der Revolution [...] empfand“.131 Am 22. Juli 1913 sprach Mussolini in Mailand. „Dieses Proletariat braucht ein Blutbad.“132 Ein Jahr später, am 12. Juni 1914, übrigens in der Roten Woche, schrieb er in Avanti: „Wir stellen dies mit etwa jener gerechtfertigten Freude fest, die ein Künstler empfindet, wenn er seine Kreation eingehend betrachtet. Wenn das italienische Proletariat [...] eine neue Psychologie entwickelt [...], freier und ungeduldiger [...], geschieht dies dank [...] unserer Zeitung.“133 Das ist kaum die Sprache, die Lenin ver wendet hätte. Es ist bereits die Sprache des zukünftigen Duce. Der reformistische Sozialist Bonomi, den Mussolini aus der Partei gedrängt hatte, beschrieb Mussolini im Juni 1914 : „Nichts ist ihm wichtig, außer zu gewinnen. Was von Bedeutung ist, ist der Triumph über Scheu, Angst und Vernunft sowie die Klugheit, welche den revolutionären Fortschritt des Proletari-
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Vgl. Nolte, Marx und Nietzsche. Mussolini, Opera omnia, Band 6, S. 256. Konkret heißt es an dieser Stelle : „È un avvenimento a carattere decisamente rivoluzionario, anche se non s’inquadra esattamente nello schema storico o nella categoria : rivoluzione.“ Ebd. Salvemini, The Origins of Fascism in Italy, S. 72. Mussolini, Opera omnia, Band 6, S. 219 f. A. d. Ü. : Talmon gibt dieses Zitat ungenau wieder.
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ats behindert und hemmt.“134 Dynamischer Aktivismus wird Ziel und höchstes Kriterium. Mussolinis heroischer Ton, seine Verachtung für bürgerliche Dekadenz, sein Glaube an die belebenden Effekte proletarischer Kampfeslust, seine Verherrlichung des Opfers, ja des Blutvergießens als Dünger des heldenhaften Fortschritts, der Ruf nach militärischer Disziplin in der siegreichen Armee des Sozialismus, seine Vision der expandierenden Persönlichkeit und des bereicherten Lebens, nachdem die Revolution und die klassenlose Gesellschaft das asketische Christentum Lügen gestraft und die hohle Heuchelei eines vom habgierigen Kapitalismus gepredigten Puritanismus entlarvt hatten – all diese nietzscheanischen Akzente konnten, wie Nolte argumentiert, teilweise mit Marx und Lenin in Einklang gebracht werden, solange das erhabene Heldentum des Übermenschen der Zukunft – ständig geprüft und im Kampf abgehärtet – nicht zum Selbstzweck gemacht und Geschichte nicht als eine ewige Schlacht zwischen dem römischen Ideal des „Imperiums“ und der jüdischen Moral der Priester und Sklaven, der Ethik der Selbstverleugnung und des Hasses auf das Leben dargestellt wurde.135 Mussolini überquert den Rubikon zum Faschismus und sogar Rassismus, indem er das Konzept der Menschheit fallen lässt, auch wenn es identifiziert wird mit und reduziert wird auf das Proletariat, das auf dem Weg zur universellen Erlösung ist, und für die Idee des ewigen Krieges zwischen Herren und Sklaven, den Harten und den Sanften, den Kriegerischen und den Friedlichen, der dynamischen Elite und der trägen statischen Mehrheit eintritt.136 In einem Essay Finis Europa ? über die Gefahr einer neuen barbarischen Invasion Europas durch Asien schreibt Mussolini in Bezug auf die weit verbreitete Furcht vor dem Niedergang : „So lasse man denn erobern, zerstören und erneuern. Wie der Zusammenprall zwischen den Barbaren und dem römischen Imperium den Interessen der Spezies nicht gefährlich war, so ist es wahrscheinlich, dass der Zusammenstoß zwischen zwei Kontinenten, der die Rasse durch die Austilgung der Schwachen hebt, für die künftige Entfaltung der 134
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Bonomi, Gli avvenimenti recenti e il socialismo italiano; De Felice, Mussolini il Rivoluzionario, S. 128 ( Artikel Mussolinis vom 18. Juli 1912) : „Il congresso socialista di Reggio Emilia dev’essere invece interpretato come un tentativo di rinascita idealistica. L’anima religiosa del Partito ( ecclesia ) si è scontrata ancora una volta col pragmatismo realistico [...]. Ci sono i termini dell’eterno conflitto fra l’idealismo e l’utilitarismo, tra la fede e la necessità. Che importa al proletariato di capire il socialismo come si capisce un teorema ? E il socialismo è forse riducibile a un teorema ? Noi vogliamo crederlo, noi dobbiamo crederlo, l’umanità ha bisogno di un credo. È la fede che muove le montagne perché dà l’illusione che le montagne si muovano. L’illusione è, forse, l’unica realtà della vita.“ Vgl. Nolte, Marx und Nietzsche, S. 269–277. Ebd., S. 304–315.
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Pflanze Mensch [ ein berühmter Begriff von Nietzsche – J. L. T.] vorteilhaft sein wird.“137
7. Der Bruch mit dem Internationalismus In der ersten Augustwoche 1914 stand Mussolini ohne ein konkretes Anliegen und ohne Programm da. In Anbetracht der Wahl, welche die Arbeiterklasse in allen kriegführenden Ländern getroffen hatte, klang die Doktrin jetzt beinahe hohl, sich einem Krieg durch einen Generalstreik zu widersetzen und diesen in einen Aufstand zu ver wandeln, der dann zu einem internationalen Bürgerkrieg und letztendlich zur Weltrevolution eskalieren sollte. Kurz darauf gab Mussolini zu, ein Generalstreik sei nur möglich, wenn er gleichzeitig in allen kriegführenden Ländern ausbrach. Sonst würde, wie Guesde lehrte, das revolutionärste Proletariat einen schrecklichen Preis zahlen müssen und unweigerlich scheitern.138 Es gab in keinem Land einen Streik. Das einzige wichtige Land, das nicht in den Krieg gerissen wurde, war Italien. Obwohl auch Mussolini wie viele Italiener, vor allem die Sozialistische Partei, anfangs die italienische Neutralität als gegeben annahmen, hatten viele Italiener das Gefühl, dass dies eine einmalig unheldenhafte Rolle darstellte. Als der Krieg voranschritt und die Dimensionen eines kolossalen Kampfes und einer beispiellosen Tragödie annahm, konnte ein Mann wie Mussolini nicht anders, als die Kraft einer Mystik zu erkennen, die Millionen dazu brachte, das höchste Opfer zu bringen, und andere, unermessliches Leid zu ertragen. Solch ein Umbruch trug ohne Zweifel riesige Veränderungen und revolutionäres Potential in sich. Am Ende des Krieges würde nichts wieder so sein wie zuvor. Eine neue Welt würde entstehen. Es war erniedrigend für ein großes Land mit der Tradition des Risorgimento und für Menschen, die ein dynamisches Verständnis von Geschichte lehrten, daneben zu stehen und sich mit einer Zuschauerrolle zu begnügen. Außerdem war sich jeder bewusst, dass mit beiden Kriegsparteien geheime Verhandlungen geführt wurden und Italien – entschlossen, sich dem 137
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Mussolini, Opera omnia, Band 2, S. 247; Nolte, Marx und Nietzsche, S. 322. Giovanni Zibordi, zit. in De Felice, Mussolini il rivoluzionario, S. 216 : „Col prestigio irresistibile della sua combattività aspra, ma elevata, che trascina le folle senza essere – in barba alla etimologia – volgarmente demagogica; con alcune doti personali di credente e di milite, egli fa ingoiare alle masse tutto quello che vuole.“ Siehe ebenfalls Nenni, Sei anni di guerra civile, S. 39 : „Tra lui e il mondo di fronte, – il mondo dei borghesi, il mondo ufficiale, – vi era un abisso. Le considerazioni mondane e sentimentali non contavano per lui. Plebeo era e pareva volesse restare, ma senza amori per le plebi. Negli operai ai quali parlava non vedeva dei fratelli, ma una forza, un mezzo, del quale potrebbe ser virsi per rovesciare il mondo.“ Vgl. Mussolini, Opera omnia, Band 6, S. 321–323.
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höchsten Bieter zu verkaufen – mit seinem Eintritt in den Krieg hausieren ging. Auch wenn Mussolini, nachdem er den Sprung gewagt hatte, Geld von interessierten Quellen annahm, sprechen alle Anzeichen dafür, dass es nicht Bestechung war, was ihn dazu brachte, und dass ein gewisses Zögern, Unschlüssigkeit und Schmerz hinter seiner Wende zum Beitritt zur Entente standen.139 Abgesehen von seiner Unfähigkeit, Zuschauer zu sein, war sich Mussolini wie viele Italiener bewusst : Wenn Italien bis zum Schluss nicht am Krieg teilnahm, verlöre es jegliche Möglichkeit der Mitsprache an der internationalen Nachkriegsordnung. Wenn die Mittelmächte gewännen, würde Österreich zweifellos in der stärkstmöglichen Position sein, um Italien jegliche territorialen Zugeständnisse außerhalb seiner eigenen Besitzungen im Trentino, in Triest oder Dalmatien zu ver wehren, besonders einem Italien, welches das österreichisch - deutsche Bündnis verlassen hatte. Es war möglich, von Frankreich und England endlose Versprechungen auf anderer Leute Kosten zu erpressen : in Europa, Kleinasien und Afrika. Die Kriegsanstrengungen würden sicherlich auch eine industrielle Revolution in Italien herbeiführen, die Modernisierung und Demokratisierung fördern, wie es jeder totale Krieg tat.140 Fühlte sich Mussolini zu diesem kritischen Zeitpunkt noch immer als Internationalist ? Wie wir sehen werden, hatte er bis dahin alle Illusionen bezüglich einer internationalen revolutionären Solidarität aufgegeben, aber er hatte sich noch nicht zum Chauvinisten und Gläubigen des egoismo sacro entwickelt. Wie viele radikale Demokraten und Sozialisten war Mussolini überzeugt, ein deutscher Sieg werde den allgemeinen Fortschritt in Richtung Demokratie, Sozialismus und Freiheit im Allgemeinen zurückwerfen, obwohl er zur gleichen Zeit nachdrücklich darauf bedacht war, dass Frankreich und England trotz ihrer Traditionen nicht die Speerspitze der internationalen Demokratie, geschweige denn des revolutionären Sozialismus seien.141 Mussolini war sicherlich noch kein Nationalist in dem Sinne, in dem Corradini ein leidenschaftlicher Nationalist war. Im Scheitern der großen universellen Hoffnung schienen sich die Belange der einzelnen Nation als die wahrhaftigsten und, wie die Dinge lagen, die unschuldigsten herauszustellen, jedenfalls insoweit als sie die Rechte der anderen nicht verletzten. 1914 beharrte Mussolini noch auf der Notwendigkeit, die Rechte der slawischen Nachbarn
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141
Vgl. Salvemini, The Origins of Fascism in Italy, S. 100–118; De Felice, Mussolini il rivoluzionario, S. 271–287. Vgl. Salvemini, The Origins of Fascism in Italy, S. 100–118; De Felice, Mussolini il rivoluzionario, S. 228–239; Mussolini, Opera omnia, Band 7, S. 171–173, 229–231, 238–240. Vgl. Mussolini, Opera omnia, Band 6, S. 383, 391 f.
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zu respektieren und eine Irridenta im Gegenzug zu verhindern.142 Er war noch ein gutes Stück entfernt von der Religion des Nationalismus. Aber sein Weg führte über Ernüchterung in Bezug auf den Internationalismus. Mussolinis Beitrag zur theoretischen Zeitschrift Utopia im Herbst 1913 bestätigt bereits eine wachsende Glaubenskrise. „Militarismus“, schreibt er, „ist der Alptraum des heutigen Europas. Abrüstung oder internationaler Krieg? Das ist das tragische Dilemma.“143 Aus prinzipiellen wie aus taktischen Gründen war der Sozialismus aufgerufen, den Kampf gegen den Militarismus zu seinem Hauptanliegen zu machen : Denn es ging in der Tat entweder um nationalistischen Militarismus oder um revolutionären Sozialismus. „Der Sozialismus wird nicht stark genug sein, um sich einem gewaltsamen militärischen Aufstand entgegenzustellen.“144 Durch die Annahme des Reformismus und damit verbunden die Anerkennung des Vorrangs der nationalen Gemeinschaft wurde das Establishment der Sozialistischen Partei zur Geisel der Legalität, also der nationalistisch - militaristischen Politik. Sie konnten nicht länger auf direkte Aktion zurückgreifen, und Resolutionen auf Papier waren nutzlos. Ihre theoretische Opposition zum Nationalismus wurde nicht nur politisch, sondern auch psychologisch und moralisch untergraben. Unter solchen Umständen waren die Bemühungen der revolutionären Sozialisten, die Karte des AntiMilitarismus zu spielen, in der Hoffnung, ein Generalstreik werde die kriegführenden Staaten lähmen und zu einem Bürgerkrieg führen, voller Risiken. Wenn die theoretische Überzeugung und die Gefühle hinter solch einem Standpunkt nicht stark genug waren, könnte das Bürgertum versucht sein, einen Krieg zu beginnen als eine Möglichkeit, den revolutionären Sozialismus für lange Zeit zu diskreditieren und abzuwürgen.145 Von da an begann Mussolini sich zu fragen, ob ein „moderner internationaler Sozialismus“ nicht eine gänzlich bedeutungslose Phase war. Es gab tatsächlich keinen einzigen Grundsatz des Sozialismus für alle Nationen. Die unbestrittene Hegemonie der deutschen Sozialdemokratie hatte die Illusion eines allgemeinen Konsenses geschaffen. Aber wer in der SPD glaubte wirklich an den Generalstreik ? „Nur Rosa Luxemburg, eine polnische Jüdin“,146 eine Außenseiterin und eine Häretikerin. Die SPD war schon lange vorher zum Verbündeten des Kaisertums geworden.
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Vgl. ebd., Band 7, S. 310; De Felice, Mussolini il rivoluzionario, S. 310 f. Mussolini, Opera omnia, Band 6, S. 7. A. d. Ü. : Vollständig lautet das Zitat : „Il militarismo è l’incubo dell’Europa contemporanea. Disarmo o guerra internazionale ? Ecco il tragico dilemma di un domani più vicino di quanto si creda.“ Ebd., S. 6. Vgl. ebd., Band 4, S. 234. Ebd., Band 6, S. 263.
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Gegen Ende August 1914 verhärtete sich Mussolinis Sicht. In einem Requiem auf die Zweite Internationale, die er mit seinem alten Pseudonym unterzeichnete, „L’homme qui cherche“, schrieb er : „Die Sozialistische Internationale ist tot [...]. Aber hat sie jemals gelebt ? Sie war ein Wunsch, keine Realität. Sie hatte ein Büro in Brüssel und veröffentlichte ein - oder zweimal im Jahr einen langweiligen Bericht in drei Sprachen. [...] Die gewerkschaftliche Internationale bestand für ein Jahr und veröffentlichte eine einzige Halbmonatsschrift.“ Theoretisch waren sechs bis sieben Millionen Arbeiter in der Internationale organisiert. „Wie viele von ihnen hatten internationale Überzeugungen? Sehr wenige.“147 Der Bankrott der Internationale bestand nicht nur darin, dass sie den Krieg nicht hatte verhindern können, und darin, dass sich die Sozialisten zeitweise entschieden hatten – auf Grund aufrichtiger Vaterlandsliebe oder aus Mangel an Alternativen –, mit der Nation zu verschmelzen. Die Wurzeln dieses Bankrotts lagen im Fehlen einer gemeinsamen Sicht auf die Ursachen des Krieges und auf die Frage der Verantwortlichkeit für ihn, also theoretisch im Allgemeinen.148 In der Abkehr von einem fiktiven Internationalismus hin zur Bestätigung der grundlegenden Realität des nationalen Interesses wird ein gewaltsames Ausschlagen des Pendels erkennbar. Als Reaktion auf die Herausforderung, die Libero Tancredi Mussolini in der konser vativen Resto del Carlino149 entgegenwarf – „der einzige Mann in der Führung der Sozialistischen Partei, der zu eigenständigem Denken imstande ist“149z – schreibt Mussolini am 8. Oktober 1914, dass er sich nicht dazu über winden könne, in die oberflächliche Begeisterung über die dreifachen Kriegsanstrengungen als eines revolutionären, demokratischen oder sozialistischen Krieges einzustimmen.150 Was das Grundprinzip der italienischen Inter vention betraf, sollte diese Frage von einem reinen und einfach nationalen Standpunkt aus betrachtet werden. Und was ist der rein nationale Standpunkt ? Die Herausforderung und Möglichkeit für Italien, sich wie eine Großmacht zu verhalten.151 Einige Tage später wiederholte Mussolini seine Priorität der nationalen Erwägungen gegenüber instinktiven, sentimentalen oder ideologischen Sym147 148 149
Ebd., S. 321. Vgl. ebd. Tancredi ( Pseudonym von Massimo Rocca ), zit. in De Felice, Mussolini il rivoluzionario, S. 255. 149z Konkret heißt es : „Sei l’unica persona capace di avere un’opinione fra il gruppo di piccoli uomini che oggi dirige il Partito socialista.“ – „Du bist in der Gruppe der kleingeistigen Männer, die heute die Sozialistische Partei führt, die einzige Person, die zu einer [ eigenen ] Meinung fähig ist.“ De Felice, Mussolini il rivoluzionario, S. 255. 150 Vgl. Mussolini, Opera omnia, Band 6, S. 382 f. 151 Vgl. ebd., S. 383 f.
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pathien für das Land der Französischen Revolution.152 Aber, fügte er bezeichnender weise hinzu, diese Priorität schloss nicht aus, dass der nationale Standpunkt „proletarisch“ sei.153 Hier haben wir einen Hinweis auf Mussolinis zukünftige Übernahme der Theorie, wonach Italien eine proletarische Nation sei. In Mussolinis Äußerungen nach seinem Bruch mit der Partei können wir die heraufdämmernde Erkenntnis der Ungeheuerlichkeit des Ignorierens der intensiven Realität des Nationalgefühls, der Notwendigkeit der Verteidigung des Vaterlandes, beobachten, derer die linken Sozialisten sich schuldig gemacht hatten. Konnte man die französischen und belgischen Sozialisten dafür verdammen, in einer Stunde des höchsten nationalen Notstandes mit der nationalen Solidarität verschmolzen zu sein bzw. ihr Klassenbewusstsein dieser untergeordnet zu haben ? „Es gibt in der Welt einen einzigen unverfälschten, wahren und reinen Sozialismus : den italienischen Sozialismus“ – eine Hybris, die Mussolini nachdrücklich zurückweist.154 „Der Ursprung unseres psychologischen Unbehagens ist dies : Wir Sozialisten haben nie die Probleme der Nationen untersucht. Die Internationale hat sich nie damit beschäftigt; die Internationale ist tot, fortgerissen von den Ereignissen. [...] Zehn Millionen Proletarier sind heute auf dem Schlachtfeld.“155 Die führende Partei der Internationale, die SPD, tat nichts, um den Krieg aufzuhalten. Sie stand nicht nur dem nationalen Problem gleichgültig gegenüber. Sie fühlte sich zum Reformismus, folglich zum Nationalismus und Imperialismus („eine gefährliche Theorie“), hingezogen.156 Bebel hatte erklärt : „Wir sind als erstes Deutsche und danach Sozialisten.“ Die SPD fand niemals eine „Grundlage für einen Kompromiss zwischen der Nation, welche eine historische Realität, und der Klasse, welche eine lebendige Realität war“.156z Der menschliche Fortschritt hatte noch nicht die Phase der Nationen übersprungen. Werfen wir einen Blick auf Österreich, das als Labor für die ersten Erfahrungen mit dem Internationalismus dienen sollte. „Dieses Experiment schlug wegen der nationalen Frage vollständig fehl. Das Nationalgefühl existiert, es ist unmöglich, das abzustreiten ! Der alte Antipatriotismus ist untergegangen [...]. Turati reflektiert in seinem Tagesbefehl das Konzept für die Verteidigung des Vaterlandes im Falle eines Angriffs. [...] Wenn man die Not-
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Vgl. ebd., S. 391 f. Vgl. ebd., S. 392. Ebd., S. 401. A. d. Ü. : Talmon hat dieses Zitat etwas ungenau wiedergegeben. Vgl. in dem Zusammenhang auch Mussolini, Schriften und Reden, Band 1, S. 9–18. 155 Ebd., S. 427. 156 Vgl. ebd., S. 428. 156z Vgl. ebd., S. 428. A. d. Ü. : Das Zitat von August Bebel konnte nicht wörtlich nachgewiesen werden.
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wendigkeit der Verteidigung einräumt, muss man auch die Notwendigkeit des Militarismus zugestehen.“157 Und so erheben sich Kraft und Stärke als Hauptkategorien. Es war kein Zufall, dass Mussolini die Mottos für seine neue Zeitschrift Il Popolo d’Italia von Blanqui – „Qui a du fer a du pain.“ – und von Napoleon bezog : „Die Revolution ist eine Idee, die Bajonette gefunden hat.“157z In diesem Geist schreibt Mussolini : „Der Krieg muss den Italienern Italien offenbaren. Er muss vor allem die verleumderische Legende, dass die Italiener keine Kämpfer sind, zerstören, er muss die Schande von Lissa und Custozza auslöschen, er muss der Welt beweisen, dass Italien imstande ist, einen Krieg zu führen, einen großen Krieg. Wir müssen es wiederholen : einen großen Krieg.“158
8. Die Suche nach einer Mission – vom sozialen Messianismus zum Imperialismus „Wenn die Revolution von 1789, welche sowohl eine Revolution als auch ein Krieg war, die Welt für die Bourgeoisie nach ihrer langen und säkularen Probezeit geöffnet hat“, erklärte Mussolini, „scheint die jetzige Revolution, die auch ein Krieg ist, die Zukunft für die Massen nach ihrer Probezeit von Blut und Tod in den Gräben zu öffnen. [...] Der Mai 1915 war der erste Abschnitt der Revolution, ihr Anfang. Die Revolution dauerte unter dem Namen des Krieges 40 Monate lang an. Sie ist noch nicht vorüber. Sie mag oder mag nicht diesem dramatischen und auffallenden Kurs folgen. Ihr Tempo mag schnell oder langsam sein. Aber sie geht weiter. [...] Was Methoden angeht, haben wir keine Vorurteile; wir akzeptieren, was immer notwendig wird, ob legal oder sozusagen illegal. Eine neue historische Epoche beginnt, eine Epoche der Massenpolitik und demokratischer Inflation. Wir können dieser Bewegung nicht im Wege stehen. Wir müssen sie in Richtung politischer und wirtschaftlicher Demokratie führen.“159 Revolutionärer Messianismus hatte auch Konser vative beeinflusst. Am 20. November 1918 nannte Orlando den Krieg „die größte politisch - soziale Revolution, die je in der Geschichte aufgezeichnet wurde und sogar die Französische Revolution übertrifft“.160 Salandra meinte : „Ja, der Krieg ist eine 157
Mussolini, Opera omnia, Band 6, S. 428. A. d. Ü. : Talmon hatte dieses Zitat etwas verkürzt wiedergegeben. 157z Ebd., Band 7, S. 7 ( Fußnote ). 158 Ebd., S. 197. A. d. Ü. : Bei Talmon war dieses Zitat etwas ungenau übersetzt. 159 Rossi, The Rise of Italian Fascism, S. 10 f. 160 Orlando, zit. in ebd., S. 10.
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Revolution; eine große, eine sehr große Revolution. Es ist die Stunde der Jugend. Lasst niemanden denken, dass eine friedliche Rückkehr zur Vergangenheit nach diesem Sturm möglich sein wird.“161 Alle Parteien in Italien sprachen von der Notwendigkeit, eine verfassunggebende Versammlung einzuberufen. Ende 1921 schien es für einen kurzen Moment, als ob sich eine Koalition des linken Flügels entwickeln könnte, die versprach, der faschistischen Gewalt ein Ende zu setzen. Mussolini ahnte die Gefahr. „Ich erkläre gleich, dass dies [...] sehr schwierig ist, und füge noch hinzu, dass die Sache nicht ganz ohne Gefahren ist, denn wenn die Faschisten und Kommunisten täglich gemeinsam den Verfolgungen durch die Polizei ausgesetzt gewesen wären, hätten sie sich schließlich auch verständigen können ( um sich dann wieder bei der Aufteilung der Beute zu streiten ); ich gebe auch zu, dass es zwischen uns und den Kommunisten keine politische Gemeinsamkeit gibt, wohl aber eine gewisse geistige. Wir wie Ihr sind der Meinung, dass eine einheitliche, zentralisierte Staatsgewalt nötig ist, die jeden Einzelnen einer eisernen Disziplin unter wirft; mit dem Unterschied, dass Ihr dieses Resultat durch den Begriff der Klasse und wir durch den Begriff der Nation erreichen wollen.“162 Am Tag nach dem Waffenstillstand von 1918 sprach Mussolini die Sprache der messianischen Revolution. Die proletarischen Massen waren auf den Schwingen eines Krieges erschienen, der auch eine Revolution wie die Französische Revolution war.163 Der Urheber und Nutznießer der jetzigen Revolution machte die Revolution nicht, indem er dem Krieg widerstand oder ihn zu einem Bürgerkrieg machte, sondern indem er den Krieg in Richtung Revolution lenkte. Der nationale Krieg wurde, was seine Natur und sein Ziel anging, von Mussolini noch immer in Klassenbegriffen gedacht. „Der Krieg hat die proletarischen Massen in den Vordergrund gerückt. Er hat ihre Ketten gebrochen und ihren Mut beflügelt. Der Krieg des Volkes endete mit einem Sieg des Volkes.“164 Tatsächlich wurde die Zukunft Italiens als Teil einer internationalen Bewegung gesehen : der Sturz der vier Reiche, die Entstehung neuer Staaten, die Umgestaltung einiger der bereits bestehenden, die bolschewistische Revolution und die revolutionären Transformationen in
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Salandra, zit. in ebd. Mussolini, zit. in ebd., S. 171. A. d. Ü. : Siehe auch Mussolini, Schriften und Reden, Band 2, S. 215. Da es sich um einen Auszug aus einer Rede vor dem Parlament handelt, werden die Anredepronomen großgeschrieben. Das Zitat wurde hier etwas ausführlicher wiedergegeben als in der englischen Originalfassung des vorliegenden Bandes. Vgl. ebd., S. 10. Mussolini, zit. in ebd.
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einigen anderen Ländern – alle diese nationalen Entwicklungen erforderten die Formulierung neuer Gesellschaftsverträge. Wenn Mussolini bis Ende 1918 hauptsächlich eine soziale Revolution, wenn auch begrenzt auf eine einzige Nation, im Sinn hatte, wie kam es dann, dass der Nationalismus schließlich die Oberhand im Kampf um die Seele des italienischen Volkes gewinnen konnte ? Die Grundlage für diese Entwicklung bildete ein Gefühl der Enttäuschung und Demütigung in der italienischen Nation, die – wie viele glaubten – um die Früchte ihres Sieges betrogen und der Belohnung für das Leid beraubt worden war. „Dieses Gefühl der Ungerechtigkeit und des Verlustes wurde von Mussolini kaltblütig bis zum äußersten Wahnsinn ausgenutzt und war vielleicht der wichtigste der psychologischen Faktoren“, schreibt A. Rossi164z in seinem großartigen Buch Rise of Italian Fascism 1918–1922, „die zum Erfolg des Faschismus beitrugen.“ Mussolini sah „in den verletzten Nationalgefühlen die wirksamste Methode, um die Macht zu behaupten und den Kampf gegen die demokratische Revolution zu führen“.165 Das Bild einer verletzten proletarischen Nation, die sich bemühte, ihren rechtmäßigen Platz wiederzuerlangen, wurde zu Mussolinis Antwort auf die Doktrin der sozialistischen Revolution. Es sollte die Achse des Totalitarismus der Rechten bilden, die Quelle ihrer Dialektik und Rechtfertigung all ihres ver wirrenden Opportunismus – eine Rolle ähnlich derjenigen, welche die revolutionäre Strategie im Dienste des Kommunismus spielen sollte. Das ursprüngliche Programm, das von der Gründungskonferenz der Fasci am 23. März 1919 auf der Piazza San Sepolcro in Mailand angenommen wurde, beinhaltet alle möglichen demokratischen Beschönigungen – allgemeines Wahlrecht mit proportionaler Repräsentation und Stimmrecht für Frauen; Abschaffung des Senats; eine verfassunggebende Versammlung; nationale Fachräte nach dem Vorbild Kurt Eisners in Bayern; den Acht - Stunden - Tag; einen Mindestlohn; Teilnahme der Arbeiter an der Führung und Ver waltung der Industrie – gesetzlicher Ruhestand mit 55; Ersetzung der regulären Armee durch eine Miliz mit kurzen Übungsperioden; Verstaatlichung der Waffen - und Munitionsfabriken; weitreichende progressive Besteuerung einschließlich einer außerordentlichen Steuererhebung auf Kapital, was auf eine teilweise Zwangsenteignung des gesamten Besitzes hinauslief; 85 Prozent Steuern auf Erträge aus der Kriegszeit; Akzeptanz der Prinzipien des Völkerbundes;
164z A. d. Ü. : Angelo Tasca veröffentlichte unter dem Pseudonym Amilcar Rossi. 165 Ebd., S. 31 f. A. d. Ü. : Talmon verbindet an dieser Stelle zwei weit auseinanderliegende Sätze, die im Deutschen sprachlich und sinngemäß schwer zu verknüpfen sind.
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Ablehnung des Imperialismus; und erneute Beteuerung der Integrität jeder Nation.166 Die Bestimmungen zu einer demokratischen Außenpolitik werden jedoch sofort konterkariert – nicht nur durch die Forderung, dass das Prinzip im Falle Italiens „in den Alpen und an der Adria durch seinen Anspruch auf Fiume [ethnisch italienisch, aber Italien im Londoner Vertrag von 1915 nicht zugestanden ] und Dalmatien“167 ( zugestanden, aber über wiegend nicht - italienisch in seiner ethnischen Zusammensetzung ) realisiert werde, was bedeutete, dass sehr große Teile nicht - italienischer Bevölkerung annektiert würden. Sie sind auch vollkommen unvereinbar mit der eindringlichen Erklärung Mussolinis, die dem Programm beigefügt ist : „Wir haben vierzig Millionen Einwohner auf einer Fläche von 287 000 Quadratkilometern, die noch vom Apennin durchzogen ist, wodurch sich die verfügbare Fläche weiter vermindert : In zehn oder zwanzig Jahren werden es sechzig Millionen Einwohner sein, und wir haben kaum anderthalb Millionen Quadratkilometer Kolonien, zum größten Teil Sandwüsten, die bestimmt nicht den Bevölkerungsüberschuss werden aufnehmen können. Aber wenn wir uns umschauen, so bemerken wir England mit 47 Millionen Einwohnern und einem Kolonialreich von 55 Millionen Quadratkilometern, und Frankreich mit 38 Millionen Einwohnern und einem Kolonialreich von 15 Millionen Quadratkilometern. Ich könnte euch anhand der Ziffern beweisen, dass alle Länder der Welt [...] ein Kolonialreich haben, [...] das sie nicht gewillt sind aufzugeben. [...] Der Imperialismus ist die Lebensgrundlage jedes Volkes, das nach wirtschaftlicher und geistiger Ausdehnung strebt. [...] Wir sagen : entweder sind alle Idealisten oder keiner. Man handelt im eigenen Interesse. [...] Wir wollen unseren Platz in der Welt einnehmen, denn wir haben das Recht darauf. [...] Wenn der Völkerbund ein feierliches ‚Komplott‘ der reichen gegen die armen Länder werden sollte, um die gegenwärtigen Bedingungen des Gleichgewich-
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Vgl. De Felice, Mussolini il rivoluzionario, S. 506–513, 742–745. A. d. Ü. : Im März 1919 auf der genannten Gründungskonferenz wurde das Programm zwar diskutiert, aber erst im Juni 1919 wurde es in „Il Popolo d’Italia“ erstmals publiziert. Siehe außerdem : Rossi, The Rise of Italian Fascism, S. 33–36. Rossi, The Rise of Italian Fascism, S. 35. A. d. Ü. : Siehe auch Mussolini, Schriften und Reden, Band 1, S. 341 : „Die Versammlung erklärt, sich dem Imperialismus der anderen Völker auf Kosten Italiens und einem eventuellen Imperialismus Italiens auf Kosten der anderen Völker zu widersetzen und nimmt den obersten Grundsatz des Völkerbundes an, der die vollständige Unversehrtheit jedes Gebietes voraussetzt, eine Vollständigkeit, die sich hinsichtlich Italien von den Alpen und vom Adriatischen Meere an bis zur Wiedererlangung und Eingliederung Fiumes und Dalmatiens verwirklichen muss.“
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tes in der Welt festzulegen und zu verewigen, so werden wir ihn scharf im Auge behalten.“168 So werden konser vative und rechte Prämissen zum Ausgangspunkt für revolutionäre oder, wenn man dies vorzieht, konterrevolutionäre Einstellungen. Die historische, unpersönliche, objektive, alles bestimmende Gegebenheit des Nationalstaates und die Akzeptanz des Postulats einer internationalen Ordnung – des Völkerbundes – machen Platz für eine revisionistische Haltung, die gegen das bestehende Gesetz der Nationen rebelliert, wie es im Status quo und in internationalen Abkommen kodifiziert ist. Sie verleugnet die Legitimität der bestehenden internationalen Ordnung und beruft sich implizit auf das revolutionäre Recht des Widerstandes gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit, wie die Französische und bolschewistische Revolution es taten. Nur dass dies dazu dient, den Imperialismus als die offensichtliche nationale Bestimmung Italiens zu rechtfertigen. Wir werden sehen, dass als eine Bedingung für den Imperialismus bzw. als seine logische Konsequenz gleichzeitig der Totalitarismus als die revolutionäre ( konterrevolutionäre ) Verneinung des Individualismus, des Liberalismus, der Demokratie und des Sozialismus proklamiert wird – als ihr Totengräber und Nachfolger.
9. „Die Philosophie des Faschismus“ Die berühmte Philosophie des Faschismus,169 entworfen vom Duce des faschistischen Italiens im Jahr 1932 als reife Frucht faschistischer Selbsterkenntnis, beginnt mit Mazzinis Argumenten; man könnte auch sagen : mit Hegel’schen Kategorien – ohne Zweifel der Beitrag Gentiles –, wie sie vom Propheten des Risorgimento den Umständen Italiens angepasst worden waren. Diese Mazzinisch - Hegel’sche Einleitung wird dann auf Ideen übertragen, die aus einem ganz anderen Universum kommen. Der Autor schrieb offensichtlich mit Blick auf Kurse in politischer Philosophie und historische Seminare. Er war bemüht, den Umfang seines Verständnisses und die Tiefgründigkeit seiner Botschaft darzulegen und dafür gleichzeitig revolutionäre Neuheit und Seriosität zu beanspruchen. Alles in allem war Mussolinis stärkste Antriebskraft das unaufhörliche Bedürfnis ( ebenfalls charakteristisch für den anderen Weltenretter und Usurpator, Napoleon ), sich als stupor mundi zu erweisen. Die Kunstfertigkeit dieses Werkes war natürlich wichtiger als seine Genauigkeit. 168 169
Ebd., S. 35 f. A. d. Ü. : Siehe auch Mussolini, Schriften und Reden, Band 1, S. 342 f. Mussolini, Dottrina del Fascismo; ders., Fascismo; Oakeshott, The Social and political doctrines, S. 164–186, 190–197. Deutsche Fassung : Mussolini, Die Philosophie des Faschismus.
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Die Nation war der wichtigste Messwert. Die Nation war nicht das Ergebnis eines Gesellschaftsvertrags zwischen Individuen, einer stets erneuerten Volksabstimmung. Sie war nicht die Summe ihrer Komponenten. Sie war eine überlegene, überpersonale Wirklichkeit, aber nicht im biologischen Sinne. Sie war ein moralisches Gesetz, eine Tradition, eine Mission, die vergangene, jetzige und zukünftige Generationen verband sowie alle Individuen, sofern sie sich von den Beschränkungen der Gegenwart und ihren unmittelbaren privaten Möglichkeiten und Interessen zu trennen vermochten. Vom Individuum wurde erwartet, sich in ein Instrument, ein Mittel zu ver wandeln. Sein Leben war Pflicht, Hingabe, Dienst und Aufopferung. Diese Sicht der nationalen Einheit und des auf sie bezogenen Individuums war ein ethisches Konzept, das die Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit umschloss. Daher ist das Leben, wie es die Faschisten verstehen, „ernst, streng, religiös“ : ein Mazzinischer religiöser Ruf.170 Mussolini stellte dies den individualistischen Abstraktionen des 18. Jahrhunderts entgegen, wie zum Beispiel individuellen Rechten, Wahlfreiheit, persönlichem Besitz, den materialistischen Vorstellungen von Glück sowie den Utopien und Innovationen, die man erfunden hatte, um das individuelle und allgemeine Wohl in einem letzten Stadium der Harmonie und Glückseligkeit zu sichern. Die Rechte und Freiheiten des Individuums wurden ver wirklicht in der Würde des Dienstes an der nationalen Sache, mit anderen Worten : am Staat, in der Fähigkeit des Menschen, sich mit der institutionalisierten rationalen Freiheit zu identifizieren, die der Staat verkörperte und durchsetzte. „Und wenn Freiheit ein Recht des realen Menschen sein soll und nicht jenes abstrakten Gebildes, an das der individualistische Liberalismus dachte, so ist der Faschismus für die Freiheit.“171 Alles war im Staat enthalten und wurde durch ihn geformt; nichts, was menschlich oder spirituell genannt werden konnte, stand außerhalb des Nationalstaates. „In diesem Sinne ist der Faschismus totalitär, und der faschistische Staat als Zusammenfassung und Vereinheitlichung aller Werte gibt dem Leben des ganzen Volkes seine Deutung, bringt es zur Entfaltung und kräftigt es.“172 Er war anders als der liberale Staat nicht nur ein Nachtwächter oder Garant des zivilen Friedens. Die Mission und Tradition, das oberste Gesetz und der historische allgemeine Wille der Generationen waren keine Ansammlung flüchtiger, flauer Gefühle und edler Absichten. Sie wurden durch ein kompaktes Verhaltensreglement aufrechterhalten, das der Staat durchsetzte. Die Betonung lag auf dem
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Mussolini, Die Philosophie des Faschismus, S. 3. Ebd., S. 5. Ebd.
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Ursprung der organisierten Macht und nicht auf der natürlichen Evolution, das heißt auf dem Staat, und nicht auf seinem Volk. „Die Nation erzeugt aber nicht den Staat [...]. Vielmehr wird die Nation vom Staate geschaffen, der dem Volke, das sich seiner eigenen sittlichen Einheit bewußt ist, einen Willen und daher seine eigentliche Existenz verleiht.“173 Wie bereits erwähnt, waren die Italiener niemals ein einheitlicher Staat gewesen, und Italien war über die Jahrhunderte zerstückelt worden, von Fremden dominiert und gezwungen, fremden Interessen zu dienen, während eine Vielzahl einander widersprechender Traditionen gepflegt wurde. Die italienische Nation konnte daher kaum als Quelle einer Tradition, als Trägerin einer Mission und Verteidigerin eines allgemeinen Willens betrachtet werden. Der 1861 gegründete Staat Italien war sicherlich noch zu jung, zu schwach, sich seiner Identität und seines Schicksals zu unsicher und auf der internationalen Bühne zu mitleiderregend erfolglos, um solches zu leisten. Wo konnte Mussolini den allgemeinen Willen, die Tradition, das besondere nationale Existenzprinzip entdecken ? Während er seinen früheren Phobien entsagt und eher wider willig der Religion und der Monarchie einen Platz im nationalen Pantheon zugesteht, lehnt er eindeutig de Maistres Ideen vom Papst als höchster Instanz und jegliche royalistische Mystik ab. Wie bereits gesagt, hatte Italien keine politische Klasse, auf die man zurückgreifen konnte als Quelle einer historischen Tradition, eines nationalen Willens und der Regierungskunst, wie sie die preußischen Junker und ihre Bürokratie darstellten. Mussolini weist barsch jegliche Nostalgie für das Erbkastensystem der Zeit vor 1789 zurück. Die Französische Revolution hatte das unmöglich gemacht. Was blieb dann, abgesehen von der Nation und dem souveränen Volk ? Aber dies war nicht Mussolinis Standpunkt. Der Staat „ist keine bloße Zahl, als Summe der Einzelwesen, welche die Mehrheit des Volkes ausmachen“. Der Faschismus würde das Volk nicht mit der Mehrheit gleichsetzen, sondern „es auf den Stand der Masse“ herabdrücken .174 „Der Faschismus wendet sich daher gegen die Demokratie, die das Volk mit der Mehrheit gleichsetzt.“174y Er sucht nicht nach der Zustimmung der vielen oder der Mehrheit, sondern nach der Sicherheit, mit der sich der Allgemeine Wille erkennen und bestimmen lässt : „Wie es der stärkeren, weil sittlicheren, folgerichtigeren und wahreren Idee entspricht : daß sich nämlich im Volke Bewußtsein und Wille aller, ja sogar nur eines Einzigen, ausdrückt“,174z
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Ebd., S. 7. Ebd., S. 6. Ebd. Ebd.
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obwohl nur wenige Menschen dies wissen, sogar nur einer („Mussolini hat immer Recht“ – das Zehnte Gebot des faschistischen Dekalogs ).175 Weder Volk noch Territorium waren entscheidend für die Bildung dieses Bewusstseins und Willens, sondern „Existenz und Macht : Selbstbewusstsein und Persönlichkeit“. „Es ist die reinere Form der Demokratie“, wenn man das Volk so auffasst, „nämlich qualitativ und nicht quantitativ [...] wie es sein soll“; nicht einfach im Dasein, sondern in der Realisierung seines eindeutigen Ethos und seiner Sehnsucht.176 Der faschistische italienische Staat entstand genau zu dem Zeitpunkt, als „wir das Land in den Krieg getrieben und nun zum Siege geführt haben“.177 Er wurde nicht als eine voll entwickelte Doktrin geboren, sondern als eine kämpfende Elite. Vom ideologischen Standpunkt aus war er zunächst nur „eine Reihe von Stichworten, von vorausgreifenden Andeutungen und Winken“.178 Wenn er einen Feind hatte, dann war es jene Art von Sozialismus, die sich der Gegnerschaft zum Krieg, leichter, verantwortungsloser Phrasen und technologischer und spiritueller Regression schuldig gemacht hatte und selbstverständlich auch am Klassenegoismus schuld war.179 Gleichzeitig hatte der Faschismus niemals ein „Blitzableiter“ für die Bourgeoisie sein wollen. Er war aus der Notwendigkeit zum Handeln geboren als „eine gegen die Parteien eingestellte Bewegung“.180 Der Faschismus entwickelte sich als eine nationale Lehre im Kampf gegen die „liberale, demokratische, sozialistische und freimaurerische Doktrin“.181 Er gewann Form und Bewusstsein als eine Gemeinschaft, eine Organisation für sich, eine Elite von Herren. Während die Schlacht tobte – mit Strafexpeditionen gegen die Arbeiterhochburgen, die Arbeiterkammern, Stadtver waltungen, Hauptquartiere –, wurden bewaffnete Kommandos aus Kriegsveteranen in die älteren und weiseren Teile der Nation aufgenommen.182 So wurden sie die Träger des allgemeinen Willens und Bewusstseins der Nation, ihre Mentoren und Treuhänder ihres Schicksals. Hier zeigte sich tatsächlich ein moralisches Phänomen, das auf dem Feld der Gedanken und der Propaganda, jedoch nicht dem der Taten, von der extrem monarchistisch - nationalistischen Action Française vor weggenommen worden war. Eine Minderheitengruppe, die im Prinzip die Werte von Gesetz, Ordnung, Tradition, sozialem Zusammenhalt und nationaler Solidarität ver175 176 177 178 179 180 181 182
Oakeshott, The Social and political doctrines, S. 181. Ebd., S. 6. A. d. Ü. : Talmon gibt dieses Zitat leicht verändert wieder. Mussolini, Die politische und soziale Doktrin des Faschismus, S. 11. Ebd., S. 10. Vgl. ebd. Ebd., S. 10. Ebd., S. 12. A. d. Ü. : Talmon spricht statt von „freimaurerisch“ von „demagogic“. Vgl. ebd.
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Von Georges Sorel zu Benito Mussolini
herrlichte, maßte sich das Recht an, gegen eine legitime, demokratisch gewählte Regierung zu rebellieren, die sie als unfähig missbilligte und – noch schlimmer – als illoyal gegenüber jenen unerlässlichen Kategorien der Geschichte der Nation, welche die elitäre Avantgarde zu verkörpern vorgab. Die Botschaft einer restaurativen Revolution wurde in Form einer eigenartigen Per version des Rechts, sich gegen Unterdrückung zu wehren, gepredigt, einer Lizenz zur Anarchie, um ein Regime von Autorität und Gehorsam einzuführen. Es scheint, als habe man eine Seite im Buch der vorherbestimmten sozialen Revolution aufgeschlagen, die sich auf das Recht berief, die bestehende Ordnung im Namen einer universellen sozialen Revolution umzustürzen. Der erste Test für den erfolgreichen revolutionären Staatsstreich der Rechten in Italien war der coup d’état vom Mai 1915. Eine Verschwörung des Königs und seiner führenden Minister sowie Demonstranten verschiedener Art – Nationalisten, revolutionäre Syndikalisten, hochrangige Geschäftsleute und erregte Literaten – drängte durch direkte Aktion einer pazifistischen parlamentarischen Mehrheit, ja den meisten Italienern ihren Willen auf und zwang sie, in den Ersten Weltkrieg einzutreten, ohne dass die Bestimmungen des Londoner Protokolls – die Bedingungen für die italienische Inter vention – bekannt gemacht wurden ( dies wurde bis 1920 unterlassen ). Der zweite Test war D’Annunzios operettenhafte Diktatur in Fiume. Es war das Vorspiel für ernstere Dinge. Eine bunte Schar aus Berufssoldaten, Idealisten, Freibeutern, Abenteurern und Bohemiens nahm das Gesetz in die eigene Hand, agierte im Widerspruch zur rechtmäßigen Regierung und zum ausdrücklichen Willen der Völkergemeinschaft – alles im Namen der Loyalität gegenüber einem höheren ( göttlichen ) Auftrag : des kategorischen Imperativs des nationalen Schicksals. Sie improvisierten eine Art revolutionär - kollektivistischer Utopie, inspiriert vom einzigen, wahren allgemeinen Willen der Nation : Sie betrieben einen neuen Typ von Politik – eine Mischung aus patriotischem Kult, ziviler Religion und künstlerischer Freiheit. Dieser anhaltende Akt der Rebellion wurde von großen Teilen der italienischen Nation unterstützt und verherrlicht – mit der Begründung, die Kämpfer und Rebellen von Fiume, so anarchisch, rauf lustig, exzentrisch und gefährlich sie auch als Präzedenzfall waren, verdienten eine respektvolle, ja ehrfürchtige Sympathie, da die Motive hinter der Bewegung patriotisch seien, so etwas wie eine Antwort auf die Herausforderung der patrie en danger, sauve qui peut und eine Trotzhandlung angesichts einer internationalen Verschwörung gegen sie.
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10. Die Unzulänglichkeiten der Demokratie und die Fehler des Sozialismus Die Unzulänglichkeiten und das Versagen des demokratischen Regimes, die Wechselfälle und Notlösungen ihrer kurzlebigen Mehrheiten, der unzulängliche Umgang mit den schwer wiegenden Problemen einer wankenden nationalen Wirtschaft in der Übergangsphase von einem lähmenden Krieg durch die Unsicherheiten einer Periode der Neuordnung bis zum Frieden, vor allem die feige Unfähigkeit, das Land herumschubsenden ausländischen Mächten entgegenzutreten – all dies schien der Rebellion Legitimität zu verleihen. Wenn der Faschismus tatsächlich der liberalen Demokratie in Italien ein Ende setzte, ist es nicht weniger wahr zu sagen, dass ein marodes parlamentarisches Regime in einem Zustand der Auf lösung zu einem faschistischen Staatsstreich geradezu einlud. Es war für nationalistische Veteranen des Krieges nicht schwierig, ein glaubhaftes Argument zu finden, um die Verantwortung für die Störungen des sozialen Systems den sozialistischen Gewerkschaften anzulasten, die den Produzenten ihren tyrannischen Willen aufgezwungen und zur Sabotage der nationalen Wirtschaft ermutigt hatten. Sie hatten die Kriegsanstrengungen nicht unterstützt, und ihre Propaganda bestritt die Gerechtigkeit der Sache Italiens. Sie standen an der Spitze derer, die danach strebten, Kriegsveteranen zu beleidigen, besonders die Offiziere, die Blut für ihr Land vergossen hatten, und sie vom Einfluss auf die Zukunft des Landes auszuschließen.183 Dennoch war die italienische Sozialistische Partei mit ihren beeindruckenden Zugewinnen bei den Wahlen von 1919 die einzige politische Kraft, die eine Antwort auf die messianischen Sehnsüchte der Massen geben konnte. Sie schien die einzige und natürliche Alternative zum bestehenden Regime zu sein. Sie war die einzige sozialistische Partei außerhalb Russlands, die unbeeinträchtigt von der Verantwortung und Teilnahme am Krieg war. Wie die deutsche Sozialdemokratie stellte auch die bestens organisierte italienische Partei mit ihren Arbeiterkammern, landwirtschaftlichen Vereinigungen, Kooperativen und arbeiterdominierten Gemeinden einen Staat im Staate dar. Am Ende des Ersten Weltkrieges waren beide Parteien aufgerufen, eine demokratische Revolution in ihren jeweiligen Ländern durchzuführen. Die SPD begann, diese Mission zu erfüllen, doch kaum mehr als ein Dutzend Jahre später geriet sie ins Straucheln und kapitulierte vor dem totalitären Nazismus. Die italienische Partei versuchte nicht einmal, sich an die Spitze der demokra183
Vgl. De Felice, Mussolini il rivoluzionario, S. 422–544; Rossi, The Rise of Italian Fascism; Salvemini, The Origins of Fascism in Italy, Kapitel 9, S. 160–172; Ambrosoli, Né aderire né sabotare; Valiani, Il Partito socialista italiano dal 1900 al 1918; Paris, Histoire du fascisme en Italie, S. 169–207.
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Von Georges Sorel zu Benito Mussolini
tischen Kräfte zu setzen und die Rolle des Dritten Standes von 1789 zu spielen, die der nationalen Partei der Stunde. Als durch und durch reformistische Partei fehlte es den italienischen Sozialisten sowohl am Machthunger als auch am messianischen Sinn für die Sendung. Dies traf auf alle drei Fraktionen zu, in die sie nach dem Krieg zerfallen war : Reformisten, Maximalisten und Kommunisten. Für sie alle war doktrinäre Hingabe eine Rationalisierung der Unfähigkeit, die Initiative zu ergreifen. Turati, Treves, Modigliani und ihre Freunde begegneten den Fortschritten des alten liberalen Zauberers Giolitti, indem sie wiederholten, dass die Partei nicht bereit sei, der Bourgeoisie zu helfen, die Italien in den Krieg gestürzt habe. Die Maximalisten fanden es, wie die deutsche USPD, schwierig, den Kurs zwischen der Mystik der Revolution und dem Respekt gegenüber parlamentarischen Formen zu finden. Auch konnten sie sich nicht dazu durchringen, kameradschaftliche Skrupel zu über winden und bewährte Veteranen auf Befehl Moskaus auszuschließen. Noch weniger waren sie geneigt, die Arena gemeinsam mit bürgerlichen Parteien zu betreten und Allianzen und Kompromisse zu schließen, um realistische Ziele zu erreichen. Die Maximalisten glaubten fest an das Prinzip „je schlechter, desto besser“. Praktische Schritte, um die reaktionäre Masse der bürgerlichen Parteien zu stürzen, mussten warten, bis die vage definierte revolutionäre Situation eingetreten war, aus welcher die geeigneten Instrumente der Aktion entstehen würden : die Arbeiter - und Bauernräte. Der revolutionäre Lärm, den sie zu machen wagten, die sowjetähnliche Rhetorik, die Einschüchterung durch Aussperrung nicht gewerkschaftlich organisierter Arbeiter, die besonders von den landwirtschaftlichen Kooperativen in der Poebene praktiziert wurde, die Streikwellen, vor allem die Besetzung von Fabriken durch die Arbeiter, schließlich der klägliche Generalstreik, der kurz vor dem Marsch auf Rom ausgerufen wurde, waren nicht genug, um Angst einzuflößen, aber ausreichend, um Wut her vorzurufen. Die Schritte der Arbeiterpartei erschienen nicht wie Maßnahmen, die von einer entschlossenen und unaufhaltsamen Macht ergriffen wurden, sondern wie eine Pro - Forma - Aktion der Gefühle. Sie nährten unter ihren Opfern und Gegnern den Wunsch, ein wider wärtiges und demoralisierendes Übel zu beseitigen. Dies gab Mussolinis Schwarzhemden die Möglichkeit, als Verteidiger von Recht und Ordnung und der Wirtschaft des Landes aufzutreten, zumal die Regierung dazu unfähig zu sein schien. Außerdem zeigten viele ihrer Funktionäre und Teile der bewaffneten Organe und der Polizei eine aktive Sympathie für die selbsternannten Verteidiger der nationalen Interessen des Landes und der Freiheiten der Bürger, die von der monopolistischen Macht der stark ver wurzelten und gut organisierten sozialistischen Kräfte bedroht seien.184 184
Rossi, The Rise of Italian Fascism, Kapitel 7, S. 82–130; De Felice, Mussolini il Fascista, S. 25–35.
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11. Das Imperium Der Faschismus präsentierte sich selbst nicht nur als eine Alternative zum, sondern auch als Erbe des Sozialismus. Die ursprüngliche revolutionäre Dynamik des Sozialismus war von der allgemeinen Überzeugung beseelt, für einen internationalen revolutionären Durchbruch bereit zu sein. Sobald er dem Reformismus unterlag, ver wandelte sich sein Internationalismus von einem militanten Kreuzzug, der die Welt verändern sollte, in einen einfachen bürgerlichen Pazifismus, der sein Ende fand, als emotionale, idealistische und praktische Bewegungen die Herzen der Völker eroberten. Ihre Art der materialistischen Geschichtsauffassung reduzierte die Idee des Glücks auf die Aussicht auf wirtschaftlichen Erfolg, in Mussolinis Worten : „verneint also die Gleichsetzung von Wohlergehen mit Glück, die die Menschen in Tiere ver wandelt, weil sie nur noch einen einzigen Gedanken haben, nämlich den, wohlgenährt und gemästet zu sein, wodurch sie auf ein rein vegetatives Leben herabgedrückt werden.“185 Weitsichtige Sozialdemokraten wie Bebel und Guesde hatten häufig ihre Besorgnis geäußert, dass der Reformismus die leidenschaftlicheren Elemente in der Arbeiterbewegung in die Arme eines Caesarismus und Bonapartismus ( ihr Wort für Faschismus ) treiben könnte. Die revolutionäre Dynamik, welche die radikalen Elemente, vor allem die revolutionären Syndikalisten, nicht bereit und willens waren aufzugeben, fand ein Ventil in der Mystik eines nationalen Krieges. Der Faschismus glaubte „weder an die Möglichkeit noch an die Nützlichkeit des ewigen Friedens. [...] Verzicht auf den Kampf“ empfanden sie als „eine Feigheit gegenüber dem Opfer“.186 Der Krieg war notwendig, um den Menschen an die äußerste Grenze zu bringen. Die Spannung und die Risiken des Krieges brachten die edelsten Qualitäten her vor. Der Faschismus „bedeutet Erziehung zum Kampf, das Hinnehmen der Gefahren, [...] das Leben als Pflicht, als Aufstieg und als Eroberungszug, [...] tief und voll, [...] erzieherische Strenge [...] Unterscheidungen und Distanzierungen.“187 Indem der Faschismus den Krieg als einen Ausdruck des erhabenen Lebens und Heldentums verherrlichte, verankerte er sich selbst in den Werten der Autorität, der Disziplin, der Hierarchie und des Gehorsams. Er „zerschlägt [...] den ganzen Komplex der demokratischen Ideologien“, die Idee der Gleichheit der Menschen, die Herrschaft der Mehrheit, das Regieren durch regelmäßige 185
186 187
Mussolini, Die politische und soziale Doktrin des Faschismus, S. 15. A. d. Ü. : Talmon gab dieses Zitat im englischen Original gekürzt wieder; um das Verständnis zu verbessern, wurde in der vorliegenden Übersetzung die längere Version verwendet. Ebd., S. 12. Ebd., S. 13.
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Rücksprache, allgemeines Wahlrecht, das nur ein Deckmantel für die Herrschaft der Verantwortungslosigkeit und geheimer Kräfte war.188 „Wenn aber die Demokratie anders verstanden werden kann, das heißt, wenn Demokratie nicht die Zurückdrängung des Volkes im Staate bedeutet“, dann konnte der Faschismus als eine „organisierte, zentralisierte und autoritäre Demokratie“ umschrieben werden.189 Mit anderen Worten, wenn er gut organisiert war, indem jeder an seinen richtigen Platz gestellt und das Beste aus ihm herausgeholt wurde, und wenn alle Teile der Nation aktiviert waren, wie es der „Nationalismus, Futurismus und Faschismus“190 beabsichtigte, könnte das 20. Jahrhundert zu einem Jahrhundert der Autorität [...], des Kollektivismus und des Staates werden, so wie das 19. Jahrhundert das des „Sozialismus, der Demokratie und des Liberalismus“ sowie des Individualismus gewesen war.191 Der Faschismus „ist nicht reaktionär, sondern revolutionär.“192 Sein Ziel war es nicht, einen Polizeistaat der Vormundschaft, Einschränkung und des Zwangs um seiner selbst willen zu errichten, wie es der Absolutismus vor 1789 gewesen war. Der Faschismus war totalitär, insofern er danach strebte, die Bürger dazu zu bringen, gänzlich das Wesen und die Werte eines Staates aufzunehmen, „der sich auf Millionen von Individuen stützt, die ihn anerkennen, begreifen und bereit sind, ihm zu dienen. [...] Das Individuum ist im faschistischen Staat nicht ausgelöscht, es wird vielmehr erhöht“193 wie ein Soldat in einen Regiment. In ihm waren Individuen und Gruppen nur denkbar und nur insoweit echt, als sie im Staat existierten, im „immanenten Bewußtsein der Nation“.194 Sie hatten keinen Bestand als abstrakte Atome außerhalb des Staates. Der faschistische Staat begrenzte die nutzlosen und gefährlichen Freiheiten, aber bewahrte jene, die wesentlich waren. Aber „nur der Staat, nicht das Individuum, kann auf diesem Gebiete entscheiden“.195 Der faschistische Staat wird nicht nur als Garant der inneren und äußeren Sicherheit, Disziplin und Entschlossenheit verherrlicht, sondern auch als Beschützer und Übermittler des Geistes des Volkes durch die vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Zeitalter und hauptsächlich als das Bewusstsein der Nation. Die Inhalte der Staatsbotschaft blieben jedoch eigenartig flüchtig. Schließlich lief sie auf den Willen zur Macht hinaus, auf die römische
188 189 190 191 192 193 194 195
Ebd., S. 15. Ebd., S. 17. Ebd., S. 19. Ebd. Ebd., S. 23. Ebd. Ebd., S. 21. Ebd., S. 24.
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Überlieferung, die „eine Idee des Antriebes“196 ist, „Wille zur Macht und Herrschaft ( imperium )“,197 auf die Tendenz zu expandieren, sich auszubreiten und Vitalität zu entfalten, im Gegensatz zum liberal - bürgerlich dekadenten Wunsch, zu Hause zu bleiben. Die faschistische Doktrin des Imperiums wird von Mussolini nicht nur als ein territoriales, militärisches oder geschäftliches Unternehmen präsentiert, sondern vor allem als ein spirituelles oder moralisches Phänomen. Er beruft sich auf den Mythos des Römischen Reiches. Die Mission besteht jedoch nicht darin, die Nationen und Völker in einer einzigen Menschheit mit gleichberechtigten Bürgern ohne Berücksichtigung der Rasse, der Religion und der Geschichte zu vereinen, alle gleichermaßen inspiriert vom universellen Naturgesetz, das alle in gleicher Weise befolgen. Was ins Auge gefasst wird, ist die wiederholte Übung, eine Herrschaft durch disziplinierte und andauernde kollektive Anstrengung zu errichten. Ihr Zweck war die Stärkung eines Volkes, das sich nach vielen Jahrhunderten der Ver wahrlosung oder Versklavung wieder erhob und nach einem Platz an der Sonne sehnte. Dies sollte eine Antwort auf den imperialen Drang sein, der in den Herzen aller dynamischen Nationen schlage. Dies erforderte „Disziplin, Zusammenwirken der Kräfte, Pflicht und Opfer“ sowie Strenge gegen diejenigen, die sich diesem „große[ n ] Versuche politischer und sozialer Umbildungen“ entgegenstemmen, „dem Verlangen nach Autorität, Lenkung und Ordnung“198 und einem Glauben. Wir sehen daher, dass die imperiale Idee – über die Grenzen der Nation hinausgetragen – politische und organisatorische Merkmale in den inneren Bereich zurückprojiziert : eine mobilisierte Nation, die für die Entwicklung von Vitalität und Macht gerüstet war, sollte von einer neuen Art Adel geführt werden, von Menschen ohne Herkunft, Vermögen, Bildung oder gar intellektuelle Überzeugungen, aber mit der tiefgründigen Begabung zur dynamischen Führung. Dieser Drang nach Führung und Macht wurde völlig skrupellos. Der Kampf dauerte so lange, wie es der Zustand der Mobilisierung und die Notlage der imperialen Bestrebungen erforderten.
196 197 198
Ebd. Ebd. Ebd., S. 25.
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Neun ter Teil Die deut sche Revo lu ti on von 1918 und Hit ler in den Start lö chern
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I. Die Dilem ma ta der deut schen Revo lu ti on von 1918 1. Eine reizbare Nation Nach der Kapitulation von 1918 und dem Versailler Vertrag war Deutschland mit Groll erfüllt. Einer Generation, die mit dem Glauben an die Unbesiegbarkeit der militärischen Macht ihres Landes aufgezogen worden war und diesen Glauben bestätigt sah durch die Art, in der die Reichswehr mehr als vier Jahre lang allein gegen die Welt gestanden hatte, erschien die Niederlage unverdient und unnatürlich; kein wirkliches Versagen, sondern dadurch bedingt, dass man von einem gerissenen Feind unter Vortäuschung falscher Tatsachen – Wilsons Vierzehn Punkte, das Versprechen einer allgemeinen Abrüstung und des Rechtes auf nationale Selbstbestimmung – in einen Waffenstillstand gelockt worden war. Diese Niederlage war das Ergebnis eines Dolchstoßes in den Rücken durch einen heimtückischen inneren Feind. Diejenigen, die sich nicht mit dem alten Regime identifiziert hatten, ließen ihre Frustration am besiegten Establishment aus und beschuldigten es der Inkompetenz, der Hybris, der Verteidigung von Klasseninteressen und des Konser vatismus. Doch selbst jene, die im vergangenen System und in der traditionellen Elite nach Schuldigen suchten, waren keineswegs bereit, den Vertrag von Versailles als eine Vereinbarung, die von freien Parteien eingegangen worden war, oder als eine angemessene Strafe anzuerkennen. Der erste Kanzler der Republik, der Führer der Sozialdemokraten, Scheidemann, der es am 9. November auf sich genommen hatte, auf den Stufen des Reichstags die Republik auszurufen, verfluchte die Hand, die das beschämende Diktat unterzeichnen und nicht verdorren würde. Er zog es vor zurückzutreten statt seinen Namen unter den Vertrag zu setzen.1 Es erwies sich als sehr schwierig, Männer zu finden, die die Reise nach Versailles zu unternehmen bereit waren, um in Deutschlands Namen das anzunehmen, was sie als einen beschämenden und selbstmörderischen Akt der Kapitulation ansahen.2 Letztendlich betrachteten fast alle Parteien den Vertrag von Versailles als unrechtmäßig und moralisch nicht bindend. Seine Auf lagen sollten vermieden und umgangen werden, wo und wann auch immer möglich. In den Augen der Männer, welche die Verantwortung für die Führung der Regierung trugen, war die Einwilligung in diese oder jene restriktive Bedingung nur zulässig, um einigen anderen Verboten oder Auf lagen die Schärfe zu nehmen oder um die Sie1 2
Vgl. Eyck, Geschichte der Weimarer Republik, Band 1, S. 140 ff. Vgl. ebd., S. 142–146.
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ger wohlwollend zu stimmen und in Sicherheit zu wiegen.3 Die wenigen und erfolglosen Männer, die so weit gingen, die Erfüllung des Vertrages zu befür worten, taten dies nur aus der Sorge heraus, die langsame und schrittweise Entstehung eines friedlichen Systems internationaler Beziehungen nicht zu stören, innerhalb dessen einem kooperativen Deutschland sein rechtmäßiger Platz und die Möglichkeit, die schlimmsten Verluste wiedergutzumachen, zugestanden würde. Manche befürchteten eine weitere Weltkatastrophe, der die Deutschen als Erste zum Opfer fallen würden. Die allgemeine Stimmung der Verbitterung prägte die unterschiedlichen Haltungen hinsichtlich einer revolutionären Veränderung des Regimes. Als die zwei Kriegsherren, Hindenburg und Ludendorff, gegenüber den gänzlich unvorbereiteten und nicht aufnahmefähigen zivilen Führern zum ersten Mal zum Ausdruck brachten, dass es dringend notwendig sei, den Feindseligkeiten ein Ende zu bereiten ( um dann eine sehr mehrdeutige Haltung einzunehmen), war es ihr unmittelbares Anliegen, der Reichswehr zu ermöglichen, aus den eroberten fremden Gebieten in voller militärischer Ordnung als eine funktionierende Einheit nach Hause zurückzukehren.4 In der gegenwärtigen Notlage sollte die Armee als das Symbol und Instrument des Überlebens des Reiches angesichts des sozialen Zerfalls und der Revolution dienen. Diese Überlegungen beeinflussten auch die Zustimmung der Generäle zur Einführung eines demokratisch - parlamentarischen Regimes und zur Abschaffung der Monarchie und bedingten ihre Bereitschaft, mit den Regierenden einer deutschen Republik zu kooperieren. Ebenso wie nach der französischen Katastrophe von 1870, als Thiers zu dem Ergebnis gekommen war, dass eine konser vative Republik die Franzosen am wenigsten spalten und schneller als jede Alternative zu politischer und sozialer Stabilität führen würde, betrachteten auch die besiegten Herrscher des Zweiten Reiches eine SPD - dominierte Regierung unter diesen Umständen als die aussichtsreichste Hoffnung auf eine maßvolle Lösung.
2. Eine problematische Demokratie Die deutsche Revolution war nicht das vorherbestimmte Endziel einer historischen Dialektik, der Sieg einer wohlüberlegten revolutionären Klassenerhebung, um die Welt zu übernehmen und die nationale Gemeinschaft nach ihrem eigenen Bild zu gestalten. Sie war eher ein Unfall, das Nebenprodukt einer nationalen Katastrophe. In gewisser Weise war sie die Bedingung dafür, 3 4
Vgl. ebd., S. 143–146. Vgl. ebd., S. 48–52.
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Die Dilemmata der deutschen Revolution von 1918
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sich über Wasser halten zu können, da die Sieger nicht mit dem Kaiser und den preußischen Militaristen verhandeln würden. Wenn die Republik als ein Mittel zur Rettung des deutschen Staates aus den Trümmern selbst denen, die nicht an sie glaubten, tolerierbar erschien, konnte sie unter ungünstigen Umständen für die deutsche Niederlage und Schande verantwortlich gemacht werden. Die Sozialdemokratische Partei war die offensichtliche Alternative zur alten herrschenden Kaste. Die Umstände zwangen sie dazu, auch deren Erbe anzutreten. Die Rolle der SPD als des zeitweiligen Hüters des deutschen Schicksals war jedoch von schwer wiegenden Zweideutigkeiten überschattet. Die deutsche Sozialdemokratie schien vor folgender Alternative zu stehen : das sozialistische Programm auf den Ruinen eines bankrotten feudal - absolutistischen Regimes und als Teil der internationalen revolutionären Welle der Nachkriegszeit umzusetzen oder das Schiff in Seenot, die deutsche Nation, zu retten und es in den Hafen zu steuern, wo der Genesungsprozess beginnen würde. Über die Optionen bestand zu keiner Zeit ein Zweifel. Es ging entweder um eine revolutionäre Diktatur des Proletariats auf der Grundlage der Arbeiter - , Bauern - und Soldatenräte oder um ein parlamentarisches Regime mit einer Nationalversammlung, die von allen Bürgern Deutschlands gewählt und mit den Rechten und Pflichten einer verfassunggebenden Versammlung ausgestattet wurde. Die provisorische revolutionäre Koalitionsregierung, bekannt als Rat der Volksbeauftragten und zusammengesetzt aus drei Vertretern der SPD und drei USPDFührern, formierte sich im Zuge der revolutionären Welle, die von den Kieler Matrosen – sie hatten sich geweigert, zu einem selbstmörderischen Zusammenstoß mit der britischen Navy auszufahren –, einem spontan überall in Deutschland entstandenen Netzwerk von Räten und Kurt Eisners Revolution in München ausgelöst worden war.5 Auf den ersten Blick handelte es sich um eine volksrevolutionäre Schöpfung, die im Namen der aufständischen Massen die Macht übernahm. Sie war aber auch als Bremse für die anarchistischen Potenziale einer radikalisierten, führungslosen Massenbewegung gedacht. Sie besaß revolutionäre Legitimität und wurde obendrein zu einer nationalen Regierung, welche die verfassungsmäßige Legalität und Kontinuität weiterführte, als der letzte Kanzler des Reiches, Prinz Max von Baden, Friedrich Ebert mit einem pathetischen Austausch von Worten das Amt übergab : Der Prinz schärfte dem ehemaligen Sattler ein, dass das Schicksal Deutschlands jetzt seinem Gewissen anvertraut sei, und der SPD - Führer versprach dem liberalen Prinzen, dass er wisse, wie mit diesem Vertrauen umzugehen sei, da er zwei Söhne in diesem Vaterlandskrieg verloren habe.6 Außerdem machte Ebert 5 6
Vgl. ebd., S. 70 ff. Vgl. ebd., S. 68.
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Die deutsche Revolution von 1918
kein Geheimnis aus der Tatsache, dass er die Revolution wie die Sünde hasste.7 Nicht weniger entscheidend war der Beschluss der Berliner Räte, die Regierungsentscheidung zur Anberaumung von Wahlen zu einer Nationalversammlung gutzuheißen und sich nach den Wahlen aufzulösen, um der daraus her vorgehenden Legislative und Exekutive das Feld zu überlassen.8 Dementsprechend legten die potentiellen Führer der internationalen Revolution in Deutschland zugunsten des Prinzips historischer Kontinuität und pluralistischer nationaler Einheit ihr Amt nieder. Dies war eine eindeutige Entscheidung. Der Erfolg, den die SPD in den ersten allgemeinen Wahlen der Republik erzielte, hätte ihr den Mut geben sollen, als die nationale Partei der Weimarer Republik zu handeln.9 Stattdessen verschwand die Partei bald für beinahe zehn Jahre aus den Koalitionsregierungen, die sie von außen unterstützte. Dennoch wurde sie von den Zeitgenossen wie auch den Historikern zur Hauptverantwortlichen für das republikanische Experiment gemacht. Man identifizierte es tatsächlich mit ihr, obwohl die Partei die meiste Zeit nicht am Steuer des Staatsschiffes stand und in Anbetracht der konstant schrumpfenden Zahl ihrer Sitze im Reichstag eher das Opfer der Republik denn ihr Nutznießer war. Von den zweiten Reichstagswahlen an hatten die Kräfte von rechts beinahe ununterbrochen die Vorherrschaft. Aber dies war nicht der einzige Grund für die Zurückhaltung der SPD, ihrer historischen Verantwortung gerecht zu werden. Die SPD litt an der Unfähigkeit, sich voll und ganz einer einzigen Sache zu verschreiben. Sie war zu national und zu patriotisch, zu sehr darauf bedacht, penibel demokratisch zu sein und sich ihrer selbst sowie ihrer Berechtigung, ein wahrhaft sozialistisches Programm aufzustellen, zu unsicher. Genauso wenig konnte sie ihre sozialdemokratischen Verpflichtungen abschütteln und der USPD zustimmen, als Letztere sich weigerte, die Unterdrückung des Arbeiteraktivismus zu unterstützen. Es war den mobilisierten radikalen revolutionären Elementen kaum möglich, sich so zu verhalten, als ob die Revolution, die sie bewirkt zu haben glaubten, nicht stattgefunden hätte oder bereits zu Ende wäre, da die vollzogenen Veränderungen so wenig ihrer Vision einer Revolution entsprachen. Wenige können gehofft haben, in der nahen Zukunft die Macht gewaltsam zu erobern. Viele wollten die revolutionäre Unruhe aufrechterhalten, um die rechts stehenden Sozialisten zu radikaleren Handlungen zu provozieren und sie in Verruf 7 8 9
Vgl. ebd., S. 74. A. d. Ü. : Vgl. dazu auch von Baden, Erinnerungen und Dokumente, S. 600. Vgl. Eyck, Geschichte der Weimarer Republik, Band 1, S. 75. Vgl. ebd., S. 88 f. Siehe auch Matthias, Die Sozialdemokratie und die Macht im Staate; Bracher / Sauer / Schulz, Die nationalsozialistische Machtergreifung, S. 32 f.; Kaltefleiter, Wirtschaft und Politik in Deutschland, S. 30.
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zu bringen, wenn diese fehlschlugen. Die meisten von ihnen beteiligten sich am Aufruhr sowohl zu Propagandazwecken als auch, um in Übung zu bleiben für eine sich möglicher weise ergebende revolutionäre Gelegenheit – mit privaten Armeen, die in den Straßen marschierten, Partisanen, die strategische Punkte eroberten, und Aktivisten, die Druckereien besetzten, um ihre Zeitungen zu drucken.10 Massentreffen der radikalen Linken mündeten in Demonstrationen, die sich wieder um zu Staatsstreichversuchen auswuchsen. Die Sozialdemokratische Regierung fühlte sich gezwungen ( oder hielt es für das Unproblematischste ), von der verfügbaren Prätorianergarde – den nationalistischen Freikorps – Gebrauch zu machen, um den linken Aufstand unter Kontrolle zu bringen. Als diese Kooperation zustande gekommen war, blieb ihnen nichts übrig als Brutalitäten wie die Morde an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht – ob froh oder resigniert – zu dulden. Jemand musste die Rolle des „Bluthundes“ spielen – wie Noske seine Haltung charakterisierte.11 Das Regime hatte keine Wurzeln, ihm mangelte es an Prestige, es war ver wundbar durch die Anschuldigung, aus der nationalen Katastrophe geboren zu sein; ihm fehlten Mythos und Prunk, und es war mit der erniedrigenden, anstrengenden Aufgabe konfrontiert, dem strengen Diktat der Sieger über Deutschland Folge zu leisten. Unter diesen Umständen war Rückhalt durch die Armee unerlässlich. Da die Wiedereinsetzung des Kaisers undenkbar war, konnte die Armee eine sozialdemokratische oder bürgerlich - republikanische Regierung tolerieren, die ernsthaft versuchte, einen friedlichen deutschen Staat zu bewahren, bis bessere Tage kämen. Für die Generäle war dies eine Vernunftehe. Sobald die Armee überzeugt wäre, dass die Republik dabei scheiterte, ihren Teil zu erfüllen, würde die Armee, die sich als den wahren Sachwalter von Deutschlands Schicksal sah, ihre Unterstützung für das Regime zurückziehen. In jedem Fall war in den Augen der Generäle die Erhaltung der Armee mit ihrer Einheit und intakten Moral wichtiger als die Erhaltung der Institutionen und des Prestiges der Republik. „Reichswehr schießt nicht auf Reichswehr“, lautete Seeckts berühmtes Diktum.11a Letztendlich war die 10
Vgl. Waite, Vanguard of Nazism, insbesondere Kapitel 4 „The Free Corps Crush Leftist Revolts“, S. 58–93. 11 Vgl. Eyck, Geschichte der Weimarer Republik, Band 1, S. 76. A. d. Ü. : Im englischen Original wird diese Quellenangabe in den Anmerkungen fälschlicher weise nicht separat aufgeführt, sondern als Quelle zur Fußnote 10 genannt. 11a Vgl. ebd., S. 205. A. d. Ü. : An dieser Stelle findet sich im englischen Original eine Fußnote, die wie die vorhergehende die Nummer 11 trägt. In den Anmerkungen taucht die Fußnote 11 jedoch nicht doppelt auf. Da Talmon an dieser Stelle ursprünglich eine Anmerkung vorgesehen hatte, wurde sie mit „a“ statt mit dem sonst für Einschübe der Herausgeber charakteristischen „z“ gekennzeichnet. In den Anmerkungen Talmons findet sich jedoch die korrekte Quellenangabe – unter „11“. Vgl. auch die A. d. Ü. in Fußnote 11.
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Reichswehr der alleinige Richter darüber, ob die Republik, wenn sie durch heimische Gegner in Schwierigkeiten gebracht würde, fähig war oder nicht, ihre Position als Hüterin der Staatseinheit und nationalen Souveränität zu behaupten. In der Theorie war die Regierung der Republik verpflichtet, ihre Souveränität gegen eine aufsässige, geschweige denn rebellische Armee durchzusetzen. Aber würde sie den Mut und die Stärke haben, nicht nur ohne die Hilfe der Streitkräfte zu handeln, sondern auch gegen sie ?
3. Richtig oder falsch – es ist meine Revolution War der 4. August 1914 eine herbe Enttäuschung für Rosa Luxemburg, waren die Tage, die dem Sieg der deutschen Revolution folgten, nicht weniger traumatisch. In den zwei Monaten Freiheit vor ihrer Ermordung führte sie das Leben eines gejagten Tieres; in jedem Hotel wurde ihr die Unterkunft ver weigert, und sie verbrachte jede ihrer meist schlaf losen Nächte an einem anderen Ort. Weder ihr noch Karl Liebknecht wurde ein Sitz in den Arbeiter - und Soldatenräten gewährt, und bei einem Arbeitertreffen machte Liebknecht die bittere Erfahrung, beinahe von einem Soldaten mit dem Bajonett erstochen zu werden.12 Das Fehlen revolutionärer Entschlossenheit und Energie unter den Massen war erschütternd für jemanden, der an den Instinkt der Massen glaubte, an Massenspontaneität, an freie kollektive Selbstver wirklichung, und diesen mehr revolutionäre Echtheit zusprach als den schlauen Plänen einer sozialistischen Führung. Rosa Luxemburgs berühmter Artikel aus dem Jahr 1904 gegen den leninistischen Ultra - Zentralismus, der verschlüsselt auch auf die SPD - Führung zielte, wurde oft als die Formulierung eines demokratischen – und menschlichen – Sozialismus zitiert. Sie predigte natürlich die Diktatur der proletarischen Klasse, aber missbilligte deren Usurpation durch ein Zentralkomitee. Dies war von der großen Revolutionsromantikerin auch nicht anders zu erwarten, die fasziniert war von der Idee sowohl eines unaufhaltsamen, unvermeidbaren Fortschritts als auch des spontanen Ausbruchs der Massen, wenn sie eine Krise spürten. In ihrem Artikel Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie aus dem Jahre 1904 gegen Lenins Konzept einer streng zentralisierten Partei, die von einem allmächtigen Zentralkomitee geführt wird, schreibt sie : „Auch hier geht das Unbewußte vor dem Bewußten, die Logik des objektiven historischen Prozesses vor der subjektiven Logik seiner Träger.“13 Mit Blick auf 12 13
Vgl. Nettl, Rosa Luxemburg, S. 720–723, 730 f. Luxemburg, Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie, S. 432.
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die deutschen Bedingungen fügt sie hinzu : „Die Rolle der sozialdemokratischen Leitung ist dabei wesentlich konser vativen Charakters, indem sie erfahrungsgemäß dazu führt, das jedesmalige neugewonnene Terrain des Kampfes bis in die äußersten Konsequenzen auszuarbeiten und es bald in ein Bollwerk gegen eine weitere Neuerung größeren Stiles umzukehren.“13z Lenin persönlich angreifend, schreibt Rosa Luxemburg : „Lenin [...] scheint [...] vom sterilen Nachtwächtergeist getragen zu sein. Sein Gedankengang ist hauptsächlich auf die Kontrolle der Parteitätigkeit und nicht auf ihre Befruchtung, auf die Einengung und nicht auf die Entfaltung, auf die Schurigelung und nicht auf die Zusammenziehung der Bewegung zugeschnitten.“14 In Anbetracht der Entfaltung der sozialistischen Revolution als eines Prozesses, als einer anhaltenden Belagerung mit Angriffen und Rückzügen, betrachtete Rosa Luxemburg das Hin und Her, die missglückten Versuche, Misserfolge und Fehler als Bestandteile des Wachstums - und Reifeprozesses des Proletariats. Im Gegensatz zum Blanquismus lehrte die Sozialdemokratie nicht die Kunst der Inszenierung eines Staatsstreiches durch eine Handvoll Verschwörer unter den Bedingungen äußerster Geheimhaltung, die das Volk erst zuließen, nachdem sie gewonnen hatten. Die Sozialdemokratie spiegelte den Vormarsch einer breiten Klasse wider. „Fehltritte, die eine wirklich revolutionäre Arbeiterbewegung begeht, sind geschichtlich unermeßlich fruchtbarer und wertvoller als die Unfehlbarkeit des allerbesten ‚Zentralkomitees‘.“15 Lenin hatte Angst vor dem Opportunismus, dem anarchischen Individualismus, der undisziplinierten geistigen Landstreicherei der Intellektuellen im Gegensatz zur erlernten Disziplin der Fabrikarbeiter. Rosa Luxemburg war gegen jeglichen von oben durch eine despotische Autorität direkt oder indirekt aufgezwungenen Gehorsam. Sie verherrlichte die Selbstdisziplin des selbstbewussten Sozialisten. Das russische Phänomen des Opportunismus beruhte nicht auf dem Fehlen eines strikt führenden Zentralkomitees, sondern – behauptete sie – auf dem Fehlen eines umfangreichen, kompakten Kerns bewusster Proletarier, die fähig waren, die Lehren der Geschichte aufzunehmen und die Unentschlossenen umzuerziehen. Selbstverständlich würde ein allwissendes und allmächtiges Zentralkomitee die kleinbürgerlichen Intellektuellen, die aus einer zerfallenen Klasse flohen und hungrig auf Macht, Einfluss und Karriere waren, wie die parlamentarischen Parteien im Westen anlocken. In Russland trat der Intellektuelle der Partei unter Verleugnung seines Egos bei. Er war von einem Drang zur Selbstaufopferung und dem Wunsch nach Buße getrieben. Rosa Luxemburg schrieb : „Eben vom Standpunkt der 13z Ebd., S. 432 f. 14 Ebd., S. 433 f. 15 Ebd., S. 444.
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Befürchtungen Lenins vor den gefährlichen Einflüssen der Intelligenz auf die proletarische Bewegung bildet seine eigene Organisationsauffassung die größte Gefahr für die russische Sozialdemokratie. Tatsächlich liefert nichts eine noch junge Arbeiterbewegung den Herrschaftsgelüsten der Akademiker so leicht und so sicher aus wie die Einzwängung der Bewegung in den Panzer eines bürokratischen Zentralismus, der die kämpfende Arbeiterschaft zum gefügigen Werkzeug eines ‚Komitees‘ herabwürdigt.“16 Kein Wunder, dass Rosa Luxemburg vierzehn Jahre später zunächst über die Auf lösung der russischen verfassunggebenden Versammlung durch die Bolschewiki entsetzt war. Obwohl sie so oft ihre Vorbehalte gegen den Parlamentarismus als eine Einrichtung, die Opportunismus, Karrieristentum und Nationalismus fördere, geäußert und bei jeder Gelegenheit ihre Missachtung parlamentarischer Idiotie und Heuchelei bekundet hatte, konnte sie sich die Teilhabe der Massen an der Politik nicht ohne Presse - , Vereinigungs - und Versammlungsfreiheit und vor allem nicht ohne freie Wahlen vorstellen. „Ohne [...] freien Meinungskampf erstirbt das Leben in jeder der öffentlichen Institution, wird zum Scheinleben, in der die Bürokratie allein das tätige Element bleibt. Das öffentliche Leben schläft allmählich ein, einige Dutzend Parteiführer von unerschöpf licher Energie und grenzenlosem Idealismus dirigieren und regieren [...], eine Elite der Arbeiterschaft wird von Zeit zu Zeit zu Versammlungen aufgeboten, um den Reden der Führer Beifall zu klatschen, vorgelegten Resolutionen einstimmig zuzustimmen, im Grunde also eine Cliquenwirtschaft, nicht die Diktatur des Proletariats, sondern die Diktatur einer Handvoll Politiker [...]. Solche Zustände müssen eine Ver wilderung des öffentlichen Lebens zeitigen : Attentate, Geiselerschießungen usw.“17 Nichts konnte das Herz eines Liberalen höher schlagen lassen als Rosa Luxemburgs ergreifende Apologie über Freiheit für alle und jeden : „Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei – mögen sie noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden. Nicht wegen des Fanatismus der ‚Gerechtigkeit‘, sondern weil all das Belebende, Heilsame und Reinigende der politischen Freiheit an diesem Wesen hängt und seine Wirkung versagt, wenn die ‚Freiheit‘ zum Privilegium wird.“18 Dieses Loblied auf die demokratischen Freiheiten wird jedoch gänzlich negiert, wenn Rosa Luxemburg mit der konkreten Frage konfrontiert wird, welchen Standpunkt ein überzeugter Revolutionär gegenüber einer Revolution einnehmen sollte, die von einer entschlossenen Minderheit erfolgreich durchgeführt wurde, ganz gleich, welche „Unzulänglichkeiten“ ihre Geburt und 16 17 18
Ebd., S. 440. Luxemburg, Zur russischen Revolution, S. 362. Ebd., S. 359, Fußnote 3.
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Anfänge begleiteten. Dies galt umso mehr, wenn sie weiterhin von Konterrevolutionären und unreifen, egoistischen oder per versen Elementen und Sektionen geplagt und mit einer Niederlage bedroht wurde. Es war für Rosa Luxemburg undenkbar, dass eine erfolgreiche Revolution aus Rücksicht auf formale Demokratie und in Missachtung der Hoffnungen und Notwendigkeiten der sozialen Befreiung aufgegeben werden sollte. Der Sozialismus war nicht entstanden, um allen und jedem die gleichen Möglichkeiten zur politischen Selbstentfaltung zu bieten. Das Ziel bestand darin, den Widerstand der besitzenden Klassen gegen das emanzipatorische Bemühen der unterdrückten Arbeiterklasse zu brechen, indem man „[ sozialistische Maßnahmen ] in energischster, unnachgiebigster, rücksichtslosester Weise in Angriff [ nimmt ], also Diktatur [ ausübt ]“.18z Was hätten die Bolschewiki denn anderes tun können, als unmittelbar nach der Oktoberrevolution „der ganze Mittelstand, die bürgerliche und kleinbürgerliche Intelligenz [...] die Sowjetregierung monatelang boykottierten, den Eisenbahn - , Post - und Telegraphenverkehr, den Schulbetrieb, den Ver waltungsapparat lahmlegten und sich auf diese Weise gegen die Arbeiterregierung auf lehnten“ ?19 „Da waren selbstverständlich alle Maßregeln des Druckes gegen sie : durch Entziehung politischer Rechte, wirtschaftlicher Existenzmittel etc., geboten, um den Widerstand mit eiserner Faust zu brechen. Da kam eben die sozialistische Diktatur zum Ausdruck, die vor keinem Machtaufgebot zurückschrecken darf, um bestimmte Maßnahmen im Interesse des Ganzen zu erzwingen oder zu verhindern.“20 Rosa Luxemburg achtet darauf, nicht die Ächtung ganzer Menschengruppen für eine unbestimmte Zeit gutzuheißen. Sie ist bestrebt, drakonische Maßnahmen auf bestimmte Fälle und eine bestimmte Zeit zu begrenzen – solange der aktive Widerstand anhält.21 Doch davon, ganze Klassen und Gruppen als Strafe für deren Boykott der Arbeiterregierung ihrer politischen Rechte zu berauben, war es nur ein kleiner Schritt zu den barbarischen Straffeldzügen gegen die Bauern, die ihre Erzeugnisse versteckten und den Stadtbewohnern vorenthielten; nur ein kleiner Schritt zur Bildung der Tscheka, die ursprünglich als Antwort auf die Anschläge auf Lenin und die Ermordung Urizkis und des deutschen Botschafters, Graf Mirbach, und auf andere konterrevolutionäre Terrorakte gegründet wurde; zur Festigung der bürokratischen, zentralisierten Ausrichtung der nationalen Wirtschaft „im Interesse aller“, die entstand, als das ursprüngliche Prin18z Badia, Rosa Luxemburg, S. 302. A. d. Ü. : Siehe auch Luxemburg, Zur russischen Revolution, S. 363. 19 Badia, Rosa Luxemburg, S. 302. A. d. Ü. : Siehe auch Luxemburg, Zur russischen Revolution, S. 357 f. 20 Badia, Rosa Luxemburg, S. 302 f. A. d. Ü. : Siehe auch Luxemburg, Zur russischen Revolution, S. 358. 21 Vgl. Badia, Rosa Luxemburg, S. 303.
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zip der Arbeiterkontrolle über jede einzelne Fabrik zu Anarchie und Hungersnot zu führen drohte.22 Regierungsterror wird fast nie als Teil eines Programms dargestellt, als ein Prinzip um seiner selbst willen. Er wird meist als Abschreckung gegen aufsässige Elemente empfohlen. Schließlich entsteht er, nimmt Gestalt an und wird pragmatisch und kumulativ systematisiert. Der Prophetin der freien Meinungsäußerung für alle ging in den letzten Wochen ihres Lebens so weit, die erzwungene Schließung der bürgerlichen konterrevolutionären Zeitungen und die Besetzung ihrer Druckerpressen durch linke Aktivisten zu verteidigen. Die Revolution – inmitten eines schweren Kampfes auf Leben und Tod – konnte es ihren unerbittlichen Feinden doch sicherlich nicht gestatten, ungestraft die Geister der Menschen zu vergiften und ihre Führer zu verleumden.23 Die proletarische Revolution war kein politikwissenschaftliches Seminar, sondern die entschlossene Aktion der unterdrückten Klassen, um das Joch der Ausbeuter durch einen K. - o. - Schlag abzuschütteln. Auch bei näherem Hinsehen beginnt sich das Bild Rosa Luxemburgs als einer Gegnerin des Zentralismus und Verfechterin der Massenspontaneität aufzulösen. Unter dem Schock der fehlgeschlagenen kommunistischen bewaffneten Demonstrationen in den ersten Tagen des Januar 1919 tritt sie unmittelbar vor ihrem Tod als eine leidenschaftliche Verfechterin zentralisierter Führung auf. Am 11. Januar schreibt sie : „Der bisherige Zustand der mangelnden Führung, des fehlenden Organisationszentrums der Berliner Arbeiterschaft ist unhaltbar geworden. [...] Zusammenballung der revolutionären Energie der Massen und Schaffung entsprechender Organe zu ihrer Führung im Kampf : das sind die brennendsten Aufgaben der nächsten Periode, das sind die bedeutsamen Lehren aus den letzten fünf Tagen.“24 Schließlich wird Rosa Luxemburg, die so sehr von der Auf lösung der russischen verfassunggebenden Versammlung schockiert worden war, zur glühenden Verteidigerin der Vorherrschaft der deutschen Arbeiter - und Soldatenräte und zur Gegnerin einer nationalen verfassunggebenden Versammlung, die sie für eine obsolete Idee hielt, deren Ziel es sei, die bürgerliche Herrschaft aufrechtzuerhalten. Als die Räte die Frage zugunsten der Versammlung lösen, tritt sie für die Teilnahme an letzterer ein – gegen den erbitterten Widerstand der Mehrheit ihrer Partei, die den Boykott wünscht; letztlich aber fügt sie sich selbstverständlich deren Entscheidung.25
22 23 24 25
Vgl. Chamberlin, Die Russische Revolution, Band 2, S. 39–61; Deutscher, Trotzki, Band 1, S. 376–402. Vgl. Badia, Rosa Luxemburg, S. 303. Ebd., S. 386. A. d. Ü. : Siehe auch Luxemburg, Das Versagen der Führer, S. 701 f. Badia, Rosa Luxemburg, S. 365–368.
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Auf der anderen Seite bestand Rosa Luxemburg darauf, dass die Revolution nur dann zur Wirklichkeit würde, wenn die Zeit reif war und die breite Mehrheit des Volkes sie wollte. Dann würde selbstverständlich keine Notwendigkeit für Terror bestehen. Aber anstatt abzuwarten und den Dingen ihren Lauf zu lassen, forderte sie die Massen immer wieder dazu auf zu handeln, revolutionäre Energie und Wagemut zu zeigen, gewöhnlich ohne die genauen Ziele und Methoden zu bestimmen. Sie wusste, dass die Partisanen - Improvisationen kleiner Minderheiten fruchtlos waren, und sie versuchte gewöhnlich, Aktionen eines revolutionären Abenteurertums im letzten Moment zu stoppen. Aber sobald sich die Aktivisten in Aktion befanden, konnte sie weder außen vor bleiben, noch sich davon lossagen. So war es in der Tat auch bei dem Abenteuer, das sie zuerst bekämpfte und bei dem sie dann den Tod fand.26 Es gab nun einmal den propagandistischen Wert ständiger revolutionärer Aktivität. Außerdem war es der Revolution vorherbestimmt, erst nach vielen Niederlagen zu siegen. Aber es bestand auch das Risiko, Kräfte zu verschwenden und die Klassenfeinde dazu anzustacheln, die voreiligen und vergeblichen Versuche der Revolutionäre zu nutzen, um ihre Organisation lahmzulegen und sie alle außer Gefecht zu setzen. Dennoch : Untätigkeit war die größte Sünde.
26
Vgl. ebd., S. 387–390.
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II. Hit ler in den Start lö chern 1. Ein bedrückendes Erbe : das Wiener „granitene Fundament“ von Hitlers Weltanschauung „In dieser Zeit“, schrieb Hitler über die Jahre seiner Studien und Leiden in Wien, „bildete sich mir ein Weltbild und eine Weltanschauung, die zum granitenen Fundament meines derzeitigen Handelns wurden. Ich habe zu dem, was ich mir so einst schuf, nur weniges hinzulernen müssen, zu ändern brauchte ich nichts.“27 Was waren die Komponenten dieses damnosa hereditas, der schrecklichen Hinterlassenschaft, die das dem Untergang geweihte Österreich durch Hitler der deutschen Nation vermachte und die über die Instrumentalisierung Deutschlands der ganzen Welt auferlegt wurde ? Einige Seiten früher resümiert Hitler zwei frühe „her vorstechende Tatsachen“ als „besonders bedeutungsvoll“: „Erstens : ich wurde Nationalist [ Ein Stück weiter rühmt er sich : ‚In kurzer Zeit war ich zum fanatischen ‚Deutschnationalen‘ geworden‘.]. Zweitens : Ich lernte Geschichte ihrem Sinne nach verstehen und begreifen.“28 Hier wie im Mar xismus haben wir eine auffällige Bekräftigung der Ansicht, dass eine Philosophie der Geschichte die Grundsubstanz jeder modernen Ideologie sei. Wie wir anhand der Nebeneinanderstellung der beiden grundlegenden Lehren, die Hitler zog, sehen können, bestand für ihn die wesentliche Grundlage der Geschichte in der Nation und dem Volk, in vielen Fällen synonym ver wendet. Welches waren die Tatsachen, auf denen diese Vorstellung beruhte ? Hitler liefert uns den Schlüssel, indem er dem oben angeführten Eingeständnis sofort die Aussage folgen lässt, dass das alte Österreich ein „Nationalitätenstaat“29 war. Die her vorstechende Tatsache bestand darin, dass die deutsche Minderheit – 10 Millionen Menschen zur Jahrhundertwende – über Jahrhunderte in der Ostmark geherrscht und einer Nation ihren Stempel aufgedrückt hatte, die zu dieser Zeit 52 Millionen Menschen zählte. Diese Großtat war darauf zurückzuführen, dass der Österreich - Deutsche „noch von bestem Blute“30 war. Für Hitler bestand die entscheidende Prüfung für das Heldentum und die Überlegenheit einer Nation oder eines Volkes in ihrer Fähigkeit, die Vorherrschaft
27 28 29 30
Hitler, Mein Kampf, S. 21. Ebd., S. 8, 10 f. Ebd., S. 9. Ebd.
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Hitler in den Startlöchern
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nicht über die Natur, sondern über andere Nationen und Völker zu erlangen. Im Gegensatz zu Mussolini und den alten Römern meinte er jedoch, das Geheimnis dieser besonderen Gabe liege nicht nur in einer speziellen Begabung, langem Training oder einer ererbten fortdauernden Tradition lag, sondern im Geheimnis des Blutes. Das andere wichtige Merkmal von Hitlers Philosophie der Geschichte war seine Vision von den Deutschen, die sich mit ihrem überlegenen Blut in Österreich in ihrer ganzen Geschichte immer in der Position einer bedrängten Nationalität befanden, verbissen im „ewigen unerbittlichen Kampfe um die deutsche Sprache, um deutsche Schule und deutsches Wesen“, und die für ihr „Volkstum kämpfen [...] müssen“, und dabei „fraß das fremde Völkergift am Körper unseres Volkstums“.31 Die jüngste Illoyalität der Habsburgerdynastie den Deutschen gegenüber und ihr Bündnis mit den Slawen kündigten die „langsame Ausrottung des Deutschtums“32 an. Und so wurden paradoxer weise die Mitglieder eines Herrenvolkes dazu getrieben, Rebellen zu werden, und Hitler wurde „zum politischen ‚Revolutionär‘“.33 Diese Entwicklung fand vorrangig als Antwort auf eine Ideologie statt, die sich selbst als revolutionär par excellence ausrief und von anderen auch so gesehen wurde : den mar xistischen Sozialismus. Hitler wurde durch die vom Mar xismus betriebene ideologische Ablehnung der „Nation, als eine Erfindung der ‚kapitalistischen‘ [...] Klassen“, des Vaterlands „als Instrument der Bourgeoisie zur Ausbeutung der Arbeiterschaft“, der „Autorität des Gesetzes, als Mittel zur Unterdrückung des Proletariats“, der „Schule, als Institut zur Züchtung des Sklavenmaterials, aber auch der Sklavenhalter“, der „Religion, als Mittel der Verblödung des zur Ausbeutung bestimmten Volkes“, der „Moral, als Zeichen dummer Schafsgeduld usw.“ zu einer revolutionären Reaktion herausgefordert.34 Beim Anblick der Massen, die vom Sozialismus verleitet wurden, packte Hitler der Schrecken : Die „Masse der nicht mehr zu ihrem Volke zu Rechnenden“ schwelle „zu einem bedrohlichen Heere“35 an. Die Beobachtungen und Besorgnisse, die durch die österreichische Situation entstanden, wurden von Hitler zu einer Metaphysik des Rassismus und Elitedenkens ausgearbeitet, gestützt durch das wortwörtlichste Lesen der Schriften Dar wins, Nietzsches und Houston Stewart Chamberlains. Am Anfang stand die Rasse und nicht das Individuum. Letzteres war nur ein Beispiel-
31 32 33 34 35
Ebd., S. 9, 13. Ebd., S. 13 f. Ebd., S. 15. Ebd., S. 41. Ebd., S. 43.
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exemplar oder ein Teil des Erstgenannten. Es leitete alle seine Charakteristika, Fähigkeiten und Kultur von der Tatsache ab, in eine bestimmte Rasse hineingeboren und mit ihrem Blut ausgestattet worden zu sein. Außerdem war ein Individuum für sich allein absolut ohnmächtig angesichts der vorrangigen Realität des ewigen Kampfes zwischen rassischen Einheiten um Einfluss, Macht und einen Anteil an der kosmischen Lebenskraft und den Geschenken der Natur. Ohne Zweifel bestand das oberste Gebot in der Selbsterhaltung der Rasse. In der natürlichen Auslese, die im Zuge des Kampfes der Rassen stattfand, wurden die schwachen und unfähigen Rassen von der Natur ins Grab gesandt. Eine ähnliche Behandlung war den individuellen Mitgliedern der kämpfenden Rasse zugedacht. Dies war keine Strafe, sondern Erziehung. Durch den gnadenlosen Überlebenskampf der Geeignetsten und die Zerstörung der Schwachen und Stümper „erhält sie die Rasse und Art selber kraftvoll, ja steigert sie zu höchsten Leitungen“.36 Hitler verhöhnte jene, die hysterisch besorgt waren, dass „jedes einmal geborene Wesen um jeden Preis auch erhalten werde“.37 Nur die stärksten und gesündesten Rassen und Individuen verdienten es, fortzubestehen. „Ein stärkeres Geschlecht wird die Schwachen verjagen, da der Drang zum Leben in seiner letzten Form alle lächerlichen Fesseln einer sogenannten Humanität der einzelnen immer wieder zerbrechen wird.“38 Nun hatte sich die deutsche Nation so sehr vermehrt, dass sich die dringende Frage stellte, wie und wo Nahrung für die Neuankömmlinge zu finden sei. Wenn aus dieser Notwendigkeit eine Notlage würde, hätte die deutsche Nation „das moralische Recht zur Erwerbung fremden Grund und Bodens“ durch Zwang. „Der Pflug ist dann das Schwert, und aus den Tränen des Krieges erwächst für die Nachwelt das tägliche Brot.“39 Nach Überprüfung alternativer Wege der Expansion, um dem wachsenden Bedarf nach Nahrung zu begegnen, gab Hitler der Kolonisation eroberter Gebiete vor der Haustür Deutschlands absolute Priorität, mit der ausdrücklichen Bevorzugung der Ukraine.40 Er lehnte die innere Kolonisation, d. h. Industrialisierung und Urbanisierung, als Mittel zur Bedürfnisbefriedigung der wachsenden Bevölkerung ab. Industrielle Zivilisation, die Übel des städtischen Lebens, soziale Reibereien und allgemeine Demoralisierung, die sie mit sich brachten, mussten einen schwächenden Effekt auf die Qualität der Rasse haben.41 Koloniale Expansion in Übersee
36 37 38 39 40 41
Ebd., S. 144. Ebd., S. 145. Ebd. Ebd., S. 1. Vgl. ebd., S. 153 f. Vgl. ebd., S. 146–153.
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würde die Abtrennung der Deutschen vom Mutterland zur Folge haben, würde seine Kolonisten klimatischen, moralischen und kulturellen Einflüssen aussetzen, die zur Entfremdung von ihrem Stamm führen müssten.42 „Für Deutschland lag demnach die einzige Möglichkeit zur Durchführung einer gesunden Bodenpolitik nur in der Erwerbung von neuem Lande in Europa selber.“43 Das kostbarste Reser voir reinen deutschen Blutes und teutonischer Authentizität war die Bauernschaft, die in geschlossenen Siedlungen fernab von fremden Einflüssen lebte. Gab es ein Recht darauf, fremdes Gebiet zu erobern ? „Die Natur kennt keine politischen Grenzen.“44 Sie sieht die Nationen wetteifern, und „der Stärkste an Mut und Fleiß erhält dann als ihr liebstes Kind das Herrenrecht des Daseins zugesprochen“. Dieser Boden ist „für das Volk, das die Kraft besitzt, ihn zu nehmen, und den Fleiß, ihn zu bebauen“.45 Die Natur kannte nur das aristokratische Prinzip.46 Sie missbilligte die Anwendung moderner demokratischer Ideen auf die Beziehungen zwischen den Völkern, damit die zahlenmäßig stärkeren Völker herrschen mochten und der Boden gemäß der Zahl verteilt würde. Die „Welt wird beherrscht nach den Gesetzen der natürlichen Kraftordnung“, die bestimmt, dass „die Völker des brutalen Willens und mithin eben wieder nicht die Nation der Selbstbeschränkung“47 siegen werden. Hitler prophezeite, dass „diese Welt dereinst noch schwersten Kämpfen um das Dasein der Menschheit ausgesetzt sein“48 werde. Am Ende würde der stärkere Drang zur Selbsterhaltung siegen und „die sogenannte Humanität als Ausdruck einer Mischung von Dummheit, Feigheit und eingebildetem Besser wissen wie Schnee in der Märzensonne“49 schmelzen. „Im ewigen Kampfe ist die Menschheit groß geworden – im ewigen Frieden geht sie zugrunde“,50 schrieb Hitler. Der Krieg war die Mutter und die Feuerprobe aller wahren Werte : Das Recht der Selbsterhaltung war daher das höchste Gebot. Alles, was diesen Willen bestärkte, war positiv. Alles, was ihn schwächte und ablenkte, war schädlich, sogar tödlich. Pazifistischer Unsinn, „‚wirtschaftsfriedliche‘ Eroberung“, Weltfrieden – all diese Ideen waren giftige Drogen,51 ebenso wie die abstrakten Konzepte und Normen von angeblich 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51
Vgl. ebd., S. 153. Ebd., S. 153. Ebd., S. 147. Ebd. Vgl. ebd., S. 87. Ebd., S. 148. Ebd. Ebd., S. 148 f. Ebd., S. 149. Ebd., S. 157.
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bedingungsloser Gültigkeit wie „Staatsautorität, Demokratie“ und „internationale Solidarität“ :52 Sie führten dazu, dass wichtige nationale Bedürfnisse ausschließlich von ihrem Standpunkt aus bewertet wurden, ohne Bezug auf das Einzige, das wirklich von Bedeutung war.53 Nicht weniger schädlich war der Objektivismus, der die Rechte, Forderungen und Bedürfnisse unserer selbst mit denen unserer Kontrahenten abwog, statt spontan, ohne nachzudenken und zu zögern aus dem reinen Selbsterhaltungstrieb heraus zu handeln. „Man erziehe das deutsche Volk schon von Jugend an mit jener ausschließlichen Anerkennung der Rechte des eigenen Volkstums und verpeste nicht schon die Kinderherzen mit dem Fluche unserer ‚Objektivität‘.“54 Die Theorie der Vorrangstellung der Wirtschaft war schädlich, da sie dazu führte, den individuellen Eigennutzen zu belohnen.55 Sie musste daher den Selbsterhaltungstrieb der Artgenossen schwächen, da die Vorrangstellung, die weltlichen Gütern und Profit gewährt wurde, mit Sicherheit auch die individuelle heldenhafte Bereitschaft, sich für die Gesamtheit zu opfern, unterminieren würde. Die großen heldenhaften Staaten wie Preußen bewiesen, dass „nicht materielle Eigenschaften, sondern ideelle Tugenden allein zur Bildung eines Staates befähigen“ und „die innere Stärke eines Staates nur in den allerseltensten Fällen mit der sogenannten wirtschaftlichen Blüte zusammenfällt“.56 Der Staat entstand nicht als eine Reihe von Verträgen zur Erfüllung wirtschaftlicher Aufgaben, sondern „die wesentlichste Voraussetzung zur Bildung und Erhaltung eines Staates [ ist ] das Vorhandensein eines bestimmten Zusammengehörigkeitsgefühls auf Grund gleichen Wesens und gleicher Art, sowie die Bereitwilligkeit, dafür sich mit allen Mitteln einzusetzen“.57 Staatsbildende und staatserhaltende Eigenschaften hingen nicht mit der Wirtschaft zusammen. Die Ökonomie war nur eines der Instrumente, um den Staat und die Art zu erhalten. Im Geiste Lists betrachtete Hitler die Ökonomie als eine Funktion der Politik. Wirtschaftliche Stärke und Wohlstand waren eine Funktion der politischen, d. h. der militärischen Macht. Der Wohlstand militärisch schwacher Nationen war stets unsicher und durch aggressive Nachbarn in Gefahr. „Preußen, des Reiches Keimzelle, entstand durch strahlendes Heldentum und nicht durch Finanzoperationen oder Handelsgeschäfte, und das Reich selber war wieder nur der herrlichste Lohn machtpolitischer Führung und sol-
52 53 54 55 56 57
Ebd., S. 121. Vgl. ebd. Ebd., S. 124. Vgl. ebd., S. 164 f. Ebd., S. 166 f. Ebd., S. 166.
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datischen Todesmutes. Wie konnte gerade das deutsche Volk zu einer solchen Erkrankung seines politischen Instinktes kommen ?“58 Es war die Folge „ein[es] immer während[ en ] Giftstrom[ s ] bis in die äußersten Blutgefäße [...], um nun zu immer größeren Lähmungen der gesunden Vernunft, des einfachen Selbsterhaltungstriebes zu führen“.59 Als eine dauerhaft mobilisierte Einheit in einem unerbittlichen Kampf, in dem Tapferkeit siegte, war die Nation keine Gesellschaft, die zusammenkam, um gerechte Anteile zu verteilen, oder eine Organisation, die durch eine träge zahlenmäßige Mehrheit geleitet oder durch kluge Manipulatoren gesteuert wurde. Wie alle großen Taten, wichtigen Entdeckungen, historischen Durchbrüche, die immer eine Errungenschaft individueller Begabung waren und niemals Stückchen für Stückchen zusammengesetzt wurden oder sich aus einer trägen Menge entwickelt hatten, so waren auch die Errichtung und Führung von Staaten das Vorrecht und der Triumph der individuellen Begabung. „Ist nicht jede geniale Tat auf dieser Welt der sichtbare Protest des Genies gegen die Trägheit der Masse ?“60 Der Kampf einer Nation erforderte, dass eine zentrale Autorität die individuelle höchste Verantwortung erlangte. „Ist denn nicht der Gedanke jeder Verantwortlichkeit an die Person gebunden ?“61 Wenn dies so ist, dann muss das Prinzip der parlamentarischen Mehrheit zu „Ver wüstungen diese[ r ] Einrichtung moderner demokratischer Parlamentsherrschaft“62 führen. Führung wurde ertränkt in Mittelmäßigkeit, Anonymität, Heuchelei und feigem Umgehen jeglicher Verantwortlichkeit. Die Idee von Führung durch die Gunst der Natur war unvereinbar mit der Schmeichelei eines Mobs unbedeutender Personen und der Rolle eines politischen Gangsters. „Indem das parlamentarische Prinzip der Majoritätsbestimmung die Autorität der Person ablehnt und an deren Stelle die Zahl des jeweiligen Haufens setzt, sündigt es wider den aristokratischen Grundgedanken der Natur.“63 Eine Autorität, die sich selbst unwiderruf lich einsetzte, und die Bereitschaft, die Verantwortlichkeit ganz allein auf sich zu nehmen – dies waren die Grundelemente wahrer Führung.64 „Dem steht gegenüber die wahrhaftige germanische Demokratie der freien Wahl des Führers, mit dessen Verpflichtung zur vollen Übernahme aller Verantwortung für sein Tun und Lassen. In ihr gibt es keine Abstimmung einer Majorität zu einzelnen Fragen, sondern nur die Bestimmung eines einzigen, 58 59 60 61 62 63 64
Ebd., S. 169. Ebd. Ebd., S. 86. Ebd. Ebd., S. 87. Ebd. Vgl. ebd., S. 87 f.
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der dann mit Vermögen und Leben für seine Entscheidung einzutreten hat.“65 Der Führer wurde gewählt, aber er wurde ein für allemal und bedingungslos auserkoren, und es gab keine Instanzen, um ihn zu über wachen, zu kontrollieren, zu kritisieren oder abzusetzen. Er hatte Berater, aber keine Partner. Er berief Versammlungen ein, um mit ihnen zu beratschlagen, aber erhielt keine Anordnungen von ihnen.66 Der Führer war keiner, der einvernehmlich mit seiner Wählerschaft diskutierte. Er hielt mit seinen Zuhörern keine Seminare ab. Er eroberte sie durch seinen hysterischen Fanatismus ( Hitlers Lieblingsausdruck ) und seine überströmende Leidenschaft direkt durch „die Zauberkraft des gesprochenen Wortes“. „Die Macht aber, die die großen historischen Lawinen religiöser und politischer Art ins Rollen brachte, war seit urewig nur die Zauberkraft des gesprochenen Wortes. Die breite Masse eines Volkes vor allem unterliegt immer nur der Gewalt der Rede. Alle großen Bewegungen aber sind Volksbewegungen, sind Vulkanausbrüche menschlicher Leidenschaften und seelischer Empfindungen, aufgerührt entweder durch die grausame Göttin der Not oder durch die Brandfackel des unter die Masse geschleuderten Wortes und sind nicht limonadige Ergüsse ästhetisierender Literaten und Salonhelden. Völkerschicksale vermag nur ein Sturm von heißer Leidenschaft zu wenden, Leidenschaft erwecken aber kann nur, wer sie selbst im Innern trägt.“67
2. Neurosen werden mörderischer Wahnsinn In dem Kapitel in Mein Kampf über die Lehren, die die beiden österreichischen anti - semitischen Führer – Lueger, Vorsitzender der österreichischen Christlichsozialen Partei, und Schönerer, Begründer der rassistischen Alldeutschen Bewegung in Österreich – hinterlassen haben, schreibt Hitler : „Überhaupt besteht die Kunst aller wahrhaft großen Volksführer zu allen Zeiten in erster Linie mit darin, die Aufmerksamkeit eines Volkes nicht zu zersplittern, sondern immer auf einen einzigen Gegner zu konzentrieren. Je einheitlicher dieser Einsatz des Kampfwillens eines Volkes stattfindet, um so größer wird die magnetische Anziehungskraft einer Bewegung sein und um so gewaltiger die Wucht des Stoßes. Es gehört zur Genialität eines großen Führers, selbst auseinanderliegende Gegner immer als nur zu einer Kategorie gehörend erscheinen zu lassen, weil die Erkenntnis verschiedener Feinde bei schwächlichen und unsicheren Charakteren nur zu leicht zum Anfang des Zweifels am eigenen 65 66 67
Ebd., S. 99. Vgl. ebd., S. 378 f. Ebd., S. 116.
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Rechte führt. Sowie die schwankende Masse sich im Kampfe gegen zu viele Feinde sieht, wird sich sofort die Objektivität einstellen und die Frage aufwerfen, ob wirklich alle anderen unrecht haben und nur das eigene Volk oder die eigene Bewegung allein sich im Recht befinde ? Damit aber kommt auch schon die erste Lähmung der eigenen Kraft. Daher muß eine Vielzahl von innerlich verschiedenen Gegnern immer zusammengefaßt werden, so daß in der Einsicht der Masse der eigenen Anhänger der Kampf nur gegen einen Feind allein geführt wird. Dies stärkt den Glauben an das eigene Recht und steigert die Erbitterung gegen den Angreifer auf dasselbe.“68 In einem späteren Kapitel in Mein Kampf sagt Hitler über die Propaganda im Ersten Weltkrieg : „Die breite Masse eines Volkes besteht nicht aus Diplomaten oder auch nur Staatsrechtslehrern, ja nicht einmal aus lauter vernünftig Urteilsfähigen, sondern aus ebenso schwankenden wie zu Zweifel und Unsicherheit geneigten Menschenkindern. Sowie durch die eigene Propaganda erst einmal nur der Schimmer eines Rechtes auch auf der anderen Seite zugegeben wird, ist der Grund zum Zweifel an dem eigenen Rechte schon gelegt.“69 Sollten wir daher angesichts dieses zynischen Bekenntnisses zur vorsätzlichen und systematischen Lüge Hitlers monomanen und paranoiden Antisemitismus als einen schlauen pragmatischen Plan betrachten ? Er hätte niemals so mörderisch effektiv werden können, wäre er nur dies gewesen. Er glaubte daran. In seinem politischen Testament, das er nur wenige Stunden vor seinem Selbstmord im Bunker im brennenden Berlin verfasste, konnte der Mann, der all dieses grenzenlose Leid und Übel über die Welt gebracht hatte, noch immer schreiben : „Es werden Jahrhunderte vergehen, aber aus den Ruinen unserer Städte und Kunstdenkmäler wird sich der Haß gegen das letzten Endes verantwortliche Volk immer wieder erneuern, dem wir alles zu verdanken haben : Dem internationalen Judentum und seinen Helfern !“70 Er beschloss das Dokument mit einem Aufruf : „Vor allem verpflichte ich die Führung der Nation und die Gefolgschaft zur peinlichen Einhaltung der Rassengesetze und zum unbarmherzigen Widerstand gegen den Weltvergifter aller Völker, das internationale Judentum.“71 Wir sehen daher eine jahrhundertealte neurotische Unfähigkeit, selbst die Existenz der Juden als selbstverständlich zu betrachten, und eine eigensinnige Veranlagung, die Juden a priori als auf irgendeine Art schuldig zu betrachten, was in einem teuf lischen und mörderischen Wahnsinn gipfelt. Aus einem anderen Blickwinkel sehen wir auch das offensichtlich immerwährende Bedürf68 69 70 71
Ebd., S. 129. Ebd., S. 200 f. Fest, Hitler, S. 1017. Ebd.
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nis der Menschheit, die Existenz einer einzigen letzten Quelle des Bösen und Satans vorauszusetzen, der von einem ganzen Volk verkörpert wird. Als einem der „zehn Millionen“ vom österreichischen Staat „zum Tode verurteilten Deutschen“ dämmerte es Hitler sehr früh, dass die Sozialdemokratie eine tödliche Gefahr für das Überleben der deutschen Nation in der Ostmark war.71z Ihn „beschlichen [...] trübe Ahnungen und böse Furcht“ vor dieser Lehre „bestehend aus Egoismus und Haß, die nach mathematischen Gesetzen zum Siege führen kann, der Menschheit aber damit auch das Ende bringen muß“.72 1913/14 versuchte Hitler, seine neu gewonnenen deutschen Freunde in München davon zu überzeugen, dass „die Frage der Zukunft der deutschen Nation die Frage der Vernichtung des Mar xismus ist“.73 Hitlers größte Veränderung, die ihn Monate des Kampfes zwischen Vernunft und Gefühl kostete, bis „das Gefühl dem Verstande gefolgt [ war ], um von nun an dessen treuester Wächter und Warner zu sein“, geschah, als er entdeckte, dass „nur die Kenntnis des Judentums allein [...] den Schlüssel zum Erfassen der inneren und damit wirklichen Absichten der Sozialdemokratie“74 biete. Nun „begann es mir wie Schuppen von den Augen zu fallen“ :75 der Jude war ihr Führer. Der Ausgangspunkt von Hitlers Weltanschauung, die auf Hitler hinauslief und von ihm faktisch als Widerlegung des mar xistischen Sozialismus und letztendlich als die Antithese des Judentums präsentiert wurde, war seine Verurteilung des jüdischen Glaubens – „judenhaft frech, aber ebenso dumm“76 –, dass die Rolle des Menschen in der Über windung der Natur bestehe. Der Mensch war einfach eine Erweiterung der Natur und er hatte Hitler zufolge die Natur noch in keiner Weise erobert. Er entdeckte höchstens einzelne Naturgesetze und Geheimnisse, um „zum Herrn derjenigen anderen Lebewesen“ aufzusteigen, „denen dieses Wissen eben fehlt“.77 Die unmittelbare Konsequenz dieses „jüdischen Unsinns“78 war die jüdischmar xistische Ablehnung des aristokratischen Prinzips der Natur und die Ablösung „des ewigen Vorrechtes der Kraft und Stärke [ durch ] die Masse der Zahl und ihr totes Gewicht“.79 Das Judentum ( Hitler wagt es nicht, das Christen71z 72 73 74 75 76
77 78 79
Vgl. Hitler, Mein Kampf, S. 9, 39. Ebd., S. 54. Ebd., S. 171. Ebd., S. 54, 59. Ebd., S. 64. Ebd., S. 314. A. d. Ü. : Konkret heißt es : „Hier freilich kommt der echt judenhaft freche, aber ebenso dumme Einwand des modernen Pazifisten : ‚Der Mensch über windet eben die Natur !‘“. Ebd., S. 314. Ebd. Ebd., S. 69.
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tum sowie die aus ihm erwachsenen säkularen Glaubensbekenntnisse hinzuzufügen ) lehnte das offensichtliche Gebot der Natur ab, dass jene, denen die Natur größere Stärke geschenkt hatte, dadurch auch zu höheren Positionen bestimmt waren. Das Judentum lehnte die Anerkennung der unabänderlichen natürlichen Werte „Volkstum und Rasse“ und die Ungleichheit der Rassen ab. Durch die Ablehnung der hierarchischen Ordnung, die von der Natur gegeben war, machte das Judentum jede „gedanklich für Menschen faßliche Ordnung“ unmöglich und beraubte die Menschheit der Grundbedingung „ihres Bestehens und ihrer Kultur“.80 Der ‚Mischmasch‘ der Völker und Individuen von unterschiedlichen Fähigkeiten, Neigungen und Mentalitäten musste zwangsläufig so enden, wie „nur Chaos das Ergebnis der Anwendung eines solchen Gesetzes sein könnte, so auf der Erde für die Bewohner dieses Sternes nur ihr eigener Untergang“.81 „Siegt der Jude mit Hilfe seines mar xistischen Glaubensbekenntnisse über die Völker dieser Welt, dann wird seine Krone der Totenkranz der Menschheit sein, dann wird dieser Planet wieder wie einst vor Jahrmillionen menschenleer durch den Äther ziehen.“82 Der Prophet des Zorns verkündet seine Mission : „So glaube ich heute im Sinne des allmächtigen Schöpfers zu handeln : Indem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn.“83 An anderer Stelle mahnt Hitler seine Leser eindringlich, den Tag, an dem sie nicht von Juden beschimpft würden, als einen verschwendeten Tag anzusehen.84 Hitler gibt sich große Mühe, den Widerspruch aufzulösen zwischen der jüdischen kategorischen Ablehnung der Nation samt ihrer rassischen Inhalte und dem erstaunlichen Durchhaltevermögen der Juden als Einheit und ihrer Entschlossenheit, diese zu bewahren, die stärker als bei jedem anderen Volk erscheine. Gleichzeitig fehlten den Juden jegliche Merkmale einer religiösen oder nationalen Einheit. Sie hatten keine Religion, nur funktionale Mittel, um materielle Vorteile zu erlangen. Sie hatten niemals einen Staat, weil ihnen jegliche Form des Idealismus fremd war. Ihre Solidarität bestand einfach im Zusammenrücken der Herde bei Gefahr; war die Gefahr vorbei, würden sie sich wieder gegenseitig an die Kehle gehen. Kultur ergaunerten sie von anderen.85 Hitler erklärt das Geheimnis durch die Tatsache, dass die Juden nichts als eine beständige Verschwörung gegen die Nationen, ja gegen die Menschheit waren, die darauf abzielte, alle Nichtjuden unter die Herrschaft der Juden
80 81 82 83 84 85
Ebd. Ebd. Ebd., S. 69 f. Ebd., S. 70. Vgl. ebd., S. 386. Vgl. ebd., S. 330 f.
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zu bringen. Ihr Weg zur Weltherrschaft gestaltete sich durch systematische Entnationalisierung der Nationen, durch Schwächung der rassischen Integrität, Kompaktheit und des instinktiven Selbstvertrauens.86 Dies war durch die Entweihung und Vermischung des Volkes vollbracht worden, durch das Einflößen fremden und minder wertigen Blutes – um die Fähigkeiten der bastardisierten Rasse zu verringern, sie zu desorientieren; durch materialistischen Utilitarismus und Lehren von der immensen Bedeutung der Wirtschaft – um die idealistische Selbstaufopferung zu untergraben, auf der Nationen und Staaten beruhten; durch kosmopolitischen Pazifismus – um die tapferen Nationen den listigen Völkern auszuliefern, sie zu entwaffnen und zu schwächen; durch Demokratie und Parlamentarismus – um Anarchie und Chaos zu säen; durch die jüdische Presse – um die Leichtgläubigen zum Narren zu halten und das gemeine Volk zu verderben.87 In der Vergangenheit hatten die Juden die Bourgeoisie als ihr Werkzeug gegen den Feudalismus und liberale Ideologie als ihren Rammbock gegen tief ver wurzelte Traditionen genutzt.88 Es war ihnen gelungen, die Mittelschichten in Europa mit jüdischen materialistischen und kosmopolitischen Werten zu durchtränken. Sie entschlossen sich dann, die Arbeiter zu ihren nützlichen Idioten zu machen, um die Bourgeoisie zu enterben. Sie fanden im Mar xismus ein höchst effektives Werkzeug, um die nationalen Wirtschaften dem jüdischen internationalen Finanzwesen und der Zinsknechtschaft zu unter werfen. Nachdem sie wie Würmer ihren Weg in nationale Gesellschaften gefunden hatten, was mit Hilfe liberal - demokratischer Ideen und Institutionen zu deren Auf lösung geführt hatte, erkannten die Juden, dass Klassenkampf, sozialistischer Internationalismus, Revolution und die Diktatur des Proletariats ihren Zwecken besser dienen würden.89 Sie würden die Welt der Nationen dafür reif machen, von einer internationalen jüdischen Diktatur übernommen zu werden : „Der Mar xismus soll als Angriffs - und Sturmkolonne vollenden, was die Zermürbungsarbeit [...] schon zum Zusammenbruch heranreifen ließ.“90 „Nun beginnt die große, letzte Revolution. Indem der Jude die politische Macht erringt, wirft er die wenigen Hüllen, die er noch trägt, von sich. Aus dem demokratischen Volksjuden wird der Blutjude und Völkertyrann. In wenigen Jahren versucht er, die nationalen Träger der Intelligenz auszurotten, und macht die Völker, indem er sie ihrer natürlichen geistigen Führung beraubt, reif zum Sklavenlos einer dauernden Unterjochung.“91 Karl Marx hatte „eine 86 87 88 89 90 91
Vgl. ebd., S. 334–336. Vgl. ebd., S. 344–349. Vgl. ebd., S. 349 f. Vgl. 350 f. Ebd., S. 351 f. Ebd., S. 358.
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konzentrierte Lösung zur schnelleren Vernichtung des unabhängigen Daseins freier Nationen auf dieser Erde“ vorbereitet, „während der Mar xismus selbst die Welt planmäßig in die Hand des Judentums überzuführen trachtet“.92 Die heimtückischste und gefährlichste Waffe des Mar xismus war der Internationalismus, da er die mächtigste zersetzende Wirkung auf Völker und Nationen hatte. Gegen diese Verschwörung mussten die arischen Deutschen „ein Instrument“ schaffen : „Damit muß also der völkischen Weltanschauung ein Instrument geschaffen werden, das ihr die Möglichkeit einer kampfesmäßigen Vertretung gewährt, ähnlich wie die mar xistische Parteiorganisation für den Internationalismus freie Bahn schafft.“93 Auf Deutschland angewandt, beinhaltete diese wesentliche Zusammenfassung der Geschichte die folgende Lehre über die jüngsten Missgeschicke dieser Nation : „Wenn wir all die Ursachen des deutschen Zusammenbruches vor unserem Auge vorbeiziehen lassen, dann bleibt als die letzte und ausschlaggebende das Nichterkennen des Rasseproblems und besonders der jüdischen Gefahr übrig.“94 Das deutsche Volk des Zweiten Reiches war einer systematischen Vergiftung unter worfen worden, welche die Deutschen ihrer politischen und moralischen Instinkte beraubt hatte – derjenigen Kräfte, die eine Nation allein fähig und daher würdig machten, überhaupt zu existieren. Deutsches Blut durfte beschmutzt und der deutsche Geist entartet werden. „Die verlorene Blutsreinheit allein zerstört das innere Glück für immer, senkt den Menschen für ewig nieder, und die Folgen sind niemals mehr aus Körper und Geist zu beseitigen.“95 Im August 1914 „erfolgte nur das letzte Aufflackern des nationalen Selbsterhaltungstriebes gegenüber der fortschreitenden pazifistisch - mar xistischen Lähmung unseres Volkskörpers“.96 In dieser Hinsicht war die Niederlage eine verdiente Strafe, aber auch ein heilsamer Schock. Unter ihrer Wirkung war eine Bewegung entstanden, die sich geschworen hatte, nicht nur den Niedergang des deutschen Volkes aufzuhalten, sondern „das granitene Fundament“ 97 für einen Staat zu schaffen, „der nicht einen volksfremden Mechanismus wirtschaftlicher Belange und Interessen, sondern einen völkischen Organismus darstellt: Einen germanischen Staat deutscher Nation“,98 in dem die Kultivierung der Rassenreinheit und des Genius’ der Rasse das oberste Ziel war. Am Anfang stand die Lösung der jüdischen Frage, „ohne deren Lösung alle anderen Versuche einer deutschen Wiederge92 93 94 95 96 97 98
Ebd., S. 420. Ebd., S. 423. Ebd., S. 359. Ebd. Ebd., S. 361. Ebd. Ebd., S. 361 f.
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burt oder einer Erhebung vollkommen unsinnig und unmöglich sind und bleiben“.99 Der nationale Entschluss Deutschlands, diese wichtige Frage zu lösen, wurde zum Sprungbrett für eine internationale Mission, wie Hitler weiter erklärt, da diese Frage, wie für die deutsche Nation, auch „eine Lebensfrage der gesamten Menschheit“ darstelle, „von deren Lösung das Schicksal aller nichtjüdischen Völker abhänge“.100
3. Über den Nationalismus hinaus „Das Deutsche Reich“, schrieb Hitler, „soll als Staat alle Deutschen umschließen“101 [„auch den letzten Deutschen“,101z verkündet die erste Seite von Mein Kampf ] und hat die Aufgabe, nicht nur den kostbarsten Bestand der rassischen Grundelemente in diesem Volk zu vereinen und zu bewahren, sondern es auch langsam und sicher in eine dominante Position zu bringen102 ( nachdem es in speziellen Grenzgebieten und Zuchtanstalten dazu erzogen worden ist ). Das sozialistische Ziel des Nationalsozialismus beschreibt Hitler wie folgt : „Den deutschen Arbeiter in ehrlicher Weise seinem Volke wiedergeben und dem internationalen Wahn entreißen.“103 Er soll von der „sozialen Not“ befreit werden, deren Ursache in einem Unternehmertum besteht, das „durch unmenschliche und ausbeuterische Art seiner Betriebsführung die nationale Arbeitskraft mißbraucht und aus ihrem Schweiße Millionen erwuchert“.104 Der Arbeiter wieder um wird davor gewarnt, maßlose Forderungen gegenüber dem Unternehmer zu erheben und damit der nationalen Wirtschaft in ähnlicher Weise zu schaden wie der niederträchtige Unternehmer.105 Selbstverständlich schlägt Hitler nicht vor, die Lohnarbeit abzuschaffen, ganz zu schweigen vom öffentlichen Besitz der Produktionsmittel. Alles, was versprochen wird, sind Bestrebungen des deutschen Staates, um die Arbeiter „dem kulturellen Elend zu entheben und als geschlossenen, wertvollen, national fühlenden und national sein wollenden Faktor in die Volksgemeinschaft zu überführen“.106 Bei näherer Betrachtung befinden wir uns nicht länger in der Bahn moderner nationaler Einheit oder des Nationalismus. „Die nationale Gemeinschaft“ 99 100 101 101z 102 103 104 105 106
Ebd., S. 123. Ebd., S. 132. Ebd., S. 439. Ebd., S. 1. Vgl. ebd., S. 439. Ebd., S. 374. Ebd. Ebd. Ebd.
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ist nicht als eine Partnerschaft von Gleichen konzipiert, worin aber die vage Prämisse eines jeden modernen Nationalismus besteht. Sie erinnert eher an mittelalterliche und reaktionäre romantische Vorstellungen einer „organischen Gemeinschaft“, die von einem erblichen Adel geführt wird und die verschiedenen Stände verbindet. Nach den extremsten Nazivorstellungen ( besonders Himmlers ) sollten die Inhaber des besten Blutes, die in „eine dominante Position“ erhoben werden sollten, nicht allein auf die deutsche Ethnie begrenzt werden, sondern auch auserlesene nordische Exemplare aus anderen Nationen einschließen. Ihre „dominante Position“ sollte vermutlich, wie es einer Nobilität gebührt, erblich werden. Dem „kostbaren Faktor“, den Arbeitern, würde beigebracht, die eigene Stellung im Leben zu lieben, und ihre Belohnung würde darin bestehen, auf nationale Weise zu „fühlen“ und zu „wünschen“. Der rassistische Nationalismus ist auch ein Schritt über die konkrete – wie im Fall jeder europäischen Nation – pluralistische kulturelle Tradition hinaus, hin zu einer Art arischem oder nordischem Internationalismus. Die vergrößerte völkische Einheit wird selbstverständlich als von ihrem deutschen Bestandteil dominiert gesehen. Sie würde jedoch ihre Inspiration aus den gemeinsamen mythischen oder archaischen Quellen des vorchristlichen Germanentums beziehen. Man fragt sich, was vom nationalen Erbe einer jeden europäischen Nation übrig bliebe, wenn das gesamte jüdisch - christliche Erbe und alles, was sich über die Jahrhunderte darauf stützte, abgetrennt würde. Einen Vorgeschmack darauf bot das Schauspiel der Erzpatrioten von gestern, die sich im Zweiten Weltkrieg zusammenrotteten, um dem deutschen Erbfeind, der in ihre Länder einfiel und ihre Nationen unterdrückte, ihre Dienste als Verräter und Kollaborateure anzubieten. Aber ein zwanghaftes Beharren auf der Übernahme ausschließlich nationaler Formen und Inhalte, eine kriegerische Haltung gegenüber allen anderen Nationen sowie eine energische Politik der „Gleichschaltung“ laufen definitiv auf eine Rückkehr zum Tribalismus hinaus. Es wäre keinesfalls zu weit hergeholt, nicht nur die nationale Exklusivität mit der mar xistischen sowjetischen Verpflichtung auf eine allumfassende exklusive Philosophie zu vergleichen, sondern auch die zukünftige „dominante Position“ der Mitglieder der besten rassischen Anlagen mit der Rolle der Mitglieder der Führungsränge der kommunistischen Partei in einem kommunistischen Land. Im Vergleich mit dem vagen, schwer fassbaren, unpräzisen, dehnbaren Charakter und der gleichzeitigen lateinischen Transparenz des italienischen Faschismus ist das Nazitum in einem unbarmherzigen, quasi - wissenschaftlichen, unpersönlichen Determinismus verankert und zugleich in einen teutonisch - wagnerischen Dunst von Mythos und Legende gehüllt und wird von einem alles verdammenden Fatalismus geplagt. Wenn der italienische Faschismus als eine Hoffnung erscheint, verkörpert das Nazitum eine kolossale Hybris.
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Beide Bewegungen waren durch blasphemische Arroganz gekennzeichnet, die eine, um mit dem Marsch auf Rom einen neuen Kalender zu beginnen, die andere, um ein Tausendjähriges Reich zu versprechen; die eine versuchte, auf Cäsar zurückzugreifen, die andere auf Arminius. Wenn die Hybris auf Seiten der Nazis unendlich größer war, so war es auch ihre „Angst“, die rätselhafte Angst vor der Verunreinigung, die zwanghafte wagnerische Verbindung zum Tod, das bedrückende Gefühl der Ver wundbarkeit der Fundamente ihres ganzen Unternehmens sowie des Nihilismus, der an dessen Herz und Flanken zehrt. Der Nationalsozialismus behauptete, eine Revolution durchzuführen. Tatsächlich sollte es sich um eine Renovatio handeln, um es in der Sprache des Mittelalters auszudrücken. Allerdings verband diese Vision vier Charakteristika einer gänzlich modernen Revolution miteinander : Zurückweisung der Werte und Institutionen, wenn nicht gar der sozialökonomischen Ordnung der bisherigen Gesellschaft; die Vorstellung einer endgültigen Wirklichkeit; Terror gegen Feinde innerhalb des Landes; und die Entschlossenheit, andere Länder zu erobern und sich dort auszubreiten.
4. Die Geführten und ihr Führer Angesichts des Charakters der Nazi - Revolution als einer trotzigen Verneinung uralter, hoch geschätzter Unantastbarkeiten und Gewissheiten besteht die schmerzlichste Frage nicht darin, was den Menschen Hitler dazu bewegte, so zu handeln und zu denken, wie er es tat, sondern wie sich eine alte und große Nation wie Deutschland, ein wesentlicher Teil der europäischen Zivilisation, von einer Person wie dem Autor von Mein Kampf führen lassen konnte – wie von einem Stammeshäuptling, der, einmal gewählt, seine Macht mit niemandem teilt, keine Kontrolle duldet, keine Kritik erträgt und der religiösen Gehorsam und Verehrung verlangt. Die deutsche Nation ließ sich darüber hinaus von einem Scharlatan hinreißen, der, während er von der her vorragenden Qualität des deutschen Blutes und von den Fähigkeiten dieser deutschen „herdenmäßigen Einheit“ ( hätten die Deutschen diese in der Vergangenheit gehabt, „würde das Deutsche Reich heute wohl Herrin des Erdballs sein“) schwärmte, seine tiefe Verachtung für die deutschen Massen und für Massen im Allgemeinen über Quadratkilometer von bedrucktem Papier ausgoss.107 Indem er ihnen rationales Verständnis, Urteil, Willenskraft und mentale Ausgeglichenheit absprach, stellte er ein erstaunlich scharfsinniges Vademecum zusammen : wie man sie mit Hysterie, 107
Ebd., S. 437 f.
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Aufhetzung, zu starker Vereinfachung und Wiederholung, Tricks und Kniffen, Vorführungen und Zeremonien hereinlegt. Ein krankhaft über den Verlust seines Ruhmes brütendes, in einer Ekstase des Selbstmitleids schwelgendes besiegtes Deutschland stellte für den besessenen Demagogen ein besonders günstiges Ziel dar, um seinen Zauber anzuwenden und die Massen zu hypnotisieren : Er und sie teilten den gleichen Groll über die Niederlage und das fremde Diktat. Es gab freilich einen Unterschied in der Intensität : Ihr Groll war Empörung, seiner war ausschließlich Wut. Dieser Unterschied in der Intensität erbrachte eine schnelle und kraftvolle Reaktion und hatte einen befreienden und berauschenden Effekt. Die scheinbar absolute Entschlossenheit und unwiderstehliche Kraft brachten die Furchtsamen, Zögerlichen, Unentschlossenen und Unsicheren dazu, nachzugeben und die weniger angenehmen Vorstellungen und Gefühle zu ignorieren, welche die Hauptstoßrichtung dieser unerbittlichen Attacke auf Versailles umgaben. Getrieben von zwanghaften Erinnerungen an seine Jugend in Wien, erhielt Hitler die Möglichkeit, den Versailler Vertrag, den Völkerbund, den Verlust an Territorium, die Verkleinerung der Reichswehr auf 100 000 Soldaten und vor allem die Reparationen und die Kriegsschuld als Teile einer Politik darzustellen, die systematisch darauf aus war, das deutsche Volk kleinzuhalten und ihm letztendlich die Luft abzuschnüren, wie es die Slawen in einer Allianz mit den Juden und Habsburgern den Deutschen in der Ostmark angetan hatten. Das Regime der „November verbrecher“ und dessen vermeintliche Erfüllungspolitik konnte, wenn nicht als ein Unternehmen willentlicher Vaterlandsverräter, so doch als geleitet von knieweichen, feigen Nichtskönnern verdammt werden, denen die Überzeugung, der Mut und der Wille fehlten, um sich gegen die fremden Unterdrücker zu behaupten. Die Führer der Weimarer Republik und ihre Unterstützer waren tatsächlich unfähig, das Selbstbewusstsein, die Überzeugung und Charakterstärke aufzubringen, um diesem Sperrfeuer erfolgreich zu widerstehen, ganz zu schweigen davon, es abzustellen, weil sie die grundlegende Prämisse teilten : den unerschütterlichen Glauben an das furchtbare Unrecht, das dem deutschen Volk angetan, und an die Ungesetzlichkeit der Beschränkungen, die ihm auferlegt wurden. Es lässt sich nicht sagen, in welchem Ausmaß ein weiseres und liberaleres Verständnis der Schwierigkeiten des Weimarer Regimes auf Seiten der Alliierten den ungeschickten Führern den Rücken gestärkt und Hitler, Hugenberg, Helfferich und anderen Nationalisten den Wind aus den Segeln genommen hätte. Die Propaganda der Nazis und anderer Nationalisten wurde niemals müde zu zetern, die Inflation sowie jegliche anderen wirtschaftlichen Schwierigkeiten und jede Art der sozialen Unruhe seien eine direkte Folge der Reparationen sowie eines vorsätzlichen französisch - britischen Plans, die Erholung der deutschen Wirtschaft zu verhindern. Dies war die Last der fortwäh-
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renden nationalistischen Kampagne gegen die Akzeptanz des Young - Plans. Als 1929 die Krise ausbrach und die Zahl der Arbeitslosen in die Millionen zu steigen begann, schienen diese Argumente in den Augen vieler Glaubwürdigkeit zu erlangen. Das Weimarer Regime schien zu bröckeln – als das Opfer von Inkompetenz und Schwäche sowohl im eigenen Land als auch im Ausland. Instabile Koalitionen der gleichen Art lösten einander in kurzen Abständen ab. Auch die Nation schien sich vom Regime zu distanzieren, als an den Flanken der Weimarer Koalition die antiparlamentarischen Kräfte, welche die Republik zu zerstören versprachen, die Mehrheit gegenüber deren Unterstützern erlangten und die Verfassung praktisch aufgehoben und das Land durch präsidiale Erlasse geführt werden musste.108 Der unerbittliche und rüpelhafte Druck der Nazis, die mittler weile zu einem Staat im Staate geworden waren, über eine Privatarmee verfügten, ein Netzwerk von Vereinen und Institutionen betrieben und nur dem Führer Treue schworen, führte zu dem weitverbreiteten Eindruck, dass hier eine historische, unaufhaltsame Kraft am Werke war. Wenn sie sich nicht stoppen ließ, musste ihr eine Chance zugestanden werden, und entweder würde ihr Scheitern die Luft reinigen oder sie würde von gemäßigteren Partnern gebändigt werden – den abgebrühten Repräsentanten massiver weltlicher Interessen.109 Diejenigen, die den Nazis den Sieg davonzutragen gestatteten, taten dies, anders als die völlig ergebenen Anhänger, aus Verzweif lung oder weil sie keine Alternative sahen. Weder hatten sie eine tatsächliche Vorstellung von dieser beängstigenden Doktrin, noch schenkten sie ihr und ihren Furcht erregenden Implikationen Beachtung. Wir sprachen zuvor von den Unterschieden in der Intensität zwischen der Empörung der einfachen Leute und Hitlers zwanghafter Wut in Bezug auf Versailles. Es gab eine ähnliche Kluft zwischen den mehr oder weniger pragmatischen Überlegungen der Nicht - Nazis – und vielleicht sogar vieler Nazis – und der pseudo - messianischen Botschaft und teuf lischen Entschlossenheit Hitlers. Das Gleiche dürfte auf das Problem des Antisemitismus zutreffen. Wahrscheinlich wurde nur der harte Kern der Nazi - Fanatiker von der brennenden Überzeugung angetrieben, dass die Judenfrage – als die konkrete Quintessenz der Rassentheorie – der Schlüssel zur gesamten Geschichte war, dass die Juden der gemeinschaftliche Satan waren, der alle anderen Nationen durch Injektionen eines humanitären Pazifismus zerstörte und sie dann – wie der Imperialismus im späten Mar xismus – ausschickte, sich gegenseitig abzuschlachten; dass Mar xismus und Klassenkampf in Wirklichkeit Instrumente des jüdischen Finanzsystems waren, um die Welt zu beherrschen; dass all die Übel, von 108 109
Vgl. Bracher, Die nationalsozialistische Machtergreifung, S. 34 f. Vgl. ebd., S. 40–44.
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denen Gesellschaften und Nationen geplagt wurden, auf jüdische Machenschaften zurückgeführt werden konnten; und dass der teuf lische Geist des Judentums so allgegenwärtig sei, so mächtig und so unwiderstehlich, dass seine Mitglieder physisch ausgerottet werden mussten – Männer, Frauen und Kinder. Der Großteil des deutschen Volkes war allerdings durch die jahrelangen Vorurteile und Imaginationen und dann durch die Gehässigkeit und Bosheit monomanischer Autoren wie Fritsch oder raffinierter Propheten wie Treitschke, Lagarde, Langbehn, Chamberlain und andere so sehr konditioniert worden, so sehr dazu geneigt, die Juden als fremd, schädlich, ja wirklich böse im Verlauf der gesamten Geschichte anzusehen, dass der Zustand der tiefen Frustration und Verzweif lung sie krankhaft empfänglich für die „jüdischen Stimuli“ machte. Wenn sie auch nicht bereit und begierig waren, alles zu schlucken, was ihnen von monomanischen Antisemiten vorgesetzt wurde, so waren sie trotzdem nicht länger fähig, genug Überzeugung oder Stärke oder gar Humanität und Courage aufzubringen, um ihre Missbilligung des anhaltenden Feldzugs, den Juden ihre Rechte, ihre Menschenwürde und ihre Existenzmöglichkeiten zu nehmen und sie letztendlich auszurotten, zum Ausdruck zu bringen; ganz zu schweigen davon, dagegen Widerstand zu leisten. Die sehr oft als das Siegel der deutschen Niederlage betrachtete Revolution von 1918/19 hatte viele Juden in den Vordergrund gerückt und sie in bedeutende Positionen gebracht, und ihre Feinde konnten schadenfroh mit dem Finger auf das Unglück Deutschlands zeigen, das mit dem Aufstieg der Juden zusammenfiel. Es gab die ehr würdigen Haase und Landsberg ( der sich als einer der Bevollmächtigten tatsächlich geweigert hatte, den Versailler Vertrag zu unterschreiben ) in der Übergangsregierung; Preuß, der die Weimarer Verfassung entwarf; dann selbstverständlich Walter Rathenau, der Außenminister, der den Vertrag von Rapallo abschloss, um von Nationalisten ermordet zu werden; und Hilferding, der bedeutende Ökonom der USPD, der eine Zeit lang Finanzminister war. Vor ihnen gab es den glücklosen, naiven Kurt Eisner, der sich im katholisch- konser vativen Bayern ein oder zwei Tage vor der Berliner Revolution daran machte, die Rolle eines linken D’Annunzio zu spielen. Als er bei der landesweiten Wahl schmählich unterlag, wurde er auf dem Weg, um seinen Rücktritt einzureichen, ermordet – ein messianischer Revolutionär, der Gewalt verabscheute und an die Unantastbarkeit der parlamentarischen Mehrheit glaubte, fehlgeleitet genug, geheime diplomatische Dokumente zu veröffentlichen, welche die deutsche Kriegsschuld bewiesen, in der Hoffnung, die siegreichen Alliierten davon zu überzeugen, dass die Deutschen zu Demokratie und Internationalismus bekehrt worden waren und daher von jeglicher Schuld und Strafe freigesprochen werden sollten.110 110
Vgl. Eyck, Geschichte der Weimarer Republik, Band 1, S. 83–85, 108 f.
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Es gab natürlich Rosa Luxemburg, die in Wirklichkeit so wirkungslos und dennoch so Furcht erregend war; und dann einige der Mitglieder der kurzlebigen bayrischen kommunistischen Regierung, die auf den Tod Kurt Eisners folgte. In den Tagen des Zorns, als die Juden zu Tode gehetzt wurden, schauten die meisten Deutschen weg, und wie deutsche Polizeidokumente zeigen, waren sie eher unangenehm überrascht, als der Erlass, der die Juden zum Tragen des Judensterns zwang, offenbarte, dass noch so viele übrig waren, während sie gedacht hatten, es seien bereits alle in den Osten evakuiert worden.111 Wegen ihres schlechten Gewissens wollten sie sie außer Sichtweite und aus dem Weg haben. Hitler begegnete den verschiedenen Äußerungen des Unmutes oder der Zurückhaltung gegenüber der Vernichtung der Juden, die als dringend benötigte Arbeitskräfte hätten eingesetzt werden können, mit der Klarstellung, dass keinerlei wirtschaftliche Erwägungen der Durchführung der Endlösung im Wege stehen sollten.112 In der berühmten Denkschrift über die Aufgaben eines Vierjahresplans aus dem Jahr 1936 legte Hitler dar : „Seit dem Ausbruch der Französischen Revolution treibt die Welt in immer schärferem Tempo in eine neue Auseinandersetzung, deren extremste Lösung Bolschewismus heißt, deren Inhalt und Ziel aber nur die Beseitigung und Ersetzung der bislang führenden Gesellschaftsschichten der Menschheit durch das international verbreitete Judentum ist. Kein Staat wird sich dieser geschichtlichen Auseinandersetzung entziehen oder auch nur fernhalten können.“ Der Sieg des Bolschewismus werde „die grauenhafteste Völkerkatastrophe [...] seit dem Verlöschen der antiken Staaten“ sein. „Gegenüber der Notwendigkeit der Abwehr dieser Gefahr haben alle anderen Erwägungen als gänzlich belanglos in den Hintergrund zu treten ! [...] Denn ein Sieg des Bolschewismus über Deutschland würde nicht zu einem Versailler Vertrag führen, sondern zu einer endgültigen Vernichtung, ja Ausrottung des deutschen Volkes.“113
5. Die fernen Grundsteine Obwohl sie die Funktion eines strengen Dogmas, die Frucht einer bestimmten historischen Situation und einer Verknüpfung außergewöhnlicher Umstände waren, stellten die verschiedenen deutschen Einstellungen in der Nazizeit dennoch den extremen Ausdruck und Höhepunkt gewisser weit zurückreichen111 112 113
Vgl. Kulka, The Churches in the Third Reich. Zur „Endlösung“ siehe : Hillgruber, Die ‚Endlösung‘ und das deutsche Ostimperium; Broszat, Hitler und die Genesis der „Endlösung“. Treue, Hitlers Denkschrift zum Vierjahresplan 1936, S. 204 f.
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der Tendenzen, Muster und Traditionen dar, die Deutschland seit langem von seinen westlichen Nachbarn unterschieden hatten.114 Was in westlichen Mündern wie eine zufällige Bemerkung oder eine empirische Feststellung klingen mag, wird in der deutschen Sprache durch ihre Tendenz zur Überbetonung und die Notwendigkeit der Systematisierung gleichsam zu einer ewigen Wahrheit, oft zum Dreh - und Angelpunkt eines Schemas. Daher bekommt der Syllogismus „alle gegen Deutschland, Deutschland gegen alle“ ein unendlich schwereres Gewicht und einen bedrohlicheren Unterton als der französische revolutionäre Mythos von le complot de l’étranger, der ausländischen Verschwörung.115 Von der Definition eines momentanen Zustandes reicht er bis in die entfernte Vergangenheit, zu einer ursprünglichen Bedingung, und nimmt dann den gesamten Lauf der Zeit in sich auf, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Er hält sich nicht länger mit greifbaren und unmittelbaren Unterschieden der Interessen oder Zusammenstößen der Ideologien und Temperamente auf; er bringt ganze Welten, Geschichten, Schicksale, Mentalitäten der Völker und Nationen in einen ewigen, unlösbaren Konflikt. Der Widerstand von Teilen der deutschen Bevölkerung gegen Napoleon wurde so von der natürlichen Antwort eines überfallenen Landes zur Würde einer weiteren Handlung in der zeitlosen Sage von der Verteidigung der deutschen Identität gegen die einebnenden, kosmopolitischen und rationalistischen Tendenzen einer unfertigen und oberflächlichen Nation erhoben, die mit einer oberflächlichen Verehrung des Naturgesetzes aufgezogen worden war: eine Wiederholung des homerischen Kampfes zwischen Arminius und den römischen Legionen. Und so wurde Fichte, der ehemalige Jakobiner und spirituelle Möchtegern - Bürger des revolutionären Frankreich, von wo aus das Licht allen aufgeklärten Menschen überall auf der Welt leuchtete, unter dem Einfluss von Jena dazu geführt, die Deutschen zu den einzigen ursprünglichen Europäern zu erklären. Sie waren dank der Bewahrung ihrer eigenen Sprache die einzig wahre, ursprüngliche und gestalterische Nation, während jene trägen und oberflächlichen Nationen, die Italiener, Franzosen, Spanier und der Rest, Latein angenommen und es in einen Jargon ver wandelt hatten. Der Deutsche lernte in tiefer faustischer Qual zu fühlen und zu denken, während die parasitären Nationen nur mit geborgten Gefühlen und Ideen spielten. Tacitus’ Germania, egal ob sie als eine Abhandlung über den edlen Wilden oder als
114 115
Vgl. Vermeil, The Origin; Ritter, The Historical Foundations of the Rise of Nationalism. Vgl. Talmon, Die Geschichte der totalitären Demokratie, Band 2, S. 196–225; Bracher, Die deutsche Diktatur, S. 19–28.
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eine kryptische Geißelung des römischen Niederganges gedacht war, erwies sich als ein schwerer Wein für den deutschen Magen. Das Zweite Reich sah eine starke Zunahme patriotischer, pandeutscher, kolonialer, nationaler, der Marine zugehöriger Vereinigungen, emsig sozialen Dar winismus und Expansionismus predigend,116 sowie Jugendbewegungen, die sich bemühten, die Verbindung des Menschen mit den lebendigen Naturkräften wiederherzustellen und ein Gefühl der Ganzheit wiederzuerlangen.117 Die Luft der Weimarer Republik war geschwängert mit Untergangsprophezeiungen wie denen Oswald Spenglers, mit orakelhaften Botschaften vom Kommen des Dritten Reiches, den Büchern Moeller van den Brucks über das Bevorstehen einer erlösenden konser vativen Revolution,118 Ernst Jüngers Begeisterung für Gewalt, für die „rauschende Orgie“ des Krieges, für den Kampf Mann gegen Mann in den Gräben, wobei des Menschen „Triebe, zu lange schon durch Gesellschaft und ihre Gesetze gedämmt, wieder das Einzige und Heilige und die letzte Vernunft“ wurden.119 Elitäre Gruppen wie der Juni - Club und der Tatkreis, nationale Verbindungen wie die auf die Oberschicht beschränkte Thule - Gesellschaft einerseits, der plebejische Schutz - und Trutz - Bund anderseits propagierten Moellers Phrase : „Es gibt nur ein Reich, wie es nur eine Kirche gibt“119z, in dem das Individuum gänzlich in den „preußischen Stil“ eintaucht oder – mit den Worten Spenglers – in einen Sozialismus des Preußentums, der Antithese des schlappen und korrupten Liberalismus und habgierigen, egoistischen bürgerlichen Kapitalismus wie auch des materialistischen Mar xismus : eine Proto - Nazi - Version des preußischen Mythos.120 Kulturelle und literarische Denk - und Vorstellungsweisen wurden auf den Bereich historischer und politischer Konflikte übertragen. Die romantische Verherrlichung von Authentizität, Spontaneität und Originalität erzeugte den Kult der vitalen Elementarkräfte, die her vorbrachen, als ob sie unmittelbar der Quelle entsprungen seien, den Kult der dämonischen, besessenen Typen und Erscheinungen von einer Furcht einflößenden Originalität sowie ein wagemu116 117
Vgl. Stegmann, Die Erben Bismarcks. Vgl. Laqueur, Die deutsche Jugendbewegung; Mosse, The Crisis of German Ideology; Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik; ders., Der Tatkreis; Bracher, Die deutsche Diktatur, S. 28–47. 118 Vgl. Mohler, Die Konser vative Revolution in Deutschland; Klemperer, Konser vative Bewegungen, S. 167 ff. 119 Ernst Jünger, zit. in Craig, Deutsche Geschichte, S. 531. 119z Moeller van den Bruck, Das Dritte Reich, S. 321; vgl. dazu auch Craig, Deutsche Geschichte, S. 527. 120 Vgl. Craig, Deutsche Geschichte, S. 527–534; Spengler, Preußentum und Sozialismus; Lohalm, Völkischer Radikalismus.
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tiges und geniales Sich - Erheben über alle Konventionen, Einschränkungen sowie Menschenrechte und Naturgesetze. Die Lizenz, die außergewöhnlichen Individuen gewährt wurde, wurde um so bereitwilliger den Nationen erteilt, die jeweils als eigene Persönlichkeiten mit eigenen Inhalten, Zwängen, Hoffnungen und Gesetzen gesehen wurden, anderen Nationen in tödlichem Kampf gegenübergestellt, um ihre Einzigartigkeit auszudrücken und zu bestätigen, ohne dass es einen übergeordneten Richter gab. Sie alle waren getrieben vom Willen zur Macht, vom Drang, ihre Vitalität und Potentiale zu nutzen, kurzum von der „Dämonie der Macht“ oder mit Spenglers Worten „der unabänderlichen Notwendigkeit eines Schicksals“.120z Ein unbegreif liches Mysterium sowie eine verhängnisvolle Unvermeidlichkeit schienen den ewigen Konflikt zwischen der „Dämonie der Macht“ und den Regeln der gewöhnlichen Moral zu umgeben, wie im Fall Friedrichs des Großen oder Bismarcks. Manche der historischen Helden waren siegreich, nachdem sie das tragische Opfer ihres persönlichen Gewissens erbracht hatten; andere gingen inmitten einer entsetzlichen Tragödie unter wie die Giganten der Wagner’schen Opern. Allzu viele bedeutende und menschenfreundliche deutsche Historiker erlagen der Faszination dieser unerbittlichen Widersprüche. Durch eine der größten Ironien der Geschichte war der letzte Dichter dieses schrecklichen Mysteriums der armseligste Praktiker des Massenmords zum Ruhm der Rasse : Heinrich Himmler. Über die Liquidierung der polnischen Elite sagt er : „Die mußten weg, da half nun nichts [...]. Ich kann Ihnen sagen, es [ die Exekutionen ] ist scheußlich und furchtbar für einen deutschen Menschen, wenn er das ansehen muß. Das ist es, und wenn es nicht scheußlich und furchtbar für uns wäre, dann wären wir ja keine deutschen Menschen mehr und wären wir ja keine Germanen. Ebenso scheußlich, wie es ist, ebenso notwendig ist es gewesen und wird es auch in vielen Fällen noch sein, daß wir es durchführen. Wenn wir nämlich jetzt nicht die Ner ven haben, dann werden diese schlechten Ner ven an unseren Kindern und an unseren Enkeln wieder ausgehen. [ Deshalb ] haben wir gütigst nicht schwach zu sein. [...] Und es muß trotzdem immer so sein, daß sie niemals weich werden, sondern daß sie das mit zusammengebissenen Lippen machen.“121 In der vor SS - Führern gehaltenen Posener Rede vom 4. Oktober 1943 nannte Himmler die Ausrottung der Juden ein „Ruhmesblatt unserer Geschichte“. „Ich will hier vor Ihnen in aller Offenheit auch ein ganz schweres Kapitel erwähnen. Unter uns soll es einmal ganz offen ausgesprochen sein, und trotzdem werden wir in der Öffentlichkeit nie darüber reden. [...] Ich meine jetzt 120z Spengler, Der Untergang des Abendlandes, S. 55. 121 Bracher, Die deutsche Diktatur, S. 458 f.
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die Judenevakuierung, die Ausrottung des jüdischen Volkes. [...] Von euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammenliegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1 000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben und dabei [...] anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte“.122 Dies ist der abscheulichste und erschreckendste Fall einer Folgerichtigkeit, die sich zur Monstrosität auswuchs.
6. „Rom und Judäa“ Vom metahistorischen Standpunkt aus übersteigt daher der Nazi - Holocaust die Dimensionen einer bloßen weiteren Welle antijüdischer Verfolgung, einer schrecklichen Mahnung, wohin Rassismus in Verbindung mit ultra - moderner Technologie führen kann, sogar einer Erscheinungsform des Genozids in all seinem Schrecken. Er nimmt den Charakter einer grandiosen Konfrontation zwischen zwei nietzscheanischen Moralvorstellungen an, derjenigen Roms und derjenigen Judäas : auf der einen Seite der Wille zum Imperium, zu Macht, Eroberung und Herrschaft, und auf der anderen Seite die Ethik der Sklaven und Priester mit ihren asketischen Werten der Menschlichkeit, Selbstbeherrschung und Gegenseitigkeit; auf der einen Seite das Ziel, durch die Feuerprobe von Rivalität, Kampf und Krieg überlegene Exemplare des Menschen her vorzubringen, und auf der anderen Seite die Idee einer Theodizee, die Auf lösung der Geschichte in Aussöhnung, ausgleichender Gerechtigkeit und Harmonie. „Die beiden entgegengesetzten Werthe [...] haben einen furchtbaren, Jahrtausende langen Kampf auf Erden gekämpft“,123 lesen wir in Nietzsches Zur Genealogie der Moral; „wo der Kampf unentschieden fortgekämpft wird [...] inzwischen immer höher hinauf getragen“124 „‚Rom gegen Judäa, Judäa gegen Rom‘ : – es gab bisher kein grösseres Ereignis als diesen Kampf, diese Fragestellung, diesen todfeindlichen Widerspruch. Rom empfand im Juden etwas wie die Widernatur selbst, gleichsam sein antipodisches Monstrum; in Rom galt der Jude ‚des Hasses gegen das ganze Menschengeschlecht überführt‘“ wegen der römischen Anknüpfung von „Heil und [...] Zukunft des Menschenge122 123
124
Ebd., S. 459. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, S. 285. A. d. Ü. : Im englischen Original gibt es in diesem Unterkapitel „Rom und Judäa“ lediglich eine Fußnote ( Nr. 123), die ganz am Ende platziert wurde. In der deutschen Übersetzung wurden alle Zitate dieses Unterkapitels einzeln belegt, wodurch die Gesamtzahl der Fußnoten in diesem Kapitel von 123 auf 132 anstieg. Ebd.
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schlechts an die unbedingte Herrschaft der aristokratischen Werthe, der römischen Werthe“.125 „Die Juden umgekehrt waren jenes priesterliche Volk des Ressentiment par excellence, dem eine volksthümlich - moralische Genialität sonder Gleichen innewohnte.“126 Die Judäer waren siegreich „nicht nur in Rom, sondern fast auf der halben Erde, überall wo nur der Mensch zahm geworden ist oder zahm werden will, – vor drei Juden, wie man weiss, und Einer Jüdin“ mit Hilfe der „ökumenischen Synagoge“, genannt „Kirche“.127 Als in der Renaissance das alte Rom begann, sich unter dem „judaisirten Rom“ zu regen, „triumphirte [ sofort ] wieder Judäa, Dank jener gründlich pöbelhaften (deutschen und englischen ) Ressentiments - Bewegung, welche man die Reformation nennt“.128 Drei Jahrhunderte später „kam Judäa noch einmal mit der französischen Revolution zum Siege über das klassische Ideal“, „in einem sogar entscheidenderen und tieferen Sinne“.129 Nietzsche schließt mit der kryptischen Frage, ob die Vernichtung Napoleons, das letzte grelle Aufflackern der „furchtbare[ n ] und entzückende[ n ] Gegenlosung vom Vorrecht der Wenigsten“,130 „des vornehmen Ideals an sich [...], diese Synthesis von Unmensch und Übermensch“131 bedeutete, dass „jener grösste aller Ideal - Gegensätze damit für alle Zeiten ad acta gelegt [ wurde ] ? [...] Sollte es nicht irgendwann einmal ein noch furchtbareres, viel länger vorbereitetes Auf lodern des alten Brandes geben müssen ? Mehr noch : wäre nicht gerade das aus allen Kräften zu wünschen ? selbst zu wollen ? selbst zu fördern ? Wer an dieser Stelle anfängt, gleich meinen Lesern, nachzudenken, weiter zu denken, der wird schwerlich bald damit zu Ende kommen.“132
125 126 127 128 129 130 131 132
Ebd., S. 286. Ebd. Ebd., S. 287. Ebd. Ebd. Ebd., S. 288. A. d. Ü. : Im englischen Original steht statt „Wenige“ ( few ) das Wort „Jude“ ( Jew ). Ebd. Ebd., S. 288.
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Schluss fol ge run gen
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Die Untersuchung, die mit Die Ursprünge der totalen Demokratie begann, in Politischer Messianismus – die romantische Phase fortgeführt wurde und nun mit der vorliegenden Arbeit zu ihrem Ende gelangt, wurde ursprünglich durch eine eher persönliche Antwort auf bestimmte erschütternde zeitgenössische Ereignisse angestoßen. Als 1937/38 die Geister so vieler und besonders junger Menschen von dem schrecklichen Rätsel der Moskauer Prozesse zutiefst aufgewühlt wurden, arbeitete ich zufällig an einer Grundstudium - Seminararbeit über die ultra - demokratische französische Verfassung von 1793 vor dem Hintergrund der jakobinisch - terroristischen Diktatur. Die Analogie zwischen dem Jahr II (1793) und dem, was 1937/38 passierte, war nicht zu übersehen. Wer hatte die russische Revolution in solch verbrecherischer Weise verraten – die Angeklagten oder die Ankläger ? Wie auch immer die Dinge lagen : Wie konnte so viel Böses, ob von der einen oder der anderen Gruppe verübt, den Machern der Oktoberrevolution und den Gründern der Sowjetunion, mit der Botschaft der universellen Erlösung, an der beide Seiten festhielten, in Einklang gebracht werden ? Aber warum die Analogie ? Es konnte doch nicht nur die gleiche ewige und unverbesserliche menschliche Boshaftigkeit oder bloß eine ähnliche Verkettung ungünstiger Umstände gewesen sein, die beide Entwicklungen bewirkte. Die Parallele schien die Existenz eines unerklärlichen und unvermeidlichen Gesetzes anzudeuten, das dazu führt, dass revolutionäre Heilspläne sich in Terrorregime ver wandeln und das Versprechen einer perfekten direkten Demokratie in der Praxis die Form einer totalitären Diktatur annimmt. Die jakobinische Phase der Französischen Revolution, in der dieses große ironische Gesetz zuerst demonstriert wurde, hinterließ ein hypnotisches Modell und einen Mythos und begründete vor allem eine andauernde Tradition. Die Erfahrung der Französischen Revolution wurde von ihren Anhängern schnell zu der Vorstellung eines vorherbestimmten revolutionären Durchbruchs zur Vollendung des historischen Prozesses in Form einer endgültigen und perfekten sozialen Ordnung verallgemeinert. Dem Mythos entsprechend wünschten sich alle guten Menschen in ihrem tiefsten Herzen diese neue Ordnung, doch unvermeidlicher weise würde es notwendig sein, sie durch eine aufgeklärte und mutige Avantgarde mit Hilfe von Zwang, einer totalen Neuorganisation der Gesellschaft und einem fortwährenden Bemühen um weitreichende und allumfassende Umerziehung zu inthronisieren. Die zahlreichen Versionen der Religion der Revolution und die verschiedenen Gruppen, die entstanden, um sie zu propagieren, einschließlich derjenigen, die sich als die wichtigste und effektivste von allen erwies – der Mar xismus in all seinen vielfältigen Formen –, sollten daher nicht als in sich geschlossene Doktrinen und Wesenheiten betrachtet werden, sondern eher als unterschiedliche Rationalisierungen eines ursprünglich semireligiösen Impulses und als fortlaufende Darstellungen und Anwendbarkeiten einer einzigen
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ununterbrochenen Bestrebung im Licht sich ändernder Umstände und neuer Lehren. Die Grundannahmen, Werte und Hoffnungen sowie die bloße Schubkraft der messianischen Erwartung waren, um das klarzustellen, Teil dieses allgemeinen emanzipatorischen Drangs – der Menschen, Klassen, Völker und Rassen – nach Freiheit, Gleichheit und Selbstdarstellung, der im Verlauf der letzten zwei Jahrhunderte zu einer so umfassenden und gewaltigen Kraft wurde, ja in den Augen vieler gar zum Beweis und Wesen des „unfehlbar vorandrängenden Marsches der Geschichte“ in der modernen Zeit. Der totalitär - demokratische Flügel der messianischen Bewegung spaltete sich jedoch ab vom Hauptstrom der Gläubigen der Religion des kontinuierlichen Fortschritts in Richtung Befreiung und wurde sogar zum Feind und Zerstörer des Haupttrends – nicht aufgrund von Zweifeln an den allgemeinen Grundsätzen, sondern als Ergebnis eines übertriebenen Glaubens an die Unvermeidlichkeit und das unmittelbare Bevorstehen der vollständigen Ver wirklichung des Credos in all seinen Teilen und Aspekten. Ihre Repräsentanten waren von einer energischen Entschlossenheit ergriffen, die Menschen hier und jetzt frei und glücklich zu machen. Und wenn die Objekte ihrer Fürsorge sich als widerspenstig und verdorben erwiesen, mussten sie neu ausgerichtet werden – dénaturer in Rousseaus Worten –, gefolgt von der Vernichtung jener – Individuen, Gruppen und Klassen –, die sich zu einer solchen Umformung als gänzlich unfähig erwiesen. Reformierte Menschen in einer völlig umgestalteten Gesellschaft würden sich ganz sicher selbst ver wirklichen – in einer Art und Weise, die gänzlich im Einklang mit perfekten sozialen Bindungen stand. Die Menschen würden die Dichotomie von Freiheit und Gleichheit auf lösen, sobald sie gelernt hätten, einhellig das Gemeinwohl – mit anderen Worten : den Allgemeinen Willen – anzustreben. Dadurch, dass sie einer Meinung waren, würden sie zugleich frei und gleich werden. So entwickelte sich das Verlangen nach einer emanzipatorischen Befreiung von Beschränkungen zu einer begeisterten Leidenschaft für die Erlösung. Es handelte sich um die fanatische Entschlossenheit eiliger Erretter, einen in ihrer Vorstellung existierenden neuen Menschen in eine künstlich geschaffene oder, wie man es auch sehen kann, sich unvermeidlich entwickelnde soziale Harmonie einzupassen, die zur Quelle und zum Motiv aller Widersprüche, Paradoxien, Zweideutigkeiten, Heucheleien, Tricks und Tyranneien wurde, die sich in der jakobinischen Diktatur und einige Generationen später im bolschewistischen Regime, in den sowjetischen Säuberungsaktionen und der stalinistischen Ära zeigten. Die Auswirkungen des Faschismus - Nazi - Phänomens erwiesen sich als noch viel traumatischer. Noch bevor seine mörderischen Intentionen sich vollstän-
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dig entfaltet hatten, erlebte man von Seiten der Führung einer großen Nation das zutiefst ver wirrende Schauspiel der trotzigen Zurückweisung der Grundsätze und Werte der liberalen Demokratie und in der Tat die Negierung der jüdisch - christlichen Tradition, die man so lange für selbstverständlich und unumkehrbar gehalten hatte. Diese Grundsätze waren bereits zuvor von der messianischen totalitären Demokratie missachtet und per vertiert worden, aber kaum jemals wurden sie explizit und prinzipiell verleugnet. Brutale Verstöße und Verbrechen erklärten die Täter zu unvermeidlichen Notwendigkeiten, die sie zur Abwehr tödlicher Gefahren und zur Erreichung hoher Ziele billigten. Die Aufhebung der verfassungsrechtlichen Garantien wurde als eine vorübergehende Notstandsmaßnahme dargestellt, die letztendlich durch die totale Aufhebung aller Beschränkungen und aller Formen der Abhängigkeit großzügig kompensiert würde. Freiheit konnte so lange nicht gewährt werden, wie Menschen unterschiedlicher Meinung waren – als ob Freiheit irgendeine Bedeutung hätte, wenn es niemanden mit abweichender Meinung gäbe. Es ist kein Wunder, dass über die Natur der Beziehung jener zwei dynamischen und teuf lischen historischen Trends, die ihren Höhepunkt in totalitären Diktaturen hatten, so viel Unsicherheit bestand. Wenn sie Zweige vom selben Stamm waren, was war es dann, das sie unterschiedliche Wege nehmen ließ ? Wenn ihre Ursprünge und ihre Entwicklung gänzlich ungleich waren, woher dann die auffallenden Gemeinsamkeiten der Denkmuster und Vorgehensweisen als militante und schließlich triumphierende Kirchen ? Waren jene Ähnlichkeiten nur der Natur der Instrumente und Techniken geschuldet, die die Zeit bereithielt, und den Herausforderungen, die die derzeitige Phase der historischen Entwicklung mit sich brachte ? Wenn die Ideologie der extremen Linken letzten Endes als eine Häresie betrachtet wurde, die aus dem gemeinsamen westlichen Erbe erwuchs, wo sollten wir nach den Wurzeln und den Vorgängern der extremen Rechten suchen ? Wenn die Ideologie der Erstgenannten in der Aufklärung entwickelt und in der Französischen Revolution geboren wurde, wo sollten wir die Anfänge der Letztgenannten finden ? Bei genauerer Prüfung wurde die extreme Rechte dann als eine Ideologie gesehen, die ursprünglich als Reaktion auf den Sieg der Religion des Fortschritts im Verlauf der Französischen Revolution entstand. Diese Reaktion wurde in diesem Jahrhundert vollständig bestätigt durch Hitlers Darstellung seiner politischen Entwicklung als der allmählichen Entdeckung einer Antwort auf den mar xistischen Sozialismus, die er in Mein Kampf gibt, sowie durch das, was wir über Mussolinis vom Konflikt mit seiner ehemaligen Sozialistischen Partei ausgehenden Weg zum Faschismus wissen. Warum sollten wir das konterrevolutionäre Denken an der Wende des 18. und 19. Jahrhunderts nicht als eine einfache Fortführung der Ideologie des Ancien Régime betrachten ? Wenn Ideologie, wie wir es bevorzugen, nicht als
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Schlussfolgerungen
Rationalisierung und Rechtfertigung bestehender Interessen, sondern als ein Programm zur Veränderung oder wenigstens bewussten Gestaltung der Wirklichkeit gemäß erklärter Prinzipien behandelt werden soll, dann kommen wir zwangsläufig zu dem Schluss, dass das Ancien Régime keine Ideologie hatte und es in der vorrevolutionären Gesellschaft keine Ideologien im Sinne bewusst formulierter umfassender Alternativen zur traditionellen sozial - politischen Ordnung gab. Solch eine Alternative wurde zum ersten Mal am Vorabend der Französischen Revolution auf die Tagesordnung gesetzt. Gegründet auf den Appell an die Zustimmung Gottes, gestützt auf Tradition und Präzedenz, aufrechterhalten von der allgemeinen Akzeptanz der Unantastbarkeit der Hierarchie und der Natürlichkeit einer auf Status basierenden Gesellschaft, hätte das Ancien Régime die theoretischen Überlegungen von Filmer und Bossuet willkommen heißen und von ihnen in gleicher Weise profitieren können, wie ihm die Flugblattschreiber, die die aktuellen Angelegenheiten kommentierten, und selbstverständlich auch der Mythos, die Ehrfurcht und Glanz und Gloria des Königtums eine Hilfe waren. Aber es bestand keinerlei Notwendigkeit, seinen schieren Rechtsanspruch zu verteidigen oder zu rechtfertigen, der, wenn man von chiliastischen Randgruppen absieht, kaum angezweifelt wurde, obwohl dieser oder jener Missbrauch, die eine oder andere Handlung, ein bestimmtes Versagen oder ein Fehler kritisiert oder gar abgelehnt werden mochten. Auch führten die politisch - philosophischen Versuche von Denkern, die man als eine theoretische Opposition bezeichnen könnte, und ihre Suche nach grundlegenden Prinzipien nicht zu einer Ideologie oder einer praktischen Alternative zur bestehenden Ordnung. Opposition, Rebellion und Revolution waren in der Frühen Neuzeit samt und sonders Aufstände gegen Missbrauch, Usurpationen, Beugungen und Verletzungen der guten alten Rechte und gingen von Bewegungen aus, die die Wiederherstellung eines früheren und vermeintlich gerechteren Zustands forderten, auch wenn der Schwung dieser Bewegungen die Menschen über ihre anfänglichen Intentionen hinausführte. Die Extreme dieser Protestbewegungen bestanden auf der einen Seite aus Ausbrüchen elementarer Wut in den bäuerlichen Jacquerien und auf der anderen aus den Träumen von einer Wiederkunft Christi und der Wiederherstellung eines Naturzustands und apostolischer Reinheit durch die Anhänger des Millenarismus. Es ist ungewiss, ob die utopischen Schriften jener Zeit mehr als etwas Kritik an und Satire auf die bestehende Gesellschaft darstellen sollten und ob sie jemals darauf hinauswollten, ein alternatives Programm zu entwerfen. Vorahnungen und Hinweise auf eine echte Konfrontation zwischen traditionellen und ideologischen Haltungen schimmern in der puritanischen Revolution auf. Als Karl I. vor seinen Richtern stand und ihr Recht, über ihn zu urteilen, in Frage stellte, argumentierte er, dass ohne einen König niemand
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das Recht haben würde, irgendetwas sein Eigen zu nennen. Dies schreckte Cromwell nicht von der Drohung ab, den König zu köpfen, während er noch seine Krone trüge. In den Putney - Debatten provozierten jedoch die radikalen Levellers Cromwell und seinen Schwiegersohn Ireton zu einem erstaunten, ja auf völligem Unverständnis beruhenden Protest gegen Ansichten, die man, wie sie es formulierten, niemals gehört hatte, seit England England war. Menschen ohne Rang in der Gesellschaft maßten sich das Recht und die Macht an, selbst zu entscheiden, wie England zu erneuern sei, indem sie einfach die abstrakte Vernunft und ein vermeintliches Naturgesetz anführten, das letztlich von jeder zufällig zusammengekommenen Gruppe von Menschen auf ihre eigene, willkürliche Art und Weise interpretiert werden könnte. Außerdem wollten sie alle alten Gesetze und Traditionen, die England ausmachten, ignorieren, und verachteten sogar die Magna Charta als „das erbärmliche Ding“. Egal jedoch, welche Spuren der puritanische Radikalismus an den Rändern oder in den Unterströmungen des englischen Lebens zurückgelassen haben mochte, er führte nicht zu einer fortlaufenden und erst recht nicht allgemeinen europäischen Tradition – trotz der Versuche international gesinnter puritanischer Republikaner, Kontakte zu den gleichgesinnten protestantischen Gruppen auf dem Kontinent zu knüpfen und aufrechtzuerhalten. Die erste wirkliche Alternative wurde in der Französischen Revolution formuliert und erprobt, und somit begann eine neue Ära der Weltgeschichte. Das Wort idéologie wurde das erste Mal in gedruckter Form 1796 von Destutt de Tracy ver wendet, und kurze Zeit später wurde der Begriff idéologue ein Ausdruck spöttischer Schmähung im Munde Napoleon Bonapartes. Diese Ausdrücke sollten nie wieder aus dem menschlichen Diskurs verschwinden. Der grundsätzliche Streitpunkt zwischen dem Ancien Régime und der Ideologie der Französischen Revolution – man könnte tout court von moderner Ideologie sprechen – war die Frage des erblichen Status, der ererbten Privilegien. Monarchie nach göttlichem Recht, patrimonialer Feudalismus, Ständegesellschaft – all dies beruhte auf dem Prinzip der Erbfolge, ebenso wie die partikularistischen Merkmale des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Staates mit seinem Gewirr von provinziellen Freiheiten, städtischen Sicherheiten, speziellen lokalen Vorrechten und Privilegien für soziale Gruppen oder Berufsgruppen, oft sogar für Familien. Einmal gewährt oder anerkannt und bestätigt, wurden sie von Generation zu Generation weitergegeben, als eine Art Besitz, als ein fester Bestandteil des Patrimoniums. Das Burke’sche Rezept besagt nicht nur Respekt für die alten Traditionen, die ihren Wert bewiesen hatten und durch die Zeit geheiligt wurden, es bedeutete die Heiligung des Erbes der eigenen Vorfahren, vorrangig ihres Besitzes. Die alte Ordnung sah den individuellen Menschen nicht als die erste und grundlegende Komponente der Gesellschaft. Es gab keinen abstrakten Men-
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schen als einen Gesetzgeber für sich selbst oder die Gesellschaft, keine individuelle Person mit einem Recht auf abstrakte Freiheit. Aus religiösen, kulturellen und sozialen Gründen wurde der Einzelne nicht als zur Selbstbestimmung geeignet gesehen. Er brauchte die Hilfe und den Schutz von Autorität, Kirche, Tradition und Vergangenheit, seiner Vorgesetzten, der Klasse und der Gruppe, zu der er gehörte. Auch durfte keine Generation alles über Bord werfen, was früher eingetreten war und, wie auf einer tabula rasa, gemäß ihren eigenen Ideen und Wünschen von Neuem beginnen. In diesem Sinn kann man sagen, dass der aufgeklärte Despotismus, mit seinem Vertrauen eher auf die Geometrie als auf die Mythologie und mit seiner Leidenschaft für Rationalisierung und Modernisierung, den Ast absägte, auf dem er saß, und tatsächlich das Schleusentor zur Revolution öffnete. Gegenrevolutionäre Sprecher sahen sich durch die Revolution dazu herausgefordert, die traditionelle Ordnung zu erklären, der es gerade an rationalen Kriterien bezüglich ihres Ursprungs fehlte, und gleichzeitig die revolutionäre Ideologie mit Argumenten innerhalb des Bezugsrahmens der revolutionären Philosophie zu konfrontieren. Dem rationalistisch - abstrakten Universalismus, der auf der Idee des Menschen per se und auf dessen Güte und Vollkommenheit innerhalb einer rational konstruierten Gesellschaft gründete, setzte Joseph de Maistre sein düsteres Konzept der äußerst verkommenen, schwachen und widernatürlichen menschlichen Natur entgegen, hoffnungslos in einem Universum gefangen, das im Kern irrational war und sich im Blut der Kriminalität und Buße suhlte. Der Henker sei die Stütze der menschlichen Gesellschaften, der Papst ihr Anker und endgültiger Schiedsrichter. Wenn es ihn nicht gäbe, müsste er geschaffen werden. Dem emanzipatorischen Drang begegneten Haller und Bonald mit einer ebenso universalistischen Theorie von der ererbten Autorität als dem natürlichen Prinzip aller Gesellschaften und dem Wesen aller sozialen Bindungen. Novalis’ und Chateaubriands Visionen einer wiederbelebten und poetisierten Christenheit und einer wiederhergestellten Einheit der europäischen Christen könnte die Monarchen der Heiligen Allianz dazu angeregt haben, sich gegenseitig zu versichern, von den Lehren des Evangeliums geleitet zu werden und diese auf ihre Handlungen untereinander und gegenüber ihren Untertanen anzuwenden : eine Antwort auf den revolutionären Appell an die objektive Vernunft als einziges Kriterium und auf die Vorstellung, dass die Brüderlichkeit freier und gleicher Menschen eine Garantie für den internationalen Frieden darstellte. Edmund Burkes große Verteidigung des Konser vatismus, die Gentz, Adam Müller, Bonald und die frühen deutschen Romantiker beeinflusste, war ein flammender Protest gegen das doktrinäre Ziel der revolutionären Ideologie, alle
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historischen und besonderen Traditionen und Institutionen zu zerstören, um allgemeine und egalisierende Muster an ihre Stelle zu setzen. Die Revolution drohte implizit, Wesen aus Fleisch und Blut ihrer Instinkte, Reflexe, Gewohnheiten und Neigungen, ihrer Authentizität und Spontaneität zu berauben, und historisch gewachsenen Gesellschaften ihre klar differenzierten und integrierten Persönlichkeiten zu nehmen. Deutsche romantische Populisten boten eine radikale Version dieser Philosophie in Form der Verherrlichung des Deutschen oder gar der deutschen Einzigartigkeit und indem sie die Existenz eines objektiven und allgemeinen Naturgesetzes leugneten und einen Kult archaischer Selbstvergewisserung her vorbrachten. Im Gegensatz zu den Ultramontanen und zum Universalismus der Heiligen Allianz enthielten die beiden letzteren Strömungen reaktionären Denkens nationalistische Bestandteile. In seiner umfassenden Verdammung jeglicher Formen der Opposition gegen das erbliche Prinzip machte der Legitimismus jedoch keinen Unterschied zwischen Rechtfertigung der Verfassungsrechte, sozialem Protest und Bewegungen der nationalen Befreiung und Einigung. Jegliches Zugeständnis an die Forderungen nach freier Selbstentfaltung oder Begrenzung der Macht der bestehenden Autorität oder nach einer Volksbeteiligung an der Regierung in Abkehr von althergebrachten und historischen Institutionen, die die vermeintliche natürliche Ordnung der Gesellschaft verkörperten, war in den Augen der Legitimisten ein Abstieg in Richtung Anarchie und Krieg aller gegen alle. Das Endergebnis wären die bonapartistische Usurpation der unbegrenzten Macht und die Schaffung eines zentralisierten, einheitlichen Staates und einer einzigen unteilbaren Nation, ungeschützt vor den Beschränkungen des Despotismus, die von den ererbten Rechten und Privilegien der Provinzen, Stände, Gemeinden und Zünfte in einer organischen, historisch gewachsenen Gesellschaft herrührten. Rigide Legitimisten betrachteten den Liberalismus nicht nur als Weg in die Anarchie, sondern auch zum Kommunismus. Zusammen führten sie zur Tyrannei. Der massive Angriff auf das erbliche Prinzip – auf der Grundlage der Annahme, der Mensch habe das Recht, gänzlich von den ererbten Benachteiligungen befreit zu sein, oder umgekehrt, ihm sei keine Hilfe durch irgendein ererbtes Prinzip bei seinem Streben nach der jedem in gleicher Weise zustehenden Glückseligkeit erlaubt – lief auf die Verneinung des Rechts auf ererbten Besitz hinaus. Angesichts der praktischen Unmöglichkeit, eine Gesellschaft von absoluter Gleichheit zu schaffen, würde die Forderung nach totaler sozialökonomischer Gleichheit früher oder später in den Ruf nach Gütergemeinschaft münden, während das Schlagwort des Rechts auf Arbeit zur Einsetzung eines Diktators führen musste, der die nationale Wirtschaft übernähme, was der einzige Weg zur Realisierung dieses Prinzips sei.
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Der Liberalismus sah sich nicht nur von den Legitimisten, sondern auch von den Sozialisten angegriffen. Die Erstgenannten warfen den Liberalen vor, die Dämme zu lockern, welche die Wasser der Anarchie zurückhielten, die Letztgenannten, sie verneinten die Idee der Menschenrechte und Gleichheit – die sie selbst gewährt hatten –, indem sie den Besitz für heilig erklärten. Der Schutz des ererbten Besitzes bedeutete nicht nur die Aufrechterhaltung der Ungleichheit, sondern führte zur Wiederherstellung einer Art Feudalismus. Sowohl Liberale als auch Sozialisten stimmten darin überein, das Recht auf Besitz sei grundlegend für die Sicherung aller anderen Bürgerrechte. Daher, erklärten die Liberalen, dürfe es nicht angetastet werden. Des Besitzes beraubt zu sein, beteuerten auch die Sozialisten, bedeute, praktisch überhaupt kein Recht zu besitzen. Die bürgerlichen Liberalen argumentierten, der Wunsch nach Besitz sei der einzige effektive Anreiz für Leistung und daher eine Bedingung für den allgemeinen Wohlstand. Die Sozialisten verdammten eine derartige Sichtweise als einen Rückschritt zu den schädlichen Verleumdungen der menschlichen Natur, die seit Jahrhunderten von geistlichen Dunkelmännern und feudalen Ausbeutern verbreitet worden waren. Diese pessimistischen Sichtweisen der menschlichen Natur wurden jetzt zum Vor wand für ein eingeschränktes Wahlrecht, um so die angeblich Unwissenden und Ungehobelten vom Missbrauch oder gar Verkauf ihrer Stimmen abzuhalten. Das wirkliche Motiv war jedoch der Wunsch, die Armen jeglicher Möglichkeit der Einflussnahme auf die Regierung in Richtung einer sozialen Veränderung und eines Aufbrechens des politischen Monopols der Besitzenden zu berauben. Die Überzeugung, von einer Allianz der Konser vativen und Liberalen, von Aristokratie und Bourgeoisie – mit anderen Worten : einer nicht - proletarischen Gesellschaft – unterdrückt zu werden, festigte den Glauben, dass die grundsätzliche Teilung der Menschheit nicht in der Trennung in Nationen oder Völker bestand, sondern in der Spaltung in Besitzende und Besitzlose, Privilegierte und sozial Benachteiligte, Unterdrücker und Unterdrückte, Ausbeuter und Ausgebeutete. Das Proletariat hatte kein Vaterland. Arbeiter aller Nationen wurden aufgerufen, sich zu vereinigen. Ein Testjahr für diese Dichotomie, wie auch für das Erbprinzip im Allgemeinen, stellte 1848 dar, und es brachte auch jene Vielzahl messianischer und alle Widersprüche aufhebenden Geschichtsmodelle auf den Prüfstand, die in der Zeit der revolutionären Veränderungen und romantischen Träumereien so hoch geschätzt worden waren und von denen man geglaubt hatte, sie stünden nun kurz vor ihrer praktischen Ver wirklichung. Was solche heilspredigenden Hoffnungen nicht alles versprachen : das Kommen des ewigen Friedens, die totale Entfaltung eines um seiner Selbst wissenden und mit eigenem Willen ausgestatteten Geistes ( oder Vernunft ), schließlich den Sieg eines wahren spirituellen und authentischen, sozialen Neuen Christentums, die Emanzipation
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der größten und ärmsten Klasse in einer klassenlosen Gesellschaft und, was uns hier am meisten beschäftigt, die Befreiung aller Völker und die Entstehung einer Bruderschaft erneuerter Nationen. Letztendlich wurden alle diese Erwartungen durch den Fehlschlag der zuletzt Genannten in den Hintergrund gedrängt. Nicht unähnlich dem Riss, der 1789 die nahtlose Robe des dritten Standes bei der Abspaltung des vierten Standes teilte, wurde die revolutionäre Bruderschaft von 1848 mit Gewalt von den separatistischen Bestrebungen der „unhistorischen“ Nationen getrennt, die so lange neben oder inmitten, stets aber unter dem Schutz der „historischen“ Nationen gelebt, deren Kultur aufgenommen und in deren Herrschaft eingewilligt hatten. Es war für die Deutschen, Ungarn und Polen radikal - demokratischer Überzeugung eine außerordentlich verblüffende und erschütternde Erfahrung, beim Kampf gegen die despotischfeudalen Systeme einen Dolchstoß von einer Vendée versetzt zu bekommen, die sich auf das Recht zur freien Selbstbestimmung berief und dennoch die Regierungen der Heiligen Allianz unterstützte. Im Namen der höchsten Form der Demokratie wurden demokratische Prinzipien verletzt. Die „historische“ Nation fühlte sich im Moment ihrer Wiedergeburt sowohl durch die Gebote der Freiheit als auch durch die Traditionen ihres Volkes verpflichtet, all die zerstreuten Glieder um sich zu sammeln – auch all jene, die an der Kultur und Sprache der Nation teilhatten, die Jahrhunderte zuvor durch dynastische Zufälligkeiten, überlegene Macht oder feudalen Partikularismus vom Körper der Nation abgetrennt worden waren; jene Gebiete wieder in das Vaterland einzugliedern, dem der Genius der Nation eine Zeit lang sein unauslöschliches Zeichen aufgedrückt hatte; und den zukünftigen Generationen zu verteidigende Grenzen und den unverzichtbaren Besitz zu sichern, den vergangene Generationen der Nation an den weiten, offenen Grenzen geschaffen hatten. Ihrerseits war den „unhistorischen Nationen“ deutlich bewusst, dass ihre unterlegene sozialökonomische Situation und ihre Rückständigkeit das Ergebnis jahrhundertealter nationaler und politischer Unter werfung waren. Enttäuscht in ihrem Glauben an die natürliche Allianz aller freiheitsliebenden Nationen gegen die vereinten Kräfte der konterrevolutionären Reaktion, entschieden sie, dass soziale Emanzipation von nationaler Befreiung abhänge. Die nationale Befreiung nahm den Charakter eines Aufstands gegen Unterdrückung und Erniedrigung an, und, wie der alternde Marx wahrzunehmen begann, sie wurde zu einer Herausforderung für die Ehre und den Idealismus der besten Elemente einer unter worfenen Nationalität, fähig, sie davon abzuhalten, sich vorbehaltlos der internationalen sozialistischen Revolution zu verschreiben. Die Demütigungen und Verletzungen einer verfolgten Nation waren direkter und von größerer Dringlichkeit als die abstraktere Sache des inter-
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nationalen Proletariats, die sich von den konkreten Problemen der Arbeiter unterschied, besonders wenn man sie mit der relativ privilegierten Position der Arbeiterklasse der dominanten Nationalität verglich. Der Weg aus dieser Dichotomie lag für die sozialistischen Parteien der unterdrückten Völker in der Rolle der Speerspitze im Kampf für die Befreiung, d. h. darin, das zu werden, was Marx die nationale Partei der unterprivilegierten Nationalität genannt hatte. Sie würden daher als Rächer aller Unzufriedenen auftreten, sich politische Unabhängigkeit als ihr erstes Ziel setzen, während sie entschlossen waren, bei der Erlangung der nationalen Befreiung die versprochene emanzipatorische sozialökonomische Transformation weiter vor wärts zu treiben. Und so wurde die Doktrin der nationalen Befreiungsbewegung als Form des revolutionären Kreuzzugs geboren, dessen Inhalt das sozialistische Programm war. Jedoch sollte die Erfahrung zeigen, dass sich sozial - revolutionäre Führer im Kampf für die nationale Befreiung, wie das Sprichwort in Mitteleuropa lautet, in der Mehrzahl der Fälle beeilten, die Bahn der Geschichte beim Erreichen der Station „Unabhängigkeit“ zu verlassen, wobei sie es manchmal tolerierten, dass andere die Fahrt in Richtung der sozialistischen Endstation fortsetzten, sie aber meist davon abhielten. Die Unabhängigkeit erschien wieder einmal als so viel dringender und fesselnder. Zu gegebener Zeit wurde auch die internationale Rivalität zwischen den fest etablierten und erfolgreichen Mächten und den neuen, armen, aber aufstrebenden Nationen mit sozialem Sprengstoff aufgeladen. Die unzufriedenen, aufsteigenden Völker erkannten allmählich die übersättigten, alten Staaten für schuldig, den Wohlstand der Welt durch Gewalt erlangt zu haben, indem die schwächeren Anwärter aus dem Rennen gehalten und ihre Unreife und ihre inneren Probleme ausgenutzt wurden. Für die besitzenden Nationen klangen diese Darstellungen von Nachzüglern wie die Drohungen von Emporkömmlingen und Usurpatoren, die sich der Missachtung der internationalen Ordnung und der Gefährdung des Friedens schuldig machten. Dies war der Hintergrund für die zukünftige Definition des Nationalismus als eines Sozialismus, der auf ein Land begrenzt war, und für die Teilung Europas, und letztlich der Welt, in plutokratische Mächte und proletarische Nationen. Die Wortführer der bessergestellten Arbeiter in den wohlhabenden Imperien argumentierten, die Verringerung des Lebensstandards, der von einem nationalen Proletariat auf die harte Tour errungen worden war, sei unzulässig. Ungleichheiten und Rivalitäten zwischen Nationen wurden daher als eine Sublimierung des Klassenkampfes innerhalb eines einzigen Nationalstaates dargestellt. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts erlebte eine Beschleunigung des Fortgangs der Nationalisierung der Massen, als der Nationalstaat erfolgreicher, zentralisierter, in jeder Hinsicht aktiver und mächtiger wurde. Die steigende
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Geburtenrate, die schnelle Industrialisierung und Urbanisierung, die Massenproduktion, das phänomenale Wachstum des internationalen Handels und die Entwicklung des internationalen Finanzwesens – all dies fesselte das Individuum, unabhängig von seiner Klasse, an den Staat, mit Bindungen, die stärker waren als die entzweienden Interessen, Spannungen und Konflikte, die sich aus den Gruppen - und Klassenantagonismen ergaben. In der Ära des allgemeinen Wahlrechts, der parlamentarischen Regierung, kommunaler Aktivität und demokratischer Vorgehensweisen hörte die Politik auf, die Domäne der Könige, herrschenden Kasten und sogar der besitzenden Klassen zu sein. Die zunehmende Alphabetisierung und die Massenauf lagen der Presse bewirkten, dass die breite Masse die gleichen Belange, Sorgen, oft Demütigungen und Katastrophen teilte, von gemeinschaftlichen Ängsten, Stolz, Arroganz mitgerissen wurde, der Ansteckung mit aggressiven Leidenschaften und irrationaler Panik erlag, unter allgemeinen Missständen und Zwangsvorstellungen arbeitete. Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass im immer wohlhabenderen und stabileren Westen das Gespenst der Revolution dem Alptraum des internationalen Krieges wich; des totalen Krieges angesichts der neuen Technologie und der tatsächlichen Gegebenheiten der Massengesellschaft, ohne Unterschied zwischen Front und Hinterland, Soldaten und Zivilisten, Arbeitern und Bürgerlichen. Wie wir sahen, äußerte Marx kurz vor seinem Tode die tiefe Sorge – in Bezug auf die Situation des ruhelosen, aufstrebenden, dennoch tief verängstigten Deutschland, eingekeilt zwischen einem unerbittlich revanchistischen Frankreich und einem scheinbar unverbesserlich barbarischen Russland –, dass in jedem zukünftigen Krieg jede Nation um ihre bloße Existenz kämpfen würde und die Sozialisten mit dem furchtbaren Dilemma konfrontiert wären, sich zwischen der internationalen proletarischen Solidarität und ihrem Land – sei es im Recht oder im Unrecht – zu entscheiden. Die allgemeine und zunehmende Beschäftigung mit den Rechten der Nation, ihren Bedürfnissen und Missständen, das Nachdenken über ihre Identität und ihre Vergangenheit, ihr Los und ihr augenscheinliches Schicksal, die Reflexion über ihre Momente des Ruhmes und ihre Fehlschläge und Niederlagen waren in jedem Fall eine Reise in vergangene Zeiten, eine Abrechnung mit den Vorfahren, ein Kommunizieren mit dem Mythos der Nation. Kein Wunder, dass das Jahrhundert eine solche Blüte der Geschichtswissenschaft sowie der Literatur und Kunst her vorbrachte, die begannen, als Spiegel der Seele der Nation und als Portrait ihrer Existenzweisen zu fungieren. Nationale Kulte wuchsen und verbreiteten sich, voller Mythen, Symbole, Riten, Liturgie, Erinnerung, Festtage der Helden und Heiligen, Paraden und Ausstellungen, künstlerischer Effekte und hypnotischer Suggestivität. All diese Richtungen lebten von und unterstützten die weitreichenden Veränderungen des Menschenbildes, das von der Aufklärung überliefert worden
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war. Der Mensch war weit davon entfernt, Grundelement und Ziel der Gesellschaft zu sein, sein eigener autonomer Gesetzgeber und ein freier und gleichberechtigter Partner im Gesellschaftsvertrag, wie dies im 18. Jahrhundert gesehen worden war; er erschien immer mehr als eine Funktion kollektiver Zwänge, vergangener Traditionen, des sozialen Umfelds, des organisatorischen Rahmens, des Geistes der Nation, des „Zeitgeistes“, des Milieus, der Gruppenmentalität, schließlich der Rasse. Das Individuum war seiner Wahlfreiheit beraubt und befand sich im Griff zwanghafter Antriebe und Abneigungen, die tief ver wurzelte Verhaltensweisen und Reflexe automatisch wiederholten. Kurz, das Individuum wurde als das Spielzeug des Unbewussten und Erblichen, als eine bloße Abstraktion dargestellt, soweit es den kollektiven Zwängen gegenüberstand, die in dem Ganzen, dem es angehörte, vor allem der Nation, angelegt waren. Folglich war nicht der Mensch, sondern die Nation das Maß aller Dinge, und die Herrschaft der Toten wurde als unendlich mächtiger dargestellt als die bewusste Entscheidung der Lebenden. Diese Lage der Dinge wurde in der Tat zur Bedingung für sozialen Zusammenhalt, politische Stabilität und das Wohl der Nation gemacht. War das Individuum eine Fiktion, war die Idee der Einheit der Menschheit eine Illusion. Vom biologischen, historischen, kulturellen und sozialen Standpunkt aus erschien der Einfluss der Nation unendlich wirkungsvoller als der des Individuums oder des Ideals einer vereinten Menschheit. Daher war es sinnlos, an die konkrete und pulsierende Wirklichkeit der Nation abstrakte, objektive und universelle Kriterien anzulegen, die von atomistischen und mechanischen Denkmustern abgeleitet waren. Jede Nation war eine Welt für sich, eine einmalige Mischung. Da sie unzählige Menschen formte und ihr Schicksal und Wohl bestimmte, beinhalteten die Interessen der Nation, die Gebote ihrer besonderen Situation, die Bedingungen, die ihr Überleben, ihren Zusammenhalt, ihre Stärke und ihren Einfluss begünstigten, letztendlich ihre Wahrheit, Moral und Gerechtigkeit. Letztere waren Zukunftsperspektiven, keine objektiven Daten. Es war nur ein kleiner Schritt von dieser Art eines integralen, dar winistisch eingefärbten Nationalismus zur Rassentheorie. Die schwer fassbaren, nicht formulierbaren und vagen Konzepte von „Volksgeist“ und „Volkstum“ überzeugten die Suchenden nach wissenschaftlicher Genauigkeit und metaphysischer Sicherheit nicht mehr. Deutsche Systembildungssüchtige und andere Fundamentalisten des rechten Spektrums, die wie die eiligen Erretter des linken Spektrums nach absoluter Beständigkeit dürsteten, nahmen das Konzept der Rasse begierig auf. Es beanspruchte narrensichere wissenschaftliche Gültigkeit und ließ dennoch mystische Untertöne erklingen. Es war ein höchst greifbarer und unumgänglicher Messwert der Natur und gleichzeitig in der Lage, die anspruchsvollsten und verfeinertsten Ausdrücke des Geistes und
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künstlerischen Genies zu bestimmen. Es befriedigte sämtliche Gebote und Erwartungen des integralen Nationalismus und brachte sie in einen Zusammenhang, während es sich als eine Wissenschaft präsentierte. Vor allem zeigte die neue Wissenschaft den Deutschen, dass sie das überlegene Beispiel einer höheren Art des Menschen in einem Universum von unveränderlich ungleichen Völkern seien. Mit Hilfe des Dar winismus besiegelte der Rassismus die doktrinäre Verneinung der Wirklichkeit sowohl des Individuums als auch der Menschheit. Der Kampf ums Überleben und die Beteiligung an der kosmischen Macht wurden von Arten und Völkern geführt. Sie alle hatten ihre eigene Wahrheit, Moral und Kultur sowie ihre eigenen politischen Traditionen, die jeweils von den Anforderungen und Umständen des Kampfes als einer Funktion der Selbstanpassung bestimmt und ausgeformt wurden; sie konnten daher als Kriegswaffen oder Werkzeuge der Macht beschrieben werden. Kein Mensch wurde geboren und keine Nation entstand mit irgendwelchen Naturrechten oder einem unveräußerlichen Anspruch auf objektive Gerechtigkeit. Der Anspruch auf Rechte kam jener Macht zu, die stark genug geworden war, sie zu erkämpfen, und er lag in der Stärke, die über Generationen angesammelt worden war, um sie der neidischen Raubgier der rivalisierenden Völker entgegenzusetzen. Wie Tocqueville unermüdlich wiederholte, hatte im nachrevolutionären Europa keine Partei eine Chance auf Erfolg, die institutionalisierte, erbliche Ungleichheit und ererbte Privilegien verteidigte. Es war jedoch etwas völlig anderes, wenn das Prinzip der Erblichkeit auf die Ebene der Beziehungen zwischen Nationen und Völkern gehoben und in kollektiven Besitz und gemeinsame Erfahrungen sublimiert wurde. In dieser Form erwies sich das konser vative Prinzip als stark genug, die meisten der anderen Werte der extremen Rechten, wie organische Gesellschaft, hierarchische Beziehungen, Tradition und Loyalität, Disziplin und Gehorsam, mitzutragen. Er war außerdem fähig, diejenigen ritterlichen Ideale mit einzuspannen, die von zeitgenössischen intellektuellen und künstlerischen Trends verherrlicht wurden, wie ausufernde Vitalität, aristokratische Lässigkeit, Spontaneität, heldenhafte Tugenden, gefährliches Leben, Abenteuerlust und den Willen zu Macht, Intuition und Vorstellungskraft, und diese auf die pflichtbewusste, demütig harte Arbeit der niederen Stände zu stützen. Diese trotzige Wiedergeltendmachung der aristokratischen Prinzipien der Erblichkeit und Hierarchie kombinierte extremes Elitedenken mit einem volksnahen Auftreten, autoritäre Stimmung mit revolutionärem Elan. Die nationalistisch - rassistische Selbstvergötterung hatte einen berauschenden Effekt auf die Massen, die in anonymer, unpersönlicher Wirkungslosigkeit versunken waren. Für die breite, als formloser und irrationaler Pöbel behandelte
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Masse stellte es einen beachtlichen Ausgleich dar, als Ton und Werkzeug in den Händen der angeblich kompakten, wohlgeformten, meisterhaften Exemplare des Volkes zu dienen, die darauf ausgingen, große Taten zu vollbringen. Die Elitedenker der extremen Rechten predigten eine nationale Revolution. Sie machten sich daran, die Ideen und Kräfte zurückzudrängen, die Aufklärung und Französische Revolution auf die Welt losgelassen hatten und die unter Begriffen wie Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Volks- und Parlamentssouveränität, Individualismus und Liberalismus, soziale Mobilität und Laissez - faire alle moralischen und sozialen Bindungen gelöst, Gier und Korruption auf den Thron erhoben, die Nation geschwächt und zur Beute fremder jüdischer Exploiteure und auswärtiger Mächte gemacht hatten. Die nationale Revolution sollte die Nation zu jenem Zustand ursprünglicher Authentizität, Einfachheit, Ganzheit und Integrität zurückführen, der von der neuzeitlichen Zersetzung zerstört worden war. Sie stellte im Gegensatz zur Gerissenheit und Heuchelei der Bourgeoisie und der Zögerlichkeit der Intellektuellen die Verherrlichung der instinktiven Spontaneität und Unmittelbarkeit dar und bestand in aggressiver Geringschätzung liberal - demokratischer Vorgehensweisen, die eine Rechtfertigung für Gewalttätigkeit boten. Mehr noch, die Elitedenker der neuen extremen Rechten waren nicht in der Lage, die Legitimität eines ererbten Status zu beschwören. Weder besaßen sie sie, noch wäre sie akzeptiert worden, hätten sie sie beansprucht. Ihre einzige Berechtigung gründete sich auf den Anspruch, zur Führung geboren zu sein, was sich nur durch völlig ungenierte Frechheit und Skrupellosigkeit demonstrieren ließ. Die rauf lustigen Banden der neuen extremen Rechten vor 1914 in Frankreich, Österreich und anderswo wurden die Vorläufer der Sturmtruppen der Zeit zwischen den beiden Kriegen. Die Nachkommen des integralen Nationalismus, der Imperialismus und sein Gefährte, der Rassismus, regten die Anhänger der totalen Weltrevolution, die dabei waren, ihren Kampf gegen die nationalistische Häresie und die damit einhergehende reformistische Abweichung in den Reihen der Sozialdemokratie zu verlieren, dazu an, ihre extreme Version des internationalen Mar xismus zu überarbeiten und ihre Vision der Weltrevolution mit neuem Leben zu erfüllen. „Imperialismus“ wurde zu ihrer Pauschalbezeichnung für alle Übel, die sie in ihren abstrakten manichäischen Gegenspieler hineinprojizierten. Der rassistische Imperialismus versuchte gar nicht erst, seinen Willen zur Macht, Herrschaft, Eroberung und Beute zu verbergen, zu vertuschen, zu rechtfertigen, zu beschönigen oder verlogene Entschuldigungen dafür anzubieten. Die Theorie einer Menschheit, unterteilt in geborene Herren und Völker, die von Höheren beherrscht zu werden bestimmt waren, bildete den Eckpfeiler der Überzeugung der rassistischen Imperialisten.
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Für die extreme Linke war das wichtigste Merkmal des rassistischen Imperialismus jedoch weder die Theorie der rassischen Verschiedenheit noch jene der Ungleichheit der Völker, sondern der universelle Charakter des Phänomens des Imperialismus, wie er sich als Folge der Vereinigung der Welt zu einer einzigen wirtschaftlichen Einheit ausgebreitet hatte. Das Ergebnis war die Verpflanzung des Klassenkampfes vom Nationalstaat auf die globale Ebene, die direkte Konfrontation zwischen einem weltweiten kapitalistischen Lager und einem globalen Proletariat. Der Imperialismus schien auch die frühe Grundlehre des Mar xismus, wonach Unterdrückung unteilbar war, nochmals bestätigt zu haben. Die politische Unter werfung der kolonialen Völker war Ausdruck und Erweiterung der wirtschaftlichen Ausbeutung. Die etwas ramponierte Theorie der wachsenden monopolistischen Konzentration des Besitzes der Produktionsmittel in den Händen der höheren Bourgeoisie und der dazugehörigen Verarmung der Massen konnte jetzt in Form einer mar xistischen Theorie des Imperialismus neu aufgelegt werden. Die Konzentration allen Reichtums und aller Macht der Welt in den Händen der herrschenden Kasten der wenigen Großmächte ver wandelte die breite Mehrheit der Menschheit, vor allem die farbige Bevölkerung, in ihre Sklaven und ihre schwächeren Nachbarn in Europa in ihre Satelliten und ihr Kanonenfutter und brachte damit das globale Jüngste Gericht näher. Trotz ihrer gewaltigen Ausdehnung und Macht war die höchste und endgültige Variante des Kapitalismus umso ver wundbarer. Vollständig abhängig von Rohstoffen, billiger kolonialer Arbeit und den neuen überseeischen Märkten, waren die imperialistischen Regierungen gezwungen, den Notstand aufrechtzuerhalten, Massenangst und kollektive Leidenschaft anzustacheln, um das Geld für die riesigen Armeen und Seestreitkräfte aufzutreiben, die nötig waren, um Rivalen außen vor zu halten, erreichte Positionen zu sichern und die unzähligen Millionen niederzuhalten, die unter dem wirtschaftlichen Joch stöhnten und vor nationalistischer Wut kochten. Die neue mar xistische Theorie des Imperialismus war darauf angelegt, den Reihen der proletarischen Parteien einen neuen dynamischen Geist einzuflößen. Statt darauf zu warten, dass die wirtschaftlichen Widersprüche und die derzeitige Krise das kapitalistische Gebäude der Nation zum Zusammenbruch brachten, wurden die Gläubigen nun eindringlich ermahnt, in revolutionärer Weise zu handeln. Wie 1848 verschob sich die Betonung der revolutionären Strategie von rein sozialökonomischen Kalkulationen zu politisch - militärischen Überlegungen, aber dieses Mal im Weltmaßstab. Die Begleiterscheinungen dieses Wechsels waren systematische antimilitaristische und antipatriotische Agitation, die dazu gedacht war, den Klassencharakter der imperialistischen Politik bloßzustellen, die Aufhetzung der kolonialen Bevölkerung zur Rebellion und zu Vorbereitungen, um den unvermeidbaren Krieg zwi-
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schen den imperialistischen Mächten in einen internationalen Bürgerkrieg zu ver wandeln, in dem die vereinte Front des bislang unkorrumpierten europäischen Proletariats und der kolonialen Völker der imperialistisch - kapitalistischen Ordnung den endgültigen Schlag versetzen würde. Die Gefühle und Ideen, die in dieser Arbeit analysiert wurden, hätten auch einfach die Stimmung dieser oder jener marginalen Gruppe oder eines Untergrundeinflusses bleiben bzw. vollständig im Sande verlaufen können, wenn nicht der Erste Weltkrieg dazwischengekommen wäre und sie zur Haupt- bzw. dominanten Überzeugung gemacht hätte. Es kann allerdings kaum ein Zweifel daran bestehen, dass bereits erheblich vor 1914 der Mythos des Volkes, die Religion des Nationalismus, der Sozialdar winismus, die Verherrlichung des Krieges als Auftakt zur Wiedergeburt oder die schicksalsergebene Akzeptanz seiner Unvermeidlichkeit, der Wunsch, die soziale Revolution abzuwehren, indem man zu nationalistischen und imperialistischen Taktiken Zuflucht nahm, sowie, als die Konsequenz all dessen, das Gefühl des „jetzt oder nie“ zu einer gewaltigen und mächtigen Kraft geworden waren. Im Juli und August dieses Jahres übten sie großen Einfluss auf Staatsmänner, Meinungsmacher und auch die Bevölkerung im Allgemeinen aus, weit über jene kleine Gruppe engagierter Doktrinäre und wahrer Gläubiger hinaus, welche die direkten Träger der Tradition waren. Auch die Tatsache, dass sich am anderen Ende des politischen Spektrums alle sozialdemokratischen Parteien im August 1914 um die Nationalfarben sammelten, aber ein paar Jahre später im Sog der bolschewistischen Revolution große Teile von ihnen an der Dritten Internationale teilnahmen, lag nicht nur an dem durch den Krieg verursachten Leid, sondern auch an dem Beispiel des Triumphs eines Bekenntnisses, das anscheinend Berge versetzen konnte. Es belebte den messianischen Traum von der Weltrevolution wieder, den das nationalistische Gefühl beinahe zum Erlöschen gebracht hatte. Die Stimmung der Verzweif lung, die durch den Ersten Weltkrieg her vorgerufen wurde, die nagenden Zweifel hinsichtlich der Zukunft der Zivilisation, noch ständig vertieft durch die Auswirkungen der Inflation, die Große Depression und Massenarbeitslosigkeit, und der daraus resultierende Verlust an Ner venkraft und Selbstbewusstsein im Zentrum – all dies zusammengenommen rückte die Extreme in den Vordergrund und machte ver wirrte Massen empfänglich für die Tiraden jener furchtbaren Vereinfacher, der Fahnenträger der Weltrevolution an dem einen Ende des Spektrums und der Verteidiger der nationalen Vorbestimmung an dem anderen. So kam es zur Konfrontation auf Leben und Tod der beiden exklusiven allumfassenden Ideologien des Totalitarismus, die sich so sehr ähnelten und dabei doch so verschieden waren.
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Beide Typen des Totalitarismus gründeten auf der Annahme, dass es eine einzige, allumfassende und ausschließliche Wahrheit in der Politik gibt, und letzten Endes erkannten beide Ideologien nur eine Existenzebene an : die politische. Wenn die Linke ihre Doktrin vom Glauben an die deterministische Vorrangstellung des Materiellen, die sich verändernden Produktionsweisen und die entsprechenden Formen des Klassenkampfes ableitete, entwickelte die Rechte Schritt für Schritt ihre Antwort aus der Behauptung der deterministischen und maßgeblichen Bedeutung der natürlichen Gegebenheiten von Volk und Blut. Jede der beiden Ideologien verband sich mit der Vision von einer Geschichte, die dazu bestimmt sei, einen erlösenden Höhepunkt, die Auf lösung der sozialen Widersprüche auf dem Weg über einen revolutionären Durchbruch oder die Wiederherstellung einer ursprünglichen Authentizität durch Reinigung der völkischen Substanz von sinnentstellenden und schwächenden Verdünnungsmitteln zu erreichen. Beide Ideologien hatten eine manichäische Sicht der Geschichte. Überzeugt, im Besitz der allumfassenden und alles heilenden Wahrheit zu sein, glaubte jede von ihnen, alles ihren Zielen Förderliche sei richtig und gut, und alles, was sich ihrem Vormarsch in den Weg stellte, sei böse. Es gab keinen Mittelweg – alles Nicht - Mar xistische war bürgerlich und alles Nicht - Nordische jüdisch. Der Linken schien es um die Beseitigung von Ungerechtigkeit und die Sicherung von Rechten zu gehen, während die Rechte das Recht als eine Funktion der Macht betrachtete. Bei näherer Prüfung jedoch schien die Linke bezüglich dieses Themas gespalten. Vom Standpunkt der historischen Dialektik aus betrachtet, waren die Arbeiter dazu bestimmt, die Erde zu beerben, nicht weil sie für Unrecht entschädigt werden sollten, sondern weil die sozialökonomischen Bedingungen, mit denen sie sich im Einklang befanden, reif genug waren für die sozialistische Transformation, da die älteren Formen und früheren Inhaber der Macht ihre Kraft verbraucht und ihre Nützlichkeit überlebt hatten. Die Rechte betrachtete das Recht – nicht gänzlich verschieden – als das Maß der Macht und der anpassungsfähigen Leistung im ewigen Kampf. Die Linke sieht Geschichte als durch objektive Zwänge geprägt und den Menschen als eine von deren Funktionen. Die Besonderheiten einzelner Führer in der Geschichte müssen sich zwangsläufig dadurch gegenseitig aufheben, dass sie in entgegengesetzte Richtungen ziehen oder drücken. Daher spielt persönliche Führung in der Doktrin als solcher überhaupt keine Rolle. Doch infolge der deterministischen Sicht der historischen Entwicklung, die der Mar xismus einnahm, und wegen seines Beharrens darauf, dass es an jeder Kreuzung nur eine einzige gültige Interpretation der Richtung der Geschichte gibt, wurde die Aufgabe des Orakels praktisch ausschließlich dem Geist und dem Willen noch nicht einmal der Avantgarde der Mutigen und Engagierten, sondern der unfehlbaren Weisheit des persönlichen Führers und dem bürokrati-
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schen, zentralisierten Apparat übertragen. Auf der anderen Seite mussten die Armeen der Rechten, die nicht den Vorteil einer solch rigorosen Dialektik hatten, durch Stimmen von oben geleitet werden, die vom Führer - Seher gehört und von einer Elite unterstützt wurden, welche die Quintessenz der völkischen Substanz darzustellen beanspruchte. Eine bestimmte Form demokratischer Partizipation wurde von beiden Bewegungen gepredigt. In der totalitären Demokratie wurde dem Individuum zugeschrieben, die Identifikation mit dem allgemeinen Willen bereits erreicht zu haben oder auf dem Weg dahin zu sein, was durch den historischen Prozess, die soziale Transformation und gründliche Indoktrination möglich wurde. Die Konklaven der Partei stellten eine Form direkter Demokratie dar. Das einstimmige Votum des Obersten Sowjets, der aus einer einzigen Kandidatenliste gewählt wurde, war beides : öffentliche Demonstration und pädagogisches Mittel. Einstimmigkeit sicherte sowohl Freiheit als auch Gleichheit. Im rassistischen Staat wurde das Wollen des allgemeinen Willens dadurch sichergestellt, dass alle seine Mitglieder von gleichem Blut waren und damit Werte, Ideen und Interessen teilten. Beiden garantierte der vermeintlich ewige Ausnahmezustand, wie in belagerten Städten, die erzwungene Einstimmigkeit, und er diente auch deren Rechtfertigung. Die Linken waren gefesselt von der Idee der klassenlosen Gesellschaft, in der es keine Herrschaft einer Klasse über eine andere Klasse und keine Regierung von Menschen über Menschen gab. Die Rechten kehrten zum mittelalterlichen Konzept der organischen Gesellschaft zurück, was sie, zusammen mit der Vorstellung von der mystischen Gemeinschaft des Blutes, in die Lage versetzte, die Klassen als Glieder eines Organismus darzustellen und Klassenunterschiede als belanglos im Vergleich zur spirituellen Partnerschaft zu betrachten. Die Folgen der Klassenausbeutung werden der egoistischen Raubgier fremder Kräfte zugeschrieben. Auch sozialer Protest wird in ihren Augen durch solche Kräfte ver ursacht oder von subversiven Faktoren fremder Herkunft im Bunde mit oder im Interesse der antinationalen Ausbeuter künstlich geschürt. Das Ziel der nationalen Revolution war es, die Arbeiter von diesen unterdrückenden und spaltenden Kräften zu befreien, sie in die ideale nationale Gemeinschaft zu integrieren und ihnen ein stolzes Gefühl der Zugehörigkeit einzuflößen. Der faschistische Nazi - Totalitarismus machte keineswegs unmittelbar vor der „Nationalisierung“ der Wirtschaft halt, weil er das letzte Bollwerk eines belagerten und schwankenden Kapitalismus darstellte oder in der Schuld der Großunternehmer gestanden hätte. Seine dar winistische Eliteidee ließ ihn die großen Industriekapitäne als ausgezeichnete Exemplare eines Krieger volkes sehen. Von der Verbindung mit diesen skrupellosen und begierigen Eroberern wurde erwartet, dass sie die Mittel für den Krieg und die imperialistische Expansion freisetzte.
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Die Voraussetzung für die wissenschaftliche Natur der mar xistischen Doktrin auf der einen Seite und der Grundsatz des unfehlbaren Instinkts des Blutes auf der anderen sollten Unfehlbarkeit garantieren. Daher die beiden Seiten gemeinsame Angst vor spaltenden Einflüssen und Abweichungen. All dies musste fremden Faktoren zugeordnet werden, im einen Fall der kleinbürgerlichen Häresie oder der imperialistischen Intrige, im anderen der finsteren jüdischen Präsenz. Die rätselhafte Besessenheit von der teuf lischen Allgegenwart und bösartigen Leistungsfähigkeit der Juden war mehr als der moderne Ausbruch einer anhaltenden christlichen Neurose. Sie war die unausweichliche Konsequenz der unbedingten Notwendigkeit, den Glauben an die ursprünglich reine und perfekte Qualität des teutonischen Volkes aufrechtzuerhalten. Alle Fehler und Unzulänglichkeiten mussten im Einklang mit dem völkischen Denken auf den schlechten Einfluss anderer Rassen zurückgeführt werden. Die Juden, zugleich Außenseiter und Eingeweihte, schienen der Rolle des Antivolkes zu entsprechen. Als Fremde auf dem Boden der Vor väter und gegenüber der ererbten Tradition, die sich abstrakter und geistiger Beschäftigung hingaben, verbunden mit einem Hang zur kritischen Analyse, zudem mit allgegenwärtiger Präsenz, stellten sie eine ständige Bedrohung für die Verschiedenheit, Kompaktheit, Stärke, unfehlbaren Instinkte und die kämpferischen Fähigkeiten einer jeder Nation oder eines jeden Volkes dar. Kosmopolitische Charakterlosigkeit, individualistische Atomisierung, ausbeuterischer Kapitalismus, materialistisches Denken, revolutionäre Tätigkeit, Humanität und Pazifismus waren daher als Waffen gebrandmarkt, die vom Judentum mit der gezielten Absicht eingesetzt wurden, die Völker zu schwächen, zu ver wirren und zu entstaatlichen, um die jüdische Herrschaft über sie alle auszubreiten. Das metaphysische Bemühen, die Rolle des bösen Geistes, der angeblich vom jüdischen Antivolk verkörpert wurde, bis zu den frühesten Anfängen und bis zum Ende aller Tage auszudehnen, konzentrierte sich letztendlich auf die messianische Idee der Theodizee mit ihren Wurzeln in der Vorstellung von der Einheit der Menschheit und der Brüderlichkeit der Menschen. Am Ende der Geschichte würde solch eine Einheit realisiert werden, wodurch sich Gottes Wege als gerecht und richtig erwiesen. Diese Vision, die aus dem Judentum stammt, wurde von Christentum, Aufklärung, Liberalismus, Demokratie und Sozialismus geteilt, vom Pazifismus ganz zu schweigen. Tatsächlich hing der eigentliche Unterschied zwischen messianischer totalitärer Demokratie und nazi - faschistischem Totalitarismus von diesem Punkt ab. Alle Verletzungen der Werte des westlichen Erbes wurden von den Linken als Beschleunigung der Realisierung dieser vorherbestimmten sozialen Harmonie verteidigt. Die moderne extreme Rechte ver warf diese Idee stur und kompromisslos, denn sie sah in ihr die völlige Verneinung ihres eigenen Bildes von der Geschichte als
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der Bühne, auf der „eine höhere Art“ ihre Überlegenheit in der Feuerprobe von Rivalität und Kampf behauptete. Auch wenn dieser eher theoretische Unterschied zwischen den beiden Typen des Totalitarismus in der Praxis nicht viel ausmacht, ist er dennoch nicht ohne Bedeutung. Die gewaltsame Anfechtung dieser allgemeinen Grundlehre der verschiedenen westlichen Bekenntnisse beleuchtet die paradoxe Transformation, die eine Ideologie durchlief, die sich zunächst als Beschützerin der christlichen Werte und der Traditionen der Legitimität darstellte. Von diesem Ausgangspunkt entwickelte sie sich zu einer heidnischen, antichristlichen Kraft revolutionärer Usurpatoren, deren rücksichtslose Dynamik eine große Zahl desillusionierter linker Revolutionäre anzog, denen die zahme Politik des parlamentarischen, reformistischen Sozialismus kein Ventil mehr bieten konnte und die glaubten, ein solches in der nationalistischen Selbsterhöhung mit dem Antisemitismus als einem Ersatz - Internationalismus gefunden zu haben. Es war ein „universalistischer“ rassistischer Antisemitismus, der diese Erznationalisten im Zweiten Weltkrieg dazu brachte, als Verräter und Kollaborateure der Invasoren ihrer Länder und Peiniger ihrer Völker Landesverrat zu begehen. Nicht weniger paradox war die Dialektik, welche die Entwicklung der extremen Linken bestimmte. Ihre Antwort auf die Nationalisierung der Massen und die entsprechende Verbürgerlichung der sozialdemokratischen Ideologie war die Verlagerung des Schwerpunktes auf die universalistische, grundsätzlich politische Idee der Weltrevolution. Der Tag des Jüngsten Gerichts wurde durch die im Wesentlichen politischen Umwälzungen des internationalen Krieges in Gang gesetzt und nicht durch den vorherbestimmten Zerfall der kapitalistischen Wirtschaft. Der Triumph der russischen Revolution verlieh dem wiederbelebten Bekenntnis weit über Russland hinaus Flügel. Die Konsequenzen waren jedoch anders als beabsichtigt. Die Tatsache, dass das Sowjetregime auf ein einziges Land begrenzt blieb, machte die Möchtegern - Internationalisten im Westen zu Nationalisten einer fremden Macht. Sie führte dazu, dass die Komintern den stärksten Nachdruck auf die Unterstützung der nationalen Befreiungsbewegungen in den Kolonien legte, um die Macht des westlichen Imperialismus, des Erzfeindes Russlands, zu untergraben. Die nationalistische Mystik, die sich unter allen kolonialen Völkern ausbreitete und die sozialökonomischen Erwägungen überschattete, verdient es, als ein Beweis für unsere These gesehen zu werden, wonach der von der Französischen Revolution freigesetzte messianische Erlösungsdrang und nicht die mar xistische Doktrin der grundlegende Impuls für die Befreiungsbewegungen in diesem Jahrhundert war. Die Rolle der Hebamme für die nationalen Befreiungsbewegungen, die Sowjetrussland übernahm, setzte eine großmachtpolitische Strategie an die Spitze ihrer Prioritäten. Dadurch verspielte Russland viel von seinem morali-
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schen Gewicht als Bannerträger der sozialistischen Weltrevolution. Es dehnte seine rigide zentralisierte und bürokratisierte Diktatur so weit aus, dass sie zu einem reinen, sich selbst erhaltenden Machtapparat wurde. Diese Desillusionierung wurde einer der wichtigsten Gründe für das Aufkommen der neo - anarchistischen revolutionären und terroristischen Bewegungen in so vielen Ländern. Andere Folgen waren die Schismen, die das nahtlose Gewand des Kommunismus zerrissen – wie der Titoismus, aufständische Ausbrüche in Polen und Ungarn, der Eurokommunismus im Westen und vor allem die Abspaltung Chinas. In all diesen Fällen ist der Drang nach Freiheit und freier Selbstentfaltung kaum von der nationalistischen Selbsterhöhung unterscheidbar. Man darf in ähnlicher Weise dafür plädieren, dass die Identifikation mit dem Sozialismus und die Maßnahmen der kürzlich geschaffenen Staaten in Asien und Afrika Mittel darstellen, das Stammessystem zu ersetzen durch einen nationbildenden Mythos von einer gemeinsamen Anstrengung, eine industrielle Revolution durchzuführen und ein zentralisiertes Regime auf der Grundlage der gleichen Staatsangehörigkeit zu errichten. Paradoxer weise ist es unmittelbar nach der vernichtenden Niederlage des mörderischen Rassismus und dem beinahe freiwilligen Exodus des weißen Mannes aus den riesigen Territorien Asiens und Afrikas das Rassenproblem, das sich – eindrucksvoller als die nukleare Bedrohung und die ökologische Situation – als die hartnäckigste Streitfrage unserer Zeit erwiesen hat. Vor unseren Augen wird die soziale Spaltung in Bürgerliche und Proletarier ersetzt durch die Gegensätze, Spannungen und Konflikte zwischen Wohlstandsgesellschaften und Gastarbeitern, alten imperialistischen Nationen und einwandernden ehemaligen kolonialen Untertanen („wir sind hier, weil ihr dort wart“), Weißen und Schwarzen in den Vereinigten Staaten, Europäern und Indianern in Lateinamerika und auf einer weltweiten Skala zwischen dem reichen ( und weißen ) Norden und dem armen ( und kolonialen ) Süden. Der westliche Imperialismus und sein Schatten, der politische Messianismus, haben den Geist der Rebellion im Osten und Süden geweckt und eine Stimmung wachsender Erwartungen erzeugt. Sie haben zu Ausbrüchen extremer Gewalt geführt, ohne die hemmenden Faktoren des westlichen Erbes. Sie haben gleichzeitig den Westen mit einem tiefen Schuldgefühl gegenüber den farbigen Völkern sowie bezüglich seines eigenen Wohlstands erfüllt, bis zu dem Punkt, dass er unfähig ist, irgendeinen Gebrauch von seiner Macht zu machen, um den Lebenssaft seiner Wirtschaft zu sichern, und nicht mehr den Mut hat, auf das gute sozialistische Argument von der Notwendigkeit der ( Inter - )Nationalisierung der lebenswichtigen Produktionsmittel der Menschheit zurückzugreifen. Bis jetzt gibt es keine Garantie gegen ein Wiederauf leben der verschiedenen Formen des militanten totalitären Rassismus im Westen – einerseits als
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Reaktion auf die anschwellende Woge einer aggressiven antiwestlichen Selbsterhöhung eines religiösen, kulturellen und politischen Nativismus, andererseits als Antwort auf die mörderischen ideologischen und Stammeskonfrontationen in Asien und Afrika, die zusammen mit der zunehmenden Überbevölkerung und dem wachsenden Elend drohen, zu einer steigenden Anzahl verzweifelter, Kurs auf glücklichere Kontinente nehmender „Boatpeople“ zu führen. Die zügellose antiimperialistische Mystik bringt die Sowjetunion und China in eine höchst mehrdeutige Situation. Trotz fortschreitender Verbürgerlichung zwingt der zunehmende Nationalismus der ethnischen Minderheiten in Russland – über die Hälfte der Bevölkerung – das großrussische Establishment dazu, das Banner des mar xistischen Internationalismus und mit ihm das eines revolutionären Inter ventionismus hochzuhalten, der kaum vom schieren Expansionismus einer Großmacht zu unterscheiden ist. Aus Angst vor der Sowjetunion scheint ein abtrünniges China in der Rolle eines scheinbaren Verbündeten der Vereinigten Staaten nicht mehr so recht zu wissen, wohin es sein Schicksal lenken soll – zu einem reformierten ewigen China, einem Vorbild für echten Marxismus, oder zur Speerspitze der unterprivilegierten, nach vorne drängenden farbigen Völker. All diese paradoxen Phänomene sind die ironische Folge der Verschmelzung des Mythos der Nation und der Vision der erlösenden universellen Revolution.
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Personenverzeichnis Aberdeen, George Hamilton Gordon 86 Addison, Joseph 248 Adler, Alfred 197 Adler, Friedrich 277 Adler, Max 116, 277 Adler, Victor 128 f., 160, 175, 183, 198, 201–203, 205, 208, 277 f., 282, 290, 497, 505 Ahlwardt, Hermann 255 Aksakow, Iwan 304 Alexander I., Zar 321 Alexander II., Zar 290, 338, 352, 439, 442, 444, 447 Alexander III., Zar 118, 338, 435, 445, 453, 455 Alexander der Große 71, 222, 229, 450 Ambris, Alceste de 607 Andreu, Pierre 587 Annenkow, Pawel 46 Annunzio, Gabriele d’ 607–609, 632, 669 Apion 223 Aptekman, Ossip 286 Arabi, Muyiuddin Muhammad ibn 93 Arminius, siehe Hermann Arndt, Ernst Moritz 23 Arnim, Carl Joachim Friedrich Ludwig von 23 Arton, Émile 252 Attila der Hunne 351 Auer, Ignaz 114, 127, 169, 512 Aulard, François - Alphonse 425 Austerlitz, Friedrich 277 Avenarius, Richard 434 Axelrod, Ljubow 120
Axelrod, Pawel 289, 471, 474 Azef, Jewno 293, 456 Babeuf, François Noël 7, 22, 27, 379, 392, 408, 523 Bach, Alexander von 177, 442 Baden, Prinz Max von 643 Badeni, Graf Kasimir Felix 199, 203 Bahr, Hermann Anastas 260 Bakunin, Michail 63, 70 f., 77, 117, 250, 264, 288 f., 305 f., 310, 320, 338, 359, 364, 366– 369, 372, 375, 391 f., 396–399, 401, 405–410, 412, 414, 423, 445, 447, 512, 545, 579 Balabonowa, Angelika 546 Balfour, Arthur James 134, 296 Bamberger, Ludwig 255 Baron, Salo Wittmayer 222 Barrès, Auguste - Maurice 254, 594, 608 Bátory, Stefan 112 Bauer, Bruno 240, 244, 250 Bauer, Edgar 244 Bauer, Egbert 244 Bauer, Otto 210 f., 213–215, 277 Bäumler, Alfred 264 Bebel, August 85, 87, 90, 114, 123, 125, 128, 130, 137, 143 f., 147, 187, 202, 272, 292, 489– 491, 493, 512, 623, 635 Belinski, Wissarion 303–319, 321, 323, 332 Bem, Józef Zachariasz 57 Benbow, William 153 Benckendorf, Graf Alexander 322 Beneš, Edvard 195
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Anhang
Bentinck, George, Lord siehe Disraeli Béranger, Pierre de 316 Berdjajew, Nikolai 282, 357, 465 Bergson, Henri - Louis 151, 572, 585 Berlin, Isaiah 280 Berman, Jakub 219 Bernays, Jacob 244–246 Bernstein, Eduard 93, 97, 99 f., 103, 105 f., 109 f., 125–130, 146–148, 201, 213, 278, 484, 492 f., 576 f., 579 Berth, Edouard 581, 593 Bethmann Hollweg, Theobald von 138, 498 Bialik, Chaim Nachman 277 f. Bianchi, Michele 607 Bismarck, Otto von 55, 83, 85 f., 124, 131 f., 135, 183, 198, 252, 255 f., 442, 491, 673 Bissolati, Leonida 616 Blanc, Louis 341 Blanqui, Louis - Auguste 24, 53, 55–57, 379, 471, 624 Bleichröder, Gerson von 249, 251, 256 Bloch, Ernst 257, 282 Blum, Léon 219, 561 Böckel, Otto 255 Bogolepow, Nikolai 456 Boguslawski, Albrecht 133 Bonald, Vicomte Louis - Gabriel Ambroise de 23, 595, 684 Bonaparte, Louis Napoleon (Napoleon III.) 87, 492, 571, 603 Bonomi, Ivanoe 616 f. Bontsch - Brujewitsch, Wladimir 379 Born, Stephan 243 Börne, Karl Ludwig 241
Bossuet, Jacques-Bénigne 682 Botkin, Wassili 316 f. Boulanger, Georges 252 Brandeis, Louis Demnitz 296 Braun, Adolf 277 Briand, Aristide 426 Bright, John 181 Brissot, Jean Pierre 527 Bruck, Arthur Moeller van den 672 Bucharin, Nikolai 505, 546, 560 Bulgakow, Sergej 465 Bülow, Bernhard von 133, 136 f., 454 Buonarotti, Filippo 392, 396 Burckhardt, Jacob 571, 573 Burian, Baron Stephan István 185 Burke, Edmund 20, 23, 139, 683 f. Byron, Lord 316, 347 Calvin, Johannes 236, 328 Carlyle, Thomas 571, 595 Carnot, Lazare 432 Carr, Edward Hallet 336 Caesar, Gaius Julius 71, 394, 428, 666 Cavour, Graf Camillo 603 f. Chamberlain, Houston Stewart 266, 653, 669 Chamberlain, Joseph 134 Chateaubriand, François René de 684 Chrustalow - Nosar, Georgi 462 Chrzanowski, Wojciech 57 Cieszkowski, Graf August 282 Clairvaux, Bernhard von 226 Clarendon, siehe Villiers, George Clausewitz, Carl von 517 Clermont - Tonnerre, Stanislas Marie Adélaïde, Comte de 236 Cobden, Richard 181
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Personenverzeichnis
Cohn - Bendit, Daniel 219 Comte, Auguste 361, 595 Confino, Michael 406 Considérant, Victor 25 Coppola, Francesco 607, 611 Corradini, Enrico 607 f., 610 f., 620 Crémieux, Adolphe 243, 289 Croce, Benedetto 569, 600 Cromwell, Oliver 394, 683 Dąbrowski, Jan Henryk 57 Dan, Fjodor 289 Danton, Georges 522 Darwin, Charles 267, 653 Daszyński, Ignacy 165 David, Eduard 128, 148, 484, 487 Deich, Lew 286, 289, 293 Dembiński, Henryk 57 Descartes, René 582 Deutscher, Isaac 98 Diamant, Herman 271 Dickstein, Samuel 168 Diderot, Denis 235 Diefenbach, Hans 118 Dirksen, Herbert von 133 Disraeli, Benjamin 116, 134, 237, 242–244, 246 Dmowski, Roman 257, 271 f. Dobroljubow, Nikolai 337, 348– 350, 354 Doherty, John 153 Domann, Peter 143 Dostojewski, Fjodor 338, 403, 445, 502, 571 Dreyfus, Alfred 254, 291, 489 Dschingis Khan 79 Dubrowin, Alexander 462 Dühring, Eugen 255, 269 Dumas, Alexandre 590 Dumouriez, Charles - François 527
743
Durnowo, Pjotr 453 f., 463, 490 Dzierżyński, Felix 168, 543 Eberlein, Hugo 546 Ebert, Friedrich 126, 643 Eckart, Dietrich 266, 269 Eichmann, Adolf 221 Eichthal, Gustav d’ 282 Eisner, Kurt 626, 643, 669f Engelhardt, Alexander 420 Engels, Friedrich 26 f., 29, 41–43, 45, 47–49, 52 f., 57, 59, 61–64, 66 f., 69–74, 76, 78–94, 104, 125, 127, 143, 151, 160, 168, 184 f., 187 f., 210, 260, 287, 358, 360, 378, 386, 489, 491, 518, 579, 616 Fabian, Walter 484 Federzoni, Luigi 607, 611 Fernández, Ramón 570 Feuerbach, Ludwig 240, 244, 265, 332, 341, 447 Fichte, Johann Gottlieb 145 f., 351, 671 Filmer, Robert 682 Fineberg, Joseph 546 Fischhof, Adolf 243 Flerowski, N. ( Pseudonym von Berwi, Wilhelm ) 375 Fould (Familie) 249, 289 Fourier, François Marie 25, 287 f., 341 Fraenkel, Leo 256 Franz I., Kaiser 176, 490 Freud, Sigmund 197, 258, 274, 283, 336, 502 Friedjung, Heinrich 258 Friedrich II ( der Große ), König von Preußen 673
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Friedrich Wilhelm IV., König von Preußen 55, 243 Fritsch, Theodor 255, 669 Frohme, Karl 143 Galiffet, Gaston Auguste Alexandre de 488 Gapon, Georgi 459 Garibaldi, Giuseppe 603 f. Gentile, Giovanni 628 Gentz, Friedrich von 20, 23, 246, 684 Gershuni, Grigori 290, 293, 456 Gibbon, Edward 138 Gilbert, Pierre 593 Ginsburg, Baron 249 Giolitti, Giovanni 605, 634 Gladstone, William Ewart 244 Gneisenau, August Neidhardt von 494 Gobineau, Arthur de 264 Goebbels, Joseph 126 Goethe, Johann Wolfgang von 114, 175, 332 Gogol, Nikolai 304 Goldenberg, Grigori 293 Gottschalk, Andreas 243 Gotz, Michail 290 Goudchaux, Michel 243 Graetz, Heinrich 263 Grey, Edward 266 Griffuelhes, Victor 590 Guesde, Jules 118, 292, 430, 488 f., 494, 500, 613, 616, 619, 635 Guizot, François 332 Gumplowicz, Ludwig 128 Gutschkow, Alexander 522 Haase, Hugo 162, 498, 669 Häcker, Emil 168 Haenisch, Konrad 115, 498 f.
Haller, Karl Ludwig von 684 Hardie, James Keir 494 Havas, Charles - Louis 249 Hazaz, Chaim 276 Heeringen, Josias von 137 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm 33, 108, 140, 146, 227, 244, 246, 310–314, 316, 319 f., 322, 330, 339, 341, 351, 592, 628 Heine, Heinrich 114, 241, 289 Heine, Wolfgang 133, 149, 487 Helfferich, Karl 124, 667 Helphand, Alexander ( Parvus ) 52, 123, 125–128, 150, 156, 159, 275, 278, 461, 473, 479 f., 490, 576 Helvétius, Claude 235, 341, 344 Henderson, Arthur 513, 549 Herder, Johann Gottfried 18, 22, 237 Hermann der Cherusker 23, 666, 671 Hertzberg, Arthur 235 Hervé, Gustave 432, 490, 493, 499 f., 613 Herz, Cornelius 252 Herzen, Alexander 305, 319–323, 325–329, 331–334, 336 f., 341, 348 f., 352, 363, 419, 445, 512 Herzen, Natalja 406 Herzl, Theodor 293 Hess, Moses 246, 280, 282 Hildebrand, Gerhard 148, 487 Hilferding, Rudolf 156, 162, 277, 508, 560, 669 Himmler, Heinrich 665, 673 Hindenburg, Paul von 642 Hirsch, Karl von 249, 256 Hitler, Adolf 32 f., 35, 219, 238, 257, 266, 269 f., 273, 276, 504,
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Personenverzeichnis
569, 652–656, 664, 666–668, 670, 681 Hobbes, Thomas 383 Hobson, John Atkinson 156 Hoffman, Max 544 Hofmannsthal, Hugo von 258 Holbach, Henri Thiry d’ 235, 345 Holstein, Friedrich von 137 Hugenberg, Alfred 667 Hugo, Victor 310 Hus, Jan 194 Huysmans, Camille 161
745
Jachontow, Arkadi 294 Jacoby, Johann 243 Jahn, Friedrich 23 Jakowlew, Iwan 336 James, Henry 504 Januschkewitsch, Nikolai 295 Jaurès, Jean 108, 118, 213, 272, 292, 423, 425–434, 488f, 491, 493–497, 512, 588 Jogiches, Leo, 113, 115 f., 118–120, 123, 150, 165, 168, 277 f. Jordan, Carl Friedrich Wilhelm 60 Jünger, Ernst 672
Karpowitsch, Pjotr 456 Katharina II. ( die Große ) 375 Katkow, Michail 445, 451 Kautsky, Karl 74, 80 f., 114, 117, 123, 125, 127, 144, 148, 151, 157, 160, 162, 187 f., 202, 260, 272, 290, 428, 484–486, 491– 493, 499, 501, 513, 549, 563 Kautsky, Luise 110, 117 f., 120, 123 Kawelin, Konstantin 349 f. Kehr, Eckart 131 Kerenski, Aleksander, 519, 522, 528 Kipling, Rudyard 595 Kleist, Bernd von 23 Kljutschewski, Wassili 448 Kol, Henri van 485 Kopernikus, Nikolaus 339 Kornilow, Lawr 527 f., 557 Korolenko, Wladimir 114 Kosmin, Boris 380 Kossuth, Ferencz 69 Krasiński, Zygmunt 242 Kraus, Karl 242 Krchichanowskaja 436 Kremer, Arkadi 118, 276 Kriwoschein, Alexander 295 Kronenberg (Familie) 257 Kropotkin, Fürst Pjotr 499 Krupp, Alfred 252 Krupp (Familie) 124 Kuropatkin, Alexej 453
Kaganowitsch, Lasar 219 Kamenew, Lew 219, 468, 520, 530 Kampffmeyer, Paul 148 Kant, Immanuel 254, 322, 351, 595 Karl I. 682 Karl XII. 54
Laband, Paul 133 Lafargue, Paul 78 Lagarde, Paul de 669 Lagrange, Henri 594 Lamartine, Alphonse de 25 Landsberg, Otto 669 Langbehn, August Julius 669
Ibsen, Henrik 571 Ireton, Henry 683 Iwan der Schreckliche 536 Iwanow, D. P. 307, 310 Iwanow, Iwan 403, 406
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Anhang
Lasker, Eduard 255 Laski, Harold 219 Lassalle, Ferdinand 66, 87, 108, 146, 183, 219, 287, 491 Lawrow, Pjotr 152, 360–363, 365 f., 372–378, 381, 390–392, 423 Ledebour, Georg 162 Ledru - Rollin, Alexandre 341 Lenin, Wladimir 29, 32–34, 97, 111, 118 f., 126, 150, 171, 257, 269, 276, 280, 285, 338, 371, 379, 393, 405, 415, 419–426, 430, 434–439, 445, 454 f., 464 f., 467–481, 483 f., 490, 494, 501, 504–506, 508–518, 520–528, 530–532, 534–537, 539 f., 544–549, 555, 557–560, 569 f., 576, 586, 589, 591, 613, 616–618, 646–649 Lensch, Paul 148 Leo XIII., Papst 582 Leontjew, Konstantin 446, 449 f., 453 Leroux, Pierre 341 Lesseps, Ferdinand de 252 Lessing, Ephraim 236, 341, 357 Levi, Paul 555 Leviné, Eugen 275 Lewis, Wyndham 569 Lieber, Mark (Goldman) 289 Liebermann von Sonnenberg, Max 255, 271 Liebknecht, Karl 119, 160–162, 292, 490, 555, 645 f. Liebknecht, Wilhelm 87, 128, 187 List, Georg Friedrich 182, 656 Litvak A. ( Chaim Yankl Helfand ) 513 Litwinow, Maxim 219 Lloyd George, David 134 Longuet, Jean 549
Lorenz, Frederic 316 Loris - Melikow, Graf Michail 444 Louis Philippe, König von Frankreich 24 f. Ludendorff, Erich 642 Ludwig XVI., König von Frankreich 159, 183 Lueger, Karl 258 f. 658 Lukács, Georg 281 Luther, Martin 316, 328 Luxemburg, Rosa 29, 32, 35, 97– 100, 102–105, 107–121, 123, 125–128, 145, 148, 150–165, 168–171, 219, 271 f., 275–278, 280, 282, 432, 483–486, 490, 493 f., 496, 498, 500–502, 504 f., 508 f., 515 f., 555, 562 f., 576, 613, 616, 621, 645–651, 670 Mach, Ernst 434 Machiavelli, Niccolò 605 f., Maehl, William 163 Magat, Abraham Felix 292 Mahler, Gustav 258 Maire, Gilbert 594 Maistre, Joseph de 23, 446, 450, 571, 573 595, 630, 684 Maklakow, Wassili 458, 461 Man, Hendric de 497 Manin, Daniel 243 Marans, René de 594 Marat, Jean Paul 315, 319, 408 Maraviglia, Maurizio 611 Marchlewski, Julian 123, 168, 171, 543 Marcion 226 Marie - Antoinette, Königin von Frankreich 519 Marinetti, Emilio 607 Marr, Wilhelm 255, 269
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Personenverzeichnis
Martinow, Andrej 471 Martow, Julius ( Zederbaum ) 118, 285, 289, 455, 470 f., 494, 513 f., 545 Marx, Karl 26–29, 32 f., 41–43, 45–47, 49, 52, 54, 57 f., 61–63, 66, 70–73, 76–80, 83–88, 92, 94, 99 f., 104 f., 114, 116 f., 126, 146, 151, 153, 160, 164 f., 168, 184 f., 210, 219, 237, 243–245, 250, 256, 265, 280, 282 f., 287–289, 332, 336, 339, 358, 360, 364, 382, 400, 406 f., 421, 454, 467, 471, 484, 489, 491, 508, 523, 526, 529, 545, 569 f., 574, 576, 578 f., 591, 594 f., 616, 618, 662, 687– 689 Masaryk, Thomas 341 Mathiez, Albert 425 Maurras, Charles 254, 272, 594f Mazzini, Giuseppe 24, 72, 77, 545, 592, 603 f., 628 Medem, Wladimir 285 Mehring, Franz 114, 117, 162, 272 Mendelson, Stanislaw 168 Menschinski, Wjatscheslaw 437 Menzel, Wolfgang 242 Metternich, Clemens von 246, 332 Meyer, jüdischer Konvertit 252 Michailowski, Nikolai 361f Michelet, Jules 24, 333 Michels, Robert 605f Mickiewicz, Adam 57 Miljukow, Pawel 458, 460 f., 463 f., 519 f., 522, 545 Mill, John Stuart 118, 276, 341 Millerand, Alexandre 488 Minc, Hilary 219 Minor 289 Miquel, Johannes von 137
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Mirabeau, Honoré Gabriel Riqueti, Comte de 461 464 Mirbach, Wilhelm Graf von 649 Modigliani, Amedeo 634 Molkenbuhr, Hermann 161 Mommsen, Theodor 35, 196, 262 Montesquieu, Charles Louis de 235 Mörike, Eduard 114 Mosca, Gaetano 605 f. Most, Johann 198 Mozart, Wolfgang Amadeus 246 Müller, Adam 23, 684 Müller - Tellering, Paul Eduard 66 Mussolini, Benito 32 f., 55, 270, 504, 569, 576, 580, 589, 594, 600, 607, 611, 613–631, 634 f., 637, 653, 681 Nabokow, Wladimir 520 Nachman, Chaim, siehe Bialik Namier, Lewis 222, 241 f. Napoleon Bonaparte 23, 56 f., 71, 237 f., 328, 394, 587, 624, 628, 671, 683 Naquet, Alfred 252 Natanson, Mark 257, 456 Naumann, Friedrich 136 Netschajew, Sergej 366 f., 369, 378 f., 396–399, 401, 403, 405– 410, 412–414 Newton, Sir Isaac 342 Niemojewski, Andrzej 271 f. Nietzsche, Friedrich 224, 263, 267, 269 f., 336, 502, 571, 573 f., 581, 591, 595, 619, 675 Nikolajewitsch, Großherzog Nikolai 461 Nikolaus I., Zar 65, 321 Nikolaus II., Zar 293, 295, 446– 448, 453, 455, 490 Nolte, Ernst 618
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Noske, Gustav 280, 494, 645 Novalis (Hardenberg, Georg Philipp Friedrich, Freiherr von) 684 Oldenburg - Januschau, Elard von 133 Olivero, Angelo 611 Oriani, Alfredo 604, 608 Orlando, Vittorio 624 Owen, Robert 25, 153 Palmerston, John Henry 86, 88 Pannunzio, Sergio 577 Papen, Franz von 145 Papini, Giovanni 607, 610 Pareto, Vilfredo 336, 600, 605–607 Parvus, siehe Helphand Pascal, Blaise 582 Patzelt, Julius 270 Pauker, Ana 219 Paulus, Apostel 223 Péguy, Charles 433, 575, 593 Pereiras (Familie) 249 Perl, Feliks 271 Pernerstorfer, Engelbert 145 Peter I. ( der Große ), Zar 79, 303, 308, 318, 323, 352, 363, 570 Peter III., Zar 375 Peukert, Josef 198 Philo 223 Piłsudski, Bronisław 118, 257 Piłsudski, Józef 118, 167 f., 257, 271 Pirenne, Henri 231 Pisacane, Carlo 605 Pisarew, Dmitri 337f Pjatakow, Georgi 505, 516, 539 Platon 316, 339 Platten, Fritz 549 Play, Pierre le 571
Plechanow, Georgi 119, 123, 291, 304, 313, 321, 339, 379, 438, 469 f., 499, 512–514, 522 Plehwe, Wjatscheslaw von 293, 453, 456–458 Pobedonoszew, Konstantin 446– 453, 459 Pokrowski, Michail 380 Poliakoff, Baron 249 Potresow, Alexander 436, 513 f. Preuß, Hugo 669 Prezzolini, Guiseppe 607, 610 Proudhon, Pierre Joseph 25, 77 f., 250, 288 f., 330, 341, 581, 584, 594 Pugatschow, Jemeljan 289, 359, 367, 375 Purischkewitsch, Wladimir 462 Puschkin, Alexander 318, 333 Puttkamer, Robert von 131f Quelch, Tom 559 Quessel, Ludwig 148, 487 Quinton, René 595 Radek, Karl 156, 219, 275, 505, 539, 543, 546, 555, 559 Radischtschew, Alexander 303, 506 Rakoszy, Matyas 219 Rakowski, Christian 543, 549 Ralli ( Pseudonym von Arbure, Zamfir C.) 396 Rappoport, Charles 119, 426, 436 Rasin, Stepan (Stenka) 289, 359, 367 Rathenau, Walter 241, 669 Reinach, Joseph 252 Reinstein, Boris 546 Renan, Ernest 282, 571 Renaudel, Pierre 513
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Personenverzeichnis
Renner, Karl 210, 213–215 Repin, Ilja 338 Reumann, Jakob 185 Reuter, Paul Julius de 249 Rhodes, Cecil 508 Riesser, Gabriel 243, 263 Riezler, Kurt 137 Ritter, Gerhard A. 143 Robespierre, Maximilien 330, 394, 436, 525 f., 547 Rodrigues, Olinde 281 Romains, Jules 426 Rosenbaum, Martha 118, 123 Rossi, Amilcar ( Pseudonym von Tasca, Angelo ) 626 Rothschild, (Familie) 242, 245, 249 f., 252, 258, 289, 337 Rousseau, Jean-Jacques 235, 330, 332, 340, 365, 451, 584, 595, 680 Rubanowitsch, Ilja 289 Ruge, Arnold 244 Saint - Just, Louis de 21, 330, 525 Saint - Simon, Henri de ( Claude Henri de Rouvroy, Comte de ) 25, 47, 281, 287 Salandra, Antonio 624 Sassulitsch, Wera 152, 396 f., 404, 436 Savonarola, Girolamo 408 Schapow, Afanasi 363 Scharnhorst, Gerhard von 494 Scheidemann, Philipp 126, 498, 641 Schelling, Friedrich von 316, 346 Scheu, Andreas 198 Schiller, Friedrich 145, 310, 315, 347 Schipow, Dimitri 459 Schippel, Max 148, 487 Schnitzler, Arthur 258
749
Schoenlank, Bruno 114 Schönerer, Georg von 258–260, 271–273, 658 Schopenhauer, Arthur 571, 573 Schorske, Carl 163 Schröder, Wilhelm 147 Schtscherbatow, Fürst 294 Schukowski, Wassili 312 Schwarzenberg, Felix Fürst zu 177, 442 Seeckt, Hans von 645 Seidel (Familie) 118 Sembat, Marcel 500 Serebrennikow, Wladimir 410 Servatius, Robert 221 f. Severing, Carl 145 Sighele, Scipio 611 Singer, Paul 114 Sinowjew, Grigori 219, 468, 505, 527, 530, 539, 546, 549, 560 Sipjagin, Dmitri 456 Skaldin, siehe Jelenew Slánský, Rudolf 219 Šmeral, Bohumír 195 Smith, Adam 181 Snowden, Viscount Philip 549 Sokrates 572 Solowjow, Sergei 321 Sombart, Werner 248 Sorel, Albert 571 Sorel, Georges 151, 426, 569–596, 598, 600, 611–613, Sorge, Friedrich Adolf 86 Spencer, Herbert 361 Spengler, Oswald 672 Speranski, Michail 321 Stadnicki, Stanislaw 199 Stadthagen, Arthur 114 f. Stalin, Josef 97, 312, 546 Stankewitsch, Nikolai 310, 317 Steinberg, Hans - Josef 143
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Anhang
Steklow, Jurij 350 Stern, Fritz 138, 256 Stoecker, Adolf 254 f., 263, 254, 290 Stolypin, Pjotr 295, 442, 456, 464 Strauß, Friedrich David 244 Struve, Peter 458 Sturgis, Howard 504 Stürgkh, Karl Graf 277 Subatow, Sergei 456 Südekum, Albert Oskar Wilhelm 498 Swerdlow, Jakow 219 Swiatopolk - Mirski, Fürst 458 Świętochowski, Aleksander 271 Sybel, Heinrich von 132 Szamuely, Tibor 376, 380 Taaffe, Eduard 179, 193, 199–202 Tacitus 671 Taine, Hippolyte 571, 595 Tancredi, Libero ( Pseudonym von Rocca, Massimo ) 622 Tasca, Angelo, siehe Rossi Tertullian 449 Thiers, Louis Adolphe 434, 642 Thomas, Albert 500, 549 Tichomirow, Lew 445 Tkatschow (Tkačëv), Pjotr 367, 376, 378–387, 389–393, 396 f., 401, 422f Tocqueville, Alexis de 691 Tolstoi, Graf Dmitri 454 Toussenel, Alphonse de 242, 287f Tracy, Destutt de 683 Treitschke, Heinrich von 138–140, 255, 262 f., 669 Trepow, Theodore 404 Treves, Claudio 634 Trotzki, Lew 52, 156, 159, 219, 275 f., 280, 436, 461 f., 473,
479 f., 513 f., 527, 530, 539, 543–546, 549, 556 Tscherikower, Viktor 286 Tschernow, Viktor 461 Tschernyschewski, Nikolai 338–358, 363, 397 Tschernyschewski, Olga 340 Tschitscherin, Georgi 445, 546 Tuchatschewski, Michail 556 Tucholsky, Kurt 242 Turati, Filippo 513, 549, 623, 634 Turgenew, Iwan 346, 349 Turgot, Baron Anne Robert 351 Uljanow, Alexander 118 Urizki, Moissej 219, 649 Urquhart, David 88 Uwarow, Graf Sergei 321 Vaillant, Edouard 494 f., 498, 500 Valéry, Paul 580 Valois, Georges 593–596, 599 Vandervelde, Émile 116, 513 Variot, Jean 593 Vergniaud, Pierre 519 Vico, Giovanni Battista 331, 573 Villiers, George, 4th Earl of Clarendon 86 Vincent, André 594 Vittorio Emanuele, König von Italien 603 Vollmar, Georg Heinrich von 128 Voltaire (François Marie Arouet) 235, 316 Wagner, Richard 264–266 Walentinow, Nikolai 338, 434, 468f Warszawski, Adolf 123 Waryński, Kudwik 168 Washington, George 394
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Personenverzeichnis
Weber, Max 136, 231, 248 Weil, Abraham 289 Wells, Herbert George 595 Weydemeyer, Joseph 72 Wilhelm I., Kaiser 254 f., 260, 263 Wilhelm II., Kaiser 144, 266, 490 Wilson, Woodrow 34, 540, 641 Windischgrätz, Alfred Candidus Ferdinand I. Fürst zu 65 Witte, Graf Sergei 293, 440, 443 Wittenberg 286 Wojnarowska, Cezaryna 123, 276
751
Wolff, Bernhard 249 Wróblewski, Walery Antoni 57 Wurm, Mathilde 123, 163, 275, 500 Zaichnewski, Piotr 419 Zamoyski, Jan 112 Zetkin, Clara 110, 115, 118, 123, 162, 555 Zetkin, Kostia 118 Zhitlovski, Chaim 289 Zola, Émile 292 Zundelewitsch, Aaron 292
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