Die Geschichte der totalitären Demokratie Band II: Politischer Messianismus: Die romantische Phase 9783666310096, 9783525310090, 9783647310091


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Die Geschichte der totalitären Demokratie Band II: Politischer Messianismus: Die romantische Phase
 9783666310096, 9783525310090, 9783647310091

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Wege der Totalitarismusforschung Herausgegeben von Günther Heydemann

Vandenhoeck & Ruprecht

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Jacob L. Talmon

Die Geschichte der totalitären Demokratie Band II Politischer Messianismus: Die romantische Phase

Herausgegeben und eingeleitet von Uwe Backes unter Mitarbeit von Silke Isaak und Annett Zingler

Vandenhoeck & Ruprecht

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Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-31009-0 ISBN 978-3-647-31009-1 (E-Book)

Umschlagabbildung: Jacob L. Talmon, ca. 1970 Foto: privat

© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: Hannah-Arendt-Institut, Dresden Druck und Bindung: h Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Für Bertel in Dankbarkeit

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Du dix - huitième siècle et de la révolution, comme d’une source commune, étaient sortis deux fleuves : le premier conduisait les hommes aux institutions libres, tandis que le second les menait au pouvoir absolu. Tocqueville

La Révolution française est beaucoup plus remarquable par la continuité qu’elle montre dans les idées, que par les destructions qu’elle a opérées; le dix- huitième siècle la traverse et se prolonge jusqu’en 1848. Durant la première moitié du dix - neuvième siècle on continue à croire à la bonté de l’homme, on construit des utopies pour rendre l’humanité heureuse, on est à la fois rationaliste et sensible [...]; le règne de Rousseau qui avait commencé vers 1762 [...] avait duré presque cent ans. Georges Sorel

Il avait annoté le Contrat social. Il se bourrait de la Revue indépendante. Il connaissait Mably, Morelly, Fourier, Saint - Simon, Comte, Cabet, Louis Blanc, la lourde charretée des écrivains socialistes, ceux qui réclament pour l’humanité le niveau des casernes, ceux qui voudraient la divertir dans un lupanar ou la plier sur un comptoir; et, du mélange de tout cela, il s’était fait un idéal de démocratie vertueuse, ayant le double aspect d’une métairie et d’une filature, une sorte de Lacédémone américaine où l’individu n’existerait que pour servir la Société, plus omnipotente, absolue, infaillible et divine que les Grands Lamas et les Nabuchodonosors. Il n’avait pas un doute sur l’éventualité prochaine de cette conception; et tout ce qu’il jugeait lui être hostile, Sénécal s’acharnait dessus, avec des raisonnements de géomètre et une bonne foi d’inquisiteur. Gustave Flaubert

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Aus dem Vorwort zur englischen Originalausgabe Mancher Autor, der nach jahrelanger Arbeit sein Buch schließlich in Druck gehen lässt, wird die Gefühle teilen, denen Keynes im Vor wort zu seiner Treatise on Money Ausdruck verlieh : „Mir ist zumute wie einem, der sich durch einen wirren Dschungel einen Weg erzwungen hat. Nachdem ich jetzt wieder draußen bin, sehe ich, dass ich einen geraderen Weg hätte einschlagen können [...], wenn ich noch einmal von vorn anfangen sollte.“ Es ist immerhin tröstlich, wenn man unter einer so gewaltigen Eiche Deckung nehmen kann. Im vorliegenden Fall gibt mehr die Methode als der Stoff Anlass zu solch prüfendem Insichgehen. Es war keine leichte Aufgabe, jeden einzelnen Trend des politischen Messianismus als deutlich gesonderte Ganzheit zu behandeln, während man anstrebte, ihn zu einer so weittragenden und umfassenden geistigen Bewegung in Beziehung zu setzen. Auch konnte der auf die Erforschung von Ideen Bedachte, den vor allem geistige und psychologische Einstellungen als solche interessieren, die Rekonstruktion der Geschehnisse, auf deren Boden diese Einstellungen wachsen und sich wandeln, nicht ganz beiseitelassen. Zu diesen speziellen Schwierigkeiten traten die Spannungen hinzu, mit denen der Historiker seit eh und je zu ringen hat : der Wunsch, erschöpfend zu sein, dem sich die Notwendigkeit des Auswählens entgegenstellt; das Bestreben, auf die ursprünglichen Quellen zurückzugehen, das gedämpft wird durch das Muss, sich auch auf Werke aus zweiter Hand zu stützen. Ich kann nur hoffen, dass das Ergebnis, wie unvollkommen es auch sein mag, anderen helfen möge, einen kürzeren Weg zu wählen, um die Landschaft als Ganzes von einem höher gelegenen Aussichtspunkt aus zu überblicken. In den acht Jahren, die seit dem Erscheinen des ersten Bandes vergangen sind, habe ich keinen Anlass gesehen, meine Grundthese zu ändern. Vielmehr war ich geradezu überrascht von der Entdeckung, in welchem Ausmaß die Unterscheidung zwischen den beiden Typen der Demokratie, der liberalen und der, die wir als totalitär bezeichnet haben, um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts zu einem Gemeinplatz bei Schriftstellern und Journalisten aller Richtungen der öffentlichen Meinung geworden war. Außerdem fand ich bei den Anhängern dessen, was manche schon damals „Volksdemokratie“ nannten, nicht weniger als bei den Liberalen und natürlich den Konterrevolutionären die klare Einsicht, dass deren Ursprünge auf Rousseau und die Jakobiner zurückgingen, während sie den anderen Typ der Demokratie auf die Vereinigten Staaten von Amerika und die Girondisten zurückführten. Die Frage nach der „Verantwortlichkeit“ Rousseaus für die Taten oder Missetaten jener, die sich auf seinen Namen stützten, ist ebenso relevant oder irrelevant wie etwa

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Vorwort

die Frage nach der „Verantwortlichkeit“ des Evangeliums für die Austreibung der Hugenotten durch Ludwig XIV. Die Kontinuität einer Tradition ist wichtiger als die Authentizität der Auslegung des Kanons. Und die totalitär - demokratische Beschaffenheit oder zum Mindesten Potentialität des Rousseau - jakobinischen Kanons springt in die Augen. Wenn ich in diesem Band den Begriff „politischer Messianismus“ dem der „totalitären Demokratie“ vorziehe, so geschieht dies, um eine Bezeichnung zu vermeiden, die zu eng ist, um sämtliche Flüsse und Flüsschen, in die sich die revolutionäre Flut zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts ergoss, zu erfassen. Gleichzeitig bleibe ich bei meiner Überzeugung, dass sie alle von derselben Triebkraft bewegt wurden und – trotz der Verschiedenheit ihrer Wege – alle zum selben Ziel gelangt wären. Denn sie alle teilten die totalitär - demokratische Erwartung einer vorbestimmten, allumfassenden und exklusiven Ordnung der Dinge, von der sie annahmen, dass sie das bessere Selbst, das wahre Interesse, den echten Willen und die wirkliche Freiheit des Menschen repräsentiert. Ein Glaube, wie der Gegenstand dieser Untersuchung es ist, unterliegt schwerlich den Kriterien logischen Zusammenhangs. Was er erfordert, ist vielmehr eine lebendige Darstellung mit all der flammenden Rhetorik, der bizarren Bildhaftigkeit und den seltsamen Ideenassoziationen, die für die Propheten des neunzehnten Jahrhunderts so charakteristisch sind. Ich schöpfte viele Anregungen aus Unterhaltungen mit meinen Freunden Professor R. H. Tawney und Sir Lewis Namier, Mr. E. H. Carr, Sir Isaiah Berlin und Mr. T. E. Utley. Meine Kollegen an der Hebräischen Universität, Dr. J. Arieli und Dr. Y. Garber - Talmon, sowie meine Londoner Freunde Mr. Peter Goldman, Mr. George Lichtheim, Dr. I. Neustadt und Dr. R. Miliband lasen Teile des Manuskripts und äußerten wertvolle Kritik und Ratschläge ... Ich kann kaum Worte finden, um Frau E. B. Kleinhaus für die ergebene Assistenz zu danken, die sie mir während der meisten Zeit der Vorbereitung und des Schreibens uneingeschränkt leistete; last, not least, für die Anfertigung des Registers. Hebräische Universität Jerusalem

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J. L. T.

Inhalt Einleitung

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1. Politischer Messianismus 2. Die Religion der Revolution und die totalitäre Demokratie 3. Kollektivismus des neunzehnten Jahrhunderts und Individualismus des achtzehnten Jahrhunderts – Gegensatz oder Identität? 4. Der Bruch in der historischen Kontinuität und die zum Abgott gemachte Geschichte 5. Sicherheit und Freiheit – Sozialismus, Liberalismus, Demokratie 6. Universalismus und Nationalismus 7. Schein und Wirklichkeit

Erster Teil Sozialistischer Messianismus I. Von der Technokratie zur Theokratie A. Totalitäre Technokratie : Saint - Simon 1. Porträt eines Messias (Saint - Simon ) 2. Das Streben nach Totalität (Soziologie, Historizismus, Dialektik) 3. Das kommende Industriesystem 4. Freiheit und zielbewusste Integration 5. Der Durchbruch 6. Eigentum und Armut – Sozialismus 7. Die neue Glaubenslehre : „Nouveau Christianisme“ B. Die Dialektik des romantischen Totalitarismus : Die saint - simonistische Schule 1. Die apostolische Gemeinschaft 2. Das jüdische Element 3. Dogma und Erleben 4. Vom wissenschaftlichen Beweis zur Intuition des Führers 5. Eine sozialistische Doktrin 6. Aufforderung zum Handeln – 1830 7. Mater dolorosa

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Inhalt

II. Individuum und Organisation in Utopien (Fourier, Considérant) 1. Individuelle Neurose und soziales Übel 2. Warum die Zivilisation fehlschlug 3. Kritik des Kapitalismus 4. Die Elemente der Harmonie 5. Die Dialektik der Geschichte 6. Die Phalange III. Die totalitär - demokratische kommunistische Revolution : französischer Kommunismus vor 1848 1. Klassenkampf 2. Zwei Formen der Demokratie – die bürgerliche und die Volksdemokratie 3. Historische Zwangsläufigkeit und Revolution 4. Revolutionäre Diktatur IV. Vom naturrechtlichen Individualismus (Fichte) zum messianischen Marxismus vor 1848 A. Fichte : Vom Anarchismus zur totalitären Demokratie und zum Organizismus 1. Der Gesetzgeber der Natur 2. Das Reich der Zwecke 3. Der Gesellschaftsvertrag 4. Der totalitäre „Geschlossene Handelsstaat“ 5. Der Allgemeine Wille 6. Rationalist und Romantiker 7. Der Eine und die Vielen 8. Organisation und Organismus 9. Vom Weltbürgertum zum Nationalismus B. Marx : Von der totalitären Demokratie zum messianischen Kommunismus 1. Hegel’sche Dilemmata 2. Von der Selbstentfremdung zur Wiederaneignung des menschlichen Wesens (a) Staat und Demokratie (b) Religion (c) Apokalypse (d) Eigentum und Proletariat 3. Die große Prophezeiung 4. Wissenschaft oder Utopie?

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Inhalt

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Zweiter Teil Messianischer Nationalismus

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I. Von der Unfehlbarkeit des Papstes zur Unfehlbarkeit des Volkes (Lamennais) 1. Theokratie – das einzig freie Regime 2. Die Ketzerei der gallikanischen Restauration 3. Die gottgewollte Revolution 4. Vox Dei vox populi – direkte Demokratie II. Gesta Dei per Francos (Michelet) 1. Der Plan der Universalgeschichte und die Nation 2. Freiheit oder Fatalismus 3. Freiheit oder Gnade 4. Die Geschichte des Volkes – Frankreich 5. Die Französische Revolution und revolutionäre Dialektik III. Das Volk als Messias (Mazzini, Mickiewicz) 1. Gott und das Volk 2. Orakel der Geschichte 3. Ein einziger Glaube 4. Die Stunde der Völker 5. Roma terza und der Christus der Nationen (Polen) 6. Revolutionäre Verbrüderung der Nationen 7. Persönlicher oder kollektiver Messias? IV. Universaler Glaube und nationale Einzigartigkeit 1. Utopischer Sozialismus und die Nation 2. Marx und der Nationalismus 3. Soziale Akzente der nationalistischen Propheten 4. Die Nation als Träger der Erlösung 5. Die Nationalisten und der Sozialismus 6. Nationale Einzigartigkeit und internationaler Klassenkampf

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Dritter Teil Konfrontierungen

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I. Die konterrevolutionäre Rechte – de Maistre, de Bonald, die deutschen Romantiker 1. Revolution und menschliche Ohnmacht 2. Die Domäne des Mordes und der Sünde 3. Moi et nous 4. „So will ich es“

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Inhalt

5. Anlehnung und Verankerung II. Der Liberalismus als Gegenspieler des demokratischen und sozialistischen Messianismus 1. Der Wert der Freiheit (Humboldt) 2. Frühe liberale Kritik an der totalitären Demokratie (Benjamin Constant) 3. Gegen revolutionären Messianismus – Kritik von Guizot und Tocqueville 4. Demokratie und soziale Revolution ( Guizot) 5. Liberalismus, Demokratie, Sozialismus und konservativer Liberalismus (Tocqueville) 6. Demokratischer Liberalismus (Lamartine) 7. Demokratischer Radikalismus (Ledru - Rollin) III. Eine Konfrontierung

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Vierter Teil Ideen und Wirklichkeit

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I. Eine industrielle Revolution? A. Strukturelle Krise und katastrophenartiger Wandel? 1. Demographische Veränderungen 2. Die Bedingungen einer industriellen Revolution 3. Die Landwirtschaft 4. Industrielles Wachstum B. Anatomie des Elends 1. Löhne 2. Verarmung C. Erwachendes Bewusstsein 1. Unterdrückende Gesetzgebung der liberalen Machthaber 2. Arbeiterunruhen 3. Die Würde des Arbeiters D. Gesinnung und Realität II. Die latente Revolution A. Das Recht zur Revolution 1. Das Problem der Legitimität 2. Soziologische Faktoren B. Aufruhr und Komplott 1. Aufruhr und Unterdrückung 2. Verschwörung unter der Restauration 3. Die Geheimbünde zu Beginn der Julimonarchie

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Inhalt

C. Die Radikalisierung der Untergrundbewegung 1. Die soziale Frage 2. Auf dem Weg zu totalitärem Kommunismus 3. Der Kampf um die Parole „Recht auf Arbeit“

Fünfter Teil 1848: Feuerprobe und Zusammenbruch

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I. Vom Aufruhr zur Revolution 1. Ein geplantes oder zufälliges Ereignis? 2. Ein Bankett und ungewollte Verwicklungen 3. Revolutionäre Initiative und katalytische Revolutionshandlung 4. Absicht und Zufall 5. Gewalt als revolutionäre Legitimität II. Die missglückte Revolution – eine Karikatur der Großen Revolution 1. Nichts ist so trügerisch wie der Erfolg 2. Die lähmende Wirkung des Revolutionsmythos 3. Totalitäre Demokratie und allgemeines Wahlrecht 4. Die misslungenen „journées“ III. Die verhinderte soziale Revolution 1. Zweideutige Haltungen 2. Starre Wirklichkeit 3. Ein Sklavenaufstand IV. Der Fehlschlag der internationalen Revolution 1. Die internationale Revolution und der Blitzableiter 2. „Das Blut der Franzosen gehört Frankreich“ 3. Darwinistischer Nationalismus und universale Revolution

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Epilog

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I. Die Bonapartistische Diktatur 1. Eine Karikatur des politischen Messianismus 2. Demokratischer Selbstmord und diktatorische Gewalttätigkeit II. Nationalistische und liberale Reorientierung 1. Die Auflösung der universalen Bündnisse von Völkern und Königen

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Inhalt

2. Das Zurückweichen des Gespenstes der Revolution und der Fortschritt des nationalen Liberalismus III. Marxistische Reorientierung 1. Der Plan für eine proletarische Revolution und Diktatur 2. Globale Revolutionsstrategie und Nationalismus

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Schlussfolgerungen

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Anhang

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Literaturverzeichnis Personenverzeichnis

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Einleitung 1. Politischer Messianismus Die vorliegende Untersuchung befasst sich mit der Erwartung einer allgemeinen Erneuerung, die die Menschen und Bewegungen in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts beseelte.1 Weder vorher noch nachher hat eine Epoche eine derart üppige Blüte utopischer Pläne erlebt, die für das Problem des sozialen Übels eine in sich geschlossene, vollständige und endgültige Lösung bieten wollten. Niemals sind kühnere Versuche unternommen worden, um zu beweisen, dass die Geschichte einem logischen Plan folgt und einem endgültigen Ziel zustrebt. Selten ist mit größerer Ausdauer versucht worden, historische Zwangsläufigkeit und menschliche Freiheit miteinander in Einklang zu bringen und die Forderung nach revolutionärer Neuerung auf deterministische Entwicklungsgesetze zu gründen. Das Dilemma von Masse und Individuum, von Gemeinschaftsorganisation und Spontaneität des Menschen, die Widersprüche zwischen Klassenkampf und nationaler Einheit, zwischen der Einzigartigkeit einer nationalen Tradition und der Verbrüderung der Völker – sie alle sollten in der herannahenden Stunde der Erfüllung ihre Lösung finden. Diese Erwartungen erschöpften sich keineswegs in Theorien und Lehren. Große Gruppen von Menschen, und unter ihnen manche der edelsten Geister ihrer Zeit, bereiteten sich eifrig auf den Tag der Erfüllung vor, während andere, Regierungen und herrschende Klassen, ihre gesamten Kräfte mobilisierten, um ihn abzuwehren. Die Enttäuschung der Erwartungsvollen und das Aufatmen der Besorgten nach der Feuerprobe von 1848 hatten einen entscheidenden Einfluss auf das europäische Denken und wirkten bildend auf die politische Praxis in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts ein. Schon der Rationalismus des achtzehnten Jahrhunderts hatte die Hoffnung her vorgerufen, die Vernunft sei im Begriff, die Stelle der Tradition und des

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Werke, die Berührungspunkte mit der vorliegenden Untersuchung haben : Arendt, The Origins of Totalitarianism; Aron, L’Opium des intellectuels; Berlin, Historical Inevitability; ders., Two Concepts of Liberty; Bowle, Politics and Opinion; Brinton, The Anatomy of Revolution; Buber, Paths in Utopia; Camus, L’Homme révolté; Cohn, The Pursuit of the Millennium; Griewank, Der neuzeitliche Revolutionsbegriff; Hayek, The Counter - Revolution of Science; Mannheim, Ideology and Utopia; Michel, L’Idée de l’État; Popper, The Open Society; Ramm, Die großen Sozialisten als Rechts - und Sozialphilosophen, Band 1; Schieder, Das Problem der Revolution im 19. Jahrhundert; Shklar, After Utopia.

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Einleitung

Dahintreibens einzunehmen und zum bestimmenden Faktor in der Geschichte zu werden. Die beiden Revolutionen, die französische und die industrielle – die beide einen scharfen Bruch in der historischen Kontinuität bedeuteten und gänzlich neue Prinzipien und eine neue Wirklichkeit einzuleiten schienen –, verbreiteten in ihrem Zusammentreffen das Gefühl einer allumfassenden strukturellen, fast apokalyptischen Krise. Die Folge war der Glaube an die Notwendigkeit, ja Zwangsläufigkeit einer nah bevorstehenden Endlösung. Gleichzeitig beflügelte die romantische Geistesverfassung, Begleiterin oder Sprössling der großen Umwälzungen, die Phantasie des Menschen und führte zu dem dramatischen Schwung und den großartigen Eingebungen, dank derer er durch den Wust ungeordneten Einzelgeschehens vorstoßen und träges Beharren über winden konnte. Das Ziel dieses Buches ist es, einige der repräsentativeren Richtungen im Messianismus der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts zu untersuchen, und zwar so weit wie möglich durch Konfrontierung mit den sozialen Realitäten des Tages einerseits und den rivalisierenden politischen Tendenzen der Epoche andererseits. In dieser Gegenüberstellung, die auch in der Analyse des Ausbruchs der messianischen Ideologie im Jahre 1848 weitergeführt wird, soll der politische Messianismus in seiner vollen Bedeutung als historische Kraft herausgearbeitet werden. Es ist beabsichtigt, diese Untersuchung auf drei Ebenen durchzuführen. Menschen, die in ihrer Zeit und an ihrem Platz ver wurzelt waren, dachten nach und handelten. Trotz ihrer leidenschaftlichen Versuche, ihre Zeit auf einen Plan in der Weltgeschichte zu beziehen, und trotz ihres intensiv auf die Zukunft gerichteten Blicks waren die Anhänger der totalen Revolution doch Teil einer gegenwärtigen historischen Wirklichkeit und deren Determinierungen und Begrenzungen unter worfen. Die zweite Ebene ist die der historischen Perspektive. Die Hochflut des politischen Messianismus wird in dieser Untersuchung als der zweite Akt in dem umfassenderen Drama von der Entfaltung der Geschichte der messianischen totalitären Demokratie seit dem achtzehnten Jahrhundert bis auf den heutigen Tag angesehen. Klima und Ideologie der Epoche waren eine Nachwirkung der Französischen Revolution, stark gefärbt durch die Eindrücke der industriellen Revolution; doch sie bildeten auch den Schoß, aus dem sich bald die Geisteshaltung und das Ideengut herausbildeten, die die bolschewistische Revolution formten und von ihr zur Herrschaft gebracht wurden. An dritter Stelle steht die Frage der Morphologie, über die der nachdenkliche Historiker unmöglich hinwegsehen kann, wenngleich ihm bewusst ist, dass alles, was unter dieser Überschrift gesagt wird, kaum mehr als ein versuchsweiser Vorschlag sein kann. Woher die immer währende Hoffnung auf ein Millenium ? Warum nimmt sie in einer Epoche derartige Ausmaße an und ruht

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Die Religion der Revolution

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in einer anderen ? Was hat den politischen Messianismus in neuester Zeit zu einem so lebenskräftigen und fortdauernden Faktor gemacht, zum Rivalen der empirischen liberalen Demokratie einerseits und der autoritären Systeme der Rechten andererseits ? Warum wird er irgendwie immer wieder aus einer Vision der Erlösung zu einem Fallstrick und einem Joch ? Wir wollen Ideen und Realitäten einander gegenüberstellen. Was kann uns diese Untersuchung über die Beziehung zwischen ihnen lehren ? Was ist Ursache und was Folge ? Die Revolution ist der Schlüsselbegriff zu unserem Forschen. Was erweist sich als stärker : die Macht der Gewohnheit oder die Sucht nach Neuerung; die Kraft der Tradition oder der Drang nach Veränderung; die Herrschaft der Materie oder bewusstes Entscheiden des Menschen; Geschehenlassen oder Planung ? Dieses Buch ist keine Ideengeschichte. Es hat ein Ideenklima, eine Geisteshaltung, man kann sagen, einen Glauben zum Gegenstand. Ihm liegt die Überzeugung zugrunde, dass der Glaube ein identifizierbarer Faktor ist in der Formung der menschlichen Triebe, Einstellungen und Taten. Wie groß der Einfluss äußerer Umstände auch sein mag – ein Glaube ist mehr als die Summe unserer Reaktionen auf Gegenwartssituationen und mehr als ein Gemisch von Rationalisierungen unmittelbarer Interessen. Er war bereits da, als diese entstanden, und er mag sie überleben, wenn auch durch sie wahrscheinlich irgendwie umgestaltet. Die Investiturkriege im Mittelalter, die Reformation im sechzehnten Jahrhundert, der angelsächsische Puritanismus waren natürlich das Ergebnis konkreter Zeitumstände. Hätten jedoch diese Umstände auch ohne jenen allumfassenden Glauben, dessen erste Grundsätze viele Jahrhunderte früher in einem gewissen Buch niedergelegt worden waren, zu demselben Ergebnis geführt ?

2. Die Religion der Revolution und die totalitäre Demokratie Der Akzent mag sich verschieben : Manche mochten sich in erster Linie dessen bewusst sein, dass die Französische Revolution fortdauerte; andere mochten den von der industriellen Revolution aufgeworfenen Problemen ausschließliche Bedeutung beimessen; für viele mochten die Menschenrechte gleichbedeutend geworden sein mit den Ansprüchen der Arbeiter und soziale Harmonie sich mit Gemeinschaftseigentum an den Produktionsmitteln in einer klassenlosen Gesellschaft decken. Sie alle wurden angefeuert von dem intensiven Bewusstsein, in einer im Vormarsch begriffenen Revolution zu leben. Ob sie nun daran glaubten, dass revolutionäre Gewaltmaßnahmen geeignete Mittel zu einem plötzlichen Durchbruch seien und daher Geheimbünde bil-

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Einleitung

deten und Putsch und Aufstand einfädelten; ob sie diese Methoden als nutzlos ver warfen und ihr ganzes Vertrauen in gegenseitige Hilfe und allmähliche Unterminierung des bestehenden Systems setzten; oder ob sie erwarteten, dass die Gesetze der Geschichte und der Wirtschaft den Kräften der Zukunft die reife Frucht in den Schoß fallen lassen würden – alle die verschiedenen Gruppen können als zum gemeinsamen Lager der Revolution gehörig angesehen werden. Zwischen den zahllosen Gruppen, Gesellschaften, Schulen und Cliquen war – wie zu zeigen sein wird – ein fortwährendes Kommen und Gehen, Anschließen und Austreten, Annähern und Entfremden, Debattieren und Konfrontieren. Es bezeugt in dieser Hinsicht eine zu enge Einstellung, den allgemeinen Begriff der „revolutionären Bewegung“ auf diejenigen Elemente zu beschränken, die die Theorie der revolutionären Gewaltanwendung direkt und herausfordernd predigten und Verschwörung und Putsch praktizierten. Murren und Zähneknirschen waren keineswegs die Hauptsache. Der entscheidende gemeinsame Nenner war, um es noch einmal zu sagen, die Hoffnung und Vorbereitung auf einen unvermeidlichen, vorausbestimmten und totalen Wandel der Gesellschaftsordnung. So paradox es klingen mag, so waren doch manche unter den Wortführern von Verschwörung und gewaltsamem Aufstand in gewissem Sinne gemäßigter als die sozialistischen Theoretiker, die Gewaltanwendung ablehnten und sogar politische Aktion ver warfen. Jene vertraten das überlieferte Recht, sich gegen Unterdrückung zu wehren und Tyrannen gewaltsam zu beseitigen. Sie dachten kaum an mehr als an die Rechtfertigung des Aufstands gegen tyrannische Freiheitsbeschränkungen – wie etwa das System der Heiligen Allianz, Wahlzensus, Zensur und Verbot politischer Betätigung. Im Gegensatz zu den unklaren Vorstellungen der rein politischen Verschwörer über das, was nach dem Sturz des Despotismus geschehen sollte, hatten die friedlicheren sozialistischen Schulen eine völlig in sich geschlossene Vision eines totalen Wandels. Tatsächlich tendierten die beiden Richtungen dazu, sich irgendwo in der Mitte zu treffen. Wenige unter den politischen revolutionären Gruppen blieben von dem sozialen Evangelium der Reform unberührt; und wenn der gewaltsame und blutige Durchbruch erst einmal erfolgt war, hüteten sich die Utopisten, ihn zu ver werfen, sondern schlossen sich sofort an und begrüßten die Schicksalsstunde als Aufforderung und langer wartete Gelegenheit, mit dem großen Werk des totalen Wiederaufbaus zu beginnen. Die Religion der Revolution umfasste eine ungeheure Vielfalt von Interessen, Hoffnungen, Tendenzen und Erwartungen, die vom Nationalismus bis zum Kommunismus, von evangelischer Armut bis zu industrieller Technokratie reichten. Ihnen allen war klar, dass sie eine internationale Bruderschaft darstellten. Dass bis zu der schicksalhaften Konfrontierung von 1848 solche gro-

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Die Religion der Revolution

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ßen Unterschiede zwischen ihnen bestehen konnten, war erstens darauf zurückzuführen, dass es den gemeinsamen Feind des „alten Europa“ gab, und zweitens darauf, dass jene internationale Bruderschaft, im Gegensatz zu dem Stand der Dinge ein Jahrhundert später, niemals von einem einzigen Hauptquartier am Regierungssitz einer Großmacht geleitet wurde oder sich einem solchen zur Gefolgschaft verpflichtet fühlte. Das alte Europa glaubte oder gab vor zu glauben, es gäbe eine internationale Untergrundverschwörung mit einem zentralen Sitz und Zweigstellen überall. Es gab indessen nur eine internationale Bruderschaft mit einigen, meist unwirksamen Versuchen zur Schaffung internationaler Netzwerke. Die Religion der Revolution war von dem Glauben an die permanente Revolution beseelt. Sie lag, wie bereits angedeutet, auf einer anderen Ebene als die sehr alten Doktrinen von dem Recht, sich gegen Unterdrückung zu wehren oder sich gegen Tyrannen aufzulehnen und sie zu töten. Die permanente Revolution war von der Französischen Revolution eingeleitet worden. Sie war, in mar xistischer Terminologie, nicht eine Auf lehnung gegen ein besonderes Unrecht, sondern eine Erhebung gegen das Unrecht schlechthin, und sie würde zu keinem Abschluss gelangen, solang dieses Grundübel nicht ausgerottet und an seine Stelle harmonische Gerechtigkeit getreten sei. Das Recht und die Pflicht, den Zustand der Revolte und mit ihm den des Bürgerkriegs aufrechtzuerhalten, liegen nicht in einer ausdrücklichen Ermächtigung, sondern in der eigentlichen Natur der Dinge, im Bestehen des Unrechts. In dieser Beziehung schuldeten die Priester der Religion der Revolution dem bestehenden System von Gesetzen und Institutionen keine Gefolgschaft, oder zum mindesten fühlten sie sich nicht dazugehörig. Als Treuhänder der Welt von morgen und als Vollstrecker des wirklichen – obwohl nicht ausdrücklich geäußerten – Willens des Volkes oder der Geschichte schuldeten sie einer anderen absoluten Autorität Gehorsam, nämlich der der Geschichte. Das System, das durch die Revolution auf den Thron erhoben werden sollte, war niemals und von niemandem als etwas geplant worden, das auf dem empirischen Weg erreicht würde. Es wurde als eine apriorische Konzeption betrachtet, die in den Herzen der Menschen implizite enthalten und ein unerbittliches Resultat der ehernen Gesetze der Geschichte sei. Die von der industriellen Revolution, der unmittelbaren Gefährtin der Französischen Revolution, heraufbeschworene Krise wurde nicht als eine zeitweilige Gleichgewichtsstörung einer Gesellschaft empfunden, die plötzlich von einer Anzahl schwerer und beispielloser Probleme über wältigt worden war und daher Zeit und Erfahrung brauchte, um sich anzupassen. Die industrielle Revolution wurde zur apokalyptischen Krise erklärt, zu einer Kraft, die unbarmherzig einer unvermeidlichen Lösung zutreibt.

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Einleitung

Die Lösung wurde in vielen Köpfen einem heftigen Revolutionsspasmus gleichgesetzt, der eine allgemeine Katharsis herbeiführen sollte; hiernach würden die Menschen in die endgültige Ordnung der Dinge spontan und liebevoll einwilligen.

3. Kollektivismus des neunzehnten Jahrhunderts und Individualismus des achtzehnten Jahrhunderts – Gegensatz oder Identität ? Mit welcher Begründung kann man die These vertreten, dass die in der Hochflut des politischen Messianismus in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts entstandenen Bewegungen trotz der großen Unterschiede, die es zwischen ihnen gab, nicht nur eine Ganzheit bildeten, sondern gewissermaßen verschiedene Aspekte waren von der einen fortlaufenden und identischen Tendenz in der Richtung der totalitären Demokratie, die in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts entstand und noch heute an Wucht zu gewinnen scheint ? Einige Elemente, die die Flut verstärken, erscheinen auf den ersten Blick als völlige Negierung und Ver werfung vieler der grundlegenden Glaubenssätze der rationalistischen und jakobinisch - babeufschen Periode. Wir definierten das Wesen der totalitären demokratischen Schule in Band 1 dieser Serie als „basiert auf der Annahme einer alleinigen und ausschließlichen Wahrheit in der Politik“, die „eine vorausbestimmte harmonische und vollkommene Ordnung der Dinge postuliert, zu der die Menschen unwiderstehlich getrieben und zwangsläufig gelangen werden“.2 Das Paradox der totalitären Demokratie sahen wir in ihrer beharrlichen Behauptung, menschliche Freiheit sei mit einem Modell der Gesellschaftsordnung, das alle anderen Möglichkeiten verneint, vereinbar, denn „sie stellt das von ihr proklamierte Ziel niemals als eine absolute Idee hin, die außerhalb des Menschen und a priori besteht, sondern betrachtet es als immanent in der Vernunft und im Willen des Menschen, als die Gewähr für die volle Erfüllung seiner wahren Interessen, als Garantie seiner Freiheit“.3 Die Schwierigkeit, die Freiheit mit der Idee eines absoluten Ziels zu verbinden, wurde dadurch gelöst, „dass man die Menschen nicht so betrachtete, wie sie tatsächlich sind, sondern so, wie sie sein sollten und unter den ‚richtigen‘ Bedingungen sein würden“.4 Diese Bedingungen würden von der erleuchteten Avantgarde herbeigeführt werden; sie kenne den wirklichen Willen des Volkes und seine letzten Wünsche, für deren Formulierung das Volk selbst noch unvorbereitet sei. Die Avantgarde als der Treuhän2 3 4

Talmon, Die Geschichte der totalitären Demokratie, Band 1, S. 36 f. Ebd., S. 38. Ebd.

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Kollektivismus des neunzehnten Jahrhunderts

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der der Welt von morgen sei völlig berechtigt, mit Zwangsmitteln und Einschüchterung zu arbeiten und über die scheinbaren Wünsche des Volkes hinwegzusehen, „ohne dass dabei eine wirkliche Verletzung des demokratischen Prinzips erfolgt“, denn ganz gewiss würde unter den „richtigen“ Bedingungen „der Konflikt zwischen freiem Antrieb und Pflicht verschwinden und damit auch die Notwendigkeit des Zwangs“.5 Wir folgerten : „Die totalitäre Demokratie entwickelte sich früh zu einer Ideologie von Zwang und Zentralisation, und zwar nicht etwa, weil sie die Werte des liberalen Individualismus im achtzehnten Jahrhundert ver warf, sondern weil sie ihnen gegenüber ursprünglich eine zu perfektionistische Haltung einnahm“, da sie den Menschen zum absoluten Bezugspunkt gemacht hatte.6 Der Mensch sollte nicht nur von aller Beschränkung befreit werden : Alle bestehenden Traditionen, alle überkommenen Institutionen und alle gesellschaftlichen Abmachungen sollten über Bord geworfen und neu geschaffen werden mit dem alleinigen Ziel, dem Menschen die Gesamtheit seiner Rechte und Freiheiten zu sichern, ihn von aller Abhängigkeit und den Folgen der Ungleichheit zu befreien. Bevor das achtzehnte Jahrhundert zu Ende ging, hatte extremer Individualismus sich in sein Gegenteil ver wandelt, in ein kollektivistisches System des Zwanges, in die Idee der provisorischen revolutionären Diktatur, deren Aufgabe in der Ausschaltung aller auf die Erhaltung gesellschaftlicher Mannigfaltigkeit und Ungleichheit gerichteten Einflüsse bestand. Geeignete Reform und Erziehungsmaßnahmen sollten vollkommene Einmütigkeit und freiwillige Anpassung jedes Einzelnen an das Kollektivsystem bewerkstelligen. Die Idee, dass es eine unaufhaltsame Vor wärtsbewegung zu einer vorbestimmten Lösung hin gebe; die Überzeugung, dass die erleuchtete Avantgarde bei deren Ver wirklichung eine entscheidende Rolle spiele; die Erwartung, dass der Mensch sich spontan mit der endgültigen Ordnung der Dinge identifizieren werde, bis jeder Konflikt aufhört – das sind die Postulate, die der politische Messianismus der romantischen Phase von seinen jakobinisch - babeufschen Vorläufern vollinhaltlich übernommen hat. Jedoch gab es sehr wichtige Unterschiede zwischen den beiden Phasen, und es erhebt sich die Frage, ob diese Divergenzen uns zwingen, zum mindesten einige der Gedankenschulen in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts als unabhängige Phänomene anzusehen, oder ob sie uns gestatten, die Unterschiede im Wesentlichen als Variationen zu dem einen Thema zu betrachten – dem der Religion der Revolution. Bei allen scheinbaren Divergenzen geht es um die Frage des Individualismus. Die verschiedenen messianischen Richtungen in der ersten Hälfte des 5 6

Ebd. Ebd., S. 347.

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Einleitung

neunzehnten Jahrhunderts waren geeint in der Bejahung des Assoziationsideals und in der Verurteilung des Individualismus des vorangegangenen Jahrhunderts. Besteht ein echter Widerspruch zwischen den beiden Auffassungen ? Die Rationalisten und Jakobiner hatten eine atomistische Anschauung vom Menschen und der Gesellschaft. Der einzige wirkliche Unterschied zwischen Menschen war für sie der zwischen Erleuchteten und Nichterleuchteten. Die Erleuchtung könne und werde eines Tages zum Allgemeinbesitz werden. Der Mensch besitze ewige und unveräußerliche Rechte. Zu ihrer Sicherung haben die Menschen einen Gesellschaftsvertrag geschlossen. Logischer weise können die Menschen gewissermaßen Gesellschaft und Staatswesen zusammenfügen und auch wieder auseinandernehmen, und jeder Mensch könne dem politischen Verband beitreten oder ihn verlassen. Das sei eine für alle Zeiten gültige Ordnung. Die wirkliche Revolution bedeute den Sturz der alten, durch äußere Interessen und irrige Ansichten aufgezwungenen Ordnung und den Abschluss eines Gesellschaftsvertrags, der auf den ewigen Prinzipien von Vernunft, Gerechtigkeit und Menschenrechten beruht. Somit erschien die Gesellschaft als ein Werk der Menschen, und nicht der Mensch als Produkt der Gesellschaft. Der Mensch könne natürlich durch schlechte Institutionen und Erziehung verdorben werden, und das sei geschehen. Doch können diese bedauerlichen Wirkungen ein für allemal durch gesunde Ideen und gute gesellschaftliche Abmachungen quasi fortgespült werden. Das Zeitalter der Vernunft hatte kein Verständnis für den organischen Charakter einer Gesellschaft und einer Epoche mit ihren verschiedenen ineinandergreifenden und miteinander verschmelzenden Aspekten. Scharf definierte und grundsätzlich gleiche Individuen gehen aus freien Stücken und wohl wissend, was sie tun, vertragliche Abmachungen miteinander ein. Diese Form des Individualismus war nur natürlich für eine vorindustrielle Gesellschaft in einem Zeitalter, das derart begeistert war von der Entdeckung der Vernunft, dass es darüber die Geschichte völlig vergaß. Man entferne nur die Hindernisse – Grundherren und Geistlichkeit – und schaffe die schlechten Gesetze ab; und die gesellschaftliche Harmonie der natürlichen Ordnung in einer Gesellschaft mit einfachen Vertragsbeziehungen werde die sofortige Folge sein. In der jakobinischen Vorstellung existierten nur Einzelpersonen – Handwerker, Kleinpächter, Ladenbesitzer –, alle gleich und wirtschaftlich unabhängig und alle tugendsam denselben Allgemeinen Willen wollend. Die kommunistische Babeuf - Schule sah das Wesentliche der Freiheit bereits in gleicher Verteilung der Güter und Dienstleistungen und in der Anwendung öffentlicher Gewalt zur Sicherung einer geistigen Konformität als Bedingung für materielle Gleichheit. Doch sogar der Bürger der Republik der Gleichen wurde noch als unabhängiger Erzeuger betrachtet, der sein Erzeugnis an die nationale

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Kollektivismus des neunzehnten Jahrhunderts

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Warenzentrale ablieferte, von der aus staatliche Beamte allen gleiche Anteile zuweisen sollten. Die Französische Revolution und die Napoleonischen Kriege, und mehr noch die industrielle Revolution, brachten den Menschen die Bedeutung der kollektiven Kräfte und die Realität höchst komplexer Beziehungen zum Bewusstsein. Eine weitgehende Neuformulierung der messianischen Ideologie wurde unvermeidlich. Früher schien der Kampf des Menschen darauf gerichtet, seine Unabhängigkeit den historischen Kräften und der Tradition abzuringen und seine Freiheit von den starr festgelegten kollektiven Institutionen wie Kirche, Stand und Korporation zu gewinnen; kurz, er kämpfte gegen Geschichte und Körperschaften. Der Einfluss der neuen Erfahrung bestand nicht in einem Verzicht auf das letzte Ziel der Sicherung von Mitteln des Selbstausdrucks für das Individuum, sondern in der Entstehung der Idee, echte Selbstver wirklichung des Individuums sei nur durch seine Eingliederung in ein festgefügtes Kollektiv möglich. Das bedeutete Verdammung des Individualismus, soweit er isolationistisch war, zur Loslösung von der Gemeinschaft und damit zu einer Vergeudung von Kräften, zum Unglücklich - und Unerfülltsein des Einzelnen drängte. Andererseits wurde es im Interesse des Individuums unerlässlich, äußerste Kohäsion des Kollektivs zu sichern. Die Würdigung der kollektiven Kräfte führte naturgemäß zu stärkerer Beachtung der historischen Faktoren. Der gemeinschaftliche Einsatz sei nicht nur eine Sache des hic et nunc, sondern erfordere ein ausdauerndes Streben, das jede neue Generation von dem Punkt an weiterführe, an dem die vorangegangene aufhörte. Und daher wurde die Vernunft aus einer die Geschichte leugnenden Kraft uminterpretiert in eine Kraft, die im Laufe der Geschichte allmählich zur Entfaltung gelangt. Die Geschichte wurde aus einem Feind zum Verbündeten, zu etwas, das es eher zu erfüllen als zu über winden galt. Der Ablauf der Zeit wurde aufgefasst als ein stetiger Fortschritt zu höherer Integration hin. Da individuelle Selbstver wirklichung nunmehr in sozialer Bindung und Harmonie verankert war, erschien die Geschichte als befreiende Kraft. Wenn der Mensch von dem durch das Gefühl des Konflikts mit seiner Umgebung her vorgerufenen Unbehagen befreit sei und gelernt haben würde, die äußere Realität als sein eigenes erweitertes Sein zu empfinden, dann wäre er wahrhaft frei und so mächtig ! Freiheit bedeutet frei sein von Zwang. Sie verstärkt zu empfinden ist Macht. Dieses Problem der Freiheit und Spontaneität des Menschen gegenüber Massenorganisation, organischen Wesenheiten und der Komplexität der industriellen Beziehungen ist tatsächlich das Hauptproblem der Epoche der Hoch-

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Einleitung

flut des politischen Messianismus; ein Thema, das viel tieferschürfend und in breiterem Maßstab behandelt wird als in früheren Zeiten. Die Annahme, der individuelle Selbstausdruck würde umso freier und vollkommener sein, je gebundener die Kollektivordnung, leitete sich nicht von dem Begriff des Menschen, wie er tatsächlich ist, her; sondern von der Vorstellung, wie er sein sollte und sicherlich werden würde; gegebenenfalls sollte man ihn dazu bringen, so zu werden. Die Nichtanpassung des Rebellen oder Widerspenstigen sei nicht als Argument gegen den Anspruch des Systems auf Verkörperung der Harmonie zu werten, sondern als Beweis für die verderbte Natur des sich nicht anpassenden Individuums. In einer höchst komplexen Gesellschaft würde sich dies als ernster erweisen als in einer verhältnismäßig einfachen vorindustriellen Zeit. Ebenso wie die Rationalisten des achtzehnten Jahrhunderts bauen die messianischen Bekenntnisse auf dem Fels auf, dass der Mensch im Grunde gut sei. Manche unter ihnen setzen ihre ganze Hoffnung auf verbesserte Erzeugungs - und Verteilungsmethoden, andere auf psychologische und technische Kunstgriffe oder auf die befreiende und läuternde Wirkung des Revolutionsspasmus; in jedem Falle können jedoch ihre Rezepte als solche nur unter der Bedingung wirksam werden, dass unter den richtigen Umständen der Mensch sich als kooperativ und sozial erweist und nicht als unlenksam und widerspenstig. Das ist der eine wichtige Punkt, der die messianischen Kollektivisten trotz ihrer historizistischen Einstellung enger mit der ursprünglichen individualistischen Richtung der totalitären Demokratie verbindet als mit jenen pessimistisch deterministischen Schulen der Rechten, mit denen sie die hohe Wertung der unpersönlichen Kräfte teilen. Ihr Versuch, menschliche Spontaneität mit einer Heilsordnung in Einklang zu bringen, führt sie ebenso wie ihre Vorläufer zu totalitären Schlussfolgerungen, und zwar nicht etwa, weil sie nicht an den Menschen glauben, sondern wegen eines übermäßigen Glaubens an ihn, der einhergeht mit der Angst, der alte Adam würde sich wieder durchsetzen.

4. Der Bruch in der historischen Kontinuität und die zum Abgott gemachte Geschichte Noch in einem anderen Zusammenhang machten sich totalitäre Möglichkeiten auffallend bemerkbar. Da waren zunächst der beispiellose Bruch in der historischen Kontinuität und der Wirbel von kaleidoskopartigen Veränderungen seit 1789. Die instinktive Sicherheit, die überlegungslose Gewohnheit, die naive Akzeptierung der Dinge, weil sie da sind und immer da gewesen zu sein schienen – diese Kräfte der sozialen Bindung und Stützen des individuellen Selbstvertrauens waren

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Der Bruch in der historischen Kontinuität

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verlorengegangen. Die Auf lösung fester Beziehungen und überlieferter Realitäten rief ein Gefühl von nicht wieder gutzumachender Haltlosigkeit her vor und weckte eine Sehnsucht nach unfehlbaren Daseinsordnungen. Gleichzeitig erzeugte die rasche Aufeinanderfolge von verschiedenen und widerspruchsvollen politischen Systemen den Glauben, es sei möglich, durch bewusste Planung völlig neue Welten zu schaffen. Was sollte angesichts einer so schrecklichen Unbeständigkeit die Sicherheit gewähren, dass das utopische System, das dieser Prophet ersonnen, oder die Heilsbotschaft, die jene Bewegung verkündete, die wahrhaft endgültige Ordnung der Dinge sei ? Die Geschichte, anders gesagt der Kanon historischer Zwangsläufigkeit. Paradoxer weise führte der Zusammenbruch der konkreten geschichtlichen Kontinuität, verkörpert in organisierter Religion, nationaler Überlieferung, örtlichem Brauch und altver wurzelten sozialen Hierarchien, dazu, dass die Geschichte zum Abgott gemacht wurde. Die neue Geschichtsauffassung war die Auffassung von einer Geschichte, die über der greifbaren und nicht zu logischen Geschichte einzelner Länder und Jahrhunderte stand und weit über sie hinausging. Sie war, trotz der ver wirrenden Mannigfaltigkeit und scheinbaren Sinnlosigkeit an jeder einzelnen Wendung, eine alles umfassende und in sich geschlossene Einheit. Die eine und unteilbare Geschichte war ein Gedankengefüge, ein Rahmenwerk notwendiger und sinnvoller Verbindungen; eine Ganzheit, die einem vorbestimmten Ziel zustrebt. Nationen und Klassen führen innerhalb dieses Systems der Universalgeschichte nicht einfach ihr Leben, ohne zu wissen, woher und wohin. Sie stellen Ideen dar und verkörpern Kräfte. Konkrete Ereignisse entstehen nicht plötzlich. Sie versinnbildlichen den Ablauf langer Prozesse. Menschen leben nicht einfach in den Tag hinein. Sie sind Vertreter von Völkern, Klassen, Zeitaltern. Führer werden nicht von Ehrgeiz und undeutlichen Zielen getrieben. Sie sind Werkzeuge des Schicksals. Sieg oder Niederlage sind Richtsprüche der Geschichte : Bestätigung eines höheren Rechts oder Beweis der Erschöpfung. Despotischer Zwang kann als äußerste Mobilisierung aller Kräfte dargestellt und das zugefügte Leid als notwendiger Preis und als Geburtswehen einer neuen Welt bezeichnet werden. Bei dieser Auffassung der Geschichte ist die Politik nicht mehr eine Angelegenheit pragmatischer Entscheidungen und praktischer Abmachungen des Augenblicks, die von den zufällig mit der notwendigen Autorität betrauten Menschen getroffen werden. Führer sind nicht nur berufen, die Maßnahmen zu treffen, die sie in ihrer Klugheit oder Unklugheit für notwendig halten. Sie sind dazu ausersehen, ihre Weisungen aus dem Buch der Zeiten zu empfangen, das Diktat der Geschichte zu entziffern, die Bedeutsamkeit jedes einzel-

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Einleitung

nen Ereignisses, jedes Problems und jeder Entscheidung im Kontext der Strategie des Fortschritts abzuschätzen. Diese Art pantheistischer Geschichte ist in der Idee von der Einheit des Lebens verankert. Als objektiver Prozess wird der Übergang von einer Phase zur anderen dann ver wirklicht, wenn das neue, siegreiche Daseinsprinzip die Herrschaft über alle Lebenssphären gewinnt und sie durchdringt. Zu seinem Erfolg erfordert dieser Übergang, der als ein gigantisches Unterfangen von Menschen anzusehen ist, den harmonischen Einsatz aller Mittel und Fähigkeiten. Denjenigen, denen das Wirken der Geschichte und die Notwendigkeit ihres Fortschritts am lebhaftesten bewusst wird, fällt die Aufgabe zu, eine solche vollständige Mobilisierung von Mitteln und eine wirksame Harmonisierung der menschlichen und gesellschaftlichen Kräfte – kurz, ein homogenes System zu sichern. Das Wesentliche an der Religion der Geschichte, die dem politischen Messianismus zugrunde liegt, ist der tiefe Glaube daran, dass die Abfolge der Zeiten gleichbedeutend sei mit einer ständig wachsenden Integration und Bindung menschlicher und gesellschaftlicher Inhalte, die ihrerseits ein immer größeres Maß an individuellem Selbstausdruck durch Aktivierung aller Kräfte des Menschen in einem harmonischen Ganzen ermöglichen. In dieser Hinsicht betrachteten alle messianischen Richtungen das Christentum, manchmal die Religion als solche, immer aber die historische Form des Christentums, als den Erzfeind. Sie proklamierten sogar sich selbst triumphierend als Ersatz dafür. Ihre eigene Heilsbotschaft war gänzlich unvereinbar mit der grundlegenden christlichen Doktrin von der Erbsünde, mit ihrer Vision der Geschichte als der Geschichte des Sündenfalls und ihrer Leugnung der Macht des Menschen, durch eigene Anstrengung zur Erlösung zu gelangen. Die Dichotomien von Theorie und Praxis, Seele und Körper, Geist und Materie, Himmel und Erde, Kirche und Staat, die alle von diesem ersten Grundsatz herrührten, wurden hinfällig vor der majestätischen Einheit des Lebens und der Geschichte sowie der Vision einer gerechten und harmonischen Gesellschaft am Ende der Tage.

5. Sicherheit und Freiheit – Sozialismus, Liberalismus, Demokratie Der Messianismus des achtzehnten Jahrhunderts begann als eine ethisch - politische Auf lehnung der Bourgeoisie gegen die Überlieferung, die mit Feudalismus, Kirche und königlichem Absolutismus gleichgesetzt wurde. Allmählich entwickelte er sich in eine soziale Erhebung der Besitzlosen gegen die Besitzenden aller Art. Schon zu Beginn der Französischen Revolution wurde der Anspruch auf Menschenwürde und Glück unverblümt ins Soziale und Wirtschaftliche umgedeutet.

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Sicherheit und Freiheit

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Man mag einwenden, die durch die industrielle Revolution geschaffenen sozialen Probleme und Übelstände genügten, um die Verstärkung des sozialen Protests und Aufstands zu erklären. Das ist eine oberflächliche Ansicht. Soziale Ungerechtigkeit und Unterdrückung hatte es schon vorher in Fülle gegeben. Auch waren soziale Verärgerung und Rebellion nicht auf eine Seite beschränkt, und soziale Befürchtungen fehlten nicht auf der anderen. Der Unterschied in der Intensität, der die ersten Jahrzehnte des neunzehnten Jahrhunderts kennzeichnete, war sehr wichtig, aber an sich nicht entscheidend für den neuen Charakter, den der soziale Kampf damals annahm. In früheren Zeiten lehnten sich unterdrückte Bauern und in Wut geratene Arbeiter voller Verzweif lung auf, machten nieder, brandschatzten und zerstörten, was sie nur konnten. Ein derartiger Volksaufstand wurde früher oder später durch ebenso wütende Unterdrückung niedergeschlagen. Die Rebellen sanken erschöpft und machtlos in Stumpfheit zurück, und die Sieger zogen die Schraube der Unterdrückung und Ausbeutung noch etwas fester an. Dann war lange Zeit Ruhe. Das Element der Revolution fehlte in der alten Art des sozialen Kampfes. Die Unterdrückten mochten ein vages Gefühl der Benachteiligung unterhalten und gehörig murren, doch sie hatten kein Programm, keine Vision einer alternativen Ordnung der Dinge. Ihre Aufstände waren somit elementare Ausbrüche. Sie wurden von keiner bestimmten Idee angefeuert und von keinem Plan geleitet. Die offizielle Gesellschaft fürchtete sich zwar sehr vor Aufstand und Massaker, doch hatte sie kaum Angst vor einer Revolution. Viele der verschiedenartigen Anordnungen, einschließlich der Gesetze zum Schutz der Armen und der äußerst unliberalen Einrichtungen des Ancien Régime, sind aus der endemischen Angst vor Volksaufstand und - ausschreitungen zu erklären. Sie waren gewiss nicht Teile eines Plans zur Verhinderung einer Revolution. Die Besitzenden konnten sich die Möglichkeit eines wirklichen und völligen Wandels der Gesellschaft gar nicht vorstellen. Die Französische Revolution bedeutet in dieser Beziehung einen Wendepunkt. Ein Alternativprogramm war geboren. Der stumme wilde Groll ver wandelte sich in eine Erkenntnis von Rechten und in eine messianische Hoffnung, die Befürchtung des Aufstands in eine nicht mehr nachlassende Angst vor einer totalen Umwälzung. Jeder Aufstand erschien als ein Wahrzeichen für das Herannahen des Jüngsten Gerichts. Die Religion der Revolution wurde nicht von der industriellen Revolution allein, nicht einmal vor wiegend von ihr erzeugt. Wäre nicht die wichtige Veränderung durch die Französische Revolution erfolgt, so hätten der Groll und der Protest seitens der Opfer der industriellen Revolution sich wahrscheinlich weiter in der alten Weise ausgedrückt und wären nicht zu jenen Systemen der revolutionären Sozialdoktrin und des Alternativprogramms verflochten worden. Andererseits darf hier auf die in dem vorangegangenen Band gemachte

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Einleitung

Bemerkung darüber ver wiesen werden, wie es den messianischen Propheten und Führern der totalitären Demokratie noch unmittelbar vor und während der Französischen Revolution an jedem Vorgefühl für das Herannahen der industriellen Revolution fehlte.7 Die Idee wurde also zuerst geboren. Das zusätzliche, um nicht zu sagen objektiv entscheidende, Argument folgte nach. In der Französischen Revolution tauchte die folgenschwere Frage auf, die eine Kluft zwischen zwei Lagern zu schaffen bestimmt war : Ist Freiheit ohne Gleichheit möglich und Glück ohne Sicherheit real ? Diejenigen, die wir summarisch die Liberalen nennen, schworen auf Freiheit; die anderen, die alle – ungeachtet der Unterschiede zwischen ihnen – als Sozialisten bezeichnet werden können, verlangten, dass der Staat den Armen Sicherheit gewähre. Die Liberalen, die den Despotismus des Königs und die Tyrannei der Jakobiner von 1793 im Sinn hatten, fürchteten sich vor der Ausweitung der Staatsgewalt und waren gebannt von der Theorie der „checks and balances“, die der amerikanischen Verfassung zugrunde lag. Die Sozialisten schrien formale Freiheit ohne soziale Sicherheit als Lug und Trug nieder. Die Liberalen, die in ihren Ansichten durch den Glauben an die ehernen Wirtschaftsgesetze gestützt wurden – wir brauchen hier nicht zu entscheiden, ob echte Überzeugung oder eine Rationalisierung von Interessen vorlag –, sahen in dem Aufstand der Massen den Ansturm der Barbarei. Die Unwissenden, Groben und Wilden würden die Dämme der Zivilisation stürmen und ihr wohlausgewogenes Gefüge, das auf den natürlichen Eigentumsbeziehungen und dem dazugehörenden Verantwortungsgefühl beruhte, zerstören. Der Staat und Versorger, durch sie dann allmächtig geworden, würde jede individuelle Spontaneität töten. Die Antwort der Sozialisten war, der Liberalismus der Bourgeoisie monopolisiere nicht nur allen Reichtum, sondern nehme ganz offen und zynisch für sich das Recht in Anspruch, die Staatsgewalt zur Verteidigung der bestehenden Eigentumsbeziehungen und zur Niederhaltung der Massen durch einschränkende Gesetze und nackte Gewalt zu gebrauchen. Die Armen seien daher von der Pflicht befreit, die Gesetze zu befolgen, denn diese Gesetze seien nicht das Ergebnis eines Gesellschaftsvertrags, sondern die Waffen einer Verschwörung. Das Proletariat, das durch Gewalt in Unter werfung und ohne Stimme in den Angelegenheiten des Landes gehalten werde, habe das Recht, sich der Gewalt mit Gewalt zu widersetzen. Das Eigentumsproblem war, wie nie zuvor, in all seiner Krassheit bloßgelegt. Das war ein entscheidender Augenblick in der europäischen Geschichte. Alle Ungleichheiten, mit Ausnahme der des Eigentums, waren verschwunden. Den Besitzlosen war dieses eine Privileg bedeutsamer als alle Privilegien der Geburt, die abgeschafft worden waren. Denn es war das wirksamste von allen. 7

Vgl. ebd., S. 114–122, bes. S. 115 f.

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Universalismus und Nationalismus

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Mit ihm war alle Macht, die die alten Privilegien gewährt hatten, mehr als wiederhergestellt. Ohne es waren alle formalen Rechte und Freiheiten sowie alle Zeichen der Gleichheit wertlos. Den Besitzenden wurde das Eigentum zum Kennzeichen menschlicher Freiheit und Unabhängigkeit, zur Garantie sozialer Beständigkeit, zum Bollwerk der Zivilisation, zum Anreiz für persönliche Anstrengung; es gewährte ihnen die Berechtigung zu einem Anteil an der Ausübung der Souveränität. In der bürgerlichen Gesellschaft, die die Vorrechte des Adels und der Kirche abgeschafft hatte, erlangte das Eigentum eine überragende und alles durchdringende Bedeutung. Früher war es nur ein Privileg und eine Ungleichheit unter vielen gewesen und stand offiziell nicht an entscheidender Stelle. Jetzt war es, wie Tocqueville her vorhob, allein übrig geblieben in einer Gesellschaft, die stolz darauf war, durch die Zerstörung aller Vorrechte und Ungleichheiten entstanden zu sein. Außerdem war es ver wundbarer geworden, und zu seiner Verteidigung sah sich das liberale Regime gezwungen, sehr illiberale Maßnahmen zu ergreifen, wie die Beschränkung des Wahlrechts und der Versammlungs - und Pressefreiheit, während einige fortschrittlichere liberale Demokraten, die zuerst eine fast sozialistische Sprache geführt hatten, die Arbeiter auf den Barrikaden niederschossen. „Incendiaire qui s’est fait pompier“,8 sagte man von Lamartine. Die Abschaffung oder zum mindesten weitgehende Reform der Institution des Privateigentums war für die meisten messianischen Schulen die Bedingung oder bedeutete ihnen gar die Ver wirklichung jener gerechten und harmonischen Ordnung, die die Geschichte im Begriffe war, auf den Thron zu erheben. Sie waren unerschütterlich davon überzeugt, dass die durch die technische Revolution herbeigeführten objektiven Entwicklungen unweigerlich zur Vergesellschaftung der Produktionsmittel führen würden. Objektive Notwendigkeit und die Postulate der Gerechtigkeit würden somit zusammenfallen und die Geschichte ans Ziel bringen.

6. Universalismus und Nationalismus Ebenso wie der Rationalismus des achtzehnten Jahrhunderts erhob der Messianismus des neunzehnten Jahrhunderts den Anspruch, ein universales Evangelium darzustellen, das sich auf die Vision von der Einheit der Geschichte und der Einheit der Menschheit gründete. Die messianischen Theorien pro8

A. d. Hg. : Diese Aussage findet sich beispielsweise in einem Brief Honoré de Balzacs an Madame Hanska vom 18. März 1848 : „On dit aussi de Lamartine que d’incendiaire il s’est fait pompier.“ Balzac, Lettres à Madame Hanska, Band 4, S. 259.

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Einleitung

phezeiten die unmittelbar bevorstehende Erfüllung der Geschichte in der Ver wirklichung universaler Einheit. Die nationalistischen Ideologien in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts waren weit davon entfernt zu verkünden, jede Nation folge ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit, und Rivalität zwischen einzelnen Nationen sei unvermeidlich. Sie waren im Gegenteil eifrigst bestrebt, eine Rechtfertigung zu finden für nationale Besonderheiten, das heißt für die Rolle, die einer bestimmten Nation innerhalb der Universalgeschichte zufiel. Die glorreiche Erfüllung der Mission einer jeden Nation bestehe im Kampf für die Verbrüderung aller Nationen, die sich zum gleichen Glauben bekannten. Dies zeigt – und es wurde wiederholt von den Autoren selbst festgestellt –, dass die nationalistischen Propheten ebenso wie die sozialistischen Theoretiker vor allem von dem Drang getrieben wurden, einen neuen Glauben anstelle des ver worfenen Christentums zu begründen. In beiden Fällen scheinen dem Träger der Erneuerung, der proletarischen Gesellschaft oder der Nation, Inhalte beigemessen zu werden, die weit über sozialökonomische Organisation oder ein rechtlich - politisches Gefüge hinausgehen. Im Gegensatz zu der alten von der Erbsünde besessenen Ansicht sollte das neue Medium der Selbstver wirklichung des Menschen ganz ausdrücklich Kirche und Staat vereinen, geistige und materielle Aspekte zu einer unteilbaren Einheit verschmelzen. In gewissem Sinn machte die Vergottung der Nation die Apotheose der Universalgeschichte und die Einheit der Menschheit zur Notwendigkeit. Sonst wäre die Einzigartigkeit der einzelnen Nation eine Missbildung, die keinen Anspruch auf absolute Bedeutung erheben könnte. Die auferstandenen Nationen, Italiener, Polen oder Deutsche, würden einen Prozess der Läuterung und Neugeburt erleben. Wenn sie vom Joch fremder Eindringlinge oder königlicher Despoten befreit wären, würden ihre natürlichen guten Anlagen sich durchsetzen und die böse Brut der Tyrannei, Selbstsucht und Klassenunterdrückung ersticken. Die freien Völker würden das Ideal einer Nation als einer Familie von Brüdern ver wirklichen. Darüber hinaus würde sich dieses Solidaritätsgefühl innerhalb einer Nation auch auf die Mitglieder anderer Nationen ausdehnen. Denn schließlich seien Krieg und Rivalität unter den Nationen von der Habgier und Schlechtigkeit der Mächte der Vergangenheit geschürt worden; den natürlichen Zustand unter Völkern jedoch bilden Eintracht und gegenseitige Sympathie. Befreite Nationalkirchen würden sich zu einer Universalkirche verbinden. Messianische Nationalisten bedienten sich oft der gleichen Argumente und desselben Wortschatzes wie die Sozialisten, nur dass sie das Wort Volk an die Stelle von Proletariat setzten. Die beiden Schulen debattierten in freundschaftlicher Weise miteinander. Noch betrachten sie sich als Verbündete gegen einen

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Schein und Wirklichkeit

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gemeinsamen Feind und im Kampf um die Erreichung eines ähnlichen Ziels. Die Nationalisten glaubten an soziale Gerechtigkeit und die Sozialisten konnten für die um ihre Freiheit und Einigkeit kämpfenden unterdrückten Nationen nichts als Sympathie empfinden. Sie konnten sich die Möglichkeit eines Konflikts zwischen einem universalen revolutionären Glauben und nationaler Besonderheit nicht vorstellen. 1848 sollte zum ersten Mal den wesentlichen Widerspruch zwischen den beiden aufdecken.

7. Schein und Wirklichkeit Die messianischen Ideologien der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts können von dem Historiker, der an Ideen kein Interesse und daher gewiss keine Geduld für sie hat, abgetan werden als ein Kapitel von verschrobenen Größenwahnsinnigen und Halbverrückten, von langatmigen und äußerst schwer lesbaren Abhandlungen oder obskuren kurzlebigen Zeitungen, bizarren Experimenten von utopischen Gemeinschaftssiedlungen, Verschwörungen und gelegentlichen Aufständen. Seltsam nehmen sich gegenüber diesem äußersten Versagen, was sofortige greifbare Ergebnisse angeht, die intensive Feierlichkeit und das großartige Gebaren der Propheten einerseits aus und die dumpfe Angst andererseits, die diese Theorien und Prophezeiungen den begüterten Klassen einflößten. In gewissem Sinne handelt diese Untersuchung von einem Gespenst, wenn wir den gelungenen Ausdruck des Kommunistischen Manifests gebrauchen wollen. Zu beachten ist auch der Kontrast zwischen dem verhältnismäßig wenig industrialisierten Frankreich, einem Land im Wesentlichen von kleinen Grundbesitzern, das wallt vor revolutionärer Gärung, und dem hochkapitalistischen England, das so leicht mit der einzigen wirklichen proletarischen Massenbewegung, dem Chartismus, fertig wurde. Das ist ein Vergleich, der für unser Thema ebenso relevant ist wie die Frage, was Revolutionen verursacht – wirtschaftliche Not oder Ideologien. Was war „realer“ in dem Frankreich der Epoche vor 1848 : das pays légal von einer Viertelmillion Wählern, die Verhandlungen der Abgeordnetenkammer, das Wirken der französischen Diplomatie – oder das utopisch - revolutionäre Ferment, die Untergrundverschwörungen und Attentate, oder schließlich die formlose Masse stummer Bauern, die große Mehrheit der Nation, die „nicht sprechen, aber Frankreich sind“ ?9 Was ist Wirklichkeit und was Schein ? Das Bestehende, oder das erst Werdende, das hinter den Kulissen wartet ? Ein Tocqueville und ein Carlyle waren entsetzt darüber, wie die „offizielle“ Gesell-

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Einleitung

schaft in beiden Königreichen geflissentlich übersah, was ihnen als die „wirkliche Wirklichkeit“ ihrer Zeit erschien – das Rumoren von sozialer Unzufriedenheit und Revolution. Das „offizielle“ Getriebe erschien ihnen höchst „unwirklich“. Die Feuerproben des Chartismus in England und von 1848 auf dem Kontinent verrieten, wie schwach letzten Endes die Kräfte der messianischen Revolution waren, verglichen mit denen der historischen Kontinuität. Die „offizielle“ Gesellschaft in neuer Prägung behauptete den Schauplatz und verstärkte ihre Macht : Sie hatte sich erweitert, war biegsamer und weiser geworden, weil sie aus einigen rauen Schlägen gelernt hatte, und dabei wuchs ihr Selbstvertrauen und sie wurde darum großmütiger. Sollen wir daher sagen, das neunzehnte Jahrhundert sei nicht, wie oft angenommen wird, ein Jahrhundert der Revolution gewesen, sondern eine Lektion in der Zähmung der Revolution durch die konser vativen Kräfte, die nach einem vorübergehenden Verlust der Herrschaft ihre Anpassungsfähigkeit wiedergewannen ? Demnach wäre 1848 eine Demonstration der äußersten Sinnlosigkeit des messianischen Gespensts und all der eschatologischen Hoffnungen und apokalyptischen Ängste, die es einflößte, gewesen, oder allerhöchstens ein zufälliger Katalysator, der das Tempo der Sozialreform, die auch ohne ihn gekommen wäre, beschleunigte. Doch aus der Perspektive des zwanzigsten Jahrhunderts gesehen, hört der politische Messianismus auf, ein Phantom und ein Wahn zu sein, und beginnt wieder, als eine wesentliche Realität zu erscheinen, als ein bedeutsamer Akt in einem ungeheuren und unermesslich wirklichen Drama.

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A. d. Hg. : Zitat nicht nachweisbar.

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Ers ter Teil Sozialistischer Messianismus

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Tout sera dit. Le mal expirera, les larmes tariront; plus de fers, plus de deuils, plus d’alarmes; L’affreux gouffre inclément cessera d’être sourd, et bégaiera : qu’entends - je ? Les douleurs finiront dans toute l’ombre: un ange criera : Commencement ! Victor Hugo D’autres siècles avaient déjà vu des esprits puissants et indociles, secouant le joug des opinions reçues et des doctrines autorisées, poursuivre isolément la vérité. Mais un pareil spectacle n’avait été donné que par quelques hommes ou à propos de quelques-unes de connaissances humaines. Ce qui singularise le dix - huitième siècle dans l’histoire, c’est que cette curiosité audacieuse et réformatrice ait été ressentie à la fois par une génération entière, et se soit exercée, en même temps, sur l’objet de presque toutes ses croyances; de telle sorte que, dans le même moment, les principes sur lesquels avaient reposé jusque - là les sciences, les arts, la philosophie, la politique, atteints ensemble par une sorte d’ébranlement universel, ont tous été remués ou détruits. Tocqueville Blickt man über den ganzen Umfang der sozialistischen und kommunistischen Literatur und über die Masse der Arbeit, die sich daran anschließt, und vergleicht man die unendlich geringen Resultate der letzten Zeit mit denen der früheren, so lässt sich kaum verkennen, dass Sozialismus und Kommunismus ihre theoretische Laufbahn erfüllt haben und dass wir schwerlich etwas wahrhaft Neues in dieser Beziehung erwarten dürfen. Lorenz von Stein ( September 1847) Démocratie. C’est le mot souverain, universel. Tous les partis l’invoquent et veulent se l’approprier comme un talisman [...] monarchie démocratique [...] les républicains; [...] les socialistes, les communistes, les montagnards veulent que la République soit une démocratie pure, absolue. C’est pour eux la condition de sa légitimité. Tel est l’empire du mot démocratie que nul gouvernement, nul parti n’ose vivre, et ne croit le pouvoir, sans inscrire ce mot sur son drapeau, et que ceux - là se croient les plus forts qui portent ce drapeau plus haut et plus loin. Guizot

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I. Von der Tech no kra tie zur Theo kra tie A. Totalitäre Technokratie : Saint - Simon 1. Porträt eines Messias ( Saint - Simon ) Graf Henri Claude de Saint - Simon war vielleicht die faszinierendste aller Messias - und Prophetengestalten im neunzehnten Jahrhundert.1 Zwar waren sie alle von apokalyptischem Erleben beseelt, doch empfand keiner es intensiver. „Wir sagen ihnen dies sofort : Die Zeit der halben Maßnahmen ist vorbei; es ist notwendig, in gerader Richtung auf das Gemeinwohl hin zu marschieren; unter den gegenwärtigen Umständen muss die Wahrheit in ihrem vollen Umfang dargelegt werden : die Stunde der Krise ist gekommen. Jener Krise, die in vielen der heiligen Schriften, aus denen das Alte Testament besteht, vorausgesagt wurde. Derselben Krise, auf die sich die Bibelgesellschaften während vieler Jahre emsig vorbereitet haben. Das Bestehen dieser Krise wird jetzt durch die Institution der Heiligen Allianz bewiesen, deren Vereinigung auf den edelsten Prinzipien der Moral und Religion beruht. Es ist diejenige Krise, auf die die Juden gewartet haben, seit sie aus ihrem Land vertrieben und zu Wanderern und Opfern der Verfolgung wurden, ohne je die Hoffnung aufzugeben, dass sie den Tag erleben werden, an dem alle Menschen einander als Brüder behandeln. Diese Krise endlich zielt direkt dahin, eine wirkliche Universalreligion einzuführen und alle Völker dazu zu bringen, eine ihrem Wesen nach friedliche Organisation der Gesellschaft anzunehmen.“2 Obwohl diese glühenden Sätze sich wie ein Echo der Gefühle Babeufs ausnehmen, führt Saint - Simon die Krise nicht ausschließlich auf die Französische Revolution zurück. Er war kein Verteidiger der großen Revolution. „Cette crise effroyable“,3 die durchzumachen allen Nationen beschieden war – die Französische Revolution war nur eines ihrer Symptome oder richtiger ein hef1

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Quellen : Saint - Simon / Enfantin, Œuvres; Saint - Simon ( hg. von Rodrigues ), Œuvres; ders., Œuvres choisies; ders., Selected Writings; Hubbard, Saint - Simon. In diesem Teil ver wendete Schriften über Saint - Simon : Charléty, Histoire du Saint - Simonisme; Cole, History of Socialist Thought, Band 1; Dumas, Psychologie de deux messies positivistes; Durkheim, Le Socialisme; Leroy, Le Socialisme des producteurs; Manuel, The New World; Reybaud, Études sur les réformateurs; Weill, Un Précurseur du socialisme. Professor Manuel gebührt für seine höchst erschöpfende und die neueste Forschung berücksichtigende Untersuchung über das Leben und die Werke des Philosophen der Dank aller am Studium Saint - Simons Interessierten. Saint - Simon, Œuvres choisies, Band 3, S. 305. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 1, S. 51.

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Sozialistischer Messianismus

tiger Paroxysmus, dessen große Bedeutung darin bestand, „die Tendenz zur Vollendung ( perfectionnement ), die sich heute in ganz Europa kundtut, zu bestimmen“4 und zu einer „révolution régénératrice“5 zu lenken. Das Gefühl der Krise wird begleitet von der lebhaften Vorahnung einer unmittelbar bevorstehenden, vorausbestimmten Endlösung, „die keine Macht auf Erden verhindern kann“.6 Die Welt liegt im Kampf mit einer Revolution, doch sie ist auch im Begriff, das Ende der Revolution zu sehen. „Reorganisation“, „Wiederaufbau“, „Wiederherstellung“ sind die Worte, die beharrlich wiederkehren.7 „Meine Herren, ich habe nur eine Leidenschaft : Europa den Frieden zu bringen; nur einen Gedanken : die europäische Gesellschaft zu reorganisieren. Erheben Sie Ihre Herzen zu der Höhe dieses Gefühls. Erheben Sie Ihre Seelen zum Niveau dieses erhabenen Gedankens.“8 Der Mann, der keine Hemmungen hatte, solche Gefühle zu äußern, dessen Lebensdauer die ungewöhnlichen Ereignisse der amerikanischen und französischen Revolutionen, der Napoleonischen Ära und des größeren Teiles der Restaurationsperiode umspannte, hatte niemals und suchte kaum je ernsthaft eine Gelegenheit, seine Erneuerungsideen in die Praxis umzusetzen. Auch machte er zu seinen Lebzeiten auf seine Generation überhaupt keinen Eindruck, auch nicht als Denker. Er blieb praktisch bis ans Ende seiner Tage ein obskurer Schreiber, der hastig zusammengebraute und schlecht geschriebene Prospekte für zukünftige größere Bücher über die Missstände der Gesellschaft herausbrachte, mithin ein ausgemachter Sonderling. Derselbe Mann wurde später von Michelet einer der kühnsten Denker des neunzehnten Jahrhunderts genannt.9 Auch der große Carnot meinte, niemand habe so viele und so neue und mutige Ideen gehabt wie dieser „ungewöhnliche Mann“. Es gibt in diesem reichen Jahrhundert tatsächlich wenige Ideen, die nicht in irgendeiner Form in einem der aus Saint - Simons Intuition sprühenden Geistesblitze ihren Anfang hätten. Am Tag nach seinem Tod wurde er der Prophet, der mystisch verehrte Gründer einer sozial - religiösen Bewegung, die an idealistischer und intellektueller Kühnheit nicht ihresgleichen hatte im

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Ebd., S. 28. Ebd., Band 2, S. 445. Saint - Simon, Œuvres choisies, Band 1, S. 20. Sogar Rodrigues wusste nicht, dass diese Briefe ( A. d. Hg. : gemeint sind die „Lettres d’un habitant de Genève“) von Saint - Simon geschrieben waren. Vgl. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 1, S. 22, Fußnote 1. Vgl. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 40, S. 212 f. Ebd., S. 213. Vgl. auch Saint - Simon, Œuvres choisies, Band 1, S. 60. Michelet, zit. in Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 1, S. 1, Fußnote 1; Hubbard, Saint - Simon, S. 9.

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neunzehnten Jahrhundert und die viele der besten und phantasievollsten Geister Europas anzog und auf verschiedene Weisen beeinflusste.10 Was war das Geheimnis dieses „letzten Edelmannes und ersten Sozialisten“ ?11 Er war der Spross eines der ältesten Geschlechter Frankreichs, das seine Abstammung bis auf Karl den Großen zurückverfolgte.12 Es wird berichtet, er sei als Kind jeden Morgen von einem Diener mit dem Ruf geweckt worden: „Aufstehen, Herr, Sie haben heute große Dinge zu vollbringen.“13 Obzwar ein Feind aller Privilegien der Geburt und ein unermüdlicher Vertreter der Rechte der Begabung, der 1790 seinen Adelstitel aufgab und den Namen Citoyen Bonhomme annahm, war er niemals ganz frei von den Allüren eines Grandseigneurs. Er fühlte sich in seinem Anspruch, ein Napoleon der Wissenschaft und Industrie zu sein, gestärkt durch ein Versprechen, das ihm Karl der Große 1794 in einem Traum im Gefängnis in Luxembourg gegeben hatte, nämlich dass sein Erfolg als Philosoph dem seines berühmten Ahnen in der Kriegs- und Staatskunst gleichkommen würde. Keine Familie seit Anbeginn aller Zeiten konnte sich einer solchen doppelten Leistung rühmen.14 Eher herausfordernd als entschuldigend sagt Saint - Simon mit Blick auf seine schrecklichen Mängel als Schriftsteller : „Ich schreibe, weil ich Neues zu sagen habe; ich werde meine Ideen darstellen, wie sie in meinem Geist geschmiedet wurden; [...]; ich schreibe wie ein Edelmann, ein Abkömmling der Grafen von Vermandois, ein Erbe der Feder des Herzogs von Saint - Simon.“15 Was in dieser Welt an Wertvollem gesagt, getan oder geschrieben wurde, sei das Werk von Edelmännern gewesen.16 Wenn Selbstgenügsamkeit und Unabhängigkeit von äußerer Sanktion, öffentlicher Anerkennung und weltlichem Erfolg, von anerkannter Moralität und Sitte ein Zeichen von Größe sind, dann war Saint - Simon in der Tat ein sehr großer Mann. Wie er seinem inneren Ruf folgt, ohne Scham oder Affektiertheit, frei von List, Intrige und Gefallsucht, erscheint er wie eine Elementargewalt, wie ein Schlafwandler, unglaublich verträumt und doch so völlig und

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Zur Würdigung Saint - Simons durch spätere Autoren vgl. Manuel, The New World, S. 1–6. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 1, S. 2; Hubbard, Saint - Simon, S. 9. Vgl. auch ebd., S. 10. Vgl. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 15, S. 101; Manuel, The New World, S. 9; Durkheim, Le Socialisme, S. 121. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 1, S. 11; Hubbard, Saint - Simon, S. 9; Durkheim, Le Socialisme, S. 121. Vgl. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 15, S. 101; vgl. Manuel, The New World, S. 32 ( Namensänderung ), 40, 376; Hubbard, Saint - Simon, S. 10. Saint - Simon, Œuvres choisies, Band 1, S. 60. Vgl. ebd.

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auf eine romantische Weise wach, offen und empfänglich.17 Schon früh legte er für sich nieder, was für ein Leben er führen wollte : „1. In kraftvollem Alter das originellste und tätigste Leben führen; 2. alle Theorien und alle Praktiken kennenlernen; 3. durch alle Klassen der Gesellschaft gehen, sich selbst in die verschiedensten sozialen Situationen begeben und sogar bisher unbekannte Beziehungen schaffen ( einschließlich Abstieg zu Laster, Per versität und sogar Verrücktheit ‚vie fort exaltée [...] agitée‘ – ein tugendhaftes Unterfangen im Falle derer, die Erfahrung sammeln wollen, um auf diese Weise die Natur und die Quelle von Gut und Böse ergründen zu können, und die nicht nur darauf aus sind, ihren unersättlichen Instinkten zu frönen ); 4. schließlich das Alter benützen, um die Ergebnisse zum Wohle der Menschheit zusammenzufassen.“18 Kaum dem Jünglingsalter entwachsen, ist Saint - Simon schon Oberst in der amerikanischen Revolutionsarmee. Er fühlt sich nicht von der Kriegskunst oder einer militärischen Laufbahn angezogen, doch er sieht klar, dass die amerikanische Revolution einen gewaltigen Einfluss auf die Gestaltung der Dinge in Europa haben werde.19 Sie war ein wichtiges Stadium im Ablauf der Zivilisation und auf dem Weg zu „perfectionnement de la civilisation, [...] l’ordre social“20 und lag somit im Umkreis von Saint - Simons Berufung. Pläne und Entwürfe für Reform und Verbesserung entspringen seinem Kopf wie Kaninchen : ein Plan für einen Panamakanal, ein Projekt eines Kanals von Madrid zum Meer, ein Entwurf für öffentliche Arbeiten in Holland.21 Während der Französischen Revolution bleibt er seltsam untätig.22 Der 9. Thermidor findet ihn, ebenso wie die anderen Väter des Sozialismus, Babeuf und Fourier, im Gefängnis. Saint - Simon widmet die Revolutionsjahre, und insbesondere die Nach - Thermidor - Periode, fieberhafter Spekulation in Böden, die von der Revolutionsregierung verkauft wurden, und häuft ein Vermögen an. Er entzweit sich mit seinem Partner, und es folgen Bankrott und Jahre schrecklicher Armut und Entbehrung.23 Das Leben Saint - Simons bildet eine seltsame Mischung von hartnäckiger Zielstrebigkeit und Opportunismus. In gewissem Sinne dienen seine unbere-

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Vgl. Reybaud, Études sur les réformateurs, Band 1, S. 79. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 1, S. 44 f. Vgl. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 1, S. 11 f.; Band 2, S. 415; Band 18, S. 133, 149; Manuel, The New World, S. 20. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 18, S. 148 f. Vgl. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 1, S. 13 f.; Manuel, The New World, S. 20–23. Vgl. Saint - Simon, Œuvres choisies, Band 2, S. 415. Vgl. Manuel, The New World, S. 27–33.

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chenbaren Schwankungen der Unterstreichung seines einzigen und unverrückbaren Ziels. Er wollte Geld haben, nicht weil er gierig nach Reichtum war, sondern weil er seine idealistischen Pläne fördern und Wissenschaftler und Philosophen bewirten wollte, um von ihnen zu lernen und im Umgang mit ihnen zu beobachten – „l’effet que la culture de la science produit [...] sur leurs passions, sur leur esprit, sur l’ensemble de leur moral“.24 Der Versuch war nicht sehr geglückt. Die Gelehrten aßen viel und sprachen nur wenig, und was sie sagten, war nicht merkenswert. Er trennt sich von seiner Mätresse, weil sie nicht dazu geschaffen ist, seine Gäste gebührend zu bewirten. Er heiratet eine Frau, die er für eine gute Gastgeberin hält, doch nach einem Versuchsjahr endet die Ehe in Trennung. Nach allem, was von Saint - Simon bekannt ist, klingt der Bericht nicht so unglaubhaft, dass er Madame de Staël einen Heiratsantrag gemacht habe mit der Begründung, eine Heirat zwischen dem größten Mann und der bedeutendsten Frau ihrer Zeit würde zwangsläufig eine beispiellose Nachkommenschaft her vorbringen.25 Bankrott, hungrig und von allen verlassen, schämte sich der Retter der Menschheit nicht, um Subskriptionen für seine Broschüren, die keiner lesen wollte, zu bitten, seine Kleider zu versetzen oder sich jahrelang von einem ehemaligen Bedienten aushalten zu lassen. Als alle Geldmittel zu Ende waren, machte er einen Selbstmordversuch.26 „Während der letzten vierzehn Tage habe ich nichts als Brot gegessen und nichts als Wasser getrunken; ich arbeite ohne Heizung und habe meine Kleider verkauft, um Geld zu bekommen, mit dem ich das Abschreiben meiner Arbeiten bezahlen kann. In diesen elenden Zustand hat mich meine Leidenschaft für die Wissenschaft und das öffentliche Wohl getrieben, mein Wunsch, Mittel und Wege zu finden, um dieser furchtbaren Krise, in der sich die ganze europäische Gesellschaft befindet, auf friedliche Weise ein Ende zu setzen. Daher bin ich imstande, ohne zu erröten meine Not zu bekennen und um die notwendige Unterstützung zu bitten, die es mir ermöglicht, meine Arbeit fortzuführen.“27 Erst gegen Ende seines Lebens hatte Saint - Simon das Glück, die Zuneigung und Bewunderung der jungen und reichen jüdischen Finanziers, der Brüder Rodrigues und Pereira, zu gewinnen und mit ihrer Hilfe – Sicherheit und

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Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 1, S. 26; Reybaud, Études sur les réformateurs, Band 1, S. 78. Vgl. auch Manuel, The New World, S. 56; Saint - Simon ( hg. von Rodrigues ), Œuvres, S. XXIII. Vgl. Saint - Simon ( hg. von Rodrigues ), Œuvres, S. XXIII; Manuel, The New World, S. 56; Reybaud, Études sur les réformateurs, Band 1, S. 77 f. Vgl. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 1, S. 104 f. Ebd., S. 51.

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Wohlstand. Saint - Simon hält seine Augen fest auf das eine und allumfassende Ziel gerichtet – „progrès des lumières et l’amélioration du sort de l’humanité“28 – und ist bereit, jede der bestehenden Mächte als Verbündete willkommen zu heißen. Er preist Napoleon in überschwänglichen Worten, die peinlich berühren, als den „wissenschaftlichen Gesetzgeber der Menschheit“.29 Dann ist er begeistert über die Aussicht auf Weltfrieden, den die Heilige Allianz bietet. Er wendet sich an den Bourbonenkönig, um den Übergang zu einem Industriesystem auf diktatorischem Wege herbeizuführen. Dann träumt er von einer Vereinigung der Parlamente als Vorstufe zu einem System syndikalistischer und korporativer Kammern. Er preist die Monarchie und schreibt dann sein wirksamstes Stück Journalistik, in dem er die Wirkung eines plötzlichen Todes der Prinzen des königlichen Hauses und der Spitzen der französischen Gesellschaft vergleicht mit den Folgen eines plötzlichen Verschwindens der französischen Industriekapitäne und führenden Wissenschaftler – ein Artikel, der ihn wieder ins Gefängnis bringt.30 Von außen gesehen, ein Leben äußerster Sinnlosigkeit voll öffentlicher Nichtanerkennung und Verachtung. Doch Saint - Simon selbst empfand es nicht so. Er schreibt 1810 über sich : „Mein Leben [...] erscheint wie eine Serie von Unglücksfällen, und doch ist es kein Misserfolg, denn ich bin bei weitem nicht gefallen, sondern bin ständig im Steigen. [...] Ich habe im Bereich der Entdeckungen wie Ebbe und Flut gewirkt; ich bin oft zurückgeglitten; doch mein Schwung des Aufstiegs hat immer die entgegenstehenden Kräfte über wunden. Im Alter von [...] fünfzig, wenn andere zurückzutreten beginnen, fange ich meine Laufbahn an [...]. Meine moralische Lage ist [...] noch trauriger als meine pekuniären Verhältnisse es sind; jeder Rat, den ich bekomme, ist ein Versuch, mich zu entmutigen. Bei alledem habe ich meinen Spaß und bin glücklich; ich spüre meine Kraft, und dieses Gefühl ist angenehmer als alles, was ich je in meinem Leben erfahren habe. [...] Meine Selbstachtung ist immer in demselben Maß gestiegen, in dem ich meinem guten Rufe schadete.“31 Exaltierte Tollheit, fügt Saint - Simon hinzu, ist unerlässlich zum Vollbringen großer Dinge.32

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Ebd., S. 18. Saint - Simon, Œuvres choisies, Band 1, S. 61 f., 185. Vgl. auch Dumas, Psychologie de deux messies, S. 36 f. Vgl. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 1, S. 83–89; Hubbard, Saint - Simon, S. 221–225. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 1, S. 42 f., 47. Vgl. ebd., S. 37, 43 f.

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2. Das Streben nach Totalität ( Soziologie, Historizismus, Dialektik ) Die Französische Revolution war ein gewaltiges Ereignis, jedoch nicht die Revolution. Sie war nicht einfach missglückt; sie fand niemals statt. Diese Ansicht erklärt, warum das Erlebnis der Revolution auf Saint - Simon wenig Eindruck machte. Er wurde 1790 zum „président de l’assemblée électorale“ seiner Gemeinde gewählt und verzichtete bei dieser Gelegenheit auf sein Adelsprädikat. Abgesehen davon gibt es in seinen Schriften oder in seinem Briefwechsel keine Anzeichen dafür, dass das Ungestüm und die Erschütterungen der Revolution je seine Seele aufrührten. Der Schwur im Ballhaus, die Bastille, „levée en masse“, „la patrie en danger“, „la République une et indivisible“, die ganze Symbolik und Mystik von Revolution und Nationalismus scheinen in ihm keinen Widerhall geweckt zu haben. Keiner der Revolutionshelden fand in ihm einen Bewunderer. Napoleon jedoch entflammte seine Phantasie. Nicht das militärische Genie und der Eroberer, sondern der Demiurgos, der große Baumeister und wissenschaftliche Gesetzgeber der Menschheit : „Der Kaiser wird bald die Welt erobern und ihr Gesetze geben [...]. Wenn der Krieg zu Ende ist, werden die Wissenschaften der einzige Gegenstand seiner Aufmerksamkeit sein. [...] Er wird auf der Basis von Überlegung und Beobachtung allgemeine Prinzipien begründen, die die Menschheit immer leiten werden. [...] Législateur, [...] das bedeutendste Genie, das je aufgetreten ist. [...] Um der Menschheit Gesetze zu geben, war es notwendig, dass er alle Macht in seiner Hand vereinigt.“33 „Der Kaiser ist der wissenschaftliche Führer der Menschheit, so wie er ihr politisches Oberhaupt ist. In der einen Hand hält er den unfehlbaren Kompass und in der anderen das Schwert, das alle Widersacher des Fortschrittes der Erleuchtung ausrottet.“34 Gegenüber diesem konstruktiven Schwung und Gelingen bietet die Revolution ein Schauspiel von Vergeudung, sinnlosem Debattieren und blutigem Chaos, kurzum von schmerzlicher Sterilität : „Und am Ende [...] von zweiunddreißig Jahren sind wir noch immer in voller Revolution, denn die Regierung ist außerstande, sich ohne Bajonette zu rühren, und ich muss noch immer von den Schweizern bewacht werden.“35 Willkür und Irrlehren, die sich beide für die Inkarnation ewiger Vernunft und den Ausdruck des wahren Volkswillens ausgeben, schleuderten das Frankreich der Revolution in einen Wirbelwind der Anarchie, gipfelnd in terroristischer Despotie, wo der Eigenwilligste all die Schwächeren, die selbst gern Tyrannen gewesen wären, unter warf. 33 34 35

Saint - Simon, Œuvres choisies, Band 1, S. 243 f. Ebd., S. 61. Ebd., Band 3, S. 52.

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Schließlich kann es der Menschheit nicht bestimmt sein, in Ruinen zu wohnen; soziale Institutionen sind dazu da, die Menschen zu einen und zu organisieren, und nicht, um niedergerissen zu werden. Der Rationalist in ihm kann das Gefühl nicht loswerden, das Versagen sei auf irgendein schreckliches Versehen und einen Denkfehler zurückzuführen. Es ist dringend notwendig, den Fehler gutzumachen, auf dauernden Fundamenten zu bauen, wenn erst der Schutt der Revolution weggeräumt ist.36 „Das Fehlen von allgemeinen Ideen hat uns ins Verderben gestürzt; wir werden nicht zu einer wirklichen Wiedergeburt gelangen ohne die Hilfe von allgemeinen Ideen; die alten sind verfallen und können nicht wieder verjüngt werden. Wir brauchen neue ( Ideen ).“37 „Ein System, das heißt eine Einstellung, die ihrer Natur nach scharf, absolut und exklusiv ist.“38 Nichts ist in dieser Hinsicht charakteristischer als Saint - Simons Ausdruck der Enttäuschung über England nach seinem Besuch dort : Er sah überhaupt keine Anstrengung, ihr wissenschaftliches Denken zu reorganisieren ( was, wie wir sehen werden, nach Ansicht unseres Philosophen eine Vorstufe und unerlässliche Bedingung für jede politische Rekonstruktion ist ), und er fand dort keine „idée capitale neuve sur le chantier“.39 Es kam ihm gar nicht in den Sinn, dass ein Land, in dem kein Bruch der historischen Kontinuität erfolgt war, es durchaus nicht als notwendig empfand, die leitenden Daseinsprinzipien neu zu umreißen. Saint - Simon fühlt die Notwendigkeit, das menschliche Gemeinwesen, das durch Willkür und vage Vermutungen der Menschen ins Treiben geraten war, in der Kohäsion und Gesetzmäßigkeit der Naturordnung zu verankern. Er hofft nicht nur, ein Maß von Gewissheit über das Leben der Gesellschaft sowie die Beruhigung zu erlangen, dass die Natur den Launen der Menschen Grenzen gesetzt hat. Er versteht besser als irgendein Denker vor ihm, dass es notwendig ist, die Gegenüberstellung von Rechten und das Aufeinanderprallen von Meinungen, die bisher als der Inbegriff des politischen Lebens galten, in Beziehung zu setzen zu Kräften und Prozessen, die weit über das gegenwärtige und unmittelbare Bewusstsein des Menschen hinausreichen – ins Unpersönliche und Geschichtliche. Ein neues und absolut sicheres Prinzip der politischen Legitimität könne aus diesem Streben nach Ganzheit gewonnen werden.

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Vgl. Saint - Simon, Œuvres choisies, Band 2, S. 386. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 18, S. 213; Weill, Un Précurseur du socialisme, S. 151. Weill, Un Précurseur du socialisme, S. 151. Vgl. auch ebd., S. 152. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 1, S. 21. A. d. Hg. : Im französischen Original lautet das Zitat : „Qu’ils n’avaient sur le chantier aucune idée capitale neuve.“ ( Hervorhebung im französischen Original ).

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Da Mensch und Gesellschaft ein Teil der Natur seien und die Natur von einem einzigen Prinzip bestimmt werde, müssten sicherlich auch Mensch und Gesellschaft diesem primären Antrieb unter worfen sein. Der Mensch sei mit einer kleinen Uhr zu vergleichen, die in einem größeren Getriebe, dem Weltall, eingeschlossen ist; von diesem erhalte er seine Bewegung.40 Saint - Simon träumte davon, die determinierenden Gesetze und ihre Abfolge Schritt für Schritt abzuleiten durch allmähliches Hinabsteigen von dem Phänomen des Weltalls zum Sonnensystem, von da zu den Phänomenen der Erde, um dann zum Studium unserer Spezies zu gelangen, die als Abhängigkeit des sublunarischen Phänomens zu betrachten sei; und zum Schluss zu den Gesetzen der gesellschaftlichen Organisation, nachdem er vorher die gegenseitige Abhängigkeit von Anorganischem und Organischem, festen und flüssigen Körpern, Materie und Bewegung rekonstruiert habe.41 Eine neue Enzyklopädie – man fühlt den Einfluss seines Lehrers d’Alembert – sollte dieses ungeheure und vollständige System des Weltalls ausführlich darstellen.42 Sie sollte mit der allgemeinsten grundlegenden Konzeption, die eine apriorische Idee sein müsse, beginnen und dann durch die aposteriorische Methode das Schema mit den speziellsten Gesetzen, die von Überlegung und Beobachtung abgeleitet sind, ausfüllen.43 Eine Zeit lang war Saint - Simon überzeugt, die Schwerkraft sei das alleinige Universalprinzip, das uns in den Stand setzen werde, wenn wir erst den Plan des Weltalls und die Verteilung der Materie zu einem gegebenen Zeitpunkt kennen, mit mathematischer Genauigkeit die zukünftigen fortlaufenden Veränderungen sowohl im Weltall als auch im Leben der Gesellschaft vorauszusagen, da physikalische und geistige Phänomene derselben Natur seien.44 Das ist der Hintergrund für Saint - Simons phantastischen frühen Plan eines europäischen Newton - Rats, der in dem anonym veröffentlichten „Brief eines Genfer Bürgers“ enthalten war. Da bewiesen sei, dass die Volkssouveränität keinen stärkeren Anspruch auf Rechtmäßigkeit habe als das Gottesgnadentum der Könige oder die apostolische Nachfolge und da sie kostspieliger und unzuverlässiger sei als diese, müssten wir anerkennen, dass Legitimität durch Befähigung erworben werde. Es sollten einundzwanzig der größten Geister Europas aus den vier führenden Nationen ( der englischen, französischen, deutschen 40 41 42 43 44

Vgl. Saint - Simon, Œuvres choisies, Band 1, S. 111. Vgl. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 1, S. 49; Le Producteur, Band 3, S. 105; Manuel, The New World, S. 79. Vgl. Saint - Simon, Œuvres choisies, Band 1, S. 147 f.; Professor Manuel findet keinen Anhaltspunkt für d’Alembert, vgl. Manuel, The New World, S. 13. Vgl. Durkheim, Le Socialisme, S. 131. Vgl. Saint - Simon, Œuvres choisies, Band 1, S. 41 f., 165; Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 40, S. 161, 217, 239–241.

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und italienischen ) gewählt werden und den Newton - Rat bilden, die höchste geistige Autorität Europas, unter deren Führung Grundbesitzer ( zu einem späteren Zeitpunkt hätte er Industriekapitäne gesagt ) die weltliche Macht ausüben würden, nachdem sie von „tout le monde“ gewählt worden wären.45 Sobald dieser Plan in die Praxis umgesetzt ist, sobald die Wahlen stattgefunden haben und der Newton - Rat, der in dem gigantischen, zum Andenken an den großen Physiker zu erbauenden Mausoleum tagen wird, die Theorie der „pesanteur universelle“ zum Leitprinzip der Menschheit erklärt hat, „wird der Fluch des Krieges für immer von Europa weichen“.46 Ein europäischer Kreuzzug wird dann die Befreiung anderer Kontinente von der Herrschaft der Unwissenheit und abergläubischen Unterdrückung unternehmen, um die Welt in eine Einheit zusammenzufassen.47 Saint - Simon erkannte bald, dass seine wissenschaftliche Vorbildung nicht ausreichte, um eine wirklich wissenschaftliche Theorie des Weltalls auszuarbeiten. In diesem Zusammenhang erhebt Saint Simon beredte Anklage gegen die Wissenschaftler ( von denen er weder Hilfe noch Ermutigung in seinen Bemühungen erhielt ) – und diese Anklage klingt seltsam aktuell. „Welche Verdienste ermächtigen Sie, in diesem Zeitpunkt den Posten einer wissenschaftlichen Avantgarde einzunehmen ? Die Menschheit befindet sich in den Fängen einer der größten Krisen, die sie seit dem Tage ihres Entstehens erlebt hat. Welche Anstrengungen haben Sie unternommen, dieser Krise ein Ende zu setzen ? [...] Ganz Europa ‚s’égorge‘, was tun Sie, um dies Gemetzel aufzuhalten ? Nichts, sage ich ! Sie sind es, die die Mittel der Zerstörung ver vollkommnet haben; Sie, die ihre Ver wendung leiten; in allen Armeen sieht man Sie an der Spitze der Artillerie; Sie über wachen die Befestigungsanlagen! Was tun Sie, wiederhole ich, um den Frieden wiederherzustellen ? Nichts. Was könnten Sie tun ? Nichts. Die Kenntnis vom Menschen ist das einzige Wissen, das zur Entdeckung der Mittel führen könnte, um die Interessen der Völker miteinander in Einklang zu bringen, und Sie tun nichts, um diese Wissenschaft zu studieren. [...] Verlassen Sie daher die Leitung des ‚atelier scientifique‘, erlauben Sie uns, das Herz zu wärmen, das unter Ihrer Führerschaft erfror, und seine ganze Aufmerksamkeit auf die Bemühungen zu lenken, die durch die Reorganisation der Gesellschaft einen allgemeinen Frieden herbeiführen können.“48 Saint - Simon beschloss, sich auf Probleme der Gesellschaft zu konzentrieren, und wurde so zu einem der Väter der modernen Soziologie. Er bemüht 45 46 47 48

Vgl. Saint - Simon, Œuvres choisies, Band 1, S. 31–38. Vgl. auch ders., Lettres d’un habitant de Genève ( hg. von Péreire ), S. 53–63. Saint - Simon, Œuvres choisies, Band 1, S. 38. Vgl. ebd., S. 38 f., 41. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 1, S. 54 f.; Band 40, S. 39 f.

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sich, über die Konzeption hinauszugehen, für die Politik ein Nexus von Rechten und Meinungen ist und eine Debatte zwischen Menschen, die in vollem Bewusstsein dessen, was sie sind und was sie wollen, beraten. Dabei findet Saint - Simon, nicht unbeeinflusst durch Montesquieu, Gesellschaften seien „corps organisés [...] comme phénomènes physiologiques“.49 Die Gesellschaft ist nicht ein Aggregat, eine Agglomeration von Lebewesen, jedes mit seinen Rechten, Interessen und zufälligen Handlungen; sie ist eine „véritable machine organisée“,50 zu der alle Teile auf verschiedene Weise beitragen. Sie ist ein Organismus, der sich mit der Zeit entwickelt und seine Organe auf dem Wege der Anpassung an verschiedene Situationen geschaffen hat. Von diesem Gesichtspunkt aus ist die vernunftgemäße Einheit der Geschichte die Gesellschaft oder richtiger ein Kulturkreis, und nicht der Staat – eine juristische und kriegerische Institution – oder die Nation mit einem scheinbaren eigenen mystischen Ethos. Saint - Simon ver wirft die alte Methode der Geschichtsschreibung, die die Geschichte „als eine Sammlung von Tatsachen ohne ‚enchaînement‘“ behandelte und infolge des Fehlens einer „Menschheitskonzeption“ die Ereignisse chronologisch und geographisch ordnete.51 Saint - Simon tritt für eine Geschichte ein, die die „série des développements de l’espèce humaine“52 darstellt. Das politische und rechtliche Gefüge einer Gesellschaft ist nicht autonom. Es ist eng verknüpft mit Kräften und Prozessen, die niemand plante und schuf, mit „sozialer Physiologie“.53 Eine geschriebene Verfassung stellt das artikulierte Bewusstsein der Bedeutung von und Beziehung zwischen sozialen Gegebenheiten dar. Sie schafft nicht das soziale System, sie reflektiert es. Ein soziales System wird nicht ersonnen. Es wird als etwas Gegebenes wahrgenommen.54 Die Fachleute in der „positiven Wissenschaft vom Menschen“, soziale Physiologen, diagnostizieren, gleich Ärzten, Krankheiten und sind bemüht, auf Grund ihrer Diagnose eine Prognose zu stellen und eine Therapie vorzuschlagen. Die sozialen Physiologen sind als Einzige in der Lage, „die Ursachen dieses Krieges zu analysieren und die Mittel zu seiner Beendigung aufzudecken, indem sie den Weg weisen, auf dem die Interessen aller miteinander in Ein49 50 51 52 53 54

Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 15, S. 40. Weill, Un Précurseur du socialisme, S. 119. A. d. Hg. : Im französischen Original spricht Weill von „une machine organisée, un veritable individu“. Saint - Simon, Œuvres choisies, Band 2, S. 196; Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 40, S. 246. Vgl. auch Saint - Simon, Doctrine, S. 113 f. Saint - Simon, Doctrine, S. 70. Vgl. auch Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 18, S. 19 ff. Weill, Un Précurseur du socialisme, S. 119. Vgl. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 22, S. 188; Weill, Un Précurseur du socialisme, S. 153.

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klang gebracht werden können [...]; die Ver wirrung der Gedanken aufheben, die zurzeit das Massaker vieler Millionen Menschen verursachen“.55 Bei aller Erkenntnis des Wirkens von objektiven Kräften ist Saint - Simon entschieden ein „intellektualistischer“ Denker, der darauf vertraut, dass der wissenschaftliche Beweis ein genügend mächtiger Führer für die Menschen ist und dass eine gute moralische Erziehung adäquat ist, um moralisches Verhalten und eine Interessenharmonie zu sichern : „Nur Unwissenheit verursacht alle Übel, die Aufstände des Proletariats gegen die bestehende Ordnung“;56 die Unmündigkeit der Wissenschaft von der Politik, „die Unklarheiten der Politik rufen die Störung der sozialen Ordnung her vor“57, „der einzige Damm, den die Besitzenden den Proletariern entgegenstellen können, ist ein System der Moralität.“58 „Philosophen herrschen über die Meinung, und die Meinung regiert die Welt.“59 Obwohl Saint - Simon klar erkennt, dass Ideen auch durch soziale Kräfte und Interessen bedingt werden, hegt er keinen Zweifel am Primat der Ideen. „Es ist unmöglich, eine neue Regierungsform einzuführen, ohne vorher das neue philosophische System niedergelegt zu haben, mit dem es im Einklang sein soll.“60 „Der Philosoph stellt sich auf den Gipfel des menschlichen Denkens, von dem aus er betrachtet, was die Welt ist und was sie werden soll. Er ist nicht nur ein Beobachter, er ist eine handelnde Person; er ist eine handelnde Person ersten Ranges in der Welt des Geistes ( monde moral ), denn seine Ansichten darüber, was aus der Welt werden soll, regeln die menschliche Gesellschaft.“61 Jedes soziale System ist die Anwendung eines philosophischen Systems.62 Religion, Politik, Sittlichkeit, öffentlicher Unterricht sind nichts als die Reflektierung und Anwendung eines Gedankensystems, einer Weltanschauung. Es gibt eine organische Verbindung zwischen Ideen, die ihrerseits durch die Art und Weise, in der Institutionen, Interessen und soziale Kräfte ein System der Gesellschaft bilden, widergespiegelt wird. Die Gesellschaftsordnung ist nichts als „le système de la pensée, considéré sous différentes faces“.63 „Les institu-

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60 61 62 63

Saint - Simon, Œuvres choisies, Band 2, S. 43 f. Weill, Un Précurseur du socialisme, S. 184. Saint - Simon, Œuvres choisies, Band 2, S. 276. Saint - Simon, Œuvres, Band 18, S. 221. Saint - Simon, Œuvres choisies, Band 2, S. 256. A. d. Hg. : Im französischen Original lautet das Zitat : „Vous régnez sur l’opinion, et l’opinion règne sur le monde.“ Vgl. ebd., S. 255 ff. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 19, S. 23. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 40, S. 254. Vgl. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 19, S. 23. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 40, S. 18; Durkheim, Le Socialisme, S. 128.

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tions ne sont que les idées en actes.“64 Dieses System, diese Weltanschauung nennt Saint - Simon oft die Religion eines Zeitalters. Jede Epoche in der Geschichte ist der Ausdruck und die Manifestation eines philosophischen Systems – seiner Weltanschauung, und jedem sozialpolitischen Wandel geht eine Revolution in der Wissenschaft voran. Kopernikus war der Herold der Umwälzung der Reformation; Galilei und Kepler kündeten das Kommen der puritanischen Revolution an; Newtons Gravitationsgesetz und Lockes Lehren von der Natur des Menschen und ihrer Ver vollkommnungsfähigkeit bahnten den Weg für die Französische Revolution. Die Entwicklung von Ideensystemen erfolgt nach einer gewissen Dialektik. Sie werden nicht erfunden, sie entfalten sich und werden entdeckt und formuliert.65 Wenn nun Entwicklung und Wandel ein Gesetz der Geschichte sind und ein philosophisches und soziales System quasi nur ein Akt der Selbstanpassung, so würde daraus folgen, dass das Kriterium der absoluten und ewigen Wahrheit zu eliminieren sei, um der Auffassung Platz zu machen, dass wahr (und gerecht ) bedeutet : wahr unter diesen Umständen, in dem gegebenen Zusammenhang. Oder sollten wir im Geiste Hegels sagen : Wahrheit ist Geschichte, die allmähliche Entfaltung des Systems, bis die vollste Artikulation erreicht ist ? Man kann Saint - Simon nicht von dem Vor wurf beträchtlicher Inkonsequenz in diesem Punkt freisprechen. Bei einer Gelegenheit wendet er gegen Montesquieus Relativismus ein, es könne nur eine Regierungsform geben, da es nur eine wahre Methode des Denkens gebe, obwohl er sich beeilt zuzugestehen, dass diese universale Form entsprechend den Gebräuchen und der Zeit abgeändert werden müsse.66 Er fragt sich, „s’il n’y a point une forme de gouvernement bonne par la seule nature, fondée sur des principes sûrs, absolus, universels, indépendants des temps et des lieux“.67 Denn wenn auch „die menschliche Geisteshaltung den Veränderungen der Zeit unterliegt, die Natur der Dinge ändert sich nie“.68 Doch die wirkliche Antwort auf dieses Problem findet sich in Saint - Simons Dialektik.

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Durkheim, Le Socialisme, S. 129. Vgl. auch Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 19, S. 39. Vgl. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 1, S. 31; Band 20, S. 219 f.; Saint - Simon, Œuvres choisies, Band 1, S. 71–77, 99, 108, 200 f.; Band 3, S. 105, 378; Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 40, S. 191; Durkheim, Le Socialisme, S. 128 f. Vgl. Saint - Simon, Œuvres choisies, Band 2, S. 285. Ebd., S. 275. Ebd., S. 288.

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3. Das kommende Industriesystem Saint - Simons Dialektik vollzieht sich auf drei Ebenen. Die erste ist die Theorie der organischen und kritischen Zeitalter, die in der Geschichte miteinander abwechseln. Ein organisches Zeitalter bedeutet eine Epoche der Integration und Kohäsion. Es wird charakterisiert durch irgendein grundlegendes Prinzip, das unbestritten, entweder ausdrücklich oder implizit, über alle Lebensgebiete herrscht. Die leichte Anpassung der verschiedenen Aspekte des sozialen Daseins sichert Harmonie und mühelosen Fortschritt. Die Welt der Griechen vor Sokrates ( oder sollte man sagen : vor den Sophisten ?) und das klassische Mittelalter bilden Beispiele einer organischen Zeit.69 In einem kritischen Zeitalter gibt es keine gemeinsame Substanz axiomatischen Glaubens mehr. Alle Prinzipien sind in Frage gestellt; verschiedene Bestrebungen ziehen nach verschiedenen Richtungen; isolationistischer Egoismus herrscht unbestritten; die Gesellschaft wird von Klassenkampf zerrissen. Sokrates rief ein langes kritisches Zeitalter her vor. Gleichzeitig leitete er den wichtigsten Wandel in der Geschichte vor der Französischen Revolution ein : vom Polytheismus zum Monotheismus – und wirkte somit als Vorläufer von Jesus Christus.70 Die Reformation kennzeichnet den Beginn eines anderen kritischen Zeitalters, das von der Aufklärung fortgeführt und von der Französischen Revolution zu einem Höhepunkt gebracht wurde. Auf strikt philosophischem Gebiet waren es die britischen Empiristen, die die Wissenschaft durch aposteriorische Analyse „republikanisierten“, nachdem Descartes sie mit Hilfe apriorischer Vernunft ( die Vorstellung und Phantasie vertrieb ) „monarchisiert“ hatte.71 Die modernen Wissenschaftler, Söhne des kritischen Zeitalters – „Sie, meine Herren, sind nichts als Anarchisten. Sie leugnen die Existenz, die Vorherrschaft einer allgemeinen Theorie.“72 Die Französische Revolution habe die verzweifelte Notwendigkeit einer Neuorganisation und erneuten Zusammenfassung aller moralischen, politischen und religiösen Ideen zu einem zusammenhängenden System, das ein neues ( und dauerndes ?) organisches Zeitalter einleiten würde, ans Licht gebracht.73 Seit dem fünfzehnten Jahrhundert ist diejenige mittelalterliche Institution, die die Nationen Europas einte, die dem Ehrgeiz der Völker und Könige eine Schranke setzte, das Papsttum, allmählich geschwächt worden; sie ist heute 69 70 71 72 73

Vgl. Saint - Simon, Œuvres choisies, Band 2, S. 196 ff., 255, 266 ff.; Doctrine, S. 79, 139. Vgl. Saint - Simon, Doctrine, S. 164 f. Vgl. Saint - Simon, Doctrine, S. 67. Vgl. außerdem Saint - Simon, Œuvres choisies, Band 1, S. 57 f., 92; Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 1, S. 31. Saint - Simon, Doctrine, S. 67. Vgl. ebd.

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gänzlich zerstört, „und ein allgemeiner Krieg, ein schrecklicher Krieg, ein Krieg, der dazu bestimmt scheint, die gesamte Bevölkerung Europas zu verschlingen, tobt seit zwanzig Jahren und hat mehrere Millionen niedergemäht. [...] Sie allein ( die Gelehrten ) könnten die europäische Gesellschaft reorganisieren. Die Zeit drängt, es fließt Blut; beeilen Sie sich mit Ihrem Spruch !“74 Es ist nicht leicht zu entscheiden, ob das neue organische Zeitalter, für das Saint - Simon so inbrünstig betet, nur einen weiteren Pendelschwung darstellen wird, einen neuen Zyklus in der theoretisch endlosen Serie von einander abwechselnden organischen und kritischen Epochen, oder ob es die endgültige Erfüllung ankündigen wird – ein ewiges organisches Zeitalter. Es gibt Anzeichen dafür, dass ihm das Letztere vorschwebte. Der Verlauf der geistigen Entwicklung der Menschheit – die zweite Ebene seiner Dialektik – wird von Saint - Simon als ein ununterbrochener Fortschritt zu wissenschaftlicher Präzision, Gewissheit und der Herrschaft positiver Werte im Leben der Gesellschaft gesehen. Das Mythologische und das Metaphysische wichen stetig dem wissenschaftlich Beweisbaren und zweifellos Nützlichen. Die Alchemie wurde durch die Chemie vertrieben, die Astrologie entwickelte sich zur Astronomie, Zauberkraft wurde durch Medizin ersetzt. Es besteht also jede Aussicht, dass die Politik, die so lange von Mythologie und Theologie beherrscht wurde, von Metaphysik und Mutmaßungen, unnützen Erörterungen und leerem Gerede, nicht zu sprechen von feudaler Kriegslust und ritterlich theatralischen Posen – sich bald zu einer positiven Wissenschaft entwickeln wird.75 „Imprimer à la politique un caractère positif est l’objet de mon ambition“,76 damit sie einen „caractère entièrement neuf“77 gewinnt und sowohl von Mutmaßungen als auch von phantasielosem Schlendrian befreit wird. Der dritte Strang der Saint - Simon’schen Dialektik weist engere soziologische Assoziationen auf. Die soziale Geschichte der Menschheit ist ein Prozess mit einem Janusgesicht : Sie ist die Geschichte der fortschreitenden Emanzipation des Menschen von persönlicher Abhängigkeit von seinen Mitmenschen und zugleich des Wachstums von Formen der Assoziation und sozialen Gebundenheit. In den frühesten Zeiten tötete der Eroberer den Gefangenen; später machte er ihn zum Sklaven; die Beziehung zwischen Herrn und Sklaven wurde dann abgelöst durch die zwischen Grundherrn und Leibeigenem und danach zwischen Arbeitgeber und freiem Arbeiter; und die Beziehung der 74

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Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 40, S. 311 f.; Reybaud, Études sur les réformateurs Band 1, S. 82; Manuel, The New World, S. 111. Vgl. auch Saint - Simon, Œuvres choisies, Band 2, S. 147 f. Vgl. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 40, S. 25–27. Ebd., S. 218. Saint - Simon, Œuvres choisies, Band 3, S. 76.

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Zukunft wird die einer freien Assoziation sein, die auf Arbeitsteilung beruht. Die sozialökonomischen Stadien in der Entwicklung der Assoziation gingen vom einsamen Jägersmann zu Familie, Dorf, Volksstamm, Nation; und jetzt ist die Welt eine Werkstatt und ein Markt geworden, und dadurch sind die Bedingungen, ja die Notwendigkeit für eine Weltassoziation geschaffen. SaintSimon behauptet, die Spannungen und der Druck, die jeder Assoziation innewohnen, tendierten dazu, mit jeder Erweiterung der Assoziation an Intensität zu verlieren. Gleichzeitig bänden breitere Assoziation und höhere Kohäsion den Einzelnen stärker an die kollektive Form, obgleich daraus eine größere Emanzipation des Individuums von persönlicher Abhängigkeit von seinen Mitmenschen folgt. „In dem Maße, in dem die Zivilisation fortschreitet, wächst die Arbeitsteilung, und zwar in gleicher Proportion in der geistlichen wie in der weltlichen Sphäre. Die Folge ist, dass die Menschen individuell weniger voneinander abhängig sind, doch jeder umso mehr von der Masse, exactement selon le même rapport.“78 Der Punkt, in dem die drei Stränge der Saint - Simon’schen Dialektik zusammenlaufen, ist die Idee des Industriesystems. Dieses System, zu dem die ganze Geschichte hinstrebte, wird ein organisches Zeitalter in vollem Umfang darstellen. Es wird die Verkörperung positiver und wissenschaftlicher Denkweisen par excellence sein. Das Industriesystem ist synonym mit dem System der weitesten Assoziation und folglich der Emanzipation des Menschen. Das Industriesystem wird die Werte und Einrichtungen der Vergangenheit umstoßen und gleichzeitig Entwicklungen zur Blüte bringen, die seit langer Zeit insgeheim im Schoße der Gesellschaft reiften.79 Das Mittelalter war in der Tat ein organisches Zeitalter im wahrsten Sinne des Wortes. Es stellte eine Ideengemeinschaft dar – eine geistliche und intellektuelle „universitas“. Die christliche Brüderschaft der Menschen und Nationen war Wirklichkeit. Das gebildete Publikum hatte eine gemeinsame Sprache – Latein. Über den Nationen stand ein anerkannter und ehr würdiger Richter, der Papst. Die bestehende Ordnung der Dinge, die Abstufungen in der Gesellschaft, die Lehren der Kirche über den Sinn des Lebens und das Geheimnis des Todes erschienen natürlich, selbstverständlich. Jedoch basierte die mittelalterliche Welt auf Denkweisen, Werten, Annahmen und Einrichtungen, die diejenigen positiven und wissenschaftlichen Postulate negieren, die das Industriesystem zu verkörpern bestimmt ist, um „l’ordre de choses le plus favorable à tous les genres de productions“80 zu sichern und die Gesellschaft in einen einzigen großen Industriebetrieb zu ver wandeln. 78 79 80

Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 21, S. 16; Durkheim, Le Socialisme, S. 198 f. Vgl. Durkheim, Le Socialisme, S. 199. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 18, S. 188.

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Die asketischen religiösen Ideen der von der Kirche beherrschten Gesellschaft waren sicherlich nicht dazu angetan, Begeisterung einzuflößen für einen produktiven Industrieeinsatz und für eine Steigerung von Produktion und Verbrauch. Rationalität, Präzision, nüchterne Erfassung der Gegebenheiten, menschlichen Bedürfnisse und Motive waren nicht durch mittelalterliche Theologie oder Mystizismus zu gewinnen. Dasselbe trifft auf die andere große mittelalterliche Institution, den Feudalismus, zu. Sein Entstehen mag notwendig gewesen sein und seine frühe Funktion nützlich; die Masse des Volkes brauchte eine spezialisierte Kriegerklasse, um sie vor den schrecklichen Einfällen der Normannen, Sarazenen und anderen Barbaren zu beschützen. Aber die Wirkung dieser beiden Institutionen, einer hierarchischen Kirche und des Feudalismus, war, dass die Gesellschaft scharf in Gruppen geschieden wurde, von denen die einen dazu bestimmt waren zu herrschen und die anderen ( die überragende Mehrheit ), beherrscht zu werden; nicht auf einer Basis des wirklichen Gemeinwohls und noch weniger des Übereinkommens, sondern auf der Grundlage eines Gottesgnadentums oder überlegener Macht. Ein solcher Zustand tendierte natürlich dazu, dass mythologisch - theologisch - feudale Begriffe jede Erwägung von Nützlichkeit, Leistungsfähigkeit oder wissenschaftlicher Prüfung unterdrückten.81 Im Schoße dieser Gesellschaft begann sich zur Zeit der Kreuzzüge eine neue Macht zu bilden : „les communes“, die Städte, die Träger des industriellen Einsatzes. Handwerker, Mechaniker, Händler, Künstler, freie Berufe hatten ihre eigenen Interessen und entwickelten Werte und Gedankensysteme, die nichts mit theologischen und feudalen Formen zu tun hatten oder ihnen zuwiderliefen. Gepaart mit der Befriedung Europas und der Erfindung neuer Techniken, wie etwa der Feuer waffen, und gestärkt durch den Aufstieg einer weltlichen Wissenschaft und weltlicher Gelehrter, machten jene neuen Entwicklungen die ehemals wichtige Rolle von Kirche und Adel unnötig und ihre Privilegien parasitisch. Als keine wirklichen Dienste mehr geleistet wurden, nahm die Beziehung zwischen Adel und Geistlichkeit auf der einen Seite und der Masse des Volkes auf der anderen den Charakter unverhüllter Herrschaft von Menschen über Menschen an. Wenn die Beherrschten und Ausgebeuteten einen Versuch machten, ihre Herrscher abzuschütteln und die politische Ordnung gemäß den Bedürfnissen des Industriesystems zu gestalten, wurden sie vom Adel als Rebellen und Anarchisten verschrien. Die feudalen und geistlichen Stände bemächtigten sich einer neuen göttlichen Sendung – der Aufrechterhaltung von Gesetz und Ordnung.82 81 82

Vgl. Saint - Simon, Œuvres choisies, Band 3, S. 25 ff., 67 f.; Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 19, S. 152. Vgl. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres choisies, Band 3, S. 80 ff., 86, 89.

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Ein zeitweises Bündnis zwischen Königen und „communes“ stärkte die Monarchie und versetzte sie in den Stand, die feudale Anarchie zu über winden, jedoch nicht, den feudal - klerikalen Rahmen von Gesetzen, Ideen und Institutionen zu beseitigen. Diese bildeten weiter das offizielle Gerüst der Gesellschaft. Aber die Kräfte der industriellen Ordnung gingen, beinahe illegal und kaum anerkannt, ihren eigenen Weg. Sie wollten nicht die Macht ergreifen, doch sie waren auch nicht bereit, sich gehorsam zu unter werfen. Sie ignorierten gleichsam den Staat, außer zum Schutz vor Unruhen und Gewalttat. Sie regelten ihre Angelegenheiten untereinander durch Verträge, die durch ihre eigenen Korporationen und deren Gesetze und Gebräuche garantiert wurden. Da der feudal - militaristisch - klerikale Staat nicht in der Lage war, wirklich zu helfen, sondern nur zu schaden oder, schlimmer, Lösegelder zu erpressen, entwickelten die industriellen Klassen fast eine Religion staatlicher Nichteinmischung. Freiheit wurde gleichgesetzt mit dem Fehlen jedweden Regierens, individuelle Freiheit mit Isolationismus. Die Erfahrung mit der feudalklerikalen Herrschaft wurde verallgemeinert zu einer Philosophie, die lehrte, die Regierung als solche sei ein natürlicher Feind und nicht „chef de la société, destiné à unir en faisceau et à diriger vers un but commun toutes les activités individuelles“.83 Daher die sorgfältig ausgearbeiteten Theorien, die zum Ziel hatten, die verschiedenen Gewalten an der Ausübung der Macht zu hemmen, ein Gleichgewicht zwischen ihnen herzustellen und Garantien und Sicherheiten zu bieten – alle geboren aus dem tiefen Misstrauen gegenüber Staat und Regierung als einer Herrschaft über die Vielen durch einige Wenige. Die zentrifugalen individualistischen Tendenzen waren erheblich verstärkt worden durch Luther und die Reformation mit ihrer Ver werfung des Papsttums und ihrem Bestehen auf dem Vorrang des individuellen Gewissens.84 Inzwischen verhalfen objektive Entwicklungen den industriellen Klassen dazu, ihre Gewinne weiter zu konsolidieren und zu vergrößern. Es gelang ihnen, allen Reichtum und alle Macht in ihren Händen zu akkumulieren, so dass dem Adel nur der Schein und die äußeren Zeichen der Macht verblieben. Die Philosophen, politischen Schriftsteller und Juristen der Mittelklassen und ihre Theorien über die Natur, den Menschen und den Staat faszinierten die herrschenden Stände, untergruben ihr Selbstvertrauen und verhalfen dem weltlichen Denken zum Sieg. Die Kluft zwischen Substanz und Schein wurde immer größer. „Es wurde ungeheuerlich und widersinnig, die Leitung der

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Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 38, S. 21 f.; Charléty, Histoire du Saint - Simonisme, S. 17. Vgl. zum gesamten Absatz Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 18, S. 186; Band 27, S. 180; Saint - Simon / Enfantin, Œuvres choisies, Band 3, S. 80 ff., 86, 89; Charléty, Histoire du Saint - Simonisme, S. 50; Durkheim, Le Socialisme, S. 209.

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öffentlichen Angelegenheiten in den Händen von Klerus und Adel zu belassen.“85 Eine Revolution wurde unvermeidlich. Sie hatte eigentlich bereits stattgefunden, noch bevor sie ausbrach. Als sie dann ausbrach, hätte sie den Sieg des Industriesystems bringen sollen. Doch es kam anders. Die Metaphysiker, Juristen, Publizisten, die von ihrer eigenen „doctrine politique bâtarde“86 hingerissen waren, bemächtigten sich der Französischen Revolution. So groß ihre Verdienste um die Wegbereitung für die Französische Revolution gewesen sein mochten, ihre vagen und abstrakten Ideen über Freiheit und Gleichheit, Gewaltenteilung und konstitutionelle Garantien dienten nur dazu, die wahren Probleme zu ver wischen und die Menschen das wirklich Notwendige vergessen zu lassen : die positive, wissenschaftliche Planung des Industriesystems. „Ebenso wie der Klerus und der Adel setzten sie ihre Bemühungen fort, als die Gesellschaft ihrer nicht mehr bedurfte“,87 und wurden zu einem reaktionären Hindernis. Aber das Industriesystem ist im Anmarsch. Nichts kann sein Aufkommen verhindern.

4. Freiheit und zielbewusste Integration Obwohl Saint - Simon niemals den Begriff der industriellen Revolution gebraucht und nirgends die Natur und Bedeutung des technologischen Fortschritts behandelt, wird die ganze Akzentuierung seiner Haltung durch das Wissen um diese Entwicklungen bestimmt. Die Gesellschaft sei im Begriff, zu einer Organisation zu werden, die in allen ihren Teilen auf produktiven industriellen Einsatz eingestellt ist; das Ziel – die Natur zu bezwingen und Wohlergehen für alle zu sichern – werde erreicht durch Aktivierung aller entsprechend ihren Fähigkeiten und gemäß den Bedürfnissen des gemeinschaftlichen Strebens. Das Industriesystem der Zukunft wird organisiert sein „pour travailler à accroître sa prospérité par les sciences, les beaux - arts et les arts et métiers“.88 „Eine Nation ist nichts als eine große Industriegesellschaft.“89 „Nationalökonomie ist die wahre und einzige Grundlage der Politik.“90 Politik ist „die Wissenschaft, die eine Ordnung der Dinge zum Ziel hat, die für alle Arten der Pro-

85 86 87 88 89 90

Saint - Simon, Œuvres choisies, Band 3, S. 14. Ebd., S. 12. Ebd., S. 14. Vgl. insgesamt zu diesem und zum vorhergehenden Absatz ebd., S. 12–15. Ebd., Band 2, S. 372 f. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 18, S. 68 f. Ebd., S. 185.

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duktion die günstigste ist“.91 „Die Gesamtheit der Gesellschaft beruht auf Industrie. Die Industrie ist die alleinige Gewähr für ihr Bestehen, die einzige Quelle all ihres Reichtums und all ihres Wohlergehens. Die Ordnung der Dinge, die für die Industrie am günstigsten ist, ist daher hierdurch allein die für die Gesellschaft günstigste. Hier ist sowohl mein Ausgangspunkt als auch das Ziel all meiner Bemühungen.“92 Nur was mit dem Bestreben verbunden ist, unsere Umgebung zu meistern und greifbare, Leben und Genuss spendende Dinge zu produzieren, zu schaffen, zu formen und vorzubereiten, ist wirklich und positiv. Dinge außerhalb dieser Sphäre sind Unsinn, Illusion, vage Einbildung und einfältige Täuschung. Der industrielle produktive Einsatz hat eine objektive Qualität. Seine Elemente sind deutlich messbar und für alle greifbar. Sein Funktionieren ist eine Sache der wissenschaftlichen Präzision und Disziplin. Kurz, die Haltung und die Beziehungen, die durch den industriellen Einsatz bedingt und ihm gegenüber gepflegt werden, sind zwangsläufig abgeleitet von der objektiven „Natur der Dinge, die der Mensch als gerecht anerkennen und als notwendig erachten muss“.93 Das ist nicht eine Sache von Gefallen oder Missfallen, von Meinung oder Bevorzugung. Keiner hat Ansichten über Chemie oder Mathematik, er hat Kenntnisse von ihnen oder nicht. Manche wissen mehr und andere weniger oder gar nichts von dem Gegenstand. Das andere wesentliche Merkmal des Industriesystems ist Organisation mit einem Maximum an Kohäsion und Integration. Das bedeutet natürlich, dass die Gesellschaft nicht ein Aggregat von Individuen ist, sondern ein organisiertes Ganzes, das vor dem Individuum kommt und dessen Platz bestimmt. „Il n’y a société que là où s’exerce une action générale et combinée.“94 Die Gesellschaft ist ein Orchester, ein Schiff, eine Armee, eine Fabrik, ein dynamischer Einsatz zur Erreichung eines klar umrissenen Ziels. Bedeutet das, dass individueller Wert und Freiheit vollständig vernichtet werden sollen ? Das hängt von der Auffassung der Freiheit ab, die man einnimmt. Für Saint - Simon bedeutet Freiheit zugleich Selbstentfaltung : Sie ist nicht Freiheit von, sondern für etwas. Diese Art der Freiheit kann nur im Industriesystem voll ver wirklicht werden, da hier die Organisation selbstverständlich von der Arbeitsteilung ausgeht und jedem die Aufgabe zuweist, die ihm am meisten liegt und in der er seine besonderen Fähigkeiten zum größten Vorteil ver wenden kann. Das Fehlen einer solchen Planung und Arbeitsteilung bringt 91 92 93 94

Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 18, S. 188. Vgl. auch ebd., S. 187. Ebd., S. 13. Vgl. auch Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 19, S. 151. Saint - Simon, Œuvres choisies, Band 2, S. 373. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 38, S. 45.

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Vergeudung, Unbefriedigtsein und Anpassungsschwierigkeiten mit sich. Freiheit ist ein Gefühl des Wohlbehagens, eine Beschwingtheit, die aus dem Erlebnis reibungsloser anregender Teamarbeit und freudiger gemeinsamer Über windung von Hindernissen herrührt. Das ist eine durchaus romantische Auffassung der industriellen Revolution, die völlig abweicht von den konkreten Realitäten der Zeit. Saint - Simon scheint überhaupt nichts zu wissen von der Trübsal und Plackerei in der Industrie. Seine Phantasie wird angefeuert von den Möglichkeiten und dem Ansporn zur Selbstentfaltung. Der überlieferte und völlig negative Begriff der Freiheit ist für ihn ein Produkt der Vergangenheit, in der es kein gemeinsames soziales Ziel von der Art eines dynamischen Industrieeinsatzes gab. Da ein solches gemeinsames Ziel fehlte und eine Spaltung der Gesellschaft in herrschende und beherrschte Klassen bestand, war es ganz natürlich, dass der Mensch sich unbehaglich, unterdrückt und behindert fühlte. Er nannte sein Unbehagen Sehnen nach Freiheit. Er war ständig darauf bedacht, sich abzusondern, die Einsamkeit zu suchen, eine Trennungslinie zu ziehen zwischen sich und dem Staat, sich und allen anderen; er wollte Widerstand leisten.95 Aber gerade im Industriesystem mit seinem „but d’activité“ wird „wahre Freiheit nicht mehr darin bestehen, mit verschränkten Armen dazusitzen [...] in der Assoziation; solch eine Tendenz sollte streng unterdrückt werden, wo sie sich nur zeigt. [ Freiheit ] besteht, im Gegenteil, in der unbehinderten Entwicklung und aller möglichen Förderung jeder praktischen oder geistigen Fähigkeit, die für die Assoziation nützlich ist.“96 „Die Arbeitsteilung hat alle Menschen vollständig miteinander verbunden.“97 Es war ganz in Ordnung, im Kampf gegen das feudal - klerikale System die unbeschränkte Freiheit des Individuums zu verherrlichen. Das schwächte den Feind und erhöhte den Wert der menschlichen Persönlichkeit, die von dem alten System niedergehalten wurde. Aber angesichts eines Industriesystems im Anmarsch ist die Theorie der individuellen Menschenrechte eine reaktionäre Doktrin, ein ernstes Hindernis auf dem Weg des Fortschritts, der identisch ist mit dem Fortschritt der sozialen Kohäsion und Integration.98 „Die vage und metaphysische Idee der Freiheit, wie sie heute geläufig ist, würde, diente sie den politischen Doktrinen weiter als Grundlage, erheblich dazu tendieren, die Handlungsfreiheit der Masse gegenüber dem Individuum 95 96 97 98

Vgl. ebd., Band 21, S. 14–16 ( Fußnote ). Ebd., S. 15 f. ( Fußnote ); Durkheim, Le Socialisme, S. 226 f.; Weill, Un Précurseur du socialisme, S. 170 f. Saint - Simon, Œuvres choisies, Band 2, S. 438; Weill, Un Précurseur du socialisme, S. 171 ( Fußnote ). Vgl. Saint - Simon, Œuvres choisies, Band 3, S. 12 f.

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zu beeinträchtigen.“99 Von diesem Gesichtspunkt aus würde sie der Entwicklung der Zivilisation und der Organisation eines wohlgeordneten Systems widersprechen, das die enge Verbindung der Teile miteinander „et dans sa dépendance“100 erfordert. Es sei durchaus irrig, Freiheit oder persönliche Unabhängigkeit als das Ziel des Gesellschaftsvertrags anzusehen. Menschen verbinden sich, um etwas Positives zu erreichen, sie tun sich nicht zusammen, nur um frei zu sein. Die primitiven Menschen kamen zusammen, um zu jagen, um Krieg zu führen. Wenn sie nur hätten frei sein wollen, dann hätten sie sicherlich besser daran getan, isoliert zu bleiben. Freiheit mag eine Bedingung für ein wahrhaft menschliches Dasein sein. Aber sie ist nicht etwas Ursprüngliches, immer Gleichbleibendes. Sie ist eine Folge des Wachsens der Zivilisation, eine Funktion der geschichtlichen Entwicklung : „progressive comme elle, mais elle ne saurait en ( des Gesellschaftsvertrages ) être le but.“101 Sie ist der Grad, in dem man sich der Umgebung bemächtigt, das Ausmaß der Gelegenheiten zur Selbstentfaltung, die sich in einem gegebenen Stadium der Geschichte bieten. Die Folgerungen aus diesen Gedankengängen für das Problem der Regierungsorganisation sind klar. Regierung durch Menschen oder Gruppen auf der Grundlage eines Gottesgnadentums ist völlig ausgeschlossen. Ebenso das Vorrecht der Geburt. Saint - Simon ver wirft voller Heftigkeit jede Andeutung, wonach die naturgegebene Schlechtigkeit des Menschen nach einem ständigen Wächter verlangt, der Recht und Ordnung aufrechterhalten und so dauernd die große Mehrheit beherrschen würde, die sonst Aufruhr und Unheil stiften könnte. Er weist ebenso die liberalen und demokratischen Ideologien von einer Regierung zurück, die auf der Volkssouveränität basiert, und von politischen Entscheidungen, die in intellektueller Diskussion gefasst und dann zur Ausführung an demokratisch gewählte Führer weitergeleitet werden. Angesichts der wissenschaftlichen Natur des industriellen Strebens und der Präzision, die den positiven gemeinsamen Einsatz charakterisieren sollte, könne eine politische Entscheidung nur dann rechtmäßig sein, wenn sie abgeleitet ist von „la nature même des choses“.102 Sie könne nur eine Angelegenheit des intellektuellen Verständnisses sein und nicht einer „opinion [...] érigée en loi par la masse“.103 Nur ein Akt von wissenschaftlichem Verständnis verdiene, als ein wirklicher Akt von kollektiver Souveränität durch den „corps social 99 100 101 102 103

Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 21, S. 16 ( Fußnote ); Weill, Un Précurseur du socialisme, S. 171. Ebd. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 21, S. 15 ( Fußnote ); Weill, Un Précurseur du socialisme, S. 170. Saint - Simon, Œuvres choisies, Band 2, S. 373. Ebd.

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lui- même“104 angesehen zu werden. Denn sicherlich sei nur ein derartiger Akt eine Entscheidung, die in direkter Beziehung zum Wohle des gesamten Volkes, zum Wesen des unteilbaren sozialen Organismus steht und damit ein wahrer Ausdruck des Allgemeinen Willens der Gesellschaft. Unter den Bedingungen abstrakter Volkssouveränität zwingt bestenfalls ein Großteil der Nation seinen Willen und seine Interessen den anderen Teilen auf. Im Grunde ist die Volkssouveränität, wie sie von den Denkern des achtzehnten Jahrhunderts und der Französischen Revolution gepredigt worden war, nichts als Trug. Das Volk habe weder das Wissen noch die Zeit, um souverän zu sein, „außer in Augenblicken kurzen Deliriums“.105 Man sage nicht „souveraineté du peuple“, denn das sei völlig irreführend, man sage höchstens „souveraineté par la volonté du peuple“.106 Letzten Endes sei die ganze Konzeption der Volkssouveränität sinnvoll nur als Gegenstück zur Souveränität von Gottes Gnaden. Sie habe weder größere philosophische Gültigkeit noch ein sonstiges Verdienst.107 Die demokratischen Experimente der Französischen Revolution haben das feudale Regierungssystem nicht wirklich zerstört, sondern es nur modifiziert. Sie haben das System des Regierens von Menschen über Menschen beibehalten und nicht die Herrschaft objektiver Prinzipien und wissenschaftlicher Tauglichkeit eingeführt. Der Konvent begründete „eine Republik, die so demokratisch war, dass in ihr die ärmste und unwissendste Klasse den größten Einfluss ausübte : mit einem Wort, der Konvent führte durch Gesetz die vollständigste Anarchie ein“.108 Um dies zu verhindern, wurde das Wahlrecht eingeschränkt. Das sei genauso, als wenn man verkünden würde, jeder Franzose, der tausend Franken Steuern bezahlt, sei fähig, Entdeckungen auf dem Gebiete der Chemie zu machen. Gewiss sei auch die Politik eine Wissenschaft, die Kenntnis und Befähigung erfordert.109 Es werde behauptet, das repräsentative System biete eine Gewähr dafür, dass die Fortgeschrittensten und Tauglichsten in einer Nation gewählt würden, um ihre Geschicke zu lenken. Nun sei aber eine repräsentative Regierungsform „ein Bastardsystem, das dazu neigt, unnütz die der Wissenschaft und Industrie feindliche Existenz der theologischen und feudalen Mächte zu ver-

104 105 106 107 108 109

Ebd. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 21, S. 210; Weill, Un Précurseur du socialisme, S. 172 ( Fußnote ). Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 21, S. 209 f.; Weill, Un Précurseur du socialisme, S. 172 ( Fußnote ). Vgl. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 21, S. 210; Weill, Un Précurseur du socialisme, S. 172 ( Fußnote ). Saint - Simon, Œuvres choisies, Band 3, S. 155. Vgl. auch ebd., Band 2, S. 446. Vgl. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 21, S. 16 f. ( Fußnote ).

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längern“.110 Ein parlamentarisches System bringe – im Vergleich zu einem feudalen Regime – eine Änderung in der Form und in den Personen, nicht aber in der Substanz, da sie nicht die Herrschaft des objektiven wissenschaftlichen Prinzips an die Stelle der Herrschaft von Menschen über Menschen setzt. Die Tatsache, dass der Adel massakriert und ausgewiesen wurde, bedeutet einen Übergang der Macht in andere Hände, aber keine Veränderung im Wesen der Macht. Es sei nicht einmal wahr, dass das Erbprinzip zugunsten der Gleichheit abgeschafft wurde. Wenn das System der Regierung von Menschen über Menschen beibehalten werde, müsse man zwangsläufig wieder zum Erbprinzip zurückkommen.111 Die Wahrheit sei, dass „le corps de la nation, c’est - à - dire les producteurs“,112 an dem Kampf um die Macht während der Französischen Revolution keinen direkten oder maßgebenden Anteil hatten. „Bis jetzt war dieser Kampf ein Bastardkampf, weil er nur zwischen den Klassen der Müßiggänger und Parasiten in der Gesellschaft geführt wurde. Er hatte kein anderes Ziel als zu entscheiden, ob die Ausbeutung oder Missbräuche weiterhin das Privileg von Adel und Klerus sein sollten oder ob sie kraft des Rechts der Gleichheit den Soldaten, Juristen und anderen ‚propriétaires fainéants‘, die nicht dem Adel angehörten, zugestanden werden sollten. Der Hauptteil der Nation, die Produzenten ( die Träger des industriellen Einsatzes ), [...] ist ( bisher ) dem Kampf ferngeblieben; er hat an ihm nur in der Eigenschaft von Hilfstruppen teilgenommen, die von den ‚frelons roturiers‘ gerufen wurden.“113 Saint - Simon wiederholt einige der beliebten Schmähungen Napoleons gegen die „idéologues et avocats“, nennt die konstitutionelle Monarchie „schrecklich metaphysisch“, eine „Bastardform gesellschaftlicher Organisation“, in der „die Phrasendrescher und Schreiber die herrschende Klasse bilden“.114 „Und tatsächlich werden die arme französische Nation und die arme Monarchie seit fast vierzig Jahren von der Juristerei verschlungen, deren Quintessenz in Redenschwingen und Schreiberei besteht.“115 An ihren Erörterungen und Debatten sei nichts Reales, sie erfordern keine Sachkenntnis, nur Zungenfertigkeit und große Unverschämtheit. Außerdem scheine ihr ganzes System ein System von organisiertem Misstrauen und Sabotage zu sein : Nachdem sie stolz ihre Herrscher gewählt haben, geben sie sich unsägliche Mühe, Kontrollen und Hindernisse zu erfinden, um diese Herrscher in der Ausübung ihrer Macht zu hemmen. Ihre ganze Ideologie sei kritisch und negativ, da sie 110 111 112 113 114 115

Saint - Simon, Œuvres choisies, Band 3, 53. Vgl. ebd., S. 300. Ebd., S. 60. Ebd., S. 60. Vgl. auch Hubbard, Saint - Simon, S. 202–208. Saint - Simon, Œuvres choisies, Band 3, S. 163. Ebd. Vgl. auch ebd., S. 73, 248.

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als eine Waffe der Polemik in der Vergangenheit geschmiedet wurde. Es sei nicht überraschend, dass sie außerstande ist, die Aufgabe des Wiederaufbaus zu erfüllen. Und so „sind wir noch immer im Zustand der Revolution“116 – lautet Saint - Simons ständiger Refrain. Das Industriesystem, das allein ein Anker des Heils zu sein verspreche und dessen Ver wirklichung unmittelbar bevorstehe, werde alle Regierung im Sinne eines Herrschens von Menschen über Menschen abschaffen und stattdessen die Ära der Administration der Dinge einleiten. „L’action de gouverner est nulle alors, ou presque nulle, en tant que signifiant action de commander.“117 Keiner wird kommandieren und keiner wird herumkommandiert werden. Es werden Funktionen erfüllt, plangemäß und der Natur der Sache entsprechend, so wie die Umstände es erfordern. Das Ziel ist klar umrissen, die Aufgabe genau zugeteilt, das Funktionieren der Maschine wissenschaftlich erwiesen. Es bleibt kein Raum für Willkür, Lust am Kommandieren oder vages Herumtasten.118 „Es würde niemals eine Unentschiedenheit in der Sache geben, und jeder Bürger würde selbstverständlich dazu neigen, sich auf die Rolle zu beschränken ( à se renfermer ), zu der er am besten geeignet ist. Dies umso mehr, als jede Frage von sozialem Interesse notwendiger weise mit Hilfe des vorhandenen Wissens so gut wie nur möglich entschieden würde [...] durch wissenschaftlichen Nachweis, der absolut unabhängig vom menschlichen Willen wäre und von allen denen diskutiert werden könnte, die über den Bildungsgrad verfügen, der ihnen das Verständnis ermöglicht.“119 Denn wenn erst einmal das Ziel und die Struktur der Assoziation klar umgrenzt sind, werden die Dinge nicht komplex oder schwierig sein; und der bescheidenste Notariatsschreiber würde in der gleichen Weise verfahren – wenn er klare Anweisungen erhielte –, ob es sich nun darum handelte, „Menschen in eine Nation zu vereinen, oder ob der Zweck der Assoziation die Fabrikation von Streichhölzern“ sei.120 Unklarheit des Zwecks vernebelt das Bild und drückt uns nieder. Natürlich bedeutet Arbeitsteilung eine Teilung in Männer, die führen, und solche, die geführt werden, Menschen im Besitz von Wissen und andere, die die Dienste dieses Wissens benötigen. Ärzte, Ingenieure, Chemiker ver wenden ihre Kenntnisse im Einklang mit objektiver Notwendigkeit und nicht, um persönliche Macht zu erwerben. Ihnen wird gehorcht, nicht weil sie die Herren sind und überlegene Macht besitzen, sondern weil die Menschen daran interessiert sind, von ihnen geleitet zu werden. Auf diese Weise werde Gehorsam 116 117 118 119 120

Ebd., S. 52. Ebd., Band 2, S. 374. Vgl. ebd., S. 273 f., 372–375. Ebd., S. 374. Ebd., S. 438 f.

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spontan, fast automatisch. Und so werde die Beziehung zwischen Führern und Geführten keinen Zwang zur Folge haben.121 „Als Ergebnis werden die Menschen in dieser Ordnung der Dinge den höchsten Grad von Freiheit genießen, der mit dem Zustand der Gesellschaft vereinbar ist.“122 Das Regime der Zukunft wird auch „die größtmögliche Gleichheit in Bezug auf die Geburtsrechte“123 einführen. Wie er früher sagte, werde ein Regierungssystem zwangsläufig ein Erbprinzip entwickeln, während ein Administrativregime selbstverständlich „politische Rechte auf positive Überlegenheit der Fähigkeiten gründet“.124 Es wird keine künstliche Gleichheit zugelassen, sondern gleiche Behandlung bei ungleichen Fähigkeiten garantiert. „Und so [...] werden wir die drei hauptsächlichsten Nachteile des gegenwärtigen politischen Systems – Willkür, Unfähigkeit und Intrige – vollkommen verschwinden sehen.“125 Wie steht es um die Aufrechterhaltung von Gesetz und Ordnung ? Bisher wurde das als der oberste und einzige Zweck einer Regierung angesehen, weil das Regime nicht ein Regime der Ordnung, sondern eines von – tatsächlicher oder latenter – Unordnung war. Im Administrativregime wird es zu einer untergeordneten und unbedeutenden Aufgabe werden. Es wird zu einer äußerst einfachen und leichten Aufgabe, die von ein paar Polizisten durchzuführen ist. Und die Soldaten und Juristen werden somit aufhören, die wichtigsten und mächtigsten Mitglieder der Gesellschaft zu sein. Es wird einfach keine Notwendigkeit mehr bestehen, die Einhaltung der Gesetze zu erzwingen. Man braucht einen großen Regierungsapparat für die Aufrechterhaltung der Ordnung, wenn das politische System offensichtlich nicht auf öffentlichen Wohlstand abzielt und infolgedessen die Massen als Feinde der öffentlichen Ordnung gelten. Wo aber die Hauptmasse des Volkes sich voll bewusst ist, dass das ganze Gesellschaftssystem auf Erhöhung des öffentlichen Wohls abgestellt ist, wird sie „eine passive Gewalt darstellen, die fast allein genügen wird, die gesellschaftsfeindliche Minderheit in Schach zu halten“.126 Eine fortschrittliche Gesellschaft muss ver waltet, aber nicht von Beamten regiert und gezwungen werden, damit sie den Gesetzen gehorcht, es sei denn in ein paar Grenzfällen von Störungen. Folglich wird es keine Gefahr einer Militärtyrannei geben.127 Die Massen seien mündig geworden und werden nicht länger damit einverstanden sein, unter Vormundschaft gehalten oder als zukünftige Aufrührer und 121 122 123 124 125 126 127

Vgl. Durkheim, Le Socialisme, S. 223–225. Saint - Simon, Œuvres choisies, Band 3, S. 110. Ebd., S. 300. Ebd. Ebd., Band 2, S. 375. Ebd., S. 377. Vgl. zum gesamten Absatz ebd., Band 2, S. 375 f.; Band 3, S. 97, 279.

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Unruhestifter behandelt zu werden. Die Ereignisse der Französischen Revolution haben die Reife von Millionen von Bauern und Arbeitern bewiesen, die Land erhielten und verantwortliche Stellungen bekleideten. Sie haben so eine Einsicht in die Natur des Industriesystems erhalten und gelernt, es zu wollen. Sie werden nicht länger damit einverstanden sein, passive Instrumente in den Händen der Abkömmlinge der Franken zu bilden, die so lange mit dem Rechte des Eroberers über sie regierten.128 „Die Ver walteten und die Regierten in dieser Bevölkerung haben das Industrieprinzip als leitend für ihre Handlungen angenommen; sie werden nur denjenigen Assoziationen gehorchen, die die Interessen der Kontrahenten unter einen Hut bringen; sie sind darauf gekommen, dass das öffentliche Vermögen im Interesse der Mehrheit ver waltet werden soll; sie haben einen Abscheu vor Privilegien und Geburtsrechten; [...] mit einem Wort, sie streben nach Herstellung der größtmöglichen Gleichheit.“129 Die unteren Stände sind fast gleichgültig geworden gegenüber „den Diskussionen über Freiheit, die die Mittelklassen bewegen“.130 Denn sie fühlen instinktiv, wie vage und unreal die metaphysischen Debatten sind. Mehr noch, sie sind sich darüber im Klaren, dass im Industriesystem, das im gegenwärtigen Stand der Zivilisation unvermeidlich geworden ist, „Willkür ihnen nichts mehr anhaben könnte“.131

5. Der Durchbruch „Alle Völker der Erde bewegen sich auf dasselbe Ziel zu. Das Ziel, dem sie zusteuern, ist, von dem feudal - militärischen Herrschaftssystem zum industriellen, friedlichen Administrativsystem überzugehen.“132 Keine Gewalt kann diesem Vormarsch widerstehen. „Unser Plan einer Gesellschaftsorganisation ist direkt von dem Gang des menschlichen Geistes abgeleitet, und seine Annahme ist eine unvermeidliche Folge der politischen Vergangenheit der europäischen Gesellschaft.“133 Der Augenblick sei gekommen, in dem der Anomalie, dass eine im Wesentlichen industrielle Nation eine im Wesentlichen feudale Regierung hat, ein Ende gesetzt werde. Die Masse der Produzenten, die heute den Hauptteil der 128 129 130 131 132 133

Vgl. ebd., Band 2, S. 436; Band 3, S. 267 f., 274, 277. Ebd., Band 3, S. 90. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 22, S. 179; Weill, Un Précurseur du socialisme, S. 171. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 22, S. 180; Weill, Un Précurseur du socialisme, S. 171. Saint - Simon, Œuvres choisies, Band 3, S. 144. Ebd., S. 203.

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Gesellschaft darstellt, beginne, sich die Frage zu stellen, ob und wie lange sie noch ein Ausbeutungsobjekt für die „Massen von Parasiten“ bleiben solle.134 „Le moment où la lutte doit prendre son vrai caractère, est actuellement arrivé. Le parti des producteurs ne va pas tarder à se montrer.“135 Trotz der Unterstreichung der vorausbestimmten, zwangsläufigen Natur des bevorstehenden Wandels sagt Saint - Simon nicht, er werde von selbst und unmerklich vor sich gehen. Nur bewusstes und planvolles menschliches Handeln wird die Änderung bewirken. Die Frage ist, wie und durch wen. Die unmittelbare Antwort lautet : nicht durch Revolution und Gewalt und nicht durch die Massen. Obwohl Saint - Simon den beiden oben zitierten Sätzen die herausfordernde Feststellung vorausschickt, „das Problem wird gelöst werden, sobald es in direkter und eindeutiger Weise gestellt wird, da die Kräfte der Produzenten denen der Nichtproduzenten ungeheuer überlegen sind“,136 sagt er an anderer Stelle, die Erfahrung habe gezeigt, dass diejenigen, die an der Einführung einer neuen Ordnung der Dinge das größte Interesse haben, nicht auch diejenigen seien, die sie mit größtem Eifer herbeizuführen trachteten. Er glaubt mehr an den Einfluss des leidenschaftlichen Philanthropen und idealistischen Altruisten als an das erleuchtete Eigeninteresse der Massen.137 Der tiefere Grund für diese Haltung ist das zugrunde liegende Postulat der wissenschaftlichen Genauigkeit, die er als charakteristisch für das Industriesystem annimmt. Das setzt besondere Eignung voraus und wiederum, trotz des evolutionären Determinismus, eine unitarische apriorische Konzeption und rasche Ausführung quasi durch Ukas. „Die Konzeption des neuen Systems muss eine unitarische sein, das heißt, sie muss von einem einzigen Kopf gestaltet werden“,138 wie die Verfassung einer antiken Stadtrepublik in Griechenland von einem Gesetzgeber. Ein Parlament mag zur Erhaltung einer Verfassung taugen, aber eine Versammlung von Einzelpersonen ist ihrer Natur nach unfähig, ein System zu schaffen. Äußerstenfalls ist Saint - Simon bereit zuzugestehen, dass der Plan – nachdem er „d’un seul jet“139 gestaltet sei ( obwohl „basierend auf Prinzipien, die sich aus der Beobachtung herleiten“) – diskutiert werden könne „von Männern, die am besten geeignet sind, ihn zu beurteilen und zu verbessern“.140 „Dieser Wandel muss rücksichtslos und durch direkte Maßnahmen bewirkt werden.“141 134 135 136 137 138 139 140 141

Vgl. ebd., S. 60. Ebd., S. 61. Ebd., S. 60 f. Vgl. ebd., S. 32, 34. Ebd., S. 53. Ebd., Band 2, S. 386. Ebd. Ebd., Band 3, S. 298. Vgl. auch ebd., S. 297, 300.

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Die Einführung des neuen Systems könne nur in revolutionärer Weise erfolgen. „Ce système s’organisera promptement, et il sera promptement mis à exécution. [...] Ne pouvant être introduit ni par le hasard, ni par la routine, il a dû être conçu a priori [...] inventé dans son ensemble, avant de pouvoir être mis à exécution.“142 Es ist nicht wenig ver wirrend, dass ein Denker, der sich der historischen und organischen Kontinuität so tief bewusst ist, einen unverzüglichen und radikalen Wandel nicht nur der administrativen Apparatur und Einrichtungen, sondern auch der Ideen, Gewohnheiten, kurz des sozialen und geistigen Klimas als plötzliche Wirkung der Proklamation einer neuen Doktrin verspricht. Was er voraussieht, ist „une action qui, par sa nature, est brusque et tranchante, puisque cette production tend à changer subitement les habitudes intellectuelles contractées par l’esprit public“.143 Saint - Simon weist auf die Entstehung des Christentums hin als Beispiel für einen plötzlichen Wandel der Menschheit; und er wird niemals müde, den Übergang vom feudalen Herrschaftssystem zum positiven Industriesystem mit der Ersetzung des Polytheismus durch das Christentum in der Antike zu vergleichen. Doch war dieser letztere Wandel schwerlich „brusque“ zu nennen. Die Wahrheit ist, dass Saint Simon hauptsächlich an die durch den Messias verkündete Offenbarung denkt. In gewissem Sinne würde die ganze Revolution nur darin bestehen, die herrschenden Klassen dazu zu überreden, dass sie die Industriellen und Fachleute auffordern, die öffentlichen Angelegenheiten zu planen und zu leiten; „faire concourir les savants, les théologiens, les artistes, les légistes, les militaires et les rentiers les plus capables, à l’établissement du système social le plus avantageux à la production et le plus satisfaisant pour les producteurs“,144 und ihre Einwilligung zu erlangen, nun da die Zeit für die neue „wirklich soziale Doktrin“ reif geworden sei, Industrielle ans Ruder der weltlichen Angelegenheiten und „savants positifs“145 zur Leitung der Erziehung und Ausgestaltung der Theorie zu berufen. Die Zustimmung der entscheidenden Faktoren, Könige, Völker, Aristokratien und Regierungen, wird einzig und allein durch Erklären und Zureden erreicht werden; die Philanthropen werden sie von der Zwangsläufigkeit und dem konstruktiven Charakter der vorgeschlagenen Änderungen überzeugen. Die Philanthropen werden jegliche Gewalt vermeiden, denn schließlich hegen sie den brennenden Wunsch, die Revolution zu beenden und allen jenen Ursachen sozialer Unruhe und Unzufriedenheit durch ein umfassendes Rekonstruktionsprogramm den Boden zu entziehen.146 „Or, l’acte 142 143 144 145 146

Ebd., S. 108, 110 f. ( Her vorhebungen im französischen Original ). Ebd., S. 301. Ebd., S. 101. Ebd., S. 37. Vgl. ebd., S. 35–37, 104.

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d’investir les industriels les plus importants de la direction suprême des intérêts pécuniaires de la nation, est un acte de construction; c’est la disposition politique la plus importante qui puisse être admise; cette disposition servira de base à tout le nouvel édifice social; cette disposition terminera la révolution, elle mettra la nation à l’abri de toute nouvelle secousse.“147 Gerade weil das öffentliche Wohl nicht den Händen der Industriellen und Gelehrten anvertraut wurde, sind Aufstand und Anarchie zum Dauerzustand gemacht und Throne gestürzt worden. Saint - Simon ist voller Hoffnung, dass es sehr leicht sein werde, Könige dazu zu überreden, die Initiative in der Angelegenheit zu ergreifen, und auch die Nutznießer des alten Regimes dazu, sich mit der Notwendigkeit der Änderung abzufinden : „Es ist so angenehm, mit dem Strom zu schwimmen; es ist so töricht, das Rad der Zivilisation zurückdrehen zu wollen.“148 Saint - Simon legt mehrere Pläne vor, die den notwendigen Durchbruch bewirken sollen. Am mildesten und dem Restaurationsregime am ehesten entsprechend ist der Vorschlag, nur Industrielle, Produzenten und Bauern sollten Steuern zahlen und die Müßiggänger, wie etwa die Grundherren, sollten von Steuern befreit sein. Da das Wahlrecht von der Steuerzahlung abhänge, würde das Parlament nur von Mitgliedern der produktiven Klassen gewählt werden und sich nur aus diesen zusammensetzen. Ein anderer Plan sieht vor, das Budget sei von nun an von den Vertretern der industriellen Klassen aufzustellen, und das Erziehungswesen und die Moralgesetzgebung seien dem „Institut“ zu unterstellen. Drei Minister – des Finanzwesens, des Inneren und der Marine – sollen aus den Kreisen der Industriellen ernannt werden. Diese werden mit Hilfe von beratenden Industriellen - und Sachverständigenausschüssen einen Plan zur Einführung des Industriesystems ausarbeiten. Einer der Pläne verbindet in seltsamer Weise parlamentarische mit revolutionärer Prozedur. Da vom gegenwärtigen Parlament seiner Zusammensetzung nach – es bestehe hauptsächlich aus Adligen, Müßiggängern und den Interessen der industriellen Klassen feindlich gesinnten Staatsbeamten – nichts zu erwarten sei, sollte man die „Assemblée“ auf lösen und die Wähler auffordern, nur „chefs des travaux industriels, [...] des patentés ou au moins des citoyens partisans du régime industriel“149 zu wählen, die die notwendigen Reformen mit einem Mindestmaß von Störungen und Ausgaben durchführen würden. Es gab eine Zeit, in der Saint - Simon die Hoffnung nährte, die Parlamente Frankreichs und Britanniens würden sich bei gebührender Hilfe von Seiten der 147 148 149

Ebd., S. 72. Ebd., S. 107. Ebd., S. 51.

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Industriellen vereinen, um die gewaltige Aufgabe in Angriff zu nehmen. Er war sicher, ganz Europa würde bald dem Beispiel der beiden fortgeschrittensten Nationen folgen.150 Doch die Hoffnung hielt nicht lange an. Saint - Simon sah bald ein, dass England ein klassischer Fall eines „Bastardregimes“ ohne Verfassung sei; denn eine Verfassung bedeute „une combinaison d’organisation sociale“,151 in der alle Teile von einem einzigen Prinzip abgeleitet sind, die die nationalen Kräfte zu einem einzigen Ziel führen. Die sozialen Institutionen Englands seien heterogenen Ursprungs und zögen nach verschiedenen und sogar entgegengesetzten Richtungen.152 „In Wirklichkeit besitzt England noch keine Verfassung; die dort bestehende Ordnung ermangelt der Solidität, der Festigkeit, und ist nicht einmal fähig, sie zu erwerben. [...] Der politische Zustand Englands ist ein Zustand der Krankheit, ein Zustand der Krise, oder richtiger, das Regime, unter dem England lebt, ist ein Übergangsregime.“153 Jeder Versuch des „House of Commons“, das Industriesystem in England einzuführen, würde unfehlbar vom „House of Lords“ sabotiert werden unter Begleiterscheinungen von Bürgerkrieg und Blutvergießen. Frankreich sei in dieser Beziehung in einer viel günstigeren Lage. Der König habe die Macht, eine Verfügung zu erlassen, die das System von oben bis unten ändere.154 Saint- Simon richtet einen glühenden Aufruf an den Bourbonenkönig, die Initiative zu ergreifen und als erstes sich zum Haupt einer provisorischen Diktatur zu proklamieren, „der die Aufgabe obliegt, das feudal - theologische Regime zu vernichten und das wissenschaftliche und industrielle System zu errichten“.155 Die momentane Konzentration aller öffentlichen Gewalten in einer einzigen Hand würde einen schnellen und leichten Übergang sichern. Wenn es wahr sei, dass ein Wechsel des Regimes nur durch Revolution oder durch Diktatur bewirkt werden könne, dann sei gewiss die Diktatur das kleinere Übel. Außerdem würde bei klarer Definition des Ziels die Gefahr, dass der Diktator vom vorgeschriebenen Kurs abweicht, nur gering sein. Die öffentliche Meinung würde ihn daran hindern, auf Irr wege zu geraten. „Le Roi deviendra le premier des industriels“;156 die Monarchie würde wissenschaftlich sein und nicht mehr feudal und theologisch. Der französische Planer ist außerstande, die Dinge – wie in England – sich selbst zu überlassen in der Erwartung, dass sie sich von allein regeln werden.

150 151 152 153 154 155 156

Vgl. ebd., Band 2, S. 263 f., 296 f., 320. Ebd., Band 3, S. 133. Vgl. ebd., S. 127, 131–137. Ebd., S. 127. Vgl. ebd., S. 150, 169. Ebd., S. 57. Ebd., S. 58.

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„Die Industriellen werden sich zur ersten Klasse in der Gesellschaft konstituieren; die bedeutendsten Industriellen werden unentgeltlich die Leitung der Ver waltung des öffentlichen Vermögens übernehmen; sie werden die Gesetze machen; sie werden die Stellung der anderen Klassen bestimmen; sie werden jeder einzelnen von ihnen die Bedeutung zugestehen, die ihren der Industrie geleisteten Diensten entspricht. Dies wird das unvermeidliche Ergebnis der gegenwärtigen Revolution sein, und wenn es erreicht ist, dann wird völlige Ruhe gesichert sein, die öffentliche Wohlfahrt wird mit aller nur möglichen Geschwindigkeit zunehmen und die Gesellschaft wird alles individuelle und kollektive Glück erfahren, das die menschliche Natur erhoffen kann.“157 Es hat nicht viel Sinn, bei Einzelheiten von Saint - Simons Organisationsplänen zu ver weilen. Er war ein im Wesentlichen intuitiver Denker, der zur Verallgemeinerung neigte und kein Interesse an Einzelheiten hatte. Die verschiedenen Entwürfe zur Organisation der administrativen Behörden machen manchmal den Eindruck eines Patiencespiels. Es soll in der Gesellschaft der Zukunft drei Kammern geben : eine Kammer der Erfindungen aus dreihundert Mitgliedern, die unter Ingenieuren und Künstlern gewählt werden – sie werden öffentliche Arbeiten und Nationalfeste planen, um Wohlstand und Glück zu fördern; eine Kammer der Prüfung – hundert Mathematiker, hundert Physiker und hundert Physiologen werden zusammen die von der ersten Kammer vorgelegten Projekte prüfen und das Erziehungswesen über wachen; eine Exekutivkammer, die nur Vertreter von Industrie, Handel und Landwirtschaft umfasst, wird das Budget aufstellen und so letztlich politisch ausschlaggebend sein.158 Ein anderer Plan sieht die Errichtung von zwei Akademien vor : einer Akademie der Wissenschaften ( einschließlich Nationalökonomie und Humanistik) und einer Akademie der Gefühle. Die erste werde die Bestimmungen für die Industrieorganisation erlassen, während der zweiten die Aufgabe zufallen werde, die richtige Art von Gefühlen zu inspirieren; sie werde aus Morallehrern, Juristen, Theologen, Dichtern, Malern, Musikern und anderen bestehen. Über diesen beiden werde ein „Collège scientifique suprême“ stehen, das von beiden ernannt und bestrebt sein werde, eine Synthese zwischen den von den beiden Akademien entwickelten Prinzipien und Plänen herbeizuführen.159 Die so erlangte „doctrine générale“ werde das Vademekum für die Ver waltung bilden.160

157 158 159 160

Ebd., S. 96. Vgl. ebd., Band 2, S. 389. Vgl. zur Organisation und Administration auch ebd., Band 3, S. 44–46, 47 ff. Vgl. ebd., Band 3, S. 205 f. A. d. Hg. : Vgl. auch ebd., S. 198 ff. Vgl. ebd., S. 202.

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„Das stärkste Band, das die Mitglieder einer Gesellschaft einen kann, besteht in der Ähnlichkeit ihrer Prinzipien und ihres Wissensgutes ( connaissances ); und diese Ähnlichkeit kann nicht anders hergestellt werden als durch Einheitlichkeit des Unterrichts.“161

6. Eigentum und Armut – Sozialismus Da Saint - Simon von einer Planwirtschaft ausging, war es unvermeidlich, dass er früh die entscheidende Bedeutung des Eigentumsproblems erkannte. Gemeinschaftsorganisation bedeutet Verfügung über die Produktionsmittel, mit anderen Worten über Eigentum. Sie ist unmöglich, wenn Privateigentum und freie Wirtschaft als absolut unantastbar fortbestehen. Seine Ansichten über die entscheidende Bedeutung der wirtschaftlichen Interessen führten ihn zu der gleichen Schlussfolgerung. Wenn Politik nichts anderes ist als die „Wissenschaft von der Produktion“162 und die „Produktion von nützlichen Dingen das einzige vernünftige und positive Ziel“,163 das politische Gesellschaften sich setzen können, dann folgt daraus, dass es eine „Ordnung der Interessen“ („ordre d’intérêts“) gibt, „die zur Erhaltung des Lebens und des Wohlbefindens gehört“ und „von allen Menschen empfunden wird“, und dass diese Ordnung die einzige ist, über die „alle Menschen einander verstehen und das Bedürfnis haben, zu einem Einverständnis zu gelangen; die einzige, die von ihnen fordert, gemeinsam zu planen und zu handeln; daher der einzige Richtpunkt für das Wirken der Politik und der alleinige Maßstab in der Kritik aller sozialen Angelegenheiten“.164 Offensichtlich könne keine Veränderung in der Gesellschaftsordnung erfolgen ohne eine Änderung in der Vermögensverteilung und im Eigentumssystem.165 Der fatale Irrtum sowohl der Französischen Revolution als auch der englischen und anderer europäischer Nationen, die um Reform ringen, sei gewesen, dass sie die Regierungsform und den politischen Apparat für die entscheidenden Faktoren hielten und die Eigentumsbeziehungen unberührt und unverbessert ließen.166

161 162 163 164 165 166

Ebd., S. 45. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 18, S. 188. Ebd., S. 186; Durkheim, Le Socialisme, S. 192. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 18, S. 188; Durkheim, Le Socialisme, S. 192. Vgl. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 15, S. 242; Durkheim, Le Socialisme, S. 227; Weill, Un Précurseur du socialisme, S. 178. Vgl. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 19, S. 82 ( Fußnote ), 126 f.; vgl. Durkheim, Le Socialisme, S. 227 f.

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Saint - Simon analysiert das Eigentumsproblem ausschließlich vom Gesichtspunkt der Produktion. Er bezieht sich nicht auf Menschenrechte. Seine Verherrlichung der Produktion steht im Gegensatz zu den asketischen Anschauungen einiger der sozialistischen Denker des achtzehnten Jahrhunderts. „Das Eigentum sollte auf einer Basis neu geordnet und begründet werden, die für die Produktion die günstigste ist.“167 Eigentum ist sowohl ein Werkzeug, ein Produktionsmittel, als auch eine Bedingung für die persönliche Selbstentfaltung. Es muss daher zur Befähigung in Beziehung gesetzt werden. Wenn Eigentum einem Menschen versagt wird, der die Fähigkeit hat, es zum größten eigenen sowie gesellschaftlichen Vorteil zu ver wenden, dann wird ihm auch die Freiheit zur Selbstentfaltung versagt. Seine Frustration ist ein Verlust für die Gesellschaft. Eigentum in unfähigen Händen ist gesellschaftliche Vergeudung. Saint - Simon will nicht die Institution des Eigentums als solche angreifen, sondern nur ihre besonderen Formen. Es sei richtig, dass Eigentum die Garantie politischer Stabilität bilde, doch nur, wenn „Begabung und Besitz nicht voneinander getrennt werden“168 und die Modalitäten des Eigentums durch die Bedürfnisse des allgemeinen Produktionseinsatzes bestimmt würden. Die logische Schlussfolgerung ist, dass das System der Eigentumsbeziehungen abhängig ist von der historischen Entwicklung, von dem Wandel in der Produktionsweise. Kein Zeitalter könne zukünftige Generationen binden durch Aufstellung eines dauernd gültigen Prinzips der Verteilung ( oder irgendeines anderen Prinzips ). Die Menschheit schreite vor wärts und wandle sich ständig.169 „Derartige Fragen wie : Welche Dinge sind geeignet, Eigentum zu werden ? Auf welche Weise können Einzelpersonen Eigentum erwerben ? Wie können sie es ver wenden, wenn sie erst Eigentümer sind ? – sind daher Fragen, die die Gesetzgeber aller Länder und Zeiten immer wieder aufrollen dürfen, sobald es ihnen erwünscht scheint, denn das individuelle Recht auf Eigentum kann sich nur auf gemeinsame Nützlichkeit und die allgemeine Ausübung dieses Rechts stützen – eine Nützlichkeit, die sich von Zeit zu Zeit ändern kann.“170 An diesem Punkt wird Saint - Simon zum Sozialisten. Die Kriterien der Leistungsfähigkeit und Produktionssteigerung vermischen sich mit Problemen der Gerechtigkeit. Das gegenwärtige Eigentumssystem stelle eine Verneinung sowohl des utilitaristischen als auch des moralischen Postulats dar. Die Produktionsmittel befinden sich zum größten Teil in den Händen unfähiger, müßiger Parasiten; sie werden den wirklichen Produzenten vorenthalten und diese 167 168 169 170

Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 20, S. 59; Durkheim, Le Socialisme, S. 227. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 15, S. 201. Vgl. ebd., Band 19, S. 89; Weill, Un Précurseur du socialisme, S. 178 f. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 19, S. 90; Weill, Un Précurseur du socialisme, S. 179.

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müssen für ihre Benutzung zugunsten der Gesellschaft ein Lösegeld zahlen. Die Armen müssen die reichen Diebe, die konsumieren, ohne zu arbeiten, aushalten. „In der Gesellschaft geht es heute wahrlich drunter und drüber. Da die Nation es als ein Grundprinzip angenommen hat, dass die Armen den Reichen gegenüber großzügig sein sollen und folglich die weniger Gutgestellten sich täglich lebensnotwendige Güter versagen sollen, um den Überfluss der Großbesitzenden zu mehren [...]. Da Unwissenheit, Aberglaube, Müßiggang und ein Hang zu kostspieligen Vergnügungen kennzeichnend für die obersten Führer der Gesellschaft geworden sind und die Fähigen, Sparsamen und schwer Arbeitenden nur als Untergeordnete und Werkzeuge ver wandt werden.“171 „Eine Horde von Parasiten, [...] die, ohne irgendetwas zu produzieren, konsumieren will, als ob sie produzierte. [...] Betrüger, das heißt Diebe. Die Arbeiter sehen sich daher um jenen Genuss der Früchte ihrer Arbeit gebracht, der das Ziel ihrer Arbeit ist.“172 Das bestehende Regierungssystem ist eine Legalisierung des Massenraubs. Seine Absicht ist, die Müßiggänger zu schützen und sie in den Stand zu setzen, straf los, in Sicherheit, die Arbeiter um die Früchte ihrer mühsamen Arbeit zu bringen. Solch eine Regierung ist ein Regime nackter Gewalt. Die großen Verbrecher und mächtigen Diebe schröpfen vergnüglich die Masse der arbeitenden Bürger von drei - oder vierhundert Millionen als Entgelt für ihre Dienste, die darin bestehen, dass sie kleine Vergehen gegen die öffentliche Ruhe richten und bestrafen.173 Das bedeutet, „l’espèce humaine, politiquement parlant, est encore plongée dans l’immoralité“.174 Denn für wahr, die Nationen, die heute als die zivilisiertesten gelten, werden in einem Zustand der Barbarei bleiben, solange die „am schwersten arbeitende und friedlichste Klasse nicht die öffentliche Gewalt kontrolliert und solange die Militärklasse nicht völlig untergeordnet ist“.175 Wie bereits gesagt, akzeptiert Saint - Simon die Institution des Privateigentums. Er ist auch kein Gleichmacher im krassen Babeuf’schen Sinne des Wortes. Er ver wirft mechanische Gleichheit, die auf einer Annahme natürlicher Gleichheit basiert. Wahre Gleichheit, behauptet er, bestehe darin, dass jeder die Vorteile genießt, die seiner Leistung entsprechen, das heißt seiner Befähigung und nutzbringenden Ver wendung seiner Fähigkeiten und Mittel – „fon-

171 172 173 174 175

Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 20, S. 24 f.; Weill, Un Précurseur du socialisme, S. 139 ( Fußnote ). Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 18, S. 129 f.; Durkheim, Le Socialisme, S. 210. Vgl. Saint - Simon, Œuvres choisies, Band 2, S. 401. Ebd., S. 400. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 37, S. 92.

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dement naturel de la société industrielle“.176 In dieser Beziehung verdient das Industriesystem, das jede Art ungleichen Vorsprungs wie das Privileg der Geburt ver wirft, als ein Regime „vollkommener Gleichheit“ betrachtet zu werden.177 Sowohl vom Gesichtspunkt des Industrieeinsatzes als von dem der menschlichen Selbstentfaltung bestehe die überragende Aufgabe der Gesellschaft darin, jene Möglichkeiten und Fähigkeiten der Armen und Unterdrückten, die ein unmoralisches und verschwenderisches System dumm gemacht hatte, dadurch voll zu aktivieren, dass sie ihnen Betätigungsfeld und Erleichterungen, wie z. B. freien Zugang zu Werkzeugen, bietet. „Die wichtigsten Ausgaben des Staates sollten diejenigen sein, die notwendig sind zur Schaffung von Arbeit für alle gesunden Menschen, um ihre physische Existenz zu sichern; diejenigen, die zum Ziel haben, so schnell wie möglich positives erworbenes Wissen in der Proletarierklasse zu verbreiten; und schließlich diejenigen, die den Einzelnen, aus denen diese Klasse besteht, die Freuden und Genüsse garantieren kann, die geeignet sind, ihre Intelligenz zu entwickeln.“178 „Im höchsten möglichen Ausmaß das Los derjenigen Klasse zu verbessern, die keine anderen Existenzmittel hat als ihrer Hände Arbeit.“179

7. Die neue Glaubenslehre : „Nouveau Christianisme“ Das Streben nach dem Einen und das Grübeln über das Problem, wie die Vielen zu Einem gemacht werden könnten, führten zur Entstehung des Nouveau Christianisme, der zum Testament und Evangelium Saint - Simons wurde und mehr als alles andere zum Erlösungseifer der saint - simonistischen Bruderschaft beitrug.180 Das Postulat einer einzigen Totalität, beseelt von einem einzigen Prinzip und charakterisiert durch vollkommene Kohäsion einerseits und die askesefeindliche Verherrlichung der menschlichen Vitalität andererseits ließ keinen Raum für irgendwelchen Pluralismus oder Dualismus, wie etwa den von Materie und Geist, Körper und Seele. Produktionsweisen, Vermögensverteilung, wissenschaftliche Ideen, politische Institutionen, ethische Konzeptionen, religiöser Glaube, ästhetische Kriterien, psychologische Reaktionen – alle müssen 176 177 178 179 180

Ebd., Band 22, S. 17 ( Fußnote ). Ebd., Band 37, S. 61. Saint - Simon, Œuvres choisies, Band 3, S. 279; Weill, Un Précurseur du socialisme, S. 177. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 22, S. 81; Durkheim, Le Socialisme, S. 240. Vgl. Saint - Simon, Nouveau Christianisme. Benutzt wurde die Übertragung ins Englische von J. E. Smith, New Christianity.

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von einem grundlegenden Satz abgeleitet werden und ein einziges System bilden. Wir sahen bereits, dass für Saint - Simon ein Ideengebäude nicht eine Reflexion oder Funktion objektiver Beziehungen ist, sondern ihnen im Gegenteil vorangeht und sie in einem gewissen Umfang bedingt. Diese in sich geschlossene und eng geknüpfte Weltanschauung nennt SaintSimon die Religion des Zeitalters. Obwohl sie so viel mehr umfasst als Theologie, Ritual und Kirche, erfüllt sie die doppelte Rolle der Religion : sie bietet sowohl ein Bild der Welt als auch ein Lebensgesetz, um den Gläubigen mit der Weltordnung in Einklang zu bringen. „Die Religion [...] war von jeher und wird immer die Basis der sozialen Organisation sein. [...] Die Menschheit hat sich immer dann in einer wissenschaftlichen, moralischen und politischen Krise befunden, wenn die religiöse Idee eine Veränderung durchmachte.“181 Die Politik ist eine Folge der Moralität, denn sie beschäftigt sich mit den Beziehungen der Menschen untereinander und denen zwischen dem Menschen und der Gesellschaft; somit sind politische Institutionen die Folge von Ideen.182 Wegen dieser organischen Wechselbeziehung müsse die Politik alle Lebensgebiete umfassen und könne nicht lediglich eine Sammlung pragmatischer Vorschriften für einen begrenzten Wirkungsbereich sein. Es ist keine Teilung möglich zwischen Kirche und Staat, Gott und Caesar, und ebenso wenig zwischen geistlichen Zielen und weltlichen Interessen. Dieses Bewusstsein der Einheit ist nicht nur eine mächtige verbindende Kraft, die unsere Gesamthaltung bestimmt, sondern auch eine, die zwar nicht direkt zur Gleichheit beiträgt, jedoch die selbstsüchtige Herrschaft einiger über andere und den ungezügelten Konflikt selbstsüchtiger Interessen verhindert. Es erfüllt uns mit einem lebhaften und ursprünglichen Gefühl der Abhängigkeit von etwas Objektivem, außerhalb unserer selbst Stehendem. Man nehme das Christentum als Beispiel. Als es uneingeschränkt herrschte, bis zum fünfzehnten Jahrhundert, „war die Menschheit in der Hauptsache damit beschäftigt, ihre allgemeinen Gefühle zu koordinieren, ein universales und einziges Prinzip aufzustellen und eine allgemeine Institution zu gründen [...] und daher private Interessen dem allgemeinen Interesse zu unter werfen“.183 Eine Begleiterscheinung hier von war, dass deduktives Denken den Vorrang vor empirischer Beobachtung von Einzelheiten hatte. Obwohl das Postulat des einen universalen Prinzips richtig war, sei das Mittelalter natürlich keineswegs in der Lage gewesen, eine wirklich wissenschaftliche allgemeine Theorie auszuarbeiten. Luther sei der Beginn einer Abkehr von der allgemeinen Theorie. So groß die 181 182 183

Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 1, S. 38. Vgl. ebd., Band 19, S. 30; vgl. Durkheim, Le Socialisme, S. 235 f. Saint - Simon, New Christianity, S. 43.

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Leistung auch sein mag, „Moralität als verdienstvoller hinzustellen [...] als Gottesdienst und Dogma“184 und individuelle Verantwortlichkeit zu unterstreichen, die Reformation als solche habe eine zersetzende Wirkung auf die Struktur der europäischen Gesellschaft ausgeübt. „Und während dieser zweiten Epoche hat sich die Meinung durchgesetzt, Erörterungen über allgemeine Tatsachen, allgemeine Prinzipien und allgemeine Interessen der Menschheit seien nur vage und metaphysische Erörterungen und ungeeignet, zum Fortschritt des Geistes und der Zivilisation beizutragen.“185 Dadurch, dass die Reformation die Aufmerksamkeit des Menschen auf spezielle Fakten lenkte, zerlegte sie das Wissen in wasserdichte Schotten und hob die besonderen und widersprechenden Interessen der verschiedenen Klassen her vor. Die Schwächung des einigenden Bandes und des Gefühls der Zusammengehörigkeit als Brüder in einem einzigen Ganzen habe die Caesaren ermutigt, ihre weltliche und machtlüsterne Herrschaft auf die eigentlichen Werte des Geistes zu erstrecken. Nach Caesars Sieg durch rohe Gewalt verdrängte eine auf Privileg und Gewalt basierende Klassenherrschaft das Prinzip der Befähigung und des menschlichen Wertes, die von der mittelalterlichen Kirche als allein wichtig für den Aufstieg in ihrer Hierarchie betrachtet worden waren. „Diesem Egoismus müssen wir die politische Krankheit unserer Epoche zuschreiben; eine Krankheit, die allen nützlichen Arbeitern der Gesellschaft Leiden bringt; eine Krankheit, die es den Königen möglich macht, einen großen Teil des Einkommens der Armen für ihre eigenen Ausgaben sowie die ihrer Höf linge und Soldaten zu ver wenden; eine Krankheit, die eine ungeheure Überheblichkeit des Königtums und des gebürtigen Adels ver ursacht anstelle der Achtung, die den Männern der Wissenschaft, den Künstlern und den Leitern der Industriearbeit gebührt für die direkt und positiv nützlichen Dienste, die sie der Gemeinschaft leisten.“186 Saint - Simon erklärt sich beunruhigt von der wachsenden und anscheinend unwiderstehlichen Tendenz zur Atomisierung und selbstsüchtigen Absonderung in der modernen Gesellschaft. „Die Gesellschaft [...] ist heute in einem Zustand äußerster moralischer Ver wirrung, der Egoismus macht erschreckenden Fortschritt, alles tendiert zum Isolationismus.“187 Was die Gesellschaft noch zusammenhalte, seien gewisse tief ver wurzelte Gewohnheiten der Geselligkeit und ein gewisses Gefühl der Gemeinschaft von „gröbsten Interessen“.188

184 185 186 187 188

Vgl. ebd., S. 37. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 23, S. 183. Saint - Simon, New Christianity, S. 44. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 22, S. 51; Durkheim, Le Socialisme, S. 237. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 22, S. 52; Durkheim, Le Socialisme, S. 238.

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Angesichts dieses um sich greifenden moralischen Nihilismus, der alle Loyalität und sozialen Gefühle untergrabe, sei es zum aller wichtigsten Problem geworden, den Menschen dazu zu bewegen, sein persönliches Interesse mit dem Gemeinwohl in Einklang zu bringen. Wie können wir nun einen wirksamen Aufruf an den Menschen richten, in diesem Geiste zu handeln ? Lange Zeit blieb Saint - Simon in den Ideen von Helvétius und Bentham, Adam Smith und Condorcet befangen. Die zugrunde liegende Harmonie und Kohäsion der Planwirtschaft, die auf der wissenschaftlichen Arbeitsteilung basiert, würde die Menschen veranlassen, sich anzupassen und sich fast automatisch, spontan und mühelos einzugliedern. Hinzu komme das offensichtliche und wohlverstandene Interesse jedes Einzelnen, die Maschine in Gang zu halten. Schließlich setzte Saint - Simon große Hoffnung in den „catéchisme national“, der die „doctrine générale“ der zukünftigen Gesellschaft umfassen würde. „Es ist der Gesellschaft ebenfalls ein Bedürfnis, dass sowohl ihre Gefühle als auch ihre Ideen gut koordiniert und guten allgemeinen Vorschriften, das heißt guten Gesetzen unter worfen werden.“189 ( Es erübrigt sich jeder Kommentar zu dieser Ansicht über die Regulierung der Gefühle und Ideen von oben her.) Die beiden Schulen – des Fühlens und des Denkens – würden Daten liefern, „eine große Anzahl von Vergleichen und Kombinationen“.190 Auf der Grundlage dieser Resultate würde das „Institut“ den „catéchisme national“ formulieren, der in den Schulen gelehrt und für Lehrer und Klerus bindend sein würde. In den Schulen würde nichts gelehrt, was dem Katechismus widerspricht, und jeder öffentlichen Anstellung würde als Bedingung eine Prüfung in den Morallehren des Katechismus vorangehen.191 Dies würde auch auf die europäische Konföderation zutreffen. Obwohl es äußerst wichtig, ja entscheidend sei, dass die „doctrine générale“ bis in die niedrigsten Schichten dringt, werden die Reichen in ausführlicherer Weise unterrichtet werden, „doch wird der Unterricht der ärmsten Klasse weit genug gehen, um die Reichen daran zu hindern, ihr überlegenes Wissen auf Kosten der Armen zu missbrauchen.“192 An den Universitäten wird es besondere Lehrstühle für Sozial - und Moralwissenschaften geben; es wird gelehrt werden, „wie jeder Einzelne, in welcher sozialen Position er auch sein mag, sein spezielles Interesse mit dem Gemeinwohl verbinden kann [...]; dass der Mensch sich freiwillig dem größten moralischen Übel unter wirft, von dem er befallen werden kann, wenn er sein persönliches Wohlergehen in einer Richtung sucht, von der er weiß, dass sie schädlich für die Gesellschaft ist, ebenso wie er sich zu dem höchsten Grade von Befrie189 190 191 192

Saint - Simon, Œuvres choisies, Band 3, S. 200. Ebd., S. 207. Vgl. ebd., S. 44–46. Ebd., S. 201 ( Fußnote ).

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digung erhebt, wenn er für die Verbesserung seines persönlichen Geschicks in einer Richtung arbeitet, von der er deutlich fühlt, dass sie für die Mehrheit nützlich ist.“193 „Prinzipien, [...] die die besten, solidesten, einzigen sind, die die Gesellschaft so glücklich wie möglich machen können.“194 Aber Saint - Simon erkannte bald, dass von den vorgeschlagenen Anreizen – Appell an das erleuchtete Eigeninteresse, wissenschaftlicher Beweis, ausdauernde Erziehung, Morallehren – keiner stark genug war, um vollkommene soziale Kohäsion und Selbstidentifizierung des Einzelnen mit dem Gemeinschaftsideal zu sichern. Es waren tiefere, lebendigere und gleichzeitig strengere Kräfte notwendig : eine lebendige Religion. Er entdeckte zu seiner Überraschung, dass das ursprüngliche echte Christentum die Inspiration und Stärke besaß, um die Einheit des Lebens zu ver wirklichen und seinen Gläubigen ein lebendiges und begeisterndes Gefühl dynamischer Erfüllung und Brüderlichkeit zu geben. Es war ein großes Unglück, dass die Oberhäupter der Kirche das Christentum nicht ernst nahmen und sich dadurch schweren Verrats und Ketzertums schuldig machten. Da sie vor dem Kampf zurückschreckten, die Gesellschaft zum Christentum zu bekehren, lehrten sie die Wertlosigkeit des Lebens auf Erden und versprachen ewige Seligkeit in der nächsten Welt. Daher ergaben sie sich in die sozialen Übel, erlaubten brudermörderische Kriege und sangen das Te Deum für alle Kämpfenden ohne Unterschied, erlegten den Armen auf, Unterdrückung in Demut zu erleiden, und heiligten das Privileg der Geburt. Nur auf persönliche Heiligkeit kam es ihnen an, und das bedeutete Flucht vor den Problemen der Welt und nutzlose Askese. Die glühende Lava des Glaubens degenerierte zu leerem Ritual. Die Kirche entsagte der geistigen Führerschaft und ließ auf diese Weise die Wissenschaften und die Kunst ihrem Einfluss entgleiten, bis im Laufe der Zeit der Klerus dem gebildeten Laientum unterlag und allen Anspruch auf Führung und Erziehung des Volkes verlor. „Ich klage den Papst an, ein Ketzer zu sein; [...] einem Regierungssystem anzuhängen, das der moralischen und physischen Wohlfahrt der unbemittelten Klasse seiner weltlichen Untertanen stärker widerspricht als [...] das irgendeines weltlichen Fürsten.“195 Um das Christentum wiederzubeleben und es zur „allgemeinen, universalen und einzigen“196 Religion zu machen, müsse es zu einer lebendigen Synthese von Wissen, Ideen und Bestrebungen der zeitgenössischen Menschheit gemacht werden. Es werde die Bezeichnung Religion nicht verdienen und 193 194 195 196

Ebd., S. 189. Vgl. auch ebd., S. 188. Ebd., Band 2, S. 294. Saint - Simon, New Christianity, S. 12. Ebd., S. 24.

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keine Wirkung haben, wenn es sich nicht alle wissenschaftlichen Errungenschaften einverleibe, wenn es sich nicht voll mit dem konstruktiven Elan der Produzentenklasse identifiziere, wenn es nicht metaphysische Ideen und transzendentale Erwartungen durch soziale Ideale ersetze und wenn es nicht schließlich mit dem größten Eifer die Aufgabe aufgreife, „schnellstens die moralische und physische Lage der zahlreichsten Klasse zu verbessern [...] und die Reichen und Mächtigen daran zu hindern, die Armen zu unterdrücken“.197 Die neue Kirche müsse die ersten Schritte tun, um dem Industriesystem zur Entfaltung zu verhelfen, indem sie Wissenschaftler, Künstler und Industrielle dazu bewege, Pläne zu entwerfen, die die menschliche Intelligenz aufs äußerste aktivieren und diese Erde „in einen in jeder Beziehung höchst angenehm zu bewohnenden“198 Ort ver wandeln würden. Es sollte in der Macht der Kirche liegen, den historischen Übergang zum Industriesystem ohne Blutvergießen zu bewerkstelligen, indem sie den Armen von „Gewalttaten gegen die Reichen und die Regierung“ abrate und gleichzeitig die Reichen, Künstler, Gelehrten und Industriellen davon überzeuge, dass „ihre Interessen im Wesentlichen dieselben sind wie die Interessen der Massen des Volkes; dass sie zu der Klasse der Arbeiter gehören und dabei gleichzeitig ihre natürlichen Führer sind“.199 Und so lautet Saint - Simons Prophezeiung über das zukünftige „allgemeine und definitive Christentum“ : „Das Volk Gottes, dasjenige Volk, dem vor dem Erscheinen Christi Offenbarungen zuteil wurden, dasjenige Volk, das am weitesten über die Erdoberfläche verbreitet ist, hat immer empfunden, dass die von den Kirchenvätern begründete christliche Doktrin unvollständig ist. Es hat immer verkündet, dass eine große Zeit kommen werde, das Reich des Messias, wie es sie nennt; eine Zeit, in der die religiöse Doktrin in der ganzen Allgemeinheit, deren sie fähig ist, dargestellt werden soll; dass sie gleicher weise die Handlungen der weltlichen und der geistlichen Macht regulieren werde und dass dann das ganze Menschengeschlecht nur eine Religion und eine Organisation haben werde.“200 „Die Vorstellung der Dichter verlegt das goldene Zeitalter an die Wiege der menschlichen Gattung, zwischen die Unwissenheit und Roheit der frühen Zeiten; in diese Tage sollte eher das eiserne Zeitalter ver wiesen werden. Das goldene Zeitalter der Menschheit liegt nicht hinter uns; es liegt vor uns; es besteht in der Vollkommenheit der Gesellschaftsordnung : Unsere Väter haben es nicht gesehen, unsere Kinder werden es eines Tages erleben; an uns ist es, den Weg zu bahnen.“201 197 198 199 200 201

Ebd. Vgl. zu diesem Absatz auch ebd., S. 25. Ebd., S. 26. Ebd., S. 41. Vgl. auch ebd., S. 40. Ebd., S. 5. Saint - Simon, Œuvres choisies, Band 2, S. 328.

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B. Die Dialektik des romantischen Totalitarismus : Die saint - simonistische Schule 1. Die apostolische Gemeinschaft „Die letzten vierzehn Tage, meine Freunde, war ich damit beschäftigt, die Anordnungen zu treffen, die am besten geeignet sind, unserem Unternehmen ( der Zeitschrift ‚Producteur‘ ) zum Erfolg zu verhelfen; die letzten drei Stunden habe ich versucht, euch trotz meines Leidens eine Zusammenfassung meiner Ideen zu geben. [...] Ihr kommt in ein Zeitalter, in dem vereinte Kräfte unermessliche Resultate erzielen werden [...]. Die Frucht ist reif [...]; ihr müsst sie ernten. Der letzte Teil meiner Arbeit ( Nouveau Christianisme ) wird nicht sofort verstanden werden. Manche glaubten, das ganze religiöse System werde verschwinden, weil es gelungen ist, die Dekadenz des katholischen Systems aufzuzeigen. Sie befinden sich im Irrtum : Die Religion kann nicht vom Antlitz der Erde verschwinden, sie kann nur einem Wandel unterliegen [...]. Rodrigues, denke daran, um große Dinge zu vollbringen, muss man leidenschaftlich sein. Mein ganzes Leben kann in dem einen Satz zusammengefasst werden : allen Menschen die freieste Entwicklung ihrer Fähigkeiten zu sichern.“202 Das waren die letzten Worte, die Saint - Simon auf seinem Totenbett zu seinen wenigen Schülern sprach. Er war einige Minuten still. Dann, schon im Todeskampf, setzte er sich auf und sagte : „Achtundvierzig Stunden nach unserer zweiten Publikation wird die Arbeiterpartei entstanden sein.“203 Wenige folgten dem Trauerzug nach Père - Lachaise. Da waren die beiden eminenten früheren Schüler des Philosophen, die auch seine Sekretäre waren, der große Historiker Augustin Thierry und Auguste Comte, sowie einige

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Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 1, S. 121 f.; Bureaux du Globe ( Hg.), Le Globe, 30. Dezember 1831; Charléty, Histoire du Saint - Simonisme, S. 23. A. d. Hg. : Zu Beginn des Zitates muss es korrekt : „Seit zwölf Tagen“ lauten. Quellen für diesen Abschnitt : Saint - Simon / Enfantin, Œuvres; Saint - Simon, Doctrine ( zwei Ausgaben : Paris 1830 und 1924, letztere herausgegeben und mit einer Einführung von Bouglé und Halévy; beide Ausgaben wurden benutzt, aber zitiert wird aus der ersten ); Bureaux du Globe ( Hg.), Religion Saint - Simonienne; Bureau du Globe ( Hg.), Le Globe; Le Producteur ( Zeitung ), und die ausgezeichnete Sammlung von Zeitschriften, Broschüren, Flugblättern und saint - simonistischer Literatur in der Bibliothek der Londoner Universität ( Goldschmidt Collection ). Schriften über die Schule : d’Allemagne, Les Saint - Simoniens; Bougle, Chez les prophètes socialistes; Butler, The Saint- Simonian Religion; Charléty, Histoire du Saint - Simonisme; Weill, École. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 1, S. 121. Vgl. auch ebd., S. 120, Bureaux du Globe ( Hg.), Le Globe, 30. Dezember 1831; Charléty, Histoire du Saint - Simonisme, S. 23; Reybaud, Études sur les réformateurs, Band 1, S. 95.

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Anhänger, die ihm bis zum Ende treu geblieben waren, Olinde Rodrigues, Dr. Bailly, Léon Halévy und andere. Nach dem Begräbnis versammelte Rodrigues die Getreuen in seinem Haus. In dieser Versammlung wurde die saint-simonistische Schule begründet. Ihre Mitglieder hatten das Gefühl, eine apostolische Gemeinschaft darzustellen, eine Nachbildung jener kleinen Jerusalemer Bruderschaft vor etwa achtzehnhundert Jahren, mit ähnlicher Mission und Zukunft vor ihnen. „Die Welt in ihrer ganzen Fülle ist den Menschen zum zweiten Mal gegeben worden“204 von SaintSimon, genauso wie sie zum ersten Mal von Jesus Christus gegeben wurde. „Die Welt hat auf einen Erlöser gewartet, Saint - Simon erschien. Moses, Orpheus, haben die materiellen Bemühungen organisiert, Jesus Christus organisierte die geistigen Kräfte. Saint - Simon organisierte das religiöse Bestreben. Saint - Simon hat daher eine Synthese von Moses und Jesus Christus herbeigeführt. In Zukunft wird Moses der Chef des Kultes sein, Jesus Christus der Chef des Dogmas; Saint - Simon wird das religiöse Oberhaupt sein, der Papst.“205 Wer waren nun die Menschen, die sich berufen sahen, die ganze Welt zu revolutionieren, und welche Elemente verbanden sich zur Bildung dieser seltsamsten und geistig reichsten Bewegung des neunzehnten Jahrhunderts, die mit all ihren sonderlichen Zügen einen Einfluss ausübte auf Menschen wie Carlyle und Mazzini, Heine und de Vigny, George Sand und Michelet, Berlioz und Liszt, und natürlich Marx und Engels ? In erster Reihe war es eine Bewegung von sehr jungen Menschen. Kein einziger war über fünfunddreißig, als die Schule 1825 begründet wurde. Der älteste, Bazard, war damals vierunddreißig, Enfantin, der Rivale in der Führerschaft, erst neunundzwanzig, und Rodrigues war gerade einunddreißig geworden. Alle waren sie Intellektuelle und stammten aus dem Mittelstand. Es waren keine Adligen und kaum Arbeiter unter ihnen. Schon Zeitgenossen wunderten sich über die verhältnismäßig hohe Zahl von ehemaligen Studenten der „École polytechnique“. Außer Ingenieuren und Mathematikern umfasste die Schule sehr fähige Nationalökonomen, einige Ärzte und Juristen, eine ziemliche Anzahl von Literaten und Publizisten, Hochschullehrer, ein paar wenige bedeutende Dichter, Maler und Musiker.206 D’Eichthal, ein höchst anziehender Charakter und repräsentativ für die Bewegung, wie wir noch sehen werden, gibt einen aufschlussreichen Hinweis mit seiner Bemerkung, es sei in der saint - simonistischen Schule kaum irgend-

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Saint - Simon, Doctrine, S. 106. Reybaud, Études sur les réformateurs, Band 1, S. 107 f. Zu biographischen Angaben siehe Weill, École, S. 18 ff., 32 ff.; Blanc, Histoire de dix ans, Band 2; Duroselle, Michel Chevalier.

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jemand, der nicht durch einen „Familienkummer“ bewegt werde. Nehmen wir als Beispiel nur die drei oben erwähnten Führer : Bazard hatte wegen seiner illegitimen Geburt eine düstere Jugend. Enfantin war der Sohn eines bankrotten Bankiers. Er wurde aus diesem Grunde nicht zur „garde du corps“ zugelassen und von dem Mädchen, das er liebte und heiraten wollte, zurückgewiesen. Er wandte sich dem Weinhandel zu und verbrachte einige Jahre in Deutschland und St. Petersburg. Olinde Rodrigues kam aus einer Familie jüdischer Finanziers. Obwohl er ein glänzender Mathematiker war und einige wissenschaftliche Entdeckungen gemacht hatte, war ihm wegen seines Judentums die „École normale supérieure“, in die er eintreten wollte, verschlossen. Er ging zur Börse und häufte ein großes Vermögen an.207 Ein weiteres wichtiges Charakteristikum, das Aufmerksamkeit verdient, ist die Tatsache, dass nicht wenige unter den Saint - Simonisten über enge politische Verbindungen verfügten und eine gewisse Rolle im politischen Leben gespielt hatten, bevor sie zum Saint - Simonismus kamen. Bazard war der Gründer der „Charbonnerie française“ und Präsident der „Haute Vente“. Vorher, im Jahre 1814, hatte er sich durch große militärische Tapferkeit ausgezeichnet und war in die „Légion d’honneur“ aufgenommen worden. Er präsidierte dem Freimaurerkongress in Bordeaux im Jahre 1821 und organisierte im gleichen Jahre den Putsch von Belfort. Buchez, ein ehemaliger Medizinstudent, der später ein Führer des Christlichen Sozialismus, Historiker der Französischen Revolution und Präsident der Nationalversammlung von 1848 wurde, begann ebenfalls als aktiver und führender Carbonaro. Cerclet, einer der Herausgeber des „Producteur“, der bald absprang, war in Genf eng mit dem Nestor der Verschwörung, Buonarroti, verbunden gewesen. Er wurde später Herausgeber der einflussreichen Zeitung „National“ und schließlich Sekretär der französischen Abgeordnetenkammer. Bazard scheint für sie alle gesprochen zu haben, als er erklärte, weshalb er die verschwörerische revolutionäre Untergrundbewegung verließ und sich den Saint - Simonisten anschloss. Er begann, Verschwörung als etwas Unfruchtbares zu empfinden und das unklar umrissene Ideal der Revolutionsbewegung als ein zu fadenscheiniges Gewebe. Es hatte keine wirklich wissenschaftliche Grundlage, war nicht in eine umfassendere Weltanschauung eingebettet und gab keine Antwort auf viele der menschlichen Triebe und Sehnsüchte. Die saint - simonistische Religion erfüllte alle diese Anforderungen. Das öffentliche Auftreten der Saint - Simonisten als Schule erfolgte in der Zeitschrift „Producteur“, mit deren Planung einige Monate vor dem Tod des Meisters begonnen worden war. Der volle Titel lautete charakteristischer weise „Producteur – Journal philosophique de l’industrie, des sciences et des beaux207

Vgl. ebd., S. 18–25.

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arts“ und hatte Saint - Simons Prophezeiung vom Kommen des goldenen Zeitalters zum Wahlspruch.208 Unter den ersten Mitarbeitern befanden sich Männer, die man kaum Saint - Simonisten nennen konnte, wie zum Beispiel Adolphe Blanqui, der Nationalökonom und Bruder des berühmten revolutionären Verschwörers, Auguste Comte, der republikanische Führer Armand Carrel, Adolphe Garnier und andere; dies zeigt wieder, wie viel Kommen und Gehen es zwischen den verschiedenen Oppositionsgruppen jener Zeit gab. Erstaunlicher weise war es Carrel, ein republikanischer Heiliger, der auf die Angriffe von Liberalen wie Stendhal und Benjamin Constant gegen den Autoritarismus der Ideen der saint - simonistischen „Priester von Memphis und Theben“ antwortete.209 Der „Producteur“ ging Ende 1826 ein, nachdem er erst als Wochenschrift und dann als Monatsschrift eine Tribüne abgegeben hatte für kraftvolle Ideen, die in herausfordernder, aber großzügiger Weise zum Ausdruck gebracht wurden. Nach dem Aufhören der Zeitschrift folgten etwa zwei Jahre, die von den Saint - Simonisten als Periode stiller Expansion bezeichnet wurden. Persönlicher Kontakt, Briefwechsel, Missionseifer, glühende Aufrichtigkeit und unsichtbarer Ideenfluss gewannen einige junge Leute von großer Fähigkeit und leuchtendem Charakter : Michel Chevalier, der ein glänzender „polytechnicien“, her vorragender Nationalökonom und guter Stilist war, empfänglich und phantasiereich, und der bei allen, mit denen er in Berührung kam, bewundernde Zuneigung weckte – ihm war bestimmt, Professor am Collège de France und eine entscheidende Gestalt im Zweiten Empire zu werden ( ironischer weise unterhandelte er mit Cobden über den berühmten Freihandelsvertrag von 1860); Henri Fournel, Hohepriester der Technologie, der die Leitung der großen Creusot - Werke, die damals 2 500 Arbeiter beschäftigten, aufgab, um dem inneren Kreis der Schule beizutreten; Jules Lechevalier, ein begeisterter Anhänger Hegels, den er während seines Aufenthaltes in Deutschland kennengelernt hatte; der Sohn des großen Carnot; die Brüder Émile und Isaac Pereira, Vettern der Rodrigues’, die ebenso wie Olinde Rodrigues später große französische Industrielle, Bankiers und Eisenbahnbauer wurden; Gustave d’Eichthal, ebenfalls Jude, der allerdings in früher Kindheit getauft worden war, ein enger Schüler und Freund von Comte, ein Jüngling von glühendem Idealismus und mannigfachen Gaben; die Polytechniker Cazeaux, Edmond Talabot, Abel Transon, Charles Lambert, alle fähige und hochherzige Männer; Hoart, ein Artillerieoffizier, der sein Offizierspatent aufgab, um sich dem saint - simonistischen Kreuzzug für Weltfrieden und konstruktive Arbeiten zu widmen; Visio-

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Vgl. Charléty, Histoire du Saint - Simonisme, S. 31. Vgl. ebd., S. 42.

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näre, ekstatische Redner und Mystiker wie der Dichter Charles Duveyrier und die Prediger Barrault, Literaturprofessor, und Charton.210 Die Jahre 1828/29 waren Jahre intensiver Bekehrungsarbeit durch öffentliche Vorträge und regelmäßige Versammlungen. Die Vorträge wurden zuerst in der „Caisse Hypothécaire“ und danach in der „Rue Taranne“ unter dem allgemeinen Titel „Exposition de la doctrine de Saint - Simon“ gehalten und in Buchform veröffentlicht. Sie bilden die bei weitem umfassendste und wichtigste Ausarbeitung der Ideologie der Schule ( mehr als die Saint - Simons), bevor diese von den religiösen Problemen völlig überflutet wurde. Abgesandte der Pariser Zentrale machten, für gewöhnlich zu zweit, weite Reisen, um die Lehre zu verbreiten und Zweigstellen der Bewegung zu gründen. In allen Teilen Frankreichs und in all seinen größeren Städten, in Belgien, England, Deutschland wurden Seelen gewonnen und Bruderschaften begründet. Die Missionare erhielten Anweisungen von der Zentrale und sandten ihr regelmäßig Berichte. Ihre Predigten waren von der Art der Erweckungsprediger und zeichneten sich dennoch durch sorgfältige Erörterung und wissenschaftliche Richtlinien und Beweisführung aus. Dieser Generation entsprach die Synthese von Dialektik und Rührseligkeit. Nach den Jahren intellektueller Unfruchtbarkeit unter Napoleon herrschte in Frankreich ein wahrer Hunger nach Ideen. Das Klima der Romantik machte die Menschen äußerst aufnahmebereit und beeindruckbar. In einem Regime konstitutioneller Freiheiten mit stark beschränktem Wahlrecht wurde die intellektuelle Debatte zum Ersatz für echte politische Aktion. Da es bei der Diskussion nicht um unmittelbare praktische Entscheidungen ging, erstreckte sie sich auf alle möglichen weltumspannenden Ideensysteme.211 Über die Wirkung auf die Zuhörerschaft bei saint - simonistischen Predigten erfahren wir etwas aus einem Bericht von einem Bruder des berühmten Katholikenführers Lacordaire. Seine Beschreibung deckt sich mit anderen Berichten : „Der Saal war über voll und der Vortragende wurde aufmerksam angehört. Und dabei waren dies Katholiken, Liberale, Republikaner, die mit ansahen, wie der Katholizismus, Liberalismus, Republikanismus in Stücke gerissen wurden. Als ich die Begeisterung, die lebhafte Anteilnahme der Zuhörerschaft sah, die auch ich mit einer mir bisher unbekannten Gefühlsbewegung empfand, als des Redners Worte immer mehr seine tiefe Überzeugung bewiesen, wurde mir klar, dass all dies nicht künstlich ist und dass eine Doktrin, die solche uner warteten Gefühle in der Zuhörerschaft auslösen kann und 210 211

Vgl. Weill, École, S. 32 ff. Zur Propaganda der Saint - Simonisten vgl. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 3, S. 132 ff.; d’Allemagne, Les Saint - Simoniens, Kapitel 5 : Le Saint - Simonisme en province et à l’étranger, S. 133–156; Butler, The Saint - Simonian Religion.

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so viel Hingabe im Herzen des jungen Mannes von fünfundzwanzig ( Lechevalier ), der allein vor einer riesigen Menge stand, dass diese Doktrin, sage ich, vielleicht nicht nur ein philosophisches System ist, unbewiesen in der Theorie und unmöglich in der Praxis, sondern vielleicht eine solche, die die Geschicke der Menschheit bestimmen könnte.“212 Etwas später, nach der Durchsicht einiger Literatur, schreibt er : „Und doch, nach diesen beiden Abenden, die niemals aus meinem Gedächtnis ausgelöscht werden können, welch eine Veränderung in meinem Wesen ! Welche mir bisher unbekannten Gefühle wallen in meiner Brust und lassen mich einen Blick der Verachtung auf mein ganzes vergangenes Leben werfen ! [...] Ich war unglücklich, zutiefst elend. Jetzt bin ich es nicht mehr, die Zukunft bietet sich mir voller Leben und Jugend dar. Dieses Leben, diese Jugend sind die der Menschheit, die in Gott lebt, die mich in ihren Busen einschließt, die meine ganze Zuneigung, meine ganze Sympathie in sich konzentriert. Und jenes Europa, das vor der Stimme St. Bernhards erzitterte und sich von seinen Grundlagen loszureißen schien, um sich nach Palästina aufzumachen und es vom moslemischen Joch zu befreien, ist für mich nicht länger ein Gegenstand der Ver wunderung. Denn ich erlebe all das, es ist mir vergönnt, das alte Wunder des christlichen Glaubens zu verstehen und der nahen Erfüllung einer besseren Bestimmung für die leidenden Klassen entgegenzusehen.“213 Die Schule gelangte in den Besitz von zwei wirkungsvollen Zeitungen, einer Wochenschrift, „Organisateur, journal des progrès de la science générale“, die bald begann, sich als „Journal de la doctrine de Saint - Simon“ zu identifizieren; und des „Globe“, einer liberalen Tageszeitung, die von den Saint - Simonisten 1830 übernommen und von Pierre Leroux herausgegeben wurde, der bald seine eigene Richtung von romantischem Sozialismus entwickelte. Der „Globe“ hatte auf seiner ersten Seite drei Wahlsprüche : „Toutes les institutions doivent avoir pour but l’amélioration du sort moral, physique et intellectuel de la classe la plus nombreuse et la plus pauvre. Tous les privilèges de la naissance, sans exception, seront abolis. A chacun selon sa capacité; à chaque capacité selon ses œuvres.“214 Der „Globe“ begann mit einer Auf lage von 2 500 Exemplaren, hatte aber nur 500 Abonnenten. Die meisten Exemplare wurden gratis verteilt. Die Zeitung stellte am 20. April 1832 ihr Erscheinen ein.215 Das Wirken der Saint - Simonisten unter den arbeitenden Klassen verdient besondere Beachtung. Rodrigues, Fournel, Holstein und Madame Bazard befassten sich mit der Ausbildung von Aposteln für die Arbeiter. Paris war zu diesem Zweck in zwölf Bezirke eingeteilt worden. Es war geplant, die Missions212 213 214 215

Lacordaire, zit. in Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 3, S. 169 f. ( Fußnote ). Lacordaire, zit. in ebd., S. 171 ( Fußnote ). Reybaud, Études sur les réformateurs, Band 1, S. 417. Vgl. Charléty, Histoire du Saint - Simonisme, S. 111 f., 159 ( Fußnote ).

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tätigkeit mit der Organisation von kooperativen Werkstätten und Gesundheitsdienst zu verbinden. Dreihundertdreißig Anhänger wurden organisiert, darunter hundertzehn Frauen. Sie waren in drei Gruppen eingeteilt : Funktionäre (die als Mitglieder der „Familie“ oder des „Kollegiums“ zählten ), Anwärter oder Novizen und Gäste.216 Zwei Werkstätten, eine für Herrenschneider, die andere für Damenschneider, wurden eingerichtet. Sie sollten nicht „Suppenküchen für die Armen und Kleidersammlungen für die Bedürftigen“ darstellen, sondern ein „œuvre apostolique“ und „die Reihen jener großen friedlichen Armee von Arbeitern, denen so große Geschicke bevorstanden“, bilden.217 Die Saint - Simonisten organisierten auch einen besonderen Propagandadienst für die Arbeiterklassen in Form von Flugblättern – „Feuilles populaires“ –, die sonntags frei verteilt wurden.218 Aus einem Bund gleichgesinnter Menschen, die mit Missionseifer ihre Ideen verbreiteten, bildete sich die Gruppe langsam um in eine straff organisierte Sekte mit einem Ritual, einer Hierarchie und einer strengen Disziplin. Mehrere Mitglieder wohnten zusammen in der „Rue Monsigny“. Ihr Haus wurde zum Hauptquartier der Bewegung. Die führenden und aktivsten Mitglieder trafen sich regelmäßig drei - , viermal die Woche, dienstags, donnerstags, samstags und sonntags, und Madame Bazard fungierte als Wirtin. Diese Zusammenkünfte waren nicht lediglich Ausschusssitzungen. Sie trugen eher den Charakter eines Abendmahls einer apostolischen Gemeinschaft, begleitet von Gesängen und Segenssprüchen, überfließend von zärtlicher Bruderliebe, und sie gipfelten oft in Ekstase. Mit der Zeit wurden ein besonderes Zeremoniell und bis ins Einzelne gehende Riten für jede Art von Gelegenheit entwickelt, für Aufnahme, Heirat, Begräbnis, Segenerteilung.219 In seiner Schilderung einer solchen apostolischen Zusammenkunft schreibt einer der Teilnehmer : „Es ist unmöglich, sich den Reiz vorzustellen, der für uns darin bestand, Menschen zuzuhören, die an der Schwelle ihrer Bekehrung standen; Teile aus frohen Berichten ( von Missionaren ) anzuhören oder die extravaganten Dinge zu erfahren, die über uns gesagt wurden. Wir lasen die Angriffe der Presse auf uns, die Witze im ‚Figaro‘ und lachten herzlich, wenn sie gut waren. Die beiden Oberhäupter ( Bazard und Enfantin ) saßen sich

216 217 218

219

Vgl. ebd., S. 89 f.; Bureaux du Globe ( Hg.), Le Globe, 3. September 1831, 13. Oktober 1831. Charléty, Histoire du Saint - Simonisme, S. 90. Vgl. ebd., S. 157. Über das Wirken unter den Arbeitern vgl. außerdem Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 4, S. 85 ff.; d’Allemagne, Les Saint - Simoniens, S. 120–128; Bouglé, Chez les prophètes, 1. Kapitel : Saint - Simoniens et ouvriers, S. 1–50. Vgl. d’Allemagne, Les Saint - Simoniens, S. 128–130; Charléty, Histoire du Saint - Simonisme, S. 71–78.

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gegenüber. Enfantin ser vierte; er zeigte immer solch bange Sorge um jeden Einzelnen von uns, fragte einen nach dem anderen tausend Dinge. Bazard leitete die Unterhaltung [...]. In dieser Atmosphäre der Aufopferung war ich immer wie berauscht von einer Seelenglut ( chaleur d’âme ), die süß war wie das Erbarmen mit den Armen. Ich liebte alle, die um mich waren, und sie alle liebten mich. Oh, möge Gott mir für jedes der Jahre, die mir noch bleiben, eine ähnliche Illusion gewähren.“220 In dieser Atmosphäre, die trächtig war von Liebe und Zuneigung und voller ekstatischen Entzückens, ernannte am Weihnachtstag 1829 der erste Apostel Olinde Rodrigues feierlich Bazard und Enfantin zu den beiden „Pères“ oder Päpsten der Schule.221

2. Das jüdische Element Wenn es gerechtfertigt ist, die Tatsache als bedeutsam zu werten, dass Karl Marx von jüdischer Herkunft war und Juden eine her vorragende und auffallende Rolle in extremen radikalen und revolutionären Bewegungen der neueren Zeit gespielt haben, dann sollte das Forschen nach einer Erklärung dafür schon eine Generation vor Marx beginnen, nämlich bei der saint - simonistischen Schule.222 Betrachtet man den politischen Messianismus mitsamt den Anlagen und Spannungen, dem Klima und den Vorbildern für die Tat, die er erzeugte, als einen für die moderne Ära wesentlichen Zug, dann gebührt dem jüdischen Element in ihm erheblich mehr Bedeutung und Interesse als einer nur episodenhaften und zufälligen Erscheinung. Die Hochflut des politischen Messianismus begann mit Saint - Simon. Wir haben bereits einzelne Juden und ihre Rolle in der Bewegung erwähnt. Neben Olinde Rodrigues und seinem jüngeren Bruder Eugène, ihren Vettern Émile und Isaac Pereira, Gustave d’Eichthal seien der Dichter Léon Halévy aus der Familie des Komponisten, Moïse Renaudet, Félicien David genannt. Die Tatsache entging auch der Aufmerksamkeit der Zeitgenossen nicht. Vieles an dem heftigen Antisemitismus Fouriers und seiner Anhänger mag auf die bittere Rivalität zwischen den beiden Schulen zurückzuführen sein. Am entgegengesetzten Ende beschreibt der ultramontane polnische Dichter Zygmunt Krasiński in einem poetischen Drama, das bezeichnender weise „Die

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Charton, zit. in Charléty, Histoire du Saint - Simonisme, S. 73. Vgl. Weill, École, S. 93. Schriften über das Thema : Silberner, Westlicher Sozialismus [ Hebräisch ]; Szajkowski, The Jewish Saint - Simonians; Talmon, Uniqueness and Universality of Jewish History; Weill, Les Juifs et le Saint - Simonisme.

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ungöttliche Komödie“ ( Nie - Boska komedia ) heißt und in den dreißiger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts verfasst wurde, den Saint - Simonismus als eine jüdische Verschwörung zur Untergrabung der christlichen Zivilisation, um die Nationen Europas in einen Abgrund sozialer Anarchie und moralischer Verkommenheit zu stürzen; alles aus unerbittlichem dämonischem Hass gegen das Christentum. In der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts erzählte man sich an der Pariser Börse den Witz von einem christlichen Geschäftsmann, dem gesagt wurde, er müsse einen jüdischen Partner haben, damit sein neues Vorhaben gelinge, und der darauf prompt erwiderte, er habe zwei SaintSimonisten dabei. Der phänomenale Geschäftserfolg von Rodrigues und den Brüdern Pereira, ihre entscheidende Rolle in lebenswichtigen Zweigen der französischen Volkswirtschaft in Verbindung mit ihren sozialistischen und universalistischen Ideen waren dazu angetan, den Judenfeinden die Vorlage zu liefern für einen antisemitischen Mythos, der mit so entsetzlichen Folgen im zweiten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts wiederbelebt wurde : Sowohl der Kapitalismus als auch der Kommunismus wurden hingestellt als jüdische Kriegswaffen in den Händen einer finsteren kosmopolitischen Macht, die jeder nationalen Tradition fremd und feindselig gegenübersteht und überall als zersetzendes Gift wirkt. Wie sich ausreichend belegen lässt, waren sich die Saint - Simonisten des Vorhandenseins eines jüdischen Elements unter ihnen wohl bewusst, und es bedeutete ihnen mehr als die Zufallstatsache, dass einige ihrer Mitglieder jüdischer Herkunft waren. Wir haben bereits die Stelle aus Saint - Simon zitiert, in der er über die jüdische messianische Vision spricht und „das Volk Gottes, dasjenige Volk, dem vor dem Erscheinen Christi Offenbarungen zuteil wurden, dasjenige Volk, das am weitesten über die Erdoberfläche verbreitet ist ( und das) immer empfunden hat, dass die von den Kirchenvätern begründete christliche Doktrin unvollständig ist“.223 Wie wir gesehen haben, identifiziert SaintSimon seine eigene Vision von der endgültigen Ordnung der Dinge mit dem jüdischen „Reich des Messias; einer Zeit, in der die religiöse Doktrin in der ganzen Allgemeinheit, deren sie fähig ist, dargestellt werden soll; die gleicher weise die Handlungen der weltlichen und der geistlichen Macht regulieren wird; und in der dann das ganze Menschengeschlecht nur eine Religion und eine Organisation haben wird.“224 Diese emphatische Ideenassoziation muss von dem engen Kontakt herrühren, den Saint - Simon in den letzten Jahren seines Lebens mit jenem Typ kürzlich emanzipierter Juden unterhielt, der sich bemühte, die universalistische Natur des hebräischen Prophetentums und der

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Saint - Simon, New Christianity, S. 5. Ebd.

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messianischen Hoffnung zu unterstreichen und dagegen die nationalistischen Akzente der wunderbaren Rückkehr nach Zion und des jüdischen Sieges über alle nichtjüdischen Bedrücker zu dämpfen. Dies scheint bestätigt in Olinde Rodrigues’ Vor wort zu der 1832 erschienenen Ausgabe von Saint - Simons Werken nach seinem Bruch mit Enfantin wegen dessen Proklamation, die Vaterschaft solle von jetzt ab das ausschließliche Geheimnis der Mutter sein : „Die Krise der Zersetzung ist in Ihnen, Enfantin, zu einem Ende gelangt, die Krise der Reorganisation in der Politik und der Moralität beginnt mit mir durch Saint - Simon, dessen Erbe ich bin kraft meines Amtes. [...] Von dem Tage an, an dem Saint - Simon dem Manne begegnete, der die Zukunft liebt, die Wissenschaft versteht, die schönen Künste erfühlt und sich in der Industrie praktisch betätigt; dem Manne, der die Tradition von Moses von Bluts wegen in sich trägt und diejenige Christi durch seine Uneigennützigkeit; von dem Tage an, an dem dieser Mann, ein Gelehrter und Industrieller, durch den Umgang mit Gelehrten und Industriellen das Geheimnis ihrer Stärke und die Schwäche ihrer Moralität kennengelernt hatte; von dem Tage an, an dem dieser Mann, in dessen Eingeweiden die lebendige Flamme Saint - Simons brannte, der sich von neuem Leben durchdrungen fühlte und in Saint - Simon, dem christlichen Feudalherren, einen neuen Vater erkannte; von diesem Tage an war die Assoziation der universalen Familie geboren; von diesem Tage an wurde die Vereinigung von Juden und Christen im Schoße eines neuen Christentums, einer universalen Religion, möglich.“225 In seiner Erwiderung an Rodrigues und zur Verteidigung von Enfantin schreibt d’Eichthal : „Ich, ein Jude wie Du, der von seinem Volk die Sprache der Propheten, das Wort der Wahrheit, herleitet; [...] habe die Pflicht [...], Deine [...] Irrtümer zu korrigieren.“226 Der Mann, der einen entscheidenden Einfluss auf die religiös - messianische Entwicklung der saint - simonistischen Bewegung ausübte, war Olinde Rodrigues’ jüngerer Bruder Eugène. Er starb im Alter von dreiundzwanzig Jahren, verzehrt von einer idealistischen Glut, der sein kränklicher Körper nicht gewachsen war. Er übersetzte Lessings Erziehung des Menschengeschlechts ins Französische und leitete sie mit einem langen Vor wort ein. In diesem plädiert Eugène eindringlich und in exaltierter Sprache für eine Menschheitsreligion, die das Beste aus allen Religionen in eine Synthese vereinen, alle ihre Anhänger mit einem freudigen und feierlichen Gefühl universaler Einheit erfüllen und das Streben nach ewigem Fortschritt durch konstruktiven Einsatz und

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Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 6, S. 43 f. Vgl. auch Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 4, S. 209, 211 f.; Bureaux du Globe ( Hg.), Le Globe, 16. Januar 1832. Saint - Simon, Œuvres, Band 6, S. 53.

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soziale Gerechtigkeit heiligen würde. Der Ausruf, die Menschheit habe eine religiöse Zukunft, stammt von Eugène. In Selbstverleugnung trennte er sich von dem Mädchen, das er mit aller Zärtlichkeit und Leidenschaft eines jungen romantischen Wesens liebte, um sich der Sache der Menschheit zu weihen.227 War Eugène für Enfantin, den Vater und Papst der Kirche, der Evangelist, so spielte Olinde Rodrigues, wie bereits angedeutet, durch Gründung der Bewegung beim Tode Saint - Simons die Rolle des Sankt Paulus. Zwar stellten alle bemittelten Jünger der Bruderschaft großzügig so viele Geldmittel zur Verfügung, wie sie nur konnten, doch der Beitrag von Rodrigues war der wichtigste. Er übernahm auch die Finanzierung der Missionstätigkeit. Viele Jahre später, im Zweiten Empire, ver wandte Olinde Rodrigues viel Zeit, Mühe und Geld darauf, die gesammelten Schriften Saint - Simons und der Schüler sowie alles verfügbare Material, das irgendeinen dokumentarischen Wert besaß, zu veröffentlichen. Angesichts der hoffnungslosen Weitschweifigkeit und Wiederholungen in den saint - simonistischen Schriften lässt sich schwerlich behaupten, Rodrigues habe sich damit die Dankbarkeit der Nachwelt erworben. Zur Bezeugung ihrer Hochachtung und möglicher weise eines Gefühls der Dankesschuld gegenüber dem Judentum entsandten die nichtjüdischen SaintSimonisten eine kleine Delegation in saint - simonistischen Gewändern in die Pariser Zentralsynagoge, um dem Gottesdienst am Versöhnungstag beizuwohnen. Einige unter ihnen prophezeiten inbrünstig, der weibliche Messias, die Mutter, auf deren Kommen sie warteten, werde eine Jüdin aus dem Orient sein, aus Jerusalem, Konstantinopel oder Ägypten, wohin sie sich – wie wir noch sehen werden – begaben, um sie zu erwarten und gleichzeitig den Orient durch konstruktive Arbeiten wieder zum Leben zu erwecken. Wodurch fühlten sich Juden zur saint - simonistischen Bewegung hingezogen und was kann als spezifisch jüdischer Beitrag oder als jüdisches Element in der Bewegung angesehen werden ? Etwas in der jüdischen Tradition sträubt sich dagegen, die Geschichte einfach als den Ablauf der Zeiten hinzunehmen. Die Geschichte muss auf eine gewisse messianische Endlösung gerichtet sein. Diese Einstellung lässt sich einesteils auf die jüdischen Lehren von der Geschichte als einer Geschichte von Erwählung, Sünde, Buße und Erlösung am Ende der Tage und anderenteils auf das Jahrtausende alte Leben der Juden als Minorität in der Zerstreuung zurückführen. Eine nonkonformistische Minorität, die verfolgt oder zumindest von der Welt gefragt wird und sich selbst die Frage stellt nach Sinn und Zweck ihres Abgesondertseins, muss entweder eine überlegene Eigenart

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Vgl. Saint - Simon, Œuvres, Band 26, S. 1 ff.

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und die Bestimmung einer Sendung geltend machen oder ihre Situation als im Wesentlichen provisorisch und ihr Leben als eine Art Vorbereitung betrachten auf eine apokalyptische Endlösung, die nach einer heftigen Erschütterung kommen wird. So erklärt sich zum Beispiel die gewitterschwangere Atmosphäre, in der die Juden Osteuropas in dem Zeitraum zwischen den beiden Weltkriegen lebten : von zwei Seiten her messianischen Feuern – der zionistischen Erlösung und der kommunistischen Weltrevolution – ausgesetzt, bis der Abgrund ewiger Nacht sie verschlang. Für den Saint - Simonismus stellte sich der Zweck einer Nation nicht einfach dar als das Leben, wie es ist und immer war, sondern als Teilnahme an einem Marsch auf ein universales Ziel zu. Der Universalismus der Ideologie übte eine eigene Anziehungskraft auf jene frisch emanzipierten Juden aus, die weder sich mit der so stark von Katholizismus durchtränkten französischen Tradition identifizieren noch von ihr als ein integraler Bestandteil akzeptiert werden konnten. Die meisten von ihnen waren zu stolz und hatten zu viel Selbstachtung, um den leichtesten, opportunistischen Weg von Taufe und Abfall einzuschlagen. Die saint - simonistische Menschheitsreligion, die alle anderen Religionen aufhob und das ausdrückte, was das Wesen des jüdischen Messianismus auszumachen schien, war in ihren Augen ein Glaube, der auch Erlösung von den besonderen Leiden des Juden in einer nichtjüdischen Welt versprach. Außerdem verherrlichte die Ideologie des Industrialismus Tugenden und Leistungen, in denen Juden sich her vortun konnten, und machte durch das Versprechen von Entlohnung gemäß persönlichem Verdienst jede Frage nach Rasse und Geburt völlig belanglos. Wissenschaftler, Industrielle, Techniker und Bankiers waren ausersehen, zu Erlösern der Menschheit zu werden. Die jungen jüdischen Anhänger Saint - Simons hatten sich gerade freigemacht von dem allumfassenden jüdischen religiösen Vermächtnis, dem zahllose Generationen ihrer Vorfahren völlig ergeben waren. Die aufgestaute Intensität war plötzlich gleichsam ohne Ziel gelassen. In einer solchen Situation werden Menschen gelegentlich zu idealistischer Heiligkeit getrieben, manchmal zu rücksichtsloser und schamloser Herrschsucht oder auch zu unersättlicher Habgier. Wenn geistig und idealistisch sublimiert, war die uralte jüdische Tradition der Solidarität und des einfühlenden Mitleids mit den Leiden anderer imstande, im Sozialismus eine ver wandte Anlage zu finden, und Juden warfen sich ihm begeistert in die Arme. Der Saint - Simonismus verkündete überdies eine Religion der Liebe. Er versprach zärtliche Umarmung all der Einsamen, Ver wundeten, Verschmähten sowie all derer, die zwischen verschiedenen Welten schwebten und sich nach einem Gefühl des Dazugehörens und nach lebenspendender Zuneigung sehnten. Es genügt, einige Äußerungen des in früher Kindheit getauften d’Eichthal zu lesen, um diese magische Anziehungskraft zu erfassen.

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3. Dogma und Erleben In der Einleitung zur Exposition de la doctrine de Saint - Simon (1828/29) wird als Ziel der saint - simonistischen Schule definiert, „die Gefühle, Wissenschaft und Industrie von allen Fesseln, die ihren Fortschritt hemmen, zu befreien; [...] zu beweisen, dass neue Bande notwendig sind, um alle Kräfte in Ordnung zu vereinen; alle soziale Tätigkeit auf dasselbe Ziel zu lenken“.228 Im Geiste Saint - Simons ist das Ideal nicht Freiheit, sondern Befreiung im Sinne vollständiger Aktivierung. Solche volle Aktivierung werde nur durch vollkommene zielstrebige Integrierung erreicht. Ohne diese gebe es Frustration und Vergeudung. Die Saint - Simonisten waren äußerst empfindlich gegenüber der Anschuldigung, sie seien Feinde der Freiheit. „Weit davon entfernt, das Idol unserer Jugend zu zerbrechen, halten wir es höher in Ehren; wir haben seinen Kult nicht aufgegeben, sondern ihn geläutert; wir haben seinen Altar nicht gestürzt, sondern ihn aus der einsamen Domäne der Persönlichkeit in die weiten und belebten Gefilde der Gemeinschaft verlegt. Wenn wir auf wilde, kraftlose und isolierte Freiheit, die von Hass und Misstrauen begleitet wird, verzichtet haben, so war es, um fruchtbarer und mächtiger Freiheit zu folgen, deren Gefährten Friede und Liebe sind.“229 Isolationistischer Individualismus sei der Prinz von Dänemark für den Hamlet des Egoismus und dieser der „Feind des Menschen“, der Urheber aller Plagen, die das Vaterland heimsuchen – „et pour moi ( Enfantin ), la patrie, c’est l’univers“.230 Die Saint - Simonisten streben nach einer Freiheit, die „der Disziplinlosigkeit des Hochmuts (‚orgueil‘ )“ entsagt, doch „la noblesse de la fierté“ bewahrt, die die Symbole des anarchischen Aufruhrs, die phrygische Kappe und den Dolch, ablegt, doch die „Friedenspalme“ der Wissenschaft und Industrie, den Bleistift und den Spaten, ergreift. Sie wollen nicht Furcht, sondern Glück und Hochgefühl verbreiten.231 Kurz, die Saint - Simonisten proklamieren die Freiheit des Genies, das derzeit in Knechtschaft gehalten werde, da die Privilegien der Geburt und des ererbten Reichtums die Fähigkeiten der Armen zum Brachliegen verurteilen oder bestenfalls zur Ausbeutung durch goldglänzendes Laster, während die Fähigkeiten der Reichen in Untätigkeit verkommen. Die Ver wendung aller Kräfte erfordere die Beseitigung der Hindernisse, die der Selbstver wirklichung von Fähigkeit und Gefühl im Wege stehen; sie sei 228 229 230 231

Saint - Simon, Doctrine, S. 6. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 4, S. 99 f. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 2, S. 45 ( Fußnote ). Ebd., Band 4, S. 100.

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nur möglich in einer voll integrierten, einem Plan folgenden Gesellschaft, mit anderen Worten : in einem organischen Zeitalter. Der Fortschritt der Schule über den Meister hinaus besteht nun in der festen Überzeugung, die organische Natur der Gesellschaft sei der normale und gesunde Zustand, und ein kritisches Zeitalter drücke einen Zustand von Krankheit und Störung aus. Die Schüler geben die Theorie von den alternierenden Zeitaltern auf. Sie erkennen an, dass in der Vergangenheit organische und kritische Epochen einander abwechselten. Aber jetzt ist die Menschheit an die Schwelle ihrer wirklichen und endgültigen Bestimmung gelangt, des Fortschritts, der nicht mehr von Rückfällen unterbrochen und von inneren Kämpfen und Spannungen gehemmt wird. Die Saint - Simonisten ver wendeten ungeheure Energie darauf, die Gedanken des Propheten zu diesem Punkt ad nauseam auszuarbeiten. Das Aufgehen in einer klaren kollektiven Zielsetzung – sie greifen Saint - Simons Leitidee wieder auf – werde natürlicher weise eine objektive Koordination von Krafteinsatz, Leistung und Entlohnung sichern. Erziehung und Gesetzgebung werden stetig das Ihrige tun, um die Menschen subjektiv zu veranlassen, sich dem gemeinsamen Vorbild anzupassen. Die Leitung der Gesellschaft werde in den Händen wirklich fähiger Führer liegen und darum ihre Autorität in aller Augen unbestritten legitim sein. Sie werde als Autorität respektiert und nicht als überlegene Macht gefürchtet werden. Der Schwächere werde sich daher der Führung des Kundigeren anvertrauen, und der Stärkere werde dem Minderbegabten eine helfende Hand entgegenstrecken. Eine Harmonie der sozialen Beziehungen werde sich ergeben, „régi par une providence, [...] volonté bienfaisante“.232 Wie in einem gesunden, ausgeglichenen, von schizophrenen Ambivalenzen freien Menschen werden in dieser Gesellschaft Gedanken und Taten miteinander im Einklang sein. Die herkömmliche Unterscheidung zwischen Theorie und Praxis, Theorie und Fakten werde bedeutungslos. Es werde außerdem kein Raum sein für die Dichotomie von Religion und Wissenschaft und für das Missverhältnis zwischen geistiger Leistung und moralischer Unzulänglichkeit oder für die Schranke zwischen persönlichem Wohl, Interesse und Freiheit einerseits und dem Gemeinwohl und der Pflicht andererseits.233 Menschen sollen sich „gegenseitig helfen, da ihre Geschicke miteinander verkettet ( enchaînées ) sind [...]. Sie können nur dann auf dem Weg der Liebe,

232

233

Saint - Simon, Doctrine, S. 139. Zum gesamten Abschnitt vgl. ebd., S. 54–57, 97 ff., 136–140, 142–145, 185, 315; Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 1, S. 15; Rodrigues, Lettres sur la religion, S. 6, 131. Vgl. ebd., S. 87–92, 329, 333–341. Vgl. auch Rodrigues, Lettres sur la religion, S. 6, 131.

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Wissenschaft und Macht vor wärts schreiten, wenn sie diese Solidarität ständig erweitern.“234 Die Saint - Simonisten maßen dem befreienden, neubelebenden Solidaritätsgefühl, das Saint - Simon in dem Erlebnis der Einheit suchte, höchste Bedeutung zu. Die Geschichte, das Gefühl ihrer Einheit und Hinwendung zum messianischen Ziel trotz scheinbar fehlenden Zusammenhangs und Sinns, war für sie eine lebenspendende Kraft. Es sei kein Wunder, dass der Mensch der Vergangenheit, ohne klare Vorstellung von den Kräften in der Geschichte und ver wirrt von dem anscheinend sinnlosen Ablauf der Geschehnisse, sich machtlos, schwach und von blinden Mächten regiert fühlte. Seine über wiegende Erfahrung sei die der Angst und Resignation gewesen. Aber jetzt, da dem Menschen ein neues Werkzeug gegeben ist, mit dem er das Geheimnis der Geschichte durchdringen und ihren logischen Ablauf überblicken kann, ist er imstande, seinem künftigen Geschick mit Ruhe und Vertrauen entgegenzusehen. Er ist jetzt ein freies und intelligentes Wesen; in der Lage, sein Glück durch sein eigenes Bemühen zu beschleunigen. Saint - Simon hat die christliche Losung umgekehrt : „Alle sind berufen, und alle sind auser wählt.“235 Dieses klare Verständnis für die Geschichte und die Kräfte der Zukunft biete auch eine Gewähr für eine friedliche Entwicklung. Die „régéneration définitive“ der Menschheit erfordere nicht heftige Spasmen oder plötzlichen Sturz derjenigen, die sich sträuben, von der Erneuerung mit erfasst zu werden. Zureden werde genügen, um die Überzeugung von der geschichtsgewollten konstruktiven und planvollen Natur der erstrebten Neuordnung der Dinge durchzusetzen. Die Menschen „können jetzt [...] die Zukunft [...] überprüfen; [...] die Ver wirklichung vorbereiten; [...] Unruhen und Gewalttat, die in der Vergangenheit gleichsam als Bedingung allen Fortschritts erschienen, voraussehen und unterbinden“.236 Welche erhebende und befreiende Wirkung wird man erleben durch diese Übereinstimmung mit „la vie du monde, [...] dem Plan, dem die Menschengattung während der ganzen Dauer ihres Bestehens folgte, ( durch ) unseren Wunsch, unseren Teil zur Ausführung dieses Planes beizutragen, ( durch ) den Glauben, dass es schön ist, eine große Rolle auf dieser ungeheuren Bühne zu spielen [...], mit Arm und Geist mitzuhelfen“.237 Wie bereits gesagt, werde, nachdem die Menschheit klaren Blick erworben und Geistes - und Gefühlsleben miteinander in Einklang gebracht habe, nicht 234 235 236 237

Saint - Simon, Doctrine, S. 257. Vgl. auch ebd., S. 200 f. Saint - Simon, Doctrine, S. 122. Vgl. auch ebd., S. 113–115, 121, 139. Ebd., S. 212 f. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 1, S. 223 f.

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endender Fortschritt zur Ver vollkommnung befreit sein von jenen Einflüssen der Unwissenheit und des Konflikts, die in der Vergangenheit den Vormarsch hemmten. Die Geschichte werde gewissermaßen dann erst beginnen. „Aucune rétrogradation [...] désormais.“238 Keine heftigen Krisen, keine Kriege, keine Ver wicklungen. Das Assoziationsprinzip wird sich durch Hinzunahme neuer Bereiche stetig ausbreiten und dadurch zu einem Erstarken des Gemeinschaftsgefüges führen. Die Wissenschaft wird sich schnellstens entwickeln, die Industrie wachsen und sich reibungslos ausdehnen, und genährt von der in der Gemeinschaft herrschenden Begeisterung und von den geheimen Freuden des Privatlebens, werden die schönen Künste blühen.239 Das Gefühl der Einheit setze eine klare und scharfe intellektuelle Formel, mit anderen Worten ein Dogma, voraus. Jede Wissenschaft trachte danach, alle einzelnen Tatsachen auf eine Hypothese, ein einziges Prinzip, eine allumfassende Konzeption zurückzuführen. Im kritischen Zeitalter waren wissenschaftlicher Isolationismus weitgehende Spezialisierung die Begleiterscheinung der vorherrschenden sozialen Anarchie; kurz gesagt, es fehlte ihm an einer Leitidee. Dem organischen Zeitalter gelinge es, alle die leitenden Hypothesen der verschiedenen Wissenschaften in eine allgemeine Synthese zusammenzufassen, in ein Dogma, das als Basis „à la science générale“ dient.240 Ein allgemeines Dogma sei jedoch nicht nur für den wissenschaftlichen Fortschritt notwendig, sondern auch für eine allgemeine Weltanschauung und den sozialen Fortschritt. Auguste Comte gab sich große Mühe zu beweisen, dass „Dogmatismus der Normalzustand der menschlichen Intelligenz ist, der Zustand, dem sie ihrer Natur nach zustrebt, fortwährend auf jede Weise, sogar wenn sie sich am weitesten von ihm zu entfernen scheint“.241 Sogar das Zeitalter der Revolution, entschlossen, der Herrschaft des Dogmas, das bis dahin als natürlich galt, ein Ende zu setzen, musste seine rein kritischen Ideen in eine dogmatische Form kleiden, wenn auch nur zum Zwecke der Zerstörung. Diejenigen, die Grundsätze ver werfen, wissen nicht, was sie sagen. Jede Handlung setzt irgendwelche ausdrücklichen oder implizierten „principes préalables de direction“,242 irgendeine Gesamtschau der sozialen Beziehungen voraus.

238

239 240 241 242

Saint - Simon, Doctrine, S. 113. Vgl. auch ebd., S. 150 : „Tout le passé [...] un vaste état de guerre systématisé.“ Ebd., S. 159 : „L’organisation de l’avenir sera définitive, parce que seulement alors la société sera constituée directement pour le progrès.“ Vgl. d’Allemagne, Les Saint - Simoniens, S. 54 f.; Producteur, Band 2, S. 534. Saint - Simon, Doctrine, S. 380 f. Vgl. auch ebd., S. 77 : „Doctrine generale.“ Vgl. außerdem ebd., S. 364 ff. Producteur, Band 2, S. 359. Zu Auguste Comte siehe auch Gouhier, La Jeunesse d’Auguste Comte, Band 3, S. 242–252, 262–283, 285 ff. Ebd., S. 360; Charléty, Histoire du Saint - Simonisme, S. 34.

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Es gibt keine gänzlich spontanen Handlungen. Das wären dann reine Kapricen. So paradox es klingen möge, einzig die Vitalität eines tief eingebetteten Dogmas ermögliche spontanes Handeln. Denn es bedeute „die Disposition, spontan ohne vorangegangenen Beweis“243 zu glauben. Das verleihe unseren Handlungen Spontaneität und dabei Zusammenhang und Zielstrebigkeit. Diese Konzeption der Rolle des Dogmas erinnert stark an die Ansichten Burkes und der ultramontanen Rechten. Es gibt jedoch einen fundamentalen Unterschied. Für die Letzteren war das Dogma in Überlieferung eingebettet; teils in die der Geschichte, teils in die des religiösen Kanons ( und seiner berufenen Exponenten ). Es bedeutete in erster Linie überlegungslose, fast instinktive Gewohnheit. Das saint - simonistische Dogma ist eine rein begriff liche Idee und hat eine dynamische Qualität. Es bezieht sich auf eine wissenschaftliche Theorie, nicht auf ein Gefüge von Gewohnheiten, Vorurteilen und Reflexen. Hieraus ergeben sich weitgehende Folgerungen. Die Saint - Simonisten postulieren ein Dogma der Zukunft, dessen „Allgemeinheit“ und „Universalität“ jedem der Dogmen, die in der Vergangenheit gegolten hatten, überlegen sein würde. Es werde jedem Einzelnen „Liebe zu allen“ eingeben, das Wollen aller Einzelnen in einen Willen vereinen, alle Kräfte auf ein einziges soziales Ziel hinlenken : „Das weiteste Prinzip, auf dem alle unsere Anschauungen der Zukunft begründet sind [...], bestimmt die Liebe des Bürgers zur Gesellschaft, zur Welt, von der er ein Teil ist [...]. Er findet dieses Prinzip überall und unter tausend verschiedenen Formen offenbart. Die Industrie, der Gelehrte und der Künstler beziehen alle ihre Handlungen, alle ihre Ideen auf dieses Prinzip, denn es allein heiligt oder ver wirft endgültig, und es allein stellt uns die Welt und die Menschheit nicht als ein finsteres Chaos hin, sondern als die Ausführung eines Planes, eines harmonisch konzipierten Willens, der Pflichten auferlegt, durch deren Erfüllung der Mensch sein Glück finden sollte.“244 Der Fortschritt der Zivilisation sei gleichbedeutend mit zunehmender Integration : je größer die Integration, umso größer die Notwendigkeit eines Dogmas. Der intellektuelle Charakter des Dogmas mache es unvermeidlich, dass nur eine sehr kleine Klasse, die „éminemment active dans l’ordre spéculatif“ ist, nur die „kleine Anzahl“ derer, die ihr Leben der Erforschung der Sozialwissenschaften widmen, imstande sein werden, das Dogma wissenschaftlich zu ana-

243 244

Producteur, Band 2, S. 363; Charléty, Histoire du Saint - Simonisme, S. 34. Saint - Simon, Doctrine, S. 328 f. Vgl. auch ebd., S. 364 f. : „L’on peut dire que dans toute époque organique la science a été théologique [...]; enfin elle est devenue complètement athée.“ Vgl. außerdem ebd., S. 366–370.

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lysieren.245 Sie werden die „autorité compétente“246 darstellen. Für sie ist „destination propre le gouvernement de l’opinion“.247 Was die Massen betrifft, so werden „presque la totalité des hommes“248 auf Beweise verzichten müssen. Sie werden die neue Doktrin ebenso wie die Doktrinen der Vergangenheit „d’une manière dogmatique“249 akzeptieren müssen. Ohnehin seien für die meisten Menschen ein wissenschaftlicher und logischer Beweis von der Angemessenheit dieser oder jener Handlung und ein Hinweis auf die Mittel, mit denen ein gewisses Ziel erreichbar ist, nicht ausreichend, um sie anzuregen, eine Handlung einer anderen vorzuziehen, und vor allem, auch zu handeln. Hierfür müssen neben der Vernunft andere Triebkräfte im Menschen geweckt werden, wie sein Gefühl der Liebe und Sympathie, „fortement prononcée“,250 für das allgemeine Ziel. Dies gibt der ganzen Theorie der saint - simonistischen Schule eine sehr scharfe und entscheidende Wendung. Sie fasst den ganzen Menschen ins Auge. Nicht allein das Geschöpf der Vernunft, sondern den Menschen mit seinen Gefühlen, Leidenschaften und Impulsen. „Der Mensch ist eine Ganzheit.“251 Die Aufteilung in Fähigkeiten ist eine willkürliche Abstraktion. Ein Mensch handelt als ein Ganzes, nicht in irgendeiner Teilfunktion. Sage nicht, jetzt überlegt er, jetzt fühlt er, jetzt stellt er sich etwas vor. Sage, er erlebt, und das umfasst alles, denn alle Elemente sind immer in Mischung gegenwärtig. Erleben ist gesteigertes Gefühl – wenn man will, Liebe. Als ein Akt der Bejahung ist sie Glaube. Wahre wissenschaftliche Entdeckung und Fortschritt erfolgen nicht durch mühsames Aneinanderreihen von Einzelheiten. Es geht ihnen ein Auf lodern der Intuition voran, die manche Offenbarung nennen, andere Eingebung. Ihre Quelle ist intensives, gesteigertes Erleben. Manche besitzen mehr davon, andere weniger. Diejenigen, die es in höchstem Maße besitzen, nennen wir Genies. „Die allgemeine Ansicht ist, dass der menschliche Geist, der eine Masse von Tatsachen beobachtet, nacheinander von einer zur anderen fortschreitet und so ohne Unterbrechung von besonderen Tatsachen zu einer allgemeinen

245 246 247 248 249 250 251

Producteur, Band 2, S. 360; Charléty, Histoire du Saint - Simonisme, S. 34; Saint Simon, Doctrine, S. 271. Producteur, Band 2, S. 363; Charléty, Histoire du Saint - Simonisme, S. 34. Producteur, Band 2, S. 317. Saint - Simon, Doctrine, S. 271. Producteur, Band 3, S. 119. Vgl. auch ebd., S. 118; Charléty, Histoire du Saint - Simonisme, S. 42. Saint - Simon, Doctrine, S. 271. Ebd., S. 104.

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Tatsache gelangt, zu dem Gesetz, das sie verbindet; das heißt, die Konzeption, die Entdeckung dieses Gesetzes, wäre die Folge, das logische Ergebnis der letzten beobachteten Tatsache. Es gibt in der Geschichte der menschlichen Entdeckungen kein Beispiel für ein derartiges Vorgehen. [...] Die schöpferische Idee ( pensée créatrice ) kommt aus der Inspiration des Genies und nicht auf dem Wege einer Methode.“252 Gesteigertes, liebendes Erleben hat auch die wunderbare Eigenschaft, Dinge in ein lebendiges, vibrierendes Ganzes zu verschmelzen. Lediglich kritische Analyse zerbricht sie, ver wandelt sie in Atome, Staub, „sie bringt überall [...] Tod mit sich“.253 Liebendes Erleben dringt intuitiv und direkt in den inneren Geist, das innerste Geheimnis der Dinge ein. Die kritische Analyse hat die Aufgabe, den Offenbarungen des Genies zu folgen und sie nachzuprüfen. Was für das wissenschaftliche Bestreben zutrifft, das sollte nun nicht weniger, sondern eher verstärkt zutreffen für unsere Beziehung zur Gesamtheit des Daseins, zum Leben der Gesellschaft und zur Welt. Diese Konzeption von der Einheit der Geschichte, der Bedeutung des Fortschritts, die wir uns so sehr bemüht haben zu ergründen, Begriffe, die nicht in Moleküle zerlegt und von Rechenmaschinen analytisch aufgereiht werden können, müssen intensiv erlebt werden, um ihr Geheimnis aufzudecken und lebenspendende Kraft zu geben. Diese Art Erleben sei Religion genannt worden : „Cette disposition mystique au moyen de laquelle l’homme se met en rapport sentimental avec l’univers et imagine une vie éternelle.“254 Das religiöse Gefühl umfasse und aktiviere de facto den ganzen Bereich der Gefühle in einem – Liebe, Ergebenheit, Treue, Ehrfurcht, Mitleid und Anteilnahme. Wenn eines von diesen aufgerührt werde, setze es alle anderen in Bewegung. Wenn darum ein Liebesgefühl – etwa Vaterliebe – betroffen werde, scheinen alle Liebesimpulse aktiviert zu werden und sich auszuweiten. Das Bindeglied zwischen unseren Gefühlen sei nicht lediglich Philanthropie, die nur Beziehungen zwischen Personen betreffe. Es sei von höherer Ordnung, denn es treibe unser Erleben über menschliche Wesen hinaus in kosmische Grenzenlosigkeit und rufe eine Art religiösen Schauers und unendliches Sehnen wach.

252 253 254

Ebd., S. 132; Charléty, Histoire du Saint - Simonisme, S. 51 ( Fußnote ). Saint - Simon, Doctrine, S. 59. Vgl. auch ebd., S. 137, 213. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 1, S. 202. Siehe auch Saint - Simon, Doctrine, S. 136 : „Un homme passionné pour l’humanité, aimant l’ordre et vivant au milieu d’une société en désordre, brûlant du désir de voir ses semblables associés, frères, au moment même où tous, autour de lui, sont en lutte, en guerre [...]; un homme éminemment sympathique, poète avant d’être savant, vient donner à la science humaine une nouvelle base.“ Vgl. außerdem ebd., S. 81, 117 ff., 123–143.

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„Die Menschheit hat eine religiöse Zukunft.“255 Das religiöse Gefühl werde an Umfang und Intensität im gleichen Verhältnis wachsen, in dem sich unser Wissen von der Welt erweitert und das Gefüge der sozialen Organisation verdichtet. „Die Religion der Zukunft wird größer und mächtiger sein als alle Religionen der Vergangenheit; [...] die Synthese aller Konzeptionen der Menschheit und mehr noch all ihrer Daseinsweisen; sie wird nicht nur die politische Ordnung beherrschen, sondern die politische Ordnung ‚dans son ensemble‘ wird eine religiöse Institution werden; denn keine Tatsache sollte außerhalb Gottes begriffen oder außerhalb Seines Gesetzes entwickelt werden; [...] sie wird die ganze Welt umspannen, denn das Gesetz Gottes ist universal.“256

4. Vom wissenschaftlichen Beweis zur Intuition des Führers Das Gesetz der Zukunft sei Assoziation. Rationalistische kritische Analyse ohne Leidenschaft, ohne Liebe und ohne Glauben war die natürliche Begleiterin und Verbündete einer Summe von isolierten Individuen ohne ein lebendiges Bindeglied. Die dynamische Assoziation der Zukunft erfordere „die Verschmelzung aller Herzen in einer und derselben Liebe“ :257 Treue. Das Führerschaftsproblem muss in diesem neuen Zusammenhang betrachtet werden. Wenn die Herrschaft des Dogmas eine geistige Elite erforderte, um es auszulegen, ja es den Nichterleuchteten aufzuzwingen, dann braucht lebendiger Glaube Priester von besonderer Gefühlstiefe. Man könne feststellen, sagt die Schule, dass zu allen Zeiten die Führerschaft in die Hände von Männern fiel, „die zum Herzen sprachen“.258 Überlegung, Vernunft seien sekundäre Mittel. Die Gesellschaft „ist niemals direkt mitgerissen worden, es sei denn durch die verschiedenen Formen der ‚expression sentimentale‘“.259 Das liege nicht nur daran, dass ein Gefühlsmoment wirksamer ist zur Aufrüttelung der Massen als ein wohlbewiesenes Argument. Es gebe tiefere Gründe. Der wahre Führer sei derjenige, der die Einheit der Welt intensiver erlebt als die anderen, dessen bejahender und liebender Glaube ihm außergewöhnliche, ja übernatürliche Macht gebe, sein Erleben anderen mitzuteilen. Er besitze die magische Fähigkeit, Menschen in ekstatischer Liebe und überfließendem Glauben zu vereinen. Der Führer sei jedoch vor allem ein Seher, ein Prophet. Sein Erleben der universalen Einheit sei so stark, dass es ihn in den 255 256 257 258 259

Saint - Simon, Doctrine, S. 334. Vgl. auch ebd., S. 332. Ebd. Saint - Simon, Doctrine, S. 120. Ebd., S. 272. Ebd.

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Stand setze, prophetische Einsicht in den Sinn des Zeitalters und in das Wesen der Zukunft zu erlangen. Es sei sein dringendstes Bedürfnis und seine heilige Aufgabe, die ihm enthüllten Geheimnisse über die „destinées sociales“260 seinen Mitmenschen zu offenbaren. „Wo wird dieses Genie geboren ? In der Inspiration der sozialen Bestimmung; ihr allein ist die glorreiche Mission vorbehalten, den Menschen das zu offenbaren, was sie alle wünschen, was sie alle begehren, das, was nur einer unter ihnen als Erster auszudrücken vermag. Tiefbewegt von den Qualen der Menschheit, brennend vor Verlangen, ihnen ein Ende zu setzen, entwindet er es einer Welt, die die Menschheit nicht mehr versteht, die sie verwundet, in der sie zerrissen wird. Auf sein Wort hin verschwindet diese Welt, die bereits in Staub verwandelt ist; eine neue Welt wird geschaffen, weil in diesen neuen Regionen Ordnung und Harmonie herrschen; alle diese Phänomene, die sich täglich isolierten und immer mehr individualisierten, werden, wenn erst ein gemeinsames Band sie eint, dem gleichen Ziel zustreben; alle werden voneinander abhängig, während sie in der Vergangenheit unter dem Eindruck der Leidenschaften, die sogar die Gelehrten bewegten, der Unabhängigkeit entgegen zu marschieren schienen.“261 „Es gibt ohne Zweifel bevorzugte Wesen, die die Stimme Gottes zuerst hören, die ihr mit dem größten Eifer voraneilen, die sich zu den Höhen der Liebe und des Geistes erheben, die Gott Seinen Geschöpfen gegeben hat [...]. Nicht alle steigen zum Berge Sinai auf, nicht alle erblicken [...] die Majestät des Höchsten von Angesicht zu Angesicht; doch die, denen Er gestattet, beinah zu Seinen Höhen aufzusteigen, sind diejenigen, denen Er auf das Eindringlichste gebietet, andere zu erleuchten, um jene Sympathiekette frommer Unter werfung, liebender Macht herzustellen, [...] sie zu Gott zu erheben.“262 Fortschritt, der Sprung von einer Phase zur anderen, das Stürzen alter toter Formen und die Schaffung neuer Welten, ist somit die Leistung des Genies, in intensivstem Zusammenhang mit der sozialen Bestimmung, ausgestattet mit „cette faculté vraiment génératrice, primordiale“,263 die sich in allen Stadien des menschlichen Fortschritts manifestiert. Diese schöpferische Fähigkeit einigt die Uneinigen, verschmilzt in Liebe und Eintracht die Kräfte, die durch Hass und Streit auseinandergerissen wurden, sie schafft Ordnung, Harmonie und gegenseitige Anziehung dort, wo früher nur Abstoßung und Antagonismus war. „Alle werden Brüder sein; [...] Familien, Städte, Nationen“, die bisher jede ihr eigenes Ethos verfolgten, „werden eine einzige menschliche 260 261 262 263

Saint - Simon, Doctrine, S. 383. Ebd. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 2, S. 100. Vgl. auch ebd., S. 99. Saint - Simon, Doctrine, S. 384.

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Familie, eine einzige Stadt, ein einziges Vaterland sein“, begründet auf einer „science universelle“.264 Wenn das Kennzeichen der einzig wahren und einzig legitimen Führerschaft göttliche Inspiration sei, die aus überlegenem Erleben gewonnen werde, dann könne sie gewiss nicht eine Sache von Wahlen und Absetzung durch das Volk sein. Sicherlich wird das Oberhaupt der Zukunft nicht darauf warten, dass ihn eine Volksversammlung in Purpur kleide, nachdem sie sein Genie erahnt hat. Das Genie wird sich selbst offenbaren; „il ne sort pas d’une urne de scrutin“.265 Autorität setzt sich selbst durch. Sie führt weder Gründe an, noch doziert sie. Sie erzwingt, sie reißt mit. Das Leben ist dynamisch und Führerschaft müsse dynamisch sein. Situationen variieren unendlich, Umstände befinden sich im Fluss, jede menschliche Situation ist einzigartig. Das Leben ist Lava. Nun sei es der Irrtum der Vergangenheit gewesen zu erwarten, dass abstraktes, lebloses, kodifiziertes Gesetz als Chiffre für konkrete Situationen stehe. Es sah Standardrealitäten, stereotype Fälle vor und vergaß, dass das Leben gerade aus Ausnahmen, Abweichungen, Unterschieden besteht. Die Richter waren gleichsam „impulsion mécanique donnée à une matière inerte“.266 Das von Metaphysikern und Logikern so sehr gepriesene geschriebene Gesetz sei nichts als eine „sterile Abstraktion“. Außerdem sei auch das geschriebene Gesetz irgendwann einmal durch irgendeinen überlegenen Geist offenbart worden. Warum annehmen, dass es für alle Zeiten offenbart wurde ? Schließlich schreite die Menschheit ständig fort, und täglich ergeben sich uner wartete Situationen. Warum sollte es nicht eine fortschreitende Offenbarung geben, ein lebendes Gesetz, eine „loi vivante“ ? „Un homme se charge de continuer cette révélation, et d’en transformer, successivement et selon les besoins, les sacrés caractères.“267 Der wahre Führer ist eine „loi vivante“.268 Moses, Jesus, Saint - Simon waren drei „lois vivantes“.269 Der unterschiedliche Charakter der von jedem von ihnen ausgeübten Autorität ergab sich aus der Verschiedenheit ihrer Sendung. Aber sie alle repräsentierten dasselbe individuelle, soziale und religiöse Autoritätsprinzip. Die Nachfolger von Moses und Jesus hatten legitime Autorität, solange die Menschheit jüdische oder christ-

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Ebd., S. 384. Vgl. auch ebd., S. 120–122. Bureaux du Globe ( Hg.), Le Globe, 18. Februar 1832; Charléty, Histoire du Saint Simonisme, S. 100. Vgl. auch Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 14, S. 98 ff. (Enseignements d’Enfantin ). Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 14, S. 109. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 5, S. 18. Charléty, Histoire du Saint - Simonisme, S. 59. Vgl. ebd., S. 145; Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 14, S. 84.

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liche Offenbarung brauchte. „Celle de Saint - Simon est définitive, car c’est la révélation du progrès.“270 Es habe sich gezeigt, dass das geschriebene Gesetz eine tote Last ist, ein Hemmnis für die unendliche lebendige Vielfältigkeit des Lebens und ein Hindernis für die dynamische schöpferische Antwort darauf. Enfantin ist voller Verachtung für diejenigen, die absurder weise behaupten, der Führer - Gesetzgeber sei der Sohn des Gesetzes. Nein, er ist der Schöpfer des Gesetzes. Sein intuitives Erfassen der Situation und seine Antwort darauf sind Gesetz. Denn der Führer ist ein Künstler. Er bestimmt das Gesetz für jeden Fall, der sich ergibt. Er ist Schöpfer, nicht Kommentator des Gesetzes.271 Ja, die Künstler sollten die zukünftigen Führer der Gesellschaft sein. Ihre Mission werde es sein, die Massen mitzureißen zur Ver wirklichung ihrer zukünftigen sozialen Bestimmung. „Die höchste Dichtung wird die kraftvollste Predigt sein.“272 Denn worin besteht die Überlegenheit des Künstlers, wenn nicht in intensiverem Erleben der Wirklichkeit, in stärkerer Empfindungsfähigkeit und Reaktion ? Die Kunst müsse daher definitionsgemäß fortschrittlich sein. Das gesteigerte Erleben des Künstlers fühle lange vor anderen die Richtung des Fortschritts – „à qui a été dévoilé le secret des destinées sociales“.273 Künstler durchdringen den Schleier, der uns von der Zukunft trennt, und sie bieten so den Wissenschaftlern in Form einer Offenbarung die große Hypothese; die Wissenschaftler ihrerseits sind berufen, diese zu überprüfen und zu beweisen, dass sie die Fakten der Vergangenheit mit der Richtung der Zukunft verbindet – „nouvelle conception d’ordre universel“.274 Die Ursache des Niedergangs der Kunst liege in den sozialen Beziehungen, die in der Vergangenheit vorherrschten. In einem kritischen Zeitalter von isolationistischem Individualismus brachte der Dichter und Künstler ein Gefühl von Unbehagen und Nichtanpassung zum Ausdruck oder widmete seine ganze Aufmerksamkeit reiner Form und Technik. Dichter schrieben Elegien und Satiren. Der Künstler schwelgte in Einsamkeit und Pein. Er wandte sich per versen und ver worfenen Dingen zu, um zu schockieren oder zum Nachdenken anzuregen. Es stand kein wirkliches, aufrichtiges Erleben hinter dieser Art der Kunst. In der Zukunft wird die Gesellschaft, die ihrer großen Gemeinschafts-

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Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 14, S. 85. Vgl. insgesamt ebd., S. 75–105 (3ème Enseignement d’Enfantin : L’autorité et la liberté, la loi vivante ), S. 106–136 (4ème Enseignement d’Enfantin : La loi vivante – suite ). Vgl. Weill, École, S. 107. Saint - Simon, Doctrine, S. 385 ( Fußnote ). Vgl. auch ebd., S. 384. Ebd., S. 385. Ebd. Siehe außerdem Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 2, S. 65.

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aufgabe ergeben ist, nach dem Rhythmus marschieren, der vom Künstler für sie gewählt wurde.275 Es erhebt sich die Frage : Bringt diese Auffassung der Führerschaft nicht die völlige Unterordnung oder gar Selbstaufgabe der Geführten mit sich ? Schon allein die Fragestellung zeigt, antworten die Saint - Simonisten, dass der Frager noch völlig in der Vergangenheit lebt und nicht genug Phantasie besitzt, um sich den Staat der Zukunft vorzustellen, in dem jeder Mensch von Geburt an eine freundliche und allmächtige Hand findet, die seine ersten Schritte stützt, ihm hilft, den Beruf zu finden, den er ausüben soll, ihm die Kraft gibt, die er braucht, um vor wärtszukommen, die ihn schließlich an die Stelle setzt, die von Gott für ihn vorgesehen ist, und die ihn noch an dieser endgültigen Bestimmung stützt, ihn leitet, ihm immer hilft; und ihr werdet sehen, dass die Unabhängigkeit, die ihr so sehr preist, nichts als Knechtschaft und Fatalismus ist und dass die Herrschaft der Autorität, die wir ankündigen, eine der Freiheit und Vorsehung ist.276 Es stimme, in der Vergangenheit seien die Führer fast immer die Feinde der Geführten gewesen. Sie haben ihnen praktisch immer geschadet. Sie hatten selbstsüchtige Interessen, wollten Besitz und Macht erraffen und sie an ihre Nachkommen weitergeben. Da es in der Zukunft keine Vererbung von Besitz und Vorrechten geben werde, werden Führer - Administratoren zu ihren Untergebenen so stehen wie Kapitäne zu ihren Mannschaften, Offiziere zu ihren Truppen. Der objektive Nexus werde entscheidend sein. Lenkung sei nicht willkürliche Despotie. Menschen „fügen sich freudig“ einer Autorität, wenn sie unter der Ägide von Menschen marschieren, die sie lieben und verehren, wenn sie wissen, dass ihr Schicksal in den Händen eines ergebenen Genies liegt.277 Diese Art der Unter werfung ist ver werf lich und empörend, wenn sie Unter werfung unter selbstsüchtige Hände bedeutet, aber sie ist „hohe Tugend, [...] so leicht und so angenehm unter Geschöpfen, die ein gemeinsames Ziel haben“.278 „Nous reviendrons avec amour à l’obéissance“279 denen gegenüber, die nicht fesseln, sondern anziehen; die anfeuern, aber keine Gewalt anwenden; die anregen, ohne zu verstümmeln; die nicht zwingen, jedoch die Menschen dazu bringen, ihnen zu folgen. Der individualistische Liberalismus habe einen schweren Fehler damit begangen, dass er Staatserziehung für soziale Zwecke scheute. Das Ergebnis 275 276 277 278 279

Vgl. Saint - Simon, Doctrine, S. 93 ff.; Producteur, Band 1, S. 83, 171. Vgl. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 4, S. 225, 227; Bureaux du Globe ( Hg.), Le Globe, 2. Dezember 1831, 23. März 1832. Vgl. Saint - Simon, Doctrine, S. 329 f. Vgl. auch Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 5, S. 19; Band 14, S. 99. Ebd., S. 330. Ebd.

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war, dass die Gewalt das einzige Mittel blieb, um in der Gesellschaft Ordnung zu halten. Wenn die individuelle Vernunft und das individuelle Gewissen die einzigen Quellen der sozialen Moralität seien und der Interessengegensatz als natürlich und legitim anerkannt werde, dann könne unterdrückende Strafgesetzgebung der einzige Richter sein. Gewalt bleibe der einzige Lehrer für Moral und soziale Gefühle und der Henker der Repräsentant der sittlichen Autorität. Dann sei die Gesellschaft wirklichem und ver werf lichem Despotismus unter worfen.280 Dort, wo die Erziehung zu sozialer Moralität niemals aufhört und von einer Gemeinschaft geistiger Werte erhalten und manifestiert wird, wo die Doktrin „s’empare de l’homme tout entier“281 und seine Gedanken und Gefühle in ihrer Gesamtheit beeinflusst, sei es kaum notwendig, zu Strafmaßnahmen zu greifen. Diese Erziehung solle durch ein Maximum an Öffentlichkeit gekennzeichnet sein, sie werde bestrebt sein, den Taten der Führerschaft, öffentlichem behördlichem Lob und Tadel suggestive Wirksamkeit zu geben, und sie werde den Menschen sein ganzes Leben lang unter ständiger Nachprüfung halten.282 In der Vergangenheit kämpften die Liberalen mit Recht für Öffentlichkeit als ein Kontroll - und Garantiemittel gegen Willkürherrschaft. Im Zukunftssystem, in dem „das Interesse der größten Zahl die Grundlage für alle soziale Handlung ist“, werde der Öffentlichkeit eine erzieherische Bedeutung zukommen : „Die Liebe der Führer wird unentwegt die Zuneigung und den Eifer ihrer Untergebenen fordern, indem sie ihnen das Bild der Segnungen der Vergangenheit und der Bedürfnisse der Zukunft vorführen.“283 Urteile, von den Organen der sozialen Gerechtigkeit verkündet, werden wirkliche Freude oder Kümmernis in aller Herzen tragen. Sie werden wieder die gleiche Qualität erlangen wie Kanonisation und Exkommunikation durch die Kirche. „Un jour viendra enfin où le repentir pourra connaître l’espérance.“284 Wo der Einzelne sich selbst überlassen wird, müsse Selbstsucht das Ergebnis sein. Dies ist auch einer der Gründe, weshalb Enfantin die Wichtigkeit der Beichte betont, insbesondere der öffentlichen Beichte vor dem Führer - Priester. Es sei auch für den Priester wichtig zu fühlen, wie sich ihm die Herzen öffnen. Es steigere seine Macht und sein Gefühl der Autorität und erhöhe so seine lebenspendenden Fähigkeiten.285 280 281 282 283 284 285

Vgl. ebd, S. 255. Ebd., S. 257 : „Le système de la morale de l’intérêt bien entendu est la négation de toute morale sociale.“ Ebd., S. 104. Vgl. ebd., S. 258. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 4, S. 45. Saint - Simon, Doctrine, S. 309. Vgl. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 14, S. 221; d’Allemagne, Les Saint - Simoniens, S. 232 f.; Saint - Simon, Doctrine, S. 273 f.

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Ist dies ein schweres Joch, eine neue Despotie ? „Gesegnet sei das Joch, das durch eine Überzeugung auferlegt wird, die alle Gefühle [...] befriedigt; gesegnet sei die Macht, die die Menschen zum Fortschritt anspornt, alle Quellen des öffentlichen Wohlstands fruchtbar macht.“286 Es gibt kein Mittelding zwischen Zentralisation und Anarchie – behaupten die Saint - Simonisten. „Alle sind frei, weil sie in Liebe der gleichen Bestimmung entgegengehen“,287 „denn das Volk ist in ihm ( dem saint - simonistischen Papst ), liebend, weise und mächtig, wie ein Mann der Zukunft entgegenschreitend, die Gott für es bestimmt hat“.288 Die Unterstellung, sie hätten auf Spontaneität verzichtet, ihre Persönlichkeit aufgegeben und ihre Intelligenz in Fesseln gelegt, wird von den SaintSimonisten voller Heftigkeit zurückgewiesen. Ihre Persönlichkeit und Spontaneität sei in der saint - simonistischen Familie nur gestärkt und entwickelt worden. Sie versichern all denen, die von Glück für das Volk träumen und um die Freiheit, „den heiligen Gegenstand ihrer eigenen ersten Liebe“,289 besorgt sind: „Que chacun de nous se sente plus que jamais le droit de s’écrier ici, non pas comme expression d’une sauvage indépendance, mais comme un éclatant hommage à l’existence d’une hiérarchie pure de toute contrainte et de tout privilège : Je marche dans ma force et dans ma liberté.“290 Da es kein Gefühl der Bedrückung gebe, könne es kein entsprechendes Sehnen nach Befreiung geben.291 Liebe erlöse und befreie.

5. Eine sozialistische Doktrin In einem noch höheren Maße als für Saint - Simon war für seine Nachfolger das Vorhandensein von Armen ein stetiger Vor wurf. Vor den Armen klang das Postulat der Einheit des Seins hohl, das der Einheit des Zieles wie Spott. Der liebende Elan derjenigen, die von dem Erlebnis der Einheit angerührt waren, begegnete als erstem Objekt dem Elend der zahlreichsten und unglücklichsten Klasse. Er konnte keinen Aufschwung erfahren, ohne erst jene, die in der Finsternis lebten, in eine brüderliche Gemeinschaft emporzuheben. Diese Hingebung an die Aufgabe der Heilung der sozialen Krankheit wurde keineswegs von einem Streben nach wirtschaftlicher Gleichheit getragen. In schärfstem Gegensatz zu Babeufs grob - mechanischer Gleichmacherei von Ent286 287 288 289 290 291

Saint - Simon, Doctrine, S. 104. Bureaux du Globe ( Hg.), Le Globe, 7. Februar 1831; Charléty, Histoire du Saint - Simonisme, S. 102. Charléty, Histoire du Saint - Simonisme, S. 83. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 4, S. 100. Ebd., S. 101. Vgl. Producteur, Band 2, S. 167; Charléty, Histoire du Saint - Simonisme, S. 33.

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lohnung und Leistung betonen die Saint - Simonisten, ebenso wie ihr Meister, die jakobinisch - babeuf’sche Art der Gleichheit stelle einen Angriff auf die Freiheit und ein Hemmnis für den Fortschritt dar. Fähigkeiten und Begabung seien zweifellos ungleich. Die Aufzwingung eines gleichen Niveaus würde die Selbstentfaltung der Begabteren unterbinden, mit anderen Worten, ihre Freiheit verletzen. Gehemmte Leistung der Fähigen bedeute einen Verlust für die Gesellschaft. Die Arbeitsteilung, das große Instrument des Fortschritts, basiere gerade auf der Gruppierung von Menschen gemäß ihren unterschiedlichen Fähigkeiten. Da es bei der Aufteilung der Aufgaben in dem großen gemeinschaftlichen Einsatz lediglich auf Leistung ankomme, seien alle Sonderrechte der Geburt oder ererbter Reichtum nicht nur belanglos, sondern stellen, falls ihnen Vorrechtsbehandlung zuteil wird, eine Verleugnung des geheiligten Prinzips dar, dass jeder gemäß seinen Fähigkeiten eingesetzt und entsprechend seiner Leistung entlohnt werden soll.292 Unterschiede in der Entlohnung entsprechend der Leistung seien dazu bestimmt, Höchstleistungen zu erzielen, indem sie als Anreiz und als Zeichen der Anerkennung dienen. Das Problem des Privateigentums betrachten die Saint - Simonisten vom gleichen Blickwinkel aus wie der Meister : als ein Produktionsmittel, dessen Verteilung durch die Entwicklung der Produktionsweisen und die Erfordernisse des sozialen Gesamtplans bestimmt werden sollte.293 Saint - Simon hatte versucht, den evolutionären Charakter der Institution des Eigentums zu beweisen, indem er die verschiedenen, veränderlichen Konzeptionen aufzeigte, die ihr zugrunde lagen, wie die Sklaverei, der römische Eigentumsbegriff, die mittelalterliche Leibeigenschaft, das Erstgeburtsrecht, die progressive Besteuerung, die Zwangsenteignung für öffentliche Zwecke. Wie jedoch bereits früher erwähnt, stellte er das Prinzip des Privateigentums als solches nicht in Frage. Er betonte nur, dass es ständig modifiziert werden sollte, um die Sicherheit zu bieten, dass es in die Hände derjenigen gelangt, die fähig sind, es zum Vorteil des allgemeinen Produktionseinsatzes zu ver wenden.294 Für praktische Zwecke und als sofortige Maßnahme schlug Saint - Simon vor, eine klare Unterscheidung zwischen landwirtschaftlichem und industriellem Eigentum zu machen. Die Stellung des Pächters sollte gestärkt und das Recht des Grundeigentümers beschnitten werden. Der Pächter sollte zum Beispiel das Recht haben, von der Pacht alle für die Amelioration des Bodens verausgabten Beträge abzuziehen und außerdem ohne Einwilligung des Grundeigen292 293

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Vgl. Saint - Simon, Doctrine, S. 179–181, 187 f. Vgl. ebd. Zur Frage des Eigentums insgesamt vgl. Saint - Simon, Doctrine, S. 172–247; Bureaux du Globe ( Hg.), Religion Saint - Simonienne; d’Allemagne, Les Saint - Simoniens, S. 185 ff. Vgl. ebd., S. 179, 182 f.

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tümers den Boden hypothekarisch zu belasten. Der Grund hierfür ist klar : für Saint - Simon ist der Grundeigentümer, der seinen Boden nicht selbst bebaut, ein Nichtstuer, während der Pächter ein Produzent ist. Ähnliche Maßnahmen zum Schutz des industriellen Produzenten auf Kosten des Kapitalisten sind nicht vorgesehen. Für einen Landwirt, der Land pachtet, seien die Verdienstmöglichkeiten eng begrenzt, während der Industrielle, der sich Geld leiht oder Werkzeuge pachtet, unvorhersehbare Gewinn - und Expansionsmöglichkeiten vor sich habe. Der Grundeigentümer, der dem Pächter Bedingungen vorschreibt, sei der Verschwender, dessen tote Hand das Unternehmen des Produzenten belastet.295 Die Saint - Simonisten spannen diesen Gedankengang des Philosophen weiter aus und unternahmen einen Frontalangriff auf das eigentliche Prinzip des Privateigentums und der Vererbung. Mit jenem feinen Sinn für historische Entwicklung und dialektischen Wandel, der noch geschärft wurde durch die wirklich historischen Einsichten Saint - Simons, „beglückwünschte“ sich die Schule paradoxer weise dazu, dass die Institution des Privateigentums aus den Trümmern all der zerstörten Vorrechte der Geburt gerettet worden war. Diese „inconséquence des hommes“ bewahrte einen „ancre de salut“, eine „arche sainte“.296 Dieser „wahrhaft religiöse Aberglaube ( Achtung des Eigentums ) [...] in den Feinden des Aberglaubens und Fanatismus [...] ist ein Wunder“.297 Als einzige Institution, die inmitten der „geistigen und sittlichen Anarchie“ der Revolution unerschüttert blieb, erschien das Privateigentum als ein Rest von Ordnung und Beständigkeit und als Träger des Wiederaufbaus. Wie groß auch der zeitweise Dienst gewesen sein mag, den diese Institution an einer gewissen historischen Wende geleistet hat : Jetzt ist ihre Nützlichkeit und Berechtigung vorbei, und sie ist zu einem ausgesprochenen Übel geworden. In dem unermesslichen gemeinschaftlichen Einsatz, der jetzt zum Angelpunkt der Gesellschaft wird, widerspricht das Vorrecht ererbten Reichtums dem Prinzip, dass jeder gemäß seinen Fähigkeiten eingesetzt und entsprechend seiner Leistung entlohnt werden soll. Es verleiht unverdienten Vorteil. Außerdem habe die Heiligkeit des ererbten Eigentums zur Folge, dass Produktionsmittel in die Hände von Personen gelangen, die unfähig sind, sie zu benutzen, und dadurch werden den Befähigten die Mittel der Selbstentfaltung entzogen. Der nichtstuende Kapitalist, den der Zufall der Geburt in den Besitz dieser Produktionsmittel bringt, verpachtet sie an die besitzlosen Produzenten, erhebt

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Vgl. Hubbard, Saint - Simon, S. 162–175; Producteur, Band 3, S. 398. Saint - Simon, Doctrine, S. 216. Ebd., S. 217. A. d. Hg. : Im Original lautet das Zitat in etwas anderer Reihenfolge : „Cette susceptibilité vraiment religieuse est un miracle sans doute lorsqu’on la trouve dans les ennemis de la superstition et du fanatisme.“

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Steuern von den Schaffenden und schreibt absurde und schädliche Bedingungen vor, die den produktiven Krafteinsatz der Nation hemmen. Es ist notwendig, die Eigentumsverteilung so zu organisieren, dass die Produktionsmittel mit Sicherheit in die richtigen, fähigen Hände gelangen; doch mehr noch, dass sozialökonomische Gesamtplanung ermöglicht wird. Das bedeutet in erster Linie die Abschaffung des Privateigentums und in zweiter Gemeinschaftseigentum und - kontrolle : „L’état, devenu association des travailleurs.“298 Nicht nur um der Planung vergrößerter Produktion willen, sondern auch um der „Erblichkeit des Elends“299 ein Ende zu setzen, die die Begleiterscheinung des auf dem Recht des Eroberers basierenden „Monopols des Reichtums“300 ist. Die saint - simonistische Schule war äußerst optimistisch, wo Marx höchst pessimistisch war. Nicht nur glaubte sie nicht an die fortschreitende Verarmung der Massen infolge der Monopolisierung der Produktionsmittel in wenigen Händen, sondern sie behauptete, die Geschichte bezeuge einen Prozess fortschreitender Übertragung der Produktionsmittel aus den Händen einer Minderheit von Nichtstuern in die Hände einer Mehrheit von Produzenten – oder mit anderen Worten : der Gesellschaft. Der Aufstieg des Mittelstandes, in Saint - Simons Ausdrucksweise „les communes“, das Wachsen der Geldwirtschaft sowie des Kredit - und Bankwesens erscheinen ihnen als ausdauerndes Bemühen, fast als eine Verschwörung der Produzenten, die Feudalherren ihrer Macht zu entheben, ihre Mittel für den industriellen Einsatz zu mobilisieren und sie schließlich der endgültigen Kontrolle der Industrie - und Handelsinteressen zu unter werfen.301 Die Juden und die Lombarden spielten eine wichtige Rolle : Indem sie den Feudalherren Geld auf Zinsen liehen, pressten sie allmählich alle ver wertbaren Mittel aus dem Adel heraus und stellten sie der Industrie zur Verfügung. Den Nichtstuern wurden so die Produktionsmittel entzogen und den Produzenten ermöglicht, sie zu erwerben. Eine ähnliche Entwicklung sei in den Beziehungen zwischen Kapitalisten, das heißt zwischen den Eigentümern von Kapitalgütern, die nicht selbst in der Industrie beschäftigt sind, und den wahren Produzenten, nämlich den Arbeitern, zu beobachten. Der Zinsfuß fiel ständig, während die Löhne stiegen. In Streitigkeiten zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern haben diese ihre Stellung stetig verbessert. Ihr Fortschritt scheint unwiderstehlich. Die Ausbreitung des Kreditwesens, das Wachsen der Aktiengesellschaften, die Entstehung von Kooperativunternehmungen, steigende Besteuerung und Erbschaftsabga298 299 300 301

Ebd., S. 187. Ebd., S. 175 f. Vgl. auch ebd., S. 174. Ebd., S. 176. Vgl. Bureaux du Globe ( Hg.), Religion Saint - Simonienne – Économie politique et politique, S. 48, 52–55, 58 f.; Producteur, Band 1, S. 152; Band 2, S. 124; Charléty, Histoire du Saint - Simonisme, S. 36.

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ben – alle diese Entwicklungen seien eher dazu geeignet, eine Verteilung des Vermögens auf breitere Schichten als seine Konzentration in wenigen Händen zu bewirken. Das Ergebnis sei, dass sich mehr und mehr Menschen am Produktionsprozess beteiligen. Zahlreiche ineinandergreifende Interessen werden geschaffen. Assoziation wird gefördert. Es entsteht die unausweichliche Notwendigkeit einer Prüfung, Planung und Kontrolle der Volkswirtschaft als Ganzes. In dieser Beziehung seien die Bankiers dazu bestimmt, die Baumeister der zukünftigen Wirtschaft zu werden, die auf Gemeinschaftseigentum und zentraler Planung basiere. Da die Verfügung über die Finanzierungsmittel in ihren Händen liegt, haben die Bankiers de facto die Produktionsmittel unter ihrer Kontrolle. Durch ihre Kreditgewährung bestimmen sie die Richtung der Produktion. Vor der Gewährung einer Anleihe untersuchen die Bankiers sorgfältig die Möglichkeiten des betreffenden Unternehmens. Das müsse zwangsläufig zu systematischer Wirtschaftsforschung, zu periodischer Inventur der Wirtschaftslage als Ganzes und unvermeidbar zur Planung führen. Ob sie sich nun dessen bewusst seien oder nicht, die Bankiers handeln auf diese Weise zugunsten der Gesellschaft.302 Enteignung allen Privateigentums sei das ferne Ziel, damit das Eigentum zur „institution sociale [...]; dépositaire de tous les instruments de la production“303 werde. Die Enteignung brauche nicht plötzlich zu erfolgen. Sie könne allmählich und unter minimaler Schädigung der gegenwärtigen Eigentümer durchgeführt werden. Es könne sogar während der ersten Übergangsperiode den unmittelbaren Erben eine Entschädigung gezahlt werden, um ihnen die schmerzliche Enttäuschung ihrer Erwartung, ein Vermögen zu erben, zu ersparen – eine Sache, die Bentham so sehr am Herzen lag. Michel Chevalier, der mit Enfantin und Olinde Rodrigues die geistige Wirtschaftszentrale der Schule bildete, sah die Umwandlung allen Eigentums – mit Zustimmung der Eigentümer – in staatliche Pachtgüter vor. Während einer oder zwei Generationen würden die früheren Eigentümer die Rechte von Pächtern genießen und eine Pacht an den Staat zahlen. In der dritten Generation würde das Pachtrecht erlöschen. Das würde niemandem wehtun : „Denn wer denkt in dieser selbstsüchtigen Welt jetzt an die dritte Generation ?“304 Die Verstaatlichung, insoweit sie eine Gemeinschaft von Gütern und Genüssen sichere, sei nicht Selbstzweck, sondern diene nur dazu, eine Planwirtschaft zu ermöglichen : „En un mot, l’industrie est organisée, tout s’enchaîne, tout est prévu : la division du travail est perfectionnée, la combinaison des 302 303 304

Vgl. Saint - Simon, Doctrine, S. 201–207; Charléty, Histoire du Saint - Simonisme, S. 36. Saint - Simon, Doctrine, S. 193. Vgl. zu Enteignung auch Bureaux du Globe ( Hg.), Religion Saint - Simonienne – Économie politique et politique, S. 113 ff. Bureaux du Globe ( Hg.), Religion Saint - Simonienne – La Prophetie, S. 102.

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efforts devient chaque jour plus puissante.“305 Die Möglichkeiten der Armen werden aktiviert. Sie werden volle Teilnehmer im organisierten Kampf gegen die Natur. Sie erhalten ihren Anteil an den Früchten der Zivilisation. Die Gesellschaftskritik der saint - simonistischen Schule ist durch viel stärkere soziale Akzente charakterisiert als die Analyse, die der Gründer bot. Im Anfang nahm Saint - Simons Unterscheidung zwischen Nichtstuern und Produzenten alle, die irgendetwas mit dem Produktionsprozess zu tun hatten – Grundeigentümer, Kapitalisten, Wissenschaftler, Künstler, Arbeiter –, in die zweite Kategorie auf. Nichtstuer waren : Adel, Militär, Priester, Juristen, Rentner, kurz alle, die keinen Anteil an dem metabolischen Prozess der Ver wandlung von Materie in etwas Nützliches hatten. Die Teilung in Bourgeoisie und Proletariat war von diesem Gesichtspunkt aus belanglos. Einige Bourgeois waren natürlich Nichtstuer, aber als Ganzes gehörten sie zur Industrieklasse. Für Saint - Simons Zwecke stellten sie schwerlich eine Ganzheit dar. Später begann er immer mehr, die beiden Klassen einander gegenüberzustellen, und weigerte sich, die Bourgeoisie mit der Industrieklasse zu identifizieren. Er beschuldigte vielmehr die Bourgeoisie, insbesondere ihre Wortführer in der Revolution, die Juristen, Metaphysiker und Ideologen, dass sie absichtlich einen philosophischen Schleier über das soziale Problem breiteten und dann vergnügt aristokratische Titel von Napoleon akzeptierten.306 „Nicht die Industriellen, sondern die Bourgeois machten die Revolution.“307 Später „wählten sie aus ihren Reihen einen Bourgeois und machten ihn zum König; sie gaben denjenigen ihrer Mitglieder, die eine Hauptrolle in der Revolution spielten, die Titel von Prinzen, Herzögen, Grafen, Baronen, Rittern usw.; sie schufen Majorate zugunsten dieser neugebackenen Adeligen; mit einem Wort, sie führten zu ihrem eigenen Vorteil den Feudalismus wieder ein.“308 Und daher, fährt Saint - Simon fort, hat die Bourgeoisie nicht mehr wirkliche soziale Berechtigung als der Adel. „Die Industriellen sind daran interessiert, [ sie ] loszuwerden.“309 Es wäre schwerlich korrekt, die Saint - Simonisten „parti des travailleurs“ zu nennen, wie der Meister gewollt hatte, dass sie wären. Sie machen jedoch sicherlich eine weitgehende Unterscheidung zwischen Bourgeoisie und Proletariat. Die Realität des Klassenkampfes wird von ihnen scharf unterstrichen. Es ist charakteristisch, dass für sie Liberale und Bourgeois synonym sind. Der Liberalismus erscheint als die Rationalisierung eines Klasseninteresses oder als sein Feigenblatt. 305 306 307 308 309

Saint - Simon, Doctrine, S. 194. Vgl. Producteur, Band 1, S. 100. Rodrigues ( Hg.), Œuvres de Saint - Simon, S. 10. Ebd., S. 43. Ebd., S. 43 f.

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Die Bourgeoisie ist ans Ziel gelangt und hat ein neues Feudalsystem errichtet – das von Saint - Simon angedeutete Thema wird von den Schülern auf das Ausführlichste behandelt. „Die bürgerliche Garde ist ans Ziel gelangt. Es wäre ein Irrtum zu glauben, der Hauptfaktor der Restauration sei das Wiederauftauchen der Jesuiten und des alten Adels gewesen; ihr grundlegender Charakterzug ist der Sieg der Bourgeoisie. Wir haben jetzt den Beweis dafür ( nach 1830) : Denn in den Julitagen blieb die Bourgeoisie allein unerschüttert; sie ist überall eingedrungen, in die Gesetzgebung, die Rechtsprechung und das Militärwesen, in die Wahlen, die Geschworenengerichte und die Nationalgarde. Elle est là tout entière; der Bourgeois ist im Forum, im ‚prétoire‘, im Gardekorps; er macht Gesetze, er richtet, [...], und vor allem, er lässt sich einen Schnurrbart wachsen. [...] Nun produziert der Bourgeois als solcher nichts, lehrt nichts und kümmert sich um niemanden außer sich selbst. Nicht er bewegt und belebt die Völker, weder erleuchtet er sie, noch bereichert er sie; nicht er leitet sie in ihren Arbeiten, von denen er nichts versteht. [...] Eine müßige Klasse inmitten einer arbeitenden Gesellschaft. Und ist das Bestehen eines solchen Phänomens schon schwer verständlich, so ist sein Überleben noch unverständlicher.“310 Nachdem sie ans Ziel gelangt ist und den Feudaladel ersetzt hat, nachdem sie wie die Feudalherren von der Arbeit der anderen lebt, indem sie den Zehnten und eine Rente vom Schweiße der Arbeit erhebt, hat die Bourgeoisie eine passende Ideologie angenommen. Sie ist gegen jede gewaltsame Veränderung. Warum sollte sie eine Veränderung wollen ? Sie ist zufrieden. „Il ( le bourgeois) est naturellement pacifique et peu processif : ce qu’il aime avant tout c’est sa chère tranquillité.“311 Das Dröhnen von unten wird von der Bourgeoisie als Symptom einer sozialen Krankheit bezeichnet, das mit Wahltricks, List oder Bayonetten und Gewalt bekämpft werden müsse. Natürlich widersetzt sie sich jeder kollektiven Handlung des Staates in Richtung auf Sozialreform. Sie wünscht, dass man sie tun lässt, was sie will. Jede soziale Handlung des Staates wird von ihr als Akt der Tyrannei, der zur Despotie führt, verrufen. Ihre Freiheit ist „liberté sans but social“,312 es geht ihr nur um negative und präventive Kontrollen und Garantien. Ähnlich sei die liberale bürgerliche Wirtschaftstheorie vom automatischen Mechanismus der Nachfrage und des Angebots und von der Interessenharmonie als Ergebnis vollkommen freier Konkurrenz ein Ausdruck des Klasseninteresses, wo nicht eine veraltete Doktrin, von nicht mehr gültigen Realitäten 310 311 312

Bureaux du Globe ( Hg.), Religion Saint - Simonienne – Économie politique et politique, S. 98. Ebd., S. 99. Ebd., S. 126.

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eingegeben. Die anfängliche Besessenheit des Liberalismus von der Idee des Wettbewerbs und der Vision der Käufer, die in den Stand gesetzt werden, die besten Erzeugnisse zu den niedrigsten Preisen zu erwerben, sei eine natürliche Antwort seiner ersten Theoretiker auf das Schauspiel des im Verfallsstadium befindlichen Feudalismus und den Hintergrund des kritischen Zeitalters gewesen. Diese Wirtschaftstheoretiker hätten die Grundherren im Sinn gehabt und seien bestrebt gewesen, die Konsumenten vor monopolistischer Ausbeutung zu schützen. Sie konnten nicht sehen, dass der nicht produzierende müßige Konsument, der gleichzeitig Grundbesitzer ist, den Produzenten in der Form von Rente, Zins und Gewinnen aller Art einen Zehnten auferlegen kann. Die kapitalistisch - liberale Lohntheorie sei gleichermaßen irreführend. Es sei nicht wahr, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer gleiche Partner in einem frei geschlossenen Vertrag sind und dass unter den richtigen Umständen der Lohn des Arbeiters der für das Produkt aufgewandten Mühe gleichkommt. Der Kapitalist, der Beschäftigung anbietet, und der Arbeiter, der Arbeit sucht, sind in verschiedenen Situationen. Sie bieten einander keine vergleichbaren Quantitäten an. Der Kapitalist bietet das fertige Arbeitsprodukt an, während der Arbeiter nur ein Versprechen zukünftiger Arbeit zu geben hat. Und der Handel sei weit davon entfernt, den Mehr wert einzuschließen, jenen Zuwachs, den die Arbeit mit sich bringt, besonders wenn sie geschickt eingesetzt wird. Das sei der Zehnte, den der Arbeiter dem Nichtstuer zahlt. Es sei auch nicht wahr, dass der Wettbewerbsmechanismus die beste Ware zum niedrigsten Preis sichert, denn die Preise werden in der Hauptsache auf Kosten der Arbeitslöhne gesenkt.313 Das Endergebnis sei nicht die natürliche Identität der Interessen aller auf den Trümmern des monopolistischen Feudalismus, sondern eine neue Version von Feudalismus. Die große Mehrheit der Armen sei durch den Zufall der Geburt dazu verurteilt, in Armut und Unwissenheit zu leben und von denen ausgebeutet zu werden, die der Zufall der Geburt in den Stand versetzt, Reichtümer zu erben und ohne Mühe und Arbeit ein Parasitenleben zu führen.314 „Es genügt, einen Blick auf das zu werfen, was um uns herum vorgeht, um sich darüber klar zu werden, dass der Arbeiter materiell, intellektuell und moralisch ausgebeutet wird wie früher der Sklave, nur nicht in gleicher Intensität.“315

313 314 315

Vgl. ebd., S. 135 ff.; Saint - Simon, Doctrine, S. 190 ff. Vgl. Saint - Simon, Doctrine, S. 176–178. Saint - Simon, Doctrine, S. 176.

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6. Aufforderung zum Handeln – 1830 Die Saint - Simonisten betrachteten es als ihre Sendung, der einzigartigen Eingebung zu folgen, um die ganze Menschheit zu bekehren und ihre Erneuerung in allen Lebenssphären herbeizuführen.316 Was sollten sie tun, außer lehren, predigen, bekehren und warten, bis die Frucht reifte ? Welche Haltung sollten sie zu den unmittelbaren Problemen im Leben des Landes und zu den widerstreitenden Kräften in der politischen Arena einnehmen ? Die Saint - Simonisten standen ihrer Meinung nach über dem Streit der Parteien und Faktionen. Sie waren bestrebt, mit allen politischen Parteien aufzuräumen. Sie wollten nicht eine von ihnen werden und dadurch ihrer Heilssendung entsagen. Sie wollten nicht den naheliegenden Schritt tun, sich zu Parlamentswahlen zu stellen. Sie hielten das Repräsentativsystem für eitel Lug und Trug. Den Weg der geheimen Verschwörung und des gewaltsamen Putsches ver warfen sie. Sie vertraten eine Religion der Liebe. Das Ziel war Wiederaufbau und Neuordnung der Gesamtheit des menschlichen Daseins. Putsche seien in dieser Beziehung nutzlose Demonstrationen. Praktische Maßnahmen, wie die Organisation von Kooperativen oder das Eintreten für eine besondere proletarische Forderung, haben wenig Sinn. Alle Probleme hingen zusammen, und keines könne für sich allein wirklich gelöst werden. Es gebe nur eine allumfassende Erlösung. Sie könne lediglich aus einer vollständigen geistigen Erneuerung kommen, und aus einem klaren Entschluss, alles von neuem zu formen. Sei das erst geschehen, dann werde alles andere folgen. Doch ohne dies werde kein Palliativmittel irgendetwas nützen. Außerdem sei der Saint Simonismus eine Religion, Erbe und Synthese aller Religionen der Vergangenheit. Er könne dem Verfall der alten Religionen nur dadurch entgehen, dass er sich weigere, von dem Betrug und der Unsauberkeit angesteckt zu werden, die von Kompromiss und Umgang mit den weltlichen Mächten untrennbar seien. Uner wartet für die Schule, ebenso wie für jeden anderen, brach die Julirevolution aus. Der allererste Impuls der oberen Führungsriege war, sich fernzuhalten. Sie waren überrascht worden. Die Revolution war nicht von ihnen eingeleitet. Sie war durchaus nicht in ihren Plänen vorgesehen. Sie gehörte der nicht erneuerten Welt an. Es lag Saint - Simons Beispiel vor, der sich von der großen Revolution fernhielt. Er schaute zu und dachte nach und zog eine Lehre. Die jungen hochherzigen Idealisten, bis gestern an allen Geheimbünden und Untergrundverschwörungen beteiligt, aufgewachsen mit der Revolutionslegende und dazu erzogen, den elenden Versuch einer klerikal - feudalen Res-

316

Vgl. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 3, S. 19; Band 4, S. 113; Band 5, S. 15.

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tauration durch Karl X. zu hassen, konnten nicht unbewegt bleiben beim Anblick der Trikolore, die auf den Regierungsgebäuden flatterte, und nicht gleichgültig beim Schall des Feuers von den Barrikaden. „Gewehr - und Kanonenschüsse sind von allen Seiten hörbar“ – schreibt Enfantin am 29. Juli an d’Eichthal – „und es ist etwas, das die Herzen zum Überfließen bringt, jene Herzen, die bis vor einer kurzen Weile [...] für den Liberalismus schlugen und die jetzt stärker als je schlagen angesichts menschlichen Leids.“317 Als sie die Trikolore auf den Tuilerien wehen sahen – schreibt Bazard – „die Fahne, für die sie in ihrer frühen Jugend ihre Köpfe gewagt hatten, konnten sie sich eines lebhaften Gefühls der Freude und Hoffnung nicht erwehren“.318 Eine Anzahl jüngerer „polytechniciens“ zog ihre Uniformen an, griff zu Pistole und Säbel und rannte auf die Straßen. Die älteren Mitglieder mit politischer Erfahrung und Beziehungen trafen und besprachen sich mit führenden Persönlichkeiten, wohnten Revolutionskonklaven bei und beteiligten sich an Beratungen. Carnot und Laurent nahmen an der Versammlung im Restaurant Lointier in der „Rue Richelieu“ teil, die von Joubert, dem Schwager Bazards, einberufen worden war, um Lafayette in seinem Kampf gegen die reaktionären Tendenzen der 221 zu stärken. Sie stimmten für die Republik. Während Transon und Jules Lechevalier zum Hôtel de Ville gingen, begab Bazard sich mit Michel Chevalier zu Lafayette. Enfantin scheint Bazard geraten zu haben, sich an den berühmten Veteran zu wenden, mit dem der saint - simonistische Führer in enger Verbindung gestanden und dem er Anfang der zwanziger Jahre wichtige und gefährliche Dienste geleistet hatte.319 Das Inter view fand in den frühen Morgenstunden statt. Bazard drängte den alten Helden, eine Diktatur zu proklamieren „als das einzige Mittel, zumindest im Augenblick, um einige Ordnung in diese Ver wirrung zu bringen“.320 Lafayette war diesen Bitten gegenüber taub.321 Als Bazard nach dem Morgengrauen heimkam, wurde er von Enfantin mit der Frage begrüßt : „Nun, ist es Zeit, in die Tuilerien zu gehen?“322 Worauf Bazard antwortete : „Noch nicht.“323 Später gaben sich die Saint - Simonisten große Mühe, diesen Austausch von Worten zwischen den Führern als einen Scherz hinzustellen. Die Haltung Enfantins war im Ganzen eine Haltung nachsichtiger, halb belustigter, halb ironischer Überlegenheit, die zu seiner nonchalanten Inaktivität, darauf beschränkt, Beobachtungen über die Vorgänge zu schreiben, ebenso passt wie zu seinen plötzlichen Anfällen 317 318 319 320 321 322 323

Ebd., Band 2, S. 186 ( Fußnote ). Ebd., S. 192 ( Fußnote ). Vg. ebd., S. 194–196. Ebd., S. 197; Band 3, S. 6 ( Fußnote ). Vgl. ebd., Band 2, S. 196 f.; Band 3, S. 6 ( Fußnote ). Ebd., Band 2, S. 192. Ebd.

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von Größenwahn, in denen er zum Beispiel Bazard zu Lafayette schickte und Louis - Philippe aufforderte, zugunsten der saint - simonistischen Führer abzudanken. Beides stand wohl im Einklang mit der romantischen Veranlagung des Mannes. Am 4. August versammelten sich Lafayettes linke Anhänger im Hôtel de Ville, dem Symbol der direkten Volksdemokratie. Saint - Simonisten wie Carnot, Laurent, Michel Chevalier und andere saßen neben republikanischen Führern wie Godfroy Cavaignac, Arman Marrast, Charles Teste, Jules Bastide. Carnot war ein Mitglied der Delegation, die den Herzog von Orléans aufsuchte.324 Die saint-simonistische Rekonstruktion und Interpretation der Revolutionsereignisse von 1830 sind höchst bedeutsam und aufschlussreich, sowohl von der Doktrin her gesehen als auch wegen des Lichtes, in das sie die Spannungen und Belastungen stellen, denen die Bewegung durch die Herausforderung zur Tat ausgesetzt war. Das Gefühl der Führer beim Ausbruch der Revolution war, sie sollten sich heraushalten, anderenfalls würde die Schule „purement et simplement, je dirais même niaisement libérale“.325 Bloße Auf lehnung und Zerstörung war vom saint - simonistischen Gesichtspunkt aus ein gottloser Akt. Und der „Boden [...] war noch nicht vom Wort der Liebe ausreichend befruchtet“,326 damit der Aufstieg einer neuen Welt aus der Asche der Zerstörung zu erwarten sei. Dennoch war der starke Drang vorhanden, hinauszugehen und sich unter die Menge, die Truppen, die Führer zu mischen – alte Kameraden in der Arbeit für liberale Ideen. Man hegte die Hoffnung, dass vielleicht Führer emporsteigen würden in dem beginnenden Kampf zwischen einer neuen Gironde, die Angst bekam vor dem von ihr aufgewiegelten Volk, das sie an die Macht gebracht hatte, und der nur undeutlich umrissenen Montagne; Führer, beseelt von einem Vorgefühl von Zielen und Rechten über die liberalen Klischees und „die alten revolutionären Fermente“327 hinaus, die entschlossen die Rückkehr der alten Ordnung in jeder Form verhindern würden. Die Saint - Simonisten hätten dann versucht, diese Führer und Bestrebungen, die in manchen vage Hoffnungen, in anderen Furcht erweckten, zu beruhigen, zu leiten, „maîtriser même“.328 Die Schule hätte dann ein „mot de ralliement“329 an das Volk gerichtet, das ver wirrt war von dem schrillen Chor widersprechender Stimmen. Das war der Hintergrund der „Demarche“ bei Lafayette. Die Saint - Simonisten wurden bald ernüchtert. 324 325 326 327 328 329

Vgl. ebd., S. 218 ( Fußnote ). Ebd., S. 187 ( Fußnote ). Ebd., S. 188. Ebd., Band 3, S. 4 f. Ebd., Band 2, S. 206. Ebd., Band 3, S. 5.

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In der Umgebung des Generals fanden sie niemanden, der imstande gewesen wäre, die Massen zu verstehen und zu führen. Ander weitig fanden sie Männer, die vielleicht vorzüglich geeignet waren, einen Putsch anzuführen, jedoch unfähig, einen „acte social“330 zu ver wirklichen. Unter den gegebenen Umständen, da die Doktrin und ihre Propheten unter den Massen noch wenig bekannt waren, wurde entschieden, dass man einstweilen keine Wahl habe und mit dem Strom schwimmen müsse. Der Plan einer Diktatur, der Lafayette vorgetragen wurde, beabsichtigte, die unter dem alten Regime gewählte Kammer auszuschalten und die bestehenden Parteien unwirksam zu machen. Der Diktator sollte nach einem angemessenen Zeitraum die Urversammlungen einberufen. In der Zwischenzeit hätte die saint - simonistische Schule nach besten Kräften alles getan, um die Massen mit ihrer Doktrin zu durchdringen. „Doch der unbewegliche Amerikaner war auf diesem Ohr völlig taub“,331 erklärt Bazard. Und die Schlussfolgerung daraus war, das Volk habe keine Führer. Keine Köpfe mit „Ehrgeiz für das Volk“ ragten aus dem eintönigen „Niveau der Gleichheit“ heraus. „Der Bourgeois konnte noch ruhig schlafen, [...] die Repräsentativmaschine war im Begriff, noch einmal für eine Zeit lang mit ihrer Tretmühle zu beginnen.“332 Die Stunde der Jünger Saint - Simons hatte noch nicht geschlagen. Sie traten den Rückzug an. Doch waren sie weit davon entfernt, sich geschlagen zu fühlen. Welche Lehre zogen sie aus den Juliereignissen ? Eine bisher unsichere Erkenntnis stand nunmehr fest : „Die Französische Revolution hat endlich ihre definitive Sanktion erhalten“,333 die Bourgeoisie hatte ihre unbestrittene Herrschaft behauptet, und sie verdankte sie den Opfern der Enterbten und der Proletarier, derjenigen, die eine liberale Verfassung nicht der Aufmerksamkeit wert hält und die das Strafgesetz nur als mutmaßliche Unruhestifter, die zermalmt werden müssen, kennt. Die Massen kämpften mutig und hochherzig und besiegten „César et ses soldats pour ses éligibles et ses électeurs, pour ses journalistes et députés, pour ses bourgeois et contribuables, pour ses chefs d’ateliers et propriétaires“.334 Die Juliereignisse waren ein Aufstand, aber sie verdienten nicht den geheiligten Titel der Revolution, da sich im sozialen System nichts geändert hat.335 Und doch komme der Revolution von 1830 eine gewisse positive Bedeutung zu. Sie bestätige über alle Möglichkeit eines Zweifels hinaus die Tatsache, dass jeder Versuch einer Rückkehr der klerikalen und feudalen Mächte auf immer 330 331 332 333 334 335

Ebd., Band 2, S. 207. Ebd., S. 197; Band 3, S. 6 ( Fußnote ). Ebd., Band 2, S. 207. Ebd., S. 223. Ebd., S. 202. Vgl. ebd., S. 210.

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zum Scheitern verurteilt sei. Soweit sei sie „dernière conséquence de la Révolution française“.336 Die Ereignisse haben zur gleichen Zeit allen hochherzigen Freunden des Volkes die Unzulänglichkeit einer rein politischen Revolution bewiesen, die Sinnlosigkeit des Verfassungmachens, und haben eine sehnsüchtige Erwartung einer wahrhaft neuen Ordnung durch eine soziale Revolution geweckt. „Alle Verfassungen [...] bis jetzt waren Transaktionen zwischen den Klassen, die nicht zuließen, dass das Volk ( die Gesetze ) mit ihnen diskutierte, sie unterzeichnete; darin bestand nicht ihr Übel, denn das Volk macht niemals seine Gesetze; keine ( dieser Verfassungen ) hatte die Besserung des moralischen, physischen und geistigen Loses der zahlreichsten und ärmsten Klasse zum Ziel, und alle wurden nach kurzer Zeit umgestoßen. Alle diese Urkunden, die ständig zerrissen und mit Verbesserungen und Zusätzen neu gedruckt wurden, sind machtlos, [...], uns Ordnung und Freiheit zu geben.“337 Der Liberalismus habe nach seinem leichten Sieg äußerste Sterilität verraten. Seine „blöden Versuche des Rückschritts“338 bewiesen Schwanken im Zupacken, Schwäche und Unsicherheit. Jede progressive Doktrin werde bei ihrem Entstehen und in jeder Phase ihrer Entwicklung bezeugt durch das Auftreten einiger Männer, die „ihre Mitmenschen unwiderstehlich mitreißen und auf sie einen überlegenen Einfluss“339 haben : Jesus und die Apostel, St. Athanasius und St. Augustin, Gregor VII., Innozenz III., Luther, Calvin, Voltaire und Rousseau, Mirabeau und Robespierre. Wo sind die Führer des Liberalismus ? 340 Das wesentliche und einzig wirkliche Problem der Zeit sei das soziale Problem. Nun liege das Problem der Besserung des Loses der zahlreichsten und ärmsten Klasse jenseits des Bereichs der liberalen Theorien und Sympathien. Trotz all der Phrasen von Volkssouveränität, natürlichen und unveräußerlichen Rechten des Menschen, Gleichheit, habe sich nach dem Sieg von 1830 nicht eine einzige liberale Stimme zugunsten jener Klasse erhoben, die den Sieg für die Liberalen erkämpft hatte; nicht ein Wort sei darüber gesagt worden, dass Schluss gemacht werden müsse mit „cette iniquité et avec elle la fatalité“,341 die die arbeitenden Klassen so viele Generationen hindurch mit der Bürde physischer, geistiger und moralischer Entwürdigung beladen hatte. Seht nur die Zeichen der Zeit ! Sie erscheinen über euren Häuptern ! „Auf allen Seiten rühren sich die arbeitenden Klassen, die bis jetzt nichts galten; sie 336 337 338 339 340 341

Ebd., S. 202. Ebd., S. 208. Ebd., S. 238. Ebd. Zum gesamten Absatz vgl. ebd., S. 235–238. Ebd., S. 236.

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sind in Bewegung. Jeder Tag bringt Meldungen über Massenkundgebungen, Arbeiter vereinigungen und Gewerkschaften“342 in Paris, in „ganz Frankreich; [...] in Belgien, [...] Deutschland, ja in ganz Europa vom Süden bis zum Norden“.343 Die Ausschreitungen und Verstöße gegen die Ordnung, die die Gärung in der Arbeiterklasse begleiten, sind ein elementarer und blinder Reflex einer Klasse, die durch Knechtschaft demoralisiert ist. „Unterdrückt sie nur, diese Verstöße und Ausschreitungen; stellt überall eure Bourgeoiswachen gegen die tolle Menge, gegen diese Proletariermasse, die, unzufrieden mit ihrem Los und durch Elend erschöpft, nicht weiß, wo anders als in Gewalt ein Heilmittel gegen ihre Leiden zu finden, und wie anders als durch Plünderung und Ver wüstung zu etwas Besserem zu gelangen. Aber in Gottes Namen ! Seht doch in diesen betrüblichen Ereignissen etwas anderes als eine Gelegenheit, die Tapferkeit eurer städtischen Kohorten zu üben, wie so manche der Blätter berichten, die jeden Morgen ihre Barbarei mit empörender Leichtherzigkeit zur Schau tragen. Seht in ihnen die Offenbarung der Leiden, die mit jedem Tag unerträglicher werden, und ein Symptom einer neuen Ära der Befreiung für die zahllosen Unglücklichen, die noch der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen unter worfen sind.“344 Ihr werdet nicht in der Lage sein, das Gespenst des Elends in seinem Aufruhr dadurch zu beschwören, dass ihr die furchtbare Maschine drakonischer Gesetze und blutiger Unterdrückung anwendet, „que la bourgeoisie a faites, que la bourgeoisie applique, que la bourgeoisie exécute“.345 In all dieser Ver wirrung und angstvollen Unsicherheit betrachten sich die Saint - Simonisten als die einzige Kraft, die nicht den Boden unter ihren Füßen erzittern fühlt; die mit festem Schritt auf ein bestimmtes Ziel losmarschiert, sich der Zukunft sicher fühlt, einer Zukunft, die sie durch eine ununterbrochene Kette mit den entferntesten Generationen verbindet. „Nous sommes les hommes de l’avenir !“346 Sie hatten die Vergangenheit studiert, nicht um blasse, unter würfige und ohnmächtige Nachahmung vorzuschlagen, sondern um eine „rationale Rechtfertigung der neuen Ordnung, der völlig neuen Ordnung, die ihre philanthropische Inspiration und ihre religiösen Neigungen ihnen enthüllten“,347 abzuleiten.348 Die saint - simonistische Tatenlosigkeit angesichts der Ereignisse von 1830 sollte nicht – so betont die Schule – als furchtsames Heraushalten aus Unan342 343 344 345 346 347 348

Ebd., Band 3, S. 43. Ebd. Ebd., S. 43 f. Ebd., S. 45. Ebd., S. 12–14. Ebd., S. 12. Zum ganzen Absatz vgl. ebd., S. 11–14.

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nehmlichkeiten ausgelegt werden. Sie wollten nicht eine Stellung mitten unter den Parteien beziehen. Ihr Platz war über den Parteien, und ihre Mission, Sieger und Besiegte aufzuklären über das, was fehlte, um den Sieg ( oder die Niederlage ) endgültig zu machen.349 Die Parteien konnten nicht wissen, was die Saint - Simonisten waren. Sie wussten jedoch, dass sie anders waren als alle anderen, und dass sie „vollständiger mit der Vergangenheit gebrochen hatten als irgendeine von ihnen; dass sie daher ihnen allen voraus waren“350 und für eine Zukunft arbeiteten, die den Menschen schwer verständlich sein oder ihnen gar unerreichbar scheinen mag, die jedoch in jeder großherzigen Seele auf vollen Beifall stoßen muss. Die Saint - Simonisten mögen als Träumer erscheinen, als „kühne und großherzige Träumer; voilà ce que nous voulions“, doch bald werden auch diejenigen, die vorher nicht verstanden, ausrufen : „Die Saint - Simonisten hatten uns das vorausgesagt“ („nous l’avaient bien dit“).351 Sie, mit ihren Prophezeiungen, waren die Realisten, während die sogenannten Realisten im Dunkeln tappten. Das liberale Verfassungsspiel werde bald zusammenbrechen. Die liberalen Führer werden voller Verzweif lung zurücktreten, wenn ein erneutes Aufwallen drohender Massenplünderungen und -morde sie erschreckt. Dann ist die Stunde der Saint - Simonisten gekommen. „Car nous seuls pourrons, lorsque le peuple cherchera vraiment des chefs, et lorsque ses députés, électeurs, bourgeois, journalistes, philosophes, propriétaires se tiendront tremblants à l’écart, nous seuls pourrons avoir la foi de l’autorité et commander l’obéissance; nous seuls pourrons découvrir les éléments d’ordre alors existants, les réunir, les féconder, appeler à nous tout ce qui sera vraiment en progrès; parce que l’avenir est à nous.“352 Die Saint - Simonisten sind die Erben aller Parteien. Ihr Programm bietet eine Gesamtsynthese von dem Besten in allen politischen und religiösen Überlieferungen. Es ist schließlich der historische Gipfelpunkt allen Denkens der Vergangenheit, der Punkt, in dem alle Fäden zusammenlaufen : „Kommt zu uns, ihr alle, [...], alte Royalisten und neue Royalisten, Demokraten aller Schattierungen ! Denn wir rechtfertigen alles, was in euch zu rechtfertigen ist; denn in uns allein kann jene Fusion durchgeführt werden, jene Versöhnung der Parteien [...]; wir sind imstande, die Freunde der Freiheit dazu zu bringen, die Macht zu ehren, und die Freunde der Macht, die Freiheit zu lieben.“353 Keine Klasse sollte den Saint - Simonismus fürchten. Je mehr die besitzenden Klassen sich vor Unordnung und Anarchie fürchten, je mehr sie fürchten, ihres Besitzes beraubt zu werden, umso mehr sollten sie sich einem Glauben 349 350 351 352 353

Vgl. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 2, S. 203 f. Ebd., S. 204. Ebd., S. 204 f. Ebd., S. 209 f. Ebd., Band 3, S. 42 f. Vgl. insgesamt ebd., S. 42–46.

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anschließen, der bestrebt ist, für sie das zu tun, was das Evangelium für die Sklavenhalter tat und was Könige für die Gebieter von Leibeigenen taten, „peut seule désarmer la colère des masses“.354 Nicht durch Zuflucht zu Schwert und Feuer und bewaffneter Macht, sondern durch eine Religion universaler Assoziation, „que l’élan des cœurs doit rendre irrésistible“,355 und die dadurch, dass sie den Armen ein würdiges Dasein bietet, allem Antagonismus zwischen Arm und Reich, Gebildeten und Unwissenden, Egoisten und Philanthropen ein Ende setzt. Der Saint - Simonismus strebt danach, alle Regierungssysteme und alle Parteien durch eine neue, man kann sagen totalitäre, Lehre zu ersetzen, der gegenüber die alten Mächte leer und ohne Ziel erscheinen. „Führer der Gesellschaft“ – in dem zukünftigen saint - simonistischen Regime – „werden diejenigen sein, die die Gesellschaft am meisten lieben. [...] Les privilégiés de l’amour, de la science, de la richesse, [...] die ihr ihre Bestimmung offenbaren und imstande sein werden, sie ihr entgegenzuführen; die Völker werden sich in Liebe ihrer Führung unter werfen; sie werden sich an ihrer Macht freuen, und es wird ihr einziger Wunsch sein, diese Macht wachsen zu sehen; denn jedes Anwachsen der Macht ihrer Führer wird ein Zeichen des Fortschritts sein, den sie selbst gemacht haben, und die Garantie für weiteren bevorstehenden Fortschritt.“356 „Alors il y aura une religion, et cette religion, qui sera, non plus dominante, mais seule, sera la foi politique.“357 Als Bewahrer dieses Glaubens, als Treuhänder der Welt von morgen, können die Kinder Saint - Simons, die dazu ausersehen sind, die Menschheit zu erneuern, selbstverständlich nicht die bestehenden Ideen, Glaubenslehren, Bewegungen und Parteien als legitim und die Fortführung des Kampfes und der Rivalität unter ihnen auf der Basis der Meinungsfreiheit als natürlich und wünschenswert betrachten. Das ist Anarchie und soziale Krankheit, wenn auch die kranke Gesellschaft sich bisher ihrer Erkrankung nicht bewusst sein mag. Das Wesentliche der saint - simonistischen Sendung ist es, die soziale Krankheit dadurch zu beenden, dass sie geeintes Bemühen und geistige Gemeinschaft an die oberste Stelle setzt. Wie sollten sie sich daher zu den liberalen Werten stellen, die von vielen als Selbstzweck und Garantie der Freiheit gepriesen wurden ? Ohne an liberale Freiheit als Wert und Ziel an sich zu glauben, müsse die saint - simonistische Schule sie aus Sicherheitsgründen und als taktisches Mittel verlangen und zur Zeit für sie arbeiten. 354 355 356 357

Ebd., S. 46. Ebd., Band 2, S. 224. Ebd., S. 226–228. A. d. Hg. : Dieses Zitat wurde aus mehreren Teilzitaten zusammengefügt, die sich alle auf den angegebenen Seiten finden. Ebd., S. 230.

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Europa bewege sich einer vorbestimmten und unvermeidlichen Auf lösung entgegen, die ein notwendiges Vorspiel und eine Bedingung für die neue soziale Ordnung sei. Das freie Aufeinanderprallen der Meinungen könne die Krise näher bringen und sie schließlich schmerz - und gefahrloser machen. Freies Debattieren und Regierung durch Debattieren werde die Sinnlosigkeit des Systems, das auf ihnen basiert, umso klarer erweisen. Revolutionäre Gewalttätigkeit könne durch Reden beschworen werden, und dabei können viele junge Idealisten, die der unaufhörlichen politischen Diskussion und Kriegführung ohne vorhersehbares Ende müde sind, dazu gebracht werden, sich nach „einer liebenden, intelligenten und starken Macht“ („un pouvoir aimant, intelligent et fort“)358 zu sehnen, der gegenüber Gehorsam, und nicht Auf lehnung, die heiligste Pflicht ist. Die Saint - Simonisten werden Freiheit verlangen, um die Freiheit zu liquidieren : „Wenn wir im Augenblick Religionsfreiheit verlangen, so geschieht dies, damit ein einziger Kult sich leichter über den Ruinen aller alten Menschheitsreligionen erheben kann. Wir wollen Pressefreiheit, weil sie die unerlässliche Bedingung ist für die baldige Schaffung einer wahrhaft legitimen Lenkung des Denkens, der Moralität und der Wissenschaft; wir verlangen Freiheit des Unterrichts, damit unsere Doktrin leichter und ohne Hindernisse propagiert werden kann, und damit eines Tages sie allein von allen geliebt, gekannt und ausgeübt wird. Wir setzen uns ein für die Zerschlagung aller Handelsmonopole und aller privilegierten Korporationen, die noch bestehen, aber nur als ein Mittel, um zu einer definitiven Organisation des ‚corps industriel‘ zu gelangen.“359 Die Saint - Simonisten sollten sich nicht davor fürchten, dass die Öffentlichkeit ver wirrt werde, wenn sie sich plötzlich als Demagogen für die Montagnards entpuppten, nachdem sie vor 1830 wie Ultramontane, Jesuiten, Priester von Theben und Memphis erschienen waren. „Nous sommes restés les mêmes.“360 Die Liberalen waren früher besessen von der Angst vor theokratisch - feudalem Despotismus, jetzt sind sie außer sich vor Angst vor dem Gespenst der sozialen Revolution. „Gepriesen sei, der die ausschließliche Herrschaft Gottes und das immer größer werdende Glück des Volkes proklamierte ! Er war der Humanste unter den Theokraten und der Göttlichste unter den Demokraten ! [...] Der Mann Gottes, der Christen ist erschienen in der Person Saint - Simons, l’homme peuple; unter diesem göttlichen Namen, eins und vielfältig zugleich, werden die Herrscher der Zukunft, die Päpste der neuen Kirche, endlich jene Volkssouve358 359 360

Ebd., S. 212 f. Ebd., S. 215. Vgl. auch ebd., S. 214. Ebd., S. 216.

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ränität ver wirklichen, die für diejenigen ein unausführbarer Traum ist, die im Volke nichts als eine Menge ohne Führer sehen; eine Wahrheit für den saint simonistischen Papst, denn das Volk ist in ihm, liebend, weise und mächtig, und marschiert wie ein Mann der Zukunft entgegen, die Gott ihm bezeichnet hat.“361

7. Mater dolorosa Auf die Herausforderung von 1830 nicht mit Taten geantwortet zu haben erzeugte ein tiefes Unbehagen in den Reihen der Saint - Simonisten. Es war einerseits ein Beweis für die lähmende Wirkung, die der Hang zur Totalität auf die Fähigkeit ausübte, in einer konkreten Situation und durch begrenzte Tat zu handeln, und es stärkte andererseits die Tendenz zum Pantheismus und Chiliasmus, bis der Einzelmensch mit seinem freien Willen und der konkreten Verantwortung völlig von überlegenen Kräften aufgesogen wurde. Infolge der romantischen Veranlagung und der Tatsache, dass die ganze Entwicklung des Saint - Simonismus einzig innerhalb der Sphäre einer intellektuellen und emotionellen Dialektik, die außer Rand und Band geriet und ohne jedweden Kontakt mit realen Situationen und bestimmten Aufgaben vor sich ging, unterlag die Schule, die ursprünglich als eine herausfordernd positivistische Botschaft begann, vollständig einem äußerst extravaganten Irrationalismus, der allerdings von einer starken Logik eigener Art gestützt wurde. Wir haben hier ein Phänomen vor uns, das man als die romantische Version des Totalitarismus bezeichnen kann. Als Olinde Rodrigues jeden Anspruch auf Führerschaft aufgab, obwohl er der einzige direkte Schüler des Meisters war, und als er Bazard und Enfantin seinen Segen erteilte, da sie der Führerschaft würdiger seien, wünschte er die lebendige Wahrheit der Philosophie Saint - Simons darzutun : Jeder nimmt den Platz ein, der ihm durch seine Fähigkeiten und durch die Erfordernisse des Gemeinschaftsstrebens vorgezeichnet ist. Gegenseitige Liebe und A - priori - Vertrauen verbindet alle zu einer Familie. Rodrigues behauptet, er habe sich „niemals größer gefühlt in Saint - Simon als an dem Tag, an dem es ihm gelang, größere Männer über sich zu erheben“.362 Ein Kondominium von zweien war schwerlich der Weg, um monolithisches Denken und Handeln auf der Basis eines einzigen und ausschließlichen Dog361 362

Ebd., S. 216 f. Saint-Simon/Enfantin, Œuvres, Band 2, S. 118; Charléty, Histoire du Saint-Simonisme, S. 66. Zum ganzen Absatz vgl. Saint-Simon / Enfantin, Œuvres, Band 2, S. 114–118; Band 26, S. 199–207.

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mas zu sichern. Es gab grundlegende Unterschiede des Temperamentes und der Einstellung zwischen den beiden „Pères“.363 Bazard hatte einen lebhaften und klaren Verstand und war ein Mann von großer Integrität, der sich nicht von emotioneller Selbsttäuschung fortreißen ließ. Seine Phantasie war vielleicht nicht groß genug und sein Gefühlsleben zu kontrolliert, um sich jenen Anflügen von mystischer Identifizierung mit den gottgewählten Genien der Vergangenheit und direkter Vereinigung mit Gott hinzugeben. War Bazard der Rationalist und Logiker, so stellte Enfantin, obgleich ein höchst geschulter Polytechniker und Nationalökonom, eine einzigartige Mischung dar von natürlicher Fröhlichkeit, ungewöhnlicher körperlicher Schönheit, einem zärtlich liebevollen Magnetismus, der schwächere, liebebedürftige Naturen unwiderstehlich anzog, und von einem fast paranoischen Glauben an sich selbst und seine Sendung, den keine Demütigung und kein Misserfolg zerstören oder erschüttern konnte und der ihn gleichgültig und sogar nachsichtig machte gegen Anfeindungen und Beleidigungen. Er kannte keine Boshaftigkeit und war frei von Kleinlichkeit und Verschlagenheit. Er scheint eine ganz ungewöhnliche Fähigkeit besessen zu haben, sich durch jedes, sei es auch noch so triviale, Geschehen und Erlebnis gleichsam zum Flug in höhere Regionen von feierlichem und bedeutungsvollem Drama treiben zu lassen.364 Jedes Erlebnis, sogar ein schmerzliches und hässliches, konnte die symbolische und mystische Bedeutung einer wunderbaren Weisung annehmen. Es ist nicht überraschend, dass zu alledem ein ausgesprochener Sinn für Pracht, Zeremonie und theatralische Pose kam. In der gefühlsbetonten Atmosphäre der apostolischen Gemeinschaft, in der die Ner ven der Menschen ständigen Spannungen und Ekstasen unter worfen waren, errang Enfantin ohne Mühe vollkommene Vorherrschaft. „L’école est comme dissoute depuis votre départ […]; vous étiez le lien qui unissait les parties“365 – schrieb ihm Buchez, der wenig zu Führer verehrung neigte und deshalb die Schule bald verließ. Diktatorische Führerschaft wurde von Bazard als Garantie einer monolithischen Struktur und als Symbol der Harmonie akzeptiert; dennoch fühlte er sich dabei nicht frei von Gewissensskrupeln. Manchmal war er geneigt, die diktatorische Führerschaft nur als eine provisorische Phase zu betrachten, die durch die Bedingungen des Apostolats und die Erfordernisse einer „ecclesia militans“ geboten war. „Nous ne sommes ni des supérieurs de capucins, ni des colonels prussiens, et si nous n’avons pas, dans le sens démocratique du mot, à vous rendre compte

363 364 365

Vgl. Weill, École, S. 39–41; Saint-Simon/Enfantin, Œuvres, Band 26, S. 199–207. Vgl. ebd. Saint - Simon/Enfantin, Œuvres, Band 1, S. 211.

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de nos actes, nous avons pourtant l’obligation très - réelle, et cela même sous peine de déchéance, de vous les faire aimer et comprendre.“366 Im gleichen Brief an Rességuier, der die Pariser Zentrale wegen ihres Verhaltens während der Revolution von 1830 kritisiert hatte, spricht Bazard in scharfen Worten von des Briefschreibers Zurschaustellung der „Souveränität“ seiner Vernunft und „protestantischer und republikanischer“367 Haltung gegenüber der saint - simonistischen Führerschaft. Enfantin sprach ganz anders. Er glaubte an Führer, die das Zeichen Gottes auf der Stirn tragen, „Lehrer des Menschen, wahre Priester“.368 „Ouvre les yeux“ – schrieb er an eine Cousine – „regarde celui que Dieu aime par dessus tous les hommes, parce que c’est le plus aimant de tous; vois le chef, le roi, le pontife de la Jérusalem nouvelle, écoute - le sans crainte, suis - le avec amour, c’est par lui que Dieu donne la vie au monde.“369 Charléty zitiert Enfantins Antwort an Duveyrier, weil dieser ihm einen „einfachen Brief“ gesandt hatte : Hätte er auch einen einfachen Brief an Moses, Jesus oder Saint - Simon adressiert ? Die saint - simonistischen Päpste haben niemanden über sich außer Gott, der in Ewigkeit ruhig und liebend ist. „Ein Lächeln unseres Vaters soll auf uns dieselbe Macht ausüben, als da ist in allen Menschheitsfreuden zusammengenommen.“370 „Das Wort Gottes in unserm Munde soll so wunderbar sein, nein tausendmal wunderbarer als je Seine Worte waren, die in der Vergangenheit durch den Mund der Propheten und Apostel offenbart wurden.“371 Der Akzent lag stärkstens auf Gemeinschaft. Einsamkeit, der Kehrreim kritischer Dichter und verbohrter Christen, ist die Gelegenheit des Teufels. Freudige Gemeinschaft ist Seligkeit. Leben gibt es nur in der Gemeinschaft; in der Isolierung ist nur Tod und Elend.372 Mit welchem Mitleid sprechen die Saint -

366 367 368 369 370

371 372

Saint - Simon/Enfantin, Œuvres, Band 3, S. 4; Charléty, S. 69 f. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 3, S. 3. Vgl. auch Saint-Simon / Enfantin, Œuvres, Band 7, S. 61 f. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 27, S. 3; Charléty, Histoire du Saint - Simonisme, S. 68. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 27, S. 15; Charléty, Histoire du Saint - Simonisme, S. 68. Weill, École, S. 94; Saint-Simon/Enfantin, Œuvres, Band 27, S. 98; Charléty, Histoire du Saint-Simonisme, S. 69. A. d. Hg.: Für den ganzen Brief vgl. Saint-Simon / Enfantin, Œuvres, Band 27, S. 95–100. Bei Saint-Simon heißt es „notre père“ und „sur nous“, Weill und Charléty hingegen sprechen von „votre père“ und „sur vous“. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 25, S. 95; Charléty, Histoire du Saint-Simonisme, S. 64. Vgl. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 27, S. 59; Charléty, Histoire du SaintSimonisme, S. 69.

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Simonisten von den Schismatikern, die die Gemeinde verließen !373 Die Gemeinschaft ist ex definitione im Recht, und die „souveräne Vernunft“ des Einzelnen ex definitione im Unrecht. Wo ist die Stimme der Gemeinschaft ? Natürlich im Führer. Wo würde sie im Falle einer Spaltung zwischen den beiden Führern sein ? Die Mehrheit ist in einem solchen Fall nicht ausschlaggebend. Die Angelegenheit würde durch die größere Anziehungskraft eines der Führer entschieden werden müssen, und durch seine Macht, andere zu halten. Diejenigen, die imstande sind, seiner göttlichen Liebe zu widerstehen, werden infolgedessen und ex definitione zu vertrockneten, abgestorbenen Ästen.374 Andere, die in der Lage sein mögen, der Anziehungskraft zu widerstehen, denen aber die Integrität und Einheit der Kirche über alle Maßen teuer ist als Zeuge der Wahrheit ihres Glaubens und der Erlösung der Menschheit, müssen die apriorische Wahrheit der Kirche, die durch den am meisten liebenden Führer spricht, akzeptieren. Die Angelegenheit spitzte sich in einer überraschenden und tragischen Form zu in dem Streit zwischen Enfantin und Bazard über die Rolle der Frauen.375 Die saint - simonistische Schule predigte von Beginn an die Emanzipation der Frau zusammen mit der Emanzipation des Proletariats.376 Gleichzeitig lehrten die Saint - Simonisten, ebenso wie Fourier, das soziale Individuum sei in Wirklichkeit das Paar, Mann und Frau.377 Das war natürlich geeignet, zu einer starken Bekräftigung der Unauf lösbarkeit der traditionellen monogamen Ehe und zu gleichen Rechten der Frau in Ehe und Scheidung zu führen. Vollkommene Bruderschaft und kollektive Ver werfung der privaten Erbschaft passen jedoch nicht gut zur privaten Familie, da die Vaterliebe sich immer gegen die vollständige Hingabe an ein Gemeinschaftsideal stellen wird. Mit ihrer Verneinung der asketischen Unterscheidung zwischen Materie und Geist legte die Schule auch großes Gewicht auf die Rehabilitation des Fleisches. Das Problem von Liebe und Geschlecht wurde zu einem Schulbeispiel par excellence. Seltsamer weise war die erste Lösung eine katholische Unterscheidung zwischen den gewöhnlichen Gläubigen, denen anbefohlen wurde, in traditioneller Ehe zu leben, und den Priestern und Priesterinnen, denen strenges Zölibat auferlegt wurde, weil ihr Gemahl die Kirche, das Ideal der Assoziation, sei. 373 374 375 376

377

Vgl. Saint - Simon/Enfantin, Œuvres, Band 5, S. 118. Vgl. ebd., Band 27, S. 7–14; Charléty, Histoire du Saint-Simonisme, S. 68 f. Vgl. d’Allemagne, Les Saint - Simoniens, S. 212 f., 219 f. Vgl. Bouglé, Chez les prophètes socialistes, 2. Kapitel, Le Féminisme saint - simonien, S. 51–110. Die beste Behandlung erfährt diese Frage noch immer bei Charléty, Histoire du Saint - Simonisme, auf den ich mich weitgehend stütze. Vgl. d’Allemagne, Les Saint-Simoniens, S. 212 f.; Saint-Simon/Enfantin, Œuvres, Band 5, S. 94, 125. Nach Bouglé stammt die Formel „L’individu social, c’est l’homme et la femme“ von Saint-Simon selbst, vgl. Bouglé, Chez les prophètes socialistes, S. 109.

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Aber die saint - simonistische Antinomie der Befreiung aller natürlichen Triebe einerseits und des totalen Kollektivismus andererseits drängte nach anderer Lösung : Wie konnte man den Geschlechtstrieb freisetzen – was ihrer grundlegenden Philosophie nach erforderlich schien –, ohne in der monogamen Ehe eine Teilbindung zu schaffen, die universaler Brüderschaft entgegenwirkt, und andererseits auch ohne den Trieb durch die Verpflichtung zur Monogamie zu unterdrücken ? Die Abschaffung des alten Typs der Ehe schien die einzige Antwort hierauf. Enfantin lehrte, man müsse das Vorhandensein zweier Menschentypen in Betracht ziehen, der von Natur Beständigen und derjenigen, deren Leidenschaften wechselnd und rastlos sind. Wenn zugestanden werde, dass die triebhafte Leidenschaft nicht schlecht ist, dann müsse ihr erlaubt sein, sich frei von den Fesseln der monogamen Ehe zu behaupten. Falscher Schein und Heuchelei würden daher nicht länger Prostitution und Ehebruch zu nähren brauchen. Mütter allein würden das Geheimnis der Vaterschaft ihrer Kinder kennen. Das würde ihre Emanzipation festigen. In Bazards Augen war dies dazu angetan, zu Promiskuität und folglich zu größerer Erniedrigung der Frau zu führen, anstatt zu ihrer Befreiung.378 Der Konflikt zwischen den beiden Führern wurde zuerst vor der Allgemeinheit der Gläubigen geheim gehalten. Noch einige Monate, bevor die Sache an die Öffentlichkeit kam, sandten Bazard und Enfantin einen gemeinsamen Brief an den Präsidenten der Abgeordnetenkammer, in dem sie gegen die Anschuldigung protestierten, sie unterhielten „La communauté des femmes“ – „expression qu’il est impossible de reproduire sans répugnance“.379 Die SaintSimonisten behaupten, die Heiligkeit der Ehe, so wie das Christentum sie lehrt, voll anzuerkennen und sie nur durch eine neue Sanktion stärken zu wollen, um ihre Unverletzlichkeit erneut zu bekräftigen.380 Es wurden verzweifelte Anstrengungen gemacht, um einen Bruch zu vermeiden und den Konflikt von der übrigen „Familie“ fernzuhalten. Die drei saint - simonistischen Frauen, die in das Geheimnis eingeweiht waren und die von Enfantins Theorien zutiefst abgestoßen wurden, gaben sich alle Mühe, ihren Wider willen zu über winden. Cécile Fournel, die gequält wurde von dem Konflikt zwischen ihrer heißen Liebe zu ihrem Mann ( von dem sie sich wegen der zeitweiligen Verpflichtung der Apostel zum Zölibat trennen musste ), ihrem 378

379 380

Vgl. Charléty, Histoire du Saint - Simonisme, S. 145–147 (zitiert den Globe vom 12. Januar, 6. Februar und vom 3., 12. und 19. März 1832); Saint - Simon/Enfantin, Œuvres, Band 4, S. 135. Brief an den Präsidenten, veröffentlicht am Schluss von Saint - Simon, Doctrine ( Ausgabe 1830), S. 4 (des Briefes); Saint-Simon/Enfantin, Œuvres, Band 4, S. 119–126. Vgl. d’Allemagne, Les Saint - Simoniens, S. 215; Saint - Simon/Enfantin, Œuvres, Band 4, S. 119–126.

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Abscheu vor Enfantins Ideen und ihrem leidenschaftlichen Glauben an den Saint - Simonismus, verließ die Sekte eine Zeit lang und kam dann wieder zurück und fügte sich Enfantin. Aglaé Saint - Hilaire, eine strenge Idealistin, musste all ihre Überwindungskraft aufbieten, um nicht auszutreten. 381 Schließlich musste der Zweikampf vor der ganzen Versammlung ausgefochten werden.382 Carnot, der daran teilnahm, verglich diese Verhandlungen mit den berühmten Konzilien in der frühen christlichen Zeit.383 Sie könnten heute treffender mit jenen in tiefster Heimlichkeit abgehaltenen Konklaven in totalitären Parteien verglichen werden, deren Ergebnisse in Form einer Exkommunikation von Führern, die bis gestern allmächtige und geliebte Lehrer waren, angekündigt werden; und die sich in befremdlichen öffentlichen Bekenntnissen, Widerrufen und wütenden Austritten dartun.384 „Il nous semblait assister à l’un de ces fameux conciles où se traitaient, au début de l’Eglise chrétienne, des questions destinées à remuer le monde; le terrain de la philosophie, de la religion, de la morale, était profondément labouré devant nous par deux intelligences supérieures. Sans précautions oratoires, sans déclamations, sans digressions, sans passion, avec une sévère simplicité, Bazard, faisant tourner sa tabatière entre ses doigts, son geste habituel quand il pensait tout haut, argumentait vigoureusement et sobrement contre les pensées hardies et les sophismes subtils d’Enfantin [...]. Peut - être reconnaissait - il trop tard que l’engrenage métaphysique de son collaborateur l’avait mené fort au delà des applications auxquelles son esprit consentait. Les préoccupations étaient si austères, que les femmes purent tout entendre et tout dire sans hésitation, sans que personne en fût surpris, ni qu’un sourire effleurât les lèvres.“385 Im Verlauf der Beratungen wurden diese strengen Logiker und unnachgiebigen Dialektiker von Ekstasen und Schüttelanfällen erfasst wie die primitivsten Erweckungsprediger. Einige hatten Ohnmachtsanfälle, andere verfielen in Trancezustände und begannen zu prophezeien. Als Olinde Rodrigues’ Behauptung, der Heilige Geist habe in ihm geweilt, von Jean Reynaud angezweifelt wurde, bekam Olinde Rodrigues einen Schlaganfall.386 Einige Tage später richteten einige Mitglieder einen dringlichen Brief an die beiden „Pères“, in dem sie sie beschworen, ihre Differenzen beizulegen und nicht die Sekte zugrunde

381 382 383 384 385 386

Vgl. Weill, École, S. 99 f. Vgl. d’Allemagne, Les Saint - Simoniens, S. 219 f. Vgl. ebd., S. 119. Vgl. ebd. Carnot, zit. in Charléty, Histoire du Saint - Simonisme, S. 131. Vgl. auch d’Allemagne, Les Saint-Simoniens, S. 219 f. Vgl. Saint - Simon/Enfantin, Œuvres, Band 4, S. 135–137; Charléty, Histoire du SaintSimonisme, S. 131.

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zu richten.387 Ende August 1831 erlitt Bazard einen Gehirnschlag ( congestion cérébrale ). Bald nach seiner Genesung brach die Krise von neuem aus. Enfantin bestand auf öffentlicher Beichte jedes Einzelnen. Er machte den Anfang. Dann kam die Reihe an Bazard. Mitten in seiner Beichte wurde er durch einen Bruder unterbrochen, der dem „Père“ zurief : „Tu as menti.“388 Der in verschwörerischer Geheimhaltung geübte alte Carbonaro hatte mit oder ohne Absicht irgendeine Einzelheit ausgelassen. „Cette scène acheva d’accabler le malheureux apôtre.“389 Ein Mitglied, das diese qualvollen Tage miterlebte, der Prediger Charton, beschreibt die Atmosphäre, die er bei seiner Rückkehr von einer Missionsreise vorfand, wie folgt : „Toutes les figures portaient les traces de longues insomnies; les yeux étaient plombés, les lèvres pâles, les cheveux en désordre. Il y avait des traits décomposés, des regards extatiques, des joues creuses et lugubres. Dans de certains moments, toutes les voix s’élevaient ensemble, se mêlaient, grandissaient confuses et aiguës comme les clameurs d’une émeute; ensuite elles s’abaissaient, s’apaisaient et tombaient comme sous un coup de vent; ce que j’entendais me donnait le vertige; on parlait d’un des chefs et d’un grand nombre de ceux que j’étais habitué à aimer, à consulter, comme de personnes mortes.“390 Der Kampf zwischen Bazard und Enfantin um die Vorherrschaft wurde zunächst beschwichtigt, aber bald ging Enfantin als Sieger aus ihm her vor. Es wurde beschlossen, dass Bazard „chef du dogme“ sein sollte, Rodrigues „chef du culte“, und Enfantin der alleinige „Père suprême“. Bazard konnte sich nicht damit abfinden und trat aus der Sekte aus.391 Eine Generalversammlung des Collège wurde einberufen. Es war ein Augenblick äußerster Krise, einer jener Krisen, wie sie auf einen offenen Bruch zwischen Führern, die diktatorische Gewalt teilen, folgen. Wem werden die einfachen Mitglieder, oder richtiger: die Unterführer, folgen? Die mehr politisch eingestellten Veteranen der Geheimbünde, die in jakobinischer Tradition erzogen waren, wie zum Beispiel Carnot und Pierre Leroux, kündigten voll wütender Entschlossenheit ihren Austritt an. Tragisch war die Lage derjenigen, die all ihre glühenden und zarten Hoffnungen in die Bewegung gesetzt 387 388 389 390 391

Vgl. Saint - Simon/Enfantin, Œuvres, Band 4, S. 138–149. Weill, École, S. 103. Ebd. Charléty, Histoire du Saint - Simonisme, S. 132; Bemerkenswerte Briefe von Jean Reynaud an Transon, vgl. Saint - Simon/Enfantin, Œuvres, Band 3, S. 58–62. Vgl. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 4, S. 155–157. Es kann wenig Zweifel daran bestehen, dass in der verzückten Verehrung für Enfantin und der Verherrlichung der Liebe eine unterdrückte Form der Homosexualität wirksam war, vgl. z. B. Saint - Simon/Enfantin, Œuvres, Band 3, S. 78–80.

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hatten, die in ihr ihren Lebensinhalt, den Grundstein ihrer Weltanschauung sahen. So rief Lechevalier aus : „Am Tage meiner Bekehrung sagte ich, dass ich in Gottes Namen mein Schicksal in die Hände von Bazard - Enfantin lege. Sie sind nicht länger in Übereinstimmung, ich ziehe mich zurück, [...] ich erkenne die saint - simonistische Familie nicht länger an.“392 Dann kamen die herzzerreißenden Worte der Ernüchterung : „Ja, ich zweifle; ich zweifle sogar an SaintSimon; ich bin voller Zweifel über seine Nachfolger; ich zweifle jetzt an allem; ich bin wieder ein ‚philosophe‘, [...] ich bin wieder einmal allein in der Welt.“393 – „Oh, zu sehen, wie meine schöne Zukunft, mein schöner Himmel so zerrissen und zerfetzt wird“,394 jammerte Charton. – „Ich bin kein ‚philosophe‘; ich bin ein religiöses Wesen. [...] Ich bin einfach ein Standartenträger; wenn ich eure Flagge nicht mehr tragen kann, wenn ich an sie nicht mehr glaube, verschwinde ich [...] ich gehe mir eine neue Religion suchen“,395 war das Bekenntnis Transons, der außerstande war, ohne einen Glauben und außerhalb einer Kirche zu leben. Wie Lechevalier trat er bald den Fourieristen bei. Keiner nahm eine schärfere Analyse der Krise vor als Jean Reynaud : „Das Herz scheint manchmal zu versagen. Der Gedanke tötet mich. [...] Die Theorie, die ‚Père‘ Enfantin über die Frauen bekennt, ist nur ein Detail seiner allgemeinen Menschheitstheorie; ich glaube, dass diese Theorie alle menschliche Freiheit aufhebt, [...] sie nimmt dem Menschen seine Würde und sein Gewissen.“396 Aber er wollte nicht austreten : „Wir haben Menschen zu diesem Glauben gebracht; es ist eine ungeheure Verantwortung.“397 Reynaud war entschlossen, Enfantin zu entlar ven, wenn der Zeitpunkt gekommen wäre. Ganz anders war die Reaktion von Baud, der zu denjenigen gehörte, die der ruhigen, anziehenden Heiterkeit Enfantins nicht widerstehen konnten : „Nein, Gott hätte einen Mann nicht mit diesem ruhigen und heiteren Gesicht, in solcher Größe und Schönheit vor seinen Mitmenschen stehen lassen, um sie als Werkzeuge zu benutzen, um sie zu verführen und zu vernichten.“398 Das rief eine derartige allgemeine Ekstase her vor, dass Reynaud sich Enfantin an den Hals warf. Woraufhin der St. Paulus der Sekte, Rodrigues, der letzte der ursprünglichen Apostel, der in der Gemeinde verblieb, alles Gewicht seiner patriarchalen Autorität für Enfantin in die Waagschale warf : 392

393 394 395 396 397 398

Charléty, Histoire du Saint - Simonisme, S. 132. Zu diesem Abschnitt vgl. auch d’Allemagne, Les Saint-Simoniens, S. 224 f.; Saint-Simon/Enfantin, Œuvres, Band 4, S. 160–172, 179–182; Band 7, S. 230. Charléty, Histoire du Saint-Simonisme, S. 132. Ebd., S. 133. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 134; Saint-Simon/Enfantin, Œuvres, Band 4, S. 238 f.

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„Im Namen des lebendigen Gottes, der mir offenbart wurde von Saint Simon, Euer aller Meister und meiner insbesondere, soll dies meine erste Glaubenshandlung hier sein – Dich, Enfantin, den moralischsten Mann unserer Zeit, den wahren Nachfolger Saint - Simons, zum obersten Führer der saintsimonistischen Religion zu proklamieren.“399 Die saint - simonistische Zeitung resümierte die Begebenheit wie folgt : „Jedes einzelne Mitglied fühlte seine Liebe zu Unserem Père suprême hundertfach wachsen – [...] denn er [...] hat sich allen als hundertmal moralischer, hundertmal besser, hundertmal größer und tiefer, hundertmal mächtiger und schöner, hundertmal mehr Priester offenbart [...]. Die Familie hat einen kleinen Augenblick lang das Leben des Père suprême gelebt.“400 „Sein Lächeln befreit von Kummer und gewährt Freude.“401 Und was sagte man über die Schismatiker ? Nicht ein Wort der Beschimpfung, keine Beleidigungen, keine Unterstellung niedriger Motive; keine persönlichen Angriffe. Die Erklärungen der Abtrünningen wurden sogar in dem offiziellen saint - simonistischen Organ veröffentlicht. Enfantin zollte ihrem Idealismus und ihrer Ergebenheit Beifall, doch erklärte er, sie seien Menschen ohne wirkliche Religiösität; sie seien zu gehemmt, um Gott in Menschengestalt, in Enfantin, zu lieben. „Die Abtrünnigen haben niemals gefühlt, wer ich bin; sie sind alle der großherzigsten Hingebung an Prinzipien und Ideen fähig; doch sie schämen sich, dieselbe Liebe zu Menschen zu bekennen, als ob Gott nicht Sein Wort hätte Mensch werden lassen. Keiner von ihnen ist jemals wahrhaft religiös gewesen.“402 Außerhalb der Kirche sind sie trockene Äste, verdorrte Glieder, tot.403 Rodrigues selbst brach bald mit dem „Père suprême“ und verließ die Familie. Der letzte Strohhalm war Enfantins endgültiger Urteilsspruch, dass es das ausschließliche Recht der Frau sei, das Geheimnis der Vaterschaft ihres Kindes zu kennen.404 Es war besonders betrüblich, dass der Bruch mitten in der erfolgreichen Auf legung einer saint - simonistischen Anleihe durch Olinde Rodrigues erfolgte. Zwar gab es keine Andeutung von Betrug oder Bösgläubigkeit, doch führte der Bruch zu unerfreulichen Prozessen. Rodrigues, als direkter Schüler des Meisters, rief sich dann selbst zum Oberhaupt der Kirche aus. Nun 399 400 401 402 403 404

Bureaux du Globe ( Hg.), Le Globe, 28. November 1831; Charléty, Histoire du SaintSimonisme, S. 135. Bureaux du Globe ( Hg.), Le Globe, 28. November 1831; Charléty, Histoire du SaintSimonisme, S. 135 f.; Saint-Simon/Enfantin, Œuvres, Band 4, S. 203. Charléty, Histoire du Saint-Simonisme, S. 139. Vgl. zum gesamten Abschnitt ebd., S. 136–139. Saint - Simon/Enfantin, Œuvres, Band 17, S. 136. Vgl. Saint - Simon/Enfantin, Œuvres, Band 3, S. 120; Band 4, S. 191 f.; Band 5, S. 9, 14; Band 15, S. 105. Vgl. Saint - Simon/Enfantin, Œuvres, Band 5, S. 231 ff., 240–243; Band 7, S. 67 ff.

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gab es drei „Pères suprêmes“, die miteinander im Krieg lagen, denn auch Bazard nahm weiterhin für sich in Anspruch, der wirkliche „Père“ zu sein, doch er starb kurz darauf an den Folgen des Schlaganfalls, den er früher erlitten hatte.405 Der größte Teil der Familie blieb bei Enfantin. Enfantin ist „Christ des nations“,406 eifert Duveyrier in einem Gedicht, und Michel Chevalier fordert Louis - Philippe auf, zugunsten von Enfantin abzudanken.407 Wenn der König aufrichtig sein wolle und kühn genug, seine eigene Stellung mit der universalen Liebe zu vergleichen, die den „Père“ umgibt, dann werde er sich zweifellos darüber klar werden, dass der Thron demjenigen gehört, der „de son doigt, comblant les vallées et abaissant les monts, [...] tracera entre elles des voies rapides, afin qu’elles soient unies, et qu’il n’y ait bientôt qu’une vie, qu’une foi, qu’un chef pour toute la terre“.408 Der „Père suprême“ versammelte seine treugebliebenen Apostel und zog sich mit ihnen zurück, um ein Klosterdasein in Ménilmontant in der Nähe von Paris zu führen. Die Zuflucht von Ménilmontant und das klösterliche Experiment bilden den Gipfelpunkt der saint - simonistischen Geschichte. Es sollte eine Periode der Vorbereitung sein, aber es war vielleicht auch ein Akt der Verzweif lung, wie Charléty meint. Der „Globe“ hatte sein Erscheinen eingestellt; den Taitbout - Saal, der Zeuge so vieler Triumphe saint - simonistischer Rhetorik und Predigten gewesen war, hatte die Polizei geschlossen; ein Prozess wegen gesetzwidriger Versammlungen, Anstiftung zur Unmoral und finanzieller Unregelmäßigkeiten war anhängig. Die Geldmittel der Schule waren trotz der bewundernswerten Freigebigkeit von Mitgliedern und Freunden fast erschöpft. Und zum Schluss war die Sekte durch ein schreckliches Schisma und schmerzliche Austritte erschüttert worden. Die Getreuen mussten ihre Reihen schließen, um sich gegen Angriffe der Welt und Schicksalsschläge zu wappnen. Die theoretische Ausarbeitung des Dogmas durch Debatte und Diskussion war abgeschlossen. Die Führerschaft war von nun an ungeteilt, alle Autorität an Enfantin gefallen, der eine „loi vivante“ war, ein von Gott Eingesetzter. Die Trennung von der Welt und der Rückzug nach Ménilmontant wurden mit einer Gebärde prophetischer Feierlichkeit verkündet, wie sie einem Ereignis von tiefster symbolischer Bedeutsamkeit angemessen war. In der letzten Nummer des „Globe“ vom 20. April erlässt Enfantin den folgenden Aufruf : „Ich, der Vater der neuen Familie. [...] Gott hat mir den Auftrag gegeben, das 405 406 407 408

Vgl. ebd.; Bureaux du Globe ( Hg.), Le Globe, 19. Februar 1832. Charléty, Histoire du Saint - Simonisme, S. 140. Vgl. ebd.; Bureaux du Globe (Hg.), Le Globe, 1. April 1832. Bureaux du Globe ( Hg.), Le Globe, 28. März 1832; Charléty, Histoire du Saint - Simonisme, S. 140, S. 140. Vgl. außerdem Saint-Simon/Enfantin, Œuvres, Band 4, S. 6–34 (ekstatische Briefe der Anhänglichkeit).

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Proletariat und die Frauen zu einer neuen Bestimmung aufzurufen; alle diejenigen in die heilige Menschheitsfamilie aufzunehmen, die bis jetzt aus ihr ausgeschlossen waren oder als Unmündige behandelt wurden; die universale Assoziation zu ver wirklichen, nach der die Freiheitsrufe aller Sklaven, Frauen und Proletarier seit der Geburt der Welt verlangen.“409 Er kündigt dann der Welt an, dass eine neue Epoche in seinem Leben beginnt : Er habe gesprochen, jetzt sei die Zeit gekommen zu handeln. Doch bevor er handele, müsse er eine Zeit lang still sein. Daher ziehe er sich mit vierzig Jüngern in die Einsamkeit zurück und überlasse den anderen Söhnen die Sorge um das Apostolat in der Welt.410 Das Ziel der klösterlichen Zuflucht war nach Enfantin nicht einfach die Gründung einer „fabrique ou un chemin à grandes ornières, ni même de fonder un phalanstère“.411 Es sollte eine Charakterschule sein, ein Noviziat, eine Periode strenger Konzentration, aus der sie gestählt her vorgehen würden, zu Eroberungen bereit. Im Kloster wurde von diesen Theoretikern der Rehabilitation des Fleisches strenges Zölibat geübt, und herzzerreißende Trennungen zwischen jungen liebenden Ehegatten wurden erzwungen. Alle groben Arbeiten sollten von den Mönchen selbst verrichtet werden, um durch ihre schwieligen Hände die Rehabilitation des Proletariats darzutun. Die Stunden waren strengstens eingeteilt : Sie stehen um fünf Uhr morgens auf, frühstücken um sieben, essen um eins zu Mittag, um sieben ihre Abendmahlzeit und gehen um zehn zu Bett. Die Mönche verlassen die Einhegung niemals, mit Ausnahme der beiden Mitglieder, die zum Umgang mit der Außenwelt ernannt waren. Alles spielte sich natürlich gemeinschaftlich ab, alle Mahlzeiten wurden zusammen eingenommen und von Gesang begleitet. Vorlesungen und Seminare wurden gehalten, wie sich von selbst versteht. Die Saint - Simonisten waren darauf bedacht, ihr Leben mit aller möglichen Feierlichkeit und symbolischen Bedeutung zu umgeben. Sie ließen sich Bärte wachsen, um sich ein majestätischeres Aussehen zu geben. Sie nahmen alle Künste, Dichtung, Malerei und Musik zu Hilfe, um ihren Festen und Feierlichkeiten, ja jeder trivialen Gelegenheit einen prunkvollen Charakter zu verleihen. Nicht umsonst waren einige unter ihnen Künstler. Das Klosterleben wurde durch würdige Feierlichkeiten akzentuiert. Gleichsam den Prolog bildete die Beerdigung von Enfantins Mutter, bei der alle Jünger anwesend waren. Die Adoption von Enfantins illegitimem Sohn durch die Sekte war ein weiterer feierlicher Tag. Das Fest der „prise d’habits“, nachdem der „Père“ sich für drei Tage in totale Einsamkeit und absolutes Schweigen zurückgezogen hatte, war eine große Gelegenheit. Die Gewänder 409 410 411

Bureaux du Globe ( Hg.), Le Globe, 20. April 1832; Weill, École, S. 117. Vgl. Charléty, Histoire du Saint - Simonisme, S. 158. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 7, S. 21. Vgl. auch ebd., S. 21–23.

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hatten die Knöpfe auf dem Rücken : Man brauchte immer die Hilfe eines anderen, um sie zuzuknöpfen – ein Symbol brüderlicher Liebe und Hilfe. Die Zeremonie der „Ouverture des travaux du Temple“ war wahrscheinlich der Gipfelpunkt des klösterlichen Experiments, und sie zog riesige Menschenmengen von Paris an, die mit offenem Mund auf diesen großartigen Aufzug starrten, der halb priesterlichen, halb militärischen Charakter trug und akzentuiert wurde durch Gesänge, gut einstudierte Bewegungen und einen Ausdruck überirdischer Feierlichkeit auf den hübschen Gesichtern dieser vierzig jungen Männer, die mit Arbeitsgeräten auf ihren Schultern in Parade aufzogen.412 „A Ménilmontant“ – schreibt Michel Chevalier – „toutes les vies se mêlent les unes aux autres, les fibres se frottent à nu, les caractères se dégagent, les individualités se dessinent, les cœurs se mettent en perce et s’épanchent, le cœur est le principal agent de cette vie nouvelle; or, cela veut dire : Que la hiérarchie d’amour se fonde au lieu d’une hiérarchie de raison, que la religion vient; car Dieu est là où les hommes s’aiment pour une œuvre éminemment catholique; rien ne dispose aux élans religieux comme les joies de la famille. Que l’art nouveau se constitue; que la poésie, le costume, la musique s’implantent dans l’apostolat, l’art est le levier, avec lequel nous remuerons le cœur de l’humanité, c’est - à - dire les femmes, les artistes et les prolétaires.“413 Die pantheistische Philosophie – oder sollten wir sagen : Dichtung – wurde in Ménilmontant ausgearbeitet. Alles ist Gott, und Gott ist in allem.414 Alles ist ein Teil des einen vibrierenden kosmischen Organismus, im Raum sowohl als in der Zeit : die formlose Masse der Materie, bevor unsere Planeten, Ländermassen und Ozeane gebildet wurden; geformte Materie, alle lebenden Organismen; und insbesondere jene Zwischenstadien, die den Übergang von der Materie zum Leben andeuten, Ver wandtschaft zwischen dem Bewussten und dem Unbewussten, dem Natürlichen und dem Übernatürlichen, wie etwa Magnetismus, Mesmerismus, Somnambulismus, Telepathie, Träume – bis zum fortgeschrittensten schöpferischen Intellekt. Eine lebende Substanz, „la vie universelle“,415 waltet in allen; und die schöpferische Leistung von Künstlern, Architekten, Dichtern, Industriellen, bedeute nicht Über windung der Natur, indem man sich ihr entgegenstellt und sie verändert, sondern sie sei die am stärksten verfeinerte Betätigung der göttlichen Substanz in ihrer höchsten Sublimation. Wir gelangen so zur Antithese der früheren Philosophie des Industrialismus – des Menschen Sieg über die Natur und sein schöpferisches Wesen. Diese Art pantheistischer Bejahung der kosmischen Einheit musste zwangs412 413 414 415

Vgl. Weill, École, S. 118–168. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 7, S. 35 f. Zur pantheistischen Philosophie vgl. Saint-Simon / Enfantin, Œuvres, Band 14 (Enseignements d’Enfantin). Vgl. ebd., S. 102.

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läufig zu moralischer Antinomie führen. Man musste die scheinbaren Widersprüche als unwirklich hinstellen. Die Welt könne nicht zwei sich widersprechende Prinzipien haben, wie die manichäische Unterscheidung zwischen dem ursprünglich Guten und dem ewig Bösen. Das Nebeneinander von zwei gegensätzlichen Phänomenen wird daher als das Hin - und Herschwingen eines Pendels angesehen, das heißt als von einer und derselben Substanz, von einem Pol zum anderen. Es gebe nur ein Wesen mit zwei Aspekten, zwischen denen ein kontinuierliches Fließen stattfinde. Das Kardinalprinzip der Welt sei das Gesetz von Widerspruch und Spannung, und doch seien sie alle versöhnt in der einzig wirklichen Einheit : das Ich und das Nicht - Ich, Tugend und Laster, Othello und Don Juan, Jude und Christ, Orient und Okzident, Denken und Handeln, Beständigkeit und Veränderlichkeit. Wenn dem so sei, könne man dann überhaupt von Bösem sprechen ? Letzten Endes nicht. Die Unterscheidung zwischen Materie und Geist, Seele und Fleisch, guten Impulsen und bösen Trieben könne nicht aufrechterhalten werden. Daher die Rehabilitation des Fleisches und der Materie. „Les jouissances matérielles ne sont plus un crime ni un larcin. Les fils de Dieu verront sans péché que les filles des hommes sont belles, et la terre aussi, belle et parée, sera la couche aux mille harmonies où se borneront les joies, les extases, les ravissements de l’humanité progressant dans sa chair comme dans son esprit. [...] Pour nous, la gloire rattache au monde autant que l’abnégation. L’orgueil n’est pas plus irreligieux que l’humilité.“416 Angesichts dieser engen Verknüpfung von Geist und Materie könne man schwerlich physische Aspekte von geistigen trennen. Äußere, physische Schönheit wird als Anzeichen geistiger Vortreff lichkeit aufgefasst und Enfantin betont die Verbindung der beiden Elemente, des sinnlichen und des geistigen, in allen Stimuli und Reaktionen. Daher sein starker Glaube an die besondere Bedeutung seiner körperlichen Schönheit und an die Macht seines Blickes, und seine Forderung, dass die Priester und Priesterinnen zur Beeinflussung, Führung und Tröstung der Gläubigen sich nicht nur geistiger Überredung bedienen, sondern auch sinnliche Mittel, einschließlich geschlechtlicher Liebe, anwenden sollten. Daher auch die Neigung zum Symbolismus und zum Hineinlesen von verborgenen Bedeutungen und Zeichen in zufällige und alltägliche Begebenheiten. Die pantheistische Philosophie wurde bis in ihre letzten Schlussfolgerungen ausgearbeitet. Die Betonung des Verbundenseins, Ineinandergreifens, Fließens in Liebe tendierte dazu, alle Konturen individuellen Getrenntseins zu ver wischen. Es gibt kein Ich und Du, sondern ein Universalleben, „vie universelle“, 416

Charléty, Histoire du Saint-Simonisme, S. 145. Vgl. auch ebd., S. 146–148; SaintSimon/Enfantin Œuvres, Band 17, S. 21 ff.

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an dem ich und du teilhaben. Soweit wir in Liebe vereint sind, weilen wir ineinander, ich bin ein Aspekt von dir und du bist ein Aspekt von mir. Dieses gegenseitige Durchdringen erfolgt nicht nur unter Zeitgenossen, sondern auch zwischen den Lebenden und den Toten und den noch Ungeborenen. Es bedeutet viel mehr als die Verbindung der Generationen oder das Überleben durch Leistung und Werke, die von vergangenen Zeiten ererbt und an zukünftige Generationen weitergeleitet werden, mehr als die Unsterblichkeit des Ruhmes. Es bedeutet Unsterblichkeit der Seelen auf dem Wege der Seelenwanderung. Unzählige Seelen schweben im Raum. Sie enthalten die Keime aller zukünftigen Möglichkeiten, sie gehen in Körper ein; manchmal geht dieselbe Seele in viele Individuen ein. Die gewöhnlichen Seelen sind so gut wie nicht differenziert, man kann sogar von ihnen sagen, dass die einzelne Seele am lebendigsten ist, wenn sie mit anderen Seelen in Gemeinschaft tritt, in anderen Seelen lebt, sich an sie hingibt. Aber es gibt ungewöhnliche Seelen von kompakter, klar bestimmter und identifizierbarer Persönlichkeit. Sie wechseln quasi in toto hinüber von einem Mann der Vorsehung, einem Genius, in einen anderen. Und wenn die Seele in ihnen ist, empfinden sie ein lebhaftes Gefühl der Ver wandtschaft, ja gar der Identität mit denen, in denen die Seele in ihren früheren Inkarnationen geweilt hatte.417 „Je suis le descendant direct de saint Paul“ – behauptete Enfantin – „c’est à - dire que j’étais en lui, en germe, comme il est aujourd’hui résumé en moi. C’est par moi que Saint - Simon marche vers Dieu; car je suis en vérité, ce que Dieu a voulu que fût éternellement Saint - Simon, le père des hommes. [...] Enfantin qui naît et qui meurt n’est donc que la manifestation dans le temps et dans l’espace de l’Enfantin Éternel.“418 Universales Leben ist ewiges Leben, ohne irgendeinen wirklichen Bruch zwischen Leben und Tod, Leben im Diesseits und Leben im Jenseits. Leben ist Sympathie, Leben ist Liebe. Abstoßung, Hass, Entziehung bedeuten Tod. Leben wird empfangen und Leben wird zurückgegeben, weitergeleitet an andere – das ist der Sinn von Geburt und Tod.419 Enfantin erklärte, er wolle die von ihm gepredigte neue Moralität nicht sofort einführen. Die endgültige Entscheidung, die Aufgabe, das neue Gesetz zu formulieren, müsse der „Femme – Mère - Messie“420 überlassen werden, die eines Tages erscheinen und ihren Sitz an der Seite des „Père“ einnehmen

417 418 419 420

Saint-Simon/Enfantin Œuvres, Band 46, S. 82 f.; Band 3, S. 187 f. Charléty, Histoire du Saint-Simonisme, S. 142. Vgl. auch Manuel, The New World, S. 2. Vgl. Charléty, Histoire du Saint - Simonisme, S. 319–321. Vgl. d’Allemagne, Les saint - simoniens, S. 212–226 (La question de la femme); SaintSimon/Enfantin, Œuvres, Band 7, S. 19 f.

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werde. Bis dahin sei die alte Moralität bindend und, wie bereits erwähnt, wird den in ihrem Zufluchtsort von Ménilmontant versammelten „Pères“ striktes Zölibat auferlegt. Allmählich nahmen die Hoffnung und das Warten auf die „Mère“ und ihre endgültige Lehre die Dimensionen eines chiliastischen, allumfassenden Erlebnisses an.421 Hier scheint eine Erläuterung geboten. Wie bereits dargelegt wurde, gab es bei fast jedem Einzelnen dieser glühenden jungen Menschen, die sich in der Sekte zusammengeschlossen hatten, einen Hintergrund eines persönlichen Unglücks, dem irgendein Stigma anhaftete.422 In mehreren Fällen hatte dieses Stigma mit dem Vater zu tun. Vielleicht war ihr so ungewöhnliches Liebes - und Anlehnungsbedürfnis eine Folge hier von, denn ungewöhnlich war es selbst für eine Epoche der Romantik mit ihrem Gefühlskult und dem Glauben, dass alle Gefühle schön seien, je stärker desto besser, je krankhafter desto besser; und dass darum keine Zurückhaltung in ihnen geübt zu werden brauche. Der Mensch ist gut, und gewiss sind seine Gefühle das Maß seiner Vortreff lichkeit. Die Frau erschien diesen jungen Männern nicht nur als eine Person des anderen Geschlechts, sondern als ein Erlöser, eine Mater dolorosa, ein überlegenes, feineres Wesen, das Liebe, Vergebung und Trost zu bieten hat.423 „Je conçois certaines circonstances“ – schreibt Enfantin an seine innig geliebte Mutter – „où je jugerais que ma femme seule serait capable de donner du bonheur, de la santé, de la vie à l’un de mes fils en Saint - Simon, de le rappeler aux sympathies sociales prêtes à le quitter, de le réchauffer dans ses bras caressants au moment où quelque profonde douleur exigerait une puissante diversion.“424 Dem geht ein verblüffender und seltsamer Satz voran : „Ich, der Mann, der in seinem Herzen die Macht der Liebe für eine Frau fühlt und der darum nicht heiraten wollte.“425 Wegen seiner Sehnsucht nach großer Liebe konnte Enfantin nicht irgendeine Frau heiraten. In seinen Briefen an einen Schüler rät er ihm, eine große, überlegene Frau zu heiraten. Das Beste, das Männer und Frauen tun, erfolge immer als Tribut und Huldigung für eine Person des anderen Geschlechts.

421 422 423

424 425

Vgl. ebd. Vgl. d’Eichthal 1866 zit. in Weill, École, S. 47, Fußnote 2. Vgl. Bouglé, Chez les prophètes, S. 109 f., zitiert: „O femme, mère du genre humain, toi qui résumes en ton sein toutes les douleurs, toi qui as subi tous les martyrs, toi le type sacré du travailleur toujours souffrant, toujours opprimé, toujours subalternisé, lève-toi et parle au monde de l’humanité. Dieu te le commande: c’est plus qu’un droit, c’est un devoir.“ Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 27, S. 201. Ebd.

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„Aus den Händen einer Frau wird der neue Adam, der durch Saint - Simon regeneriert wurde, die Frucht des Baumes der Erkenntnis empfangen; von ihr wird er zu Gott geführt werden, im Gegensatz zu dem christlichen Glauben, er sei durch sie von Ihm entfernt worden. Maria ist bereits gekommen, um die Frauen zu trösten, indem sie den Menschen einen Erlöser gab; [...] allein mit Gott hat sie das Gesetz der Liebe empfangen, die geheimnisvolle Prophezeiung der Ordnung der Zukunft.“426 Wo könnte man eine schlagendere, erstaunlichere Manifestation des inkarnierten Geistes der Romantik finden ? Ein leerer Sitz ist immer neben dem Stuhl des „Père“ für die „Mère“ reser viert. Immer wieder ruft der „Père“ Gott als Zeugen dafür an, dass er das Versprechen nicht ausführen kann, solange die Mère nicht gekommen ist, dass er gelähmt ist durch ihr Ausbleiben. Bis zu ihrem Erscheinen ist alles provisorisch. Letzten Endes ist Enfantin nur der Bote ihres Kommens, ihr Johannes der Täufer.427 „Nous croyons à la venue d’un Napoléon de cette espèce.“428 Napoleon hatte den Gebeten von Millionen für einen starken Mann, der der Anarchie in der Politik ein Ende setzen würde, entsprochen; sie wird der Anarchie in der Moral, der Prostitution, dem Ehebruch und dem Elend, das die Familien heimsucht, ein Ende setzen. „Fragt uns nicht, wie wir uns die Organisation der Gesellschaft der Zukunft vorstellen [...]. Unsere Gedanken darüber sind nicht wichtig; der Mensch sollte endlich all der von Männern gemachten Systeme müde sein; seht Ihr sie nicht fallen wie Hagel in den letzten vierzig Jahren ?“429 Weshalb ? Weil alle derartigen Systeme und Pläne keinen Sinn haben ohne eine grundlegende Veränderung in den Gefühlen. „Die Phase der Doktoren ist beendet, alle Theorien sind aufgestellt; jetzt kommt die Phase des Gefühls, kurz, der Frau, [...] dass eine wirklich große, gleichermaßen gute und weise Frau komme, um alles zusammenzufassen und dem Gefühl Gesetzeskraft zu geben.“430 „Die Mutter kann nicht fern sein, denn die Welt leidet zu sehr“431 – schrieb Cécile. Der „Père“ gibt seinen sehnsüchtigen Empfindungen rührenden Ausdruck in „L’Attente“ : „Grand Dieu ! J’ai fait ta volonté, j’attends ta nouvelle parole. J’attends [...] la douce voix que tu m’as promise se tait ! Que ce silence est lourd à mon âme ! Et pourtant je te rends grâces, ô mon Dieu ! J’avais besoin de te 426 427 428 429 430 431

Enfantin in einem Brief an Duveyrier, zit. in Charléty, Histoire du Saint - Simonisme, S. 129. Vgl. auch d’Allemagne, Les Saint - Simoniens, S. 213. Vgl. Weill, École, S. 104 f. Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 28, S. 20. Ebd., S. 33. Charléty, Histoire du saint - simonisme, S. 214. Ebd.

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sentir muet en moi pour avoir foi en elle autant qu’en moi - même [...]. Attendre ! Attendre ! Que fait - elle à cette heure ? Depuis si longtemps je l’aime ! Dis moi, mon Dieu, dis - moi si déjà elle m’aime aussi. [...] Oh ! Oui, mon Père, je n’ai point fait assez encore pour la gloire de ton grand nom, et pour le faire répéter à la terre. Je ne mérite pas que tu m’envoies l’ange de gloire et d’enthousiasme, que tu m’as promis d’attacher à ma vie d’homme; ta fille ne me connaît pas. [...] J’ai foi, Père, j’attendrai.“432 Hier ist erstaunliche Symbolik : Die Frau hat die Menschheit ins Verderben gestürzt, die Frau wird ihr die Erlösung bringen. Der Fluch der Erbsünde, den Sie über die Welt gebracht, wird von Ihr aufgehoben werden.433 Diese Stimmung wurde gesteigert durch die Auf lösung der Klosterzuflucht von Ménilmontant und die Einkerkerung des „Père“. Die Saint - Simonisten erschienen in Priesterkleidung vor Gericht. Auf Anweisung des „Père“ weigerten sie sich, einen Eid zu leisten. Ihre Reden, die überströmten vor Stolz der Regenerierten und voller Verachtung waren für die Kleinlichkeit und Dummheit der nichterneuerten Welt – die durch den Gerichtshof repräsentiert wurde –, brachten Richter, Geschworene und Verteidiger zur Verzweif lung. Enfantin versuchte die Macht seiner magnetischen ruhigen Augen auf die Richter und drückte seine mitleidige Verachtung aus über ihre Unempfindlichkeit gegenüber geistdurchdrungener Schönheit. Am Ende des Prozesses und vor Antreten seiner Gefängnisstrafe dankte der „Père“ ab : „N’effacez pas le père, mes enfants, mais songez à la mère.“434 „Le Père sommeille, le Père dort.“435 Während der „Père“ seine Strafe im Gefängnis absaß, reorganisierte Barrault die Gruppe und benannte sie „Compagnons de la femme“.436 „Mère“ – rief Barrault aus –, „je suis à toi ! Ton œil pénétrant, sous les rides austères de ma face, devinera sans peine cet indicible besoin d’aimer et d’être aimé que rien encore n’a pu satisfaire, et ta main, douce et légère, en touchant mon front, effacera les sillons qu’y creusa la souffrance.“437 In diesem Stadium vereint sich die Vision von der „Femme - Messie“ mit dem grandiosen Traum, den Orient und den Okzident zu verbinden und eine apokalyptische Synthese zwischen der Welt Othellos und der Don Juans zu bewirken, zwischen dem geheimnisvollen, verträumten, beschaulichen Osten und dem dynamischen, ruhelosen Westen. Diese Vision hat ihren positivistischen Aspekt in Michel Chevaliers großartigem Mittelmeerplan eines riesigen 432 433 434 435 436 437

Saint - Simon / Enfantin, Œuvres, Band 8, S. 56 f., 60, 64. Vgl. Saint - Simon/Enfantin, Œuvres, Band 4, S. 205 ff. Saint - Simon/Enfantin, Œuvres, Band 28, S. 80. Zum Prozess siehe auch SaintSimon/Enfantin, Œuvres, Band 7, S. 217 ff.; Band 47, S. 69 ff. Saint - Simon/Enfantin, Œuvres, Band 8, S. 206. Vgl. auch ebd., S. 203 f. Weill, École, S. 136. Ebd., S. 137.

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Eisenbahnnetzes, das alle Teile des Mittelmeers mit den Hauptstädten Europas verbinden sollte, und in dem Plan eines Suezkanals in Ägypten und in gigantischen öffentlichen Arbeiten im Nahen Osten. „J’entends du fond de ma prison“ – schrieb Enfantin – „l’Orient qui s’éveille et qui ne chante point encore, et qui crie : Je vois l’étendard du prophète souillé, brisé, le vin coulant avec le sang engourdi d’opium dans les ruisseaux de Stamboul. Le Nil a rompu les digues et se répand plus loin qu’il n’a jamais marché, portant les germes que la main de Napoléon a secoués sur ses bords et que Mehemet a fécondés; [...] la grande communion se prépare, la Méditerrannée sera belle cette année. Depuis Gibraltar jusqu’à Scutari, cette côte brûlante se soulève et appelle l’Occident endormi sous la parole de ses phraseurs de tribune.“438 Vor allem wird die Femme - Messie sich dort im Orient offenbaren. Es ist so passend, dass sie in Konstantinopel, der Hauptstadt von Byzanz und des Ottomanischen Reiches, aus der Verborgenheit auftauchen sollte; oder im Ägypten der brennenden Wüste und der Pharaonen, der Erbauer der Pyramiden; oder in Judäa, der Wiege der Religionen, Propheten und Erlöser; in Indien, jenem geheimnisvollen Kontinent der Mystik und Romantik an den Ufern des Ganges – „où la fécondité est divinisée“439 und wo Stiere ihre Altäre haben. Alle Zeichen der Prophezeiungen – Kometen, Madame de Berry, der jüdische Zionstraum, Wahrsagungen von Epileptikern – verkünden ihr Kommen im nächsten Jahr und im Orient : „Le Père à Paris, la Mère à Constantinople ! Paris! Constantinople ! Dieu, sur le vaste clavier du monde, a touché ces deux notes, et un accord sublime en jaillira“440 – rief Barrault aus. Die Mère ist auf dem Wege, als Geschenk des Orients : „A toi, Orient, l’enfantement glorieux de la Mère. [...] De quels points de l’horizon et par quels chemins viendra - t - elle ? Habite - t - elle un palais ? Fille de rois, doit - elle, par ses bienfaits inattendus, réconcilier avec le trône les masses populaires qui grondent [...] Surgira - t - elle de la poudre des champs ou de la fange des villes ?“441 Eigentlich ist sie schon erschienen. Barrault weiß es, denn er fühlt es. „Plus d’appel à la Femme ! La Femme a entendu ! Plus d’attente de la Femme ! Je veux, et mon cœur s’en gonfle d’orgueil et de joie, je veux, dès qu’elle paraîtra et jettera un regard autour d’elle, qu’elle trouve à ses côtés, docile sous sa main, mais fière, calme et imposante à ses ennemis, ma tête de lion.“442

438 439 440 441 442

Saint - Simon/Enfantin, Œuvres, Band 28, S. 144. Saint-Simon/Enfantin, Œuvres, Band 9, S. 162. Weill, École, S. 137 f.; Charléty, Histoire du Saint - Simonisme, S. 208. Charléty, Histoire du Saint - Simonisme, S. 208. Ebd.

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Und die Mère wird eine Jüdin sein, ebenso wie die Mutter des Erlösers der Christen. Sie wird in der Stadt Konstantinopel erscheinen, nächstes Jahr im Monat Mai.443 Barrault gibt anonym eine Proklamation „aux femmes juives“ heraus : „Gloire, gloire à vous, femmes juives ! Qui avez protesté contre cette monstruosité de l’esprit, contre cet enfantement de la femme qui met au monde son seigneur, son maître, son dieu. Car le Messie n’est pas un homme, c’est un homme et une femme. [...] Les hommes de votre race sont le lien industriel et politique des peuples; ils sont les banquiers des rois, ils tiennent dans leurs mains la paix ou la guerre. Et vous, femmes, vous êtes appelées à relier le monde par une loi morale nouvelle, par un nouvel amour. [...] Allons, quelle est celle d’entre vous qui veut sauver le monde ? Le monde est bien harassé; la tourmente dure bien longtemps; l’étoile du salut ne se lèvera - t - elle pas ? [...] Le verbe de l’homme s’éteint; l’homme a tout dit, tout pensé; l’homme seul ne peut plus sauver le monde : Femme ! Le monde a besoin de ton verbe, de ton acte, de ton amour ! [...] Fille d’Abraham, pur sang de David, accomplissement des prophéties, arche de l’alliance définitive, rédemptrice des femmes et des travailleurs, source intarissable de gloire et de volupté, sulamite caressante, compagne bien - aimée, épouse sainte, parais, parais !“444

443 444

Ebd., S. 212. Ebd., S. 212 f., Fußnote 3. Iggers, George G., The Cult of Authority, Hague 1958, erschien zu spät, um noch benutzt werden zu können.

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II. Indi vi du um und Orga ni sa ti on in Uto pi en ( Fou rier, Con si dé rant ) 1. Individuelle Neurose und soziales Übel Kein anderer Denker packt das zentrale Problem der vorliegenden Untersuchung so unmittelbar an wie Fourier in seinen Formulierungen der Dilemmata von Freiheit und Erlösung, Spontaneität und Organisation, Selbstentfaltung und Kollektivplanung. Sie werden von ihm durchweg auf zwei Ebenen behandelt – der psychologischen und der sozialökonomischen.445 Wie rudimentär und absurd seine Auffassung der menschlichen Psychologie auch sein mag und wie bizarr und unsinnig seine Lösungen erscheinen müssen, für seinen bahnbrechenden Versuch, die Psychologie für die Analyse ökonomischer und sozialer Probleme auszuwerten, verdient Fourier jedenfalls Anerkennung. Fouriers vorgefasste philosophische und soziologische Ansichten rühren offensichtlich von seinen persönlichen Schwierigkeiten her. Diese Feststellung beabsichtigt nicht, seine Ideen als die bloße Projektion einer persönlichen Erfahrung abzutun oder sie zur ver worrenen Vision eines Geistesgestörten herabzumindern. In ihrer intensiven und verzerrenden Einseitigkeit bietet seine Version ein verblüffendes und in mancher Weise gültiges Korrektiv zu anderen mehr oder weniger einseitigen Konzeptionen. Charles Fourier war ein Kafkatyp.446 Beschränkt durch die Enge seiner Verhältnisse und voller innerer Hemmungen, gefiel er sich in Träumen von völliger Loslösung in verzückter Selbsterfüllung. Seine dem unteren Mittelstand angehörenden Eltern aus der Provinz Franche - Comté hatten ihn gezwungen, Verkäufer und später Handelsvertreter zu werden, doch er hasste und verachtete den Handel als betrügerische Beschäftigung und hielt jeden, der sich darin betätigte, für einen Parasiten, selbst wenn er persönlich ehrenhaft war. Aber 445

446

Vgl. Fourier, Œuvres complètes; ders., Publication des manuscrits de Fourier; Armand / Maublanc, Fourier ( meist Texte ); Bourgin, Extraits; Gide ( Hg.), Selections from the works of Fourier; Pinloche, Fourier et le socialisme; Poisson, Fourier; Considérant, Destinée sociale; ders., Exposition abrégée du système phalanstérien de Fourier; ders., Principes du socialisme; ders., Le Socialisme devant le vieux monde; ders., Théorie de l’éducation naturelle et attrayante; ders., Théorie du droit de propriété et du droit au travail; das Hauptwerk über Fourier ist Bourgin, Fourier. Contribution à l’étude du socialisme français; eine sehr wertvolle Monographie über Considérant ist Dommanget, Victor Considérant, sa vie et son œuvre; ein guter Führer ist : Silberling, Dictionnaire de sociologie phalanstérienne. Vgl. Armand / Maublanc, Fourier, Band 1, S. 38 ff., 57, 63–65.

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er konnte vom Handel nicht loskommen und scheint es auch niemals ernstlich versucht zu haben, bis eine kleine Erbschaft es ihm ermöglichte, unabhängig zu leben. Er war ein verschrobener alter Junggeselle, wohnte in Pensionen, hatte das Gehabe eines unverbesserlichen Pedanten, der Katzen und Papageien liebte und Blumen pflegte; er war etwas beängstigend mit seinen unheimlichen starren Gewohnheiten und seinem geheimnisvollen Gebaren, seinem Brüten in unbeweglicher Stille und seinen plötzlichen Wutausbrüchen, wenn jemand auch nur im Geringsten in seine Gewohnheiten eingriff. Er konnte freundlich, höf lich und interessant sein in der Unterhaltung mit Freunden, die ihn bewunderten, und dennoch war er von stachliger Natur. Ein anscheinend harmloser Ausdruck konnte manchmal einen Sturm ungeduldigen Ärgers heraufbeschwören oder einen Anfall entner venden Trotzes – Zeichen von Ebbe und Flut in unterirdischen Kanälen und von Stauungen in ver worrenen und prekär ausbalancierten Mechanismen tief drinnen. Jahrein, jahraus wartete er regelmäßig jeden Mittag auf die Ankunft des Millionärs, der kommen würde, um ihm die Finanzierung für die Errichtung der ersten Versuchsstation einer „phalanstère“ anzubieten. Er legte lange Strecken zurück, um eine Militärparade zu sehen, und der Klang von Militärmusik aus der Ferne versetzte ihn, den Feind von Krieg und Militarismus, in Begeisterung. In der Art von Kindern oder alten Leuten vergnügte er sich damit, kleine Stückchen aller Art zu symmetrischen Gebilden zusammenzufügen, die er erfinderisch immer wieder harmonisch umgruppierte.447 In der Eintönigkeit und Einsamkeit dieses Lebens, in einem scheinbar vergeudeten Dasein, in dem niemals etwas geschieht, fühlt sich Fourier als Messias, der, obwohl – nach seinen eigenen Worten – nur ein unwissender „sergeant de boutique“, dazu ausersehen ist, der Menschheit die größte Wahrheit in der Geschichte zu offenbaren und alle die Autoren von vierhunderttausend Bänden im Laufe von fünfundzwanzig Jahrhunderten in den Schatten zu stellen.448 Bei einem Tagesablauf voll neurotischer Gewohnheiten, die er mit geradezu zwanghafter Regelmäßigkeit befolgte, wob Fouriers Phantasie in fieberhafter Geschäftigkeit die schillernde Vision eines Utopiens, das überfloss von den Freuden eines moslemischen Paradieses und von der glänzenden, vollendeten Tüchtigkeit von Athleten, die in der frischen Luft bei den Klängen einer Musikkapelle miteinander wetteiferten. In dieser Vision wechseln ausführliche Beschreibungen von phantastischen Speisen ab mit Hymnen auf die Verzückungen freier und ungehemmter Liebe. Wir werden in die geheimen Kopulationen von Planeten eingeweiht. Wir dürfen einen flüchtigen Blick werfen 447 448

Vgl. Gide ( Hg.), Selections, S. 11–13; Bourgin, Fourier, S. 31–52 ( biographische Informationen ). Vgl. Fourier, Théorie des quatre mouvements, S. 150–152, Zitat : 152; Bourgin, Fourier, S. 195; Poisson, Fourier, S. 45.

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auf die „Anti - Löwen“ und „Anti - Krokodile“ der Zukunft, auf deren Rücken wir riesige Strecken in kürzester Zeit werden zurücklegen können, und auf die „Henne“, die in sechs Monaten genügend Eier legen würde, um die englische Staatsschuld zu bezahlen; und es wird uns Hoffnung gemacht, dass die Wasser des Ozeans sich eines Tages in köstliche Limonade ver wandeln werden.449 Diese Zauberbilder über der Dürre, in der seltsamsten nur vorstellbaren Weise aufgeteilt und wieder unterteilt, klassifiziert und subklassifiziert, wimmelnd von Nummern und Buchstaben aus verschiedenen Alphabeten, mit Einleitungen am Ende des Buches und Prolegomena und Cigomena in der Mitte – sind das Wahnsinnsäußerungen eines Geisteskranken, die freien Assoziationen eines Patienten auf der Couch des Psychoanalytikers ? Oder sind sie seine Dichtung und seine Art, Gedanken in das Gewand sinnlicher und malerischer Bilder zu kleiden, um nicht nur den Verstand zu befriedigen, sondern auch Phantasie und Leidenschaft aufzurühren; oder sind sie nichts als der satirische Stil eines Autors, der die Welt zum Besten hält ? Zwei Fragen lassen Fourier keine Ruhe : Gott hat Leidenschaften in uns gepflanzt, und diese werden vereitelt, von der Religion und der geltenden Moralauffassung als schlecht verschrien und mit Gesetzeszwang als verbrecherisch unterdrückt. Gleichzeitig wird, infolge einer absurden und bösartigen Gesellschaftsordnung, die Entfaltung des Menschen durch Armut und schwere Arbeit gehemmt. Er ist in Ketten. Fouriers Theorie will zwei Heilmittel verbinden : freie und volle Selbstentfaltung des Einzelnen und zielstrebige Bindung des sozialen Gefüges. Das eine scheint die Bedingung des anderen zu sein. In der Welt gescheitert, träumt Fourier von einer harmonischen Beziehung freien Gebens und Nehmens. In seiner Angst vor der Komplexität unübersichtlicher und unvorhersehbarer Umstände sehnt er sich nach einer vorgezeichneten Lebensbahn, die ihm Sicherheit und dabei auch das Gefühl der Freiheit und Ungezwungenheit geben würde.

2. Warum die Zivilisation fehlschlug Fourier scheint mit vollem Bewusstsein das Erlebnis des Rousseau’schen Diskurs über die Ungleichheit, jenes Evangeliums der Revolution, zu wiederholen. Er zitiert die berühmten aufwiegelnden Aussprüche des Propheten aus dem achtzehnten Jahrhundert : „Tout était bien, sortant des mains de l’auteur des choses; tout dégénéra entre les mains de l’homme. [...] Ce ne sont pas là des

449

Vgl. Gide ( Hg.), Selections, S. 14–17.

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hommes; il y a quelque bouleversement dont nous ne savons pas pénétrer la cause.“450 Alles ist in hoffnungsloser Weise fehlgeschlagen im Zeitalter der Zivilisation, oder, richtiger gesagt, die Zivilisation als solche ist ein einziges Gewebe von Übeln. Sein Entsetzen hat indessen nicht Verzweif lung und Resignation zur Folge, sondern – auch dies ähnlich wie bei Rousseau – eine Vision der Befreiung, die durch den Menschen herbeigeführt wird, nachdem er der Aufforderung zu seiner eigenen Größe Folge leistet und durch wohlüberlegte Bemühung jene ursprüngliche Harmonie wiederherstellt, die des Menschen Gut war, als er noch von seinen primitiven Instinkten geleitet wurde. „Le génie devait retrouver les voies de ce bonheur primitif et l’appliquer à la grande industrie.“451 Die Aufgabe lautet, in der höchst komplexen Situation einer industriellen Gesellschaft die harmonischen Beziehungen, die im primitiven Naturzustand herrschten, wieder zur Geltung zu bringen.452 Die bloße Tatsache des Vorhandenseins von Armen und Unglücklichen bricht in Fouriers Augen den Stab über die gesamte Zivilisation. Die Errungenschaften von Kunst und Wissenschaft können sie nicht einmal teilweise loskaufen. Im Gegenteil, der Kontrast ver urteilt sie nur umso mehr ( wieder Rousseau ). Die Bettler, die sich vor zweitausendfünfhundert Jahren an den Toren der Paläste von Athen drängten und die heute Paris heimsuchen, sind eine beredte Bestätigung der „Nichtigkeit eurer politischen Weisheit und des Urteils, das die Natur über eure sozialen Theorien gefällt hat“.453 Die Entwicklung wissenschaftlicher Techniken hat den „abîme des misères“ nur vertieft, indem sie die Werkzeuge der Ausbeutung ver vollkommnete und die Waffen der Täuschung und List verfeinerte. Die politischen Doktrinen der „Apostel der Irrlehren“ haben dazu gedient, die menschliche Bosheit dadurch noch tödlicher zu gestalten, dass sie sie unter einer noch dickeren Schicht von Heuchelei verbargen oder solche Blutbäder wie die Bartholomäusnacht und 1793 her vorriefen.454 „Les torrents de lumières philosophiques ne sont que des torrents de ténèbres.“455 Keine Gesellschaftsordnung kann den Anspruch auf Legitimi450 451 452

453 454 455

Bourgin, Extraits, S. 17, 19. Fourier, Unité universelle, Band 2, S. 184. Vgl. dazu Poisson, Fourier, S. 57 : „Aussi avez - vous de concert étouffé la voix de quelques hommes qui inclinaient à la sincérité, tels que Hobbes et J. - J. Rousseau qui entrevoyaient dans la civilisation un renversement des vues de la nature, un développement méthodique de tous les vices.“ Anderweitig wird Rousseau beschuldigt, ein „immobiliste“ zu sein, der die soziale Struktur erhalten möchte, siehe Armand / Maublanc, Fourier, Band 1, S. 212, Fußnote 3. Armand / Maublanc, Fourier, Band 2, S. 86 f. Poisson, Fourier, S. 56. Fourier, Théorie des quatre mouvements, S. 23; ders., Unité universelle, Band 3, S. 127; Poisson, Fourier, S. 31.

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tät erheben, wenn sie nicht dem Einzelnen ein gesichertes Dasein garantiert, „fortune sociale“, „médiocrité bourgeoise“, „opulence graduée qui mette à l’bri du besoin“, „Recht auf Arbeit“.456 Sollen wir hieraus schließen, dass Fourier dem wirtschaftlichen Faktor absoluten Vorrang einräumte ? Man gelangt zu einem solchen Schluss auf Grund seiner beharrlichen Betonung, dass „der Wohlstand für den Menschen ( l’homme social ) nach der Gesundheit die erste Quelle des Glückes ist [...] aisance graduée“.457 Doch würde man sich damit die Sache zu einfach machen. In seiner Suche nach den letzten Ursachen scheint Fourier über das Wirtschaftliche hinauszugehen; er fühlt undeutlich, dass der ökonomische Faktor allein jenes „renversement de l’ordre naturel [...] contradictoire avec les vues de Dieu“458 nicht erklärt. Fourier glaubt einer „bisher unbekannten Sozialwissenschaft“ auf der Spur zu sein, grundlegender als die Wirtschaftstheorie, die jene „disposition voulue par Dieu et inconnue de nos savants“459 offenbaren und alles wieder einrenken wird. Das Wirtschaftliche, das zwar die greifbarste Manifestation der Störung in der Zivilisation bildet, ist nicht seine letzte Ursache, sondern eher seine Folge. Der ursprüngliche Fehler der Menschheit war das fatale Missverständnis, das die Triebe und Leidenschaften, die Gott dem Menschen gab, als schlecht und sündig erklärte und Strafe und Unterdrückung forderte. Ein ganzes verzweigtes System von Religion und Moralität wurde um diesen Kern herum gebaut, um die menschliche Natur zu unterdrücken und den Menschen dazu zu bringen, sich als unrettbar schuldig zu verachten. Das Ergebnis war jene universale Heuchelei, die unser sittliches Gefühl zersetzt : alles in unserem äußeren Benehmen ist Vor wand und Schein, und doppelte Buchführung ist vielleicht der her vorstechendste Zug der Zivilisation. Die Dichotomie der Grundsätze stellt Widersprüche auf zwischen Vergnügen und Pflicht, zwischen theoretischer Moralität und der Schändlichkeit kaufmännischen Verhaltens, zwischen Sinnesgelüsten und ehelichen Verpflichtungen, zwischen dem persönlichen Ehrenkodex und dem Kriterium politischen Verhaltens, zwischen Theorie und Praxis.460 Asketische, unterdrückende Moral vereitelt ihre eigenen Ziele. Weit davon entfernt, den alten wilden Adam zu zähmen, ver wandelt sie den Menschen in ein Geschöpf voll unersättlicher Begierden. Denn sicherlich werden die Ener-

456 457 458 459 460

Fourier, Théorie des quatre mouvements, S. 24; ders., Unité universelle, Band 3, S. 127; Poisson, Fourier, S. 32. Poisson, Fourier, S. 32. Ebd., S. 20. Ebd., S. 19 f. Vgl. Gide ( Hg.), Selections, S. 55 f.; Armand / Maublanc, Fourier, Band 1, S. 231 ff.

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gien der Leidenschaften, denen kein angemessener Abfluss gewährt wird, in Kanäle der Per version geleitet. Der Mensch verfällt der Habgier. Wäre es ihm möglich gewesen, zu einer ausgeglichenen Befriedigung seiner Triebe zu gelangen, dann wäre es nicht zu Übertreibungen gekommen, und der Mensch wäre ein ausgeglichenes, bescheidenes, zufriedenes Geschöpf geworden. In seinen Wünschen gehemmt und vom Gefühl der Sünde und Morbidität gequält, wird der Mensch von einem unstillbaren Hunger nach Macht, Geltung und Besitz getrieben. Er nimmt eine aggressive und unsoziale Haltung gegenüber seinen Mitmenschen ein. Fehlende harmonische Zusammenarbeit und gegenseitig schädliche Rivalität verursachen unendliche Vergeudung von Naturschätzen und auch von menschlichen Kräften, und das Ergebnis ist Verkleinerung der Produktion und allgemeine Armut. Hand in Hand mit dieser Verkehrung von Absichten und Gesetzen der Natur geht der zweite kardinale Lehrsatz der Fourier’schen Doktrin, die Theorie von der attraktiven und der wider wärtigen Arbeit. Von den ältesten Tagen an bestand die Notwendigkeit zur Arbeit, und vor allem zu wider wärtiger, schmutziger und mühseliger Arbeit. Da niemals versucht wurde, die Arbeit angenehm und attraktiv zu gestalten, kam es dazu, dass sie als Fluch und Strafe, jedenfalls als Erniedrigung angesehen wurde. Die Pflicht wurde vom Trieb getrennt und in einen Gegensatz zu ihm gebracht. Und daher wurde die Menschheitsgeschichte, anstatt ein kollektives harmonisches Bemühen zu gleichmäßiger Verteilung der Last der unangenehmen Arbeiten darzustellen, zu einer Geschichte der Verschwörung eines kleinen Teils der Menschheit, der den Folgen des auf Adam lastenden Gottesfluches dadurch zu entgehen sucht, dass er sie auf die große Mehrheit der ungünstiger situierten abwälzt, die dazu verurteilt sind, unter einem verhassten Joch wie Lastvieh zu ächzen. Diese sozialökonomische Realität, die in gewissem Ausmaß das Resultat irregeleiteter psychologischer Begriffe war und teilweise deren Ursache – da sie ihrerseits dabei half, die Arbeitstiere in gehorsamer Unter werfung zu halten –, war das Hauptmotiv für alle Gesetze und Institutionen der Zivilisation. Sie bestimmte die Trennung zwischen den herrschenden Klassen der Müßiggänger, die in ständiger Angst vor den Heloten lebten und sie daher zu täuschen und für unzurechnungsfähig zu erklären suchten, und den arbeitenden Massen, die vor Neid und Ärger kochten oder bestenfalls in dumpfer Verzweif lung verharrten. Letzten Endes werde Arbeit entweder aus Angst vor dem Hunger oder aus Angst vor der Peitsche verrichtet, und nur Bajonette und das Gespenst des Galgens halten die Sklaven davon ab, das ganze Gesellschaftsgefüge mit einem Krach zum Einsturz zu bringen. Arbeit, unter solchen Bedingungen verrichtet und mit den Gefühlen, die diese zwangsläufig wecken, kann nicht sehr produktiv sein. Und daher wird der Kampf um die wenigen verfügbaren Güter noch intensiver und noch hässlicher.

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3. Kritik des Kapitalismus Aller Betrug unserer Zivilisation und alle Übel, die aus der Unterdrückung unserer natürlichen Triebe und der fortgesetzten Flucht vor wider wärtiger Arbeit entstehen, zeigen sich von ihrer schlimmsten Seite im Handel. Dem Kaufmann fehlen die Befriedigung und die Selbstsicherheit, die das Schwert, das Prestige alter Macht und der geheimnisvolle Zauber der Abstammung dem Aristokraten oder der Intellekt und ein geistiger Beruf dem Gelehrten verleihen. Er wird von einer rastlosen Leidenschaft verzehrt, und dabei hat er keine andere Waffe als niedrige List und glatten Betrug. Sein Verlangen nach immer mehr kann nie gestillt werden, da er ein Emporkömmling bis ins Mark hinein ist. Jeder Fourierbiograph zitiert die Geschichte von dem Hannibalhafer des Philosophen; wie er, dem zu Hause und in der Schule eingeschärft worden war, niemals zu lügen oder zu betrügen, ein Taugenichts geschimpft wurde, weil er in seiner ersten Anstellung als Verkäufer Kunden die Wahrheit gesagt hatte; und wie er dann dem Handel ewigen Hass schwor. Dann ist da die Geschichte von dem Apfel, einem Vorfall, der, nach Fouriers eigenen Worten, dem Apfel von Adam und Eva, dem Apfel von Helena und Paris und schließlich dem Apfel Newtons vergleichbar sei – reich an folgenschwersten Ergebnissen. Eines Tages bestellte er in einem Pariser Restaurant einen Apfel und wunderte sich über den Preisunterschied zwischen Paris und einem benachbarten Departement, und das deckte ihm blitzartig das grundlegende Übel unserer Zivilisation auf. Als die Kunst des billigen Einkaufens und teuren Verkaufens ist der Handel gleichbedeutend mit Wucher. Der Kaufmann, der den Produzenten und Konsumenten zugleich ausbeutet und nichts zum Produktionsprozess beiträgt, ist nichts weiter als ein schäbiger Parasit.461 Die Moralpredigt gegen die Habgier des Kaufmanns gewinnt dort an Interesse, wo sie zu einer Kritik des Kapitalismus wird. Es ist ein seltsames Paradox, meint Fourier, dass eine Zivilisation, die auf einer absurden und verderblichen Unterdrückung der Leidenschaften basiert, den Sieg des Erwerbsgeistes verherrlicht. Wie war es dazu gekommen ? Die liberalen Philosophen und Ökonomen des achtzehnten Jahrhunderts waren tief beeindruckt von der sieghaften Ausbreitung des Handels ihrer Tage, insbesondere in Holland. Schriftsteller wie Voltaire wollten die Geschäftsleute als Verbündete gegen Priester und Feudalherren gewinnen und schmeichelten ihnen auf jede Weise. Im innersten Herzen verachteten sie ihre Ungeschliffenheit und Habgier, doch konnten sie nicht anders als in ihnen den Beweis sehen für die Überlegenheit einer auf 461

Vgl. Gide ( Hg.), Selections, S. 17 f. ( Fußnote ); Armand / Maublanc, Fourier, Band 2, S. 14; Fourier, Manuscrits, Band 1 : Année 1851, S. 17, 23.

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individuellem Bemühen und Vertrag aufgebauten Gesellschaft über eine Ordnung, die auf Rang und Privileg begründet war. Das Geld erschien somit als ein Werkzeug der Befreiung von der toten Hand der Klassenherrschaft und gesellschaftlichen Starre. In ihrer Polemik gegen die klerikal - feudalen und merkantilistischen Vertreter der alten Ordnung leugneten die Schriftsteller des achtzehnten Jahrhunderts nicht nur, dass aus wirtschaftlicher Freiheit ein Krieg aller gegen alle folgen würde, sondern erklärten triumphierend, die Abschaffung des absolutistischen Paternalismus und der überkommenen Klassenteilung würde eine spontane Arbeitsteilung und volle Interessenidentität zum Ergebnis haben.462 Die seit Beginn der industriellen Revolution durch den weitgehenden kommerziellen und industriellen Wandel in Bewegung gesetzten Entwicklungstendenzen widerlegten diese Prognose, die jedenfalls mehr ein polemisches Argument gegen überlebte Formen war als eine Analyse künftiger Dinge. Nicht voller Harmonie ist die Welt, sondern voll von Widersprüchen als Folge der unersättlichen Habgier und unerbittlichen Konkurrenz, und die Vergeudung ungeheurer Schätze und Kräfte ist eine Begleiterscheinung. Preise, Qualität und Verteilung sind weit davon entfernt, durch die Gesetze von Angebot und Nachfrage automatisch geregelt zu werden : sie werden von den Geschäftsleuten vorgeschrieben oder richtiger manipuliert. Diese ziehen die Bedürfnisse und Schwierigkeiten der Gesellschaft nicht in Betracht, sie lagern Waren ein und vernichten sie, um künstliche Knappheit zu schaffen und auf diese Weise die Preise steigern zu können; sie führen künstlich Überfluss herbei, damit sie ihre den Produzenten bezahlten Kosten und die Arbeitslöhne senken können. Sie nutzen die allgemeine Gier nach leichtverdientem Geld durch von ihnen angeregte Spekulation aus und nehmen Anleihen auf von habgierigen Einfaltspinseln, die sie durch Bankrotterklärung betrügen.463 Die liberale kapitalistische Ideologie behauptete stolz, sie sei imstande, Klassen und Korporationen zu zerbrechen, jeden Einzelnen von den Fesseln seines a priori festgelegten Ranges zu befreien und ihm ein Feld unbegrenzter Möglichkeiten zu eröffnen. Dieses Schlagwort wird Lügen gestraft durch die Massen neuer industrieller Leibeigener, die ihr Elend, ihre fürchterlichen Behausungen vom Vater auf den Sohn vererben ohne jede Hoffnung, aus dieser neuen Knechtschaft auszubrechen. So hat der liberale Kapitalismus nicht

462

463

Vgl. Fourier, Traité, Band 1, S. 166–177; ders., Unité universelle, Band 3, S. 216–231; Poisson, Fourier, S. 49–52; Armand/Maublanc, Fourier, Band 2, S. 9–37. Siehe auch Fourier, Manuscrits, Band 1 : Année 1851, S. 9–15, 78 ff., 137. Vgl. Fourier, Théorie des quatre mouvements, S. 357–367.

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nur den Feudalismus nicht abgeschafft, sondern er richtet ihn in Wahrheit wieder auf, wenn auch in anderer und minder wertigerer Form. Der alte Leibeigene hatte wenigstens Sicherheit; der moderne Industriearbeiter, der aus der Fabrik auf die Straße geworfen wird, hat keine Sicherheit. Da ihm keine andere Ausbildung zuteil wurde als die Unter weisung in der geistlosen, körper - und seelentötenden monotonen Verrichtung an der Maschine, ist er nicht in der Lage, irgendetwas anderes zu versuchen. Je mehr die Technik fortschreitet, desto unwesentlicher wird seine Rolle und desto kleiner die Zahl der erforderlichen Arbeiter. Sprecht nicht von Vertragsfreiheit, denn die Fortdauer der Rangordnung ist hier auf das Entschiedenste von neuem bekräftigt worden. Was nun die Behauptung angeht, das Laissez - faire räume mit dem feudalen Monopol auf, so werde ganz im Gegenteil mit fortschreitender Entwicklung der Laissez - faire - Wirtschaft der Fortschritt der kapitalistischen Konzentration und als Folge davon der Monopole immer offenkundiger und geschwinder. In dem Kampf auf Leben und Tod unter den Kapitalisten zermalmen die Leviathane nach und nach die kleineren Unternehmungen, oder sie verschlingen sie. Die größten Firmen gehen Verbindungen miteinander ein, um den Markt zu beherrschen und dem Publikum Preise vorzuschreiben. Monopolisten erringen die ausschließliche Herrschaft.464 Das kapitalistische System, das den Anspruch erhebt, gänzlich zweckbestimmt zu sein, fördert verderbliches Parasitentum und wird seinerseits in hohem Grade von diesem unterhalten. Es gibt Scharen von Mittelsmännern, Agenten, Rechtsanwälten, unnützen Angestellten, die auf Kosten anderer essen, ohne irgendetwas Nützliches zu produzieren. Ihre ganze Daseinsberechtigung besteht darin, ihre Urheber und Brotgeber zu größeren und geschickteren Raub - und Betrugsaktionen anzustiften und deren Opfer zum Narren zu halten. Die Staatsmaschine, Gendarmerie und Armee, Steuereinnehmer und Magistrate, Beamte des Zolls und der Zivilver waltung, die angeblich dazu da sind, die Gesellschaft vor kommerziellem Piratentum und Missbrauch zu „beschützen“, sind in Wahrheit Komplizen und Werkzeuge der betrügerischen Verschwörung.465 Der Erwerbsgeist, für den wirtschaftliche Betätigung ein Krieg auf Leben und Tod ist, in dem der Sieg alles bedeutet, zersetzt und verfälscht alle Werte. Schlaue Praktiken, Betrug, Skrupellosigkeit werden als Geschäftstüchtigkeit gepriesen, niedrige List als Voraussicht, und die Tugenden der Bescheidenheit und Wahrhaftigkeit erscheinen als jämmerliches Fehlen von Initiative und 464 465

Vgl. Fourier, Théorie des quatre mouvements, S. 395–399; ders., Manuscrits, Band 1: Année 1851, S. 267 ff.; Armand/Maublanc, Fourier, Band 2, S. 30 f. Vgl. Fourier, Théorie des quatre mouvements, S. 373–379; ders., Manuscrits, Band 1: Année 1851, S. 267 ff.

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Tüchtigkeit. Die menschlichen Beziehungen werden durch Geld mehr als durch alles andere bedingt. Nichts ist in dieser Hinsicht aufschlussreicher als die äußerste Profanierung jener intimsten Beziehungen, Liebe und Ehe, und die Degradierung der Frau in unserer modernen Gesellschaft. Täuschung, Ehebruch, Prostitution, jämmerliches Unglück sind die Begleiterscheinungen jener Handelstransaktionen, für gewöhnlich Heirat genannt, in denen das eheliche Band alles andere ist als wirkliche Liebe. Im Lichte der kapitalistischen Entwicklung entpuppt sich das liberale Versprechen eines auf Volkssouveränität und freier öffentlicher Debatte basierenden politischen Systems als ein vollständig leeres und lächerliches Schlagwort. Die Drahtzieher der Macht sind Kapitalisten und Finanziers. Sie bilden eine Art jakobinischer Verschwörung, eine Schattenregierung hinter den Kulissen.466 An einer Stelle meint Fourier, die Laissez - faire - Politik sei in Wirklichkeit eine Frucht der Verzweif lung. Vor die Widersprüche gestellt, die sich aus der Armut neben großem Überfluss und hoher technischer Entwicklung ergaben, versuchten einige Regierungen – wie die Revolutionsregierung in Frankreich – etwas Ordnung in das wilde Durcheinander zu bringen. Die Antwort der Geschäftsleute war Zurückziehung ihrer Waren vom Markt und Versand von Gold aus dem Land. Die Regierungen erschraken über die Stillegung der Wirtschaft. Sie waren zu schwach und zu unerfahren, um sie zu bekämpfen. Und so ergaben sie sich ins Laissez - faire, in der Hoffnung, dass das wenigstens die Wirtschaft in Gang halten würde. Sie wurden zu Kreaturen des Kapitalismus, erließen Gesetze und Verordnungen, um seine Zwecke zu fördern, führten Kriege, um Kolonialmärkte oder die Versorgung mit Negersklaven zu sichern.467 Und so wurde der Staat zum Exekutiv - Ausschuss der führenden Ausbeuter und zu ihrem Beschützer vor dem Zorn der ausgebeuteten Massen, „armer une petite masse d’esclaves pauvres, nommés soldats, les terrifier à force de rigueurs, en former des sicaires aveugles employés à contenir la masse des pauvres désarmés“.468 Mit Bezug auf individuelle Freiheit und verfassungsmäßige Garantien durch das liberale System – „Freiheit ist illusorisch, wenn sie nicht allgemein ist. Dort, wo die Zügel der Leidenschaften nur für eine winzige Minorität gelockert werden, gibt es nichts als Unterdrückung [...]. Eine Gleichheit, bei der das der Bezeichnung ‚Souverän‘ gewürdigte Volk keine Arbeit und kein Brot hat, sein Leben für fünf Sous pro Tag verkauft, mit Ketten am Hals zum Schlachthaus geschleppt wird“.469 466 467 468 469

Vgl. Poisson, Fourier, S. 51–53. Vgl. Fourier, Nouveau Monde, Band 6, S. 419. Bourgin, Fourier, S. 208. Armand / Maublanc, Fourier, Band 2, S. 78 f.

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Der Liberalismus behauptet, die natürlichen Rechte durch das Instrument des Gesellschaftsvertrages zu sichern. Das grundlegende und heiligste Menschenrecht, von der Natur aufgestellt und von Jesus geheiligt, ist das Recht des Hungrigen, das, was er zum Stillen seines Hungers braucht, zu nehmen, wo er es finden kann. Im Naturzustand bedeutete dies das Recht zu jagen, zu fischen, zu ernten und zu weiden. Da diese Rechte dem Menschen von der Gesellschaft genommen wurden, ist diese sicherlich verpflichtet, dem Menschen als Entgelt ein „minimum d’entretien“ zu gewähren.470 Solange diese Verpflichtung der Gesellschaft nicht anerkannt und erfüllt wird, „gibt es keinen im gegenseitigen Einverständnis geschlossenen Gesellschaftsvertrag“.471 „Il n’y a qu’une ligue d’oppression, ligue de minorité qui possède, contre la majorité qui manque de nécessaire et qui par cette raison tend à reprendre le cinquième droit, former des clubs ou ligues intérieurs pour dépouiller les possesseurs.“472 In Babeuf’schen Ausdrücken wird das ( von der Gesellschaft gesicherte ) Recht zu leben als die Grundbedingung des Gesellschaftsvertrages hingestellt. Die Versäumnis des Staates, es zu schützen, rechtfertigt Revolution. Victor Considérant, der führende Schüler Fouriers und literarisch erheblich begabtere Exponent des Fourierismus arbeitet diesen Punkt sehr ausführlich heraus. „Macht Revolutionen, erlasst Dekrete, promulgiert Verfassungen, proklamiert jede Zahl und jede Art von Republiken, ernennt, wen ihr wollt, zum Präsidenten oder Konsul, und ihr habt nichts für die wirkliche Freiheit der Massen getan, solange nicht die Gesellschaft jedem Mann, jeder Frau und jedem Kind ein Existenzminimum garantiert hat [...]; an Kleidung, Unterkunft und Nahrung und all den anderen Dingen, die notwendig sind, um ihr Leben, ihre soziale Unabhängigkeit und ihre Persönlichkeit zu erhalten“ oder „das Recht zu arbeiten, dieses erste soziale Recht des Menschen, dasjenige, das alle anderen schützt und in sich birgt“.473 „Denn diejenigen Einzelpersonen und Klassen, die nichts besitzen, die kein Kapital haben, keine Werkzeuge, von denen sie existieren können, sind notwendiger weise – gleichgültig, in was für einem politischen System sie leben – [...] in einen Zustand der Abhängigkeit und des Helotentums versetzt, der manchmal als Sklaverei, manchmal als Leibeigenschaft, zu anderen Zeiten als Proletariat bezeichnet wird.“474 Der Begriff Liberalismus hat keinen Sinn, sagt Fourier, wenn er nicht zugleich eine großzügige, liberale Bereitschaft bedeutet, alles zu tun, um die Lage der Massen zu erleichtern und ihre Wünsche zu erfüllen. Und was wünschen die Massen ? Die volle Ausübung ihrer ( zwölf ) Leidenschaften, ihrer (sie470 471 472 473 474

Vgl. Fourier, Fausse Industrie, Band 2, S. 490 f.; Gide ( Hg.), Selections, S. 190. Ebd. Ebd. Vgl. auch Armand/Maublanc, Fourier, Band 2, S. 80 f. Considérant, Exposition, VIIème these, S. 90 f., 93. Ebd., S. 90.

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ben ) natürlichen Rechte und den Genuss eines Minimums an Sicherheit.475 So großzügig und freiheitsliebend seine ursprünglichen Impulse gewesen sein mögen : Ein Liberalismus, der auf halbem Weg haltmacht, sich zufrieden gibt mit leeren Abstraktionen, pompösen Schlagworten und formalen Freiheiten, gibt sich selbst auf. Wenn die extremeren Elemente weitergehen und versuchen wollen, die natürlichen Schlussfolgerungen aus der liberalen Doktrin der Menschenrechte zu ziehen und eine soziale Revolution durchzuführen, greifen die Liberalen voller Panik zu Unterdrückungsmaßnahmen, um „Demagogen und Anarchie“ niederzuwerfen. Sie errichten eine „Oligarchie inquisitoriale“ oder werfen sich einer Militärdespotie in die Arme.476 „Sur cet échafaudage de duplicité et de cercle vicieux qu’est fondée la science de nos régénérateurs.“477 Ein Liberalismus, der aller sozialen Inhalte entleert ist und seine eigenen liberalen Grundsätze bricht – was ist er anders als eine Intrige zur Ergreifung der Macht um ihrer selbst willen ? Die strukturellen Widersprüche der industriellen Gesellschaft seien infolge der durch das Misslingen der Französischen Revolution her vorgerufenen Enttäuschung in ein besonders akutes Stadium getreten, und Europa habe im zweiten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts den Augenblick der höchsten Krise, die Stunde der Apokalypse erreicht. „Wir leben in einer Zeit“ – sagt Considérant – „in der Kriege, politische Unruhen, unsinnige und grausame Reaktionen von Parteien, das Elend und die schrecklichen Leiden, die bis jetzt das Los der Menschheit zu allen Zeiten ihrer Entwicklung gewesen sind, in eine sehr knappe Zeitspanne und mit beängstigender Intensität zusammengedrängt worden sind. Auch das Gefühl für soziales Unrecht ist heute stärker entwickelt denn je : Schmerz wird schärfer empfunden, das Böse spricht lauter, und überall herrscht Verständnis für die dringende Notwendigkeit einer Reform.“478 Jeder Fortschritt in der industriellen Technik verschärft den Antagonismus zwischen den Klassen, und die schnelle Bevölkerungszunahme schafft größere Verarmung. Nicht zufrieden damit, die Masse des Volkes in einen Tantalus ver wandelt zu haben, der Hunger leidet mitten im Überfluss, streckt die Arroganz des monopolistischen Kapitalismus ihre Fühler nach allen Enden der Erde aus. „Die Gier nach Kolonien hat einen neuen Vulkan geboren. Die unerbittliche Wut der Neger wird Amerika bald in einen riesigen Friedhof ver wandeln und an den Eroberern das Märtyrertum der von diesen ausgerotteten eingeborenen Rassen rächen.“479 475 476 477 478 479

Vgl. Fourier, Unité universelle, Band 3, S. 169, 187, 316, 386. Vgl. ebd., S. 386–392, bes. S. 392. Ebd., S. 392. Considérant, Destinée sociale, Band 1, S. 2. Fourier, Traité, Band 1, S. LVIII f.

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Die Zivilisation hat sich voll entfaltet und somit das Stadium der Selbstzerstörung erreicht; sie wird „immer abscheulicher mit dem Herannahen ihres Endes“.480 Dieses Zwielicht kündigt ein bevorstehendes Morgengrauen an. „Die Gegenwart birgt die Zukunft in sich, und das übermäßige Leiden muss die Krise der Heilung bringen. Fortdauer und Ungeheuerlichkeit der politischen Umwälzungen scheinen ein Zeichen dafür zu sein, dass die Natur sich bemüht, das Gewicht abzuschütteln, das sie bedrückt [...]. Diese universale Rastlosigkeit scheint irgendein großes Ereignis anzukündigen, das unser Schicksal verändern wird.“481 Wie ein Kranker, der sich danach sehnt, durch ein Wunder geheilt zu werden, klammert sich die Menschheit fieberhaft an jede neue religiöse oder politische Phantasie, die Erleichterung verspricht. „La nature souffle à l’oreille du genre humain qu’il est réservé à un bonheur dont il ignore les routes, et qu’une découverte merveilleuse viendra tout à coup dissiper les ténèbres de la civilisation.“482

4. Die Elemente der Harmonie Wenn die Zivilisation eine Umkehrung der wirklichen Ordnung, die Antithese von Gottes Plan, die Negation von etwas Positivem ist, dann müsse es irgendeine natürliche Ordnung geben, einen Zustand der Gesundheit, der zu ihr im Gegensatz steht wie Weiß zu Schwarz, Wahrheit zu Falschheit, Bejahung zu Verneinung. Oder wir müssen Gott leugnen. Es sei undenkbar, Gott könnte so böse gewesen sein, dass er die Menschheit dem Untergang geweiht, oder so machtlos, dass er den Völkern erlaubt hätte, sich fortwährend selbst zu zerstören, oder so nachlässig, dass er die Gesellschaft von den Gesetzen der Vorsehung ausgenommen hätte. Er hätte lieber die Welt überhaupt nicht geschaffen, als den Menschen auf ewig zur Beute zu machen in dem ständigen degradierenden Konflikt zwischen Leidenschaft und Vernunft, Interesse und Pflicht, und die Gesellschaft dem unaufhörlichen Krieg aller gegen alle zu überlassen.483 Da die Zivilisation ein einziges Gewebe von miteinander verflochtenen Widersprüchen, Inkongruenzen und Ver wicklungen ist – „un développement

480 481 482 483

Fourier, Traité, Band 1, S. LIX. Fourier, Traité, Band 1, S. LVIII; ders., Unité universelle, Band 2, S. 69; Armand/ Maublanc, Fourier, Band 2, S. 124–126. Fourier, Unité universelle, Band 3, S. 127. Vgl. Fourier, Traité, Band 1, S. 85 ff.; ders., Unité universelle, Band 3, S. 111 ff., 251 ff.; ders., Nouveau Monde, Band 6, S. 445 ff.; Armand / Maublanc, Fourier, Band 1, S. 215–221.

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méthodique de tous les vices“484 –, würde keine Bemühung zu teilweiser Verbesserung und allmählicher Reform eine wirklich heilende Wirkung haben. Alle Übel rühren von einem grundlegenden Fehler her, und daher muss die Wurzel allen Übels angegriffen werden; eine „totale Revolution ist notwendig“.485 Alle bestehenden Philosophien, Gesetze und Systeme behandeln nur Bruchteile des Daseins und widersprechen sich gegenseitig, anstatt sich aus irgendeinem einheitlichen Prinzip abzuleiten, das die Totalität des Daseins umfasst. Nun erkläre – im Geiste des Saint - Simonismus – das Fehlen einer festen Grundlage, warum alle Ideologien sich als so kurzlebig erwiesen und solche Ungelegenheiten und Nöte über die Menschheit gebracht haben. Sie konzentrierten sich ausschließlich auf administrative, rein politische und Regierungsfragen und ließen den Kern des sozialen Problems unberührt. Bruchstückweise empirische Reformen dienten nur dazu, „à enraciner les abus [...]. C’est un piège, un narcotique tendant à assoupir le génie.“486 Fourier bediente sich der Methode des „doute absolu“, „écart successif“, des Anzweifelns aller Errungenschaften und Wahrheiten der Zivilisation, ihrer Vortreff lichkeit und Dauerhaftigkeit; des Über - Bord - Werfens aller Grundsätze unsicherer und auf Vermutung gegründeter Wissenschaften und Theorien. Die Gültigkeit der neuen Methode würde durch die Formulierung eines einzigen Prinzips erwiesen werden, das die Einheit des Weltalls in sämtlichen Stadien und Aspekten umfassen würde. Der Faden dürfe niemals abreißen.487 Wenn alle Teile der Schöpfung in einer einzigen universalen Einheit und Harmonie zusammenhängen, dann müsse es eine ähnliche Kohäsion in jedem der einzelnen Teile und Aspekte des Weltalls geben. Die Gesellschaft müsse daher der kosmischen allumfassenden Einheit angegliedert sein. Sie könne nicht ein unabhängiges Glied mit eigenen Gesetzen sein. Sie könne nicht die Einheit des Weltalls brechen.488 Diese beiden Prinzipien – der universalen Einheit und der universalen Analogie – müssen die Basis für jede Gesamtschau von der Welt sein. Die Entdeckung dieses einen und souveränen Gesetzes, das ungleichartige Phänomene zu einem harmonisch funktionierenden Ganzen verbindet, würde die 484 485 486 487 488

Fourier, Théorie des quatre mouvements, S. 421. vgl. auch Bourgin, Fourier, S. 67. Fourier, Manuscrits, Band 1: Année 1851, S. 221; Bourgin, Fourier, S. 237; Fourier, Fausse Industrie, Band 1, S. 70. Vgl. Fourier, Théorie des quatre mouvements, S. 5–7; Bourgin, Fourier, S. 196–199. A. d. Hg. : Fourier spricht auch von „écart absolu“. Vgl. Fourier, Unité universelle, Band 1, S. 37 ff., 72; Band 2, S. 304–326; ders., Fausse Industrie, Band 1, S. 160 ff.; ders., Nouveau Monde, Band 6, S. 65; ders., Fourier, Fausse Industrie, Band 1, S. 160 ff.

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Einsetzung bedeuten der „science absolue, la solution du problème du monde, le mot de la grande énigme jusqu’ici incomplètement résolue des destinées générales“.489 Soweit die menschliche Gesellschaft in Betracht kommt, müsse das universale Prinzip sich in ihrer Geschichte kundtun. Es sind stark saint - simonistische Akzente erkennbar in Considérants Hymne auf die Solidarität aller aufeinander folgenden und hierarchisch angeordneten Einzelexistenzen, die „la vie universelle, l’Être - vivant - absolu“ darstellen und von ein und demselben Gesetz bestimmt werden. Er preist das Einheitsprinzip, das „alle Teile der Bewegung, alle Lebensenergien“ leitet; „das sich fortwährend reproduziert von der Basis bis zur Spitze der échelle infiniment variée des êtres !“490 Ebenso saint - simonistisch ist die Verherrlichung jener großen Männer des Gedankens und der Tat, deren höchst lebendiger Sinn universaler Einheit als Träger großer Entdeckungen und welterschütternder Wandlungen diente : Pythagoras, Platon, Aristoteles, Kopernikus, Kepler, Leibniz, Newton, Alexander, Cäsar, Napoleon usw.491 Da der Mensch und die Gesellschaft innerhalb der kosmischen Bestimmung leben, berge das Universalschicksal notwendiger weise den Beschluss der sozialen Geschicke, die ja von ihm bestimmt sind, in sich. Das Ziel ( und die Leistung ) Fouriers war, laut Considérant, jene kosmische und gleichzeitig „soziale Wahrheit“ zu entdecken, die wie die Wahrheit der Geometrie und Physik unabhängig von Personen und Orten und überall gültig ist, wo es Menschen gibt, nicht wie „die Wahrheiten der Politik“, die sich zwischen Paris und Wien und zwischen Wien und Konstantinopel wandeln. Es gibt ein Menschheitsschicksal und keine Schicksale besonderer Rassen und Völker. Dieses Schicksal kann daher nur dann erfüllt werden, wenn die Menschheit als Ganzes die Bedeutung ihrer Aufgabe und die verschiedenen Phasen, die sie im Laufe ihres Erdendaseins durchmessen musste, voll begreift, um reif zu werden für den Übergang zur wahren und letzten Phase ihrer Geschichte, in der die universale Harmonie die Kräfte aller Menschen in allen Ländern verbindet.492 „Dieser plötzliche Übergang von sozialem Chaos zu universaler Harmonie“ wird „wichtiger ( sein ) als alle wissenschaftlichen Arbeiten, die seit dem Bestehen der Menschengattung vollbracht wurden [...]. Alle politischen, moralischen und wirtschaftlichen Theorien sollten ins Feuer geworfen werden in Vorberei-

489 490 491 492

Considérant, Exposition, S. 63. Vgl. ebd., S. 62 f. Vgl. ebd., S. 62. Vgl. ebd., S. 64; ders., Destinée sociale, Band 1, S. 21.

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tung auf dieses erstaunlichste und freudigste Ereignis auf dieser und allen anderen Welten.“493 Und dies ist das Hosianna an die Nationen, gesungen von dem ungebildeten und obskuren „sergeant de boutique“, dem Gott die „boussole sociale“ gewährt und das große Geheimnis offenbart hatte, das in einem Augenblick alles Unglück der Menschheit zu einem Ende bringen werde.494 „Atmet frei und vergesst das alte Unglück, gebt euch der Freude hin [...]. Ich allein werde zwanzig Jahrhunderte politischer Dummheit ungeschehen gemacht haben, und mir allein werden die gegenwärtige und die zukünftigen Generationen die Initiative zu ihrem grenzenlosen Glück verdanken. Vor mir verlor die Menschheit mehrere tausend Jahre in einem unsinnigen Kampf gegen die Natur. Ich bin der Erste, [...] dem sie gnädig lächelt [...]. Sie hat mir ihre gesamten Schätze ausgeliefert. [...] Ich bin gekommen, um die politische und moralische Finsternis zu vertreiben, und auf den Ruinen unsicherer Wissenschaften errichte ich die Theorie der universalen Harmonie.“495 Der Impuls, der in jeder der vier Sphären der Schöpfung – der stoff lichen, organischen, tierischen und sozialen – analog wirke, sei die Anziehungskraft. Unter den Planeten sei es die Gravitation. In der organischen Welt sei es die Art und Weise, in der Elemente der Materie sich verbinden und miteinander verschmelzen. Bei Tieren und Menschen sei es die Kraft von Instinkten und Leidenschaften. Gravitation und organische Prozesse vollziehen sich nach mathematischen Gesetzen, die messbar sind. Es möge genügen, an dieser Stelle zu erwähnen, dass auch die Leidenschaften und ihre Wechselwirkungen sowohl in der Brust des Einzelnen als auch in der Gesellschaft ihre Arithmetik haben, wenn nicht gar ihre Chemie und Physik.496 Das Gesetz der Anziehung bedeute, dass das Ding oder das Wesen von einem Impuls getrieben wird, irgendeine Handlung zu begehen oder irgendeinen anderen Gegenstand oder ein anderes Wesen zu beeinflussen oder sich mit ihm zu vereinen. Leidenschaftliche Anziehung – „die von Gott benutzte Kraft, um das Weltall und den Menschen zu bewegen“497 – bedeute zugleich Spontaneität, da sie, nach Considérant, ein von der Natur gegebener Impuls ist, der vor der Überlegung kommt und trotz des Einspruchs von Vernunft, Pflicht und Vor urteil 493 494 495 496

497

Fourier, Théorie des quatre mouvements, S. XXXVI; Bourgin, Fourier, S. 195, Fußnote 5. Vgl. Fourier, Théorie des quatre mouvements, S. 151 f. Ebd., S. 150 f., 285. Vgl. Fourier, Théorie des quatre mouvements, S. 18 f. Zum Begriff „Anziehung“ siehe Silberling, Dictionnaire de sociologie phalanstérienne, S. 43–48; zum Begriff „Leidenschaft“ siehe ebd., S. 308–316. Fourier, Nouveau Monde, Band 6, S. 26.

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bestehen bleibt.498 Wenn er sich ohne Behinderung erfülle, gewähre er Lust. Es könne daher als erwiesen gelten, dass wir dort, wo Lust ist, die Absichten der Natur ausführen, während das Vorhandensein von Unlust eine Vergewaltigung der Natur und einen Eingriff in ihr Walten bedeute. Wenn wir der Natur gehorchen, steigern wir unsere Energien, erfüllen uns selbst, erreichen wirkliche Freiheit und werden wahrhaft wirksam. Stößt das nicht alle bestehenden Moralbegriffe über den ewigen Kampf zwischen Vernunft und Leidenschaft, Pflicht und Freiheit um ? Fouriers Antwort ist, Lust komme von Gott, Pflichten vom Menschen. Die Dichotomie gehöre nicht zu Gottes Absichten; sie sei vom Menschen gemacht. Die Natur habe beabsichtigt, dass die Menschen ihre Aufgaben und Pflichten erfüllen, indem sie ihren Impulsen folgen, zum Beispiel dem Lusttrieb, wie etwa eine Mutter, die ihren Säugling stillt. Die Anziehungskraft sollte in der Hand Gottes jener Zauberring sein, der den Menschen veranlasst, um der Liebe und der Lust willen das zu tun, wozu die zivilisierte Gesellschaft ihn nur durch Androhung von Zwang bringt.499 Obskurantistische Theologen und morbide Moralisten untergruben die Absichten der Natur durch einen unerbittlichen Feldzug gegen die natürlichen Impulse des Menschen als böse, lasterhafte Kräfte. Edle Kräfte, die ursprünglich in voller Übereinstimmung und Harmonie wirken sollten, degenerierten unter dem Einfluss von Tadel und Unterdrückung zu Furien, die in unnachgiebigem Kampf miteinander liegen. Eine asketische Moral wollte den Menschen lehren, die Vernunft über den Instinkt zu setzen und die Leidenschaft seinem Pflichtgefühl unterzuordnen. Das Ergebnis war unendliche, gewaltige Heuchelei. Weit davon entfernt, als Kontrolle der Leidenschaften zu dienen, wurde die Vernunft zu ihrem verschämten Handlanger. Die Ethik der leidenschaftlichen Selbstentfaltung werde mit dieser Heuchelei aufräumen und ausgeglichene und gesunde Selbsterfüllung sichern. Anstatt ein falscher und scheinheiliger Handlanger der Leidenschaft zu sein, werde die Vernunft in Zukunft die Lust offen und freudig in Rechnung stellen. Sie werde „l’impulsion indirecte ou adhésion réfléchie, qu’on nomme raison positive, convenance de plaisir calculé“.500 Fourier und Considérant nehmen für sich in Anspruch, Empiriker par excellence zu sein. Sie seien nicht darauf aus, den Menschen und seine Natur zu ändern – eine phantastische Absicht verdrießlicher Priester und kläglicher 498

499

500

Vgl. Fourier, Nouveau monde, Band 6, S. 47 : „L’attraction passionnée est l’impulsion donnée par la nature antérieurement à la réflexion, et persistante, malgré l’opposition de la raison, du devoir, du préjugé.“ Vgl. Fourier, Traité, Band 1, S. 188 ff.; ders. Unité universelle, Band 3, S. 246 ff.; ders., Unité universelle, Band 2, Vorwort ( befindet sich am Ende des Buches ), S. 27; Armand / Maublanc, Fourier, Band 1, S. 232–244. Fourier, Unité universelle, Band 2, S. XLI.

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Moralisten –, sondern ihn zu nehmen, wie er ist, wie die Natur ihn geschaffen hat, mit allen Leidenschaften, mit Ehrgeiz, Sinnlichkeit, Besitzliebe, Neigung zur Intrige, Hang zur Rivalität; oder richtiger : wiederzuentdecken, was er von Natur ist, im Gegensatz zu dem, was die Zivilisation aus ihm gemacht hat.501 Es sei undenkbar, dass Gott dem Menschen diese Impulse eingepflanzt und sie einfach freigelassen hätte, um Krieg zu führen, ohne für ihre gegenseitige Anpassung und zweckmäßige Integrierung zu sorgen. Es müsse daher eine „forme sociale préconcue“ geben, die so beschaffen ist, dass sie allen Wünschen, Neigungen, Geschmacksrichtungen und Interessen, allen Talenten und Fähigkeiten die Mittel zu voller Selbstentfaltung bietet; und gleichzeitig so ersonnen, dass sie sie alle zu einer „harmonie de l’ensemble“ verschmelzen lässt wie die Weisen und Akkorde von tausend Instrumenten, die in einem riesigen Orchester zusammenklingen und sich vermischen.502 Es sei eine Aufforderung an die Menschheit – „la destinée sociale préétablie“503 –, ihre eigenen Fehler, die eine Welt so im Widerspruch zu Gottes Willen schufen, wieder abzulegen und jene Form der sozialen Organisation zustande zu bringen, in der durch Aktivierung aller natürlichen Werte, die sich in allen Menschen finden, und durch ihre Koordinierung zu einem harmonischen Ganzen die Vollkommenheit und das Glück des Einzelnen und der Gattung gleichzeitig herbeigeführt wird – „condition du règne de l’harmonie et du triomphe du bien sur la terre“.504 Wie bei Owen wird alles auf die Aufgabe der Umweltveränderung zurückgeführt, da das Böse nicht in der Natur des Menschen liege, sondern den Fehlern des sozialen Systems zuzuschreiben sei, das die Kräfte im Menschen verstümmele und aufreize und sie gegeneinander bewaffne, anstatt sie in nutzbringendem Einsatz zu vereinen. Aber auch hier sei es nicht die Aufgabe, irgendein völlig neues System zu erfinden, sondern eine Anregung aus der „harmonie mathématique ou rationelle, l’harmonie planétaire ou sociale, l’harmonie musicale ou parlante“505 aufzugreifen. Den Schlüssel bietet die Theorie der Serien, die die Theorie der Anziehung ver vollständigt. Die Natur habe nicht einfach Impulse geschaffen und die Geschöpfe damit nach Art und Menge verschieden begabt; sie habe für Serien gesorgt, oder genauer gesagt : die Schöpfung zu Ganzheiten geformt, die die unterschiedlichen und sogar oft widerspruchsvollen Lebenskräfte in Harmonie vereinen. Wenn der Mensch soziale Einheit – „unité sociale“ – erreichen wolle, dann müsse er nach Wegen zum „régime sériaire“ suchen, dem Gott die ganze Natur 501 502 503 504 505

Vgl. Bourgin, Fourier, S. 277–282. Vgl. Considérant, Exposition, S. 68 f., 71 f. Ebd., S. 68. Ebd., S. 69. Fourier, Traité, Band 1, S. 138.

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unterstellt habe. Wo die Leidenschaften nicht im Einklang mit dem System der Serien betätigt werden, gebe es Übel und Unglück. Wie jede Naturkraft seien die Leidenschaften dem Gesetz der Ambivalenz unter worfen. Sie können nützlich sein, aber sie können auch zerstörerisch werden; Schiffe werden von Winden sanft getragen, doch von Stürmen werden sie versenkt. Die Individualität des Menschen könne ein herrliches Element der Harmonie sein, aber auch eine wilde spaltende Kraft.506 Es hänge davon ab, ob sie in einer Serie erfasst oder unverbunden geblieben sei. „Il fallait distinguer le moi en essor simple ou égoïsme personnel, qui est un moi inhumain, un germe de discordes et de vices; et en essor composé ou égoïsme corporatif multiple; c’est le moi humain, germe d’harmonie et de vertus, ressort de répartition équilibrée dans la masse de séries.“507 An dieser Stelle erfolgt eine Gewichtsverlagerung vom Individuum zu sozialer Gebundenheit. „Der Einzelne ist im Grunde ein falsches Wesen.“508 Er könne nicht allein seine ( zwölf ) Leidenschaften aktivieren und erfüllen. Er könne das nur gewissermaßen in einem Orchester tun, in einer Menge, die Arten, Quanten und Grade von Leidenschaften umfasst und ausgleicht; in einem Mechanismus, der ver wandte und widersprechende Elemente jeweils zu Symmetrien oder entgegengesetzten Gruppen verbindet. Betrachte daher nicht das vereinzelte Individuum als die erste Gegebenheit. Es ist nur „embryon et parcelle d’homme intégral“, wie eine Biene, die nur eine „parcelle de la ruche“ des „mécanisme passionnel“ der Bienen ist.509 Und so ist die wirkliche menschliche Einheit die richtig zusammengesetzte Gruppe, eine Synthese von verschiedenen Leidenschaften, ausgestattet mit den geeigneten Produktionsmitteln. „Il n’y a intégralité d’une espèce que dans le cas où elle réunit et le nombre et les moyens d’avènement plein à sa destinée [...]. Liberté et combinaison de l’ensemble.“510 In quantitativen Begriffen muss dieses menschliche Ensemble nach Fouriers Ansicht 1 600–2 000 Personen – Männer, Frauen und Kinder – umfassen, die zusammen 810 Charaktere ( jedes Geschlecht 405 Charaktere ) darstellen, miteinander unter gewissen objektiven Bedingungen verbunden; hier sei „société naturelle intégrale“, „là vraiment l’homme inte-

506

507 508 509 510

Vgl. Fourier, Théorie des quatre mouvements, S. 12, 431. Vgl. auch ebd., S. 447 : „Dieu, pour organiser un mécanisme social stable et régulier, n’a pas pu spéculer sur des individus agissant isolément, mais sur les groupes sociétaires.“ Siehe außerdem ders., Nouveau Monde, Band 6, S. 47 ff., 291, 445. Fourier, Fausse industrie, Band 2, S. 498; Armand / Maublanc, Fourier, Band 1, S. 238. Fourier, Manuscrits, Band 4 : Années 1857–1858, S. 320. Ebd., S. 321. Ebd.; ders., Nouveau Monde, Band 6, S. 266.

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gral“.511 Es handele sich nicht um Zähmung oder Neutralisierung der Leidenschaften. Weit davon entfernt. Wenn sie außerhalb des vorgeschriebenen Mechanismus der Serie wie losgelassene Tiger und unbegreif liche Rätsel seien : Drinnen würden sie nützlicher, schöpferischer sein, da sie eifriger und zahlreicher wären. Die Theorie der „séries passionnelles“ sei nicht eine willkürliche Erfindung wie andere soziale Theorien. Die „ordonnance de ces sectes“ sei an jedem Punkt den „séries géométriques“ analog.512 „Dieu [...] a dû composer pour nous un code passionnel ou système d’organisation domestique et sociale, applicable à l’humanité entière qui a partout les mêmes passions; et il a dû nous interpréter ce code passionnel par des voies fixes, qui ne laissent aucun doute sur son excellence et son origine.“513 Diese psychologische Lösung des Dilemmas von spontaner individueller Selbstentfaltung und sozialer Organisation hat ihr Gegenstück in der Sphäre sozial - ökonomischer Organisation. Besitzliebe sei eine der hauptsächlichsten menschlichen Leidenschaften und das Privateigentum zweifellos sowohl Träger als auch Garantie der individuellen Selbstver wirklichung. Egalitärer Kommunismus müsse daher Gewaltherrschaft zur Folge haben, er müsse menschliche Triebe ersticken, Quellen schöpferischer Kraft töten und als Ergebnis die Gesellschaft degradieren und brutalisieren.514 Andererseits müssen unbeschränkte Rechte des Privateigentums – „propriété simple“ – im Gegensatz zu „propriété composée“ zwangsläufig unsozial werden, wie alle einfach unverbunden gebliebenen individuellen Leidenschaften. Wenn das Eigentum nicht den Bedürfnissen der Umgebung angepasst sei, dann werde es zu einem Recht, allgemeine Interessen willkürlich zu untergraben, um individuelle Launen zu befriedigen.515 Der Anspruch auf die unbeschränkte Freiheit, Unternehmungen durchzuführen, die das Leben einer großen Zahl von Menschen betreffen, wie zum Beispiel finanzielle Spekulationen großen Umfangs, das Bauen enger, ungesunder Wohnviertel, sei der Behauptung des Quacksalbers vergleichbar, das unveräußerliche Recht des Einzelnen auf Eigentum und Ausübung seines Berufs gebe ihm das Recht zur Praxis.516 In diesem Zeitalter komplexer Bezie511 512 513

514 515 516

Fourier, Manuscrits, Band 4 : Années 1857–1858, S. 322. Poisson, Fourier, S. 28. Fourier, Traité, Band 1, S. 85. Vgl. außerdem ebd., S. 86 : „Il existe donc pour flous une destinée unitaire, ou législation de Dieu sur l’ordre à établir dans les relations industrielles de l’humanité.“ Siehe außerdem Fourier, Unité universelle, Band 3, S. 112; Armand / Maublanc, Fourier, Band 1, S. 217 f. Vgl. Armand/Maublanc, Fourier, Band 2, S. 38 ff. Vgl. Fourier, Nouveau Monde, Band 6, S. 390 : „La tyrannie de la propriété individuelle contre la masse.“ Vgl. Fourier, Unité universelle, Band 4, S. 309 ff.; Band 5, S. 457, 506.

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hungen und allgemeiner gegenseitiger Abhängigkeit habe jede Art von Eigentum, die das Dasein anderer berührt, eine soziale Funktion.517 Es sei daher verderblich und absurd, dass zu einer Zeit, in der alle Zweige der sozialen Organisation – Verkehr, Armee, Rechtsprechung, Ver waltung – zu fortschreitender Organisation und Zentralisation tendieren, die grundlegenden Lebensnotwendigkeiten ein Opfer von Anarchie und Unordnung, von blindem Umhertasten und mörderischer Habgier von Einzelnen und von Sippen sein sollen.518 Und so handele es sich nicht darum, das Privateigentum, diese Einrichtung, durch die die Menschheit um viele Errungenschaften auf dem Gebiet der Industrie und der Kunst bereichert wurde, zu zerstören; es komme vielmehr darauf an, andere Formen dafür zu finden, die vollkommener, sicherer, freier und beweglicher und zur gleichen Zeit sozialer sind und das Einzelinteresse in allen Bereichen mit dem Gemeinwohl in Einklang bringen. „Il faut composer la propriété collective, non par la promiscuité et la communauté égalitaire, confuse et barbare, mais par l’association hiérarchique, volontaire et savamment combinée de toutes les propriétés individuelles.“519 Und so erlange wiederum ein individuelles Merkmal – Privateigentum – nur in einem integrierten kollektiven Ganzen wahre Geltung. In seiner Auslegung von Fourier geht Considérant ausführlicher auf die Eigentumsfrage ein. Es könne kein Recht auf ausschließliches individuelles Eigentum an den Gaben der Natur bestehen. Die ganze Menschheit teile das Recht zu ihrem Gebrauch. Ein Einzelner könne das Recht zum ausschließlichen Eigentum an solchen Dingen haben, die er durch seine Arbeit, seine Intelligenz, kurz : seine Tätigkeit selbst erzeugt hat.520 Die bestehende Gesellschaftsordnung verletze alle diese Prinzipien. Einzelne eignen sich die Gaben Gottes an, und der von den Arbeitern geschaffene Mehr wert wird ihnen von denselben Leuten weggenommen, die die Schätze der Natur an sich gerafft haben. Dem seines Anteiles an den Gaben der Natur beraubten Arbeiter werde auch jede Möglichkeit genommen, sich Eigentum zu schaffen. Die Gesellschaft habe, wie bereits vorher gesagt, die heilige Pflicht, den Armen für seinen Verlust der primitiven Rechte des Jagens, Fischens usw. dadurch zu entschädigen, dass sie ihm, wenn nicht Arbeit, so wenigstens – als Grundbedingung der Freiheit – ein Mindestmaß von sozialer Sicherheit biete. Doch könne sich die Gesellschaft dies nur unter der Voraussetzung der Fülle erlauben. Diese aber sei unerreichbar ohne eine planvolle Aktivierung aller Werte und menschlichen Fähigkeiten, und vor allem ohne eine Steigerung 517 518 519 520

Vgl. Armand/Maublanc, Fourier, Band 2, S. 38 ff. Vgl. Fourier, Traité, Band 1, S. 569 ff.; Bourgin, Fourier, S. 228–231, 294–306. Considérant, Principes du socialisme, S. 45. Vgl. Considérant, Exposition, S. 87–96.

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der Produktion durch attraktive Arbeitsmethoden anstelle von mörderischer Plackerei. Die Arbeit müsse zum Vergnügen werden, wie es in der Absicht Gottes lag, und nicht eine erniedrigende Strafe darstellen, zu der sie in der Zivilisation geworden ist. Im Lichte dieser „concordances intimes des conditions du travail et celles de la liberté“ nimmt die „organisation du travail attrayant“521 die Dimensionen einer allumfassenden Lösung aller psychologischen, sozialen und politischen Übel der Gesellschaft an : des Versprechens auf Erlösung, der Garantie einer Versöhnung von Freiheit und Organisation – „nœud capital du problème social“.522

5. Die Dialektik der Geschichte „Von dem Augenblick an“, schreibt Fourier, „in dem ich die beiden Theorien der Anziehung und der Einheit der vier Bewegungen hatte, begann ich, in dem Zauberbuch der Natur zu lesen. Ihre Geheimnisse erklärten sich mir allmählich, und so lüftete ich den Schleier, der ( vorher ) für undurchdringlich galt. Ich drang in eine neue wissenschaftliche Welt vor [...], bis ich zur Berechnung der universalen Geschicke gelangte oder zur Bestimmung des grundlegenden Systems, das die Gesetze aller vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Bewegungen reguliert.“523 Manchmal scheint Fourier in eindringlichster Weise eine Note von persönlichem Messianismus anzuschlagen; er ist der Messias - Philosoph, den Gott hinter den Kulissen gehalten und den die unglückliche, gequälte Menschheit während all dieser Jahrhunderte erwartet hatte.524 Er hat die Zauberformel gefunden und offenbart, und er „betont insbesondere die Leichtigkeit, mit der die Menschheit zum ‚ordre combiné‘ übergehen kann“; so leicht ist es, dass mit der „Organisation der Erde“ sofort, im Jahre 1808, begonnen werden kann. Bis Ende des gleichen Jahres werde die Phalange in Betrieb sein; das „chaos civilisé barbare et sauvage“ werde schnell vom Beispiel der ersten Phalange besiegt werden und zurückzuweichen beginnen, und es wird von den vom Herzen kommenden Flüchen der ganzen Menschheit begleitet werden.525 Wenn es so leicht ist, warum ist dann das Rezept nicht früher gefunden worden, warum hat Gott das Geheimnis so lange der Menschheit vorenthalten und 521 522 523 524

525

Considérant, Exposition, S. 91. Ebd., S. 88. Fourier, Théorie des quatre mouvements, S. 18 f. Vgl. Bourgin, Fourier, S. 438–446. Grabrede von Considérant, zit. in ebd., S. 440 : „Le Rédempteur du monde, le Christophe Colomb du monde social, et le Révélateur de la loi des Destinées universelles.“ Vgl. Fourier, Théorie des quatre mouvements, S. 146 f.; Poisson, Fourier, S. 40 f.

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sie irren und leiden lassen ? Erstens, weil die falschen Philosophen nicht sehen wollten, dass die Gesetze der universalen Anziehung auf die Gesellschaft anwendbar sind; zweitens, weil es Gottes Plan war, dass die Menschen nicht passive Wohltätigkeitsempfänger sein, sondern selbst das Geheimnis entdecken und mit Gott kooperieren sollten – kurz, sie sollten leiden und aus ihrer Erfahrung lernen. Schließlich seien die Bedingungen noch nicht reif gewesen. Diese müssen sich entwickeln und ausgetragen werden, in Perioden und Phasen, von denen keine übersprungen werden könne.526 Die Schwierigkeit, die Rolle des persönlichen Messias mit den deterministischen Entwicklungsgesetzen zu vereinen, bleibt ungelöst. Fouriers Dialektik der Geschichte scheint ein Vorbote der marxistischen Dialektik zu sein. Allerdings verzeichnet hier Engels kaum eine Dankesschuld, obwohl er Fourier für andere Beiträge hohe Anerkennung zollt – insbesondere für seine verheerende Kritik an der kapitalistischen Ordnung und der liberalen Volkswirtschaftslehre. Der Haupteinwand der Väter des Mar xismus gegenüber dem utopischen Sozialismus war, dass er, im Gegensatz zum Mar xismus, nur von den Postulaten der Gerechtigkeit spreche und auf eine abstrakte Formel oder einen persönlichen Messias hoffe, der erscheinen und die Dinge durch Eingriff von außen in Ordnung bringen würde. Er begreife nicht, dass die volle Entwicklung der Gegebenheiten einer Zeit, die zum Ausbruch aller in ihr enthaltenen Widersprüche führe, bereits das Material und sogar die Notwendigkeit des Übergangs zu einer neuen und höheren Synthese enthalte. Falls sich ein solches Verständnis, wenngleich ungeschickt ausgedrückt, bei Fourier findet, würde der Gegensatz zwischen „utopischem“ und „wissenschaftlichem“ Sozialismus viel von seiner Schärfe einbüßen. Die Zivilisation bedeutet für Fourier bei weitem nicht den Höhepunkt der Menschheitsentwicklung und ihre Endphase, sondern nur eine vorübergehende Geißel, eine Kinderkrankheit. Die Tragödie sei, dass sie fast dreitausend Jahre zu lang gedauert und dadurch unendliches und unnötiges Leiden verursacht habe. Die Zivilisation sei ein Zwischenstadium zwischen den Zeitaltern der Wildheit, des Patriarchats und der Barbarei, die ihr vorangingen, und den drei Perioden der Assoziation – nämlich des Garantismus, des Sozietismus (einfache Assoziation ) und des Harmonismus ( zusammengesetzte Assoziation) –, die vor ihr liegen. Eine Epoche führt mit der ehernen Notwendigkeit geologischer und biologischer Wandlungen durch „vibration ascendante“ und „descendante“ zur nächsten Phase. Der Charakter einer Epoche, ihre Einrichtungen, Gesetze und Anschauungen werden durch Änderung der Produktionsmethoden und – eng damit zusammenhängend – der Stellung der Frau bestimmt. Es gebe dauernde, unaufhaltsame Bewegung von der niederen zur 526

Vgl. Fourier, Unité universelle, Band 2, S. XXII ff., XXVII ff.

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höheren Stufe. Die Strafe für Stillstand sei Verderben, begleitet von Konflikten zwischen überholten Elementen einerseits und den Erfordernissen der neuentstehenden Wirklichkeit andererseits.527 So sei die Phase des Edenismus, einer idyllischen Harmonie, deren Bedingung die instinktive Beobachtung der Gesetze der Assoziation und der Anziehung gewesen sei, durch die Bevölkerungszunahme zerstört worden. Es folgte die Phase der Wildheit, die gekennzeichnet war durch Jagen, Fischen, Verfertigung von Waffen und Vernichtungskrieg. Sie wurde durch die Invasion wilder Tiere und durch die Übel des Krieges aller gegen alle beendet. Die Einrichtungen, die sie angesichts der Krise entwickelte, Horden und Kriegs - und Friedensräte, denen unabhängige freie Männer angehörten, führten zur nächsten Phase, der des Patriarchats. Viehzucht, der Gebrauch des Pfluges und festes Eigentum bedingten geordnete Formen. Die ersten Priester, die zugleich Herrscher waren, erschienen auf der Bildfläche und wirkten auf gefestigtere soziale Beziehungen hin. Während die Phase der Wildheit noch ein Zeitalter der Trägheit war, werden die folgenden Phasen des Patriarchats, der Barbarei und der Zivilisation in ihrer Entwicklung durch Fleiß und Anstrengung bestimmt. Die Unterschiede zwischen ihnen in dieser Beziehung sind quantitativ : von der Heimindustrie im kleinen Maßstab der Patriarchatstage über die Erzeugung mittlerer Größe der Barbaren zur Großindustrie der Zivilisation. Sie haben indessen einen gemeinsamen Nenner : Alle sind sie „Industrie morcelée, mensongère, répugnante“.528 Es dürfte sich lohnen, Fouriers Einteilung der Zivilisation in vier Phasen : Kindheit, Jugend, Mannesalter und Verfall – von denen die beiden ersten ansteigende Vibration, die beiden letzten absteigende Vibration darstellen – etwas ausführlicher zu analysieren. Zum patriarchalischen oder aristokratischen Feudalismus, der die erste Phase bildet, gehören Ausschließlichkeitsehe, bürgerliche Rechte der Frau und „ritterliche Illusionen“. Die Epoche der Jugend wird durch das Aufkommen der Kommunen mit ihren Privilegien („der einfache Keim“) und die Blüte von Kunst und Wissenschaften („der zusammengesetzte Keim“) als Folge des Wachstums der Städte charakterisiert. Ihr Angelpunkt ist die Gewährung des Wahlrechts an die Arbeiter, und ihr „Gleichgewicht“ wird im politischen Leben durch das parlamentarische System dargestellt. Der Ton wird durch die „Illusionen der Freiheit“ ( im liberalen formalen Sinn ) gesetzt. Die Epoche erreicht ihr Apogäum oder ihre Fülle in der Eroberung der nautischen Kunst, in den Errungenschaften der experimentellen Chemie, in ausgedehnten Bestrebun527 528

Vgl. Gide ( Hg.), Selections, S. 50–54; Bourgin, Fourier, S. 282–285; Fourier, Théorie des quatre mouvements, S. 126 ff. A. d. Hg. : So der vollständige ( Haupt - )Titel der „Fausse industrie“.

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gen zur Urbarmachung von Böden und in der Einführung von inneren Staatsanleihen.529 Die beiden letzten Phasen der Zivilisation stellen die Krise einer voll ausgereiften Entwicklung dar, die von Spaltungen und Widersprüchen über wältigt wird. Der wirtschaftliche Liberalismus, der dem Monopolfeudalismus ein Ende setzen und es jedem Menschen ermöglichen sollte, seinem eigenen Beruf nachzugehen in der Hoffnung, dass freier Wettbewerb in allgemeine Harmonie münden werde, hat statt dessen eine allgemeine kommerzielle Anarchie geschaffen. Die Anarchie des Krieges aller gegen alle setzt die großen Leviathane in den Stand, die kleineren Fische zu verschlingen. Der Monopolkapitalismus oder Industriefeudalismus ist so die logische Entwicklung oder, falls man das vorzieht, die dialektische Antithese der Laissez - faire - Volkswirtschaftslehre. In der internationalen Sphäre wird dieser Prozess durch maritimes Monopol ( britische Blockade gegen Napoleon ) und Monopolimperialismus exemplifiziert. Der Staat in seiner Machtlosigkeit gegenüber dem anarchischen Wettbewerb begrüßt geradezu diese Form der Bastardassoziation als ein Mittel, das Chaos zu verkleinern und eine gewisse Koordination im Wirtschaftsleben zu sichern. Die letzten hundert Jahre seien Zeuge eines ungeheuren Anwachsens der Industrie gewesen und jetzt ( zu Fouriers Zeit ) „überschreitet die dritte Phase ihre natürlichen Grenzen“.530 Die Industrie müsse fortfahren, immer mehr und mehr zu produzieren, während die potentiellen Konsumenten, die Arbeiter – niedergehalten durch Hungerlöhne, Fortschritt in der Maschinerie und Überproduktion – außerstande sind, die produzierten Artikel zu kaufen. Daher die periodischen Krisen, die die Arbeiter noch stärker niederdrücken und bitteren sozialen Groll und Unruhe erzeugen. Mit Fouriers eigenen Worten : „Wir haben zu viel Material [...], das nicht seine natürliche Ver wendung findet, daraus folgt eine Überladung und ein Unbehagen im sozialen Mechanismus. Dies resultiert in Gärung [...], krankhaften Zügen, Symptomen der Mattigkeit, Wirkungen des Missverhältnisses [...]. Zu viel Industrie für eine so wenig fortgeschrittene, in der dritten Phase steckengebliebene Zivilisation.“531 Industrielle Techniken und Produktion entwickeln sich in umgekehrtem Verhältnis zur sozialen Kohäsion. Und doch seien die Wiederaufbauelemente vorhanden, so sehr die Zivilisation in ihre eigenen Widersprüche verstrickt und das soziale Gebäude zu zerfallen scheine. Das sei ein Rückzug „pour mieux sauter“ : aus dem Stadium der 529 530 531

Vgl. Fourier, Nouveau Monde, Band 6, S. 386 ff.; Armand / Maublanc, Fourier, Band 1, S. 250–259. Fourier, Nouveau Monde, Band 6, S. 418. Ebd.

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Zivilisation in die nächst höhere Phase, die des „Garantismus“, der Vergesellschaftung der Produktion verbunden mit sozialer Sicherheit.532 Die ungeheure Entwicklung der industriellen Technik biete die Werkzeuge, und das allgemeine Verständnis der strukturellen Krise in der industriellen kapitalistischen Gesellschaft liefere den Arbeitern das Rezept zur Bewerkstelligung des Übergangs.533 Zitieren wir nochmals die beredte Zusammenfassung Fouriers : „Und daher ist der Fortschritt des Wissens für die Zivilisation sehr wünschenswert, ebenso wie vollkommenes Reifen der Frucht erwünscht ist. Doch wenn sie erst diesen Punkt erreicht hat, muss sie ihre Ver wendung finden. Welche Ver wendung kann nun die Zivilisation in diesem Stadium der Bewegung finden ? ‚C’est d’acheminer à la sixième période ou garantisme.‘ Von dem Augenblick an, in dem die Zivilisation alle Mittel erworben hat, muss sie sich selbst entrinnen, einen Weg hinaus finden dadurch, dass sie in den ‚Garantismus‘ eintritt. [...] Sie umfasst mehr als sie tragen kann. [...] Der Überschuss unseres Wissens und unserer Industrie ist verhängnisvoll für uns geworden, genau so wie die bekömmlichste Nahrung demjenigen nicht bekommt, der zu viel von ihr zu sich nimmt; und in der Zivilisation zu bleiben, wenn wir mit den Hebeln der sechsten Periode versehen sind, das wäre ‚outrepasser la mesure‘. Nachdem wir in diesem Stadium angelangt sind, [...] können wir mit einer Seidenraupe verglichen werden, die mit Material überladen ist und daher ihre Natur wandeln muss.“534 Considérant analysiert weiter die Hebel, die von der „apogée de civilisation“535 und der aus ihr folgenden Auf lösung geboten werden, um in die Phase der Assoziation zu entweichen. Die monopolistische Konzentration, die das letzte dialektische Stadium in der Entwicklung des Kapitalismus bilde, sei vom Gesichtspunkt der wirtschaftlichen Organisation aus ein viel höheres Stadium als „morcellement“ und Inkohärenz. Das Bestehen riesiger Trusts lege gewissermaßen die Möglichkeit ihrer Vergesellschaftung nahe. Da die Zahl der Produktionseinheiten kleiner sei und in ihnen weitgehend geplant werde, sei das Gesamtbild leichter zu überblicken. Wir gelangen dann in dieser Bastardform der „association simpliciste“ an die Schwelle des Wahren, der „association composite“, obwohl die monopolistischen Trusts natürlich nicht um des Assoziationsprinzips willen

532 533 534 535

Vgl. Fourier, Théorie des quatre mouvements, S. 54. A. d. Hg. : Fourier spricht von „mieux s’élancer“. Zu den Bedingungen des Übergangs vgl. Fourier, Nouveau Monde, Band 6, S. 9 ff. Fourier, Traité, Band 1, S. 160 f.; ders., Unité universelle, Band 3, S. 209. Vgl. auch Armand / Maublanc, Fourier, Band 1, S. 257 f. Fourier, Traité, Band 1, S. 161.

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ins Leben gerufen werden, sondern um schwächere Konkurrenten zu beseitigen und Arbeiter und Konsumenten wirksamer auszubeuten.536 Der hohe Grad von Beweglichkeit des Eigentums, der vom Neofeudalismus ( insbesondere dem agrarischen ) bewirkt wurde, sei der Keim zu seiner zukünftigen Verallgemeinerung und seiner Umwandlung von individuellem und einfachem in soziales zusammengesetztes Eigentum. Die großen Ungetüme, die viele frühere unabhängige Handwerker und Bauern zusammenfassen und sie zur Förderung ihrer eigenen egoistischen Ziele in hilf lose Vasallen des Neofeudalismus ver wandeln, regen nichtsdestoweniger das Wachstum gewisser Formen sozialer Sicherheit an. Wenn sie keine kleinen Konkurrenten zu fürchten haben und allein im Feld sind oder nur wenige, aber ebenso mächtige Rivalen haben, werden große Industriekonzerne versuchen, die Produktion dadurch zu heben, dass sie das Wohlergehen ihrer Arbeiter fördern, ihnen Prämien anbieten für größere Anstrengungen und gewisse Garantien wie Pensionen verschiedenster Art und Wohnungen. Die Verdrängung der kleineren Händler durch die Riesenunternehmungen, die ihre Ware selbst vermarkten, könne sogar zu einer gewissen Gewährung von Dividenden an die Arbeiter führen. Wenn ein ritterliches Gefühl der Verpflichtung den Feudalherren veranlasste, für seine Vasallen zu sorgen, so könne eine unechte illusorische Form der Assoziation eine ähnliche Wirkung auf die Neofeudalen haben. Die wohlwollende Gönnerschaft industrieller Ausbeuter sei geeignet, einen Vorgeschmack des „Garantismus“ in einem Regime wahrer Assoziation zu vermitteln, Kooperativläden, Gemeinschaftsküchen, Krippen, Schulpensionate und ähnliche von den Industrieungetümen eingeführte kollektive Erleichterungen werden die Emanzipation der Frau beträchtlich fördern. Wenn man sie in erheblichem Maße von der Plackerei des individuellen Haushalts befreie, werde sie frei und bestrebt sein, einem eigenen Beruf nachzugehen, um wirtschaftlich und gesellschaftlich dem Manne gleichgestellt zu werden. Das werde ihr helfen, die jahrhundertlange Verschwörung der Männer, die die überlegenen Befähigungen der Frauen an der Durchsetzung hindern, zu über winden.537 Die Zivilisation habe als eine Form des Feudalismus begonnen und werde als eine Form des Feudalismus zu Ende gehen. Es sei daher angebracht, nach Analogien zu suchen zwischen der Art, in der die ältere Form aufgelöst wurde, und der Weise, in der der spätere Typ verschwinden werde. Vor Jahrhunderten sei nationale Einheit von einem Richelieu und einem Ludwig XIV. dadurch herbeigeführt worden, dass sie die Hydra des feudalen Partikularismus zerstörten, die Magnaten hinrichteten und ihre Schlösser niederrissen. Nationale Ein536 537

Vgl. zu diesem und den folgenden Abschnitten Considérant, Destinée sociale, Band 1, S. 203–209. Vgl. ebd.

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heit in ihrer modernen zukünftigen Version – einheitliche gesellschaftliche Leitung der produktiven industriellen Kräfte in einer Regierungsordnung des „Garantismus“ – werde in ähnlicher Weise durch Zügelung einer Handvoll von kapitalistischen Monopolisten zustandegebracht werden. Es werde keine Notwendigkeit bestehen zu Hinrichtungen oder gewaltsamen Konfiskationen. Es werde genügen, „die ganze Maschine einem einheitlichen Antrieb zu unter werfen.“538

6. Die Phalange Die Phalange ist die vorausbestimmte Einheit jenes „régime sociétaire“, das unsere „sociétés morcelées“ ersetzen wird, vorausbestimmt, in einer streng wissenschaftlichen Weise das Problem der Bestimmung des Menschen zu lösen.539 Da sie streng von den wesentlichen Fakten der menschlichen Natur, die überall gleich ist, abgeleitet wird, ist die Phalange auf alle Nationen und Gesellschaften anwendbar. Tatsächlich ist ihre Verallgemeinerung die Vorbedingung für den Erfolg der individuellen Phalangen. Sechs Millionen Phalangen werden eines Tages die Erde bedecken und die gesamte Menschheit enthalten. Die Phalange erfüllt alle drei Postulate – der Freiheit, der Ordnung und der Gerechtigkeit. Sie basiert auf freiwilliger, spontaner, leidenschaftlicher Zusammenarbeit. Sie vereinigt Menschen zu einem gemeinsamen Ziel unter gemeinsamer Leitung. Durch Zuteilung entsprechend dem Verdienst ver wirklicht sie Gerechtigkeit. Wesentlich ist, dass die Phalange sich zum Ziel setzt, Harmonie nicht durch Unterdrückung der menschlichen Individualität zu erzielen, nicht durch Herbeiführung eines einheitlichen Niveaus der Gleichschaltung, sondern dadurch, dass sie die Menschen nimmt, wie sie sind, mit ihren Ungleichheiten der Geburt, der Begabung und des Vermögens; mit ihren starken Leidenschaften des Neids und des Trotzes. Und sie bedient sich nicht gewaltsamen Umsturzes. Sie verändert das Antlitz der Erde, indem sie industrielle Reform oder die Organisation der Produktion mit den wissenschaftlichen Gegebenheiten der menschlichen Psychologie verbindet. Die vollständige Phalange ist eine Einheit von etwa 1 600 Seelen auf 500 Morgen Land, ausgestattet mit den geeigneten landwirtschaftlichen Gerä538 539

Ebd., S. 206. Eine große Zahl von Hinweisen auf die Begriffe „phalange“ und „phalanstère“ finden sich in : Silberling, Dictionnaire de sociologie phalanstérienne, S. 326–330; Poisson, Fourier, Fünfter Teil, S. 117–154; Gide ( Hg.), Selections, S. 137–154; Armand / Maublanc, Fourier, Band 2, S. 127 ff.; Bourgin, Fourier, Kapitel 4 und 5; Considérant, Exposition, Vème thèse, S. 80–85.

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ten. Je größer die Gegensätze und Unterschiede zwischen den Mitgliedern, desto besser. Sie sollten sich weitgehend in Vermögen, Temperament und Geschmack unterscheiden. Wie bereits angedeutet, beabsichtigt die Phalange nicht im Entferntesten, das Privateigentum oder die private Erbschaft abzuschaffen oder Gleichheit der Anteile und Entlohnung zu erzwingen, denn das würde bedeuten, dem Menschen und seinen Trieben Gewalt anzutun. „Abschaffung des Privateigentums im neunzehnten Jahrhundert zu predigen !“ – ruft Fourier voller Verachtung für die Saint - Simonisten aus.540 Das reiche Mitglied wird für seine Arbeit entlohnt und erhält Dividenden im Verhältnis zu seiner Einlage. Außerdem kann es ruhig schlafen im Vertrauen darauf, dass sein Kapital ständig wächst, denn in einer Phalange, die auf genauer lokaler und interphalangärer Planung beruht, kann es nur unbehinderten Fortschritt geben. Jedem steht auch frei, wieder auszutreten und sein Eigentum mitzunehmen, wann immer er will. Der Arme wird die Ungleichheit des Reichtums nicht im Geringsten übel aufnehmen, wenn erst jedem, auch dem Besitzlosen, ein Existenzminimum gewährt wird. Die Armen werden ihren Verdienst ebenfalls in Form von Anteilscheinen erhalten, um ihnen zu ermöglichen, Miteigentümer zu werden. Die Entlohnung erfolgt im Verhältnis von fünf Zwölfteln auf Arbeit, vier Zwölfteln auf Kapital und drei Zwölfteln auf Befähigung. Auch nach anderen Kriterien werden Vergütungen festgesetzt : nach dem Beitrag zur Einheit und Kohäsion der Phalange, nach Anziehung oder Unannehmlichkeit der Arbeit, nach Dauer und Intensität der Anstrengung. Darüber hinaus ist die Dividende, die auf die Anteile gezahlt wird, nicht für alle gleich : Die ärmeren Teilhaber werden einen viel höheren Prozentsatz erhalten ( bis zu 40 Prozent ), und der Reiche wird einen sehr niedrigen Satz bekommen, etwa 5–6 Prozent. Auf diese Weise soll den Armen geholfen werden, leichter zu Teilhabern zu werden.541 „Il faut inventer un régime où chacun [...] soit associé et propriétaire.“542 Keine findigen Ideen für die Verteilung werden etwas nützen ohne Lösung des Hauptproblems – der Anziehungskraft der Arbeit, so dass die Reichen sie nicht scheuen, sondern begierig sein werden zu arbeiten, und die Armen sie nicht als eine drückende Last empfinden. Wenn beide, Reiche und Arme, die-

540

541 542

Bourgin, Fourier, S. 179. Vgl. Fourier, Traité, Band 1, S. 466 : „L’esprit de propriété est le plus fort levier qu’on connaisse pour électriser les civilisés; on peut, sans exagération, estimer au double produit le travail de propriétaire, comparé au travail ser vile ou salarié [...]. On devait donc, pour premier problème d’économie politique, s’étudier à transformer tous les salariés en propriétaires co - intéressés ou associés.“ Vgl. Fourier, Unité universelle, Band 2, S. VII; Band 4, S. 444 ff., 516–520; Bourgin, Fourier, S. 296–298; Armand/Maublanc, Fourier, Band 2, S. 148–155. Fourier, Unité Universelle, Band 2, S. 199.

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selbe Arbeit tun, werden die Unterschiede in ihren Bankkonten bedeutungslos werden ( da die Armen keine Angst vor dem Hunger haben ). Der Arbeit wird kein Stigma anhaften, und Muße wird nicht der Vorzug des Wohlhabenden allein sein. Es wird nicht länger Verachtung und Angst auf der einen Seite und neidischen Groll und Aufstand auf der anderen geben.543 Arbeit kann anziehend gemacht werden durch die richtige Gruppierung von Typen, Leidenschaften und Neigungen.544 Die Phalange von etwa 1 600 Seelen wird etwa 40–50 Serien enthalten. Eine „série passionnelle“ ist ein Bund von Gruppen „échelonnées en ordre ascendant et descendant“,545 doch geeint in der gleichen leidenschaftlichen Hingabe an irgendeine Funktion. Eine Serie zählt wenigstens drei Gruppen von je sieben bis neun „sectaires“. Es ist nicht so gedacht, dass jede Serie sich in derselben Art von Arbeit spezialisieren soll, etwa die gleiche Frucht oder Blume züchten, sondern dass jede Gruppe sich zu einer bestimmten Zeit auf eine besondere Art von Früchten oder Blumen spezialisiert und sie dann miteinander tauschen. Die Gruppen und Serien sollen so zusammengesetzt sein, dass Ähnlichkeiten und Unterschiede in Alter, Befähigung, Temperament, Leidenschaft und Geschmack die notwendigen Harmonien und Spannungen, Symmetrien und Ausgleiche, Sympathien und Antipathien schaffen. Liebe zur ausgeführten Aufgabe und die Anziehung der Kameradschaft, nicht aber Not oder irgendwelche angeblichen Moralgebote und Pflicht oder Zwang sollen die Hebel zum Handeln sein. Außerdem erreicht man nichts durch die Organisation einer isolierten Serie, so angenehm die Aufgabe sein mag, die man ihr zuteilt.546 „Il faut des séries engrenées et mécanisées [...]; comme les dents d’un rouage qui sont toutes utiles, pourvu qu’elles engrennent à leur tour.“547 Eine „série passionnelle“ bedeutet nicht Vereinigung von Einzelnen, sondern von Gruppen, die abgestimmt und voneinander abgegrenzt sind.548 Die Produktion gelangt zur Vollkommenheit durch die drei Leidenschaften, denen die richtige Verbindung der Serien das Ausleben ermöglicht : nämlich „cabaliste, composite, papillonne“ – Verlangen nach Intrige, Zusammenschluss und ständiger Veränderung.549 Wettbewerb und Rivalität zwischen den Grup543 544 545 546 547 548 549

Vgl. Considérant, Exposition, S. 89–94. Vgl. Bourgin, Fourier, S. 356. Poisson, Fourier, S. 98. Vgl. ebd., S. 97–103. Ebd., S. 96, 99. Fourier, Unité Universelle, Band 5, S. 463 : „Absorber l’égoïsme et les discordes individuelles dans les accords des masses.“ Vgl. Poisson, Fourier, S. 98. Zu den drei Leidenschaften siehe Fourier, Nouveau Monde, Band 6, S. 54 f. Vgl. auch ebd., S. 333 : „L’état sociétaire, en donnant à chaque passion le plus vaste développement, l’essor en tous degrés, est assuré d’en voir naître des gages de concorde géné-

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pen dienen als Ventil für die Impulse des Ehrgeizes, der Intrige, des Neids und der Rivalität, die in der Brust eines jeden Einzelnen von uns wohnen. Wenn diese von einer Gruppenloyalität absorbiert werden, verlieren sie ihren unsozialen Egoismus und dienen der Förderung des allgemeinen Produktionseinsatzes. Der Wettbewerb zwischen Gruppen, die auf dem gleichen Gebiet arbeiten, dient dem Gemeinwohl. Wenn der individuelle Egoismus durch Gemeinschaftserleben absorbiert werden kann und das kollektive Werk geeignet ist, jedem Teilnehmer einen angemessenen Anteil zu geben, dann ist es höchst wünschenswert, Ehrgeiz und sogar Neid zu schüren, und nicht zu versuchen, diese durch Berufung auf Brüderlichkeit zu zähmen. Sie fördern das Gemeinwohl.550 Die Neigung zu grober Intrige wird verfeinert durch die Leidenschaft zum Zusammenschluss, durch die Freude, angenehme Erlebnisse mit guten Gefährten zu teilen. Solche gute Gemeinschaft der Sympathie verleiht sogar den sinnlichsten Freuden, wie zum Beispiel dem Essen, einen spirituellen Reiz. Grobe Gefräßigkeit ver wandelt sich dann in einen Träger feineren Genusses. Am wichtigsten ist wirklich die dritte Leidenschaft : „papillonne“. Da für den produktiven Einsatz, für die Freude des Menschen und sein Gefühl der Annehmlichkeit nichts verhängnisvoller ist als Eintönigkeit und Langeweile, wird die Phalange die Zwei - Stunden - Schicht für jede Art von Arbeit einführen. Jede Gruppe wird ihre Aufgaben alle zwei Stunden wechseln. Mit frischer Kraft wird sie sich dann begeistert einer neuen Arbeit zuwenden.551 Es bleibt jedoch noch die Frage offen, wer die schmutzigen Arbeiten verrichten wird. Zunächst werden die Dinge enorm vereinfacht durch die kollektiven Einrichtungen für Küche, Reinigung, Dienste usw. sowie auch durch die Anwendung von arbeitssparenden Erfindungen in großem Maßstab. Männliche und weibliche Pagen, die den häuslichen Diensten zugeteilt sind, werden ihre Arbeit fast wie einen Gottesdienst betrachten, denn ist nicht die Phalange ein Gott auf Erden ? Wirklich schmutzige Arbeit wird von den „petites hordes“ verrichtet werden, von Kinderscharen beiderlei Geschlechts, die den Schmutz lieben und deren Begeisterung jedes Gefühl des Wider willens ersticken wird.552 Das wird von großer erzieherischer Bedeutung sein. Reiche und arme Kinder werden sich voller Begeisterung gegenseitig helfen und miteinander wetteifern und dabei die gleichen schmutzigen Arbeiten tun, und sie werden sich von früher Kindheit an daran gewöhnen, sich gegenseitig als Kameraden zu betrach-

550 551 552

rale, et des ralliements entre les classes les plus antipathiques, riches et pauvres, testateurs et héritiers.“ Vgl. ebd., S. 69–72. Vgl. ebd., S. 72–78; Fourier, Unité universelle, Band 3, S. 24; Band 5, S. 384, 397– 407; Armand/Maublanc, Fourier, Band 2, S. 153–163. Vgl. Armand/Maublanc, Fourier, Band 2, S. 233 ff.

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ten und nicht als Angehörige entgegengesetzter Klassen.553 Die „petites hordes“554 werden so zu einer wirklichen Schule der Brüderlichkeit und der harmonischen Einigkeit werden, während sie eine Art von Arbeit verrichten, die heute die schlimmsten Spaltungen in der Gesellschaft verursacht. „Ainsi l’amitié collective, qu’on nomme en style philosophique la douce fraternité, s’établira par l’entremise des fonctions mêmes qui aujourd’hui créent des divisions de castes et les haines entre les diverses classes.“555 Die Phalange ist ein Triumph der Organisation durch Anarchie. Es gibt keinen Zwang. Jeder folgt spontan seinen eigenen Impulsen, und doch funktioniert alles richtig dank der Alchemie der Leidenschaften. Wir können hier nicht auf die Einzelheiten von Fouriers Beschreibungen der Phalange eingehen, die eine Mischung ist zwischen einem Jugendarbeitslager, einem riesigen Hotel und einem Ferienheim; auf die Architektur und Planung der Wohnhäuser, Werkstätten, Ställe, Restauranthallen, Belustigungsräume, Sportstadien, der riesigen, geschickt geplanten Korridore mit Zentralheizung ( um Erkältungen vorzubeugen ), Höfe und Amphitheater. Die Menschen verbringen ihre Mußezeit und nehmen ihre Mahlzeiten ein, wie sie wollen, in großen Mengen, in kleinen Gruppen oder allein. Da die Phalangisten zu gleicher Zeit Produzenten und Konsumenten sind, ist zu erwarten, dass sie im Anbau und im Konsum der feinsten Arten von Nahrungsmitteln ein gesteigertes Vergnügen finden werden und große Freude am gemeinsamen Genuss guter Dinge, insbesondere, da sie sich von allen asketischen Hemmungen freigemacht haben werden. Es wird keine Einförmigkeit in Wohnung, Nahrung oder Kleidung geben, sondern große Mannigfaltigkeit, denn dem Geschmack wird Freiheit gelassen.556 Die Familie wird nicht wie in der Zivilisation länger die ausschließliche Einheit sein.557 Angesichts des geheiligten Prinzips der Selbstentfaltung der Leidenschaften kann die Ehe keine unlösliche Bindung bleiben. Eine erzwungene eheliche Bindung wäre eine Eiterbeule der Heuchelei und würde, wenn sie Erfolg hätte, die begeisterte und vom ganzen Herzen kommende Loyalität des Einzelnen gegenüber der Phalange und ihrer „série passionelle“ untergraben. Fourier äußert sich sehr vage über die Zukunft der Ehe. Plötzliche Abschaffung der Institution in den frühen Stadien des neuen Regimes würde wegen der eingewurzelten Vor urteile gefährlich sein. Die Beziehungen zwischen Mann und Frau müssen der Zukunft überlassen bleiben. Die Kinder würden

553 554 555 556 557

Vgl. ebd. Ebd., S. 234. Ebd., S. 235. Vgl. Poisson, Fourier, S. 130–132, 139–154. Vgl. Fourier, Unité universelle, Band 4, S. 59 ff., 411 ff.

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jedoch zu einem frühen Zeitpunkt aus der Vormundschaft der Eltern fortgenommen und nach einem einheitlichen System gemeinsam aufgezogen werden, und zwar in einer solchen Weise, dass in ihnen durch frühe Bekanntschaft mit Spielzeugen und Miniaturfabriken, mit Garten - und Hausarbeit die Neigung zu etwa dreißig Beschäftigungen wachgerufen wird. Es würde keine Disziplinarmaßnahmen und keine Strafen geben. Besondere Preise und die in Beifalls- oder Spottrufen geäußerten Urteile von Gleichgestellten werden ausreichend starke erzieherische Sanktionen darstellen. Eine Kinderoper und ein Kinderballett werden ihre Muskeln üben und ihren ästhetischen Sinn erziehen.558 Das Regime der Phalangen wird eine wirkliche Demokratie darstellen. In erster Linie, weil sie den tiefsten und wahrsten Bedürfnissen und Wünschen der menschlichen Natur, den ursprünglichen Impulsen, entspricht und sie ver wirklicht, anstatt sie heuchlerisch zu unterdrücken oder zu verkehren. Es wird daher ein integriertes System der Freiheit bieten, und nicht die Lüge abstrakter Freiheiten und falscher Gleichheit. Die Größe der Phalange ist geeignet, die Bedingungen echter direkter Demokratie zu schaffen und zu ver wirklichen : Alle kennen einander, alles wird durch freie und gleiche Abstimmung entschieden und in den meisten Dingen muss es tatsächlich zwangsläufig vollständige Einmütigkeit geben. Es wird keine Notwendigkeit bestehen für ein Regieren im alten Sinn des Wortes, nur für Leitung und Ver waltung. Der Areopagus wird nicht befehlen, sondern nur sein fachmännisches Urteil äußern, wie zum Beispiel, wann auf Grund der Wetter vorhersagen mit der Aussaat oder Ernte begonnen werden soll. Die Freude am politischen Kommen und Gehen wird durch die Börse befriedigt : die Transaktionen zwischen Gruppen, Mitgliedern verschiedener Gruppen und Serien, Phalangen und Mitgliedern verschiedener Phalangen in Bezug auf Arbeitseinteilung, Austausch, Anschluss usw., die alle durch speziell ernannte Agenten durchgeführt und zu bestimmter Stunde an riesigen Anschlagtafeln im Gemeinschaftsraum bekannt gegeben werden. Eine Menge wird sich versammeln und die Anschläge aufs Angeregteste betrachten.559 Die ganze Welt wird in Phalangen organisiert sein – Kommunen mit einem Weltkongress an der Spitze.560 Delegierte zu regionalen Konferenzen und zum Weltkongress werden von jeder Kommune direkt gewählt werden. Der Kongress wird die „armées industrielles“ organisieren und beaufsichtigen, die 558

559 560

Vgl. Fourier, Théorie des quatre mouvements, S. 199–201, 206 ff.; Bourgin, Fourier, S. 358–363; Poisson, Fourier, S. 126–129; Armand / Maublanc, Fourier, Band 2, S. 227–232. Vgl. auch das Stichwort „amour“ in Silberling, Dictionnaire de sociologie phalanstérienne, S. 18–23. Vgl. Fourier, Nouveau Monde, Band 6, S. 67, 113. Vgl. zu diesem Absatz Considérant, Destinée sociale, Band 1, S. 25–32.

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gigantische öffentliche Arbeiten wie Kanäle, Aufforstung, Bezwingung der Wüste, Wegebauten usw. durchführen.561 Er wird auch den Austausch von Erzeugnissen zwischen den Phalangen in den verschiedenen Gebieten und Klimata koordinieren und über wachen : „il en serait le haut régulateur industriel“.562 Diese werden alle wirtschaftliche, kulturelle und erzieherische Angelegenheiten sein, während Politik im alten Sinne kaum einen Platz in dem neuen universalen System haben wird; keine Armee, keine Polizei, keine Despotie und Usurpation der Macht, keine Kriege, keine Unruhen. Die Verhandlungen des Kongresses werden die individuelle Kommune, die die Grundeinheit, das „atelier social“ ist, nicht verpflichten. Es darf jedoch angenommen werden, dass die Ansichten anerkannter und vertrauenswürdiger Fachleute großes Gewicht haben werden. Außerdem wird ein solcher Kongress, dessen Mitglieder von Leuten gewählt werden, die jeden Einzelnen in ihrer eigenen Phalange sehr gut kennen, natürlich eine viel demokratischere Versammlung bilden als die repräsentativen Körperschaften von heute, deren Mitglieder von Leuten gewählt werden, die sie nie gesehen oder von denen sie kaum gehört haben: Der Mensch wählt, wie die Partei es ihm vorschreibt. Wahre Demokratie wird nur möglich durch „bonne organisation de l’élément social, de la commune“,563 und nicht durch Regierungsmaßnahmen. Es gibt einerseits eine selbstgenügsame kleine direkte Demokratie und andererseits eine lose Föderation von freien, autonomen Kommunen. Da jede Zentralisation ausgeschlossen ist, besteht keine Gefahr eines despotischen Regierens. Und wie steht es mit der Organisation, die schließlich einen der Hauptzüge der Phalange bildet und mit ihren Bienenstockrealitäten dazu geeignet ist, jenes persönliche Leben, das immer als das Salz der Freiheit angesehen wird, zu zerstören ? Considérants Antwort lautet, erstens werde das „régime sociétaire“ derart zahlreiche und ausgedehnte Möglichkeiten bieten, die individuellen Geschmacksrichtungen, Neigungen und Idiosynkrasien zu berücksichtigen, dass im Vergleich dazu das Leben in der Zivilisation verkümmert erscheinen werde.564 Zweitens werde „précision mécanique et [...] parfaite régularité“565 zu vollkommener Freiheit des Einzelnen führen. Ist es nicht besser, alle unsere Stunden festgelegt, geordnet und bekannt zu finden ? „À la plus grande précision des mouvements, à la plus exacte punctualité des affaires, à la plus parfaite mécanisation des choses correspondra la plus grande liberté de l’individu.“566 561 562 563 564 565 566

Ebd., S. 25. Ebd., S. 26. Ebd., S. 32. Vgl. ebd., S. 366–368. Ebd., S. 544. Ebd.

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Wir haben bereits gesehen, dass es für Fourier völlig irrelevant ist, auf welche Weise die Phalange zustande kommt, ob durch die Freigebigkeit eines Philanthropen, durch die gemeinsame Bemühung von Einzelpersonen oder durch Regierungsinitiative. Gewaltanwendung ist jedenfalls ausgeschlossen. Es war absolut sicher, dass der Erfolg der ersten Versuchsphalange alle Länder mitreißen und die Schaffung von Phalangen in der ganzen Welt her vorrufen würde, bis die Erde ein einziges Netz von Phalangen sein würde. Wir beabsichtigen nicht, den besonderen vorbereitenden Zügen der ersten Pioniersphalange nachzuspüren. Es ist auch nicht wichtig für uns, bei der Kooperation als Zwischenstadium auf dem Wege von der Zivilisation zu vollständigem „harmonisme“ zu ver weilen. Kommunale Banken, die Kredite zugunsten der Produzenten mobilisieren sollten, Ausmerzung von Zwischenhandel und Wucher, kooperative Produktion, Vermarktung und Konsumtion sollten das Prinzip des „garantisme“ auf dem Weg zum „harmonisme“ ver wirklichen, falls die Deus - ex - machina - Hoffnungen auf einen plötzlichen Wandel unerfüllt blieben.567 Und dies ist Fouriers Vision vom endgültigen Zustand : „Beim Anblick dieses Märchenlandes der Assoziation, dieser Harmonien, dieser Wunder, dieses Meeres von Freuden, die einfach durch Anziehung oder göttlichen Impuls geschaffen wurden, werden wir einen Taumel der Begeisterung für Gott, den Urheber einer so schönen Ordnung, erwachen sehen; und die schändliche Zivilisation wird den Fluch der Allgemeinheit auf sich ziehen. Ihre Bibliotheken der Politik und Moral werden im ersten Moment des Zorns angespuckt und zerrissen und den niedrigsten Ver wendungen zugeführt werden, bis sie neu gedruckt mit kritischem Kommentar neben dem Text erscheinen, um sie zum dauernden Gespött des Menschengeschlechts werden zu lassen [...]. So sind die fortschrittlichen Serien in ihrer Arbeit : Jedes Hindernis verschwindet vor dem großen Stolz, der sie beherrscht; sie würden ärgerlich werden über das Wort ‚unmöglich‘, und die schwersten Arbeiten, wie etwa die Bearbeitung des Bodens, sind für sie wie der leichteste Sport. Wenn wir heute [...] in der frühen Morgendämmerung sehen könnten, wie dreißig geschäftige Gruppen im Paradeaufzug aus dem Palast der Phalange ausrücken, mit wehenden Bannern und ungeduldigen Triumphrufen, würden wir denken, wir sehen Gruppen von Verrückten, die darauf aus sind, einen Nachbarbezirk dem Feuer und Schwert zu überliefern. So werden die Athleten sein, die die Stelle unserer gedungenen und schwachen Arbeiter einnehmen und die Ambrosia und Nektar auf einem Boden werden wachsen lassen, der den schwachen Händen der Zivilisierten nur Erträge von Dornen und Unkraut liefert.“568 567 568

Vgl. Gide ( Hg.), Selections, S. 132 ff., 187 ff. Gide ( Hg.), Selections, S. 168–170.

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„La paix descendue sur la terre sèmerait de l’or, des fleurs et des épis; les peuples s’y donneraient la main et travailleraient de concert à l’exploitation et à l’embellissement de leur globe“ ( Considérant ).569 Es erübrigt sich, auf den kläglichen Fehlschlag der Phalangen, die von Fouriers Schülern versucht wurden, näher einzugehen; nur nebenbei sei bemerkt, dass sie sich aus etwas niedrigeren sozialen Schichten zusammensetzten als die saint - simonistische Schule, nämlich aus der niederen Intelligenz und dem Kleinbürgertum. Wir haben uns absichtlich etwas ausführlicher auf die Analyse des spekulativen Teils des Fourierismus und auf die Beschreibung der organisatorischen Seite der utopischen Gemeinschaft eingelassen. Nachdem wir dem Urbild so viel Aufmerksamkeit gewidmet haben, können wir auf die anderen Utopien jener Zeit verzichten. Es ist leicht, Fourier mit der Bemerkung abzutun, er sei zu albern oder zu unsinnig, um sich mit ihm zu befassen. Doch finden wir – wie bereits im Anfangsabschnitt angedeutet – hinter einer Fassade von überspannten Wahnvorstellungen und unwirklichen Rokokostrukturen Probleme, die in unserem Zeitalter der Automatisierung, der Elektronengehirne und riesigen unpersönlichen Organisationen sowie des individuellen und sozialen Unbehagens zu höchster Bedeutung gelangt sind. Dass Fouriers Lösung der Dichotomie von Freiheit und Organisation in einem langweiligen ( wenn auch vergnügten ) Bienenstock besteht, ist äußerst betrüblich. Es zeigt jedoch wieder einmal die Unvereinbarkeit von Liebe zur Freiheit und Sehnsucht nach Erlösung. Die Fourieristischen Lehren stehen zur Sozialwissenschaft in der gleichen Beziehung wie die Alchemie zur Chemie, die Astrologie zur Astronomie, der Mythos zur Wissenschaft, die vorsokratischen Spekulationen zu den Systemen Platons und Aristoteles’. Wir legen riesige Strecken in kürzester Zeit nicht auf den Rücken von „Anti - Löwen“ zurück. Wir tun es in Flugzeugen.

569

Considérant, Destinée sociale, Band 1, S. 25.

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III. Die tota li tär - demo kra ti sche kom mu nis ti sche Revo lu ti on : fran zö si scher Kom mu nis mus vor 1848 Die Analyse von Ideen in diesem Kapitel ist mehr darauf gerichtet, eine Geisteshaltung, eine Stimmung zu rekonstruieren und die Wirkung eines Glaubens zu übermitteln, als eine kritische Bewertung von Theorien vorzunehmen. Der französische Kommunismus vor 1848 kann kaum ein Buch aufweisen, in dem seine Doktrin systematischen Ausdruck gefunden hätte. Buonarrotis Histoire de la conjuration pour l’égalité, dite de Babeuf ist eine theoretische Abhandlung; und es würde schwerfallen, Dézamys 1842 erschienenen Code de la communauté, der das ehrgeizigste literarische Unterfangen eines kommunistischen Schriftstellers der beiden Jahrzehnte vor der Februarrevolution darstellt, als philosophischen Kanon zu klassifizieren, obwohl Théodore Dézamy von Marx mit Bezeichnungen wie „wissenschaftlicher Sozialist, Materialist und wirklicher Humanist“ bedacht wurde.570 Die Broschüren von Pillot, die Abhandlungen und historischen Schriften von Laponneraye, die wenigen Artikel von Blanqui, die vor 1848 erschienen, die kurzlebigen Zeitschriften wie der heftige „Moniteur Républicain“, „La Lanterne“, „Humanitaire“, „Fraternité“, „Intelligence“ und andere, deren Existenz selten das Erscheinen von zwei oder drei Nummern überdauerte, die Manifeste und Flugblätter und sogar die riesige, aber unsäglich langweilige Produktion

570

Es gibt sehr wenige Untersuchungen über das eigentliche Thema : Morange, Les idées communistes; Stein, Der Socialismus und Communismus des heutigen Frankreichs; einige Informationen sind enthalten in : Tchernoff, Le parti républicain; Sencier, Le Babouvisme après Babeuf; ausschließliche Behandlung von Blanqui findet sich in : Dommanget, Les Idées politiques; ders., Blanqui; Spitzer, The Revolutionary Theories of Louis Auguste Blanqui; Molinier, Blanqui; über Cabet : Prudhommeaux, Icarie et son fondateur; Angrand, Etienne Cabet et la République de 1848; außer den im Text erwähnten Zeitschriften wurden die folgenden Schriften von Cabet benutzt: Cabet, Voyage en Icarie; ders., Mon credo communiste; ders., Comment je suis communiste; ders., Ma ligne droite; ders., Douze lettres. Andere Schriften : Dézamy, Code de la communauté; ders. ( Hg.), Almanach de la communauté; ders., Organisation de la liberté; Pillot, Ni châteaux; ders., La Communauté n’est plus une utopie; ders., Histoire des Égaux; Laponneraye, Catéchisme démocratique; ders., Mélanges d’économie sociale. Das bedeutendste Werk von Blanqui ist seine „Critique sociale“, eine Sammlung von Schriften, die Blanqui selbst 1872 zusammenstellte. Wichtigere zeitgenössische Quellen : La Hodde, Histoire des sociétés secrètes; Bouton, Profils révolutionnaires, insbesondere der letzte Teil : „Les communistes“; Thoré, La Vérité.

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von Cabet liefern uns weder einzeln noch zusammen eine kohärente Stellungnahme. Ihre Verfasser waren mehr Agitatoren als Schriftsteller.

1. Klassenkampf Bei all ihrem Mangel an intellektuellem Rüstzeug und literarischem Schliff sprachen die kommunistischen Schlagworte, Anschuldigungen und Überschwänglichkeiten dennoch schon deshalb unmittelbarer zu einem Arbeiterpublikum, weil sie in gewissem Maße auch von ihm inspiriert waren. Heine betonte bereits in seinen Briefen aus Paris, dass die kommunistische Propaganda sich einer universalen Sprache bediente, deren Elemente so einfach sind wie Hunger, Neid, Tod, und auf diese Weise an die primitivsten menschlichen Empfindungen appellierte.571 Hierin drückt sich eine Einstellung von Ad- hominem - Radikalismus aus, wie Marx sie seinen Anhängern einschärfte. Doch war diese Propaganda auch dazu angetan, eine mächtige Wirkung auszuüben auf die große Zahl derer, in denen die Überlieferung der Revolution noch lebendig war. So sagt Thoré in La Vérité sur le parti démocratique: „Das Volk wird seinen revolutionären Instinkt niemals aufgeben. Es ist revolutionär, bevor es theoretisch ist. Es handelt mehr aus Gefühl als einer Idee gehorchend.“572 Bei aller Unreife der Beweisführung und Ungeschliffenheit des Ausdrucks gehen aus dieser Literatur gewisse massive Gefühle und Einsichten her vor, die bei genauerer Analyse manchmal wie embryonale Intuitionen der so ungleich feiner differenzierten und stärker systematisierten Ideen von Marx und Engels anmuten. Als Erstes fällt dem Leser dieser kommunistischen Literatur das intensive Bewusstsein der allumfassenden Realität des Klassenkampfes auf. Aber sie ist mehr als eine bloße Gegenüberstellung der Schlechtigkeit der ausbeutenden Klassen und des Elends der Unterdrückten. Mit Beharrlichkeit wird der Überzeugung Ausdruck verliehen, irgendwie sei die Bourgeois - Klassenherrschaft seit der Französischen Revolution schlimmer, empörender und unerträglicher als die Klassenbedrückung vor 1789. Warum ? Die herrschenden Stände der feudal - klerikalen Ordnung glaubten an ein Gottesgnadentum und erbliches Privileg, und in gewissem Sinne glaubten auch die ausgebeuteten Massen daran. Die Bourgeoisie jedoch stellte sich gegen die Lehren vom Gottesgnadentum und gründete ihre Herrschaft auf die Menschenrechte, auf Freiheit und Gleichheit, auf die Volkssouveränität.573 571 572 573

Vgl. Morange, Les idées communistes, S. 157 f. Thoré, La Vérité, S. 28. Vgl. Pillot, La Communauté, S. 31; ders., Ni châteaux, S. 25.

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Mit welchem Recht nehmen sie jetzt der über wiegenden Mehrzahl der Nation ihren Anteil an der Volkssouveränität – das Wahlrecht ? Unter welchem Rechtstitel versperren die unterdrückenden Gesetze gegen die Presse und gegen Rede - und Versammlungsfreiheit jede Möglichkeit einer Änderung der Gesellschaftsordnung auf friedlichem Wege ? Wer spricht von Gewaltenteilung, von einem System der Hemmnisse und des Gleichgewichtes, der „checks and balances“, um tyrannische Konzentration unkontrollierter Macht zu verhindern ? Die zweihunderttausend privilegierten Wähler, die sich das „demokratische Element“ nennen, stellen die gesetzgebende Macht dar, sie liefern die Anwärter für die Exekutivgewalt, sind die Richter, dienen als Offiziere in der Armee, bilden die Nationalgarde. Sie sind nicht lediglich die alleinigen Leiter und Eigentümer von allem, was es in Frankreich gibt, sondern sie erlassen Gesetze und stimmen für die Budgets, die den Massen die ganze Steuerlast aufbürden – Verbrauchssteuern, Monopole, Fiskalzölle, Schutzzölle –, damit die reichen Nichtstuer außer dem Mehr wert, den die Arbeiter für sie erzeugen, auch ihre Sinekuren von den Armen bezahlt bekommen.574 Mit den Worten Blanquis : Das parlamentarische System, „la marmite représentative; cette pompe aspirante et foulante qui foule la matière appelée peuple“ stellt eine bis an ihre äußersten Grenzen gestreckte Theorie der Korruption dar und bildet eine Camouflage für einen Zustand, der nichts weiter ist als „une gendarmerie des riches contre les pauvres“, und das Gesetz – „l’expression de la volonté du plus fort“.575 Kurz, der Staat sei nichts als ein System von Maßnahmen, die dazu bestimmt sind, die Massen daran zu hindern, ihre Wünsche zu äußern und Gehör für ihre Beschwerden zu finden. Es bestehe der Zustand eines latenten Bürgerkrieges. Und die Bourgeoisie selbst habe schließlich ihre Herrschaft auf dem Wege der Revolution erlangt. Sie berief sich auf das Recht des Widerstandes gegen Unterdrückung und des Aufstandes gegen eine gesetzlich konstituierte, in Wirklichkeit tyrannische Regierung. Sicherlich sei das Proletariat jetzt gegenüber der Bourgeoisie in der gleichen Lage, in der 1789 der Dritte Stand gegenüber den oberen Ständen war. Als Blanqui 1832 vor Gericht erschien und auf die Frage nach seinem Beruf hartnäckig dieselbe Antwort wiederholte : „prolétaire, der Beruf von dreißig Millionen Franzosen“,576 erklärte er, er sei sich bewusst, dass er nicht einem Gerichtshof, sondern Feinden gegenüberstehe; nicht Richtern und seinesgleichen, sondern Gegnern. Er appelliert an das ritterliche Gefühl der Richter,

574 575 576

Vgl. Pillot, Ni châteaux, S. 25; Blanqui, Défense du citoyen, S. 6 f., 9. Dommanget, Blanqui, S. 52. Vgl. auch Tchernoff, Le Parti républicain, S. 345 ff. Ebd., S. 4.

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indem er sie daran erinnert, dass er ein entwaffneter Gefangener in den Händen von Siegern sei.577 Zwei Welten ringen miteinander um Leben und Tod, und sie stellen völlig entgegengesetzte Werte dar. Dieselben Worte bedeuten für sie verschiedene Dinge : Was für die eine Seite Mäßigung, Freiheit und Pflicht ist, bedeutet für die andere Erdrosselung, Sklaverei und Eigennutz. „Ce sont deux conceptions de la société, diamétralement contraires. Ce qu’est vertu pour l’une, est crime aux yeux de l’autre. Le démenti respond à l’affirmation, la malédiction à l’appauvrissement, le panégyrique à l’anathème.“578 Es sei sinnlos, im Namen der Freiheit oder der Demokratie an die herrschenden Klassen zu appellieren. Demokratie bedeute für sie Oligarchie, und Freiheit – die Freiheit zu versklaven, auszubeuten oder „la liberté des grandes existences“.579 Blanqui hatte nie viel Vertrauen in eine Anrufung der Moral, in die natürliche Güte des Menschen, in die Politik als eine Debatte über allgemein anerkannte angeborene Menschenrechte. Mit der Zeit unterlag der ewige Gefangene und verbitterte Verschwörer einer Art sozialem Dar winismus. Eine allgemeine Usurpationssucht treibe den Starken und den Schwachen bis an die Grenze ihrer Kräfte. Missbrauch sei unvermeidlich, solange er nicht unmöglich gemacht werde. Man könne niemandem trauen, denn der Unterdrückte von heute warte nur auf die Gelegenheit, der Unterdrücker von morgen zu werden. „Le pouvoir est oppresseur par nature.“580 Dem Erwerbsinstinkt werde es nie an geschickten Argumenten mit „objektivem“ Anspruch fehlen. Es gebe daher keine andere Sicherheit, als die Kräfte aller einander gleichzumachen, damit sie sich gegenseitig im Zaume halten. „La fraternité, c’est l’impossibilité de tuer son frère.“581 Es sei ganz sinnlos, reiche Monopolisten aufzufordern, aus Gründen der Gerechtigkeit ihre Privilegien aufzugeben. Was hätten die Adligen vor 1789 auf eine unter würfige Bitte, ihre feudalen Vorrechte aufzugeben, erwidert? Sie hätten ein derartiges bürgerliches Ansuchen als eine Unverschämtheit behandelt.

577 578 579 580 581

Vgl. ebd., S. 5. Dommanget, Blanqui, S. 56. Blanqui, Critique sociale, Band 1, S. 188. Blanqui, Critique sociale, Band 2, S. 99. Ebd., S. 98.

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2. Zwei Formen der Demokratie – die bürgerliche und die Volksdemokratie Den besitzenden Klassen komme es nicht wirklich in erster Linie auf Prinzipien an. Sie berufen sich auf sie bei der Rationalisierung ihrer Interessen, um ihre Monopolmacht zu verteidigen. Überdies sei ihre Beherrschung der Wirtschaft stark genug, um die Massen an der Ausübung ihrer demokratischen Rechte zu hindern und sie unwirksam zu machen, falls etwa eines Tages das Wahlrecht auf die Armen ausgedehnt werden sollte. Der Kampf müsse daher auf zwei Fronten gleichzeitig : der politischen Reform und der sozialen Rechte, geführt werden. Die beiden seien durchaus untrennbar voneinander. Die Klassenunterdrückung werde nicht durch den Stimmzettel abgeschafft werden, sondern dadurch, dass der Bourgeoisie ihre wirklichen Machtinstrumente, nämlich die wirtschaftliche Vorherrschaft, entwunden werden. Die Proletarier werden nicht durch den Besitz des Wahlrechtes frei werden, sondern durch soziale Garantien und Gleichheit. Daher werden diejenigen, die den Kampf des Volkes auf rein politische Forderungen beschränken wollen, absichtlich oder unabsichtlich zu Komplizen des Regimes der Ausbeutung. Mit den Worten Dézamys : „La question aujourd’hui est nettement posée. L’égalité ou l’inégalité; [...] droit divin d’un côté, le communisme de l’autre : entre ces deux systèmes point de milieu !“582 Daher die Unterscheidung zwischen zwei Erscheinungsformen der Demokratie. Auf der einen Seite „réformistes exclusivement politiques [...] les démocrates sans système, démocratie bourgeoise“, und auf der anderen die wahren Demokraten. In „L’Intelligence“ vom August 1838 bezeichnet Laponneraye die falschen Demokraten als diejenigen, die Demokratie für vereinbar mit Monarchie halten und die Herrschaft der Bourgeoisie über eine versklavte Arbeiterklasse billigen, und in zweiter Linie, einen fortschrittlicheren Flügel darstellend, diejenigen, die zwar theoretisch beides ablehnen, jedoch nicht bereit sind, für eine vollständige Emanzipation des Proletariats und für eine auf Gleichheit gegründete Gesellschaftsordnung zu kämpfen.583 Hingegen wollen die wahren Demokraten die Volkssouveränität voll und ganz, die Befriedigung aller sittlichen, geistigen und materiellen Bedürfnisse der Massen, eine politische Reform zuerst und danach eine soziale, denn diese kann nur eine Folge der ersteren sein; und es wäre ebenso absurd, an eine soziale Reform ohne eine politische Reform zu denken, wie es den wahren Prinzipien der Demokratie widerspricht, eine politische Reform ohne eine

582 583

Dézamy, Code de la communauté, S. 246. Vgl. auch ebd., S. VI. Laponneraye, Catéchisme démocratique, S. 11 ff.

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soziale zu wollen. „Ce que veulent les vrais démocrates enfin, c’est le nivellement de toutes les existences et l’anéantissement de toutes les exploitations.“584 Die Spaltung in zwei Erscheinungsformen der Demokratie wird zurückverfolgt auf den Konflikt im Jahre 1793 zwischen den Girondisten, „gentilshommes républicains [...] les hommes de leur époque“, und den Montagnards, „les précurseurs de la démocratie future“, „la partie puritaine de la Convention“, mit Dézamys Worten, Vorläufer der „démocratie populaire“.585 Tatsächlich geht die Spaltung noch weiter zurück auf den Konflikt zwischen Voltaire und Rousseau. Der Erstere verkörpert Egoismus, Sichgehenlassen, während der Letztere das lebhafte Gefühl menschlicher Solidarität und die tiefe Überzeugung zum Ausdruck bringt, dass es keine Freiheit geben könne ohne Gleichheit und ohne das Recht jedes Menschen auf Glücklichsein. Ein System der Gleichheit setze eine einheitliche Regierungsform voraus – „Einheit der Handlung, der Produktion, der Konsumtion : [...] Einheit des Ziels; [...] der Leitung und Verteilung.“586 Die Väter von 1793 seien zu einer zentralisierten Regierungsform der Einheit entschlossen gewesen. Doch sie wollten oder konnten nicht über politische Einheit und administrative Zentralisation hinausgehen. Darum seien ihre Ideen wirr und unvollständig geblieben, und darum seien sie sogar in ihrem politischen Bemühen gescheitert.587 „C’est qu’elle n’avait pas osé extirper de l’arbre du fédéralisme et du monopole ses racines les plus dangereuses; c’est qu’elle n’était pas parvenu à s’asseoir sur une base radicalement populaire, [...] démocratie réelle et complète.“588 Dem egalitären politischen Gebäude fehlte die Basis der sozialen Einheit : „l’identification indissoluble de tous les intérêts et de toutes les volontés, la communauté pleine et entière de tous les biens et de tous les maux“.589 Gemeinschaftseigentum müsse zusammengehen mit einer Gemeinsamkeit von Gedanken und Gefühlen, um die Wiederkehr unsozialer Triebe und Tendenzen zu verhindern. Dézamy setzt sich mit Ledru - Rollin auseinander wegen dessen Erklärung, wenn das Volk erst das allgemeine Wahlrecht für sich gesichert habe, würde keiner das Recht haben, sich darüber zu beklagen, dass er unglücklich sei.590 Es genüge nicht, die Stimmzettel zu zählen, selbst wenn alle gewählt haben. Die Abstimmung müsse dem entsprechen, was wissenschaftlich und 584 585

586 587 588 589 590

Laponneraye, Mélanges d’économie sociale, Band 2, S. 177, 180–184. Vgl. Dézamy, Code de la communauté, S. 235; Lanterne du Quartier latin, Februar 1847, Nr. 2. Vgl auch Thoré, La Vérité, S. 20; De la Hodde, Histoire des sociétés secrètes, S. 315. Dézamy, Code de la communauté, S. 235. Vgl. ebd., S. 11, 235. Ebd., S. 235. Ebd., S. 11. Vgl. ebd., S. 250 f.

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objektiv wahr und vom Standpunkt der sozialen Moralität gerecht sei. Es müsse eine „adhésion“ sein und nicht lediglich ein „assentiment“.591 Die objektive Gültigkeit der Entscheidung, soweit sie die politische Einheit zu fördern strebe, werde bestimmt durch den Ausdruck des wahren Allgemeinen Willens, nicht durch eine mechanische Summierung der Stimmen. Kurz, mit den Worten Laponnerayes, die formalen Demokraten, die vor der egalitären Gütergemeinschaft und der Einheit des Geistes haltmachen, müssen zur selben Kategorie gezählt werden wie die Verteidiger des Systems der Ausbeutung und der Herrschaft des Menschen über den Menschen. „Car quiconque n’est avec le peuple, est contre le peuple.“592 Nichtkommunistische Demokraten oder Linke wie Lamennais, Michelet oder Lamartine werden als verhinderte Kommunisten hingestellt, trotz ihrer Absage an den Kommunismus. Ihre Proteste werden mit Nachsicht behandelt oder als Inkonsequenz oder Zurückhaltung abgetan, insbesondere, wenn ihnen ihre eigene leidenschaftliche Verurteilung zeitgenössischer sozialer Übel und die nicht weniger flammenden Prophezeiungen einer allgemeinen Erneuerung und sozialen Harmonie gegenübergestellt wurden. Denn was anderes als Kommunismus können sie meinen ? Sie sind geeint in ihrer Verteidigung der Menschenrechte, ergo erkennen sie das Recht auf Leben, auf Glück an, und daher auf Arbeit und soziale Garantien seitens der Gesellschaft. Die von allen so sehr gepriesene Freiheit bedeute Unabhängigkeit von allen, außer vom Staat. Sie setzt daher Gleichheit voraus.593 Gleichheit bedeute gleichen Anteil an allem, daher die Abschaffung des Privateigentums; folglich Kommunismus. Auf den Einwand, dass ungleiche Befähigung, Vorurteile und Eigennutz gegen kommunistische Gleichheit sprechen, sind die Kommunisten wieder in der Lage, mit den Prämissen zu antworten, zu denen ihre Gegner sich bekennen. Ist nicht Condorcets Beschreibung der Geschichte die eines unaufhörlichen Fortschritts bis zur vollen Rationalität des Menschen, die in einem Regime der vollsten möglichen Gleichheit folgen würde ? Die grundlegende Annahme ist hier natürlich der Glaube des Philosophen aus dem achtzehnten Jahrhundert an die Ver vollkommnungsfähigkeit des Menschen als eines mit der „Fähigkeit zu sympathischem Mitgefühl und Zusammenarbeit“ begabten Geschöpfes der Vernunft. Daher die ungeheure Bedeutung, die der Erziehung und Gesetzgebung beigemessen wird. Denn Laster, Verbrechen, Eigennutz seien nicht untrennbare Teile der menschlichen Natur, sondern ein übler Auswuchs durch schlechte Bedingungen.594 „Der 591 592 593 594

Ebd., S. 250. Laponneraye, Catéchisme démocratique. Vgl. Cabet, Histoire populaire, Band 4, S. 328 ff. Prudhommeaux, Icarie et son fondateur, S. 114 f., 152.

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Mensch“ – sagt Laponneraye – „ist tugendhaft oder verbrecherisch je nach dem Milieu, in dem er lebt.“595 Die Gesetzgebung, glaubt Dézamy, habe die Macht, die Leidenschaften „faire converger, à son gré, au malheur ou au bonheur commun“.596 Das ist natürlich wiederum Begleitumstand der rationalistisch - liberalen Voraussetzung von der grundlegenden und daher auch letztlichen Interessenharmonie als Ergebnis der im Wesentlichen sozialen Beschaffenheit des Menschen einerseits und der Natur des Tauschmechanismus und der Arbeitsteilung andererseits. Denn die Verneinung der Möglichkeit eines Ausgleichs zwischen dem persönlichen und dem allgemeinen Interesse, zwischen Unabhängigkeit und Pflicht, Freiheit und Tugend, würde uns zu der Annahme eines permanenten Konfliktes als Frucht der Erbsünde zurückbringen und damit zu dem resignierten Eingeständnis, dass es der Menschheit unmöglich sei, sich je aus eigener Kraft zu erlösen. Die Kommunisten bekämpfen so ihre Gegner gleichsam auf deren eigenem Boden. Nur bekennen sie nicht lediglich zu wissen, was sie zurückweisen und welche Art Werte sie ver wirklicht sehen möchten, sondern sie sind des positiven Ziels, seiner absoluten Gültigkeit, ja Zwangsläufigkeit unerschütterlich gewiss. Cabet, für den „Demokratie und ‚communauté‘ synonym sind“ auf Grund seiner Überzeugung, dass es „unmöglich wäre, Demokratie ohne communauté zu ver wirklichen und zu organisieren [...], association égalitaire, fraternelle, unitaire“, ist der unreifste und naivste Optimist in seiner Erwartung eines vollständigen Ausgleichs zwischen individueller Selbstentfaltung und sozialer Bindung.597 „Nulle difficulté de concentrer, de diriger tout, de tourner toutes les volontés et toutes les actions à la même règle, à la même discipline.“598 Cabet ermüdet den Leser mit seiner Ver werfung von Gewaltanwendung als Mittel zur Herbeiführung des Kommunismus, mit seiner Her vorhebung von Überredung, friedlicher Beweisführung und freier Diskussion als unfehlbare Mittel. Dabei kann er keine Inkonsequenz in der Befür wortung einer provisorischen Diktatur sehen, wenn das Volk erst als reif dafür gelten könne. Dieser provisorischen Diktatur würde die Aufgabe der Umerziehung zufallen, unterstützt durch die offizielle Zeitung, die von einer Kommission von fünf volkstümlichen Schriftstellern herausgegeben und in Millionen von Exemplaren gratis verteilt werden sollte.599 In gewissem Sinne ist Cabets Ablehnung von Gewaltmaßnahmen ein Maßstab für seinen fanatischen Glauben an den unvermeidlichen Sieg des Kom-

595 596 597 598 599

Laponneraye, Catéchisme démocratique, S. 12 f. Dézamy, Code de la communauté, S. 115. Cabet, Ma ligne droite, S. 33, 41. Tchernoff, Le Parti républicain, S. 334. Vgl. Cabet, Voyage en Icarie, S. 341 f., 564 f.

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munismus als Verkörperung der Vernunft und Freiheit. Denn er schließt ganz ruhig jede Möglichkeit einer Opposition gegen die siegreiche kommunistische Doktrin aus.600 „Il faut de toute nécessité que la société concentre, dispose et dirige tout; il faut qu’elle soumette toutes les volontés et toutes les actions à sa règle, à son ordre et à sa discipline.“601 Angesichts des siegreichen Kommunismus „wird man einsehen, dass jede blinde Leidenschaft für die Freiheit ein Irrtum ist, ein Laster und schweres Übel, geboren aus dem wilden Hass der (der Vergangenheit angehörenden ) Despotie und Sklaverei“,602 und dass sie unter der neuen Ordnung keinen Sinn mehr hat. Freiheit, sagt er weiter, ist weder Zügellosigkeit noch Anarchie und muss in jedem Fall eingeschränkt werden, in dem das durch Volksentscheid zum Ausdruck gebrachte Interesse der Gesellschaft es erfordert.603 „Freiheit ist nichts als das Recht, das zu tun, was nicht von der Natur, Vernunft und Gesellschaft verboten ist, und ( die Pflicht) zu unterlassen, was nicht von ihnen geboten wird.“604 Es gebe nur den einen Willen des einen Volkes, der mit der Vernunft und der Natur gleichzusetzen sei. Und es gebe keinen Grund, warum die Gesellschaft nicht „unitairement comme l’armée, de manière qu’il n’y eût qu’un [...] peuple de soldats“605 organisiert sein solle. Dézamy bevorzugt das Bild eines Bienenstocks. Cabet ist so sicher, dass es nur den einen wahren Volkswillen gibt, dass er vorschlägt, alle Urversammlungen aller Departements und Kommunen am gleichen Tag, zur gleichen Stunde einzuberufen, damit das Volk seinen Willen kundtue, „als ob es eine einzige Person wäre“.606 Und wenn Entscheidungen durch allgemeine Abstimmung und mutmaßlich einstimmig erfolgen, könne niemand sich über Unterdrückung beklagen. Es wäre, als ob man sich darüber beklagte, durch die Mathematik oder die Vernunft gezwungen zu werden. Die kommunistischen Schriftsteller beantworten den Einwand der individuellen Menschenrechte dadurch, dass sie das Individuum gegen den Individualismus verteidigen. Blanqui, Dézamy und andere warfen dem Individualismus vor, er habe während der ganzen Geschichte „assassiné en permanence la liberté de l’individu“.607 Der Individualismus, fahren sie fort, ist die Hölle des Indi600 601 602 603 604 605 606 607

Cabet, Voyage en Icarie, S. 404 f. Prudhommeaux, Icarie et son fondateur, S. 155. Cabet, Voyage en Icarie, S. 404; Prudhommeaux, Icarie et son fondateur, S. 155. Vgl. Cabet, Voyage en Icarie, S. 405; Cabet, Le Démocrate devenu communiste, S. 17; Prudhommeaux, Icarie et son fondateur, S. 155. Cabet, Voyage en Icarie, S. 404; ders., Mon crédo, S. 7; Tchernoff, Le Parti républicain, S. 334; Prudhommeaux, Icarie et son fondateur, S. 155. Cabet, Douze lettres, S. 27. Ebd., S. 28. Blanqui, Critique sociale, Band 1, S. 188; Tchernoff, Le Parti républicain, S. 350.

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viduums. Er ist auf systematischer Zerstörung des Individuums begründet.608 Wiederum mit den Worten Blanquis : „l’immolation des individus est toujours en raison directe de la prépondérance de l’individualisme. Il signifie à leur égard extermination, et communisme implique respect, garantie, sécurité des personnes.“609 Dézamy, dem die Unsicherheit, die Rastlosigkeit, das Elend, die Vergeudung und die Qual, die durch individualistische Konkurrenz und die Wechselfälle des Schicksals erzeugt werden, auf das Schmerzlichste bewusst zu sein scheinen, preist den Kommunismus als Garantie gegen Zufall, Einsamkeit, Ungleichheit und Minder wertigkeit jeder Art und als die Form der Assoziation, die alle Begabungen aktiviert, alle Fähigkeiten stärkt, alle Möglichkeiten mit Energie versieht, indem sie alle Kräfte in ein harmonisches Ganzes einspannt.610 „Communauté est le mode d’association le plus naturel, le plus simple et le plus parfait; [...] le moyen unique et infaillible de lever tous les obstacles qui s’opposent au développement du principe social, parce qu’il donne satisfaction à tous les besoins, essor légitime à toutes les passions.“611 Es sei in dieser Beziehung ganz überflüssig und sogar falsch, an den Opfergeist und die Ergebenheit des Einzelnen zu appellieren, um den Kommunismus ans Ruder zu bringen. In erster Linie, weil wir im kommunistischen System ganz sicher jede Art von Befriedigung erlangen werden. Zweitens, weil wir alle von einem ursprünglichen Drang getrieben werden, Liebe zu spenden und zu empfangen, und von einem mächtigen sozialen Impuls, unseren Geist und unsere Herzen sich ausdehnen und miteinander verschmelzen zu lassen.612 „Un échange de secours [...] pour obéir aux lois de la nature et réaliser intégralement le principe de l’association. [...] La vertu n’oblige point à se sacrifier: elle consiste en cela que la somme totale de nos passions soit tellement conforme à l’intérêt public qu’on soit toujours nécessité à bien faire.“613 Und was die Verschiedenheit von Begabung und Fähigkeiten betreffe, so sei der Gesellschaftsvertrag im Geiste Rousseaus geschlossen worden, um den Folgen der natürlichen Ungleichheit entgegenzuwirken. Welche Gründe hätten die Menschen gehabt, in einen solchen Vertrag einzutreten, wenn sie ungleich bleiben und die Folgen der Ungleichheit auf immer tragen sollten ? Viele der Ungleichheiten, die wir in der Welt antreffen, seien im Grunde auf ungleiche Bedingungen zurückzuführen. Ganz abgesehen davon, dass verschie608 609 610 611 612 613

Vgl. Blanqui, Critique sociale, Band 1, S. 188 f.; Band 2, S. 68 f., 75. Blanqui, Critique sociale, Band 2, S. 69. Siehe auch Tchernoff, Le Parti républicain, S. 356. Vgl. auch Lefuel, L’individualisme et communisme, S. 8–11. Vgl. Dézamy, Code de la communauté, S. III–VI ( Introduction ). Dézamy, Code de la communauté, Einleitung, S. 11. Vgl. ebd., S. 110–116. Ebd., S. 14, 116.

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dene Töne nötig seien, um Harmonien zu erzielen, schulden außerdem Menschen von überlegener Begabung der Gesellschaft mehr, weil sie von der Natur, vergangenen Generationen und ihrer Umwelt mehr bekommen haben als andere. Sie sollten nicht weitere Belohnung und Bevorzugung erwarten, die die Ungleichheit verstärken würden, sondern sich eher bemühen, den weniger vom Schicksal Begünstigten mehr zu geben.614 Wir finden viel schroffere Töne in anderen kommunistischen Veröffentlichungen jener Zeit. So sagt Pillot brutal, widerspenstige Einzelne sollten behandelt werden wie Insassen der Irrenanstalt Bicètre, die sich weigern, eine Dusche zu nehmen.615 Der extreme „Moniteur Républicain“ sagt kurz und bündig : „Wir glauben, dass die Gesellschaft alles ist, der Einzelne nichts [...] der Einzelne hat gewisse Rechte, jedoch nur, nachdem er seine Pflichten gegenüber der Gesellschaft, dem Träger des Fortschritts, erfüllt hat.“616 Die Zeitung legt den größten Nachdruck auf „die Souveränität des Ziels“.617 Sie ordnet ganz ausdrücklich sogar die Volkssouveränität als „tout à fait secondaire“ der absoluten Gültigkeit des Ziels unter, zum Beispiel des Fortschritts, „qui est tout“.618 Fortschritt ist hier nicht unter dem Gesichtspunkt einer oder auch mehrerer Generationen ins Auge gefasst, sondern unter dem der Totalität der Geschichte. Das Ziel rechtfertige in dieser Beziehung die Mittel. „La moralité du but fait la moralité des actions.“619 „L’homme doit tout sacrifier au progrès et à l’impérieuse nécessité de hâter l’époque de l’unité humaine et de la fraternité.“620 Es braucht kaum hinzugefügt zu werden, dass nach ihrer Ansicht dem „règne complet de la démocratie“621 eine Diktatur vorangehen müsse, mit der Männer von Energie, Ergebenheit und Befähigung zu betrauen seien. Blanqui ver wandelt den Streit zwischen Kommunismus und Nichtkommunismus in eine Frage von Wissen und Unwissenheit, Intelligenz und Dummheit, Wissenschaft und mythologisch - theologischen Schimären. Es ist eine unreife und schrecklich vereinfachte Art von Rationalismus. Da alle Regierungssysteme, die auf der Ausbeutung des Menschen basieren, ein Schwindel und die Ausgebeuteten die Betrogenen seien, sei jedes Vordringen von „lumières“ ein Schritt vor wärts zum Kommunismus. Der intelligente Mensch, der in wissenschaftlichen Begriffen denkt, werde nie einwilligen, sich betrügen zu las614 615 616 617 618 619 620 621

Vgl. ebd., S. 18 f. Pillot, zit. in Cabet, Ma ligne droite, S. 43. Le Moniteur Républicain Nr. 1 vom 5. Frimaire, an 46; ebd., Nr. 6 vom 16 Floréal, an 46. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

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sen. Das führt zu der heftigsten Verurteilung der Religion, insbesondere des Monotheismus in all seinen Formen und Versionen.622 „Au premier banc des accusés s’étale le christianisme, ou plutôt le monothéisme. C’est l’empoisonneur par excellence, l’ingrédient mortifère qu’il faut expulser du corps social. Dit et vu, sentence sans appel. Le théisme sous toutes les formes, judaïsme, christianisme, islamisme, doit être mis à néant. Là est la boussole, le point fixe du compas.“623 In mancher Hinsicht ist die Frage klar formuliert : entweder wir oder sie, Kommunismus oder Christentum; tertium non datur. Sogar wenn die Kirche nicht ein bewusster und williger Komplize von Ausbeutern und ihr Teilhaber wäre, sogar wenn die Religion nicht eine vorsätzliche Erfindung wäre, um die Massen zu betäuben, so genügten die Lehren von der Erbsünde, die hierarchischen Begriffe und Formen, die Apotheose der Bescheidenheit und Askese, das Versprechen eines Lohns in einer anderen Welt für die Demütigen und Bescheidenen, die völlig falsche und verzerrte Vorstellung vom Universum und der Stellung des Menschen darin, durchaus, um die Religion zum schwersten Hindernis für den Kommunismus zu machen. Doch ist andererseits zu beachten, dass es, wie zu erwarten, Kommunisten gab, für die Jesus Christus der erste große Demokrat war und die apostolische Gemeinschaft ein embryonales kommunistisches Regime. Cabet und Laponneraye behaupteten, die Montagne von 1793 habe eine Ver wirklichung der wahren Grundsätze des ursprünglichen Christentums angestrebt.624 Der revolutionäre Kommunismus sei sowohl eine Nachbildung des Evangeliums im neunzehnten Jahrhundert als auch seine endgültige Erfüllung. Pillot begann als Priester, und „abbé“ Constant war ein Laienpriester von der Art der Erweckungsprediger.625

3. Historische Zwangsläufigkeit und Revolution Man könnte sich versucht fühlen, im XVIII. Kapitel – „Quelques vérités primordiales“ – von Dézamys Code de la communauté eine kurz skizzierte Art materialistischer Doktrin zu sehen mit dem Ziel, dem Kommunismus als philosophische Basis zu dienen. Eine charakteristische Fußnote zu Beginn des Kapitels erklärt, die in ihm dargebotenen Wahrheiten seien nur ein „sommaire

622 623 624 625

Vgl. Blanqui, Critique sociale, Band 1, S. 178, 212. Blanqui, Critique sociale, Band 2, S. 113. Vgl. Laponneraye, Mélanges d’économie sociale, Band 2, S. 19; Cabet, Le Démocrate, S. 30 f. Vgl. Cabet, Voyage en Icarie, S. 567. Vgl. Pillot, La Communauté, S. 31; Cabet, Ma ligne droite, S. 41.

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de notre philosophie“ und würden in einem späteren Werk entwickelt werden; dieses jedoch wurde nie geschrieben.626 Es gebe im Universum nur eine und in ihrer Art einzige Kraft, die gleichzeitig aktiv und passiv, Körper und Geist sei und als Materie ( oder Natur ) den gemeinsamen Nenner bilde für sämtliche Eigenschaften und Kräfte aller Körper und Lebewesen. Die Materie umfasse jedes Prinzip von Tätigkeit, Anziehungskraft, Intelligenz, Harmonie und Ver vollkommnungsfähigkeit. Das Universum sei eine Einheit, und die erste Aufgabe bestehe darin, die Ganzheit zu verstehen und zu rekonstruieren. „Lorsque l’esprit sera assez vaste pour embrasser le tout, il n’y aura plus qu’une seule science : la science encyclopédique.“627 Im Einklang mit seiner monistischen Prämisse beschreibt Dézamy die Natur als „l’enchaînement éternel et universel qui lie ensemble tous les événements, la cause première de l’être et du mouvement“,628 der Zusammensetzung und der Auflösung, der Zeugung und des Wandels. Vom Gesichtspunkt der Gesetze der Mechanik sei die Welt „une intelligente machine qui a ses roues, ses cordes, ses poulies, ses ressorts et ses poids“.629 So wunderbar die Welt auch organisiert sei, einige ihrer „rouages ultérieurs“ seien noch unvollständig integriert : die menschliche Gesellschaft in erster Linie.630 Die gegenseitige Abhängigkeit der Kräfte, aus denen die Gesellschaft gebildet werde, Blut und Verstand, Denken und Wollen, stellen dasselbe „jeu harmonieux“ dar wie die nach den Grundgesetzen des Universums gelenkten Moleküle „se groupent, se classent, s’harmonisent, se tiennent, s’identifient, forment des corps, [...] se diffèrencient et se spécialisent“.631 Kurz, der Mensch sei gänzlich das Produkt der physischen und moralischen Atmosphäre und der bestehenden sozialen Organisation.632 Das soziale Regime wird also als eine Art Abteilung der universalen Einheit angesehen, die noch nicht ganz integriert worden ist, es aber ganz sicher werde, wenn die Leidenschaften, „mobiles d’activité“, ausgerichtet und zur Übereinstimmung mit dem öffentlichen Interesse gebracht werden – „qu’on soit toujours dans la nécessité de bien faire“.633 In einer Gesellschaft, die so orga-

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Dézamy, Code de la communauté, Kapitel XVIII, S. 257–281. Die genannte Fußnote befindet sich auf S. 257. Dézamy, Code de la communauté, S. 257; Dézamy ( Hg.), Almanach de la communauté, S. 10 f. Ebd., S. 258. Ebd. Vgl. ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 260. Ebd., S. 260 f.

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nisiert sei, wie die Natur sie beabsichtigte, werden alle Bedürfnisse, Fähigkeiten und Leidenschaften des Menschen auf ihre Rechnung kommen. Je größer die wahre Freiheit des Menschen – nicht parteisüchtige Laune – und je reicher seine Vitalität, desto glücklicher werde das Gemeinwesen sein. „De la liberté la plus illimitée résulte l’ordre le plus parfait.“634 „La liberté bien entendue [...] n’a rien de commun avec l’anarchie, le désordre, l’extravagance.“635 Sie ist „la faculté d’agir d’une manière conforme à notre nature, d’obéir à la loi de notre organisation, loi indestructible [...] de toute volonté [...], consiste dans le désir que nous avons d’être heureux“.636 Je größer die egalitäre soziale Kohäsion, desto wirklicher seien die Gelegenheiten für individuelle Selbstentfaltung. Nichtübereinstimmung des Menschen mit dem permanenten Gesetz seines Wesens sei eine Art Verirrung, genau wie jedes Regime der Ungleichheit die Negierung der wahren, gesunden, normalen sozialen Organisation sei. „L’égalite est une harmonie, un équilibre parfait, qui régit toutes choses, depuis les mondes les plus immenses jusqu’au plus petit insecte. [...] Hors de l’égalité, point de société possible : on ne voit que confusion et contrainte, que discordes et guerres.“637 Das Argument der reinen Vernunft und des Naturrechts stößt immer wieder auf das Problem der Geschichte : Wenn das gewünschte Ziel absolutes Diktat von Natur und Vernunft ist, warum gab es dann alle diese Divergenzen zwischen der Vernunft und Natur einerseits und der Geschichte andererseits ? Pillot behauptet, die Doktrin des Kommunismus sei vor zweitausend Jahren ebenso unwiderlegbar und durchführbar gewesen wie heute.638 Nur eine Serie von widrigen Umständen habe die Menschheit veranlasst, den falschen Weg zu wählen. Dézamy ist der Meinung, es genüge nicht, an die abstrakte Vernunft zu appellieren. An einer Stelle nimmt er für sich in Anspruch, abstrakte Beweisführung und Schlussfolgerungen, die von rein hypothetischen Analogien gezogen sind, zu ver werfen. Er will sich „sur des réalités et des démonstrations positives [...] des éléments de la société actuelle“639 stützen. In dieser Hinsicht verneint er auch die Notwendigkeit eines „grand bouleversement et d’une sanglante catastrophe“,640 denn das kommunistische System werde sich vollkommen ver wirklichen lassen, sobald die öffentliche Meinung erkannt hat, wie gerecht und vorzüglich es ist. 634 635 636 637 638 639 640

Ebd., S. 272, 274. Ebd. Ebd. Ebd., S. 11. Vgl. Pillot, Histoire des égaux, S. 23. Dézamy ( Hg.), Almanach de la communauté, S. 10 f. Ebd.

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Blanquis Denken ist viel differenzierter, obwohl voller Inkonsequenzen und äußerster Verschrobenheit. Der große Praktiker von Verschwörung und Putsch, der Mystiker der Revolution, legt paradoxer weise größten Nachdruck auf Allmählichkeit und historische Zwangsläufigkeit und spottet über Schlagworte wie Improvisation eines sozialen Wandels.641 In seiner Diskussion gegen die utopischen Sozialisten – „fondateurs de mondes nouveaux“ –,642 die eine a priori konzipierte, von Grund auf neue soziale Organisation einführen wollen, betont Blanqui, „der soziale Organismus kann nicht die Schöpfung einer Einzelperson oder einiger weniger sein, weder von gutem Willen noch von Ergebenheit, nicht einmal von Genie. [...] Er ist das Werk aller, die vorsichtig in der Zeit vor wärts schreiten und auf jedem neuen Erfahrungsniveau aufbauen. Ein Fluss wird aus dem Zusammenströmen von tausend Quellen, von Millionen Tropfen gebildet.“643 Die gesamte Geschichte erscheint Blanqui als eine Vorbereitung auf den Kommunismus. Egalitärer Kommunismus sollte nicht als ein „chaos informe, le syncrétisme confus“644 des frühen Menschheitsalters betrachtet werden, sondern als das letzte Wort der Sozialwissenschaft, das Ideal der Zukunft. Die Frühzeit der Menschheit sei nicht das Zeitalter des Kommunismus gewesen, sondern das Zeitalter des Individualismus par excellence, ohne jede Kooperation oder Planung. Man könne die Geschichte beschreiben als die fortschreitende Über windung individualistischer Isolierung durch immer weitergehende Assoziation, das heißt Kommunismus. „Tout progrès social est une innovation communiste. Le communisme n’est que le terme final de l’association.“645 Und so könne man sagen, die Menschheit habe seit ihrem Erscheinen auf Erden nicht einen einzigen Schritt gemacht, der sie nicht dem Kommunismus nähergebracht habe.646 Alle organisatorischen Formen der hochentwickelten kapitalistischen Zivilisation seien auf lange Sicht gesehen Werkzeuge zu kommunistischer Umgestaltung – das Steuersystem, die Staatsmonopole, Industriegesellschaften, Handelsassoziationen, Versicherung, sogar solche Institutionen wie die Armee, die Hochschulen, Gefängnisse und Baracken – „communisme dans les limbes, grossier, brutal, mais inévitable“.647 Alle politischen Maßnahmen der Französischen Revolution erscheinen Cabet, wie übrigens auch Babeuf und Buonar-

641 642 643 644 645 646 647

Blanqui, Critique sociale, Band 1, S. 184. Blanqui, Critique sociale, Band 2, S. 112. Vgl auch ebd., S. 115 f. Ebd., S. 115. Vgl. auch Dommanget, Les Idées politiques, S. 146. Blanqui, Critique sociale, Band 2, S. 68. Ebd., S. 69. Vgl. Blanqui, Critique sociale, Band 1, S. 198. Vgl. ebd., S. 173 ff., Zitat : S. 174.

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roti, als Maßnahmen, die zum Kommunismus führen : das „maximum“, die Kriegswirtschaft, die Klassenpolitik.648 Obwohl der Kapitalismus so siegreich erscheint, habe seine Zersetzung bereits begonnen. Die „triple féodalité, financière, industrielle, commerciale“, so erfolgreich sie scheine im Schlucken des „bourgeois modeste“, des unabhängigen Handwerkers und kleinen Händlers, schmiede bereits die Waffe, die sie töten werde. Das Werkzeug der Assoziation, das jetzt im Dienste des monopolistischen Kapitalismus steht, werde sich bald als zweischneidiges Schwert erweisen.649 Wenn die Zeit komme für eine neue Entwicklung im Laufe der sozialen Evolution, „tout se précipite à sa rescousse, pour aider l’enfantement. Les énergies épuisées qui vont s’éteindre lui apportent elles - mêmes, sans en avoir conscience, le concours de leur dernier effort.“650 Die „Präliminarien des Kommunismus“ spielen sich vor unsern Augen ab. Aber es gebe eigene Daseinsbedingungen für jeden Organismus, die nicht übersprungen oder außer Acht gelassen werden können. Im Falle des Kommunismus betreffen sie „la conformation des esprits“ durch Erziehung und Übermittlung von Wissensgut. Der Fortschritt der Aufklärung sei gleichbedeutend mit dem Fortschritt des Kommunismus.651 „Que la civilisation ait pour couronnement inévitable la communauté, il serait difficile de nier cette évidence. L’étude du passé et du présent atteste que tout progrès est un pas fait dans cette voie, et l’examen des problèmes aujourd’hui en litige ne permet pas d’y trouver une autre solution raisonnable. Tout est en plein marche vers ce dénouement. Il ne relève que de l’instruction publique, par conséquent de notre bonne volonté. Le communisme n’est pas donc une utopie. Il est un développement normal et n’a aucune parenté avec les trois ou quatre systèmes, sortis tout équipés de cervelles fantaisistes. [...] étant une résultante générale, et non point un œuf perdu et couvé dans un coin de l’espèce humaine, par un oiseau à deux pieds, sans plumes ni ailes.“652 Dieselbe aus der Geschichte abgeleitete Zuversicht findet man auch in Laponnerayes Belehrung des demokratischen Historikers darüber, was demokratische Geschichtsschreibung sei – nämlich jene Geschichte, die den unaufhörlichen Fortschritt zur Gleichheit darstellt und ausgedrückt wird durch den wachsenden Sieg der Völker über eine Handvoll Unterdrücker, die trotz Anwen-

648 649 650 651 652

Vgl. Cabet, Histoire de la Révolution, Band 4, S. 328 ff. Vgl. Blanqui, Critique sociale, Band 1, S. 176. Ebd., S. 177; Dommanget, Les idées politiques, S. 153 f. Vgl. Blanqui, Critique sociale, Band 1, S. 177 f. Blanqui, Critique sociale, Band 1, S. 198 f.

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dung von List, Tücke und Gewalt eines Tages enden werden „débordés [...] par le flot démocratique“.653 Es gibt in der Gesellschaft keine Improvisationen, ebenso wenig wie in der Natur, sagt Blanqui. Sogar die Revolutionen, die so plötzlich erscheinen, sind nichts als die „délivrance d’une chrysalide. Elles avaient grandi lentement sous l’enveloppe rompue.“654 Die Aufgabe und heilige Pflicht der Revolutionäre ist es, die Massen aufzurufen, das Joch des Elends und der Erniedrigung zu zerbrechen, sich in die Gräben zu werfen, „pour ser vir des fascines et lui faire un chemin“,655 doch sollen sie sich nicht anmaßen, einen vollkommenen und umfassenden Plan für die Zukunft aufzustellen. „Abaissez les obstacles, créezlui une pente, mais n’ayez pas la prétention de créer le fleuve.“656 Blanqui ver wirft jeden Dogmatismus, aber er hat ungeheures Vertrauen in die Revolution als mystische Inspiration. „Les révolutions ! C’est l’unique soulagement de leur âme ulcérée, le seul répit à leurs douleurs morales, l’instant toujours trop court qui relève leur front courbé dans la poussière.“657 Die Revolution ändert das menschliche Herz nicht über Nacht, doch das Zerreißen der Ketten öffnet ungeheure Horizonte und setzt gewaltige Kräfte frei. Nachdem die Menschen einen Alpdruck abgeworfen haben, können sie all die weiten Durchblicke und schmalen Pfade sehen, die zu der Neuen Ordnung führen.658 Trotz der deterministischen Zwangsläufigkeit des Kommunismus proklamiert Blanqui den Vorrang der Politik. Die soziale Wandlung werde nie erfolgen ohne grundlegende politische Veränderungen – „la solution la plus énergique et la plus irrévocable de la question politique et par elle“.659 Die Frage von Regierung und Macht ist daher „eine Frage von Leben und Tod“.660 Das nähert ihn Babeuf an. Die politische Machtergreifung sei von entscheidender Bedeutung, da sozialer Wandel aus ihr folge. Es handle sich nicht nur darum, darauf zu warten, dass die Revolution erfolgt, oder ihr Kommen zu prophezeien, um die Menschen an den Gedanken ihres Bevorstehens und ihrer Unvermeidbarkeit zu gewöhnen. Es genüge nicht, geistig oder auch organisatorisch bereit zu sein, das Ruder zu übernehmen und die Umwandlung durchzuführen, wenn die Stunde schlägt. Die Revolution müsse vorbereitet, beschleunigt, gleichsam unterhalten werden, bevor sie noch ausgebrochen ist. Bezüglich des Mandates, im Auftrage des Volkes 653 654 655 656 657 658 659 660

Laponneraye, Mélanges d’économie sociale, Band 1, S. 24. Blanqui, Critique sociale, Band 1, S. 41. Dommanget, Blanqui, S. 63. Blanqui, Critique sociale, Band 2, S. 115. Ebd., S. 290. Vgl. ebd., S. 116; Dommanget, Blanqui, S. 64. Dommanget, Blanqui, S. 61. Ebd.

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gegen eine Regierung zu rebellieren, die sich der stillen Zustimmung der Bevölkerung zu erfreuen scheint, macht Blanqui geltend, die Leichtigkeit, mit der Karl X. gestürzt wurde, und die Geschwindigkeit, mit der das neue Regime sich in den Sattel setzte, auch dies mit der anscheinenden stillen Zustimmung des Volkes, sei ein Beweis dafür, dass eine revolutionäre Minorität durchaus den Anspruch darauf erheben kann, das legitime Organ des nationalen Willens zu sein. Da unter dem Regime unterdrückender Gesetze die Massen nicht imstande seien, sich klar auszudrücken und ihren Gefühlen Luft zu machen, wie die Bourgeoisie es in Kaffeehäusern, Salons, literarischen Zeitschriften tut, so bleiben ihnen nur Geheimbünde, terroristische Anschläge, Putsch und blutige Revolution. Der extreme „Moniteur Républicain“ verspottet die Bedenkenträger, die den politischen Mord ver urteilen : „les sots scrupules“ von „plats valets“.661 Warum wird Brutus verherrlicht ? Welche andere Waffe hat ein unterdrücktes Volk gegen eine königliche Armee von drei - bis vierhunderttausend ? Das Ziel rechtfertigt die Mittel. „La moralité du but faisait la moralité d’action.“662 Verschwörerische Aktivität und ihre Manifestion in Taten repräsentiert die auf dem Wege befindliche Revolution. Die berufsmäßige revolutionäre Avantgarde – und Blanqui hält die deklassierten Intellektuellen für ihre natürlichsten und besten Rekruten – werde nicht nur dazu gebraucht, um den Zustand des Bürgerkrieges zu unterhalten und die Revolution vorzubereiten. Es sei vor allem wichtig, dass sie, die Gestählten, Entschlossenen, Klarsichtigen und Furchtlosen, die Leitung der Ereignisse nicht aus ihren Händen ließen. Es sei nicht genug, dass sie als Ansporn und Katalysatoren wirken. Schon vor 1848 und besonders natürlich nach der Februarrevolution weigerte sich Blanqui, eine Revolution ins Auge zu fassen, in der die wahren Revolutionäre Verbündete und Bittsteller, zweite Geige und Anhängsel von Kräften wären, die nicht aus ihren Reihen stammten. Er ver urteilte auf das Heftigste den berühmten Ausspruch des armen Louis Blanc, das Volk habe der Revolution drei Monate Elend zur Verfügung gestellt.663 Ein Volk, das in einer Revolution die Initiative aufgebe und auf die Entscheidungen und Handlungen ehrbarer bürgerlicher Politiker warte, habe die Revolution verloren, bevor sie überhaupt begonnen habe. Es gebe keinen größeren Verrat an einer Revolution als Mangel an Wagemut und Zuversicht. Ängstliches Warten auf die Legitimität, die aus der Wahlurne her vorgeht, sei ein Zeichen von fehlendem revolutionärem Mut und Glauben.664 661 662 663 664

Le Moniteur Républicain, Nr. 6 vom 16 Floréal, an 46. Ebd. Vgl. Tchernoff, Le Parti républicain, S. 352. Vgl. Blanqui, Critique sociale, Band 1, S. 144, 203, 213.

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4. Revolutionäre Diktatur Die ausführlichste Aussage über die nach einer geglückten kommunistischen Revolution zu befolgende Taktik ist in einer langen und bis ins Einzelne ausgearbeiteten Resolution der „Société démocratique française“, der französischen Kommunisten im Exil in London, enthalten, die diese 1840 nach Beratungen von fast einem Jahr fassten.665 Die Hauptfrage ist natürlich die der Aufstellung einer provisorischen Regierung. Die Auswahl der Männer könne nicht dem Volke überlassen werden, da die „große Mehrheit des Volkes irren kann in der Wahl der Männer, die es der Macht für würdig hält“.666 Es sei selbstverständlich, dass nur diejenigen ernannt werden, die „die besten Absichten gegenüber dem Volke haben, die fortschrittlichsten sozialen Ideen und einen festen Willen“, mit anderen Worten wahre Revolutionäre, wobei Revolution definiert wird als „l’application successive d’idées nouvelles au fait d’association“ und Revolutionäre als diejenigen, die entschlossen sind, diese Prinzipien bis zum bitteren Ende durchzuführen.667 Es könne keinen im Voraus festgelegten Termin geben, wann die provisorische Regierung einer ständigen Regierung Platz machen werde. Sie wird so lange dauern, wie nötig ist, „um die Massen vorzubereiten, unsere Ideen und eine so weitgehende Anwendung dieser Ideen, wie die Verhältnisse erlauben, anzunehmen“.668 Hinsichtlich der Größe der provisorischen Regierung wird festgestellt, sie müsse groß genug sein, um Vertrauen einzuflössen, und „assez probe et assez sûr de lui - même“,669 um die notwendigen Aktionen durchzuführen, doch so eingeschränkt an Zahl, dass sie prompt handeln und eine Einheit ihrer Politik wahren könne. Die Urheber des Aufstandes werden die Leiter der Nation ernennen. Und wenn andere Kandidaten aufgestellt werden ? Es ist anzunehmen, sagt die Resolution, dass ausreichend aktive Maßnahmen getroffen werden, um Leute mit schlechten Absichten daran zu hindern, eine Gelegenheit zu erhalten, „de présenter leurs candidats“.670 665

666 667 668 669 670

Das ganze Dokument wurde zuerst in dem ( wichtige Schriftstücke enthaltenden ) Anhang zum Bericht des Polizeichefs Girod de l’Ain über das Attentat auf das Leben Louis - Philippes veröffentlicht : Girod de l’Ain, Attentat du 15 octobre 1840; es findet sich auch als Anhang zu Bouton, Profils révolutionnaires; es wird analysiert von Tchernoff, Le Parti républicain, S. 337–341. Bouton, Profils révolutionnaires, S. 172; Tchernoff, Le Parti républicain, S. 339. Bouton, Profils révolutionnaires, S. 171 f. Ebd., S. 172. Ebd., S. 171. Ebd., S. 172.

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Keine andere politische Assoziation werde erlaubt sein, außer mit besonderer Regierungsgenehmigung. Die Regierung wird es sich angelegen sein lassen, in den Klubs – einen in jeder Kommune oder (in den sehr dicht bevölkerten Kommunen) in jeder Sektion – Männer zu haben, die die provisorische Regierung verstehen und unterstützen, so dass die oberste revolutionäre Instanz in der Lage ist, die Klubs – „un foyer énorme de républicanisme“671 – anzuleiten. In diesen Klubs bringen die Menschen ihre Meinungen zum Ausdruck, erhalten aber auch Mitteilungen von der Regierung; sie dienen als Schule politischer Umerziehung. Die Mitgliedschaft in einem Klub ist von einer von den Behörden ausgestellten „carte de civisme“672 abhängig. In jedem Klub gibt es einen Regierungsvertreter, der den Klub gegenüber den Behörden vertritt, die Ansichten und Anweisungen der Regierung weiterleitet und, soweit die Umstände es gestatten, Regierungsmaßnahmen erklärt. Festlichkeiten, Theater, öffentliche Feiern sollen die Erziehungstätigkeit der Klubs unterstützen. Die Resolution ver wirft den Gedanken einer besonderen Revolutionsarmee aus Furcht, diese könnte zur beratenden Körperschaft und ein Staat im Staate werden. Auf Anregung von Blanqui schlägt sie die Bewaffnung des Volkes vor: „le peuple armé et bien dirigé est, à notre avis, la véritable armée révolutionnaire“.673 Falls nötig, fasst sie die Proklamation von „la patrie en danger“ ins Auge. Es ist klar, dass Waffenzuteilung und Aufnahme in die neue Nationalgarde nur Leuten von erwiesener politischer Zuverlässigkeit gewährt wird. Sollte es der provisorischen Regierung überlassen werden, nach Gutdünken zu handeln, oder sollte neben ihr noch eine Instanz zur Kontrolle ihres Tuns bestehen ? Die Resolution ver wirft den letzteren Gedanken mit der Begründung, die hohe Gesinnung der Regierungsmitglieder werde eine ausreichende Garantie gegen einen Missbrauch der Macht bieten, und einer Über wachungsinstanz werde es manchmal an Verständnis für die wirklichen Absichten der Regierung fehlen. Außerdem seien Festigkeit und Schnelligkeit der Handlung äußerst wichtig. Und das hänge natürlich weitgehend von dem unbeschränkten stillschweigenden Vertrauen der Massen ab, das die Regierung durch energisches und einwandfreies Verhalten einflößen müsse. Aber da Menschen irren können, werde die provisorische Regierung einen vollen Bericht an die ordentlich gewählte Nationalversammlung erstatten; diese werde sie an einem nicht festgelegten Zeitpunkt ersetzen.674 Um sicher zu sein, dass die von der Nationalversammlung anzunehmende Verfassung der wahre Ausdruck der Ideen und Bedürfnisse der Zeit ist, sollte 671 672 673 674

Ebd. Ebd. Ebd., S. 173. Vgl. ebd., S. 174.

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die provisorische Regierung sie im Voraus vorbereiten und darauf achten, dass sie in den Klubs diskutiert und angenommen werde; nur ihre Anhänger würden dann von den Klubs zu ihren Vertretern ernannt werden. Die neue Nationalversammlung würde dann sicherlich sofort nach ihrem Zusammentritt die Verfassung annehmen, da jedes Mitglied sich im Vorhinein zu ihrer Unterstützung verpflichtet hätte. Das werde „kostbare Zeit“ ersparen.675 Die provisorische Regierung müsse sofort einen ernsten Beweis ihrer Entschlossenheit erbringen, auf jede mögliche Weise das Wohlergehen des Volkes zu sichern. Sie werde die Getreideausfuhr aufheben müssen und öffentliche Lagerhäuser für Nahrungsmittel, insbesondere Getreide, in jeder Kommune errichten. Es sei unnötig her vorzuheben, dass sie strenge Gesetze gegen Hamsterei und Spekulation annehmen, die Verbrauchssteuern abschaffen und Preise festsetzen werde. Sie werde sofort alle Industrieunternehmungen unter strenge Kontrolle stellen.676 Die Resolution schickt dem Kapitel über die Organisation der Arbeit ein offenes Eingeständnis der ernsten Zweifel und Schwierigkeiten voran, denen sich die Verfasser bei dem Entwurf gegenüber sahen. Doch sie sind der Meinung, dass sie eine rationale Lösung für das Problem der Abschaffung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen gefunden haben. Die Verfasser ver werfen den Vorschlag, die Regierung solle sich damit begnügen, den Gewerkschaften Kapital und Produktionsmittel zur Verfügung zu stellen und diese ihre eigenen Anordnungen treffen zu lassen. Sie fürchteten sich davor, Gebilde wirtschaftlicher und politischer Macht zu schaffen, die miteinander in Wettbewerb träten. Das oberste Prinzip war Einheit und Gleichheit.677 Die Entscheidung war daher eine Proklamation des Staates, der „au profit de la nation, premier manufacturier, directeur suprême de toutes les industries“678 sein würde. Es werde eine einzige leitende Autorität geben. Läden sollen errichtet werden, um Erzeugnisse auf Lager zu halten und zu verkaufen. Arbeiter werden in Staatswerkstätten organisiert sein, acht Stunden täglich arbeiten, dort auch mit ihren Familien wohnen und ernährt werden, sie werden Bildungsmöglichkeiten haben – kurz, „bien - être physique, intellectuel et moral“679 wird ihr Los sein. Ähnliche Einrichtungen sind im Laufe der Zeit auch für die Landwirtschaft vorgesehen.

675 676 677 678 679

Vgl. ebd., S. 173. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 175. Ebd., S. 175; Tchernoff, Le Parti républicain, S. 341. Ebd., S. 176.

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Das Erziehungswesen werde eine der Hauptaufgaben des Staates sein. Im Alter von fünf Jahren wird ein Kind seinen Eltern weggenommen und mit anderen Kindern zusammen erzogen, damit Eltern ihrem Sprössling nicht egoistische Gefühle, „demi - savoir, [...] demi - dévouement“ einflößen und aus einem Kind „un composé d’éléments qui se choqueraient par leur hétérogénéité“ machen.680 Keine anderen religiösen Lehren als Gefühle menschlicher Brüderlichkeit werden erlaubt sein. Die Verfasser von Artikeln, Broschüren oder Büchern, die eine Billigung des Ancien Régime zum Ausdruck bringen, werden als Konterrevolutionäre angeklagt. Abschaffung der privaten Erbschaft und Strafen für bekannte Reaktionäre und Profitmacher des Ancien Régime werden in der Resolution vor weggenommen. Wie sollte die Haltung der neuen Republik zu fremden Regierungen sein ? Man könne als selbstverständlich annehmen, dass die herrschenden Klassen überall versuchen würden, sie zu zerstören, während die Völker sie als Vorboten ihrer eigenen Befreiung willkommen hießen. Das revolutionäre Frankreich könne nicht neutral bleiben gegenüber den Geburtswehen der Völker in den verschiedenen Ländern. Es sei verpflichtet, den Prozess ihrer Befreiung zu beschleunigen. Es bestehe wenig Zweifel daran, dass Frankreich in der Lage sein werde, sofort den Krieg zu erklären und ihn lange Zeit durchzuhalten. Ebenso sicher sei : Wenn Frankreich nicht als Streiter der Völker auftrete oder im Geringsten zögere, den Königen den Krieg zu erklären, würden Zweifel, Ver wirrung und Ernüchterung unter den Völkern entstehen und so die Sache der Revolution schädigen und ihre Ausbreitung für wer weiß wie lange verschieben. Da die Könige sicherlich von der frühesten Stunde an gegen sie rüsten würden, müsse die Republik sofort allen Königen den Krieg erklären. Sie solle eine Proklamation an die Völker erlassen, dass Frankreich es auf sich nehme, ihnen bei ihrer Befreiung zu helfen, und sie auffordern, sich gegen ihre Regierungen zu erheben. Revolutionäre Emigranten, die in Frankreich leben, sollen ermuntert werden, den Aufstand in ihre Länder zu tragen.681 „L’Intelligence“ vom Oktober 1839 schreibt in einem Artikel über die Orientkrise und die berüchtigten Friedensverträge von 1814/15 : „Tant que ces infâmes traités existeront, tant que l’odieuse paix qu’ils ont cimentée n’aura pas été rompue, l’humanité sera esclave. Cette paix, tous les efforts et toutes les roueries de la diplomatie tendent à la maintenir, parce que la diplomatie sait que la guerre enfanterait dans toute l’Europe une conflagration politique et sociale [...]. Il n’y a de triomphe à espérer pour la démocratie que lorsqu’une guerre générale aura réduit en poussière l’œuvre sacrilège du Congrès de

680 681

Ebd., S. 177. Vgl. ebd., S. 174 f.

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Vienne, et fait tomber de la main des potentats le fouet ensanglanté dont ils fustigent les nations. [...] Alors ce sera un beau tapage d’un bout de l’Europe à l’autre; tout s’ébranlera, tout s’agitera à la fois; le sol frémira sous les pas des pesants escadrons et des lourds bataillons, les armées s’entrechoquent avec fureur, les champs de bataille se joncheront de cadavres; alors le feu qui couve sous la cendre fera explosion, et le char de la liberté, trop longtemps arrêté par quelques sceptres mis en travers, les broiera sous ses roues triomphantes.“682

682

L’Intelligence, Oktober 1839.

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IV. Vom naturrechtlichen Individualismus ( Fichte ) zum messianischen Marxismus vor 1848 A. Fichte : Vom Anarchismus zur totalitären Demokratie und zum Organizismus Alle deutschen Denker jener Tage begrüßten die Französische Revolution als die große Stunde der Erfüllung, die wunderbare Morgenröte. In dieser gehobenen Atmosphäre von Wandel und Erneuerung erschien ihnen ihr eigenes Bemühen als spekulatives Gegenstück zu den historischen Errungenschaften der Französischen Revolution.683

1. Der Gesetzgeber der Natur Karl Marx bezeichnete Kant als den Theoretiker der Französischen Revolution. Er meinte damit, der Verfasser der „Kritik der reinen Vernunft“ habe die philosophischen Prämissen und Annahmen ausgearbeitet, auf die sich die Urheber der Revolution stützten. Fichtes System wurde unter dem direkten Einfluss der Revolutionsereignisse geprägt. „Mein System“, sagt Fichte von sei683

Werke von Fichte, die hier benutzt wurden : Fichte, Sämtliche Werke; ders., Nachgelassene Werke; ders., Popular Works, Band 1 ( The vocation of the scholar; The nature of the scholar; The vocation of man ); Band 2 ( The characteristics of the present age; The way towards the blessed Life of the Doctrine of Religion; Outlines of the Doctrine of Knowledge ); ders., The Characteristics of the Present Age [ A. d. Hg. : Ist auch in Sämtliche Werke, Band 7, S. 3–256, enthalten ]; ders., Der geschlossene Handelsstaat; ders., Addresses to the German Nation; ders., Science of Rights; ders., Science of Ethics; Schulz ( Hg.), Fichtes Briefwechsel; Werke über Fichte : Glücksohn, Fichtes Staats - und Wirtschaftslehre; Léon, Fichte et son temps; Walz, Die Staatsidee des Rationalismus; Heinsen, Individuum und Gemeinschaft; Weber, Fichtes Sozialismus; Werke von und über Kant : Cassirer ( Hg.), Immanuel Kants Werke; Friedrich ( Hg.), The Philosophy of Kant; Cassirer, Kants Leben und Lehre, Ergänzungsband 11 seiner Ausgabe von Kants Werken; ders., Rousseau, Kant, Goethe; Lindsay, Kant; Paton, The Categorical Imperative. Werke über den historischen und philosophischen Hintergrund : Aris, History of Political Thought in Germany; Brunschwig, La Crise de l’État prussien; Droz, L’Allemagne et la Révolution française; Höffding, History of Modern Philosophy, Band 6; Kluckhohn, Das Ideengut der deutschen Romantik; Mead, Movement of Thought; Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat; ders., Die Entstehung des Historismus; Metzger, Gesellschaft, Recht und Staat; Royce, Lectures on Modern Idealism; Schnabel, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert.

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ner Wissenschaftslehre, „ist das erste System der Freiheit; wie jene Nation [Frankreich ] von den äußern Ketten den Menschen losreis’t, reist mein System ihn von den Feßeln der Dinge [...] an sich, des äußern Einflußes los, u. stellt ihn in seinem ersten Grundsatze als selbstständiges Wesen hin. Es ist in den Jahren, da sie mit äußerer Kraft die politische Freiheit erkämpften, durch innern Kampf mit mir selbst, mit allen eingewurzelten Vorurtheilen entstanden; nicht ohne ihr Zuthun; ihr valeur war, der mich noch höher stimmte, u. jene Energie in mir entwikelte, die dazu gehörte, um dies zu faßen.“684 In seinem Spott gegen Fichte über „die neuesten Ichtischen und Fichtischen Sanskulotterien a priori, die jetzt in Deutschland auf die politischen Sanskulotterien a posteriori in Frankreich gefolgt sind“ bezieht sich Baggesen, einer von Fichtes Kritikern, ebenso wie Fichte selbst in der zitierten Stelle, nicht auf die frühen politischen Pamphlete des Philosophen, wie etwa die „Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europas, die sie bisher unterdrückten“ oder die „Beiträge zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die Französische Revolution“, und nicht einmal auf Abhandlungen über Ethik und politische Theorie wie die „Sittenlehre“ und die „Rechtslehre“, sondern auf die streng philosophische „Wissenschaftslehre“.685 Für Hegel bedeutete der Ausbruch der Französischen Revolution, dass endlich die Vernunft als Gestalter der Wirklichkeit zur Herrschaft gelangt war anstelle von Unvernunft, Dahintreiben und Unterdrückung. „Solange die Sonne am Firmament steht und die Planeten um sie herumkreisen, war das nicht gesehen worden, dass der Mensch sich auf den Kopf, das ist auf den Gedanken stellt und die Wirklichkeit nach diesem erbaut. Anaxagoras hatte zuerst gesagt, dass der Noùs die Welt regiert; nun aber erst ist der Mensch dazu gekommen zu erkennen, dass der Gedanke die geistige Wirklichkeit regieren solle. Es war dieses somit ein herrlicher Sonnenaufgang. Alle denkenden Wesen haben diese Epoche mitgefeiert.“686 Die Revolution hatte des Menschen Erwachen zur Bedeutung seiner eigenen Würde bewiesen. Sie war ein Markstein in seinem Entschluss, sich jene Rechte anzueignen, die fürstliche Unterdrücker ihm bisher ebenso vorenthalten hatten wie die Religion mit ihrer Lehre der Verachtung für die Menschheit, die wertlos sei und unfähig, sich aus eigener Kraft zu erlösen. Kants kopernikanische Revolution kam durch die Erhebung des Menschen zum Gesetzgeber der Natur einer Wiedereinsetzung des Menschen in den Mittelpunkt des Universums gleich. Der Verstand passt sich nicht der Natur an, indem er ihren Gesetzen gehorcht und ängstlich und vorsichtig versucht, ihr 684 685 686

Fichte, Briefwechsel, Band 1, S. 349 f.; Fichte, zit. in Walz, Die Staatsidee des Rationalismus, S. 523. Höffding, History of Modern Philosophy, Band 6, S. 140. Hegel, zit. in ebd.

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ihre Geheimnisse zu entlocken. Der Mensch verhält sich wie ein Richter, der die Zeugin Natur anleitet und sie nötigt, ihre Geschichte preiszugeben und zu rekonstruieren.687 Kants Ablehnung des Dogmatismus der rationalistischen Idealisten wie Platon, Descartes und Spinoza einerseits und der britischen empiristischen Idealisten und Skeptiker andererseits barg eine Wiederbestätigung der menschlichen Größe in sich. Dogmatisches Vertrauen darauf, dass unsere intuitive Anteilnahme am Wissen Gottes genüge, um es unserem Verstand zu ermöglichen, durch den Schein, das Sinnliche und das Zufällige hindurch zum Wahren, Vernünftigen und Notwendigen vorzustoßen – traute dem Menschen zu viel zu. Es vereinfachte seine Aufgabe zu sehr. Andererseits wurde dem Menschen zu wenig zugestanden in Humes weitreichenden Schlüssen aus Berkeley und Locke mit ihrer resignierten Hinnahme der Tatsache, dass das menschliche Wissen nicht über eine Anhäufung von Daten mit Hilfe unserer Sinne hinausgehen könne : wobei die objektiv notwendig, gewiss und unveränderlich erscheinenden Verbindungen nicht mehr seien als empirisch konstruierte Konstanten und Regelmäßigkeiten, Gedankenassoziationen, die durch die Macht der Gewohnheit entstanden. Im ersten Fall blieb zu wenig für den Menschen zu tun übrig, außer zu lernen, die Dinge aufmerksam zu betrachten. Im zweiten Fall wurde ihm die Hoffnung genommen, Gewissheit des Wissens zu erreichen. Kants Proposition, dass Wissen nur dadurch erreicht werde, dass die von der Natur gelieferten formlosen Daten dem formgebenden Einfluss unserer Kräfte unter worfen werden, schrieb dem menschlichen Verstand die Fähigkeit und Aufgabe zu, nicht lediglich die Natur zu reflektieren, sondern sie zu konstituieren. Die Natur soll zu einem kohärenten und verständlichen Universum gemacht werden. Es lag keine Schmälerung der Macht des Menschen in der Ansicht, dass die apriorischen Begriffe, wie Raum, Zeit, Kausalität, Substanz, Quantität, Qualität, mit denen unsere Vernunft arbeitet, sowie die in der „Kritik der Urteilskraft“ herausgearbeiteten regulativen Ideen, wie organische Struktur und die Zweckmäßigkeit der Natur, uns nicht befähigen, das Ding an sich zu ergründen. Es lag vielmehr eine Herausforderung der schöpferischen Kraft des Menschen in der Theorie, dass wir nicht vollkommenes Wissen erreichen, sondern nur imstande sind, die Bedingungen festzustellen, die für die Erfahrung und die ordnungsgemäße Konstruktion und Wiederholung der Erfahrung notwendig sind, ohne in Morast zu versinken oder uns durch Zusammenhanglosigkeit ver wirren zu lassen. Der Luftwiderstand ist kein Nachteil für den Vogel; er ist eine für seinen Flug notwendige Bedingung. Wenn letzten Endes nur eine Arbeitshypothese erhofft werden kann, wird der Mensch angeregt und dazu getrieben werden, das Element der Ungewissheit in seiner Theorie nachzuprüfen und immer weiter zu verringern, bis 687

Vgl. ebd.

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der unergründliche Rest des Dinges an sich auf kaum mehr als einen winzigen Punkt reduziert ist, bis die Theorie sich verzweigt hat, ein sich immer mehr erweiterndes Gebiet der Wirklichkeit deckt, und so differenziert geworden ist, dass sie jede Abweichung, Eigenheit und Möglichkeit reflektiert. Wissen ist somit nicht etwas Gegebenes, sondern eine Aufgabe. Der Mensch ist nicht nur ein rezeptives Wesen, sondern auch eine spontan schöpferische Kraft. Fichte gab sich nicht zufrieden mit Kants Haltung der Ungewissheit gegenüber dem Zentralproblem in seinen verschiedenen Aspekten : von Materie und Form, äußeren Gegebenheiten und rationaler Konstruktion, Rezeptivität und Spontaneität, Realismus und Idealismus, Wahrnehmung der Sinne und organisierender Fähigkeit des Verstandes. Er war leidenschaftlich bestrebt, durch Auf lösung aller Reste von Kants unbeugsamem, unverständlichem, unreduzierbarem Ding an sich die totale Spontaneität des Menschen zu sichern. Die ganze Wirklichkeit ist eine Konstruktion des Menschen, denn Wirklichkeit hat einen Sinn nur als Vernunftmäßigkeit, als eine verständliche Verbindung logischer und ordnungsgemäßer Beziehungen. Aufgabe des Menschen und Ergebnis seiner Bestrebungen ist es, die Natur vollständig mit Vernunftmäßigkeit zu saturieren. Das ist das Maß und der Prüfstein seiner Freiheit und Selbständigkeit. „Ich will selbständig seyn, darum halte ich mich dafür. Ein solches Für wahrhalten aber ist ein Glaube. Sonach geht unsere Philosophie aus von einem Glauben, und weiss es. Auch der Dogmatismus, der, wenn er consequent ist, die angeführte Behauptung macht, geht gleichfalls von einem Glauben ( an das Ding an sich ) aus; nur weiss er es gewöhnlich nicht. [...] Man macht in unserem Systeme sich selbst zum Boden seiner Philosophie.“688 Das Ich wird hier zum archimedischen Punkt. In erster Linie, weil es unmöglich ist, darüber hinaus zurückzugehen. Aber noch mehr, weil Fichtes wirkliches Interesse eher in der konstruktiven Leistung des Ich liegt als in der Reflektierung von Tatsachen. Die Wahrheit wird bestätigt durch unseren Entschluss, „diese Erscheinung [ das Ich ] nicht weiter zu erklären, und sie für absolut unerklärbar, d. i. für Wahrheit, und für unsere einige Wahrheit zu halten, nach der alle andere Wahrheit beurtheilt und gerichtet werden müsse.“689 Der Mensch muss beschließen, zum Ausgangspunkt, zur ersten Ursache zu werden. Dann wird er seine Freiheit sichern – jene Freiheit, die nach Kant „das Vermögen, einen Zustand ( ein Seyn und Bestehen ) absolut anzufangen“690 ist. Freiheit bedeutet eine praktische Entscheidung, etwas spontan zu beginnen. Ein weiteres Stadium ist das volle Verständnis und die Assimilierung der Dinge, die vom Ich geschaffen und beherrscht werden, damit sie ( als 688 689 690

Fichte, Sämtliche Werke, Band 4, Sittenlehre, S. 26. Ebd., S. 25. Ebd., S. 37.

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Nicht - Ich ) ein Teil von mir werden, ein Zuwachs meiner Kraft, ein festeres Sprungbrett für eine weitere Ausdehnung meines Ich, anstatt einer äußeren Kraft und eines Hindernisses. Fichte unterscheidet drei Typen der Freiheit : „die transcendentale, die in allen vernünftigen Geistern die gleiche ist; das Vermögen, erste unabhängige Ursache zu seyn; die kosmologische, der Zustand, da man wirklich von nichts ausser sich abhängt – kein Geist besitzt sie, als der unendliche, aber sie ist das letzte Ziel der Cultur aller endlichen Geister; die politische, das Recht, kein Gesetz anzuerkennen, als welches man sich selbst gab.“691 Es würde schwer fallen, den Menschen weiter vom Kontext der Umgebung, Überlieferung und all der Dinge zu befreien, die implizite und ohne Überlegung hingenommen werden, und in die die Eigentümlichkeit des Menschen, seine Gedanken, Gefühle und Vorurteile allmählich übergehen; oder die – wie manche meinen – an einem gewissen Punkt zu einem individuellen Wesen erstarren. Fichtes Wissenschaftslehre ist nicht lediglich eine Erkenntnistheorie, für die übrigens ihr Verfasser einen der Geometrie vergleichbaren Grad der Gewissheit und Genauigkeit beanspruchte, sondern sie ist gleichzeitig eine ethische Doktrin und ein Vademekum.692 Die Wissenschaftslehre befasst sich vor allem anderen mit der Bestimmung des Menschen. Diese Bestimmung erfüllt sich in dem unaufhörlichen Bemühen des Menschen, sich von der Beherrschung durch die irrationale Materie zu befreien und die völlige Herrschaft über die Natur zu erlangen, bis die Gesamtheit des Nicht - Ich vom Ich umschlossen, von diesem zu einem verständlichen System gemacht und als eine unendliche Ausweitung des Ich assimiliert wird. Im Jahre 1798 definiert Fichte „Selbständigkeit, unser letztes Ziel“ dahingehend, „dass alles abhängig ist von mir, und ich nicht abhängig von irgend etwas; dass in meiner ganzen Sinnenwelt geschieht, was ich will, schlechthin und bloss dadurch, dass ich es will, gleichwie es in meinem Leibe, dem Anfangspuncte meiner absoluten Causalität, geschieht. Die Welt muss mir

691

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Fichte, Sämtliche Werke, Band 6, Beiträge zur Berichtigung der Urtheile des Publikums über die Französische Revolution, S. 101, Fußnote. Vgl. auch ebd., S. 105 f., sowie Walz, Die Staatsidee des Rationalismus, S. 422 : „Wer seine Sätze aus ursprünglichen Grundsätzen der Vernunft durch strenge Folgerungen ableitet, ist ihrer Wahrheit und der Unwahrheit aller Einwendungen dagegen schon im voraus sicher [...]. Was aus einem erwiesenen Satze durch richtige Schlüsse folgt, ist wahr, und ihr werdet den entschlossenen Denker durch das gefährliche Aussehen desselben nicht erschrecken; was ihm widerspricht, ist falsch und muss aufgegeben werden, und wenn die Achse des Erdballs darin zu laufen schiene.“ Vgl. Léon, Fichte et son temps, Band 1, S. 387; Fichte, Sämtliche Werke, Band 2, Sonnenklarer Bericht, S. 379.

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werden, was mir mein Leib ist. Nun ist dieses Ziel zwar unerreichbar, aber ich soll mich ihm doch stets annähern, also alles in der Sinnenwelt bearbeiten, dass es Mittel werde zur Erreichung dieses Endzweckes. Diese Annäherung ist mein endlicher Zweck.“693 Diese Annäherung wird erreicht durch Verständnis der natürlichen Erscheinungen, Ausarbeitung der wirksamen Techniken, Ausnützung der natürlichen Hilfsquellen, Herrschaft des Gesetzes, ethische Vollkommenheit, Blüte der Kunst, schließlich die letzte messianische Harmonie in der idealen Gesellschaft am Ende der Tage. Wir haben hier eine Theorie vor uns, die eine Vision unaufhörlicher Aktivität darstellt. Intellektuelle Neugierde und theoretische Einsicht gehören zu einem Leben der Tat. Der kategorische Imperativ umfasst sie beide.694 Zweifellos ist Fichtes Apotheose der menschlichen Freiheit nicht darauf gerichtet, den Menschen zum zügellosen Genuss frei zu machen. Sie bildet einen Ansporn für ihn zu zeigen, dass der Mensch nicht etwa zum Amokläufer wird, wenn das Joch von ihm genommen ist, sondern dass es ihm gelingt, einen Bau objektiver Vernunft zu errichten.

2. Das Reich der Zwecke „Ich bin selbst aus Neigung ein Forscher. Ich fühle den ganzen Durst nach Erkenntnis und die begierige Unruhe, darin weiter zu kommen, oder auch die Zufriedenheit bei jedem Fortschritte. Es war eine Zeit, da ich glaubte, dieses alles könnte die Ehre der Menschheit machen, und ich verachtete den Pöbel, der von nichts weiß. Rousseau hat mich zurecht gebracht. Dieser verblendete Vorzug verschwindet; ich lerne die Menschen ehren und würde mich viel unnützer finden als die gemeinen Arbeiter, wenn ich nicht glaubte, daß diese Betrachtung allen übrigen einen Wert geben könne, die Rechte der Menschheit herzustellen.“695

693 694

695

Fichte, Sämtliche Werke, Band 4, Sittenlehre, S. 229; Metzger, Gesellschaft, Recht und Staat, S. 118. Vgl. Fichte, Sämtliche Werke, Band 4, Sittenlehre, S. 32 : „Das anschauende ( intelligente ), welches eben durch den postulirten Act zum intelligenten wird, setzt die oben beschriebene Tendenz zur absoluten Thätigkeit zufolge des Postulats, als – sich selbst; verstehe, als identisch mit sich, dem intelligenten. [...] wird sie eigentliche Freiheit [...]. Durch das Bewusstseyn seiner Absolutheit reisst das Ich sich selbst – von sich selbst – los und stellt sich hin als selbstständiges.“ Vgl. Léon, Fichte et son temps, Band 1, S. 223, über das Problem von Gegebenheit und Konstruktion, Aufnahmebereitschaft und Spontaneität, Mannigfaltigkeit und Einheit, Materie und Form. Kant, zit. in Metzger, Gesellschaft, Recht und Staat, S. 45.

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Diese schönen Sätze Kants, insbesondere ihre letzten Zeilen, sind beseelt von großer Wärme für die Würde des Menschen und sein Recht der Selbstbestimmung. Wenn in ihnen Protest gegen die derzeitigen Machthaber enthalten ist, so leitet sich die Ablehnung nicht aus einem Gefühl der Beschwerde gegen bestimmte Arten der Beschränkung her, noch aus dem Wunsch, von besonders ungebührlichen Forderungen befreit zu werden. Es geht Kant um die Verteidigung des absoluten und unbeschränkten Rechtes jedes Individuums, sich in voller Freiheit von äußerer Autorität, dogmatischer Tradition, festgelegter Rangordnung und sozialem Druck zu bestimmen. Fichtes Zorn richtet sich gegen jede Anmaßung einer bevormundenden Regierung, den Menschen gegen seinen eigenen Willen glücklich zu machen, gegen jeden Versuch, ihn zu bilden, anstatt die Aufgabe der Selbstbildung dem Einzelnen zu überlassen.696 „Kein Mensch kann verbunden werden, ohne durch sich selbst : keinem Menschen kann ein Gesetz gegeben werden, ohne von ihm selbst. Lässt er durch einen fremden Willen sich ein Gesetz auferlegen, so thut er auf seine Menschheit Verzicht und macht sich zum Thiere; und das darf er nicht.“697 Die Autonomie des Menschen als sein eigener Gesetzgeber schließt Befreiung von instinktiver Neigung ein, von der Begierde nach Genuss, Nützlichkeitser wägungen, Ergebung in Not, schließlich von der überlegungslosen Hinnahme von Gewohnheiten und Brauch. Diese sind der Bereich der naturhaften Kausalität, die die Welt der Erscheinungen bindet und bedingt, und der Mensch als ein Vernunftgeschöpf darf nicht eine von dem allumfassenden Mechanismus der Natur bestimmte Erscheinung sein, sondern muss ein Ding an sich, ein Noumenon, eine unabhängige Wesenheit, eine erste Ursache sein. Er manifestiert seine Autonomie und Freiheit durch eine absolute und unbedingte Befolgung des kategorischen Imperativs, dessen Forderungen er unter absoluter Außerachtlassung von Gefühl, Interessen, Umständen und sogar unmittelbaren Folgen an sich selbst richtet.698 Das Gefüge der von dem Menschen aus seiner autonomen Vernunft heraus entwickelten ethischen Gesetze muss gleichzeitig geeignet sein, allen vernünftigen Wesen als Gesetz zu dienen, mit anderen Worten, es muss absoluten inneren Zusammenhang besitzen und darf keinen Widerspruch und keine Inkonsequenz enthalten. Um das berühmte Beispiel zu zitieren : Ich darf kein falsches Versprechen geben, denn tue ich es, so ermächtige ich gleichsam 696 697 698

Vgl. Fichte, Sämtliche Werke, Band 6, Beiträge zur Berichtigung der Urtheile des Publikums über die Französische Revolution, S. 81 f. Ebd.; Metzger, Gesellschaft, Recht und Staat, S. 137. Vgl. dazu Fichte, Sämtliche Werke, Band 4, Sittenlehre, S. 60 : „Denn Sollen ist eben der Ausdruck für die Bestimmtheit der Freiheit.“ Vgl. außerdem Fichte, Science of Ethics, S. 143, 145, 149, 162 f., 175.

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jeden, dasselbe zu tun. Alle würden lügen. Es würde kein Vertrauen mehr geben. Keine sittliche oder soziale Ordnung wäre möglich. Ein einziger Fall von Versagen reißt ein Loch in das nahtlose Gewand der Sittlichkeit. Ein einziger Akt der Verleugnung zerstört alle Einheit. Die beiden Welten des Sittengesetzes und des Naturgesetzes sind somit prinzipiell von gleicher Struktur. Nur steht die erstere an objektiver Gültigkeit überlegen da. Das Reich der Natur ist eine Welt von Erscheinungen, von Gegebenheiten der Erfahrung, deren wahrstes inneres Wesen uns verborgen ist; der Bereich der Ethik ist ein Reich der Zwecke, von Dingen, wie sie wirklich sind ( Noumena ), und zwar gerade weil sie das reine Ergebnis einer Vernunftentscheidung sind und keine Beimischung einer äußeren Gegebenheit aus der Natur haben : die Welt Rousseaus hat über das Universum Newtons gesiegt. Rousseaus Allgemeiner Wille ist von Kant in ein Ding an sich, ein Noumenon, ver wandelt worden.699 Der autonome Entschluss, die reine Vernunft zu wollen, hat sich von der den Dingen anhaftenden Zufälligkeit von Glücksfall und Umständen befreit, sowie auch von dem unentrinnbaren Determinismus, der die Naturerscheinungen miteinander verbindet – zwei Aspekte derselben Wirklichkeit. Den kategorischen Imperativ zu wollen, bedeutet die höchste Fähigkeit des Menschen, zum Reich der reinen Formen, der Ideen, aufzusteigen, sich weit über den unreinen und trüben Pragmatismus des hic et nunc zu erheben. Für Kant und Fichte besteht das Wesen der Freiheit in der absoluten Freiheit, bedingungslose Verpflichtung zu akzeptieren. Der kategorische Imperativ bindet absolut, doch liegt sein eigentliches Wesen darin, dass er frei gewollt und nicht von außen her durch Anwendung von Zwang, vor allem nicht durch den Staat auferlegt wird. Erzwungene Ethik ist keine Moralität. Nichts ist charakteristischer als die Einteilung in fünf Epochen in Fichtes erster Vorlesung über die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters : a ) die Vernunft wirkt im Menschengeschlecht als blinder Instinkt; b ) die Beziehungen werden durch die Vernunft geordnet, die in eine äußerlich zwingende Autorität ver wandelt ist und auf das Menschengeschlecht durch die kräftigeren Individuen der Gattung wirkt, in denen die Vernunft als der Wunsch auftritt, die ganze Gattung durch Erzwingung blinden Glaubens und unbedingten Gehorsams auf ihr eigenes Niveau zu heben; c ) die Menschheit befreit sich unmittelbar von der Herrschaft der Vernunft als einer gebietenden Autorität, mittelbar von der Botmäßigkeit des Vernunftinstinktes und der Vernunft überhaupt in jeglicher Gestalt; und gibt sich der absoluten Gleichgültigkeit gegen alle Wahrheit und der völligen 699

Fichte, Science of Ethics, S. 143, 145, 149, 162 f., 175; ders., Characteristics of the Present Age, S. 5, 7, 15.

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Ungebundenheit ohne eigenen Leitfaden hin ( das Zeitalter, in dem Fichte lebte ); d ) die Menschheit wird sich der Vernunft bewusst und versteht ihre Gesetze mit klarem wissenschaftlichem Wissen; e ) die Menschheit ordnet mit klarem Bewusstsein und durch eigenes freies Handeln ihre gesamten Beziehungen entsprechend den Gesetzen der Vernunft.700

3. Der Gesellschaftsvertrag Welchen Platz räumt Fichte dem Staat in dem Schema ein, in dem die Selbsterschaffung des Menschen der eine Pol ist und das frei gewollte Gebäude der objektiven Vernunft der andere ? In diesem Zusammenhang unterscheiden Kant und Fichte deutlich zwischen Gesellschaft und Staat. Der Staat als eine ex definitione auf Zwang gründende Institution ist vom Gesichtspunkt des frei gewollten kategorischen Imperativs gleichsam irrelevant.701 „Das Leben im Staate“ – sagt Fichte – „gehört nicht unter die absoluten Zwecke des Menschen [...]. Der Staat geht, ebenso wie alle menschlichen Institute, die blosse Mittel sind, auf seine eigene Vernichtung aus : es ist der Zweck aller Regierung, die Regierung überflüssig zu machen.“702 Das Ziel ist, dass alle dem Sittengesetz frei gehorchen, mit anderen Worten, jeden Zwang unnötig machen. Außerdem kann man sagen, die Tatsache des Zwanges durch den Staat sei ein Hindernis für die autonome Sittlichkeit. Es ist überhaupt falsch zu fragen, was der Zweck des Staates sei. Es gibt nur Zwecke des Menschen. Der Zweck des Menschen ist Selbstbildung zur Vollkommenheit. Keine Regierung hat irgendein Recht sich anzumaßen, die Aufgabe der Bildung des Menschen zu übernehmen, ihn zu beschützen, ihn über Zwecke und Mittel zu täuschen und die Verantwortung für sein Glück zu übernehmen. Das hat natürlich das Postulat der menschlichen Gleichheit zur Folge, da niemand das Recht oder die Macht haben soll, andere zu bilden.703 Egalitäre, um nicht zu sagen trotzig - plebejische Anklänge sind in Fichtes frühen Schriften sehr stark.

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Vgl. Fichte, Sämtliche Werke, Band 7, Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, S. 11 f. Vgl. Fichte, Science of Rights, S. 19. Fichte, Sämtliche Werke, Band 6, Bestimmung des Gelehrten, S. 306; Walz, Die Staatsidee des Rationalismus, S. 449. Vgl. Fichte, Sämtliche Werke, Band 6, S. 8–10, 28 f., 60–62, 68, 81–83, 90, 102, 129– 132, 142, 169, 184–188, 314 f.

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Der Staat ist das Ergebnis eines Gesellschaftsvertrages von dürftigstem Inhalt. Das vertragliche Übereinkommen bezieht sich auf Rechte und Pflichten, die das Sittengesetz nicht als unbedingt bindend betrachtet, zum Beispiel das Gebiet der irdischen Güter und Dienste. Doch wo, wie in dieser Sphäre, der kategorische Imperativ dem Menschen eigenes Ermessen zubilligt, verbietet er ihm gleichzeitig, irgendjemand anderem zu gehorchen als sich selbst.704 Fichtes überspitzte Vertragstheorie bringt ihn an den Rand des Anarchismus, wie er von seinem Zeitgenossen Godwin gepredigt wurde. Der deutsche Philosoph weist mit Entschiedenheit die Idee zurück, der Gesellschaftsvertrag sei unwiderruf lich. Kein Vertrag, ob privater oder öffentlicher Natur, ist unwiderruf lich.705 Wie Godwin sagte, kann oder darf niemand sich binden, für immer an den Bestimmungen eines Vertrages festzuhalten. Das würde gleichbedeutend sein mit dem Verzicht auf die eigene Freiheit und Persönlichkeit. Ein Mensch entwickelt sich, macht Fortschritte, ändert sich. Sein Leben bedeutet spontanes und freies Eingehen auf Umstände, die sich ändern. „Es ist ein unveräusserliches Recht des Menschen“ – sagt Fichte – „auch einseitig, sobald er will, jeden seiner Verträge aufzuheben; Unabänderlichkeit und ewige Gültigkeit irgend eines Vertrages ist der härteste Verstoss gegen das Recht der Menschheit an sich.“706 Es muss daher das Recht des Einzelnen zugegeben werden, aus dem Staat, dem seine Zustimmung nicht mehr gehört, auszutreten. Er darf den Staat verlassen und mitnehmen, was sich mitnehmen lässt. Jedwede Menschengruppe hat das Recht, auszuscheiden und ander weitig einen neuen Gesellschaftsvertrag zu schließen, denn der ursprüngliche Vertrag, darauf besteht Fichte mit Entschiedenheit, war auch durch die direkte und individuelle Einwilligung jedes Einzelnen persönlich abgeschlossen worden. Bedeutet das nicht die Aussicht auf eine fortwährende Auf lösung des Staates ? Es liegt Fichte wenig an der Einheit und Unteilbarkeit des Staates. Er ist für ihn nichts anderes als eine freiwillige Vereinigung, in der es viele andere derartige Vereinigungen geben kann, die ihrerseits auf Vertrag begründet sind. Zum Beispiel die Juden, deren

704 705

706

Vgl. ebd.; Walz, Die Staatsidee des Rationalismus, S. 315, 385, 403–411, 449, 489 f. Vgl. Fichte, Sämtliche Werke, Band 6, Beiträge zur Berichtigung der Urtheile des Publikums über die Französische Revolution, S. 132 f., 159, 273; Walz, Die Staatsidee des Rationalismus, S. 439 f. Metzger nennt Fichtes Abhandlung über die Französische Revolution ein „Traktat gegen die Geschichte“, siehe Metzger, Gesellschaft, Recht und Staat, S. 145. Fichte, Sämtliche Werke, Band 6, Beiträge zur Berichtigung der Urtheile des Publikums über die Französische Revolution, S. 159.

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Gesellschaftsvertrag natürlich eine Verschwörung gegen ihre nichtjüdischen Nachbarn ist.707 In Wahrheit ist nicht nur der Inhalt des Fichte’schen Staates außerordentlich dürftig, sondern auch die Gesellschaft wird lediglich als aus atomisierten Wesen zusammengesetzt aufgefasst; diese gehen sittliche Verpflichtungen gegeneinander ein unter völliger Außerachtlassung der sie bedingenden Geschichte oder der kollektiven sozialen Gebilde, die ihnen irgendwie Stellung und Tätigkeit anweisen. Jeder ist unabhängig und eine Welt für sich – der Kleinbauer, der Handwerker, der kleine Ladeninhaber. Alle unterhalten völlig unparteiische und objektive Beziehungen zueinander auf ein und derselben Ebene. Ernste Redlichkeit und gewissenhafte Gegenseitigkeit werden bedingungslos gefordert; Liebe und Selbstaufopferung über das hinaus, was strenge Pflicht ist, sind ausgeschlossen. Gleichzeitig gibt die Erfüllung bedingungsloser Pflicht trotz der Verlockungen von egoistischen Interessen und der Versuchung des Fleisches und der Sinne dem pflichtbewussten Menschen ein Gefühl der Selbstachtung und des Wertes. Und doch fand Heine es möglich, Kants Mission des Zerstörers von Ideen mit der des Scharfrichters von Menschen, Robespierre, zu vergleichen; und Moses Hess nannte Fichte den deutschen Babeuf. Der Übergang von extremem Individualismus zu terroristischem Zwang ist durchaus nicht so schwierig, was gerade der Fall Robespierres gezeigt hat. Wenn der gleichmäßig bedingungslose und gleichmäßig verpflichtende kategorische Imperativ von allen anerkannt werden muss, dann kann der Wirkungsbereich der „Zwangsanstalt“, die wir Staat nennen, wirklich auf ein Minimum reduziert werden : der Staat kann beinahe verschwinden. Außerdem kann, wenn das Ziel des Menschen Selbstbildung ist, auf alle gemeinschaftlichen Einrichtungen zur Besserung des Menschen verzichtet werden.708 Die annähernde Vernichtung des Staates und die volle Herrschaft des Individualismus sind jedoch nur möglich, wenn alle dazu gebracht werden können, ohne Zwang und doch in vollkommener Harmonie zu handeln; einmütig – lediglich durch Anrufung von Gewissen und Vernunft. Wenn jemand nun leidenschaftlich davon überzeugt ist, dass richtiges Denken und tugendhaftes Handeln die Berufung und Bestimmung der Menschen sind, und nur Dummheit, Irrtum und Egoismus diese Erfüllung verhindern, dann wird er sicherlich zu der folgenschweren Unterscheidung zwischen wahren Menschen einerseits und quasi Noch - nicht - Menschen oder per vertierten Geschöpfen andererseits getrieben werden. Jene kann man in einem Zustand der Anarchie leben las707 708

Ebd., S. 147 f., 273; Walz, Die Staatsidee des Rationalismus, S. 444; Fichte, Science of Rights, S. 25 f., 79–82. Vgl. Walz, Die Staatsidee des Rationalismus, S. 493–495.

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sen. Diese müssen daran gehindert werden, zu Amokläufern zu werden, und man muss sie erziehen. Wenn Freiheit das Wollen der Vernunft bedeutet und die Vernunft letztlich eine Einheit ist, dann bedeutet Ver vollkommnung die Ausmerzung der Unvernunft, die die Menschen scheidet, und als Folge die Ver wirklichung der Einmütigkeit.709 „Die Vollkommenheit ist nur auf eine Art bestimmt : – sie ist sich selbst völlig gleich; könnten alle Menschen vollkommen werden, könnten sie ihr höchstes und letztes Ziel erreichen, so wären sie alle einander völlig gleich; sie wären nur Eins; ein einziges Subject. [...] Mithin ist das letzte, höchste Ziel der Gesellschaft völlige Einigkeit und Einmüthigkeit mit allen möglichen Gliedern derselben.“710 Über das rein Vernunftgemäße sind sich doch alle einig. Die Welt der Sinne ist eine Welt der Mannigfaltigkeit, die der Vernunft eine Einheit. Auf diese Weise kommt Fichte allmählich zu der Unterscheidung zwischen dem Notstaat und dem Vernunftstaat, dem Staat, wie er ist und wie er sein sollte.711

4. Der totalitäre „Geschlossene Handelsstaat“ Im modernen Europa, das wird Fichte plötzlich klar, hat es seit langer Zeit keine wirklichen Staaten mehr gegeben.712 Nach der herrschenden Auffassung bestand die Aufgabe des Staates in nicht mehr als der Sanktionierung des derzeitigen Eigentums des Bürgers durch das Gesetz. „Die tiefer liegende Pflicht des Staates, jeden in den ihm zukommenden Besitz erst einzusetzen“,713 damit er wahrlich frei und ein unabhängiges Vernunftgeschöpf ist, hat man übersehen. Der Grund dafür ist, dass der Staat zwar der politischen Anarchie ein Ende gesetzt hat, es aber versäumte, seine ordnende Tätigkeit auf das wirt-

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710 711 712 713

Vgl. Fichte, Sämtliche Werke, Band 4, Sittenlehre, S. 232 f. : „Ich will den anderen nur frei, und kann ihn nur frei wollen, unter der Bedingung, dass er seiner Freiheit zur Beförderung des Vernunftzweckes sich bediene; außerdem kann ich ihn gar nicht frei wollen; und dies ist gleichfalls ganz richtig. Ich muss einen Gebrauch der Freiheit gegen das Sittengesetz schlechterdings aufzuheben wünschen, wenn der Wunsch allgemeiner Sittlichkeit in mir herrschend ist, wie er es ja doch seyn soll.“ Fichte, Sämtliche Werke, Band 6, Bestimmung des Gelehrten, S. 310; Léon, Fichte et son temps, Band 1, S. 287. Vgl. Walz, Die Staatsidee des Rationalismus, S. 493–495, 624 f.; Heinsen, Individuum und Gemeinschaft, S. 22, 28; Fichte, Der geschlossene Handelsstaat, S. 7. Vgl. Fichte, Der geschlossene Handelsstaat, S. 52–55. Ebd., S. 55.

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schaftliche Gebiet auszudehnen, und vor der „Anarchie des Handels“ haltmachte.714 Nun liegt das Wesentliche des Staates darin, dass er ein geschlossenes Gefüge von Gesetzen und Verordnungen vertritt und verkörpert, die für alle Bürger unbedingt verbindlich sind und jede Verletzung durch die Gesetze eines fremden Staates ausschließen. Die logische Folge sollte eine autarke Wirtschaft sein – ein geschlossener Handelsstaat, eine Wirtschaft, die vom Staat gänzlich überblickt und reguliert werden kann. Laissez-faire und vor allem freier Außenhandel verhindern dies. Sie nehmen heterogene Elemente und vermischen sie miteinander : ein Bürger, der mit einem fremden Land Handel treibt, ist wie ein Bürger zweier Staaten.715 ( Das ist eine deutlich physiokratische Auffassung.) Als ob er direkt gegen Adam Smith polemisierte, verkündet Fichte, diese Methoden „sind Überbleibsel und Resultate einer Verfassung, die längst aufgehoben ist, sind in unsere Welt nicht passende Teile einer vergangenen Welt. Jene Systeme, welche Freiheit des Handels fordern, jene Ansprüche, in der ganzen bekannten Welt kaufen und Markt halten zu wollen, sind aus der Denkart unserer Voreltern, für welche sie paßten, auf uns überliefert worden; wir haben sie ohne Prüfung angenommen, und sie uns angewöhnt, und es ist nicht ohne Schwierigkeit, andere an ihre Stelle zu setzen.“716 Die volle wirtschaftliche und politische Isolierung des souveränen Staates bringt die Pflicht des Staates mit sich, für alle zu sorgen. Beides hat Staatssozialismus zur Folge. Die Ausarbeitung der These ist recht eindrucksvoll in ihrem betonten Individualismus. Das Individuum hat das ursprüngliche, natürliche und unveräußerliche Recht, sich der ganzen Welt zu bedienen, um sich durch Selbsttätigkeit zu ver wirklichen. Nur ein frei geschlossener Vertrag kann diese Freiheit des Einzelnen beschränken und ihn daran hindern, die Bemühungen anderer um Selbstver wirklichung zu stören. Das ist der Kern des Gesellschaftsvertrages. Doch wäre er sinnlos, wenn er dem Einzelnen nicht die Mittel zur Selbstver wirklichung : Eigentum, Sicherheit, Produktionsmittel, Arbeitsgelegenheit, sichern würde.717 „Den Besitzlosen [ im Staat ] bindet kein Vertrag, er hat nichts zu eigen erhalten, folglich ist er auch nicht verpflichtet, auf etwas [ von seinem Anspruch auf alles ] zu verzichten [...] und nur die Gewalt unterdrückt seinen Rechtsan-

714 715 716 717

Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 59. Ebd., S. 55. Vgl. Léon, Fichte et son temps, Band 2, 2. Halbband, S. 215–219.

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spruch, allenthalben alles zu thun, was er nur will, sich als [ gesetzloser ] Wilder im Schosse der Gesellschaft zu fühlen.“718 Fichtes Ansichten über das Eigentum haben eine deutlich moderne Färbung im Gegensatz zu Kants noch durchaus feudaler Auffassung des Eigentums als eines Objektes, das man wie den Boden besitzt. Für Fichte ist das Eigentum ein Werkzeug des Handelns, „ein [...] Recht auf eine bestimmte freie Tätigkeit“,719 eine Erweiterung der eigenen Persönlichkeit, tatsächlich die wesentliche Bedingung der Freiheit, zum Beispiel der Selbstver wirklichung. In dieser Beziehung genügt es nicht, in das Eigentum eines anderen nicht aktiv einzugreifen. Einen Dienst nicht zu leisten, den man leisten könnte, um das wirtschaftliche Bestreben eines anderen zu fördern, ist ein Unrecht.720 Sicherheit – sie zu verlangen ist das heilige Recht des Einzelnen, sie zu gewähren, die absolute Pflicht des Staates. Zu sagen, das wird sich schon irgendwie von selbst ergeben, jeder wird mit etwas Glück Arbeit und Brot finden, ist einer wohlkonstituierten Gesellschaft unwürdig. Menschen dem Zufall zu überlassen heißt, ihnen nichts geben. Wenn sie keine Rechte haben, brauchen sie kein Gesetz anzuerkennen.721 Sie sind ohne Satzung, weil sie ohne Garantie sind : „halbe Wilde im Schoße der Gesellschaft“.722 In diesem Zustand der Unsicherheit über vorteilen und berauben sie sich natürlich gegenseitig. Das wird in der guten Gesellschaft nicht Raub, sondern Gewinn genannt. Die Beraubten von heute werden zu den Räubern von morgen.723 Das Recht auf Eigentum im geschlossenen Handelsstaat ist das Recht, eine bestimmte Tätigkeit auszuüben, von der andere ausgeschlossen werden. Das bringt die Macht des Staates mit sich, Menschen zu ihrer Beschäftigung zu dirigieren, und macht natürlich bis ins Einzelne gehende Planung notwendig. Fichte erkennt drei oder besser vier Berufsgruppen im Staate an : die Ackerbauern ( der Boden gehört theoretisch allen zusammen und niemand im Besonderen ); die Handwerker, die Rohstoffe bearbeiten; die Kaufmannsklasse, die die von den Handwerkern gelieferten Erzeugnisse vermarktet; und schließlich die Staatsbeamten. Diese Klassifizierung enthält keinerlei Andeutung von industrieller Revolution, Industriekapital oder einem Industrieproletariat.724 Die von Fichte vorgesehene Ordnung der Landwirtschaft ist nicht sehr verschieden von dem mittelalterlichen Gemeinschaftsdorf oder dem russischen 718 719 720 721 722 723 724

Fichte, zit. in Weber, Fichtes Sozialismus, S. 38. A. d. Hg. : Einschübe in eckigen Klammern von Talmon eingefügt. Fichte, Der geschlossene Handelsstaat, S. 43; Weber, Fichtes Sozialismus, S. 37. Vgl. Fichte, Der geschlossene Handelsstaat, S. 27 ff., 43 ff. Vgl. ebd., S 48 f.; Weber, Fichtes Sozialismus, S. 46. Ebd., S. 49. Vgl. Fichte, Der geschlossene Handelsstaat, S. 49; Weber, Fichtes Sozialismus, S. 46. Vgl. Walz, Die Staatsidee des Rationalismus, S. 428, 512–514.

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mir, mit gemeinsam geplanter und ausgeführter Arbeit, sowie Gemeinschaftsweide und - wald. Die Handwerker arbeiten selbständig, und die Kauf leute sind de facto Staatsbeamte, die zwar einzeln, jedoch unter strenger Regierungskontrolle arbeiten. Wie bei Babeuf ist dies ein Kollektivismus nicht so sehr der Erzeugung als vielmehr der Verteilung. Um die Lenkung der Arbeitskraft zu übernehmen, muss der Staat die Macht besitzen, die Zahl der in einem bestimmten Industriezweig Beschäftigten festzusetzen.725 Die Entlohnung erfolgt auf der Basis proportionaler Gleichheit. Ein Mindestgehalt, das darauf berechnet ist, eine angemessene Existenz zu sichern, ist unbedingtes Postulat, doch weist Fichte unterschiedliche Entlohnung je nach Dienstleistung, Beitrag und Art der Aufgabe nicht von der Hand. Gelehrte haben andere Bedürfnisse als Bauern. „In diesem Staate sind alle Diener des Ganzen, und erhalten dafür ihren gerechten Anteil an den Gütern des Ganzen. Keiner kann sich sonderlich bereichern, aber es kann auch keiner verarmen“,726 denn das leitende Prinzip ist, „gleiche Theilung dessen, was Natur und Zufall ungleich vertheilt“727 haben. Der Vernunftstaat ist eine klassenlose Gesellschaft, im Gegensatz zu dem Notstaat, der mit einem Klassenstaat gleichgesetzt wird. Hier ist wiederum eine auffallende Analogie zur Babeuf’schen Auslegung des Zieles des Gesellschaftsvertrages. „Verarmen und in Mangel kommen kann keiner; ebensowenig seine Kinder und seine Enkel, wenn sie nur so viel arbeiten, als von ihnen nach der allgemeinen Landessitte gefordert wird. Keiner kann bevorteilt werden; keiner bedarf es, einen anderen zu bevorteilen, oder, wenn er es auch aus reiner Liebe zum Betruge wollte, so findet er keinen, gegen den er es vermöchte.“728 Es mag viele Menschen geben, die zu Beginn des geschlossenen Handelsstaates werden auswandern wollen, „Personen, welchen die neue Ordnung, welche allein wahre Ordnung ist, lästig, drückend, pedantisch vorkommen würde“.729 Lasst sie gehen, „an ihren Personen verliert der Staat nichts“.730 Später werden Auslandsreisen nur erlaubt werden, wenn sie wirklich notwendig sind, und dann auf Regierungskosten, da keine Beziehungen zu fremden Ländern unterhalten werden und so keine Privatperson im Besitz von fremder Währung sein kann. Die Bürger werden sehr glücklich sein. Die Regierung wird wenig Steuern erheben, da sie nicht viel auszugeben braucht. Sie mag zahlreichere Aufgaben haben als die bestehenden Regierungen, wie Über wachung und Wahrung des Gleichgewichts zwischen den verschiedenen wirtschaftlichen 725 726 727 728 729 730

Vgl. ebd. Fichte, Der geschlossene Handelsstaat, S. 25. Fichte, Sämtliche Werke, Band 7, Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, S. 210. Fichte, Der geschlossene Handelsstaat, S. 91. Ebd., S. 92. Ebd.

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Faktoren, doch es ist kaum wahrscheinlich, dass sie einen stärker besetzten Beamtenstab benötigt als ander weitig. „Die Leichtigkeit der Staatsver waltung [...] hängt davon ab, daß man mit Ordnung, Übersicht des Ganzen, und nach einem festen Plane zu Werke schreite.“731 Der Staat der Zukunft wird wenig Gelegenheit haben, Menschen anzuklagen oder zu bestrafen. Niemand wird zur Auf lehnung getrieben werden, keiner wird von Habgier beseelt sein – „der Druck der wirklichen Not, oder die Furcht der zukünftigen, ist gehoben“.732 „Wozu in aller Welt könnten sie [ der ] Vermehrung ihres Reichtums sich bedienen wollen ?“733 „Es ist den Untertanen wohl, und die Regierung ist die Wohltäterin gewesen.“734

5. Der Allgemeine Wille Ist der Staat die Schöpfung freier Individuen, oder sind die Individuen die Schöpfung des Staates ? Es ist wieder einmal Rousseaus Problem des Allgemeinen Willens. Nur der Allgemeine Wille verleiht dem Staat Legitimität. Im Prinzip sollte der Allgemeine Wille seine Realität von dem freien Willen aller erhalten. Doch er kann sicherlich nicht der tatsächliche „willkürliche“, empirische Wille derjenigen sein, die jetzt hier versammelt sind.735 Fichte wirft durchaus zu Unrecht Rousseau und der Französischen Revolution vor, sie hätten den empirischen Willen mit dem Allgemeinen Willen gleichgesetzt. Das Recht sollte „ein schlechthin in der Vernunft liegender, rein apriorischer Begriff“ sein, doch bei Rousseau erscheine alles „empirisch, willkürlich, erdichtet“.736 Fichte sieht hierin den Hauptgrund für das Misslingen der Französischen Revolution. 731 732 733 734

735

736

Ebd., S. 93. Ebd., S. 94. Ebd. Ebd. Interessanter weise wird der geschlossene Handelsstaat von Fichte als ein Werkzeug zur Pflege eines nationalen Geistes und einer nationalen Kultur und zur gleichen Zeit auch als ein Vehikel internationaler Kooperation ( im Babeuf’schen Geiste ) beschrieben; zu späteren Ideen über Staatssozialismus vgl. Walz, Die Staatsidee des Rationalismus, S. 629; Léon, Fichte et son temps, Band 2, 2. Halbband, S. 215– 219. Vgl. dazu Fichte, Sämtliche Werke, Band 3, Grundlage des Naturrechts, S. 151 f. : „Die Sicherheit der Rechte aller wird nur durch den übereinstimmenden Willen aller, durch die Uebereinstimmung dieses ihres Willens, gewollt. Nur hierüber stimmen Alle überein; denn in allem übrigen ist ihr Wollen particulär und geht auf die individuellen Zwecke. Kein Einzelner, kein Theil giebt [...] sich diesen Zweck auf, sondern nur alle mit einander.“ Vgl. auch Fichte, Science of Rights, S. 227–234. Fichte, Sämtliche Werke, Band 4, Staatslehre, S. 436; Fichte, Science of Rights, S. 227–234.

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Einerseits besteht Fichte auf vollständiger Gleichheit, nicht lediglich „Gleichheit dem Rechte nach“,737 sondern „Gleichheit der Rechte“,738 dass „alle ungefähr gleich angenehm leben können“,739 und sieht in der ausdrücklichen individuellen Einwilligung jedes Einzelnen in den Gesellschaftsvertrag das fundamentale Kennzeichen des Vernunftstaates. Andererseits kann er seine Augen nicht vor der Tatsache verschließen, dass die Menge dumm, wankelmütig und grausam ist. Sie könne nie besser werden, wenn es nicht eine gute Regierung gibt, die sie erzieht. Es kann keine gute Regierung geben, die nicht von einem klugen Volk gewollt wird. Außerdem ist die Geschichte eine einzige große Lehre, wie große und edle Dinge ihren Ursprung in brutaler Gewalt und niedriger Intrige hatten : „Alles, was in der gegenwärtigen Menschheit von Recht ist, ist [...] zu Stande gekommen, gegen die Formen des Rechts.“740 Wir können in diesen Worten bereits die Auffassung Hegels fühlen. Ver wirrt ruft Fichte aus : Die Angelegenheiten des Menschen scheinen in einen circulus vitiosus geraten zu sein. Es gibt, es muss einen Allgemeinen Willen geben, der mit der fundamentalen Konstitution und der permanenten, unveränderlichen Form des Staates gleichzusetzen ist – „durch die Natur der Sache [...] bestimmt [...]“.741 Doch der Versuch, diesen gemeinsamen Willen durch Aufaddierung der individuellen Willensäußerungen zu erzielen, würde einen sehr unreinen Willen zutage bringen.742 Was ist die Lösung ? Fichte versucht verschiedene Lösungen. Eine ist, einen Allgemeinen Willen in seiner weitesten und formalsten Form anzunehmen, „worüber alle einstimmen“ :743 „diese bestimmte Menschen - Menge soll rechtlich nebeneinander leben“.744 Schließlich sind alle sich einig über „Recht und Gesetz“ – und nur hierüber. Alle wollen die Herrschaft von Recht und Gerechtigkeit. Hier haben wir also Einmütigkeit – den Allgemeinen Willen. Wenn das einmal festgestellt ist und man die entsprechenden Statistiken hat, sollte es „leicht“ sein, das allgemeine Interesse in jedem einzelnen Fall zu bestimmen. Diese notwendigen und leichten Deduktionen, „jene notwendige Verfügung der Natur und des Rechtsgesetzes [ zu ] deuten und aus[ zu ]legen“,745 sollte der Exekutivgewalt überlassen werden oder vielmehr 737 738 739 740 741 742 743 744 745

Fichte, Sämtliche Werke, Band 7, Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, S. 180. Ebd., S. 180, 209. Fichte, Sämtliche Werke, Band 3, Der geschlossene Handelsstaat, S. 402. Fichte, Nachgelassene Werke, Band 2, S. 514. Vgl. auch Fichte, Sämtliche Werke, Band 5, Gerichtliche Verantwortung gegen die Anklage des Atheismus, S. 287. Fichte, Sämtliche Werke, Band 3, Grundlage des Naturrechts, S. 15. Vgl. ebd., S. 15 f. Ebd., S. 107. Ebd., S. 161. Ebd., S. 15.

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dem Beamtenstand, den Fichte, mit einem Auge auf den preußischen Staatsapparat, ebenso hoch einschätzte wie Hegel, nämlich als die Verkörperung eines reinen und objektiven kategorischen Imperativs, im Gegensatz zu dem Wankelmut, den heterogenen egoistischen Interessen und der groben Unwissenheit der Menge.746 Eine andere von Fichte ins Auge gefasste Lösung ist die eines Zwingherrn, einer Art Rousseau’scher Gesetzgeber oder Platonischer Philosoph, der die Nation dazu erzieht, den Allgemeinen Willen zu wollen, und sei es auch mit Hilfe einer machiavellistischen „medicina forte“.747 Es ist nicht überraschend, dass Fichte ihn als obersten Mandarin beschreibt. Er muss ein Mann von „höchste[ m ] Verstand [...] seiner Zeit und seines Volkes“748 sein; der dem Verständnis und den Ansichten seiner Zeit weit vorausgeeilt ist. Wie kann er die Überlegenheit beweisen ? Nur durch die Tat : „durch eine schöpferische, allen offenbare und factische, sinnliche Gewissheit tragende That“.749 Wir werden ihn erkennen, wenn wir ihn sehen. Schließt das nicht eine Aufforderung ein zu beweisen, dass Macht Recht ist ? Das göttliche Recht des Zwingherrn ist der „gemeingültige wissenschaftliche Verstand“750 und das Zeichen seines göttlichen Rechts „die That des wirklichen – mit Erfolge gekrönten – Lehrens“.751 Fichte nähert sich bedenklich der Anbetung des Erfolgs als Rechtsanspruch. Er lässt kein Oppositionsrecht gegen den Zwingherrn - Mandarin zu : „Gegen den Verstand hat keiner äusseres Recht: der höchste Verstand hat drum das Recht, alle zu zwingen, seiner Einsicht zu folgen“,752 denn er hat das „Schöpferrecht im Reiche der Geister“.753 Und wie steht es mit Fichtes heiligstem Prinzip, der Autonomie der menschlichen Vernunft, der absoluten Verurteilung, irgendetwas auf Grund äußerer Autorität zu tun ? Die Antwort lautet, dass „das Recht, frei von allen Banden

746 747

748 749 750 751 752 753

Vgl. Fichte, Sämtliche Werke, Band 3, Grundlage des Naturrechts, S. 158–163; Walz, Die Staatsidee des Rationalismus, S. 501. Vgl. Fichte, Sämtliche Werke, Band 4, Staatslehre, S. 444–458; Walz, Die Staatsidee des Rationalismus, S. 650–652; Fichte, Sämtliche Werke, Band 7, Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, S. 10. Fichte, Sämtliche Werke, Band 4, Staatslehre, S. 444 f.; Walz, Die Staatsidee des Rationalismus, S. 650. Fichte, Sämtliche Werke, Band 4, Staatslehre, S. 448. Ebd., S. 450; Walz, Die Staatsidee des Rationalismus, S. 652. Fichte, Sämtliche Werke, Band 4, Staatslehre, S. 450; Walz, Die Staatsidee des Rationalismus, S. 652. Fichte, Sämtliche Werke, Band 7, Politische Fragmente, S. 580. Fichte, Sämtliche Werke, Band 4, Staatslehre, S. 458. Vgl. auch Léon, Fichte et son temps, Band 2., 2. Halbband, S. 164–167, 171 f., 222 f.

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der äusseren Autorität mit seinem Denken zu dem Vernunftgesetze sich zu erheben, das höchste und unveräusserliche Recht der Menschheit [ ist ]; dieses Recht ist die unveränderliche Bestimmung des Erdenlebens der Gattung. Ohne Richtung aber innerhalb des leeren Gebiets grundloser Meinungen herumzuschwärmen, hat eigentlich kein Mensch das Recht; denn dieses Herumschwärmen hebt den eigentlichen Unterscheidungscharakter der Menschheit, die Vernunft, völlig auf.“754 Tatsache ist, dass für Fichte, ebenso wie für Godwin, Leidenschaft, Instinkt und irrationale Kräfte kein eigenes Dasein haben. Wenn sie der Vernunft entgegengesetzt sind, sind sie ein Unwesen, Unsinn. Wenn sie dem Postulat der Vernunft entsprechen, sind sie intensiver und vitaler gewordene Gedanken. Das gibt der Frage des Zwangs eine besondere Färbung: „Zwang ist selbst Erziehung – Erziehung nämlich zur Einsicht der sittlichen Bestimmung. Jenen übt das Rechtsgesetz; aber es führt dadurch zur Freiheit aller und macht so allmählich sich selber überflüssig. Die eigene Einsicht bedeutet nur die Form, indem alle dieselbe Einsicht haben sollen und haben könnten, nicht einen besonderen, etwa willkürlich erdachten Gehalt.“755 Und so wird Zwang nur dem Letzteren gegenüber angewandt. Die Erstere braucht keinen. Wenn alle erzogen sind, wird natürlich kein Raum sein für Zwang. Diejenigen, die gegenwärtig „unablässig nach Freiheit rufen, nach Freiheit des Handels und Erwerbes, Freiheit von Aufsicht und Polizei, Freiheit von aller Ordnung und Sitte. Ihnen erscheint alles, was strenge Regelmässigkeit und einen festgeordneten, durchaus gleichförmigen Gang der Dinge beabsichtigt, als eine Beeinträchtigung ihrer natürlichen Freiheit. Diesen kann der Gedanke einer Einrichtung des öffentlichen Verkehrs, nach welcher keine schwindelnde Speculation, kein zufälliger Gewinn, keine plötzliche Bereicherung mehr stattfindet, nicht anders als widerlich seyn.“756 Sie würden Fichtes Plan eines Polizeistaates mit seiner Über wachung der Sitten und der Forderung, „alle zeigen allen [...] an, wovon sie zu leben gedenken“,757 nicht akzeptieren. Und doch kann Fichte das Unbehagen nicht loswerden, das ihm das Dilemma von Freiheit und Vernunft, Freiheit und Erlösung verursacht. Es wäre für ihn unmöglich gewesen, Gladstones Ansicht zu akzeptieren, dass der beste Weg, den Menschen zur Freiheit zu erziehen, ist, ihm Freiheit zu geben. Er ist jedoch auch sehr unglücklich bei dem Gedanken, den Menschen zur Freiheit zu zwingen. Der Rettungsanker ist die Erziehung, die am Ende der Tage „das

754 755 756 757

Fichte, Sämtliche Werke, Band 7, Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, S. 83. Heinsen, Individuum und Gemeinschaft, S. 55. Fichte, Sämtliche Werke, Band 3, Der geschlossene Handelsstaat, S. 511. Ebd., Grundlage des Naturrechts, S. 214.

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von der Vernunft geforderte Reich des Rechts, und das vom Christenthume verheißene Reich des Himmels auf der Erde“758 herbeiführen wird. Es wird eine Theokratie nicht des Glaubens, sondern der Vernunft sein, von allen gleichermaßen klar verstanden und klar gewollt : „ein Werk menschlichen Verstandes, ohne alle höhere und göttliche Autorität“.759 Das ist die Idee der Freiheit in Gott. Die Kinder Gottes gehen in Freiheit umher. Es wäre Hohn, ihnen zu sagen, sie wüssten nicht, was Freiheit ist. Und dies ist die Lehre der Geschichte – in klarer und verblüffender Vor wegnahme von Saint - Simon und Hegel : Der Fortschritt der Menschheit kann definiert werden als Fortschritt vom Glauben an die Wahrheit auf Grund des Wortes einer Autorität zur bewussten Selbstidentifizierung freier Menschen mit der Vernunft. Die alte vorsokratische Welt war auf Autorität, göttlicher oder anderer, aufgebaut, die sich in Priestertum, Königtum oder Aristokratie verkörperte. Dann kam die von Sokrates herbeigeführte Revolution. Das Christentum bedeutete einen riesigen Schritt vor wärts, indem es die Gleichheit der Menschen vor Gott und die Bedeutung des inneren Glaubens und der Liebe zur göttlichen Wahrheit lehrte. Durch seinen Aufstand gegen die Autorität der Kirche als Mittler zwischen Gott und dem Menschen und durch seine Erhebung des individuellen Gewissens wurde Luther zu einem großen Helden im Kampf um die Identifizierung der Freiheit mit der Vernunft. Jetzt ist die deutsche Nation an der Reihe, die Menschheit zu einer Theokratie der Vernunft zu führen.

6. Rationalist und Romantiker Fichte war der Romantiker unter den Rationalisten und der Rationalist unter den Romantikern. Er symbolisiert sicherlich mehr als irgendeine andere Gestalt der Revolutionsperiode die Begegnung dieser beiden Welten. Es lag etwas intensiv Romantisches in diesem durch und durch egoistischen und gleichzeitig heroischen Entschluss, die Welt im Namen der Vernunft aus sich selbst heraus neu zu gestalten. Der prometheische Mythos der Romantik, der in den Augen Europas in Byron seine Verkörperung finden sollte, war die Schöpfung Fichtes. Fichte war im Grunde eigentlich kein beschaulicher Typ. Die Wahrheit zu ergründen und das Gefundene zu ordnen, war nicht der einzige Zweck, vielleicht nicht einmal der Hauptantrieb. Fichtes tiefstes Verlangen ging dahin, sich im Wirken auszudrücken und zu ver wirklichen. Der junge Plebejer träum758 759

Walz, Die Staatsidee des Rationalismus, S. 655. Ebd., vgl. auch ebd., S. 635, 652 f., 657.

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te davon, Berater irgendeines jungen Fürsten, vielleicht sogar ein Premierminister und ein großer Reformator zu werden. Infolge der besonderen Bedingungen in dem in unzählige Despotien zergliederten Deutschland, wo Kühnheit des Intellekts einen Ersatz für politische Leistung darstellte, war Fichte gezwungen, sich der geistigen Sphäre zuzuwenden, um einen Einfluss auf die Welt auszuüben. Fichte träumte davon, durch Entdeckung und Verkündung von Wahrheiten, die für die Menschheit bedeutungsvoll sind, die Welt von seinem Ruhm erklingen zu lassen. Er wollte der Schulmeister der Menschheit sein und die Macht haben, die menschliche Natur wie Ton in seinen Händen zu formen; auf seine donnernde Anklage würde sich eine Nation zerknirscht zu Boden werfen und dann geläutert und in unerschütterlichem Entschluss gestählt wieder erheben. Es ist mit Recht bemerkt worden, dass bei all seinem strengen, über wältigenden und unnachgiebigen Moralismus es Fichte an jener wunderbar unpersönlichen und unerschütterlichen ethischen Überzeugung, wie Kant sie besaß, fehlte. Daher nimmt Fichte sich sogar noch in seinen erhabensten prometheischen Flügen so klein aus neben dem Königsberger Philosophen mit seiner unvergleichlichen Heiterkeit, sogar noch neben dem Kant, der verzweifelt die Hände ringt über die unlösbaren Geheimnisse und Schwierigkeiten an den Grenzen unseres Verstehens. Wenn wir vergleichen, wie Fichte mit aller Wucht die Vernichtung unseres Ich predigt und Kant gleichsam seine Leistung siegelt mit der Feststellung, sie bilde die größte Umwälzung im menschlichen Denken, klingt jener noch immer wie lauter Stolz und Egoismus, während dieser irgendwie nicht den Eindruck von Überheblichkeit oder Anmaßung macht, sondern beinah von einfacher selbstverständlicher Feierlichkeit. Es steckte in Fichte ein gut Teil eines St. Augustin, und er erinnert uns auch an Luther. Er wies wie dieser eine Mischung von hohem Idealismus und grober Gewaltsamkeit auf. Heroisch, und doch wie oft wird niedrige List und Kleinlichkeit sichtbar. Es fehlte ihm jegliche Anmut und vor allem die befreiende Gabe des Humors. Er konnte beißend sarkastisch sein, doch niemals witzig. Er war feinster Ironie fähig, doch keiner Selbstverspottung. Niemals nahm ein Mensch sich selbst ernster als er. Es gab bei ihm keine Formlosigkeit oder Ungezwungenheit. Seine Schriften strotzen förmlich von würdevollen Substantiven und sein Stil schwankt zwischen der unverbesserlichen Trockenheit scholastischer Abstraktionen und leidenschaftlichen, flammenden, dithyrambischen Beschwörungen. Der Prophet der absoluten Würde der menschlichen Persönlichkeit war der tyrannischste und unduldsamste aller Menschen. Jeder Mensch und seine Persönlichkeit sind heilig, doch sicherlich hat keiner das Recht, dumm oder verderbt zu sein. Überheblich und über wältigend wie er war, fehlte es Fichte natür-

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lich an jeder Bescheidenheit. Eine Beschreibung Fichtes bei einer Vorlesung als Professor in Königsberg vermittelt einen leichten Begriff von ihm : seine feierlich abgemessenen Schritte beim Betreten des Vorlesungssaals; die funkelnden Augen, mit denen er minutenlang stumm in dem nur von ein paar Kerzen erleuchteten Saal umherblickte, so als ob er seine Hörer hypnotisieren wollte; der Einleitungssatz mit der gewichtigen Verlautbarung, die ganze Philosophie bis zum Erscheinen Fichtes sei ein einziger großer Irrtum gewesen; der darauf folgende Höllenlärm von Protesten, Füßescharren, Husten und Pfeifen; das Beharren des unbeirrten Professors in seinem stillen, hypnotischen und verächtlichen Blick; die Abhaltung einer Vorlesung über Esel, Pferde und dergleichen Tiere, die wiehern, brüllen und andere unartikulierte Laute von sich geben, anstatt klare Gedanken auszusprechen; schließlich Lautlosigkeit der eingeschüchterten Hörerschaft.760 In gewissem Sinne hatte der alte vernünftige Reinhold recht, wenn er zusammenfassend über die Wissenschaftslehre mit der aus ihr folgenden Theorie über die Aufhebung des Einzel - Ich durch das Universal - Ich erklärt, sie sei ausschließlich aus sündigem Hochmut her vorgegangen.761 Fichte hatte einen unersättlichen Appetit auf apriorische Systeme und unfehlbaren dialektischen Zusammenhang. Er widersetzte sich dem Eindringen aller Empirie. Und doch würde es zutreffend sein, von ihm zu sagen, dass der Romantiker in ihm eher Situationen erfuhr und erlebte, als dass er Probleme leidenschaftslos zergliederte. Die Intensität des Erlebnisses erscheint uns oft als logische Folgerichtigkeit. Das Bedürfnis, sich völlig in den vorliegenden Gegenstand zu vertiefen und das Erlebnis ganz zu Ende zu leben, mag eher als analytischer Scharfsinn die treibende Kraft gewesen sein, die Fichte sowohl zu den unerbittlichsten Schlüssen aus seinen Prämissen als auch zu seinem Hinüber wechseln aus einer Stellung in ihr genaues Gegenteil trieb. Wenn man etwas sehr lange und sehr intensiv anstarrt, fängt es an, wie sein Gegenteil auszusehen. Nachdem Fichte die extremsten Schlüsse aus seinen individualistischen Prämissen gezogen hat, findet er sich beim totalitären geschlossenen Handelsstaat angelangt. Eine tief liegende Spannung zwischen zwei widersprechenden Impulsen herrschte in Fichtes Seele. Wie über wältigend Fichtes Verlangen nach Selbst760

761

Vgl. Walz, Die Staatsidee des Rationalismus, S. 360 f. Walz zitiert aus einem Brief des berühmten Kriminologen Anselm Feuerbach : „Es ist gefährlich, mit Fichte Händel zu bekommen. Er ist ein unbändiges Tier, das keinen Widerspruch verträgt, und jeden Feind seines Unsinns für einen Feind seiner Person hält. Ich bin überzeugt, daß er fähig wäre, einen Mahomed zu spielen, wenn noch Mahomeds Zeiten wären, und mit Schwert und Zuchthaus seine Wissenschaftslehre einzuführen, wenn sein Katheder ein Königsthron wäre.“ Ebd., S. 360. Vgl. Léon, Fichte et son temps, Band 2, 1. Halbband, S. 292–294.

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entfaltung und Selbstbehauptung auch gewesen sein mag, sein Sehnen nach Selbstaufgabe war nicht weniger tief. In der Verbindung dieser beiden Triebe und in der Spannung zwischen ihnen liegt die Größe, der unvergleichliche Idealismus des Mannes. Die Welt aus sich selbst heraus formen – ja, doch ebenso tief sind der metaphysische Trieb und die Suche nach dem Einen sowie Fichtes zuzeiten erhabene Intuition von der Einheit des universalen Seins. Dann wird er wahrhaft eindringlich, und dann scheint ihm, nach so viel Mühe und Anstrengung, jenes Maß von Selbstaufgabe zu gelingen, das ihm zwar nicht den Frieden (Gottes), welcher höher ist denn alle Vernunft, bringt, jedoch wenigstens Erhebung und momentane Seligkeit.762 „Die gänzliche Vernichtung des Individuums und Verschmelzung desselben in die absolut reine Vernunftform oder in Gott ist allerdings letztes Ziel der endlichen Vernunft.“763 Denn es gibt „nur Eine Tugend, die – sich selber als Person zu vergessen, und nur Ein Laster, das – an sich selbst zu denken“.764 Fichte illustriert die erstaunliche Verschiebung im deutschen Denken vom atomistischen Rationalismus zum romantischen Organizismus und das intensive Bewusstwerden von kollektiven Wesenheiten.765 Nicht die Zusammenhänge und Symmetrien von mechanisch erdachten Gefügen, sondern das Leben mit seinen verschlungenen und ineinandergreifenden Elementen, mit Inhalten in unaufhörlichem Fluss und Schwung, begann als Hauptbezugspunkt zu dienen. In lebendigen Wesenheiten, die nicht zerlegt werden können, ist alles Teil von einem anderen, und alles gehört zu etwas Gewaltigerem und Bedeutsamerem.766 Der Widerspruch zwischen dem egoistischen Impuls und dem Gefühl eines unpersönlichen gewaltigen Einsseins findet seine Lösung im Aufgehen des Einzelnen in einer Idee. Er lebt und stirbt für die Idee. Er wird eins mit der Idee, dem Volk, dem Sozialismus, der Revolution. Fichte war der Held Carlyles und der Prototyp der langen Serie von Propheten - und Messiasgestalten im neunzehnten Jahrhundert.767

762 763 764 765

766 767

Vgl. Fichte, Popular Works, Band 1, The Vocation of the Scholar, S. 138, 141–149, 153–160. Fichte, Sämtliche Werke, Band 4, Sittenlehre, S. 151. Fichte, Sämtliche Werke, Band 7, Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, S. 35. Vgl. auch ebd., Band 4, Sittenlehre, S. 183, 188. Vgl. Walz, Die Staatsidee des Rationalismus, S. 531 f., 359, 379 ff., über das LogosDemurgios-Problem, „despotischen Rationalismus“ und „cäsarische Demokratie“ in Fichtes Persönlichkeit; Kluckhohn, Das Ideengut der deutschen Romantik, über die Entwicklung von rationalistischem Atomismus zu romantischem Organizismus. Vgl. Fichte, Popular Works, Band 2, Characteristics of the Present Age, S. 33–35. Vgl. Walz, Die Staatsidee des Rationalismus, S. 379 f., klassifiziert eher mit Schopenhauer und Nietzsche als mit Kant.

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7. Der Eine und die Vielen „Die ganze Philosophie, dass alles menschliche Denken und Lehren [...], auf nichts anderes abzwecken kann, als auf die Beantwortung der [...] letzten höchsten [ Frage ] : Welches ist die Bestimmung des Menschen [...] und durch welche Mittel kann er sie am sichersten erreichen ?“768 Und dann : „Das Wesen der Philosophie würde darin bestehen : Alles Mannigfaltige [...] zurückzuführen auf absolute Einheit [...] Darstellung des Absoluten.“769 Das Ich, das der archimedische Punkt war, der absolute Anfang, der Konstrukteur des Universums, das Einzel - Ich wird ausgelöscht vor dem UniversalIch, dem Geist der Menschheit in seinem unaufhörlichen Kampf. Das EinzelIch ist ein empirisches, zufälliges Phänomen. In dieser Beziehung ist es die Aufgabe und das Ziel des empirischen Individuums, seine Individualität aufzugeben, als eine gesonderte Wesenheit vernichtet zu werden und mit dem Streben des Universal - Ich zu verschmelzen.770 „Das Ich, als Idee, ist das Vernunftwesen, inwiefern es die allgemeine Vernunft theils in sich selbst vollkommen dargestellt hat, wirklich durchaus vernünftig und nichts, als vernünftig ist; also, auch aufgehört hat, Individuum zu seyn, welches letztere es nur durch sinnliche Beschränkung war : theils, inwiefern das Vernunftwesen die Vernunft auch ausser sich in der Welt, die demnach auch in dieser Idee gesetzt bleibt, ausführlich realisirt hat.“771 Durch die Vernichtung seiner Individualität wird der Mensch zum reinen Vertreter des Sittengesetzes in der Welt der Sinne; er ist dann „eigentliches reines Ich, durch freie Wahl und Selbstbestimmung“.772 „Ihre Geister streben und ringen sich zu vereinigen, um nur Einen Geist in mehreren Körpern zu bilden. Alle sind Ein Verstand und Ein Wille, und stehen da als Mitarbeiter an dem grossen einzigmöglichen Plane der Menschheit.“773 Fichte wird ungehalten über die Beschuldigung des Egoismus, die gegen ihn erhoben worden war : wo doch das Wesentliche seines ganzen Systems 768 769 770 771 772 773

Fichte, Sämtliche Werke, Band 6, Bestimmung des Gelehrten, S. 294. Fichte, Nachgelassene Werke, Band 2, S. 93 f. Vgl. Fichte, Science of Ethics, S. 159, 239 f. Fichte, Sämtliche Werke, Band 1, Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, S. 515 f. Fichte, Sämtliche Werke, Band 4, Sittenlehre, S. 256; Walz, Die Staatsidee des Rationalismus, S. 479. Fichte, Sämtliche Werke, Band 1, Über die Würde des Menschen, S. 414. Siehe auch ebd., S. 416: „Erd und Himmel und Zeit und Raum und alle Schranken der Sinnlichkeit schwinden mir bei diesem Gedanken; und das Individuum sollte mir nicht schwinden ? [...] Alle Individuen sind in der Einen grossen Einheit des reinen Geistes eingeschlossen; dies sey das letzte Wort, wodurch ich mich Ihrem Andenken empfehle.“

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darin liegt, die Individualität vom theoretischen Gesichtspunkt aus unbeachtet zu lassen und sie vom praktischen Standpunkt aus zu verneinen. Doch auch diese Selbstvernichtung muss vom Individuum gewollt werden.774 „Das ist einmal das Gesetz der Geister welt : alles, was zum Gefühle des Daseyns gekommen, falle zum Opfer dem ins unendliche fort zu steigernden Seyn.“775 In der Rechtslehre machte Fichte die wichtige Entdeckung des DU. Das Ich und das Du wirken aufeinander, spornen sich gegenseitig an, nach Vollkommenheit zu streben, das reine Ich zu ver wirklichen. Es handelt sich nicht mehr um Zurückhaltung, um das Streben des anderen nach Selbstbildung nicht zu stören. Wir erziehen einander, wir fühlen für einander und teilen die gleichen Erlebnisse. „Der Mensch [...] wird nur unter Menschen ein Mensch; [...] sollen überhaupt Menschen seyn, so müssen mehrere seyn.“776 Wir leben nicht lediglich nebeneinander und koordinieren unsere Bemühungen. Wir leisten uns gegenseitig Dienste. „Nicht wir selbst sind unser Endzweck, sondern Alle sind es. [...] Alle haben die gleichen Ueberzeugungen.“777 Er ist nicht etwa nur ein Mittel für seinen Nachbarn. Wir alle sind Mittel und helfen uns gegenseitig, die Vernunft, das reine Ich, auf den Thron zu setzen. Woraus folgt, „jeder soll in der Gesellschaft leben“.778 „Der Mensch ist bestimmt, in der Gesellschaft zu leben; [...] er ist kein ganzer vollendeter Mensch und widerspricht sich selbst, wenn er isolirt lebt.“779 Bisher bezog sich das Sittengesetz nur auf Individuen und ihre Beziehungen untereinander. Jetzt wird ihm das Leben in der Gesellschaft angeglichen. Denn das Leben in der Gesellschaft wird jetzt als in der innersten Natur des Menschen liegend und als das Wesentliche seiner Berufung gesehen.780

774 775 776

777 778 779

780

Vgl. Fichte, Characteristics of the Present Age, S. 12, 33, 36, 80 f.; ders., Science of Ethics, S. 159, 239 f. Fichte, Sämtliche Werke, Band 7, Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, S. 63. Fichte, Sämtliche Werke, Band 3, Grundlage des Naturrechts S. 39. Vgl. auch ebd., S. 38, sowie Metzger, Gesellschaft, Recht und Staat, S. 121, Fußnote 3 : „Es ist kein Individuum, wenn es nicht ihrer wenigstens zwei gibt.“ Vgl. auch Walz, Die Staatsidee des Rationalismus, S. 481. Fichte, Sämtliche Werke, Band 4, Sittenlehre, S. 253. Vgl. auch Metzger, Gesellschaft, Recht und Staat, S. 129. Fichte, Sämtliche Werke, Band 4, Sittenlehre, S. 234; ders., Sämtliche Werke, Band 6, Bestimmung des Gelehrten, S. 306. Fichte, Sämtliche Werke, Band 6, Bestimmung des Gelehrten, S. 306; Léon, Fichte et son temps, Band 1, S. 286, s. auch S. 384, 431; Metzger, Gesellschaft, Recht und Staat, S. 119, Fußnote 2; Walz, Die Staatsidee des Rationalismus, S. 477. Vgl. Fichte, Sämtliche Werke, Band 6, Bestimmung des Gelehrten, S. 306–308; Metzger, Gesellschaft, Recht und Staat, S. 119–121; Walz, Die Staatsidee des Rationalismus, S. 477–482; Heinsen, Individuum und Gemeinschaft, S. 18, 60.

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8. Organisation und Organismus An diesem Punkt scheint Fichte über die Grenzen des atomistischen Individualismus des achtzehnten Jahrhunderts hinauszugreifen. Der leicht beeindruckbare Fichte ist gebannt von der Vorstellung einer komplexen, verzweigten Gesellschaft, die durch die wunderbare Verbindung und Verschmelzung so vieler und verschiedener Kräfte gewaltig vor wärts schreitet : Es herrscht wirkliche Solidarität unter den Menschen, eine Gegenseitigkeit im Handeln einiger gegenüber anderen, die die Gesellschaft zu einem organischen Ganzen, einer Einheit, einer Gemeinschaft macht.781 „Ver vollkommnung seiner selbst durch die frei benutzte Einwirkung anderer auf uns : und Ver vollkommnung anderer durch Rückwirkung auf sie [...] ist unsere Bestimmung in der Gesellschaft.“782 „Ich kenne wenig erhabenere Ideen [...] als die Idee dieses allgemeinen Einwirkens des ganzen Menschengeschlechtes auf sich selbst, dieses unaufhörlichen Lebens und Strebens, dieses eifrigen Wettstreites zu geben und zu nehmen.“783 Die Entwicklung der Gesellschaft zur Vollkommenheit lässt sich in Beziehung setzen zum Fortschritt in der Integration und der Verbindung ihrer Teile untereinander. Kein Element ist selbstgenügsam, an sich und durch sich selbst bestehend. Jedes Element dient einem anderen als Triebfeder. Jedes Element wird gedrängt, sein eigenes Sein und Wirken mit dem Sein und Wirken eines anderen Teils der Natur zu vereinen. Überall in der Natur herrscht der Organisationstrieb vor. Und hier kommt Fichte zu einer folgenschweren Einsicht : der Organisationstrieb beflügelt das Universal - Ich. Das Universal - Ich nimmt den Charakter eines vorausbestimmten organisierten Naturproduktes an.784 Und was geschieht in diesem Fall mit der selbstschöpferischen Spontaneität des Menschen ? Wenn das universale Gebilde festgelegt ist, dann ist sicherlich der Platz jedes Teils und die Rolle jeder Kraft vorausbestimmt. Fichte gibt eine Hegel’sche Antwort; „die gemeinsame Triebfeder“ des „allgemeinen Eingreifens zahlloser Räder“ ist Freiheit.785 Mit anderen Worten : Freiheit ist Selbsterfüllung. Ihre Frucht ist die „schöne Harmonie“, die aus dem reibungslosen

781 782 783 784 785

Vgl. Léon, Fichte et son temps, Band 1, S. 287. Fichte, Sämtliche Werke, Band 6, Bestimmung des Gelehrten, S. 310; Léon, Fichte et son temps, Band 1, S. 287. Fichte, Sämtliche Werke, Band 6, Bestimmung des Gelehrten, S. 311; Léon, Fichte et son temps, Band 1, S. 287. Vgl. Fichte, Sämtliche Werke, Band 3, Grundlage des Naturrechts, S. 202–208; Fichte, Science of Ethics, S. 125, 129 f. Fichte, Sämtliche Werke, Band 6, Bestimmung des Gelehrten, S. 311.

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Ineinandergreifen aller Teile folgt. „Es ist hier überall Harmonie, Wechselwirkung, nicht etwa blosser Mechanismus.“786 In diesem Schema der Dinge wird der Staat eine „Allheit“, eine „Gemeinschaft“, ein „organisirtes Naturproduct“, „ein einziges organisirtes und organisirendes Ganzes der Vernunft“. Nicht mehr eine willkürliche Erfindung, eine von Menschen zusammengefügte Maschine, nicht mehr ein compositum, sondern ein totum, „ein unzertrennliches organisches Ganzes“.787 „Es ist Gewissenssache, sich den Gesetzen seines Staates unbedingt zu unterwerfen.“788 Hier angelangt, hat Fichte natürlich keine andere Wahl, als die Idee der angeborenen Menschenrechte zu verneinen. Es ist sinnlos, außerhalb des Rahmens konkreter und positiv umgrenzter Beziehungen von Rechten zu sprechen. „Außer dem Staate ist kein Recht. Niemand hat Recht, denn ein Staatsbürger.“789 Natürliche Rechte begreifen nichts anderes in sich als das Recht, auf Gottes Erde frei umherzugehen, reine Luft zu atmen und legale Verträge abzuschließen. Doch sind diese nur möglich in Verbindung mit den Gesetzen der Gemeinschaft. Das Leben im Staate ist daher „der einzige wahre Naturstand des Menschen“.790 In diesem Kontext ist „wahre Freiheit“ das, was aus dem „Durchgang durch die höchste Gesetzmässigkeit“791 her vorgeht, und nicht ein apriorischer Anspruch des natürlich freien Individuums an den Staat. Der Einzelne ist nicht der Erbauer des Staates, denn die Persönlichkeit des Menschen wird erst wirklich „in dem durch das Ganze ihm bestimmten Stande [...]. In dem organischen Körper erhält jeder Theil immerfort das Ganze, und wird, indem er es erhält, dadurch selbst erhalten; [...] und eben dadurch, dass das Ganze jeden Theil in diesem seinem Stande erhält, kehrt es in sich selbst zurück, und erhält sich selbst.“792 Freiheit wird so nicht eine Forderung, sondern eine Begleiterscheinung eines Gemeinschaftserlebnisses, eine Aufgabe, die dem Individuum in dem Gesamtplan zugewiesen ist im Einklang mit dem Prinzip der Arbeitsteilung. Das Ganze kommt vor den Teilen. Wenn nun der Staat eine eigene Wesenheit, ein Selbstzweck sein soll, was geschieht dann mit dem Individuum, dessen Rechte, Freiheit, Glückseligkeit 786 787

788 789 790 791 792

Fichte, Sämtliche Werke, Band 4, Sittenlehre, S. 124; Fichte, Science of Ethics, S. 129. Vgl. auch ders., Sämtliche Werke, Band 3, Grundlage des Naturrechts, S. 47 f. Vgl. Fichte, Sämtliche Werke, Band 3, Grundlage des Naturrechts, S. 202–208, bes. S. 202 f.; ders., Science of Ethics, S. 126–129; ders., Popular Works Band 2, Characteristics of the Present Age, S. 150 f. Fichte, Sämtliche Werke, Band 4, Sittenlehre, S. 238. Fichte, Nachgelassene Werke, Band 2, S. 515. Fichte, Sämtliche Werke, Band 8, Recensionen, S. 431. Vgl. auch Fichte, Sämtliche Werke, Band 3, Grundlage des Naturrechts, S. 202–208. Fichte, Sämtliche Werke, Band 7, Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, S. 210. Fichte, Sämtliche Werke, Band 3, Grundlage des Naturrechts, S. 209.

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Vom naturrechtlichen Individualismus ( Fichte )

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und Wille das letzte Ziel, die Grundlage des Gesellschaftsvertrages sind ? Fichte stellt sich qualvoll diese Frage. Er bemüht sich sehr, die beiden Ziele zu verbinden. „Der Staat befördert sonach, nichts denkend als sich selber, dennoch mittelbar den allerersten Zweck der menschlichen Gattung.“793 „Der Zweck des Staats, sich selbst zu erhalten, und der Zweck der Natur, die menschliche Gattung in die äusseren Bedingungen zu versetzen, in denen sie mit eigener Freiheit sich zum getroffenen Nachbilde der Vernunft machen könne, fallen zusammen; und indem auf die Erreichung des ersteren hingearbeitet wird, wird zugleich der letztere erreicht.“794 Das ist mehr ein Wunsch als ein Beweis. Es ist außerdem eine Hegel’sche Lösung : volles Verständnis und liebende Einverleibung in die menschliche Persönlichkeit der im historischen Prozess und vor allem im Staat realisierten universalen Vernunft – das ist Freiheit.

9. Vom Weltbürgertum zum Nationalismus Es lohnt sich, zum Zwecke des Vergleichs einen Blick zu werfen auf Fichtes Entwicklung vom entschiedensten individualistischen Weltbürger zu einem Propheten des deutschen Nationalismus. Das Vaterland des erleuchteten Mannes, so behauptet er in den Jahren um 1790, ist nicht das bestimmte, durch Grenzen bezeichnete oder von Hügeln und Flüssen umgebene Stück Land, auf dem er zufällig geboren wurde, sondern dasjenige Land, das im Augenblick die Avantgarde des Fortschritts darstellt.795 Und „keinem vernünftigen Menschen [ kann es ] streitig seyn, daß die Principien, auf denen die Fränkische, und die nach ihrem Muster gebildeten Republiken ruhen, die einzigen sind, bei denen die Würde der Menschheit besteht“.796 Das Antlitz des erleuchteten Mannes ist dem Licht der Sonne zugewendet, das von Frankreich ausstrahlt.797 Was liegt einem lothringischen Bauern oder einem rheinischen Winzer daran, ob sein Dorf auf der Landkarte als zum Deutschen Reich gehörig

793 794 795 796 797

Fichte, Sämtliche Werke, Band 7, Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, S. 162. Ebd. Vgl. auch ders., Popular Works, Band 2, Characteristics of the Present Age, S. 169 f. Vgl. Fichte, Sämtliche Werke, Band 7, Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, S. 211 f. Walz, Die Staatsidee des Rationalismus, S. 524. Vgl. Fichte, Sämtliche Werke, Band 7, Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, S. 212.

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Sozialistischer Messianismus

erscheint ? Was könnte ihn veranlassen, seinen Spaten hinzulegen und in den Krieg zu ziehen, um es dort, im Reich, zu halten ?798 Nach Fichtes Gefühl gehörte sein System der französischen Nation an, da es von ihren Idealen beseelt war. Er empfand keine Gewissensbisse, von Frankreich eine Pension und einen Lehrstuhl an der Universität Straßburg zu verlangen, damit er imstande wäre, die deutschsprechende Jugend nach den Idealen der Französischen Revolution zu bilden : „daß die Republik auch mich und meine Kräfte brauchen könne, und ich auf diese Weise aus Deutschland, das ich denn doch für ein fremdes Land in Rücksicht auf mich betrachten muß, hinwegkomme.“799 Fichte schreibt vergnügt über die Niederlagen der österreichisch - deutschen Truppen durch die Franzosen und verzeichnet mit besonderer Freude die Gleichgültigkeit der deutschen Bevölkerung gegenüber dem Unbehagen der konterrevolutionären Armeen. Es ist besonders interessant zu beobachten, wie der Metaphysiker zur Verherrlichung der Macht getrieben wird, wenn er das revolutionäre Frankreich in Gefahr sieht. Es handelt sich dann nicht mehr um eine Frage des Prinzips, sondern der Macht. So schreibt er nach dem Mord in Rastatt : „Ich übergebe mich hierdurch feierlich mit allem, was ich kann und vermag, in die Hände der Republik; nicht, um bei ihr zu gewinnen, sondern um ihr zu nützen, wenn ich kann. Und was kann ich ? Wissenschaft ist nicht das nächste, dessen sie bedarf. Diese erwartet bessere Zeiten. Jetzt bedarf sie schrekende Rache, und eine Superiorität, vor der der Feind nur bebe. [...] Dies ist ein Krieg der Principien. Nur die furchtbarste Überlegenheit kann der Republik Ruhe, und Existenz verschaffen.“800 Prinzipien, das bedeutet Macht ! Denn Fichte fühlt sowohl sein eigenes persönliches Geschick als auch die Zukunft aller Werte, die ihm teuer sind, mit dem Sieg oder der Niederlage Frankreichs verknüpft : „Es ist klar, daß von nun an nur die Fr[ anzösische ] Rep[ ublik ] das Vaterland des rechtschaffnen Mannes seyn kann, nur dieser er seine Kräfte widmen kann, indem von nun an nicht nur die theuersten Hoffnungen der Menschheit, sondern sogar die Existenz derselben an ihren Sieg geknüpft ist.“801 Oder : „In wenigen Jahren in Deutschland kein Mensch mehr, der dafür bekannt ist, in seinem Leben einen freien Gedanken gedacht zu haben, eine Ruhestätte finden wird.“802

798 799 800 801 802

Vgl. Fichte, Sämtliche Werke, Band 6, Beiträge zur Berichtigung der Urtheile des Publikums über die Französische Revolution, S. 95. Walz, Die Staatsidee des Rationalismus, S. 527. Vgl. auch ebd., S. 355. Ebd., S. 525. Ebd. Ebd., S. 526.

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Die Niederlage Preußens von 1806/07 und der moralische Zusammenbruch Deutschlands angesichts der fremden Invasion öffneten Fichte die Augen darüber, dass kosmopolitischer Individualismus in Deutschland zu nihilistischem Egoismus und äußerstem Mangel an sozialer Verantwortung degeneriert war. So unterlag die Menge, die den gemeinschaftlichen Willen bildete, zu leicht dem eigenmächtigen Willen eines einzelnen Mannes. Das Heilmittel, das Fichte mit mehr als seiner üblichen Heftigkeit predigte, war eine äußerste Anstrengung zur Umerziehung des deutschen Volkes, in erster Linie der Jugend – in spartanischen Instituten der Bildung und Charakterfestigung – zur höchsten Stufe moralischer Tapferkeit, selbstloser Dienstbereitschaft und geistiger Hochherzigkeit. Fichtes Begriff der Nation in seinen Reden an die deutsche Nation nach der Katastrophe von Jena enthält heterogene Elemente von Rationalismus und Romantizismus. Romantisch ist der Gedanke von der Einzigartigkeit der deutschen Nation als der einzigen schöpferischen Nation in Europa, weil sie ihre ursprüngliche Sprache beibehalten hatte, während andere Nationen die lateinische Sprache übernahmen und auf diese Weise eine artfremde Persönlichkeit und uneigene Denkweisen entlehnten. Deutsche Gedanken und Erlebnisse werden direkt von der Quelle bezogen und in tiefen Wehen geboren; die anderen Nationen gleiten an der Oberfläche dahin, geben sich mit Variationen über fremde Themen ab oder laben sich am Honig anderer. Die kollektive Wesenheit der deutschen Nation ist die ursprüngliche Gegebenheit, das Individuum ist von ihr abgeleitet. Zur gleichen Zeit sieht Fichte die Aufgabe der deutschen Nation nicht eigentlich in der Pflege ihrer deutschen Überlieferungen und Gebräuche, sondern in der Erfüllung des universalen kategorischen Imperativs des Sittengesetzes als Lehrmeister der Nationen; eine Mission, weit erhabener als die wilde Jagd nach Kolonien und Märkten, in der die anderen Nationen in ihrer Unreife sich verausgaben.

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B. Marx : Von der totalitären Demokratie zum messianischen Kommunismus 1. Hegel’sche Dilemmata Hegel versucht, die gleichen Fragen zu beantworten, die Fichte sich stellte. Nur beginnt er dort, wo Fichte aufhörte.803 Die Mannigfaltigkeit der nach Freiheit strebenden Individuen und die Einheit des Seins; Freiheit und Notwendigkeit; das Individuum und das Universale; menschliche Spontaneität und soziale Kohäsion; Freiheit und Gleichheit – das sind Rätsel, die niemals aufhören, Hegel zu beschäftigen. Fichtes Ausgangspunkt war das emanzipierte Individuum, das danach strebt, einen Universalbau zu errichten. Am Ende dieses Strebens wurde der Universalbau zum Gesetzgeber für das Individuum. Hegel beginnt bei der Totalität des Seins in seiner allmählichen Entwicklung im Laufe der Zeit. Er sieht die Ver wirklichung der menschlichen Freiheit innerhalb dieses Universalschemas – in der Erfüllung einer Bestimmung. Das war eine bedeutsame Abweichung von der überkommenen Anschauung, die sich sowohl von der Doktrin der Erbsünde als auch von der Platonischen Unterscheidung zwischen einem Höheren von reinen, idealen Formen und einem Niederen von mangelhaften Widerspiegelungen, zweifelhaften Nachahmungen und chaotischem Gemisch herleitete. Hier wurde die Vision der Geschichte als einer Geschichte des Nichterreichens eines idealen Vorbildes ver worfen und die Unvermeidbarkeit des ewigen Konfliktes zwischen Theorie und Praxis, Geist und Materie, Vernunft und Natur, Kirche und Staat, Himmel und Erde, Gemeinwohl und Privatinteresse verneint. Das Ideale und das Rationale, das Universale und das Objektive

803

Benutzte Werke : Die gesammelten Schriften von Marx aus der Zeit bis 1848; Marx/ Engels, Historisch - kritische Gesamtausgabe; Marx, Frühschriften. Hegelianer und Junghegelianer und Werke über Marx und Engels : Friedrich ( Hg.), The Philosophy of Hegel; Hegel, Early Theological Writings; ders., The Phenomenology of the Spirit; ders., Philosophy of Right; ders., Philosophy of History; Adams, Karl Marx in his earlier Writings; Berlin, Karl Marx; Bougle, Chez les prophètes socialistes; Cornu, Karl Marx und Friedrich Engels; ders., Moses Hess et la gauche hégélienne; ders., Karl Marx et Friedrich Engels; Dilthey, Die Jugendgeschichte Hegels; Hess, Sozialistische Aufsätze; Hook, From Hegel to Marx; Löwith, Von Hegel zu Nietzsche; Lukács, Der junge Hegel; ders., Zur philosophischen Entwicklung des jungen Marx; Marcuse, Reason and Revolution; Mayer, Friedrich Engels (2 Bände ); Mehring, Karl Marx; ders., Geschichte der deutschen Sozialdemokratie; Popitz, Der entfremdete Mensch; Rawidowicz, Ludwig Feuerbachs philosophische Jugendentwicklung; Rosenzweig, Hegel und der Staat (2 Bände ); Rotenstreich, Marx’ Thesen über Feuerbach, S. 338– 448; Rubel, Karl Marx; Stace, The Philosophy of Hegel; Zlocisti, Moses Hess.

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werden in dem konkreten Phänomen und in der besonderen Verkettung ver wirklicht. Am Ende der Geschichte wird mit der Ver wirklichung aller Möglichkeiten die Vernunft in ihrer Totalität entfaltet sein. Die Ver werfung des überkommenen Dualismus war durch zwei Beweggründe motiviert. Der eine war der Wunsch, die Menschenwürde zu bekräftigen. Da der Mensch nicht länger eine gefallene Kreatur war, auf Gnade angewiesen in ihrer Unfähigkeit, sich selbst zu erlösen, besaß das Drama der menschlichen Geschichte eine ihm eigene Rechtfertigung und Rationalität. Der zweite Beweggrund – eng verknüpft mit dem ersten – war die Erkenntnis, dass ein gewaltiger Wandel in den Angelegenheiten des Menschen stattgefunden hatte, der eine Revision von Werten und Anschauungen gebieterisch verlangte. Es ergaben sich sehr große Schwierigkeiten. Die Vision der Geschichte als Selbstver wirklichung des in all seinen Artikulationen und Differenzierungen eins seienden Geistes bedeutete, dass – wie in Fichtes späterem System – das Ganze, das universale Schema, vor den Teilen kam. Diese erhielten ihren Platz und ihre Bedeutung aus dem Kontext der Totalität. Hegels Bemühen, das Universale im konkret Besonderen zu sichern, musste die Hegel’sche Geschichte in eine Verkettung von Bedeutungen ver wandeln, in ein Gefüge idealer Verbindungen hinter dem Fluss der Ereignisse und der Vielheit menschlicher Betätigungen. Letzten Endes war das Besondere wirklich, insoweit es teilhatte an der universalen und objektiven Wesenheit. Das Mögliche und Zufällige waren gleichsam nicht wirklich. Hegel schien damit seine ursprünglichen Prämissen zu verneinen. Er hatte sich die Aufgabe gestellt, den Menschen und die Geschichte, so wie sie waren, als lebendige und konkrete Realitäten, zu rechtfertigen. Stattdessen ver wandelte er die Geschichte in ein Subjekt, das sich zu den konkreten Realitäten so verhielt wie die Substanz zum Zufall. Hegel war nicht länger an lebendigen, schaffenden, leidenden Geschöpfen interessiert, sondern an Menschen, die als Symbole von Ideen dienen konnten und als Verkörperungen von Bestrebungen erschienen. Der alte Dualismus schien wieder hergestellt. Es gab wieder ideale Bedeutung und bloße Erscheinung, Himmel und Erde. Das Leben trug seine Rechtfertigung nicht in sich selbst. Es leitete sie von der Anpassung an ein gewisses äußeres und überlegenes System ab. Der Mensch, der wirkliche Mensch, musste noch einmal gerettet werden. Umso mehr, da Hegel sein Lebenswerk mit der folgenschweren Verneinung seiner anderen entscheidend wichtigen Prämisse besiegelte. Sein Beginn war eine Begleiterscheinung der herannahenden messianischen Revolution. Am Ende verkündete er, die Verheißung habe sich bereits erfüllt. Die Wirklichkeit wurde von Hegel zuerst als etwas immer im Zustand des Werdens Befindliches dargestellt, als ein Sich - Erfüllen durch die Entfaltung

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aller Möglichkeiten. Sie ist ständig bemüht, aus einer Phase zu einer höheren Mutation durchzubrechen. Wenn sie gerade erst eine Reihe von widerspruchsvollen Gegebenheiten ausgeglichen und miteinander in Einklang gebracht hat, wird sie durch das Auftreten neuer Widersprüche dazu getrieben, eine neue Synthese zu bewirken. Die höhere Phase ist in der niederen als ihr Widerspruch enthalten, und die niedere ist das Potential der höheren. Die Entfaltung der vernunftgemäßen Realität ist gleichbedeutend mit dem Entwicklungsprozess zu voller Artikulation hin. Sie ist vergleichbar dem Austrieb des Baumes aus dem Samen und seiner Verzweigung bis zur vollen Ausbildung, mit der Knospe, die wächst, verschwindet, als Blatt wieder erscheint und sich zu einem Zweig entwickelt. Sie ist wie eine Theorie, die sich in all ihren Verästelungen entfaltet. Die Geschichte ist rational. Sie ist Logik, die sich von innen her herausarbeitet. Welchen Platz nimmt das menschliche Bewusstsein gegenüber dieser Entfaltung eines objektiven Systems der Vernunft ein ? Es bestehen zwei Möglichkeiten. In dieser dauernden Bewegung vom Möglichen zum Tatsächlichen, vom Rudimentären zum voll Artikulierten, von der Existenz zur Essenz, vom Sein zur Idee ist das Bewusstsein stets der Wirklichkeit voraus. Da es Richtung und Art der nächsten Wandlung begreift, ist das Bewusstsein von heiliger Ungeduld und großzügigem Entschluss erfüllt – teils weil die Geburtswehen den Menschen schweres Leid zufügen –, als Hebamme zu fungieren und den Übergang zu beschleunigen. Die Menschen lehnen sich um des Idealen willen gegen das Reale auf. Ihr Handeln überbrückt die Kluft zwischen dem Möglichen und dem Tatsächlichen, zwischen dem Wirklichen und dem Rationalen. Die andere Möglichkeit ist die Deutung der Freiheit als Inbegriff des Wirkens der Vernunft und als Schritthalten mit dem Gang des Geistes. Systeme werden gebildet, aufgehoben und wieder neu gebildet. Sie sind objektiv und doch das Objekt menschlichen Handelns. Ihr rationaler Sinn ist nicht das Ergebnis eines voll bewussten menschlichen Entschlusses. Leidenschaft und Vernunft stehen sich feindlich gegenüber, Egoismus scheint allen Idealismus zu überfluten. Gewalttaten mächtiger Einzelpersonen und die überlegene Macht erobernder Nationen zermalmen manche schöne Blume an ihrem Weg. Doch trotz anscheinender Ziellosigkeit, trotz Vergeudung, Schrecken, Irrationalität und Grausamkeit und trotz der Unklarheit im Verständnis der Menschen für den Sinn und die Wichtigkeit ihres Tuns, wird bei einem Überblick post factum eine Zielstrebigkeit, ja ein rationales und zweckbedingtes System sichtbar. Überblick durch wen ? Natürlich durch den Menschen, denn Gott, der Absolute Geist, wusste alles im Vorhinein. Der Geist führte die Menschen vor wärts, befeuerte sie mit eigennütziger Leidenschaft zur Ausübung von Handlungen, die sie als Mittel der Selbsterhöhung betrachteten, die aber tatsächlich Teil einer unpersönlichen Leistung waren.

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Beim Überblicken des Panoramas sieht der Mensch natürlich nur das, was er zu sehen imstande ist. Die Logik, die er in dem System wahrnimmt, ist seine Logik. Er projiziert sie in seine Wahrnehmung. Aber die auf die Dinge reflektierte Logik ist tatsächlich deren eigene konkrete Logik, denn er – das Subjekt, und die Gegenwartsrealität – das Objekt, sind beide, als zwei Aspekte derselben Wesenheit, durch das Wirken der gleichen Entwicklungseinflüsse geknetet und geformt worden. Nur dass die Vernunft des Subjektes bei einem Überblick klar sehen kann, wie und warum alles durch Menschen getan worden ist; und das Wahrgenommene, das Objekt, wird in das Bewusstsein des Subjektes integriert. Das Bewusstsein entwickelt sich zu Selbstbewusstsein. Hier ist Freiheit; denn die Entwicklung kommt von innen, ist nicht durch zufälligen Eingriff von außen aufgezwungen. Diese konser vative Tendenz wurde durch Hegels triumphierende Schlussfolgerung gekrönt : Der Weitgeist habe bereits seine letzte Entfaltung erreicht; und auf dem Gipfel vollkommener Erfüllung sei ihm, Hegel, und durch ihn der Menschheit umfassende Einsicht in seinen Ablauf gewährt worden. Totales Verstehen war die Zusicherung schließlicher Erlösung, letztlicher Versöhnung von Subjekt und Objekt. Es war der Hegel’schen Linken unmöglich, das Verdikt des Meisters zu akzeptieren, die Vernunft sei bereits auf den Thron erhoben und der Mensch als ein soziales Wesen fest verankert – konkret, im preußischen Staat –, während er auf den Gebieten der Religion, Kunst und Philosophie – des Absoluten – noch frei blieb. Ihnen schien, durch die Verteidigung dieser Welt als der besten aller möglichen Welten sei der wirkliche Mensch von Hegel völlig im Stich gelassen und Verrat an der Idee der Erlösung begangen worden. Durchdrungen von einer messianischen Atmosphäre und leidenschaftlich überzeugt, dass ein apokalyptischer Wandel in der Welt unmittelbar bevorstehe, waren sie außerstande, die große von dem Meister verkündete Botschaft als Trugbild zu negieren. Die Intuition sei schon richtig, nur habe sich der Prophet geirrt in der Natur der Erfüllung und in der Identität des Messias.

2. Von der Selbstentfremdung zur Wiederaneignung des menschlichen Wesens

( a ) Staat und Demokratie Es ist bezeichnend, dass Marx seinen ersten Versuch, die Irrtümer Hegels aufzudecken und die wahre Richtung anzuzeigen, auf der rein politischen Ebene, ohne jede Bezugnahme auf die Wirtschaftstheorie unternahm. Das beweist, dass seine ursprüngliche Inspiration das messianische Postulat war. Das öko-

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nomische Argument trat hinzu, um die messianische Erwartung zu rechtfertigen. Der junge Marx befindet sich in seiner Kritik der Hegelschen Staatsphilosophie gänzlich innerhalb der totalitär - demokratischen Tradition. Er formuliert seine Ideen in seinem Versuch, den Begriff der Demokratie zu definieren. In seiner frühen Kritik an Hegel packt Marx die Frage der Demokratie (wie Rousseau ) vom Blickwinkel der Legitimität aus an. Nur die Demokratie ist eine rechtmäßige Regierungsform. Sie ist „das aufgelöste Rätsel aller Verfassungen“, die Verfassung „an sich“.804 Alle anderen Regierungsformen sind die „Inkonsequenz“805 der Demokratie, Verfälschungen und unvollkommene Bilder oder Verzerrungen von ihr. Sie können nur durch Vergleich mit der Demokratie definiert werden. „Es versteht sich übrigens von selbst, daß alle Staatsformen zu ihrer Wahrheit die Demokratie haben und daher eben, soweit sie nicht die Demokratie sind, unwahr sind.“806 In Aristotelisch - Hegel’scher Nomenklatur ist die Demokratie die entelechia, das vorbestimmte und unvermeidliche Ziel, zu dem alle Gesellschaften getrieben werden. Die Hegel’sche Dichotomie von bürgerlicher Gesellschaft und Staat wird geradezu als Negierung der Demokratie gesehen. Hegel lehrte, es gebe einerseits das Gebiet privater und eigennütziger Bestrebungen der Menschen, die sich untereinander befehden ( die Gesellschaft ) und andererseits die Sphäre allgemeiner und objektiver Inhalte (den Staat ). Der Staat, der die Vernunft verkörpere, leite seine Realität nicht von den Wünschen des Volkes ab, das eine amorphe und ungeschlachte Masse ist. Der Staat fungiere als Bremse und Schiedsrichter in dem anarchischen Krieg aller gegen alle in der bürgerlichen Gesellschaft. Um sich zu Bürgern zu eignen, müssen die Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft sich von ihren erdgebundenen Zufälligkeiten frei machen und sich über sie erheben. Soweit ihnen das gelinge, könne man sagen, sie erwerben einen Anteil an der im Staat verkörperten rationalen Freiheit.807 Mit einem Wort, Hegel setze eine scharfe Trennung zwischen sozialen Inhalten und politischer Form voraus. Das Wesen der Demokratie besteht nach Marx’ Ansicht in der organischen Einheit der beiden. Wo die politische Verfassung nicht das logische Ergebnis und die Definition der sozialen Wirklichkeit – Familie, Eigentum, Arbeit, Sitten und Gebräuchen, der wahren Interessen und Wünsche der Menschen – ist, sondern eine Reihe von abstrakten Prinzipien, dort ist nicht der Mensch die Grundlage des Gebäudes, sondern eine trügerische Vision, die mit einem gänzlich unwirklichen, imaginären 804 805 806 807

Marx, Frühschriften, Kritik der Hegelschen Staatsphilosophie, S. 47. Ebd., S. 46. Ebd., S. 49. Vgl. Popitz, Der entfremdete Mensch, S. 68 ff. Popitz ist besonders aufschlussreich über die Vorläufer der Idee der Selbstentfremdung, siehe ebd., Kapitel 1.

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Begriff des Menschen arbeitet. Wie im Alten Testament ist dann das Gesetz nicht für den Menschen da, sondern der Mensch für das Gesetz.808 Marx bekämpft Hegel nicht nur, weil er den Fürsten, die Bürokratie und in gewissem Ausmaß den Adel für würdig befand, den Staat zu verkörpern, und so der Volksstimme kaum einen wirksamen Anteil an der Gestaltung der Politik belässt. Der wirkliche Grund zur Ablehnung liegt darin, dass der Staat sich damit zufriedengeben solle, ein rein politischer Überbau zu bleiben. So sagt Marx, sogar die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika sei durch ihre Anerkennung der Heiligkeit des Privateigentums – das außerhalb der Reichweite des Staates bleibt – in der gleichen Kategorie wie das preußische System, trotz ihrer republikanischen Form.809 In dem Versuch einer Verallgemeinerung seines Argumentes sagt Marx, die Abstraktion der politischen Verfassung von der sozialen Wirklichkeit unterscheide die modernen Staaten vom Altertum und Mittelalter. Die griechische polis und die römische res publica verkörperten die Totalität menschlicher und sozialer Inhalte; der Bürger war eine ganze und unteilbare Person; der Staat lag jedermann direkt und lebenswichtig am Herzen, und eine Unterscheidung zwischen privater und öffentlicher Sphäre war sinnlos.810 Im Mittelalter waren die Institutionen des Feudalismus, der Leibeigenschaft, der Korporationen keine privaten Einrichtungen, sondern integrale Bestandteile des öffentlichen Rechtes und daher Aspekte der politischen Verfassung. Das Eigentum war eine politische Einrichtung par excellence. Der unteilbare und konkrete Mensch war der Untertan des Staates, das heißt der unfreie Mensch, da das mittelalterliche System den Menschen einem außerhalb seiner selbst und über ihm stehenden Prinzip unter warf. Die mittelalterliche Gesellschaft war eine Demokratie, wenn auch eine „Demokratie der Unfreiheit“.811 Doch die „substantielle Einheit zwischen Volk und Staat“,812 die wesentliche Bedingung der Demokratie, wurde eingehalten. Die Eigenart der modernen politischen Entwicklung besteht in der Gewährung voller Autonomie für das Privateigentum. Dieses ist als politisch irrelevant erklärt worden. Es ist nicht länger eine Vorbedingung für den Genuss der Bürgerrechte, und es ist auch nicht mehr der Über wachung durch die Regierung und deren Verordnungen unter worfen. Es war Marx nicht schwer zu zeigen, dass das Eigentum nicht etwa irrelevant, sondern – gleichsam widerrechtlich – zum alles bestimmenden Faktor geworden war. Es war ihm ein Leichtes, sich lustig zu machen über Hegels 808 809 810 811 812

Vgl. Marx, Frühschriften, Kritik der Hegelschen Staatsphilosophie, S. 48. Vgl. ebd., S. 49. Vgl. ebd., S. 50 f. Ebd. Ebd., S. 51.

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Begeisterung für den erblichen Monarchen und das aristokratische Erstgeburtsrecht als die Verkörperungen der reinen, rationalen Substanz des Staates, weil sie von den Zufälligkeiten der chaotischen Wirklichkeit des sozialen Kampfes unberührt blieben. Der unverfälschte Naturalismus des Zufalls von Geburt und Blut und die krasse Irrationalität des unveräußerlichen Privilegs eines Landbesitzes wurden nicht nur als Grundlagen einer angeblich rein ideellen Struktur angeführt. Durch ihre apriorische Gültigkeit wurden sie zu ursprünglichen Bedingungen der Verfassung, anstatt zu deren Bestimmungen. Sie wurden die Verfassung selbst. In derselben Weise haben alle modernen Verfassungen, sagt Marx, durch die Befreiung des Eigentums dieses zum Herrn gemacht. Anstatt es zu zügeln und Interessen auszugleichen, haben sie ihm die Zügel schießen lassen. Anstatt seine Opfer zu verteidigen, haben sie sich zu Verteidigern des Eigentums eingesetzt.813 Der Waldhüter, der von dem Waldeigentümer beschäftigt wird, um Holzdiebstähle durch arme Dorfbewohner zu verhindern, wird zum Staatsbeamten, der die Heiligkeit des Privateigentums verteidigt.814 Sie schienen den reinen Idealismus poetischer Prinzipien per se anzustreben und öffneten dabei Tür und Tor für wilden Materialismus. Der politische Staat wurde hoch über die Erde erhoben, sodass er wie die Himmelskörper über dem Tränental schwebte, damit die Menschen, die ihren Blick auf unirdische Pracht richteten, leichter das Elend dieser Welt ertragen und die erhabene Sphäre nicht mit materiellen Angelegenheiten und unreiner Voreingenommenheit besudeln würden. Nicht der wirkliche, sondern der imaginäre Mensch ist das Objekt des politischen Staates. Wie im Himmel ist ihm die Gleichheit vor Gott und dem Gesetz zugesichert, ungeachtet des Elends auf Erden und in der Gesellschaft. Die Juden erscheinen in Marx’ kläglicher Abhandlung über die Emanzipationsbestrebungen seines Volkes als bezeichnende Manifestation des modernen Leidens. Anscheinend Parias ohne Rechte und ohne Anerkennung, haben sie es fertiggebracht, ihren Erwerbsgeist durch sämtliche Poren der christlichen Gesellschaft einzuträufeln und die Anbetung des Mammon, ihres einzigen Gottes, zur obersten Realität der modernen Welt zu machen. Sie haben das Christentum judaisiert.815 Die Botschaft aus Mar xens frühesten Schriften lässt sich wie folgt zusammenfassen : Der wahre Mensch muss von zwei Arten der Despotie errettet wer-

813 814 815

Vgl. ebd., S. 115 ff. Vgl. Marx, Debatten über das Holzdiebstahlgesetz. Vgl. Marx, Frühschriften, Bruno Bauer : Die Judenfrage, S. 171–199; ebd., Die Fähigkeit der heutigen Juden und Christen, frei zu werden, S. 199–207.

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den – dem abstrakten, rein politischen Staat und der Herrschaft des Geldes, die sich gegenseitig bedingen. Der Mensch wird nicht dadurch zu seinem Recht kommen, dass er den Staat zerschlägt und zur Anarchie zurückkehrt, sondern dadurch, dass er den Staat die unteilbare Totalität des Lebens, so wie es von den Menschen in der Gesellschaft frei gelebt wird, umfassen lässt. Der wahre Staat – echte Demokratie – wird dann zum Ausdruck des wirklichen Menschen.

( b ) Religion Die zentrale Bedeutung der Doktrin der Selbstentfremdung des Menschen in den Frühschriften von Marx genügt, um seine totalitär - demokratische Herkunft zu beweisen : leidenschaftliche Besorgnis um den Einzelmenschen führt zu totalitären Denkweisen. Nicht weniger bezeichnend ist die Tatsache, dass die Frage der Selbstentfremdung von den Junghegelianern tatsächlich mit Bezug auf die Religion, und insbesondere das Christentum, aufgeworfen wurde. Es ist natürlich kein Zufall, dass jeder messianische Denker sich früher oder später mit der Religion auseinandersetzen musste. Entweder führte das zu einer völligen Ableugnung und Verurteilung der Religion als der Wurzel allen Übels, wie bei Robert Owen, Blanqui und Marx, ganz zu schweigen von den Enzyklopädisten; oder eine neue Religion, für gewöhnlich ein geläutertes Christentum, wurde als die Bedingung sozialer Erneuerung postuliert, wie es bei Rousseau, Robespierre, Buonarroti und Saint - Simon der Fall war; oder es wurde schließlich die Totalität der Geschichte in pantheistischen Begriffen als Gottheit dargestellt, die sich in einem System der Erlösung entfaltete, wie es bei den Saint - Simonisten, Pierre Leroux, Moses Hess, Mazzini und natürlich Hegel sowie in gewissem Ausmaß bei Proudhon geschah. Die vorgetragenen Theorien werden von ihren Urhebern als eine direkte Ver werfung des Christentums ( zumindest in seiner degenerierten historischen Variante ) betrachtet und geradezu als ein Ersatz für dieses gedacht. Die neuen Lehren waren nicht nur politische Rezepte und pragmatische Maximen, sondern allumfassende Weltanschauungen und vor allem Versprechungen eines bevorstehenden totalen Wandels in menschlichen Angelegenheiten. Die durch das Christentum beherrschte Ära der Geschichte geht ihrem Ende entgegen, und eine neue Dämmerung bricht an. In seinem ungestümen Essay Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, in dem das Proletariat zum ersten Mal als die lebende Widerlegung von Hegels Behauptung, der Staat sei die Verkörperung der Vernunft, erscheint, und in dem die Arbeiterklasse zum ersten Mal zum Vollstrecker des Willens der Geschichte erklärt wird, stellt Marx eine Abrechnung mit der Religion an den

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Anfang. Denn „die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik“,816 das heißt jeder Gegenüberstellung des Tatsächlichen und des Rationalen. Für Deutschland, sagt Marx in dem Anfangssatz des Artikels, ist die Kritik der Religion im Wesentlichen beendet. Es ist nicht unsere Sache zu entscheiden, was Hegels wirkliche Ansicht über das Christentum war : ob, wie manche annehmen, seine esoterische Lehre von der fundamentalen Verderbtheit des Christentums, dessen Falschheit bloßzustellen und dessen Rolle zu übernehmen die Hegel’sche Philosophie berufen sei; oder die ausdrücklichen Erklärungen, dass das Christentum das dichterische, symbolische und gefühlsmäßige Gegenstück zu dem Hegel’schen abstrakten Denksystem bilde und dass die entfaltete Vernunft auf Erden Gottes Gedanke sei. Die Linkshegelianer konzentrierten ihren Angriff nicht lediglich deshalb auf Hegels Religionsbegriff, weil es mit Rücksicht auf die Zensur sicherer war, die Religion als den Staat zu kritisieren. Sie waren davon überzeugt, dass die Frage der Religion wesentlicher sei. Denn – mit Marx’ Worten – „die profane Existenz des Irrtums ist kompromittiert, nachdem seine himmlische Oratio pro aris et focis widerlegt ist“.817 Die bestehende Gesellschaft mit all ihren Übeln war tief und unlösbar in den Lehren der Religion ver wurzelt. Ludwig Feuerbachs massiver Angriff erfolgte in der Form einer Verallgemeinerung der Theorien von David Friedrich Strauss und Bruno Bauer, die sich bemühten, die Erzählungen des Evangeliums nicht als historische Berichte erscheinen zu lassen, sondern sie als Ausdruck von Träumen, Gefühlen und mythologischen Vorstellungen ihrer Verfasser zu enthüllen : Die Gottheit sei nichts anderes als die Projektion des menschlichen Verstandes oder Gemütes. Aus dem Elend seines Zustandes und aus der Unzulänglichkeit seiner Kräfte heraus projizierte der Mensch ein Bild der Vollkommenheit und Allmacht sowie auch seine Hoffnungen auf Trost und Erlösung in die himmlische Sphäre. Je armseliger sein eigener Zustand war, desto großartiger wurde die Vision des Himmels; und umgekehrt, je erhabener die Freuden droben, desto verächtlicher und hoffnungsloser erschien die Wirklichkeit hienieden. Die religiöse Vision ist somit ein Ergebnis gewisser sozialer Bedingungen, der Situation des Menschen. Um mit der Illusion aufzuräumen, müssen ihre Ursachen aufgedeckt und die Verhältnisse des Menschen geändert werden. Obwohl die Illusion eine Schöpfung des menschlichen Geistes ist, wirft sie ein gänzlich entstelltes Bild vom Menschen auf diesen zurück : von einer niedrigen, sündigen, kriecherischen, hoffnungslosen Kreatur, die weder verdient,

816 817

Marx, Frühschriften, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, S. 207. Ebd.

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noch imstande ist, ihr Los zu bessern. Daher die Heiligung allen bestehenden Übels, auch in der Hoffnung auf höhere Belohnung im Jenseits. „Dieser Staat, diese Sozietät produzieren die Religion, ein verkehrtes Weltbewußtsein, weil sie eine verkehrte Welt sind. Die Religion ist die allgemeine Theorie dieser Welt, ihr enzyklopädisches Kompendium, ihre Logik in populärer Form, ihr spiritualistischer Point - d’honneur, ihr Enthusiasmus, ihre moralische Sanktion, ihre feierliche Ergänzung, ihr allgemeiner Trost - und Rechtfertigungsgrund. Sie ist die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt. Der Kampf gegen die Religion ist also mittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist.“818 Wenn der Mensch erst einmal die Hohlheit des Gottesgedankens verstanden hat, welchen Glauben an ein Königtum von Gottes Gnaden zum Beispiel kann er dann noch beibehalten ? Es ist nicht an erster Stelle eine Frage der Abschaffung des Prinzips der Autorität von außen, sondern des Abschüttelns der Herrschaft von Ansichten, die das Menschsein entstellen. Luther stand auf, um die Erstere vorzunehmen, doch er stärkte nur die Tyrannei der Letzteren. Durch seinen Versuch, die Laien von den Pfaffen zu befreien, ver wandelte er die Laien in Pfaffen. Er wollte den Leib von der Kette befreien und hat das Herz in Ketten gelegt. „Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei.“819 „Der Mensch, der in der phantastischen Wirklichkeit des Himmels, wo er einen Übermenschen suchte, nur den Widerschein seiner selbst gefunden hat, wird nicht mehr geneigt sein, nur den Schein seiner selbst, nur den Unmenschen zu finden, wo er seine wahre Wirklichkeit sucht und suchen muß.“820 Die Kritik der Religion läuft hinaus auf den „kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist [...]. Arme Hunde ! Man will euch wie Menschen behandeln !“821 Das Ancien Régime erscheint nicht länger als von einer ewigen Macht eingesetzt, und menschliche Freiheit nicht mehr als arrogante Willkür. „Es ist also die Aufgabe der Geschichte, nachdem das Jenseits der Wahrheit verschwunden ist, die Wahrheit des Diesseits zu etablieren. Es ist zunächst die Aufgabe der Philosophie, die im Dienste der Geschichte steht, nachdem die Heiligengestalt der menschlichen Selbstentfremdung entlarvt ist, die Selbstentfremdung in ihren 818 819 820 821

Ebd., S. 208. Ebd., S. 216. Ebd., S. 207. Ebd., S. 216 f.

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unheiligen Gestalten zu entlar ven. Die Kritik des Himmels ver wandelt sich damit in die Kritik der Erde, die Kritik der Religion in die Kritik des Rechts, die Kritik der Theologie in die Kritik der Politik.“822

( c ) Apokalypse Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie ist noch nicht mehr als eine auf Hegel aufgepfropfte Vision der Revolution, eine Synthese, die sehr starke Spuren von Moses Hess’ Ideen aufweist. Mit anderen Worten, die Religion der Revolution – der Hauptantrieb –, in den Begriffen des Linkshegelianismus ausgedrückt, findet hier ihren Träger im Proletariat, oder noch genauer im deutschen Proletariat. In der ganzen Abhandlung kommt wirtschaftlicher Determinismus nicht vor. Die Revolution erscheint als ein vorbestimmtes Ereignis in der Entfaltung der Geschichte. Diese Formel sollte dann bald mit den Inhalten von dialektischer sozialökonomischer Wandlung und Zwangsläufigkeit erfüllt werden. Kurzum, die Abhandlung ist ein messianisches Dokument par excellence. Um sinnvoll zu sein und ihre Rolle zu erfüllen, muss die Philosophie überflüssig gemacht werden. Sie wird aufgehoben, wenn sie in der Praxis ver wirklicht ist. Ihr Wesen besteht in der Kritik des Bestehenden, mit anderen Worten in dem Verstehen der Lücke zwischen dem, was ist, was wird und was sein sollte. Wenn das Letztere in Sein ver wandelt ist, hat die Kritik ihr Objekt verloren. Die Philosophie ist ver wirklicht worden. Diese „praktische“ Wendung der Linkshegelianer, die direkt zum Kommunismus führte, war Moses Hess zuzuschreiben, der teils unter dem Einfluss des polnischen Philosophen Cieszkowski, teils unter dem der hebräischen prophetischen Tradition stand. Seine Gedankenwelt war zutiefst apokalyptisch. Die Geschichte ist eine Einheit, und sie ist die Geschichte einer Entwirrung durch eine Reihe von Königreichen : des Vaters – im Judentum, des Sohnes – im Christentum, des Heiligen Geistes – in der modernen Welt seit dem großen modernen Propheten der universalen Einheit, Spinoza; und durch eine Reihe von Revolutionen : die deutsche Reformation – im Bereich des Geistes, die Französische Revolution – im Bereich der Politik, die kommende englische Revolution – auf sozialökonomischem Gebiet. Diese intensive Erwartung einer apokalyptischen Wandlung machte es ihm unmöglich, Hegels Diktum, die Vernunft sei bereits ver wirklicht, hinzunehmen. Die Ver wirklichung muss bald erfolgen, der lange Tag muss jetzt zu Ende gehen, weil das Denken wirklich bei seinem endgültigen Stand angelangt ist. 822

Ebd., S. 208 f.

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Die Ver wirklichung bedeutet daher die Umsetzung des Gedankens in die Praxis. Denn da er ein spinozaischer Monist und auch ein Jude war, begriff Hess niemals ganz die Unterscheidung zwischen Kirche und Staat, Theorie und Praxis, Gott und Kaiser. Moses Hess konnte sich nicht mit der Dichotomie von abstrakter Vernunft und unvollkommener Wirklichkeit aussöhnen. Die Entfaltung der Geschichte als ein System der Erlösung kann unmöglich lediglich als eine Ideenverkettung aufgefasst werden – wie ein Junghegelianer wie Bruno Bauer glaubte. Es gibt nur eine Substanz, und Geist und Materie sind ihre beiden Erscheinungsformen. Das schreiendste Unrecht der modernen Zeit, das Schicksal des enteigneten Proletariats inmitten eines ungeheuren von ihm geschaffenen Reichtums ist ein Beweis gegen Hegels Rechtfertigung der Welt, so wie sie ist, als die Ver wirklichung der Vernunft. Hier liegt die nächste Aufgabe der Philosophie. Hier ist das letzte Stadium der Geschichte. Die große Stunde hat geschlagen, weil die Aufdeckung des Trugschlusses der Religion endlich den Weg öffnet für die Wiederentdeckung des wirklichen Menschen und die Errichtung einer Gesellschaft im Einklang mit wahrer Menschlichkeit. Das Drama wird – so verkündet Marx – in Deutschland zu Ende gespielt werden.823 Warum in Deutschland, dem politisch und sozial rückständigsten aller westeuropäischen Länder, mit der tiefsten Kluft zwischen Ideen und Praxis ? Gerade weil das Denken in Deutschland nicht nur seinem eigenen Staat, sondern auch dem politisch so fortgeschrittenen Frankreich und dem wirtschaftlich so hochentwickelten England vorangeschossen ist. Das intensive Begreifen der Kluft zwischen dem, was ist, und dem, was sein sollte, wird der revolutionären Aktion als Antrieb dienen und den Sprung sogar über das von Deutschlands westlichen Nachbarn erreichte Stadium hinaus zustande bringen. Halb feudal noch, uneinig, mit einer Tradition äußerster Unter würfigkeit, ein Sammelsurium von Regierungsformen und Systemen, trägt Deutschland die Bürde und büßt die Sünden aller schlechten politischen Systeme; es hat unter ihnen allen gelitten, ohne auch nur ein wenig von den Vorteilen zu genießen, die in einigen von ihnen enthalten sein mögen. Die deutsche Revolution muss daher eine radikale, eine totale Revolution sein. Nicht um Übelstände zu heilen, sondern um das Übel an sich auszurotten. Nicht eine totale Revolution, sondern eine teilweise, würde unter den deutschen Verhältnissen eine Utopie sein. Und das deutsche Proletariat wird diese Revolution, „die allgemein menschliche Emanzipation“,824 durchführen. Die rein politische Revolution hat eine bestimmte Klasse zum Träger. Einen Augenblick lang verkörpert und vertritt 823 824

Vgl. Marx, Frühschriften, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, S. 216–218. Ebd., S. 219.

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diese Klasse alle Beschwerden und Bestrebungen der Gesellschaft als Ganzes, wie zum Beispiel der Dritte Stand 1789, und wird zu ihrem „sozialen Haupt und sozialen Herzen“.825 In diesem flüchtigen Augenblick hochherziger Begeisterung ist die befreiende Klasse imstande, die Massen mitzureißen und ihre eigene Emanzipation als die allgemeine Erlösung von einem gemeinsamen Bedrücker hinzustellen. Es gibt in Deutschland keine bürgerliche Klasse, die ein Gefühl der Sendung, Mut und Großzügigkeit in ausreichendem Maße besäße, um diese Rolle zu spielen. Außerdem ist es zu spät dafür. Die Welt hat sich seit 1789 weiterentwickelt.826 Das Proletariat ist eine Klasse, die keine Klasse mehr ist, denn es wird von allen unterdrückt und ist all seiner Rechte und seines Anteils an der sozialen Gemeinschaft beraubt worden. Es ist das Opfer nicht eines besonderen Unrechts, sondern des Unrechts schlechthin. Es kann sich auf kein historisches Recht berufen, es kann nur das Banner der Menschheit hissen. Indem es sich selbst emanzipiert, muss es zwangsläufig alle Sphären des Lebens emanzipieren, denn sie alle sind seine Bürde. Da das Proletariat den „völligen Verlust des Menschen“ repräsentiert, kann es nur durch „die völlige Wiedergewinnung des Menschen“ erlöst werden.827 „Wenn das Proletariat die Auflösung der bisherigen Weltordnung verkündet, so spricht es nur das Geheimnis seines eigenen Daseins aus, denn es ist die faktische Auf lösung dieser Weltordnung.“828 Das wird das Wahrzeichen des Bankrotts, der Ohnmacht und des baldigen Zusammenbruchs der bestehenden Ordnung sein. Das Verlangen des Proletariats nach Abschaffung des Privateigentums trifft das Ner venzentrum des alten Regimes. „Wie die Philosophie im Proletariat ihre materiellen, so findet das Proletariat in der Philosophie seine geistigen Waffen, und sobald der Blitz des Gedankens gründlich in diesen naiven Volksboden eingeschlagen ist, wird sich die Emanzipation der Deutschen zu Menschen vollziehen.“829 Marx lässt hier und da Andeutungen fallen, dass die Wirklichkeit selbst zur Idee drängen und die richtigen historischen Bedingungen bieten müsse, wenn eine Revolution gelingen soll. In einem Satz gegen das Ende hin bezieht er sich auf das Entstehen des Industrieproletariats aus dem deklassierten niederen Mittelstand. Doch würde man vergeblich in der Abhandlung nach einer Konzeption des dialektischen Materialismus suchen.

825 826 827 828 829

Ebd., S. 220. A. d. Hg. : „der soziale Kopf und das soziale Herz“. Vgl. Marx, Frühschriften, Deutsche Ideologie, S. 360; ebd., Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, S. 222 f. Ebd., S. 223. Ebd. Ebd.

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„Die einzig praktisch mögliche Befreiung Deutschlands ist die Befreiung auf dem Standpunkt der Theorie, welche den Menschen für das höchste Wesen des Menschen erklärt.“830 Im gegenwärtigen Stadium der Geschichte verkörpert die Masse proletarischer Ausgestoßener die nackte, „eigentumslose“, nirgends zugehörige Menschheit. Die Rechte des Arbeiters sind die Rechte des Menschen. Er hat kein Vaterland und gehört daher der Welt, er ist die Menschheit. Diese Theorie, so wird früher in der Abhandlung gesagt, „wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift“. Sie wird sie ergreifen können, weil sie „ad hominem“ demonstriert, die Sache an der Wurzel fasst, und die Wurzel ist der Mensch selbst.831 „Die Emanzipation des Deutschen ist die Emanzipation des Menschen. Der Kopf dieser Emanzipation ist die Philosophie, ihr Herz das Proletariat. Die Philosophie kann sich nicht ver wirklichen ohne die Aufhebung des Proletariats, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Ver wirklichung der Philosophie.“832 Wenn die Bedingungen in Deutschland „erfüllt sind, wird der deutsche Auferstehungstag verkündet werden durch das Schmettern des gallischen Hahns“.833 Mit anderen Worten, die deutsch - universale Revolution bricht nicht von innen her aus als ein proletarischer Aufstand, der lediglich seinen eigenen Gesetzen gehorcht. Sie folgt in den Fußstapfen der Revolution katexochen, die in Frankreich ihren Anfang nehmen wird.

( d ) Eigentum und Proletariat Die Rolle des Vehikels der menschlichen Selbstentfremdung auf Erden wird in der modernen Welt vom Eigentum gespielt. Was Gott im Himmel, ist das Geld auf Erden. Atheismus in erster Linie und Kommunismus in zweiter sind die Vorbedingungen der Selbstbefreiung und Wiederaneignung des menschlichen Wesens.834 Das besondere Paradox dieser Situation liegt in der Tatsache, dass nicht nur das Produkt des Menschen seinen Erzeuger versklavt hat, sondern dass dieses Produkt ursprünglich als ein Mittel der Selbstentfaltung und der Freiheit angesehen wurde.835

830 831 832 833 834 835

Ebd., S. 223. Ebd., S. 216. Ebd., S. 224. Ebd. Vgl. ebd., Nationalökonomie und Philosophie, S. 232, 237, 295. Vgl. ebd., S. 266 f.

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Von Locke bis Hegel sahen die Philosophen in der Arbeit das Mittel der menschlichen Selbstver wirklichung und die einzige Basis für das Eigentum und den Anspruch darauf. Das Eigentum sollte somit die Manifestation der menschlichen Freiheit sein, sowie auch ihre Bedingung, ihr Werkzeug und ihre Erweiterung. Diese Ansicht war im Grunde ein Versuch, den Menschen von der toten Hand des Eigentums zu emanzipieren, das als Sache und nicht als Frucht des menschlichen Handelns betrachtet worden war. Sie beabsichtigte, das Übel der feudalen Scheidung von adliger Grundherrschaft und leibeigenem Dienst aufzuzeigen und die orts - und brauchgebundenen irrationalen Eigentumsbeziehungen, wie Monopol und Gilde, durch universale Begriffe zu ersetzen : Der freie Mensch ver wirklicht sich durch freie Arbeit. Tatsächlich wurde jedoch das befreite Eigentum zum Vehikel der Selbstentfremdung par excellence.836 Die Ursache dieser paradoxen Entwicklung war die Trennung zwischen den Früchten der akkumulierten Arbeit, die als Kapital bezeichnet wurden, und der tatsächlichen Arbeitsverrichtung durch den besitzlosen Arbeiter. Die Trennung selbst war das Ergebnis der Institution der privaten Vererbung oder des Privateigentums. Nicht nur hat sich alles Eigentum in wenigen Händen konzentriert, während die Masse der Menschheit sich abrackern muss, um sich am Leben zu erhalten. Das Paradox liegt in der Tatsache, dass je mehr und je schwerer diese arbeiten, um die Dinge zu erzeugen, die jenen zu eigen sind, desto größer ihr eigenes Elend wird – wie Engels es im Anschluss an Carlyle ausdrückte : das größte Wunder auf Erden –, „daß eine Nation vor eitel Reichtum und Überfluß verhungern muß“.837 Der Mammon ist zum alles verschlingenden Moloch geworden, der alle Werte verfälscht, alle Voraussagen Lügen straft, alle Erwartungen umstößt. Der schöpferische Mensch, der Arbeiter, ist zu einer Hand geworden, einem Stück Ware, einem Artikel, wobei seine menschlichen Qualitäten, sein Schicksal, seine Wünsche, seine Freiheit völlig irrelevant sind für seine Qualität als Arbeiter. Je höher die Leistungen der Industrie, die letzten Endes die siegreiche Rechtfertigung des Prinzips, dass alles Eigentum seine Quelle in der Arbeit hat, darstellt, desto mechanischer und automatischer wird seine Funktion und desto geringer sein Verständnis und Interesse an dem Produkt seiner Arbeit; je größer die Ausbreitung der Produktion, desto unwesentlicher wird er, desto billiger seine Arbeitskraft, desto schwächer seine Stellung gegenüber dem Kapitalisten. Die Bedingung für den Erfolg des Kapitalisten ist die Degradierung des Arbeiters zum Rang eines Sklaven, der in Höhlen ohne Luft wohnt und nicht mehr verdient als das, was nötig ist, um ihn am Leben zu erhalten. Bis 836 837

Vgl. ebd., Deutsche Ideologie, S. 396. Engels, Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie, S. 379, 404.

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tatsächlich sein Dasein als solches und seine Fortpflanzung von Malthus als ein Fehler und eine soziale Belastung bezeichnet worden sind. Auch der Kapitalist hat sein Menschentum ver wirkt. Anscheinend ein freier Herr, wird er in Wirklichkeit von dem System gehetzt und getrieben, im Wettbewerb zu bestehen oder zu verderben, zu produzieren oder unterzugehen. Sogar das Geld des Rentiers und das Erbe des feudalen Landherrn kann nicht in Freiheit genossen und – wie der überlieferte Begriff des Eigentums es fordert – nach Belieben gebraucht und missbraucht werden. Sie können nicht dem Schicksal entrinnen, in Industriekapital umgewandelt und in den Wirbelwind des kapitalistischen Konkurrenzkampfes hineingezogen zu werden.838 Der Kapitalismus entwickelt eine Art asketischer Moralität und predigt sowohl dem Kapitalisten als auch dem Arbeiter, genügsam und vernünftig zu sein, zu sparen, nicht zu essen, nicht zu trinken, sondern Reichtümer aufzuhäufen als Kapital, Schätze im Himmel aufzuspeichern. Andererseits kann der Kapitalismus nicht existieren, ohne schlafende Begierden zu wecken, Gelüste anzufachen und fiktive Bedürfnisse zu schaffen, alles, um Geld herauszupressen. Anstatt jedoch das Leben des Konsumenten zu bereichern, macht er ihn zum Sklaven unersättlicher Wünsche, die niemals befriedigt werden können. Besitz ist nicht mehr ein Ausdruck unserer wahren Freiheit, sondern eher Verknechtung an einen verkehrten Idealismus. Das Blut und der Schweiß der Arbeiter und das Vermögen der Käufer werden mit äußerstem Zynismus von den im Banne des kapitalistischen Wettbewerbs stehenden Kapitalisten vergeudet – alle unbarmherzig durch eine dämonische unpersönliche Macht von ihrem wahren menschlichen Wesen fortgetrieben, um einem unerreichbaren Ziel nachzujagen. „Es ( das Geld ) ist die sichtbare Gottheit, die Ver wandlung aller menschlichen und natürlichen Eigenschaften in ihr Gegenteil, die allgemeine Ver wechslung und Verkehrung der Dinge; es verbrüdert Unmöglichkeiten.“839 Menschentum wird zu Unmenschentum. Der Mensch ist ein Sklave des Geldes, doch er wird durch das Geld auch zu etwas, was er an sich nicht ist. Wenn ich kein Geld habe, empfinde ich kaum die Bedürfnisse, die denen, die Geld haben, natürlich sind. Wenn ich es habe, werden meine Wünsche, meine Ideale zu Sachen. Ich kann Liebe, Kultur, Anerkennung kaufen. Das Geld, nicht der Mensch, ist somit die Triebkraft. Eine Welt wird in ihr Gegenteil verkehrt: Treue wird Treulosigkeit, Liebe wird in Hass ver wandelt, Hass in Liebe, Tugend degeneriert zum Laster, der Herr wird zum Sklaven, der Sklave nimmt den Platz des Herrn ein. Die alten Illusionen von Ritterlichkeit und Gefühl,

838 839

Vgl. Marx, Frühschriften, Nationalökonomie und Philosophie, S. 255–257. Ebd., S. 299.

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Rang und Verpflichtung werden durch das Geld ersetzt. Betrug wird legalisiert und geheiligt. In Umkehrung seiner ursprünglichen liberalen Lehrsätze stellt der Kapitalismus eine Knechtschaft dar, die empörender ist als die früheren Formen sozialer Unterdrückung. Wegen dieses inneren Widerspruchs ist es auch sein Schicksal, von der vergeltenden Gerechtigkeit umso eher erreicht zu werden. Er wird unbarmherzig von innen her zur Auf lösung getrieben. Frühere Systeme sozialer Unterdrückung, wie das der Patrizier oder Feudalherren und der mittelalterlichen Korporationen, wollten die Produktionsmethoden in ihrer statischen Form erhalten. Sie waren interessiert an festen und dauerhaften Beziehungen, so wie sie von Gott bestimmt waren. Die konser vative Philosophie spiegelte das statische Wesen der Gesellschaft wider und erfüllte gleichzeitig die Funktion einer wirksamen Bremse. Habgier wurde ehrlich verabscheut und Ungleichheit in Mythos und Gefühl gekleidet. Die Rechte der Gemeinschaft wurden gegen willkürlichen und eigennützigen Missbrauch des Privateigentums ins Feld geführt. Maßlosigkeit wurde durch das Gesetz niedergehalten, Wohltätigkeit kam den Gestrauchelten zu Hilfe, und die Schwachen hatten Anspruch auf Ritterlichkeit. Der Merkantilismus seinerseits, der den Sanktionen religiöser Moralität nicht mehr traute, bemühte sich, im vollen Bewusstsein der Realität einer erbarmungslosen Konkurrenz zwischen den Staaten und zwischen den Produzenten innerhalb der einzelnen Staaten, die Übel der Habsucht durch Schaffung von staatsüber wachten Monopolen zu mildern. Der liberale Kapitalismus, der als Protest gegen das auf ererbtes Privileg gegründete und künstlich durch staatliche Bestimmungen aufrechterhaltene Monopol begonnen hatte, wird von fieberhafter Unruhe angetrieben, alle Beschränkungen zu brechen und abzuschaffen. Weder überkommene Moralbegriffe noch örtlicher Brauch, weder Gesetz noch soziales Interesse dürfen der kapitalistischen Expansion im Wege stehen. Der Kapitalismus muss immer weiter produzieren, experimentieren, Risiken auf sich nehmen, sich auf unerforschte Meere wagen. Er erkennt keine Rücksichtnahme oder Spielregeln an außerhalb der Determinationen durch seine eigenen Bedürfnisse und Bestrebungen, und diese sind grenzenlos. Seine erbarmungslose Dynamik, die in so scharfem Gegensatz steht zu all den im Wesentlichen traditionsgebundenen Systemen, die ihm vorangingen, wird ihm zum Verderben. Denn in dem Prozess übernimmt sich der Kapitalismus. Er produziert mehr als er verdauen kann. Er setzt Kräfte frei, denen er nicht mehr Herr wird. Er wird zur Geisel seines eigenen Geschöpfes. Mit jeder neuen Krise ächzt und kracht er immer mehr. Der Fortschritt des Kapitalismus ist durch stets offenkundigere Verleugnung seiner ursprünglichen Lehren und Versprechungen gekennzeichnet.

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Anstatt mit Hilfe der freien Konkurrenz erbliches Privileg und erbliche Minder wertigkeit, mit anderen Worten das Monopol, abzuschaffen, führt er unbarmherzig zu monopolistischer Konzentration aller Produktionsmittel in immer weniger Händen und verurteilt eine immer größere Zahl von enteigneten Kleinbürgern dazu, in den Rang einer erblichen Klasse von Parias abzusinken, aus der zu entrinnen sie weniger Aussicht haben als der mittelalterliche Leibeigene. Preismanipulationen, halsabschneiderische Konkurrenz, einschränkende Praktiken strafen die Behauptung Lügen, dass die Produktionskosten oder die Intensität der Nachfrage den Wert der Güter bestimmen und ihren Preis festsetzen. In ihrer Ehrfurcht vor der Heiligkeit des Privateigentums kommt es einem Ricardo oder Say nicht einmal in den Sinn, die Berechtigung der Bodenrente, die schließlich nichts anderes als feudales arbeitsloses Einkommen ist, als Produktionskostenfaktor anzuzweifeln. Jedoch der erbitterte Machtkampf zwischen Bourgeoisie und Grundbesitzern veranlasst die liberalen Nationalökonomen, diese als Parasiten zu verschreien, die ein Lösegeld erpressen, ohne einen produktiven Beitrag zu leisten. Nachdem sie so weit gegangen sind, ruft Engels aus, werden sie weitergehen müssen. Denn worin unterscheidet sich der Unternehmergewinn des Kapitalisten von der Rente ? Die liberale Wirtschaftstheorie befindet sich in derselben Lage wie die Theologie. Nachdem diese sich erst einmal der Vernunft bedient hat, bleibt ihr keine andere Wahl als zum Freidenkertum weiterzugehen oder sich auf den blinden Glauben zurückzuziehen. Ähnlich musste das liberale Wirtschaftsdenken entweder zum Monopol zurückkehren oder zur Abschaffung des Privateigentums, zum Kommunismus, fortschreiten. Tertium non datur. Der Kapitalismus kann ohne das Proletariat nicht bestehen. Er trägt somit die Saat seiner eigenen Zerstörung von Anbeginn in sich selbst. Denn das Proletariat muss sich zwangsläufig selbst aufheben, mit anderen Worten die Realität, von der es gezeugt wurde. „Das Privateigentum treibt allerdings sich selbst in seiner nationalökonomischen Bewegung zu seiner eigenen Auf lösung fort, aber nur durch eine von ihm unabhängige, bewusstlose, wider seinen Willen stattfindende, durch die Natur der Sache bedingte Entwicklung.“840 Hier ist dialektische Zwangsläufigkeit. Das Privateigentum, das den Industriekapitalismus entstehen ließ, ist unvereinbar mit Industrie in großem Ausmaß. Eine Institution, die die natürliche Begleiterscheinung der Kleinindustrie war, hat sich überlebt, genau wie die Zünfte mit dem Aufkommen der Manufaktur und des Überseehandels unmöglich geworden waren. Die Hebel des Kapitalismus, Maschinen und Geld, sind in den Händen des Systems zu Werkzeugen der Selbstzerstörung 840

Ebd., Deutsche Ideologie, S. 318.

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geworden. In Verbindung mit dem unwiderstehlichen Antrieb zu produzieren – dem spiritus movens der kapitalistischen Ordnung – erzeugen sie immer größere Krisen der Überproduktion und Arbeitslosigkeit und verraten dadurch die äußerste Unfähigkeit der Bourgeoisie, die Rolle der herrschenden Klasse zu spielen.841 Zusammengepfercht in riesigen Unternehmungen; vereint in gemeinsamem Elend und gemeinsamem Groll; getrieben von Leid, das nicht länger tragbar ist; erkennend, dass es nichts zu verlieren hat; in dem zunehmenden Bewusstsein, wie schlecht das Regime seinem Wesen nach ist; nachdem es auf den Geschmack des politischen Kampfes gekommen ist zu der Zeit, als der Dritte Stand die Arbeiter als Helfer im Kampf gegen den königlichen Feudalismus gebrauchte – wartet jetzt das Proletariat hinter den Kulissen darauf, das Urteil zu vollziehen, „welches das Privateigentum durch die Erzeugung des Proletariats über sich selbst verhängt, wie es das Urteil vollzieht, welches die Lohnarbeit über sich selbst verhängt, indem sie den fremden Reichtum und das eigene Elend erzeugt.“842 Marx wird niemals müde zu wiederholen, dass der proletarische Kommunismus zustande kommen wird, nicht weil er ein würdiges Ideal ist, nicht weil die Arbeiter Engel sind, nicht weil die Menschen ihn wollen, sondern weil sein Kommen durch die Natur der Dinge notwendig gemacht wird – „geschichtlich [...] gezwungen [...], unwiderruf lich vorgezeichnet“.843 Eine Revolution ist jedoch nicht nur notwendig, um die herrschenden Klassen abzusetzen, die auf keine andere Weise gestürzt werden können, sondern auch um jene „massenhafte Veränderung des Menschen“, jene „massenhafte Erzeugung dieses kommunistischen Bewusstseins“ zustande zu bringen, die die Massen mit der zur Errichtung der neuen Gesellschaft notwendigen gesteigerten Energie erfüllen.844 An dieser Stelle erhebt sich die fundamentale Frage : Angenommen, Marx habe die Zwangsläufigkeit der Auf lösung des bürgerlichen Systems von Privateigentum und freier Konkurrenz bewiesen, hat er auch – und falls ja, wie ? – bewiesen, dass auf die Zerstörung des Kapitalismus bestimmt die Aufhebung der Selbstentfremdung folgen und die Wiederaneignung des menschlichen Wesens sich aus der Ersetzung allen Privatkapitals durch Kollektiveigentum ergeben würde ?

841 842 843 844

Vgl. ebd., S. 379 ff.; Engels, Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie, S. 382; Marx, Die heilige Familie, S. 202–207; Mayer, Friedrich Engels, Band 1, S. 158–169. Marx, Frühschriften, Die heilige Familie, S. 318. Ebd., S. 319. Vgl. ebd., Deutsche Ideologie, S. 270 ff., 361 f., 399.

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3. Die große Prophezeiung Die Wiedergewinnung des Menschen durch den Kommunismus wird von Marx mit der Vision von der Erfüllung der Geschichte verknüpft. Der Kommunismus ist für ihn „die begriffene und gewußte Bewegung seines Werdens“.845 Die Geschichte des Kommunismus ist daher letzten Endes die Geschichte der Menschheit. Der Kommunismus „ist die wahrhafte Auf lösung des Widerstreits zwischen dem Menschen mit der Natur, und mit dem Menschen, die wahre Auf lösung des Streits zwischen Existenz und Wesen, zwischen Vergegenständlichung und Selbstbestätigung, zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung. Er ist das aufgelöste Rätsel der Geschichte und weiß sich als diese Lösung.“846 Kurz, der Kommunismus ist die Bestimmung der Geschichte. Die Erlösung des Menschen wird erreicht durch die totale Entfaltung des kollektiven Systems, und auf dem Höhepunkt dieses Prozesses durch den Kommunismus. Die Auffassung und die Denkweise sind natürlich stark hegelianisch, ungeachtet der verschiedenen Inhalte, mit denen das Schema gefüllt wird. Wie Hegel glaubt auch Marx, dass er die Gesamtheit der Geschichte vom Gipfelpunkt des sich erfüllenden Geschehens der Geschichte überblickt, mit vollem Verständnis für deren Ablauf und Bestimmung. Nur dass mit Marx’ eigenen Worten dort, wo Hegel und die Junghegelianer im Himmel beginnen und auf die Erde herabsteigen, er, Marx, von der Erde zum Himmel steigt.847 Die Geschichte ist eine Verkettung von bedeutsamen Geschehnissen, deren Gesamtheit der Mensch am Ende der Tage begreift. Für Hegel erfolgt diese Verkettung im Verfolgen einer gewissen Dialektik von Ideen, deren Gesamtheit im Denken Gottes vor Beginn der Geschichte angedeutet, ja in der Tat inhärent war. Nachdem eine Idee alle ihre Möglichkeiten entwickelt hat, wird sie durch ihr Gegenstück ersetzt, und dann werden beide in eine Idee höherer Ordnung integriert : die katholische Auffassung der apostolischen Nachfolge zum Beispiel wird durch die protestantische Idee der universalen Priesterschaft ersetzt, und zwar als ein Ergebnis des Erfolgs der ecclesia docens in der Bekehrung aller Laien zum Christentum und der Entartung der Geistlichkeit, die zu übergroßer Machtvollkommenheit gelangt war; die protestantische Kirchenorganisation stellt eine Synthese der beiden Ansichten dar, indem sie in der Praxis die Negation negiert. Marx sieht den Geschichtsablauf als von den Produktionsweisen bestimmt und durch die herrschenden Klassen vertreten. Was 845 846 847

Ebd., Nationalökonomie und Philosophie, S. 236. Vgl. auch ebd., S. 237. Ebd., S. 235. Vgl. ebd., S. 269 ff., 344 ff., bes. S. 349.

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einem Zeitalter seine Eigenart verleiht, sind nicht seine Ideen, Institutionen und Überzeugungen. Vielmehr kristallisieren sich die Ideen, gesellschaftlichen Einrichtungen und geistigen Bestrebungen um und in Anlehnung an die Bedürfnisse und den Zwang, die durch die neuen Werkzeuge geschaffen werden, sowie die Interessen ihrer Eigentümer. Für Marx wird der Übergang von einer Phase zur anderen herbeigeführt durch die Diskrepanz zwischen dem Auftauchen neuer Werkzeuge, neuer unwiderstehlicher Bedürfnisse oder neuer kommerzieller Möglichkeiten auf der einen Seite, und auf der anderen Einrichtungen, die früher als Reaktion auf eine andersartige und weniger entwickelte Realität entstanden waren, die aber zur Erfüllung der neuen Anforderungen ungeeignet sind. Marx überträgt das Problem auf eine andere Ebene als Hegel. Das Anwachsen der Bevölkerung und die Überflutung der Städte mit landflüchtigen Bauern, zum Beispiel, machten das alte und restriktive Zunftsystem unzeitgemäß und drängten auf Expansion nach Übersee. Überfluss an billiger Arbeitskraft, dazu die Erschließung neuer Märkte sowie eine Flut von Gold, Silber und Rohstoffen aus der Neuen Welt ließen neben dem Zunftwesen, das eine Begleiterscheinung einer landwirtschaftlichen Gesellschaft und eines lokalen beschränkten Marktes gewesen war, das Manufaktursystem entstehen. Die Reformation mit ihrer Auf lehnung von Laien gegen die ausschließlichen Ansprüche der katholischen Kirchenhierarchie und später die Forderung der Menschenrechte und Volkssouveränität waren nicht – wie Hegel gesagt haben würde – Meilensteine in der Entfaltung der Idee der Freiheit vom orientalischen Despotismus bis zu ihrem Höhepunkt in der vollen Anerkennung der Menschenwürde in moderner Zeit. Die protestantische Bourgeoisie, meinte Marx, war der priesterlich feudalen Vormundschaft überdrüssig und proklamierte darum die Idee des direkten Kontaktes mit Gott und der Wertlosigkeit des von der Kirche aufgebauten Apparats von Mittlertum und Sühne. Die neue Unternehmerklasse griff die Ideen der Menschenrechte, des Gesellschaftsvertrages, der Freiheit des Eigentums und Berufs auf und erklärte sie zu ewigen und universalen Wahrheiten, denn wie jede aufständische Klasse musste sie ihre Forderungen in das Gewand abstrakter, rationaler Wahrheiten kleiden : Gott, die Geschichte, Überlieferung und Gewohnheit standen auf der Seite der alten Mächte. Die rastlose Initiative und waghalsige Unternehmungslust der neuen Klasse waren an sich eine Widerlegung des Glaubens an die Erbsünde und der Starrheit der überkommenen Institutionen, die die Begleiterscheinung des Feudalsystems waren. Der freie Mensch sollte die Freiheit haben, wieder ganz von vorn anzufangen.848

848

Vgl. ebd., S. 276 ff., 280 ff.

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Aus einer Waffe der Befreiung von den Fesseln des Feudalismus wurde die liberale Ideologie in den Händen des siegreichen Bourgeois - Kapitalismus zu einer Rationalisierung der unterdrückenden Klasseninteressen gegenüber dem Proletariat : Freiheit der Besitzenden, die eigentumslose Masse auszubeuten und Gelegenheit der Starken, die Schwachen zu unterdrücken. Die ganze Geschichte bis jetzt ist eine Geschichte der Klassenunterdrückung und des Klassenkampfes gewesen. Niemals war der wirkliche Mensch der Träger der Geschichte, immer nur Mitglieder von Klassen. Nicht das eigentliche Menschentum bildete die gesellschaftliche Verknüpfung; unpersönliche, von außen wirkende Determinierungen und Zerrbilder des Menschen bestimmten sein Schicksal. Welche Garantie gibt es dafür, dass die kommende proletarisch - kommunistische Revolution endlich den echten, den wirklichen Menschen auf den Thron heben wird ? Warum soll diese gewaltige Endlösung jetzt gerade erfolgen ? Warum sollte der Weltgeist – um uns Hegel’scher Ausdrucksweise zu bedienen – seine Selbstver wirklichung beinahe vollendet haben und demnächst zur Ruhe gelangen ? Statt der Hegel’schen Antwort, dass der Mensch volles Bewusstsein von dem Gang des Weltgeistes und dadurch absolutes Selbstbewusstsein erlangt habe, erwidert Marx – in gleicher Denkweise –, die Geschichte sei gerade eben zur wirklichen Weltgeschichte geworden. Die neuen industriellen Produktionsweisen haben durch die Schaffung eines Weltmarktes, eines universellen Kapitalismus und eines universellen Proletariats die ganze Welt zu einer einzigen Einheit gemacht. Es sind nicht – wie Hegel es wahrhaben wollte – die Menschen zum Verständnis der Einheit des Plans der Geschichte gelangt, wie er im Denken Gottes vorausbestimmt war und sich dann im Laufe der Zeit entfaltete. Die dialektische Abfolge des sozialökonomischen Geschehens hat örtliche Unterschiede, die Mannigfaltigkeit irrationaler Überlieferungen und die sich aus verschiedenen Entwicklungsstufen ergebenden inneren Widersprüche aufgehoben und einen universellen Rahmen von untereinander verbundenen Beziehungen geschaffen. Das universelle Proletariat ist außerdem keine Klasse mehr. Es ist überall der Rechte beraubt und steht außerhalb aller Klassen. Da es keiner nationalen Gemeinschaft angehört, gehört es zur Menschheit. In der Tat ist das Proletariat die Menschheit, nirgends zugehörig, es hat nichts zu verlieren, es ist nackte, bebende Menschheit. Vor allem ist es zum vollen Bewusstsein seiner eigenen Selbstentfremdung gelangt und empört sich gegen die Unterjocher. Früher, als die Welt noch keine Einheit war, konnte es nur örtliche revolutionäre Erschütterungen geben, die bestenfalls in einer Neuverteilung der Macht unter den bestehenden Klassen gipfelten. Jetzt ist es möglich, ja in der Tat unvermeidbar geworden, dass das Weltproletariat eine Weltrevolution

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durchführt, gleichgültig wo und wie sie angefangen wird; nicht mehr, um hier oder dort Reichtum und Einfluss neu zu verteilen, sondern um die ganze Welt allen Menschen, der Menschheit als solcher, zurückzugeben.849 Nach der Wiederaneignung der Welt wird das Proletariat, nunmehr die Menschheit, endlich in der Lage sein, die feindseligen fremden Kräfte des Schicksals und Zufalls, von denen die Menschen in der Vergangenheit regiert wurden, durch freie und bewusste Herrschaft über die Dinge zu ersetzen. „In der bisherigen Geschichte ist es [...] eine empirische Tatsache, daß die einzelnen Individuen mit der Ausdehnung der Tätigkeit zur weltgeschichtlichen, immer mehr unter eine ihnen fremde Macht geknechtet worden sind.“850 „Der Handel [...] gleich dem antiken Schicksal über der Erde schwebt und mit unsichtbarer Hand Glück und Unglück an die Menschen verteilt, Reiche stiftet und Reiche zertrümmert, Völker entstehen und verschwinden macht.“851 „Aber ebenso empirisch begründet ist es, daß [...] durch die kommunistische Revolution [...] und die damit identische Aufhebung des Privateigentums [...] die Befreiung jedes einzelnen Individuums in demselben Maße durchgesetzt wird, in dem die Geschichte sich vollständig in Weltgeschichte ver wandelt.“852 Die Wiederaneignung der Welt ist dazu bestimmt, eine Versöhnung zwischen dem Menschen und der Gesellschaft herbeizuführen und damit die Dichotomie von Privatinteresse und Gemeinwohl abzuschaffen; ebenfalls eine Wieder vereinigung des Menschen mit der Natur, die mit dem Konflikt zwischen Geist und Materie, Pflicht und Freiheit, Notwendigkeit und Spontaneität aufräumen wird. „Der Kommunismus als positive Aufhebung des Privateigentums als menschlicher Selbstentfremdung und darum als wirkliche Aneignung des menschlichen Wesens durch und für den Menschen; darum als vollständige, bewußte und innerhalb des ganzen Reichtums der bisherigen Entwicklung gewordene Rückkehr des Menschen für sich als eines gesellschaftlichen, d. h. menschlichen Menschen.“853 Es ist nicht eine Frage einer gegenseitigen Abmachung von Geben und Nehmen zwischen dem Individuum und der Gesellschaft, dem Menschen und der Natur, sondern der Wiedereinführung des Menschen in die Gesellschaft und die Natur. Dies – behauptet Marx – ist der Fortschritt seiner Prägung von materialistischem Kommunismus sowohl über den „rohen“ Kommunismus als auch den Materialismus des achtzehnten Jahrhunderts hinaus.

849 850 851 852 853

Vgl. ebd., S. 309, 318, 362–368. Ebd., S. 365. Ebd., S. 363. Ebd., S. 365. Ebd., S. 235.

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Die materialistischen Lehren des achtzehnten Jahrhunderts von der ursprünglichen Güte des Menschen, der wesentlichen Gleichheit der Fähigkeiten, der Allmacht von Erfahrung, Gewohnheit, Erziehung, dem Einfluss äußerer Bedingungen auf den Charakter des Menschen, dem positiven Wert der Lust und der Bedeutung des Gewerbefleißes bildeten gleichsam einen Prolog zum Kommunismus und Sozialismus, indem sie nämlich lehrten, dass Bedingungen so gestaltet werden können, dass der Mensch sein wahres menschliches Leben führen und das Privatinteresse sich mit dem Gemeinwohl decken könne. Die gesellschaftlichen Einrichtungen, nicht die menschliche Natur, waren schuld, dass der Mensch unmoralisch wurde. Der altmodische Materialismus sah jedoch den Menschen noch im Gegensatz zur Natur, wie er mit Hilfe seiner Sinne der immer gleichbleibenden Natur ihre Geheimnisse ablauscht. Es war noch eine Subjekt - Objekt - Beziehung. Sogar Feuerbach, der doch den Einfluss der menschlichen und sozialen Bedingungen auf unsere Art, die Dinge anzusehen, so gut begriffen hatte, verstand noch nicht, dass das Individuum, das den Dingen gegenübersteht, nicht wirklich ein einsames Geschöpf außerhalb der beobachteten und aufgenommenen Dinge ist. Er ist eine Funktion eben dieser Dinge, und die Dinge sind, was sie sind, nur aus ihrer Beziehung zu ihm heraus. Die zum Objekt gehörigen Determinierungen formen den Menschen, der ihm als Produzent oder Konsument, als Beobachter oder Ver walter gegenübersteht, ebenso wie aus den Bedürfnissen und Interessen, Werkzeugen und Ideen des Menschen die Wirklichkeit des Gegenstandes erwächst, das heißt, die Wirklichkeit, die er für den Menschen und sein Tun besitzt ( keine andere Wirklichkeit hat eine irgendwie geartete Bedeutung ). Die Beziehung ist somit dynamisch und ändert sich ständig. Die Natur wandelt sich so in Geschichte, und der Mensch und seine Geschichte werden zu einem Teil der Natur. Die Industrie, die schließlich die Geschichte der gegenseitigen Abhängigkeit von Natur und menschlicher Arbeit ist, kann somit als die Geschichte der menschlichen Psychologie angesehen werden. Und der Materialismus dieses Typs sollte Anthropologie genannt werden, da er die Natur vermenschlicht, indem er sie als Funktion menschlicher Bedürfnisse und Bereich menschlichen Wirkens behandelt. Außerdem arbeitet nicht das isolierte menschliche Individuum mit der Natur zusammen, sondern vielmehr das Individuum als Teil der Gesellschaft, als soziales Wesen, als Mitglied eines riesigen Teams. Der wahre Mensch ist das soziale Wesen, weder der Einsiedler oder Sonderling noch das egoistische Individuum oder der Exhibitionist, dem daran liegt zu schockieren und die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Geben und Nehmen, Arbeitsteilung und Zusammenarbeit, Sprache und industrielle Leistung, Gedanken und Gefühle, sie alle sind soziale Phänomene. Nicht der individuelle Mensch, sondern die Gesellschaft steht der Natur gegenüber. Wenn, wie

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vorher gesagt wurde, die Historie die Geschichte der Mensch - Natur - Beziehung ist, mag es jetzt genauer sein zu sagen, sie sei die Geschichte der Mensch Gesellschaft - Natur - Beziehung.854 Es ist die Mission des mar xistischen Kommunismus, diese Beziehung von allen Hindernissen, Beschränkungen und Entstellungen zu befreien. Sein Ziel ist es, die ganze Welt als Objekt von Bedürfnissen, Quelle von Anregungen und Vehikel der Selbstentfaltung für den wahren Menschen zu erschließen, für den Menschen, der befreit ist von der Verknechtung an verhängnisvolle äußere Mächte, wie Gott und Mammon, und von hemmenden und degradierenden Determinierungen wie äußerste Armut und Unsicherheit; für alle wirklichen Menschen, die menschliche Gattung – und nicht für Mitglieder von Klassen und Kasten. Das ist der Unterschied, behauptet Marx, zwischen seiner Prägung durch den Kommunismus und den älteren „rohen“ Formen des Kommunismus.855 Deren Hass gegen das Privateigentum war Ausdruck einer leidenschaftlichen und krankhaften, wenn auch invertierten Liebe und Wertschätzung für es. Alles muss zu gleichen Teilen unter alle verteilt werden, selbst die Frauen. Keinerlei Unterschiede der Fähigkeiten und Begabung sollen zugelassen werden, und wenn sie sich durchsetzen, müssen sie, wie etwa die verfeinerten Kulturerscheinungen, zugunsten einer trübseligen und einheitlichen Mittelmäßigkeit und spartanischen Einfachheit geächtet und unterdrückt werden. Diese Kommunisten wurden eher von krankhaftem Neid, gemischt natürlich mit tiefem und echtem Grund zur Auflehnung, als von dem positiven und bewussten Wunsch angetrieben, dem Menschen allen Reichtum der Welt zu erschließen, damit er seine volle Bestimmung und alle in ihm liegenden Möglichkeiten in einer gänzlich freien Beziehung von Nehmen und Geben ver wirkliche und Kontrolle über die Natur gewinne, anstatt einem blinden Schicksal, den Zufälligkeiten des Marktmechanismus und den Schrullen des Privateigentums unter worfen zu sein. Marx klingt stark an Fourier an, wenn er die Knechtschaft des damaligen Arbeiters, der für immer an seine Tretmühle gekettet ist, in Gegensatz stellt zu der Freiheit des Menschen in der zukünftigen kommunistischen Gesellschaft, der jagen und fischen, spielen und reisen kann, wann immer er nur Lust dazu hat.856

854

855 856

Vgl. Marx / Engels, Historisch - kritische Gesamtausgabe, Band 3, S. 111–113, 116– 122; ders., Frühschriften, Nationalökonomie und Philosophie, S. 238 ff., 243, 273– 276. Vgl. Marx, Frühschriften, Nationalökonomie und Philosophie, S. 233 f. Vgl. ebd., Deutsche Ideologie, S. 360 f.

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Die Wiederaneignung der Welt und die daraus folgende Aufhebung der Selbstentfremdung wird ein Gefühl höchster Selbstachtung und Würde im Menschen erzeugen. Denn sie wird den Gegensatz zwischen der Vernunft und den Sinnen, Geist und Materie, Theorie und Praxis, Gemeinwohl und Interesse des Einzelnen beseitigen. Diese Dichotomien waren die Begleiterscheinung der Arbeitsteilung in müßige, oder zumindest gebildete, Klassen, die befreit waren von körperlicher Anstrengung, und in schwer arbeitende Massen. Fern von dem Wirken der Natur und ohne Kontakt mit den natürlichen Gegebenheiten, war es kein Wunder, dass die ersteren eine Vision eines Gebäudes von reinen Ideen entwickelten, das im Gegensatz stand zu der mangelhaften materiellen Welt. Ohne Verständnis für den Prozess, durch den die Menschheit sich ihre eigene Welt schafft und sich unter steten sozialen Bemühungen forterhält, verfielen sie wieder auf die Idee eines Schöpfers von Himmel und Erde. Sie werden bald lernen, dass die Menschheit ihr eigener Schöpfer und Gott ist und die Erde ihr Himmel.857

4. Wissenschaft oder Utopie ? Die Vision ist großartig, doch – in ihrem positiven Inhalt – eine der Utopien des Zeitalters, in gewissem Sinne viel unbestimmter als viele andere, dafür allerdings auch freier von jenen phantastischen psychologischen Konstruktionen, technischen Tricks und paradiesischen Wunschvorstellungen, an denen andere Utopien so reich sind. Marx macht, zumindest vor 1848, nirgends einen Versuch, die Art der Regierung und des Ver waltungssystems zu beschreiben, die nach einer geglückten kommunistischen Revolution entstehen sollen. Ebenso hören wir über die Art und Weise der Durchführung der Revolution selbst nicht mehr, als dass die Avantgarde des Proletariats, die Kommunistische Partei, die Führung übernehmen wird. Man mag sagen, das sei in gewissem Ausmaß auf die Tatsache zurückzuführen, dass eine Art allgemein akzeptierter Revolutionstheorie in der Luft lag. Schon Gustav Mayer bemerkt, dass Marx nichts zu der folgenschwersten politischen Frage zu sagen hat – nämlich der der Führerschaft, insbesondere in einer demokratisch - sozialistischen Gesellschaft. Engels geht über Carlyles leidenschaftliches Interesse an dem Problem mit der nichtssagenden Bemerkung hinweg, die Menschen in einer sozialistischen Gesell-

857

Vgl. ebd., S. 341; Rubel, Karl Marx, Teil 1, Kapitel 5 f.

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schaft würden von andersartigen Motiven bewegt als in der Vergangenheit, und die Angst vor dem Missbrauch der Macht würde irrelevant werden.858 Letzten Endes – und wie unerfreulich würde das für Marx geklungen haben – ist die mar xistische Vision der Zukunft auf der Prämisse begründet, dass mit der Aufhebung aller Formen der Selbstentfremdung das wahre Wesen des Menschen zur Geltung kommen werde. Dies basiert auf zwei weiteren unbewiesenen Annahmen : erstens, dass es so etwas wie wahres menschliches Wesen, abgeleitet aus der wahren Natur der menschlichen Gattung, gibt – eine höchst scholastische Prämisse – und zweitens, dass das wahre Wesen ein Vehikel sozialer Harmonie ist. Wenn keines von beidem zutrifft – der wahre Mensch und die harmonische Veranlagung –, dann wird das System jene Harmonie nicht ohne Zwang erreichen, das heißt, ohne die Menschen zu zwingen, das zu sein, was sie sein sollten : wahre Menschen. Die Frage liegt nahe, ob nicht in diesem Fall Marx dem Vor wurf ausgesetzt wäre, eine neue Selbstentfremdung des Menschen herbeigeführt zu haben : die eines imaginären Menschen an eine imaginäre Vision ?

858

Vgl. Engels, Die Lage Englands; Mayer, Friedrich Engels, Band 1, S. 157.

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Zweiter Teil Messianischer Nationalismus

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L’Histoire est le produit le plus dangereux que la chimie de l’intellect ait élaboré. Ses propriétés sont bien connues. Il fait rêver, il enivre les peuples, leur engendre de faux souvenirs, exagère leurs réflexes, entretient leurs vieilles plaies, les tourmente dans leur repos, les conduit au délire des grandeurs ou à celui de la persécution, et rend les nations amères, superbes, insupportables et vaines. L’Histoire justifie ce que l’on veut. Elle n’enseigne rigoureusement rien, car elle contient tout, et donne des exemples de tout. Paul Valéry

Je hais, pour ma part, ces systèmes absolus, qui font dépendre tous les événements de l’histoire de grandes causes premières se liant les unes aux autres par une chaîne fatale, et qui suppriment, pour ainsi dire, les hommes de l’histoire du genre humain. Je les trouve étroits dans leur prétendue grandeur, et faux sous leur air de vérité mathématique. Alexis de Tocqueville

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I. Von der Unfehl bar keit des Paps tes zur Unfehl bar keit des Vol kes ( Lamen nais ) Als die Französische Revolution durch den Bruch in der historischen Kontinuität die naive Hinnahme der Dinge, so wie sie sind, und nur weil sie da sind, ausschloss, ohne dass es ihr gelang, die Vernunft an die Herrschaft zu bringen, nahmen – wie wir mehrfach sahen – viele von denen, deren Horror vor einem sinnlosen Dahintreiben nicht durch Vertrauen auf eine göttliche Vorsehung zu beschwichtigen war, ihre Zuflucht zur Geschichte als Bürgen für sinnvolle Zielsetzung und unvermeidliche Auf lösung aller Ver wicklungen. Was ist in dieser Geschichte als einem universalen Gebilde von bedeutsamen und notwendigen Verknüpfungen, deutlich unterschieden von dem konkreten und formlosen Ablauf der Geschehnisse voller Zufälligkeiten Kern oder Substanz, und was sind nur beiläufige und äußerliche Erscheinungen, was ist primär und was ist abgeleitet ? Wie sollte man die Kontinuität der Geschichte, die eins und unteilbar ist, mit Wandel und Revolution einerseits und mit der Vielheit nationaler und lokaler Geschichte andererseits in Übereinstimmung bringen ? Welchen Platz nimmt das Individuum als autonomes Wesen in dieser Geschichte ein ? Kein Denker in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts könnte ein ergreifenderes Beispiel für dieses Forschen nach Sinn und Gewissheit abgeben als Lamennais.1

1

Einige benutzte Werke über Nationalismus : Carr, Nationalism; Hayes, The historical evolution; Kohn, The Idea of Nationalism; Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat; Namier, Avenues of History; ders., Vanished Supremacies; Pouthas, Le Problème des nationalités; Vossler, Der Nationalgedanke von Rousseau bis Ranke; Weill, L’Europe. Werke von Lamennais : Lamennais, Œuvres complètes ( A. d. Hg. : Im Folgenden wird stets auf die zehnbändige Ausgabe Paris 1844 verwiesen. An einer Stelle – in der Fußnote 6 – bezieht sich Talmon jedoch analog zu Kridl auf die zwölfbändige Ausgabe Paris 1836–1837. Dies wurde dort mit dem Vermerk „zwölfbändige Ausgabe“ kenntlich gemacht.); ders., Livre du peuple; ders., Paroles d’un croyant; ders., Politique à l’usage du peuple; ders., Lettres inédites à Montalembert. Werke über Lamennais : Janet, La Philosophie de Lamennais; Kridl, Mickiewicz i Lamennais; Laski, Studies in the problem of sovereignty; Poisson, Le Romantisme social de Lamennais; Vidler, Prophecy and Papacy.

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1. Theokratie – das einzig freie Regime Niemand ist je hungriger gewesen nach Gewissheit und unfähiger, sich mit weniger als dem Absoluten zu begnügen, als Lamennais; seine Haltung war das genaue Gegenteil zu der John Stuart Mills, der sich mit den für die Bedürfnisse unseres Daseins ausreichenden Gewissheiten zufriedengab, ohne sich darüber hinaus zu beunruhigen. Lamennais’ erstes größeres Werk – L’Essai sur l’indifférence – ist eine einzige ungestüme Moralpredigt gegen die Mehrheit der Menschen, die durch das Leben gehen, ohne sich je wirklich zu bemühen, die großen Rätsel der Schöpfung und die Geheimnisse des Lebens durchzudenken – und mehr noch gegen diejenigen, die vorgeben, an Gott zu glauben, sich aber so verhalten, als ob Gott nicht existierte oder sich nicht um die Welt kümmerte oder überhaupt unwichtig wäre. Sich nur um das Unmittelbare und Konkrete zu sorgen; nicht das Bedürfnis zu empfinden, jede Handlung zu irgendwelchen letzten Prinzipien in Beziehung zu setzen; das Missverhältnis zwischen Glauben und Tun nicht zu bemerken oder sich von ihm nicht beunruhigen zu lassen; heiter in den Tag hinein zu leben, ohne in tiefster Seele zu erschauern und in sich zu gehen – das waren sicherlich Anzeichen der Entartung, Merkmale von Nihilismus. In seiner entsetzlichen Angst, dass die Hölle fürchterlich nah sei und die Lockerung einer einzigen Angel genüge, um den ganzen Bau zum Einstürzen zu bringen, war Lamennais nicht bereit, irgendeinen inneren Mechanismus für den Ausgleich der Spannung und Unordnung anzunehmen. Es gab entweder die göttliche Ordnung oder jähen Sturz ins Verderben – nichts dazwischen.2 Die große Rebellion gegen Gott durch den sündigen Menschen, der sich zum Maß aller Dinge setzt, hatte Hunderte von Jahren vor der Französischen Revolution begonnen, als die mittelalterlichen Könige volle Souveränität in der weltlichen Sphäre und politische Unabhängigkeit vom Papst forderten. Der König, der den Anspruch erhob, der alleinige Richter in staatlichen Angelegenheiten zu sein, maßte sich in Wirklichkeit die Entscheidung darüber an, was zur weltlichen und was zur geistlichen Sphäre gehörte. Dadurch setzte sich der irdische Herrscher an die Stelle Gottes und behandelte Religion, Kirche und Priester als Werkzeuge der säkularen Politik und der materiellen Macht.3 Die Heuchelei schrie zum Himmel. Der König leistete der Religion Lippendienste und entleerte sie dabei ihres Inhalts, verleugnete ihre Mission der Heiligung des Lebens in seiner unteilbaren Totalität. Der Protestantismus stellte 2

3

Vgl. Lamennais, Œuvres complètes, Band 1, S. 23, 27, 37, 41 f., 49 f., 59, 78, 234, 376; Vidler, Prophecy and Papacy, S. 74–76; Janet, La Philosophie de Lamennais, S. 42; Kridl, Mickiewicz i Lamennais, S. 17–19. Vgl. Lamennais, Œuvres complètes, Band 1, S. 30, 63 f., 70 f.; Band 5, S. 128; Band 6, S. 65.

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Von der Unfehlbarkeit des Papstes zur Unfehlbarkeit des Volkes

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eine weitere Entwicklung in der Verleugnung der Souveränität Gottes auf Erden dar. Die Protestanten, die an die Offenbarung glauben, doch dem individuellen Gewissen das Recht zugestehen, das Wort Gottes auszulegen, verleugnen das eigentliche Wesen der Religion, nämlich das absolut Objektive und bedingungslos Bindende des Offenbarungsglaubens und seiner Verkörperung in einer göttlich ordinierten und inspirierten Institution. Der Deismus als logische Konsequenz des Protestantismus hatte die Bresche noch erweitert. Er erkannte zwar die Existenz eines Göttlichen Wesens vage an, lehrte aber, Gott sei sehr fern, lasse den Dingen ihren eigenen Lauf und die Menschen ohne Kompass. Gott wurde auf diese Weise schwer beleidigt, er wurde beschuldigt, machtlos zu sein, oder gleichgültig, oder beides, de facto schlechten Willens. Er wolle aus Groll den Menschen weder seine Führung noch seine liebende Barmherzigkeit gewähren. Die Deisten führen an, die soziale Kohäsion erfordere es, dass die unerleuchteten Massen an Gott glauben, dass sie die organisierte Religion achten, auf Belohnung im Jenseits hoffen oder Strafe dort fürchten. Die große Mehrzahl der Menschheit wird auf diese Weise mit Verachtung behandelt – sie werden beschwatzt, an Lügen zu glauben. Außerdem werden die Massen in Unter werfung hineinmanövriert von Herren, die glauben, sie seien klüger und dazu bestimmt, über die Dummen zu herrschen. Sie halten sich selbst für aufgeklärt genug, um ohne Gott auszukommen, jedoch für berechtigt, den Massen Opium zu verabreichen, um sie im Zaum zu halten.4 Jetzt kommen wir zum entscheidenden Punkt. Der individuellen Beurteilung freie Zügel zu lassen, bedeutet einerseits entsetzliches Elend – das Los der schwachen, ver wirrten Kreaturen ohne Richtung – und andererseits die Herrschaft der stärkeren, egoistischen Leidenschaft und eigensinnigeren oder unverschämteren Willkür. Wenn es kein objektives Kriterium gibt, das für alle gleichermaßen gültig und annehmbar ist, dann trägt zum Schluss das Urteil oder die Leidenschaft des Eigenwilligsten durch offene oder versteckte Macht den Sieg über die Schwächeren davon. Beim Fehlen eines objektiven Kriteriums wird die siegreiche Ansicht nicht bekehren, sondern beherrschen. Wer sie akzeptiert, ist nicht überzeugt, sondern weicht der Gewalt, der überlegenen Geschicklichkeit des Sophisten oder der Verlockung von Gewinn. Die unausweichliche Schlussfolgerung ist, dass es keine Freiheit außerhalb Gottes gibt. Unabhängigkeit ist nur in Gott. Es ist unwesentlich, ob die Souveränität – die oberste und ausschließliche Befehlsgewalt ohne jeden Vorgesetzten – für den absoluten König oder für ein demokratisch gewähltes Parlament verlangt wird; für eine Kammer, die auf einem Wahlzensus basiert oder für die gesamte zur Beratung versammelte Nation. Wenn die Entscheidung nicht im Willen Got4

Vgl. Lamennais, Œuvres complètes, Band 1, S. 85–87; Band 5, S. 122–128, 137 f.; Band 7, S. 8–10; Kridl, Mickiewicz i Lamennais, S. 45 f.

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tes wurzelt, ist sie willkürliche Gewalt, die sich aufzwingt, sich als objektive Vernunft ausgibt, ohne Beziehung zur Wahrheit oder Gerechtigkeit.5 Folgt hieraus nun, dass alle Wahrheit in der Heiligen Schrift enthalten ist, so wie sie von der Kirche als dem Vertreter Gottes auf Erden gedeutet wird ? Wie andere Ultramontane und Konterrevolutionäre des Zeitalters der Romantik wird Lamennais zwischen zwei Anschauungen hin - und hergerissen. Die eine ist die Berufung auf Gott und die Offenbarung. Die andere ist die Hinwendung zur Geschichte und Tradition, das heißt der allgemeinen Übereinstimmung der Gesellschaft zu allen Zeiten. Beide Anschauungen entthronen die kartesische individuelle Vernunft und ver werfen die Haltung des Zweifels als Ausgangspunkt des Individuums in seinem Streben nach Wissen und Gewissheit. Die kartesische Lehre wird der Nachprüfung durch die Erfahrung nicht standhalten. Allein die Tatsache, dass wir keinen Schritt tun können, ohne uns der Sprache zu bedienen – dieses Ideengewebes, an dem zahllose Generationen webten –, genügt, um zu zeigen, dass der Mensch seine Reise nicht mit einem „ich zweifle“, sondern mit einem „ich glaube“ antritt. Denn sogar der ausgesprochene Rebell nimmt von der Gesellschaft unendlich mehr an als er ver wirft, er absorbiert und bestätigt mehr als er umstößt und erneuert. In den meisten Angelegenheiten ordnet sich der Mensch irgendeiner unbestrittenen Autorität unter. Nur solche Unter werfung gibt seinem Leben Kontinuität und Sinn und seinen Handlungen Zusammenhang. Letzten Endes werden individuelle Wahrheit und Vernunft an der Beziehung zur allgemeinen Übereinstimmung, der allgemeinen Vernunft der Menschheit, gemessen. Eine Person, die der universalen Vernunft und der allgemeinen Übereinstimmung zuwiderhandelt, wird als wahnwitzig gebrandmarkt.6 Die Theorie der allgemeinen Übereinstimmung ist vom katholischen Standpunkt aus mit ernsten Schwierigkeiten behaftet. Schon ihr Entstehen war durch polemische Bedürfnisse bedingt : die nationale Tradition, die gleichbedeutend war mit der allgemeinen Übereinstimmung, wurde den gleichmachenden Abstraktionen des kosmopolitischen Naturrechts entgegengestellt. Nationale Tradition birgt jedoch einen Hinweis auf Historizismus in sich, da sie eine Mischung von besonderen objektiven natürlichen Gegebenheiten ohne moralische Bedeutung und das Produkt recht zufälliger Umstände ist. Im Wesen des Volksgeistes liegt es, dass jede nationale Tradition einzigartig ist, während 5

6

Vgl. Lamennais, Œuvres complètes, Band 1, S. 63 f., 275; Band 2, S. 90, 94; Band 5, S. 118 f.; Band 6, S. 26, 36, 57, 63–68, 105 f.; Vidler, Prophecy and Papacy, S. 85 f., 93, 100. Vgl. Lamennais, Œuvres complètes, Band 2, S. 20–22, 147–150; ders., Œuvres complètes (12–bändige Ausgabe ), Band 1, S. 334, 421; ders., Essai, Band 2, S. 90, 94; ders., Janet, La Philosophie de Lamennais, S. 43; Kridl, Mickiewicz i Lamennais, S. 17–27, bes. S. 22; Vidler, Prophecy and Papacy, S. 87 f.

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Von der Unfehlbarkeit des Papstes zur Unfehlbarkeit des Volkes

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Lamennais und seine ultramontanen Freunde sich um eine objektive universale Sanktion bemühen. Die von Burke, Novalis, den deutschen Romantikern und auch von den französischen Konterrevolutionären vorgeschlagene Lösung war die Vision einer Familie der christlichen Nationen, die auf einer gemeinsamen Religion, den gleichen Rechtsbegriffen, einem ähnlichen Sittenkodex und einem lebendigen Verantwortungsgefühl für die Werte und Schicklichkeiten des europäischen christlichen Kulturkreises beruhte. Die Verteidiger der Französischen Revolution stellten beglückt die neue Grundlage für die Reziprozität zwischen den Nationen – die Rechte des Menschen und der Nationen – in Gegensatz zu der raubgierigen, prinzipienlosen Machtpolitik der alten Monarchien. Die Konterrevolutionäre ihrerseits verurteilten die Französische Revolution gerade deswegen, weil sie das jahrhundertealte und behutsam im Gleichgewicht gehaltene europäische System zertrümmert hatte, nachdem ihr ideologischer Imperialismus zu einer durch keinerlei Gefühle der Ehrfurcht oder Achtung vor überlieferten Werten und Einrichtungen gehemmten Machtgier entartet war. Doch selbst wenn die universale Vernunft und die nationale Vernunft mit Hilfe einer höheren europäischen Synthese unter einen Hut zu bringen wären – und natürlich dachte in jenen Tagen kein Mensch daran, sich über etwaige Ansprüche Chinas oder des Islams auf Einschluss in die allgemeine Übereinstimmung Gedanken zu machen –, dann bliebe noch immer die sehr große Schwierigkeit, dass letzten Endes doch dem Individuum die Auslegung überlassen werde, was in einer bestimmten Frage die allgemeine Übereinstimmung sei. Die Katholiken suchten dann Zuflucht in der Kirche. Der mittelalterliche Papst sollte der göttliche Schiedsrichter zwischen den Nationen sein. Die Kirche war die greifbare und als Institution verkörperte Sanktion der Wahrheit und Gerechtigkeit. Wir werden nur zwei von Lamennais’ zahlreichen Argumenten her vorheben. Er übernimmt de Bonalds berühmte Theorie von der Entstehung der Sprache, die nicht lediglich die Überlegenheit der allmählichen kollektiven Leistung der Jahrhunderte über die erfinderische Kraft des einzelnen Menschen aufzeigte, sondern auch bewies, dass die menschliche Vernunft die Emanation der Vernunft Gottes sei. Die Sprache sei letzten Endes die Struktur oder richtiger die Artikulation der Vernunft. Die Vernunft existierte daher, bevor sich Wörter zur Sprache zusammenfügten. Die Sprache hätte nicht durch einen Entwicklungsprozess zustande kommen können, wenn nicht ein Substrat der Vernunft vorhanden gewesen wäre. Aber die menschliche Vernunft sei bei alledem doch das Produkt der Sprache. Das beweise, dass die Sprache nur ein Geschenk des Allmächtigen an Adam und Eva gewesen sein konnte. Dank der Sprache schritten die Menschen dazu, das Gebäude der Vernunft

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zu errichten – durch analytisches Differenzieren und synthetisches Integrieren, bis die menschliche Vernunft allmählich das reine Denken Gottes zu reflektieren beginnt. Diese Theorie der Sprache stellt eine etwas merkwürdige Anwendung der Philosophien von Malebranche und Leibniz dar. Das Streben des menschlichen Denkens, das Universum durch Anstieg von der Vielfalt zur Einheit zu begreifen, wird in der messianischen Sprache von Leibniz zum unaufhörlichen Bemühen der Menschheit, zum reinen Denken Gottes vorzudringen durch Über windung aller Hindernisse, die klarer Überlegung und gutem Willen entgegenstehen. Am Ende des Weges werde man das vollendete Bauwerk reiner Ideen finden sowie auch das Reich Gottes.7 Es war – und dies ist der zweite Punkt, den wir zu unterstreichen wünschen – die soziale Tendenz in dieser Denkweise, die Lamennais am stärksten anzog. Wenn Gewissheit der Erkenntnis und wissenschaftliche Kohärenz der Prüfstein sind für die Übereinstimmung zwischen menschlicher Überlegung und den Gedanken Gottes und Abweichen vom Wege Gottes bedeutet, in Irrtum und Finsternis zu gleiten, dann müsse es auch ein System sozialer und moralischer Wahrheiten geben, die Gottes Gedanken über den Gegenstand ausdrücken und die das Reich Gottes darstellen, wenn sie in Institutionen verkörpert werden.8 Da nach Lamennais die universale Übereinstimmung der Menschheit zu allen Zeiten eine Gottheit und die Notwendigkeit der Religion postulierte, seien die Universalität und Dauerhaftigkeit der katholischen Kirche überzeugende Beweise dafür, dass sie die universale Vernunft verkörpert. Lamennais’ Bemühungen um diesen Beweis brauchen hier nicht analysiert zu werden.9

2. Die Ketzerei der gallikanischen Restauration Das sich auf die gallikanische Kirche stützende Restaurationsregime erschien Lamennais mit der Zeit als unrein, sündig, tyrannisch und atheistisch. In erster Linie war es verschämte Demokratie. Obwohl es dem König von Gottes Gnaden Souveränität zuerkannte und verkündete, die Charte sei eine Konzession königlicher Gnade, hatte eine gewählte gesetzgebende Körperschaft die Macht, Minister durch budgetäre und andere Kontrollmittel zur Rechenschaft zu ziehen. Also war das System unlogisch und seine Anwendung von Schikanen und Betrugsmanövern zur Unterdrückung der Volksempörung ehrlos und

7 8 9

Vgl. Lamennais, Essai, Band 2, S. 166, 191; Vidler, Prophecy and Papacy, S. 77, 86–88. Vgl. Vidler, Prophecy and Papacy, S. 86–88. Vgl. ebd., S. 89 f.; Poisson, Le Romantisme social de Lamennais, S. 81 f.

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niederträchtig ( denn es hatte nicht den Mut, für seine absolutistische Überzeugung einzustehen ). Die Philosophie des Regimes wich dem Problem der letzten Sanktion aus. Doktrinäre wie Royer - Collard und Guizot leugneten deren Bestehen auf Erden. Sie wollten weder dem König Souveränität zusprechen, noch das Volk als Souverän anerkennen. Es war lächerlich, eine von den 100 000 höchsten Steuerzahlern des Landes gewählte Assemblée als souverän zu erklären. Guizot war Protestant und konnte nicht die Kirche als Deuterin der Worte Gottes ansehen. Lamennais verneinte auch die bloße Möglichkeit einer protestantischen Monarchie, denn wenn Menschen sich weigern, ein kirchliches Oberhaupt anzuerkennen, warum sollten sie sich dann in Staatsangelegenheiten widerspruchslos einem irdischen Souverän beugen ?10 Der Gallikanismus führte zu protestantischen, das heißt atheistischen Folgerungen. Nach der Deklaration von 1682 war der Allerchristlichste König von Frankreich gänzlich unabhängig und souverän in weltlichen Angelegenheiten. Darüber hinaus konnte keine päpstliche Bulle die französische Hierarchie ohne die Genehmigung des Königs erreichen, und keine Synode konnte ohne seine Ermächtigung abgehalten werden. Die wieder eingesetzten Bourbonen übernahmen den größten Teil der Revolutions - und Napoleonischen Gesetzgebung über das Erziehungswesen ( das Universitätsmonopol ), die religiösen Orden und die Stellung der Priester als bezahlte Staatsbeamte. Obwohl man die katholische Religion zur Staatsreligion erklärte, wurden anderen Konfessionen ähnliche Rechte und Privilegien garantiert. Der Staat hatte weder den Wunsch noch den Mut, die Kirche in die Lage zu versetzen, ein kirchliches Patrimonium wiederzuerlangen oder wieder aufzubauen, das ihr Unabhängigkeit sichern würde. In der Frage des Gesetzes gegen Gotteslästerung schämte sich die Regierung zu sagen, dass sie Gott verteidige, sondern behauptete, gewisse Bürger vor Verletzung ihrer Gefühle zu schützen.11 Wenn der König niemanden über sich hat und vom Papst – dem Vertreter Gottes auf Erden – gänzlich unabhängig ist, so bedeutet das, dass er dem Volk eigenmächtig seinen Willen aufzwingt. Mit anderen Worten, er ist ein Despot. Seine Handlungen haben nicht die Gültigkeit von Taten der Wahrheit oder Gerechtigkeit. Sie sind auf überlegener Macht begründet, auf Gewalt.12 Wenn der Staat die Quelle der Rechte der Kirche ist und die Religion geschützt wird, wenn der Staat sie nützlich findet, und in ihrem Einfluss

10 11 12

Vgl. Lamennais, Œuvres complètes, Band 5, S. 137 f. Vgl. Lamennais, Œuvres complètes, Band 5, S. 130, 143, 165, 338; Band 6, S. 80 f., 106; Band 7, S. 116, 190; Vidler, Prophecy and Papacy, S. 105–111. Vgl. Lamennais, Œuvres complètes, Band 5, S. 337; Band 6, S. 106; Band 7, S. 116; Vidler, Prophecy and Papacy, S. 110 f.

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beschränkt, wenn die Regierung Konkurrenz oder Schwierigkeiten fürchtet, dann ist die Kirche wirklich nicht frei, sondern in Banden. Die Aufgabe, die sie von Gott erhalten hat, gestattet keine derartigen beschränkenden Fesseln oder inhibierenden Bedingungen, vor allem auf dem Gebiet der Erziehung.13 Tatsächlich ist die privilegierte Stellung der Kirche als bevorzugtes Werkzeug einer absoluten Monarchie, die dem Papst keinen Gehorsam mehr leistet und daher den Weg zu atheistischem Despotismus eingeschlagen hat, auf eine ernste und subtile Weise gefährlich.14 Nicht nur wird der weltliche Glanz die Unwürdigen und Ehrgeizigen anziehen, in der Kirche Aufstieg und Macht zu suchen. Die Ver wechslung von weltlichem Einfluss und persönlichem Prestige – erkauft um den Preis der Unter werfung unter die jeweiligen Machthaber – mit der Größe der Kirche und dem Maß ihres Einflusses führt zur Abstumpfung des Moralgefühls. Unredlicher Politik, hässlicher Intrige, dem Wettbewerb widerspruchsvoller Ambitionen Vorschub zu leisten – und das alles scheint unumgänglich im weltlichen Kampf um die Macht –, verursacht nicht nur moralische Zersetzung, sondern diskreditiert die Kirche in den Augen der wahren Gläubigen und gibt den Feinden der Kirche die wirksamsten Waffen in die Hand. Die Kirche muss frei sein, auf Staatsschutz und Staatseinkünfte verzichten, das Bündnis zwischen Thron und Altar zerbrechen, denn unter einer gallikanischen Monarchie schleicht sich durch alle diese Verbindungen heimtückisch Versklavung ein.

3. Die gottgewollte Revolution An diesem Punkt angelangt, befand sich Lamennais an der Schwelle der großen Tragödie, die eine Spaltung in seinem Leben herbeiführen sollte. Diejenigen Denker, die glaubten, die Vorsehung schwebe über den Geschicken der Menschen und Nationen, und die dabei die Französische Revolution, die Demokratie, den Liberalismus und andere revolutionäre Ideen als gottlos und schlecht verurteilten, wurden oft von raunenden Zweifeln darüber geplagt, ob eine so gewaltige, unerbittliche und die Seelen aufrührende Bewegung wirklich außerhalb des Plans der Vorsehung stattgefunden haben oder allenfalls eine Bestrafung für Sünden gewesen sein könnte. Lamennais, der glühende Prediger des Evangeliums, unablässig auf der Suche nach dem Absoluten, war vielleicht noch mehr ein Chiliast als ein von Schuldgefühlen erdrückter Moralist. Ihm war die Vorstellung vom Wirken Gottes in den Vorgängen des Wer13 14

Vgl. Lamennais, Œuvres complètes, Band 6, S. 106; Vidler, Prophecy and Papacy, S. 108 f. Vgl. Lamennais, Œuvres complètes, Band 5, S. 143, 165, 337; Vidler, Prophecy and Papacy, S. 113, 153.

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dens, der Bewegung, der Entwicklung und des Wandels zutiefst bedeutsam.15 Er sagte in einem Brief an einen Freund, zeitlebens habe ihn das Gefühl nicht losgelassen, dass eine Endlösung, irgendein gewaltiger Wandel in den Angelegenheiten der Welt – von Gott gewollt und im Voraus bestimmt – unmittelbar bevorstehe.16 Wie konnte Lamennais den Fortschritt der Massen und die Verbreitung liberaler Ideen einfach als sündige Verirrung abtun ? Wie sollte er das schwache Nachhutgefecht der wiedereingesetzten Bourbonenmonarchie ehrerbietig als legitim anerkennen ? Auf wessen Seite stand die Geschichte ? Wenn den Anzeichen zu glauben war, stand sie auf Seiten des Volkes, und in diesem Fall klammerte sich die Kirche an ein Skelett. Sie hatte nicht nur auf das falsche Pferd gesetzt, sondern zeigte Verständnislosigkeit für die Absichten Gottes und zog den Hass, den Spott und die Verachtung der Massen auf sich, anstatt sie zu bekehren, wie es ihre Aufgabe war. Außerdem hatte die gallikanische Restaurationsmonarchie durch ihre Unterjochung der Kirche unter die weltliche Macht ihren Ansprach auf Legitimität ver wirkt. Sie war de facto zu einer schlimmeren Despotie geworden als die revolutionäre Massentyrannei, weil sie die Unter werfung der vielen unter einen oder unter wenige bedeutete, wobei ihr jedoch die glühende – wenn auch noch so irrige – Überzeugung der Jakobiner und Liberalen fehlte. So war sie nichts anderes als ein egoistisches Interesse. Und kann es sein, dass in all dem Brodeln und Rumoren der europäischen Revolution überhaupt kein göttlicher Funke ist ? Wenn wir erst einmal einräumen, dass die alten Monarchien keinen Legitimitätsanspruch haben, den Namen Gottes missbrauchen und sich daher der Unterdrückung schuldig machen, dann wird sicherlich der Kampf der Völker zu einer Auf lehnung gegen die gottlose Willkürmacht des Menschen über den Menschen, mit anderen Worten gegen Idole. Gott hat alle Menschen nach seinem Ebenbild erschaffen, und das Christentum war das Evangelium der Gleichheit und Brüderlichkeit. Es rief die Menschen auf, nur Gott allein zu gehorchen, und verbot den Gläubigen, Menschen zu gehorchen, die sich selbst als Idole einsetzen. Wenn auch die Massen in ganz Europa es vielleicht nicht wissen, so begehren sie doch nicht einfach Freiheit von Fesseln, sie streben nicht nur nach Rede - und Versammlungsfreiheit, nach gleichem Wahlrecht und nach freier Wirtschaft, sondern de facto lechzen sie nach Gewissheit, nach einer wahrhaft legitimen Ordnung. Sie wollen sich nicht einfach losreißen und frei sein. Sie sind von einer tiefen Sehnsucht nach dem Besitz der vollen Wahrheit 15

16

Vgl. Lamennais, Œuvres complètes, Band 6, S. 29–31, 73–75, 81; Band 7, S. 4; ders., Paroles d’un croyant, Kapitel XX; Vidler, Prophecy and Papacy, S. 225, 227 ff.; Kridl, Mickiewicz i Lamennais, S. 115. Vgl. Janet, La Philosophie de Lamennais, S. 63 f.; Lamennais, Paroles d’un croyant, Kapitel XXIV, S. 70–73; ders., Œuvres complètes, Band 5, S. 339; Band 6, S. 70–73, 87–90; Band 7, S. 72 f., 91 f.

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beseelt und wollen in reiner Gerechtigkeit ihrer Wege gehen. Sie haben sich gegen Willkür, launischen Eigennutz und ungerechte Gesetze erhoben. Sie zerschlagen die Götzenbilder. In ihrem innersten Herzen hegen die Massen eine Vision von Christentum und wahrer christlicher Ordnung. Hier hat die Kirche eine Aufgabe, wie sie sie seit den Tagen des Römischen Kaiserreiches und seit den barbarischen Königreichen im finstern Mittelalter nicht gekannt hat : sich an die Spitze der Massen zu stellen, ihrem Ruf nach Wahrheit und Gerechtigkeit zu entsprechen, Europa und die Welt zum Christentum zu bekehren und die Herrschaft des Menschen über den Menschen zu brechen. Es ist die große Stunde und Gelegenheit, den unseligen Fehler wieder gut zu machen, der darin bestand, dass die Kirche sich mit persönlicher Heiligkeit begnügte und den Kampf um die Bekehrung der Gesellschaft zum Christentum aufgab. Die verderbliche Heuchelei der doppelten Maßstäbe, von Kirche und Staat, Theorie und Praxis, Himmel und Erde, christlichen Prinzipien und politischem Verhalten, der Ethik des Evangeliums und kommerzieller Moral, war im Begriff, gesprengt zu werden.17 Der erbitterte Gegner des Individualismus, der früher die Forderung nach Gewissensfreiheit als ein Öffnen der Schleusen der Anarchie betrachtet hatte, wurde jetzt zum Verfechter schrankenloser Freiheit auf allen Gebieten. Jedwede Beschränkung der Freiheit durch eine Macht, die nicht Gottes ist, stellt einen Akt mutwilliger und gewaltsamer Willkür dar. Da keine der streitenden Kräfte den Anspruch erheben kann, göttlich inspiriert zu sein, ist absolute Freiheit für alle das einzig logische Ergebnis. Die Kirche sollte die letzte sein, dergleichen Beschränkungen zu verlangen, denn es ist gewiss ein Zeichen von Kleinmut, das offene Aufeinanderprallen der Meinungen zu fürchten, nicht an den Sieg der christlichen Wahrheit zu glauben und darum verängstigt auf Polizei, Zensur und Unterdrückung durch einen heidnischen Staat zu vertrauen.18 In diesem Stadium wurde der extreme Liberalismus von einer äußerst emphatischen Apotheose des päpstlichen Zentralismus und der päpstlichen Unfehlbarkeit begleitet. Lamennais konnte nicht den Kanon der Einheit des Glaubens und das Prinzip einer von aller äußeren Einmischung freien ökumenischen Kirche aufgeben. Die unabhängige nationale Kirche war der Feind. Sie negierte die christliche Freiheit. Sie ordnete die Religion dem Staate unter. Sie verletzte die Idee der einen und unteilbaren christlichen Kirche.19 17

18 19

Vgl. Lamennais, Œuvres complètes, Band 6, S. 29–31, 70–73, 81, 87–90, 349; Band 7, S. 19, 90, 169; ders., Paroles d’un croyant, Kapitel X, S. 30–32, Kapitel XX, S. 60–62, Kapitel XXXVII, S. 78–80; ders., Livre du Peuple, Kapitel III; Vidler, Prophecy and Papacy, S. 203; Poisson, Le Romantisme social de Lamennais, S. 90–94. Vgl. Lamennais, Œuvres complètes, Band 6, S. 70. Vgl. Lamennais, Œuvres complètes, Band 6, S. 70, 349; Vidler, Prophecy and Papacy, S. 136 f., 224.

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Lamennais war den Würdenträgern der gallikanisch - französischen Kirche – denen das Martyrium der Kirche während der Revolution noch frisch in Erinnerung war – bitter verhasst; er wurde als Wahnsinniger oder Narr angesehen, als einer von denen, „die einen Toten wieder lebendig machen möchten“, als übertriebener Simplizist und starrköpfiger Unruhestifter; er war jedoch unverzagt und fuhr fort, seine prophetischen Beschwörungen in dichterischer Bibelsprache über die Seiten der Zeitschrift „L’Avenir“ zu ergießen und Kardinäle, Bischöfe und andere erbitterte geistliche Würdenträger herauszufordern. Noch empfand er keinen Gewissenskonflikt. Er stand nicht im Widerspruch zur Apostolischen Kirche. Die gallikanische Hierarchie war beinah schismatisch. Der Heilige Vater der universalen Kirche konnte unmöglich gegen seinen Kreuzzug für geistliche Freiheit und seinen Kampf für den endgültigen Sieg Christi sein.20 Es ist nicht unsere Aufgabe – und die Geschichte ist so oft erzählt worden –, noch einmal zu berichten, wie Lamennais es nicht vermochte, die päpstliche Billigung zu erlangen, wie der Vatikan ihn ver urteilte und er mit der katholischen Kirche brach. Es lag etwas Episches in dem Beschluss der drei jungen Aposteln ( die beiden anderen waren Montalembert und Lacordaire ), sich nach Rom aufzumachen und ihren Streit mit der französischen Hierarchie vor Gregor XVI. zu bringen.21 Die Briefe Lamennais’ und seiner Gefährten, die „Affaire de Rome“ und die Korrespondenz des französischen und des österreichischen Botschafters am Päpstlichen Stuhl geben einen gewissen Begriff von der Atmosphäre unendlich langsamer und schleppender Prozeduren; von dem ernüchterten und zynischen Weltüberdruss, der naive Begeisterung verachtet und sein Haupt schüttelt über die tragischen Dilemmata derer, die sich berufen und fähig fühlen, die ganze Welt in Aufruhr zu versetzen; von jener Strategie des Ausweichens und Aufreibens, gegen die die feurigen jungen Leute anstürmten und von der sie sich eingehüllt, erschöpft und erstickt fühlten.22 Nach langen Wochen ungeduldigen Wartens wird Lamennais eine Audienz beim Papst vorgeschlagen unter der Bedingung, dass er den Gegenstand seiner Sendung nicht erwähnt. Er wird vom Vatikan angehalten, nach Hause zu gehen und auf die Äußerung des Papstes zu warten, die einige Zeit brauchen werde. Doch auf der Rückreise ereilt ihn auf einer Gesellschaft in München der schreckliche Schlag der „Mirari - vos“ - Bulle.23 Sie enthielt eine donnernde Verurteilung all der Prinzipien, die Lamennais sich berufen fühlte zu verbreiten : Gewissensfreiheit, Pressefreiheit, demokratische Ideen. Die Kir20 21 22 23

Vgl. Vidler, Prophecy and Papacy, S. 203, 222. Vgl. Janet, La Philosophie de Lamennais, S. 75; Vidler, Prophecy and Papacy, S. 194–197. Vgl. Vidler, Prophecy and Papacy, S. 194–197, 208. Vgl. ebd., S. 212 ff.

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che nahm unnachgiebig Stellung gegen den Liberalismus und für die Heilige Allianz und die bestehende Autorität. Die Bewegung der Völker zur Emanzipation und der Nationen, die nach nationalem Selbstausdruck strebten, wurde als Auf lehnung gegen gottgewollte Autorität und Ordnung gebrandmarkt.24 Es war der kritischste Augenblick in Lamennais’ Leben. Er, den das Problem des Widerspruchs des Individuums gegen die gemeinsame Stimme der Menschheit niemals in Ruhe ließ; er, der so empfindlich gegen und so entsetzt war über die Überheblichkeit des Einzelnen, der behauptete, besser zu sein und alles besser zu wissen als die gewöhnlichen Sterblichen; er, der den Irrtum so fürchtete und so sehr nach Gewissheit hungerte; er, für den die päpstliche Unfehlbarkeit der Fels und der Anker war, der so weit ging zu behaupten, der Papst habe nicht das Recht, sich der Verantwortung seiner Unfehlbarkeit zu entziehen – er fand sich jetzt in der autoritativsten Weise verurteilt als Träger einer Irrlehre und sündiger Auf lehnung. Was sollte er tun ? Sollte er seine tiefsten, leidenschaftlichsten Überzeugungen widerrufen ? Wie konnte er andererseits sicher sein, dass das, was in ihm aufwallte, nicht Stolz und Eigendünkel war, sondern die Stimme Gottes ? Lamennais traf seine Entscheidung : Nachdem die Kirche gesprochen hat, muss er sich von nun an jeder Äußerung über religiöse und theologische Fragen enthalten. Doch er wird sich als gänzlich frei erachten, in allen weltlichen und politischen Angelegenheiten seinen eigenen Weg zu verfolgen. Es war eine Entscheidung im Widerspruch zu Lamennais’ tief innerster Überzeugung, dass die Religion die bestimmende Triebkraft in allen Sphären des Lebens sein müsse, weil die Gesellschaft ohne Religion als ihre Basis nicht möglich sei, und daher der Dualismus von Kirche und Staat einen verhängnisvollen Irrtum darstelle und die Wurzel allen Übels bilde. Der Vatikan mit seiner jahrhundertelangen Erfahrung, wie aufreizende Probleme und leidenschaftliche Menschen manchmal am besten durch Nichtbeachtung und Vermeidung von Provokation unterdrückt und gezähmt werden, hätte es am liebsten dabei belassen. Doch Kompromiss, Vermeidung ausdrücklicher Erklärungen und Zweideutigkeit waren für einen Mann von Lamennais’ Heftigkeit und Eigensinn unmöglich. Anstatt einen inoffiziellen Briefwechsel zwischen dem Vatikan und einem der französischen Erzbischöfe über seine Ansichten zu ignorieren, zerrte er die Angelegenheit an die Öffentlichkeit und zog auf diese Weise eine erneute und noch direktere Verurteilung auf sich. Die anfängliche Kompromisslösung ließ sich nicht länger halten. Lamennais sagte sich endgültig von der katholischen Kirche los. Er wurde der Prophet des Volkes. Einsam, verlassen, in schrecklicher Armut und in einem Zustand dauernder Exaltation, außerstande, die Gewohnheiten des strengen Priesters aufzugeben, doch jetzt ohne eine 24

Vgl. ebd., S. 213 ff.

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Gemeinde, machte Lamennais den Journalismus zu seiner Kanzel – oder richtiger zum windgepeitschten Felshügel des Propheten.25

4. Vox Dei vox populi – direkte Demokratie Das „Volk“ trat an die Stelle der Kirche. Die Absichten Gottes werden sich durch das Volk – die Gemeinschaft der Gläubigen : die wahre Kirche – erfüllen. Obwohl das Volk sich dessen nicht bewusst ist, strebt es danach, das von der Kirche verratene Ideal der einen Gemeinde und des einen Hirten zu ver wirklichen. Es soll keine Herrschaft des Menschen über den Menschen geben und kein auf Vorteil begründetes Regieren. Objektive Wahrheit und Gerechtigkeit wird Gesetz sein, mit anderen Worten: Gottes Wort allein wird der Souverän sein, und es wird keine Götzenanbetung geben. Der allmähliche Sieg Gottes über die Götzen wird durch eine ständig wachsende Harmonie, ja beinahe Einmütigkeit unter den Menschen gekennzeichnet sein. Das größte entgegenstehende Hindernis ist die Ungleichheit, die eine verkleidete Form von Despotismus und Knechtschaft, von Willkürherrschaft, Eigennutz und Habgier oder mit anderen Worten von Heidentum darstellt. In einem System der Ungleichheit ist nicht die Verteidigung der Freiheit oder Erhaltung der Gerechtigkeit ( was beides dasselbe bedeutet ) das einzige Ziel der Bevorzugten, sondern der Schutz ihrer egoistischen Interessen vor dem Angriff der Benachteiligten, während die Opfer der Ungleichheit in Angst vor der Unsicherheit zittern und in Ketten der Armut schmachten, keine Freiheit kennen, nicht die Mittel haben, sie zu erlangen, und dazu verurteilt sind, den Götzen zu dienen. Tugend, Sittlichkeit, Großherzigkeit, Freundlichkeit, Verständigkeit, Bescheidenheit und Treue finden sich nur bei den Armen und Demütigen, deren natürliche Güte nicht durch Gier und Intrige verfälscht und verzerrt ist. Die flammenden biblischen Beschwörungen der „Paroles d’un croyant“ mit den Bildern der Könige, die in dunkler Konklave versammelt das Blut des Volkes trinken, sind an sie gerichtet. Gleichheit ist also die Bedingung der Freiheit und kommt vor ihr. Freiheit bedeutet, dass niemand das Recht oder die Macht hat, jemanden davon abzuhalten, seine Meinung auszusprechen oder den Ausdruck des Volkswillens – der die Stimme Gottes ist und durch Seine Kirche, die Universalität der von Ihm inspirierten Gläubigen, spricht – zu verhindern oder zu verfälschen. Darum kämpfte Lamennais 1848 nicht einfach für die 25

Vgl. ebd., S. 228–232; Janet, La Philosophie de Lamennais, S. 94 f. Janet zitiert hier de Vitrolles, der am 11. Mai 1834 über kirchliche Reaktionen auf die „Paroles d’un croyant“ berichtet : „C’est un bonnet rouge planté sur une croix ! – C’est l’apocalypse de Satan ! – C’est Babœuf débité par Ezéchiel !“ Vgl. auch Poisson, Le Romantisme social de Lamennais, S. 313.

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alten liberalen Freiheiten, sondern für eine Art plebiszitärer Demokratie, die an die Verfassung von 1793 erinnerte. Abgeordnete und Staatsbeamte, alle in direkter allgemeiner Wahl gewählt, sollten nicht Vertreter, sondern Beauftragte sein, die jederzeit zurückgerufen werden können. Lamennais bestand auf weitestgehender Dezentralisierung und wollte die Kommune als eine Einheit mit fast vollständiger Selbstver waltung stärken. Die Nation sollte zur Beratung in Permanenz versammelt sein. Diese Besorgtheit rührte von Lamennais’ Angst her, Menschen oder Gruppen der Nation könnten von unreinem Willen und Teilinteressen, mit anderen Worten durch Gewalt, beherrscht werden. Lamennais ist natürlich außerstande, das überlegene Recht numerischer Mehrheiten, nur weil sie Mehrheiten sind, zu akzeptieren. Legitimität wird nicht durch Zahl erreicht. Er lehnte auch den relativistischen Standpunkt ab, dass es nicht nur eine einzige Wahrheit gebe oder man wenigstens niemals sicher sein könne, wer der Träger der Wahrheit ist, und daher jeder Ansicht der Anspruch auf Gültigkeit zugestanden werden müsse. Nein, es gibt nur einen einzigen wirklich legitimen Willen, doch der sicherste Weg, ihn nicht zu erreichen, ist, die Suche nach ihm dadurch zu blockieren, dass man dem Denken und Ausdruck Fesseln anlegt. Nur eine absolut freie und aktiv fortgesetzte Suche wird ihn erreichen. Dieses einmütig gewollte Ideal wird wieder absolute Freiheit bedeuten, wie die Freiheit in Gott, die einzige Art wirklicher Freiheit. Ihr Kern wird absolute Gewissheit sein, es wird keine Unter werfung unter Menschen geben, keinen Raum für Willkür, das heißt – keine Despotie und keinen Götzendienst irgendwelcher Art. Schriftstellern wie Lamennais ist es zuzuschreiben, wenn der Begriff des Volkes zu einer so prägnanten Idee wurde, dass er die Bedeutung einer homogenen Persönlichkeit, einer idealisierten, sakrosankten Ganzheit annahm. Das brachte die Annahme eines bestimmten, ja eines ausschließlich gültigen Willens des Volkes mit sich. Dabei konnte die Negierung der Herrschaft von Menschen über Menschen und die Vision der einen Gemeinde und des einen Hirten nur ver wirklicht werden durch die Einstimmigkeit aller, die zu wollen berufen waren, mit anderen Worten: durch eine plebiszitäre Demokratie. Wie bereits wiederholt festgestellt, bedeutet direkte Demokratie in einem großen Land entweder Anarchie oder Diktatur, die aufrechterhalten wird durch „einstimmige“ Akklamation des Willens, der als Volkswille dargestellt wird. Lamennais’ Begriff des Volkes hatte ein sehr stark soziales Gepräge. Zugegebener weise war er – wie die Jakobiner – gegen jede Form von wirtschaftlichem Kollektivismus. Er sprach sehr scharf von der Staatstyrannei, die in einem kommunistischen Regime das Individuum zu einem Zahnrad in einer gewaltigen unmenschlichen Maschine machen und ihn zu dem Rang eines Leibeigenen in einem neuen Feudalsystem degradieren würde. Lamennais’ Ansichten in sozialökonomischen Angelegenheiten lassen sich als weitgehen-

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Von der Unfehlbarkeit des Papstes zur Unfehlbarkeit des Volkes

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der sozialer Radikalismus und individualistischer Egalitarismus beschreiben, mit progressiver Besteuerung, Zerstörung der Monopole, vollständiger wirtschaftlicher Freiheit, schließlich öffentlichem Kredit – dem Allheilmittel so vieler Sozialreformer jener Zeit –, der es dem kleinen Mann ermöglichen würde, sich zu etablieren und ein Minimum an Unabhängigkeit zu erreichen. Industrieentwicklung und Technik sind ihm kaum zum Bewusstsein gekommen, mit Ausnahme natürlich der durch die industrielle Revolution her vorgerufenen sozialen Übelstände. Es ist wahr, Lamennais predigte ein Evangelium des Friedens und warnte die Massen vor Gewaltanwendung. Er wollte keinen Klassenkampf. Doch die donnernden Prophezeiungen einer unmittelbar bevorstehenden katastrophalen Umwälzung in Paroles d’un croyant, Du Passé et de l’avenir du peuple, Le Livre du peuple, Le Pays et le gouvernement ( einer Schrift, die ihm ein Jahr Gefängnis eintrug ), so gemäßigt ihre Gedanken sein mögen, wenn nüchtern analysiert, machten ihn in dem Chor von sozialem Protest und Umsturz zu einer äußerst mächtigen und wirkungsvollen Stimme. Im Jahre 1848 hatte Lamennais seinen Sitz in der Nationalversammlung mit der extremen Linken. Er brach alle Beziehungen zu seinem Lieblingsneffen Blaise ab, als er erfuhr, dass der junge Mann in den Junitagen in der Nationalgarde gegen die aufständischen Arbeiter – das Volk – gekämpft hatte.26

26

Vgl. zu diesem Unterkapitel Lamennais, Œuvres complètes, Band 10, Au Peuple ( Vorwort zu Paroles d’un croyant ); ders., Livre du Peuple, S. 93–99, 101 ff., 116–122; ders., Œuvres complètes, Band 9, S. 84–92, 117 f., 126 ff.; Kridl, Mickiewicz i Lamennais, S. 172–174; Poisson, Le Romantisme social de Lamennais, S. 247, 253, 297–306, 326–330.

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II. Ges ta Dei per Fran cos ( Miche let ) 1. Der Plan der Universalgeschichte und die Nation Lamennais sprach vom Volk als der universitas fidelium. Ihn interessierte nicht das Phänomen eines besonderen Volkes, das durch Geographie, Rasse, Sprache und Geschichte zu einer Nation sui generis geformt worden war. Schließlich entwickelte Lamennais seinen Begriff des Volkes als Reaktion auf das, was ihm als ein Verrat an der Doktrin des einen Hirten und der einen Gemeinde durch eine Kirche erschien, die sich götzendienerischen Gallikanismus zuschulden kommen ließ. Für einen Propheten auf der verzweifelten Suche nach absoluter Gewissheit lag in der Betonung des besonderen Ethos einer bestimmten Nation etwas wie Willkür. Die Mannigfaltigkeit der Nationen konnte leicht als Beweis für die Relativität der Werte herangezogen werden. Schriftsteller wie Michelet und Mazzini, die ihrer eigenen Nation innerhalb einer Vielheit von verschiedenen Nationen erhöhte Bedeutsamkeit zusprachen, fühlten sich veranlasst, sehr ausdrücklich die Einheit der Universalgeschichte zu versichern; sie sahen in ihr ein sich entwickelndes System von logischer Zwangsläufigkeit, in dem sich Mannigfaltigkeit mit Einheit verband.27 Die Idee einer nationalen Mission erforderte eine breitere Vision der Menschheit, damit die besondere Berufung der einzelnen Nation sinnvoll wurde. Mehr noch, je göttlicher die Attribute, mit denen eine bestimmte Nation bedacht wurde, umso absoluter musste die Bedeutsamkeit der Geschichte sein, in der ihr Werden verankert war und deren Erfüllung sie herbeiführen sollte. Andernfalls wäre die Einzigartigkeit einer Nation mutwillig, und es gäbe keinen Maßstab der Beurteilung, um Rollen zu verteilen und Verdienste zu belohnen. Es ist wahrlich paradox, dass die nationalistische Ideologie in sorgfältig ausgearbeiteten Vorstellungen von der Universalgeschichte Wurzeln fasste und nationalistische Bekenntnisse zuerst als universale Menschheitsevangelien und als Botschaften einer unmittelbar bevorstehenden universalen Erfüllung auftraten. Sie fanden sich auf gemeinsamem Boden mit den sozialistischen Bewegungen, denn beide entstanden aus denselben Motiven. Die Frage, ob sie Ver-

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Werke von Michelet : Michelet, Introduction à l’histoire universelle; ders., Le Peuple; ders., Histoire de la Révolution française; Vico, Œuvres choisies. Werke über Michelet : Cornuz, Jules Michelet; Geyl, Debates with Historians; Kohn, Prophets and Peoples; Lanson, Formation de la méthode historique de Michelet; Lefebvre, Notions d’historiographie moderne; Monod, La Vie et la pensée de Jules Michelet.

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bündete oder Feinde sein würden, gewann im Lauf der Zeit entscheidende Bedeutung. Michelet und Mazzini bekennen sich, trotz etwas abweichender Bezugspunkte, zu einem ähnlichen Glauben. Die Ähnlichkeiten mit Saint - Simon, Hegel und Marx liegen zu sehr auf der Hand, um besonders betont zu werden. Gewisse Wiederholungen lassen sich daher kaum vermeiden. Es gibt nur eine Geschichte, die Universalgeschichte. „Die Menschheit ist das lebendige Wort Gottes“,28 sagt Mazzini. „Sie wird in Bewegung gesetzt durch den Geist Gottes, der sich in ihr von Epoche zu Epoche klarer offenbart.“29 „Es ist eine kollektive Ganzheit, in der jede Generation mit den vorhergehenden und den folgenden verbunden ist, in der die Existenz jedes Einzelnen so eng mit der anderer verknüpft ist, dass seine eigene ver vielfacht wird. Das Leben der Menschheit ist kontinuierlich, und ihre Fähigkeiten sind die Summe all der individuellen Fähigkeiten, die vielleicht während vierzig Jahrtausenden geübt wurden.“30 Geschichte ist Teleologie, sie ist die Geschichte einer Endlösung. Geschichte ist Apokalypse, sie strebt unwiderstehlich einem vorbestimmten Ziel, einer Auf lösung von Widersprüchen und Zusammenhanglosigkeiten zu.

2. Freiheit oder Fatalismus „Mit der Geburt der Welt“ – schreibt Michelet – „begann ein Kampf, der nur mit der Welt selbst zu einem Ende gelangen wird, und nicht vorher; der des Menschen mit der Natur, des Geistes gegen die Materie, der Freiheit gegen den Fatalismus. Die Geschichte ist nichts anderes als die Geschichte dieses unermesslichen Ringens. [...] Es bildet die Würde des Menschen und die Harmonie der Welt.“31 Beide Schriftsteller betrachten das Volk, und nicht Individuen, als Triebkraft der Geschichte. Das Volk ist sowohl bewegende Kraft als auch Träger der Geschichte, es erfüllt Aufgaben und verkörpert Aspekte der Geschichte. Der Kampf des Volkes um volle Selbstver wirklichung durch Befreiung von den durch die Natur und durch irrige Institutionen auferlegten Begrenzungen ist identisch mit dem Fortschritt der Massen zur Endlösung des Dramas der Geschichte.

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Salvemini, Mazzini, S. 40. Ebd. Ebd., S. 18. Michelet, Introduction à l’histoire universelle, S. 9 f.

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Diese Endlösung steht nahe bevor und wird ein Gegenstück und die Umkehrung des christlichen Erbes bilden. Sie ist an Bedeutung dem Entstehen des Christentums vergleichbar oder noch wichtiger als dieses; sie wird das vollenden, was die Kirche ungetan ließ, und gutmachen, was sie verdorben hat. Die Herrschaft der Natur über den Menschen, des Fatalismus über die Freiheit, weicht zurück – sagt Michelet –, je weiter wir in der Zeit von Osten nach Westen kommen. In Indien, „dem Schoß der Welt“,32 wird der Mensch erdrückt von der Allmacht der Natur. Er unterliegt den Wirkungen von Rausch und Mattigkeit, die von einem zu extremen Klima und einer zu üppigen Fauna und Flora her vorgerufen werden. Der Mensch versucht nicht einmal zu kämpfen. Er gesteht „mit einer düsteren und verzweifelnden Wollust, dass Gott alles ist, dass alles Gott ist, dass er selbst nichts als ein Zufall ist, ein Phänomen dieser einen Substanz“.33 Der Kampf der Freiheit gegen den Fatalismus errang seine ersten Siege in Persien – in der Idee der beiden Prinzipien von Gut und Böse; und in Ägypten mit dem Aufkommen des Glaubens an die Unsterblichkeit der Seele, der die Geburt des Begriffs der menschlichen Persönlichkeit kennzeichnet. Die Natur wurde dann von den Juden entthront, als der persische Dualismus der Einheit wich. „Dieser kleinen Welt von Einheit und Geist genügte ein Punkt in dem Raum zwischen Bergen und Wüste.“34 Im Geist der Freiheit standen die Helden von Judäa auf gegen ein fremdes Joch, und die Propheten ver warfen Fetische und Tabus. In Europa mit seiner kargen Natur, die keine Geschenke macht, aber auch nicht grausam über wältigend ist, schuf der tatkräftige Einsatz der Griechen die Stadt, eine geeinte, reiche und konzentrierte Ganzheit, im Gegensatz zu der Aufgelöstheit, die das Leben der asiatischen Barbaren charakterisierte. Dass es den Griechen nicht gelang, sich zu einem einzigen Staat zu vereinen, weist auf die Begrenzungen hin, die die Geographie auferlegt : die von der Gestalt des Territoriums untrennbaren deterministischen Gesetze, die Lage der Inseln, die Flussläufe, die Bergschranken.35 Außerdem blieben, obwohl die Polis das Ideal des freien Bürgertums ver wirklichte, Sklaven und Fremde zum Ausschluss aus dem griechischen Staatswesen verurteilt. Sogar die römische Stadt über wand den Fatalismus nicht ganz, trotz der Universalität des abstrakten römischen Rechts und der römischen Staatsbürgerschaft. Die Sklaven blieben außerhalb der universalen Menschheit. Das 32 33 34 35

Ebd., S. 12. Ebd., S. 13. Ebd., S. 19. Vgl. ebd., S. 20–25.

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Römische Reich wurde auch durchtränkt von den mystischen, orgiastischen Religionen des Orients mit ihrem Kult der Naturkräfte und ihrer obszönen Fruchtbarkeitssymbolik.36

3. Freiheit oder Gnade Das Christentum bedeutete den Sieg eines universalen Glaubensbekenntnisses über die Heterogenität von Rasse, Volksstamm, Provinz und Kaste, die alle von geographischen und natürlichen Faktoren determiniert waren. Als geistige Botschaft ver warf es die rohe Sinnlichkeit und den Materialismus des Götzendienstes. Es erkannte nur persönlichen Verdienst für Beförderung in der Kirche an und behandelte Geburt und Abstammung – fatalistische Determinationen – als irrelevant. Es gab tausend Jahren europäischer Geschichte Kohäsion und Einheit, seine Vitalität tat sich in Kreuzzügen und Kathedralen, Theologie und Volksglauben kund.37 Und doch liegt auf dem Christentum – und mit der Zeit wurde Michelet immer mehr von dieser Idee verfolgt – der unheilbare Makel eines mit der Freiheit absolut nicht zu vereinbarenden Fatalismus. Der Begriff der Erbsünde ist die Erbsünde des Christentums.38 Die Idee einer Kollektivschuld, die vom Vater auf den Sohn mit dem Blut übergeht, ist eine fleischliche, materialistische und fatalistische Auffassung. Sie negiert unsere gesamten Ideen von Gerechtigkeit – dass der Mensch nur für seine eigenen Taten verantwortlich ist. Sie ist die Umkehrung der Idee der Freiheit – dass der Mensch sein Leben ohne irgendwelche Belastung beginnt. Das grundlegende Dogma des Christentums ist ein durchaus willkürlicher Begriff. Das Verbrechen, mit dem die ganze Menschheit belastet wird, ist von einer Person begangen worden – von Adam. Die Erlösung der Menschheit ist von einem Menschen herbeigeführt worden – von Christus. Der Erretter erlöste uns, weil Er es wollte, nicht um irgendeines Verdienstes unsererseits willen – „miracle d’amour“.39 Als Gegenleistung wird vom Menschen verlangt, dass er glaube, nicht mehr. Der Glaube 36

37 38 39

Vgl. ebd., S. 32. Vgl. auch Lanson, Formation de la méthode historique de Michelet, S. 13–17, über den Einfluss von Herder und Heeren auf Michelet und Quinet. In seinem Tagebuch schrieb Michelet 1820 : „Nous sommes tous, plus ou moins, des romantiques. C’est un malaise qui est dans l’air que nous respirons.“ Lanson, Formation de la méthode historique de Michelet, S. 11. Vgl. zu den Schlagworten „Volk und Vernunft“ außerdem Monod, La Vie et la pensée de Jules Michelet, Band 1, S. 74–106 ( über Vico), 271–273. Vgl. Michelet, Introduction à l’histoire universelle, S. 37–41. Vgl. Michelet, Histoire de la Révolution française, Band 1, S. XXX, bes. S. XXXIII f. Ebd., S. XXXIV.

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an die Erlösung ist die Bedingung für die Erlösung, nicht Werke. „Keine Gerechtigkeit außerhalb des Glaubens. Wer nicht glaubt, ist im Unrecht.“ „Glaube oder sei auf ewig verdammt.“40 Doch das ist eine Bedingung, die nicht von unserem Willen abhängt. „On ne croit pas comme on veut.“41 Dann kommt St. Augustinus, verbessert die Lehre des St. Paulus und erklärt, die Erlösung hänge weder vom Glauben noch von Werken ab. Sie sei ein Geschenk von Gott, ein Akt der Gnade. Er sagte : „Ich glaube, weil es absurd ist.“42 Er hätte genau so gut sagen können : „Ich glaube, weil es ungerecht ist.“43 Denn Gnade und ihr Gegenstück – Verdammung, die aus Gottes unerforschlichem Ratschluss stammen, vorausbestimmt, ohne dass unser Verdienst oder unsere Schuld irgendein Gewicht haben, bedeuten Willkür, daher Ungerechtigkeit und Unfreiheit. Und so erscheinen Gnade und Gerechtigkeit als Widersacher, die sich durch die ganze Geschichte hindurch in tödlichem Kampf gegenüberstehen. Fatalismus und Freiheit. Die Idee der Gnade flößte Unsicherheit ein, entmutigte Bemühungen, hinderte den Menschen daran, auf sich selbst zu vertrauen und sein eigenes Leben durch schöpferischen Einsatz zu gestalten. Sie wurde zum Vehikel dauernder Ungerechtigkeit. Monarchie von Gottes Gnaden, Feudalprivileg und Klassenungleichheit waren die Ausdehnung der fatalistischen Idee von der Erbsünde, die mit dem Blut vom Vater auf den Sohn überging, und von dem monströsen Glauben an vorbestimmte Erwählung und Verdammung. „Sombre doctrine [...] pour mille ans, voile la face de la justice éternelle.“44 Die christliche Philosophie wurde von jedem Eroberer als Beweis dafür angeführt, dass der Sieg der rohen Gewalt den Willen Gottes anzeige und die Niederlage der Besiegten ihre vorbestimmte Verdammung bestätige. Ungetaufte Kinder der ewigen Hölle zu überliefern, war der höchste Ausdruck der fatalistischen Grausamkeit des christlichen „Glaubens der Liebe“.45 Ein Evangelium demütiger Liebe bedeckte die Erde mit einem Meer von Blut. Die auser wählten Priester, die glaubten, es stehe in ihrer Macht, tagtäglich das Wunder zu wiederholen – „amener Dieu sur l’autel, se faire obéir de Dieu ! [...] faire Dieu!“46 –, konnten nicht anders als jeden mit unerbittlichem Hass behandeln, der sich erlaubte, das priesterliche Monopol und die priesterliche Vormundschaft anzuzweifeln. Und so wurde ein „pyramidal bûcher“ 40 41 42 43 44 45 46

Ebd. Ebd. Ebd., S. XXXV. Ebd. Ebd., S. XXXIX. Vgl. ebd., S. XLIV–XLVIII. Ebd., S. XLVII.

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errichtet durch klerikale Grausamkeit, die „die liebliche Maske der Gnade abwarf [...] um die Gerechtigkeit zu vernichten“.47 Der Kampf der Gerechtigkeit gegen den Fatalismus ist der Kampf des Menschen um Befreiung von fatalistischen Determinationen, die seine Selbstver wirklichung verhindern und ihm unverschuldete Lasten aufbürden, von Ausschlüssen aus Gründen der Rasse und von überlieferten Beschränkungen. Das ist eine im Wesentlichen individualistische, ja sogar atomistische Auffassung der Gerechtigkeit. Befreiung vom Fatalismus bedeutet jedoch nicht lediglich ein Abschütteln von Ketten, sondern den Sieg des organisierenden und vereinheitlichenden Geistes über die Auf lösung und Isolierung, die das Ergebnis von fatalistischer Natur und traditioneller Trägheit sind. Die Geographie hat ursprünglich die Menschen zwangsläufig zu kleinen Einheiten von Volksstamm und Provinz zusammengeschlossen. Als Folge davon entstand eine unendliche Vielzahl von Gesetzen und Gebräuchen, von provinzieller Autonomie und lokalem Privileg, die weder in der Vernunft noch in der Gerechtigkeit begründet waren. Der fatalistische Glaube an das Blut machte eine absurde Klassenstruktur und soziale Ungerechtigkeit zur Dauereinrichtung. Die Freiheit ist die erobernde Macht der abstrakten Idee, die Rassen, Volksstämme, Provinzen verschmilzt; die die Menschen über die durch Natur, Blut, Vergangenheit und eigenen Vorteil vorbestimmten Einheiten hinaushebt und sie auf der Grundlage eines gemeinsamen Glaubens eint; die lokale Gebräuche und Munizipalgesetz durch zentralisierte Regierung ersetzt. Caesar ist Cato überlegen. Je künstlicher und je einheitlicher eine Institution ist, desto höher ist das Maß der erreichten Freiheit.48 Michelet ist nicht an individueller Freiheit interessiert. Ihm geht es einzig um kollektive Freiheit. Nicht die Unabhängigkeit des Einzelnen, sondern die Bemühung, einen einigenden Glauben oder die ihn verkörpernde Institution zur Herrschaft zu bringen, bedeutet Freiheit.49

47 48 49 50

Ebd., S. XLVIII. Vgl. Lanson, Formation de la méthode historique de Michelet, S. 22. Vgl. ebd. Michelet, Introduction à l’histoire universelle, S. 73.

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4. Die Geschichte des Volkes – Frankreich „Das, was am wenigsten einfach, am wenigsten natürlich, am künstlichsten, das heißt am wenigsten fatalistisch, am humansten und am freiesten ist in der Welt, ist europäisch; und am europäischsten ist mein Land, Frankreich.“50 Deutschland ist das Indien Europas. Mit seinen pantheistischen Neigungen und seiner Beschaulichkeit ist es nicht zur zentralisierten Organisation befähigt – „vaste, [...], flottante et féconde, [...] toujours jeune et vierge, [...] comme par enchantement [...] un liquide vivement saisi; [...] monstrueusement diversifié [...]; le morcellement infini“.51 Der Hauptzug des deutschen Volkes ist die „abnégation de soi“52 gewesen : Der Mensch ergibt sich gierig einem Herren oder einer Korporation und umgibt die Führer mit dem Nimbus übermenschlicher Vollkommenheit – Siegfried, Barbarossa.53 England, das ist wahr, ist ein geeinter Staat. Die Teile, aus denen es zusammengesetzt ist, die Rassen und Klassen, sind jedoch in einem noch höheren Maße voneinander getrennt geblieben als in Deutschland und Italien. Sie sind übereinander geschichtet und de facto in ständiger Feindschaft miteinander begriffen. Die englische Freiheit ist die Frucht von aristokratischem Stolz und Egoismus. Daher die Betonung der überlieferten Freiheiten, individuellen Unabhängigkeit und lokalen Selbstver waltung, anstatt sozialer universaler Freiheit.54 Frankreich stellt die volle Verschmelzung von Rassen, Volksstämmen, Traditionen und Ideen in Europa dar. Im Gegensatz zu Italien und Deutschland hat Frankreich seit Jahrhunderten einen Mittelpunkt gehabt, denselben Mittelpunkt – Paris. Wenn der Prüfstein für organische Vitalität die Fähigkeit ist, fremde Rassen und Völker anzuziehen und aufzusaugen, und das Zeichen für Universalität die Wirksamkeit, anderen Nationen als Führer und Lehrer zu dienen, dann besitzt Frankreich die beiden in höchstem Ausmaß.55 51 52 53 54 55

Ebd., S. 48 f. Ebd., S. 44. Vgl. ebd., S. 45. Insgesamt zu Deutschland vgl. ebd., S. 44–49, 53. Vgl. ebd., S. 88–92. Vgl. zu Frankreich ebd., S. 73–78, 82 f., 91 f., 94 f., 97. Ebd., S. 92 f. : „La liberté de la France est juste et sainte. Elle mérite de commencer celle du monde, et de grouper pour la première fois tous les peuples dans une unité véritable d’intelligence et de volonté. L’égalité dans la liberté.“ Ebd., S. 78 f. ( nach der Übersetzung von Geyl, Debates with Historians, S. 59) : „Frankreich, Land der Tat. Hang zur Eroberung ? Nein, Bekehrungseifer. Was Frankreich vor allem will, ist, den Besiegten seine eigene Persönlichkeit aufzwingen, nicht weil sie die seine ist, sondern weil es der naiven Überzeugung ist, dass sie das typisch Gute und Schöne vertritt. Es glaubt, der Welt keinen größeren Dienst erweisen zu können, als ihr seine Ideen, seine Manieren und seine Moden zu schenken. [...] Die weltweite Assimilation durch Frankreich ist nicht die gleiche, die

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Der Genius Frankreichs ist in her vorragendem Maße sozial. Darum ist Frankreich auf den Trümmern der feudalen Anarchie zum ersten zentralisierten Nationalstaat in Europa geworden. Die französischen Juristen errangen früh ihren Sieg über Ritter und Priester. Frankreich hat die Fähigkeit, natürliche überkommene und lokale Treuverpflichtung durch freiwillige Anhängerschaft an eine abstrakte Idee zu ersetzen und scheinbar atomisierte, von ihren überlieferten Einheiten losgerissene Individuen in eine auf voller Gleichheit beruhende Gemeinschaft des Glaubens und der gegenseitigen Liebe zu verschmelzen.56 Das Vertrauen auf Überzeugungskraft und die Vorliebe für Dialektik, Rhetorik und Jurisprudenz, die charakteristisch sind für eine in einer Atmosphäre von „nivellement intellectuel“ und in einer allen verständlichen Sprache beratende Demokratie, kennzeichnen den französischen sozialen Genius, der die Prosa der Poesie vorzieht.57 Der Einzelne in Frankreich will nicht, wie der Engländer, sich losreißen, sondern wünscht das Gemeinwohl mit anderen zu teilen. „Der Einzelne leitet seine Ehre von freiwilliger Teilnahme an der Gesamtheit her. Auch er kann sagen : ‚Legion heiße ich‘.“58 „Der Einzelne in der Masse und vor allem in Aktion, [...] sentiment de la communauté, qui fait le vrai caractère d’homme.“59 Obwohl Michelet prima facie die Befreiung und den Selbstausdruck des Individuums als das Ziel der Geschichte postuliert, stellt er kollektive Selbstver wirklichung weit über individuelle Freiheit. Das entsprach der Grundannahme des universalen Plans der Geschichte. Ein kollektives vorbestimmtes Schema schreibt nicht dem Einzelnen, sondern dem Zeitalter, der Nation, der Bewegung im Vorhinein Aufgaben und Rollen zu. Es setzt Pflichten fest, anstatt Rechte zu gewähren. Es erfordert eher Opfer, als vor der freien Willkür des isolierten Individuums zurückzuweichen. Das Volk ist der Held der Geschichte, nicht irgendeine individuelle heroische Gestalt. Die Ansicht, die die Rolle des großen Mannes in der Geschichte preist, ist nach Michelets Meinung im Grunde eine fatalistische Ansicht. Sie bedeutet, dass die Laune eines Einzelnen, seine schlechte Verdauung oder schlechte Stimmung, die unvermeidliche Endlösung der Geschichte beeinflussen könne.

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England und Rom in ihrer egoistischen und materialistischen Politik erträumten. Es ist die Assimilation des Geistes, die Eroberung des Willens – und wem ist das bis jetzt besser geglückt als uns ? Jede unserer Armeen hat bei ihrem Rückzug ein Frankreich zurückgelassen. Unsere Sprache steht an erster Stelle in Europa.“ Vgl. Michelet, Introduction à l’histoire universelle, S. 78. Vgl. ebd., S. 82 f. Ebd., S. 94 f. Ebd., S. 97.

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Schon Vico hatte uns gelehrt, die legendären Helden der Antike, Herkules, Odysseus und all die anderen, seien die idealisierten Vorstellungen der Volksqualitäten in den Augen des Volkes selbst. Die Sage sei die Autobiographie des Volkes. Geschichte als die Erzählung von Begebenheiten und Geschichte als das Bild der Vergangenheit in den Köpfen der späteren Generationen : Vico machte die große Entdeckung, dass der Mensch Anspruch auf Wissen nur um die menschlichen Wissenschaften erheben kann, das heißt um die Geschichte, denn er ist der Schöpfer der Geschichte und daher in der Lage zu wissen, woher und wohin, wie und warum. Nur Gott besitzt das Wissen um die Welt der Natur, denn er allein hat sie erschaffen. Wenn das Volk der Schöpfer der Geschichte ist, kann das Volk allein um sie wissen. Daher Michelets beharrliche Ver weisung auf Volkstradition, mündliche Überlieferung, allgemeine Übereinstimmung, „conscience populaire“,60 unter Hintansetzung des individuellen Urteils, sogar des individuellen Forschens und Urteils des Gelehrten. „Das ist es, was Frankreich von uns Historikern verlangt : keine Geschichte zu machen. Sie ist in wesentlichen Punkten ‚moralement‘ gemacht. Die großen Ergebnisse sind in das Volksgewissen eingeschrieben. Sondern die Kette von Tatsachen, von Ideen, aus denen diese Ergebnisse folgen, wiederherzustellen : ‚Ich bitte euch nicht, sagt es ( Frankreich ), dass ihr meine Überzeugungen schafft, dass ihr mir meine Urteile diktiert; es ist an euch, diese zu empfangen und euch ihnen anzupassen. Die Aufgabe, die ich euch stelle, ist, mir zu sagen, wie ich dazu gekommen bin, so zu urteilen. [...] Ich habe gehandelt und ich habe geurteilt; alles zwischen diesen beiden Dingen liegende ist aus meinem Gedächtnis entschwunden. Es ist eure Aufgabe ‚de deviner mes Mages‘!“61 Das Bild der Vergangenheit in den Herzen des Volkes ist die wahre Geschichte. Das Urteil, das das Volk über Helden und Geschehnisse der Vergangenheit fällt, ist das Urteil der Geschichte. „Die Grundlage, die am wenigsten irreführt [...], ist die, der junge Gelehrte am stärksten misstrauen, und die eine gründliche Wissenschaft am Ende als ebenso wahr erkennt, wie sie stark und unvergänglich ist; und zwar ist dies der Volksglaube ( croyance populaire )“ – wahr „au total“, wie sehr auch im Detail ausgeschmückt worden sein mag.62 Die Sage ist „eine andere Geschichte, die Geschichte des Volksherzens und seiner Phantasie“.63 Die sagenhaften Ausschmückungen, die von den realen Tatsachen abweichen mögen, sind die Din60 61 62 63

Michelet, Histoire de la Révolution française, Band 2, S. 562. Ebd., S. 540 f. Ebd., S. 528. Ebd.

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ge, die das Volk „mit den Augen des Herzens“64 sah. Man streiche die Schnörkel ab, und was vom Volksglauben übrigbleibt, ist, insbesondere soweit es historische Moral betrifft, „zutiefst gerecht und wahr“.65 In der Astronomie und der Chemie belehren die Wissenschaftler das Volk. Über das Thema des Menschen, seine Vergangenheit und Moralität, sein Herz und seine Ehre, „fürchte dich nicht, Mann der Studien, dich von ihm belehren zu lassen“,66 vom Volk. Michelet studierte Bücher und Manuskripte, doch befragte er in allem, was „moralité historique“67 betraf, in erster Linie die mündliche Überlieferung. Mündliche Überlieferung bedeutet die nationale Überlieferung. Sie ist nicht, was dieser oder jener Einzelne sagt, sondern was die einfachen Bauern, Städter, alten Männer, Frauen und sogar Kinder in einem Wirtshaus an der Landstraße sagen. Sie mögen sich über Dinge irren, doch sehr selten über Menschen. Man führe eine Untersuchung unter Leuten aller Art durch, nicht nur unter Arbeitern („viele von ihnen lesen schon zu viel, um zum Volk zu gehören“), nicht nur unter Frauen („ihre Empfänglichkeit führt sie häufig irre“), sondern unter „Personen verschiedenen Alters, Geschlechts, Milieus“; man streiche die „diversités accessoires“ weg, man nehme die Gesamtheit der Antworten – und man wird ein identisches Urteil über die Ursachen der Revolution und ihr Misslingen finden, mit Ausnahme der „écrivains systématiques, einiger belesener Arbeiter, die unter dem Einfluss des Systems und [...] einer besonderen Art von Presse sich der Masse des Volkes gemeinsamen Tradition entfremdet haben“.68 Doch was sind ein paar tausend Mann in ein paar Städten gegen vierunddreißig Millionen, die „quasi - totalité“69 des Landes ! Ebenso wie das Gottesurteil, so gibt auch die souveräne Gerechtigkeit des Volkes keine Begründung. Gelehrte werden ungeduldig über die Launenhaftigkeit des Volkes. „Caprice aux yeux de l’ignorance; pour la science, justice profonde. [...] Was ihr, schwach und subtil, wie ihr seid, ungerecht findet, ist der Fehler eures Geistes.“70 „Seid vorsichtig, meine Herren, seid vorsichtig, es ist der Richtspruch des Volkes, der Bescheid des Meisters; wir sind nicht dazu da, ihn zu ändern; lasst uns lediglich versuchen, ihn zu verstehen.“71 Wenn es Unstimmigkeiten gibt zwischen Dokumenten und Volkstradition, dann plädieren die Dokumente, Memoiren, Tagebücher einen besonderen, individuellen Fall. Die „Stimme Frankreichs“, „sehr schwer wiegend, sehr sicher, von einer 64 65 66 67 68 69 70 71

Ebd. Vgl. ebd., S. 528 f. Ebd., S. 529. Ebd. Vgl. ebd., S. 530–532. Ebd., S. 532. Ebd., S. 536. Ebd., S. 537.

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Autorität, die allen anderen überlegen ist“,72 die Volkstradition ist der individuellen Beweisführung überlegen. Frankreich ist nicht nur ein Beobachter, ein Zeuge, „es kennt sie ( Menschen und Ereignisse ), denn es hat sie gemacht“;73 es, und nicht Einzelne. Die Gelehrten sind dazu da, um den Kristallisationsvorgang der „conscience intérieure“ („conclusions [...] simples, naïves“)74 des Volkes aufzuspüren. Es ist letzten Endes gleichgültig, ob die Version des Volkes mit den Tatsachen übereinstimmt. Es ist nicht so wichtig, ob die WilhelmTell - Geschichte authentisch ist. Ähnliche Geschichten sind in anderen nationalen Traditionen zu finden. „Diese Erzählung mag nicht wirklich sein, aber sie ist eminent wahr, das heißt vollkommen in Übereinstimmung mit dem Charakter des Volkes, das sie als historisch vorbringt.“75 Die Geschichte ist die Autobiographie des Volkes.76 Das Volk ist nicht ein Aggregat von Typen, Klassen, Berufen, Interessen, Erziehungs - und Bewusstseinsebenen, ein Komplex von unendlich verschiedenen und heterogenen Elementen; es ist vielmehr eine mystische Ganzheit, eine homogene und ausgeprägte Persönlichkeit. Die sozialen Aspekte der Idee des Volkes werden ander wärts behandelt. Die Frage an dieser Stelle ist, was dem Volke diese wunderbare Hellsicht gibt. Das Volk besitzt die kostbare Gabe der Einfachheit. Es sieht und fühlt Dinge in ihrer konkreten Fülle. Es neigt nicht zur Analyse, und Abstraktion ist ihm unsympathisch. Die Natur selbst spricht direkt zu ihm, und es ist mit instinktiven und prophetischen Einsichten in die Wünsche und Beweggründe der Geschichte begabt. Es besteht eine natürliche Ver wandtschaft zwischen dem Volk, dem Kind und dem Genie. Das tiefe Wesen der Dinge, die Verbindung zwischen ungleichen und entfernten Dingen, die Vorstellung von der Zukunft werden von allen dreien intuitiv erfasst, da sie im Besitz von „la plus haute poésie morale, la simplicité du cœur“77 sind. Die Gabe der Inspiration und die Gabe der Liebe sind so wunderbar hellsichtig in ihrer überfließenden Sympathie. Überlegung ist weniger als Instinkt – „comme chaleur féconde, comme concentration vivante“.78 Jedes Wissen beginnt mit dem Instinkt. „Die Überlegung von heute war der Instinkt von gestern.“79 Und der Gedanke von heute wird, da er tief in unser Wesen einsinkt, zum Instinkt von morgen werden. Individualistische Vernunft degeneriert leicht zu Kaprice und Per version. Krankhafte Analyse hemmt den Willen, lähmt jedes 72 73 74 75 76 77 78 79

Ebd., S. 539. Ebd. Ebd., S. 540. Cornuz, Jules Michelet, S. 97. Vgl. Michelet, Le Peuple, S. XVII, 150, 156, 162 f., 184, 195–200. Ebd., S. 163. Ebd., S. 207. Ebd. Vgl. auch ebd., S. 151–154.

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Handeln, verdunkelt und entstellt den Ausblick. Die Weisheit aller Jahrhunderte und die Erfahrung aller Generationen kommt in plötzlichen Blitzen der Intuition und der Inspiration zum Durchbruch. Wir, das Volk, sind Barbaren, sagt Michelet. Wir besitzen „chaleur vitale“, werden von mächtigen Instinkten angetrieben, leben wirklich, denn wir kennen das Leid und kennen die Liebe. Vor allem sind wir in ständiger Berührung mit dem Boden und arbeiten mit unseren eigenen Händen. Die Erde dürstet nach dem Schweiß des Menschen, will durchtränkt und befruchtet werden von ihm.80 Und wir Barbaren sind mit ihm verschwenderisch : „Excès de la volonté, la surabondance d’amour, parfois le luxe de sève; cette sève, mal dirigée, tourmentée, se fait tort à elle - même, elle veut tout donner à la fois, les feuilles, les fruits et les fleurs, elle courbe et tord les rameaux.“81 Während Hunderten von Jahren ertönte die unterdrückte, doch nie ganz zum Schweigen gebrachte Stimme des Volkes wie leiser Orgelklang in der Kathedrale. Mit der Französischen Revolution ist seine Stimme zum Crescendo angestiegen.82

5. Die Französische Revolution und revolutionäre Dialektik „Vom Priester zum König, von der Inquisition zur Bastille führt ein gerader Weg. Heilige, geheiligte Revolution – wie spät bist du gekommen ! [...] Ich habe tausend Jahre auf dich gewartet [...]. Was ist das Ancien Régime, der König, der Priester, in der alten Monarchie ? Tyrannei unter dem Namen Gnade. Was ist die Revolution ? Das Ergebnis der Billigkeit, die späte Ankunft ewiger Gerechtigkeit. Gerechtigkeit, meine Mutter; Recht, mein Vater. Die beiden in Gott.“83 Die Revolution ist der „Tag des Gerichts“. Michelet vergleicht ihren Ausbruch fast ausdrücklich mit der Geburt Christi. Der Saal des Jeu de Paume wird als der Stall von Bethlehem bezeichnet, „la crèche pour la nouvelle religion“ – ein armer, hässlicher, leerer, trauriger Saal.84 Wie die Könige und die 80 81 82

83 84

Ebd., S. XXXVI. Ebd., S. XXXVII. Ebd., S. XV. Lefebvre, Notions d’historiographie moderne, zitiert Thierry wie folgt : „C’est une pure lutte d’esprit, [...] le réel, les hommes réels, vivant et mourant, cherchant leur intérêt, leur pitance quotidienne, disparaissent. C’est une perpétuelle psychomachie.“ [ A. d. Hg. : Siehe auch Lefebvre, La Naissance de l’historiographie moderne, S. 200.] Vgl. außerdem Kohn, Prophets and Peoples, S. 59 ff.; Leroy, Histoire des idées sociales en France, Band 2, S. 395–401. Michelet, Histoire de la Révolution française, Band 1, S. CXXV, CXXVII; Geyl, Debates with Historians, S. 64. Vgl. Michelet, Histoire de la Révolution française, Band 1, S. 51.

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Hirten unbeirrt dem Stern von Bethlehem folgten, so lenkten die Menschen 1789 von weither ihren Blick und ihre Schritte nach Paris. Die Bastille wurde nicht von dem Pariser Volk allein erstürmt, nicht einmal vom französischen Volk, sondern von den Völkern der ganzen Welt – es war „un éclair de l’éternité“.85 Die Annahme des republikanischen Kalenders durch den Konvent versetzte Michelet in Ekstase – ein Akt höchster Symbolik – „l’ère de justice, [...], de raison“ beginnt; „der Mensch ist mündig geworden“.86 Die Revolution erscheint so unwiderstehlich und unvermeidlich wie eine Naturerscheinung, wenn ihre Zeit gekommen ist – „comme l’Océan vient à son heure“.87 Mit welch heftigem Unwillen spricht Michelet von den fremden Feinden, die Frankreich daran hindern wollten, die Revolution durchzuführen, „amené légitimement du fond des siècles“:88 es war, als ob sie versuchten, eine Mutter in Geburtswehen vom Gebären abzuhalten, oder als ob sie Newtons Apfel daran hindern wollten, zu Boden zu fallen und dem Physiker die welterschütternde Entdeckung zu gewähren.89 Das revolutionäre Frankreich opfert sein Blut und seinen Leib für die Nationen – hier ist mein Leben, hier ist Erlösung. „Dreimal, nein tausendmal verflucht sei derjenige, der das wunderbare Schauspiel eines Volkes in diesem Zustand hochherzigen und uneigennützigen Heldentums sieht und das Wunder zu verhindern, zu ersticken versucht, aus dem eine Welt zu erstehen im Begriff war.“90 Der Angriff des Volkes auf die Tuilerien am 20. Juni 1792 nimmt den Charakter eines „großen Schauspiels“ an, in dem Menschen irrelevant, gleichsam ausgelöscht werden vor „deux idées, deux fois, deux religions“.91 „Eine unerhörte Sache, so schreckenerregend, als ob wir am hellichten Tag zwei Sonnen am Himmel sehen würden.“92 „Le monde moral eut son verbe dans le christianisme, fils de la Judée et de la Grèce; la France expliquera le verbe du monde social que nous voyons commencer.“93 Frankreich, „le peuple social entre tous“, „l’interprète entre Dieu

85 86 87 88 89 90 91 92 93

Cornuz, Jules Michelet, S. 231. Vgl. auch Michelet, Histoire de la Révolution française, Band 1, S. 110; ders., La Prise de la Bastille, S. 14 ff. Michelet, Histoire de la Révolution française, Band 6, S. 367. Vgl. auch Cornuz, Jules Michelet, S. 232. Michelet, Histoire de la Révolution française, Band 4, S. 313. Cornuz, Jules Michelet, S. 177. Cornuz, Jules Michelet, S. 177. Vgl. Michelet, Histoire de la Révolution française, Band 2, S. 214. Ebd. Ebd., Band 3, Livre VI, S. 493. Ebd. Michelet, Introduction à l’histoire universelle, S. 104. Vgl. zum gesamten Absatz ebd., S. 102–107.

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et l’homme“ bringt die Botschaft der „cité universelle et divine“,94 die das Christentum versprochen, aber nicht errichtet hatte. Ihr Beispiel wird sich ausbreiten von einer „société limitée de la patrie“ zu einer „république du monde“, „société humaine“.95 Und das wird eine „translation du ciel sur la terre“96 darstellen. „Den Gott, der in einem Steinbild auf dem Altar aufgestellt worden war, könnt ihr jetzt in der Menschheit fühlen, im Bild des Fleisches. Die Religion der Welt ist nicht mehr der selbstsüchtige Glaube, der sein Heil allein sucht und in Einsamkeit in den Himmel eingeht. Sie ist die Erlösung aller durch alle, die brüderliche Adoption der Menschheit durch die Menschheit. Keine individuelle Inkarnation mehr. Gott in allen, und alle Messias.“97 Michelet ist aufgebracht über Robespierres anfänglichen Widerstand gegen den Krieg – eine „unmögliche, lächerliche, unbillige“98 Haltung. Als ob Frankreich anders gekonnt hätte, als der Welt die Botschaft bringen. Es war verpflichtet, sie den Nationen zu bringen, und „l’Europe se donnait à la France“.99 „Wir schulden es der Welt [...] diese Gesetze, das Blut und die Tränen gab es ( Frankreich ) allen und sagte : hier ist mein Blut, trinkt.“100 „Du ( Frankreich ) bist nicht länger nur eine Nation, du bist ein Prinzip, ein großes politisches Prinzip. [...] Lebe für die Erlösung der Menschheit [...] glorreiche Mutter, die du nicht nur unsere bist, sondern deren Sendung es ist, jede Nation zur Freiheit zu erziehen [...] zu dem Evangelium der Gleichheit [...] zu universaler Liebe.“101 Als Frankreich 1792 im Begriffe stand, in Belgien einzufallen, „kam es als Gerechtigkeit, als ewige Vernunft, verlangte nichts anderes von den Menschen, als deren eigene beste Gedanken zu verwirklichen, deren eigenem Recht zum Sieg zu verhelfen. [...] Wie wenig dachte es an sein Interesse. Es hatte nur eines, die Erlösung der Nationen.“102 Das Volk ist eine homogene Ganzheit aus einem Guss, und ebenso die Revolution. Oder richtiger, sie bleibt es, so lange sie das Werk des Volkes ist. Die „cahiers“ wurden von einem einmütigen Volk verfasst, die Bastille wurde vom ganzen Volk erobert, die „Fête de Fédération“ war die glorreiche Manifestation beispielloser Verbrüderung, der Putsch vom 10. August wurde vom ganzen Volk gemacht. Die Septembermassaker waren das Werk von drei - bis 94 95 96 97 98 99 100 101 102

Ebd. Ebd., S. 102. Ebd., S. 106. Cornuz, Jules Michelet, S. 247. Michelet, Histoire de la Révolution française, Band 5, S. 122. Vgl. ebd., Band 4, S. 263 ff., bes. S. 265; Cornuz, Michelet, S. 243 f. A. d. Hg. : Zitat nicht wörtlich nachweisbar. Michelet, Histoire de la Révolution française, Band 4, S. 265. Vgl. auch ebd., S. 267, 272; Geyl, Debates with Historians, S. 77. Michelet, Le Peuple, S. 19, 257, 266, 270. Michelet, Histoire de la Révolution française, Band 3, Livre VI, S. 243 f.

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vierhundert Meuchelmördern und Trunkenbolden. Am 9. Thermidor war das Volk abwesend. Danton, Michelets bevorzugter Held, ein Mann von Intuition und Inspiration, der Urheber der „levée en masse“, war die wahre Emanation des Volkes. Robespierre, dem gegenüber Michelet eine ziemlich reser vierte und ambivalente Haltung hatte, war ein zu intellektueller Typ, ein Einzelgänger, der sich vom Volk abschnitt, ein analytischer, literarischer Typ, der die Instinkte der Massen nicht teilte und daher die Revolution an den Klippen zum Scheitern brachte.103 Vox populi vox Dei: Und doch zögert Michelet nicht im Geringsten, die Verfassung von 1791 gutzuheißen, die der Mehrheit der Nation das Wahlrecht entzog. Das allgemeine Wahlrecht, sagt er, hätte zweifellos dem Ancien Régime zum Sieg verholfen, da die Massen, insbesondere die Bauern, noch völlig fasziniert waren von Priestern und Lehnsherren. Es wäre absurd und selbstmörderisch gewesen, wenn den Fanatikern der Menschenrechte, den utopischen Anhängern der Gleichheit, erlaubt worden wäre, im Namen der Gleichheit „eine Million Wähler den Feinden der Gleichheit“104 zu liefern. Es war gleicher weise undenkbar, der „verabscheuenswürdigen und rückständigen“ Wählerschaft Belgiens zu gestatten, die Freiheit des Landes zu vereiteln und Freiheit zum Mord an der Freiheit auszunutzen.105 Das Phänomen der konterrevolutionären Erhebung des Volkes in der Vendée wird entweder als ein Akt per vertierter, von krankhaft vatermörderischem und selbstmörderischem Drang getriebener Demokratie dargestellt oder als das Ergebnis von geschickter Manipulation und skrupelloser Propaganda.106 Michelet gibt zu, dass 1793 die Mehrheit des Volkes gegen die Republik war. Ja, bewusst, denn instinktiv war das Volk republikanisch und antiroyalistisch und begriff, dass ausländische Invasion die Monarchie unmöglich gemacht hatte. Somit „tat die republikanische Minderheit nichts anderes als das zu erklären und zu formulieren, was die Mehrheit fühlte, ohne imstande zu sein, sich selbst darüber klare Rechenschaft abzulegen.“107 Der Terror macht Michelet große Schwierigkeiten. Er war ein unseliger Auswuchs, und doch war er eine unvermeidliche Notwendigkeit. Aber er dauerte zu lang. Er rettete die Revolution, doch er schändete sie in den Augen der Welt und zögerte den Sieg der Freiheit um mindestens ein halbes Jahrhundert hinaus.108 103 104 105 106 107 108

Vgl. Michelet, Histoire de la Révolution française, Band 4, S. 89 f., 165 ff.; Geyl, Debates with Historians, S. 65 ff.; Cornuz, Michelet, S. 245 ff. Cornuz, Jules Michelet, S. 176. Cornuz, Jules Michelet, S. 252. Vgl. auch Geyl, Debates with Historians, S. 77. Vgl. Michelet, Histoire de la Révolution française, Band 4, S. 275–279. Ebd., S. 396 f. Vgl. ebd., S. 88 ff., 322 ff., 459 ff.; Geyl, Debates with Historians, S. 71 f.

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Die frühen Tage der Revolution sahen ein Frankreich „mit offenen Armen, naiv, liebend, wohlwollend, uneigennützig, wahrlich brüderlich“ [...] in einer „aufrichtigen, erhabenen [...] und treuen [...] Vereinigung“ voll „Großmut, heldenhafter Güte“.109 Leider gab es bald Risse und Spaltungen zwischen den Klassen und Parteien. Den meisten in „sciences physiques et mécaniques [...] d’invention et de calcul“110 erzogenen Führern war das Erleben des Volkes nicht eigenes Erleben. Dann verursachten die Verschwörung des Auslands, das England eines Pitt, das unterirdische Wirken von Tausenden von Geistlichen, die Invasion und die Sabotage durch Spekulanten und Ausbeuter „jene schreckliche Kontraktion Frankreichs [...] jene mörderische Notwendigkeit“.111 Als die Revolution erst einmal aufgehört hatte, der einmütige Wille aller zu sein, musste sie von einem einzelnen Willen allen aufgezwungen werden. Es erhebt sich die Frage: Ist es recht, die Gerechtigkeit im Namen der Erlösung preiszugeben ? Michelet verneint das; denn wenn man erst ein solches Prinzip zulasse, wo werde man eine Grenze ziehen ? Doch spricht er an verschiedenen Stellen von „Prinzipien, die mit den schrecklichen Realitäten unvereinbar sind“, und widersetzt sich dem Ruf der legalistischen Pedanten, der Girondisten – „périssons légalement!“.112 „C’était toute leur recette, tout le secours, le réconfort qu’ils donnaient à la France.“113 Und schließlich war die Revolution „Gerechtigkeit, die blind war gegenüber dem Vorteil, Gerechtigkeit, die taub war gegenüber der Politik; Gerechtigkeit, die der Vernunft des Staatsmannes unwissend, in göttlicher Unwissenheit“114 gegenüberstand. Michelet hätte nicht für die Ausschließung der Girondisten gestimmt, aber er hätte auch nicht den Konvent oder die Montagne verlassen. Das hätte bedeutet, Frankreich zu spalten, die Revolution zu verderben. Es gab keinen anderen Weg als die jakobinische Diktatur, die „ohne die Assemblée eigentlich mitzuschleppen, vor ihr herschritt, und unerbittlich beiseite schleuderte, was ihren Weg behindern mochte“.115 Es ist vielleicht überhaupt irrelevant, die Leiden der Einzelnen oder das bestimmten Personen zugefügte Unrecht heraufzubeschwören. Wir sollten wirklich in heiliger Scheu vor dem wundersamen Geheimnis einer historischen

109 110 111 112 113 114 115

Cornuz, Jules Michelet, S. 257 f. Vgl. außerdem ebd., S. 256–262. Ebd., S. 257. A. d. Hg : Im frz. Original heißt es : „d’invention et de calcul, [...] sciences physiques et mécaniques“. Geyl, Debates with Historians, S. 68. Cornuz, Jules Michelet, S. 261. Ebd. Zu den Girondisten siehe außerdem Michelet, Histoire de la Révolution française, Band 5, S. 306 ff., 532 ff., 611–613. Michelet, Histoire de la Révolution française, Band 5, S. 98 f. Ebd., Band 5, S. 47. Vgl. auch Geyl, Debates with Historians, S. 71.

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Sintflut mit ihren unergründlichen Zwangshandlungen und verhängnisvollen Zuckungen ver weilen. Letztlich wurde die Revolution von all ihren Schöpfern gewollt, sogar von denen, die wie die im Wesentlichen aufrichtigen und heldenhaften Girondisten sich in den Rädern der Revolution verfingen und von ihnen zermalmt wurden. Obwohl sie fortgefegt wurden, nachdem sie zu einem Hindernis geworden waren, wussten die Opfer in ihrem innersten Herzen, dass sie nicht Opfer einer gewöhnlichen Ungerechtigkeit und Tyrannei waren. Die Opfer und die Henker, „diese großen Bürger, die so jung starben und die, was immer sie getan haben mögen, starben, indem sie für uns dieses Frankreich vorbereiteten, mögen jenseits des Todes Zeit gehabt haben, sich kennenzulernen und sich beim Eintritt in das Licht der Gerechtigkeit und Wahrheit gegenseitig zu umarmen“.116 Michelet bestreitet leidenschaftlich die Aussage eines Priesters, der dabei war, während Michelet noch gar nicht geboren war, dass die Girondisten am Vorabend ihrer Hinrichtung über Religion sprachen : „Ils parlèrent ( nous l’affirmons et le jurons au besoin ) de la France sauvée par la glorieuse bataille qui la fermait à l’invasion.“117

116 117

Michelet, Histoire de la Révolution française, Band 4, S. 323; Geyl, Debates with Historians, S. 73. Cornuz, Jules Michelet, S. 105. Michelet, Histoire de la Révolution française, Band 5, S. 310 : „Finir ce schisme désolant auquel le christianisme a si peu remédié, créer une âme identique dans une foi identique, qui fasse désirer, vouloir l’identité de la loi, c’est là le problème social de la Révolution.“

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III. Das Volk als Mes si as ( Maz zi ni, Mickie wicz ) 1. Gott und das Volk Mazzinis Haupteinwand gegen Carlyles Geschichte der Französischen Revolution ist, dass der große Einzelgänger nicht „eine Konzeption des Gesetzes, das die gesamte Menschheit regiert“,118 auf sein Werk anwandte. Es ist die Aufgabe des Historikers, jede Begebenheit mit dem Weg der Menschheit in Verbindung zu bringen, und seine Pflicht zu zeigen, wie die Rolle des Einzelnen durch das Gesetz der Gattung bestimmt wird.119 Ohne eine Konzeption von der „Einheit der göttlichen Idee im Stadium allmählicher Erfüllung auf Erden [...], dem Kollektivgesetz, das die Menschheit regiert“,120 wird die Geschichte zu einer Mystifikation, einer blutigen Ironie, einem bösartigen Scherz. Der Zufall scheint dann die Geschichte zu beherrschen und die Laune und Marotte des Einzelnen die Macht zu besitzen, das Schicksal von Nationen abzuwandeln und große Prozesse umzulenken. Der wahre Gegenstand des Historikers ist nicht der Mensch, sondern die Idee, die alle bewusst oder unbewusst zu ver wirklichen streben ( oder getrieben werden ); nicht der materielle Ausdruck – die konkrete Situation –, sondern das darin verkörperte Prinzip; nicht das Symbol – das gegebene Faktum –, sondern die dahinter stehende Idee; nicht die transitorischen, von Trieben ausgelösten Taten eines Einzelnen, sondern das Wirken des Gesetzes der Vorsehung. Die Geschichte nimmt so den Charakter einer feierlichen Erfüllung an, und die überkommenen Unterscheidungen zwischen Staat und Kirche, Caesar und Gott, Praxis und Glauben werden nicht nur irrelevant, sondern sündhaft. Das Leben ist eine Ganzheit, alle seine Aspekte und Manifestationen hingen in 118

119 120

Clarke ( Hg.), Essays Mazzini ( selected ), S. 163. Werke von Mazzini : Mazzini, Scritti editi ed inediti ( Edizione nazionale ); ders., Life and Writings; King ( Hg.), Mazzini Essays; Clarke ( Hg.), Essays Mazzini ( selected ); ders., Selected Writings; ders., The Duties of Man; Salvemini, Mazzini ( kann als Anthologie betrachtet werden ). Werke über Mazzini : King, The Life of Mazzini; Kohn, Prophets and Peoples; MacCunn, Six Radical Thinkers; Vaughan, Studies in the History of political philosophy; Vossler, Mazzinis politisches Denken. Werke von Mickiewicz : Mickiewicz, Ksiegi narodu i pielgrzymstwa polskiego; ders., Les Slaves; ders., Trybuna Ludów; ders., La Politique du dix - neuvième siècle. Werke über Mickiewicz : Kridl, Mickiewicz i Lamennais; Ujejski, Wielcy Poeci 1848 roku. Vgl. Clarke ( Hg.), Essays Mazzini ( selected ), S. 151–153; Mazzini, Scritti editi ed inediti, Band 7, S. 358. Clarke ( Hg.), Essays Mazzini ( selected ), S. 153. A. d. Hg. : Das Zitat steht im Originaltext in umgekehrter Reihenfolge.

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einer organischen Einheit zusammen. Diese Verbundenheit ist die Bedingung für den ungehinderten Gang der Geschichte, der als eine Serie von Aufgaben, ein Aufeinanderfolgen von Sendungen, eine Geschichte von Durchbrüchen erscheint. Eine Mutation macht Platz für eine neue Entwicklungsphase, nachdem alle Aspekte der ersten sich entfaltet haben und alle Kräfte für den Sprung in das neue Zeitalter mobilisiert und harmonisiert worden sind.121 Wo steht der Einzelne in diesem Plan ? „Meine Schule sieht Individualität und menschliche Freiheit als heilig an; doch die Handlungen des Individuums können das Gesetz der Vorsehung nicht ändern, noch die Fortschrittsbewegung der Menschheit lange aufhalten. Der Einzelne hat die Macht der Wahl zwischen Gut und Böse und ist persönlich haftbar für die Folgen der Wahl; aber er kann nicht den lang anhaltenden Sieg des Bösen in der Welt zustandebringen. Gottes Gesetz modifiziert die Ergebnisse des menschlichen Handelns und wendet sogar Verbrechen und Irrlehre der Schlechten oder Abtrünnigen zum Guten der Menschheit.“122 Ein Plan der Vorsehung in der zweckerfüllten Entfaltung der Universalgeschichte setzt voraus, dass das Ganze vor den Teilen kommt, de facto deren Platz und Bedeutung bestimmt. Die Selbstver wirklichung des Menschen ist daher – wie in den anderen von uns betrachteten Systemen – abhängig von der Entfaltung des kollektiven Gebildes. Der Versuch, einer kapriziösen Vorstellung des Selbstausdrucks unabhängig von der Totalität nachzugehen, ist zu ergebnislosem und schmerzlichem Scheitern ver urteilt. Mit dem Strom zu schwimmen, in der Gemeinschaft zu wirken, aktiviert und erhöht alle menschliche Leistungsfähigkeit. Nicht von den individuellen Freiheiten des isolierten Individuums sollte man sprechen, sondern von seiner Freude an der Ausführung seiner Aufgabe, seiner Würde in der Erfüllung seiner Sendung, seiner Größe im Akt der Selbstaufopferung, in der Heiligung des Gottesnamens, der sich im Vor wärtsschreiten der Menschheit offenbare.123 „Der freie Mensch ist nur eine aktive, zur Arbeit bereite Kraft.“124 Seine „Freiheit ist das Recht [...], seine Fähigkeiten ohne Hindernis und Einschränkung in der Erfüllung seiner besonderen Mission und in der Wahl der für ihre Erfüllung am besten geeigneten Mittel auszuüben“.125

121

122 123 124 125

Vgl. Mazzini, Scritti editi ed inediti, Band 6, S. 177–179, 199–202, 251 ff.; Band 7, S. 209–211, 245; Mazzini, Life and Writings, Band 3, S. 10; King ( Hg.), Mazzini Essays, S. 95; Salvemini, Mazzini, S. 63 f. Clarke ( Hg.), Essays Mazzini ( selected ), S. 167. Vgl. King ( Hg.), Mazzini Essays, S. 65, 95–100; Mazzini, Scritti editi ed inediti, Band 6, S. 278–280; Salvemini, Mazzini, S. 35. Mazzini, Scritti editi ed inediti, Band 6, S. 252. Mazzini, Life and Writings, Band 3, S. 32.

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Die Rechte des Einzelnen sind nicht ein ursprünglicher Besitz, sondern ein Modus des Selbstausdrucks, historisch determiniert durch das von der Menschheit erreichte Entwicklungsstadium und die Erfordernisse des Kampfes der Menschheit zum gegebenen Zeitpunkt.126 Es gibt nichts Wichtigeres als das Verstehen des Plans der Vorsehung und die Erhellung des Sinns der speziellen Epoche innerhalb der universalen Ordnung in Form eines Glaubens für das Zeitalter. Wir befinden uns in der Sphäre der Religion. Das religiöse Problem ist von unvermeidlicher und grundlegender Bedeutung für alles, „der Grundstein des ganzen sozialen Gebäudes, die einzige Garantie für ruhigen und stetigen Fortschritt.“127 Der Mensch ist in erster Linie ein homo religiosus, der zu wissen begehrt, woher und wohin.128 „Was wir Doktrin nennen, ist etwas, das von einem sicheren und unerschütterlichen Ausgangspunkt unter Umfassung und Ver wendung aller menschlichen Fähigkeiten zur Eroberung eines positiven und ver wirklichbaren Ziels und zum Gemeinwohl fortschreitet. Es stellt einen Versuch dar, dieselbe Formel anzuwenden auf die Erklärung der Vergangenheit, auf die Tendenzen der Gegenwart und auf die wahrscheinlichen Errungenschaften der Zukunft; es ist, mit einem Wort, das Exposé eines Prinzips und seiner Konsequenzen, die die Gesamtheit der Lebensäußerungen und die verschiedenen Erscheinungsweisen seiner sittlichen, industriellen, individuellen und sozialen Aktivität beherrschen.“129 Die Doktrin ist nicht ein „willkürlicher Akt“, nicht einfach „die Frucht einer philosophischen Abstraktion [...] eine rein ideale Konzeption“.130 Sie ist nicht „improvisiert“. Sie ist nicht geschaffen, sondern aus dem „Schoß der Menschheit“ abgeleitet und formuliert auf der Basis eines gründlichen Studiums der Lehren und Überlieferungen der Vergangenheit, des wissenschaftlichen Fortschritts, „der unveränderlichen Bedingung der menschlichen Natur“, der dringendsten Bedürfnisse des Tages.131 Sie verdankt ihren Ursprung „à la conscience, aux inspirations du génie, aux lueurs divines [...], à la charité, à l’amour“.132 126

127 128

129 130 131 132

Vgl. Mazzini, Scritti editi ed inediti, Band 6, S. 252, 254; Band 7, S. 201, 209, 363; ders., Life and Writings, Band 3, S. 108, 169; Band 4, S. 216, 223, 243, 312, 314; Band 6, S. 116; King ( Hg.), Mazzini Essays, S. 58, 63, 95. Mazzini, Scritti editi ed inediti, Band 6, S. 191. Vgl. auch ebd., S. 189; Band 6, S. 48. Vgl. zu diesem Absatz Mazzini, Scritti editi ed inediti, Band 4, S. 47, 243, 312, 314; Band 6, S. 262 f.; Band 7, S. 363; ders., Life and Writings, Band 1, S. 66, 71; King (Hg.), Mazzini Essays, S. 58, 63, 95. Mazzini, Scritti editi ed inediti, Band 7, S. 307. Vgl. auch ebd., Band 6, S. 260 ff.; King ( Hg.), Mazzini Essays, S. 61 ff. Mazzini, Scritti editi ed inediti, Band 7, S. 357. Vgl. ebd., S. 357 f. Ebd., S. 358. Vgl. auch Salvemini, Mazzini, S. 29.

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2. Orakel der Geschichte Die Doktrin eines Zeitalters ist die Vorahnung des göttlichen Willens, das korrekte Ablesen des Barometers der Geschichte. Wie und wem offenbart sich Gott – oder die Geschichte – im Prozess des Werdens im gegebenen Moment, durch wen spricht Er – oder sie ?133 „Der Geist Gottes kann nur zu den versammelten Mengen herabsteigen. An ihnen ist es zu sagen, was sie glauben oder nicht glauben.“134 „Wir glauben an die Unfehlbarkeit des Volkes“, aber „wir setzen kein Vertrauen in die Menschen“.135 Nur die Gesamtheit des unteilbaren Volkes ist die Kirche Gottes. Herrscher, Parteiführer, Parteien selbst mögen irren. „Die Masse kann niemals irren.“136 Einzelne mögen oft die Massen verführen und einen schlechten Einfluss auf sie ausüben, aber sie können letzten Endes niemals das Gewissen der Menschen vollständig verderben oder ersticken. Früher oder später setzt sich die wahre gute Natur des Volkes wieder durch. Und die Menschen von Gewissen „sind in der Mehrheit, und diese Mehrheit hat immer die Überlegenheit eines reineren Gefühls, größerer Vernunft, eines ruhigeren Gewissens“ gegenüber denen, die sich „vom Volke“ abtrennen.137 Der Einzelne erscheint nicht als ein ursprünglich isoliertes Geschöpf. Er ist ein Ausschnitt des Volkes. Nicht etwa, dass ihm gesagt wird, er solle seine Persönlichkeit aufgeben und blind höheren Befehlen gehorchen. Es gibt schwerlich eine größere Sünde als das. Seine wahre Natur und sein wirklicher Wille setzen sich durch, wenn er imstande ist, sich mit der Persönlichkeit des Volkes zu identifizieren.138 „Deine eigene Individualität hat ihre Rechte und Pflichten, die um keinen Preis aufgegeben werden dürfen; doch wehe dir und deiner Zukunft, wenn der Respekt, den du deinem individuellen Leben schuldest, je in das verhängnisvolle Verbrechen des Egoismus ausartet.“139 Bedeutet „Volk“ die in allgemeiner Wahl erzielte Mehrheit ? Mazzini erkennt, dass ein Volk unfähig sein mag, diese heilige Pflicht auszuüben. Es mag auch zur Beute „verhasster reaktionärer Leidenschaften“ werden, die „jene großen gemeinschaftlichen Ideen unmöglich machen“,140 durch die das Leben einer Nation groß und fortschrittlich wird. „Im bloßen Willen der Mehr133 134 135 136 137 138 139 140

Vgl. Mazzini, Scritti editi ed inediti, Band 7, S. 358 f. Salvemini, Mazzini, S. 38. Mazzini, Scritti editi ed inediti, Band 6, S. 385. Ebd., Band 4, S. 358. Ebd., S. 359. Vgl. ebd., Band 7, S. 174–176. Mazzini, Life and Writings, Band 4, S. 313. Vgl. zu diesem Absatz auch ebd., S. 221, 238. Mazzini, Life and Writings, Band 6, S. 105.

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heit ist keine legitime Souveränität, falls er dem höchsten Moralgesetz widerspricht oder geflissentlich den Weg zu zukünftigem Fortschritt versperrt.“141 Mazzini kann die Gleichsetzung „Gott und das Volk“ nicht aufgeben. Und so muss er natürlich zu einem mutmaßlich wahren und reinen Willen des Volkes seine Zuflucht nehmen. Wer wird bestimmen, was das Volk wirklich will, wenn nicht die tatsächliche Mehrheit der Wähler ? Das, was Mazzini „l’intelligence“ nennt, klar zu unterscheiden von und sogar im Gegensatz zu dem, was er als „les intelligences“ bezeichnet. „Gott und das Volk : sie sind entschieden die einzigen und ewigen Quellen, aus denen ‚l’intelligence‘ gespeist wird : sie herrschen durch diese ( par elle ).“ „L’intelligence“ läutert, verarbeitet und formuliert wirklich „das Denken des Volkes“.142 Mazzini sieht sich demselben Dilemma gegenüber wie vorher. Er postuliert eine einzig gültige Deutung des Diktates der Geschichte zum gegebenen Zeitpunkt, doch es gibt zahlreiche und verschiedenartige „intelligences“, die versuchen, es zu enträtseln. „Les intelligences können nichts anderes tun, als sich in Opposition stellen; l’intelligence organisiert. Les intelligences können zerstören; l’intelligence allein ist imstande aufzubauen.“143 Wer wiederum wird entscheiden, wenn wir auf der einen Seite „les intelligences“ haben, die in entgegengesetzte Richtungen ziehen, und auf der anderen ein aus unerleuchteten Arbeitern bestehendes ver wirrtes Volk, das von unmenschlicher Arbeitslast niedergedrückt wird und weder Zeit noch Vorbildung hat, um zwischen verschiedenen Meinungen seine Wahl zu treffen ? Mazzini vertraut darauf, dass das Volk instinktiv derjenigen „intelligence“ folgen wird, die die tiefsten Wurzeln in den Massen hat, die ihm als „spontan, fest, kompakt, die Mehrzahl der tugendhaften intelligences umfassend“144 erscheint. „Il met tout en jeu, il se livre tout entier et sans défiance.“145 Es gibt kein vertrauensvolleres Wesen als das Volk, wenn es Beweise von Tugend und Genius erhält.146 „Wonach die Welt zurzeit dürstet – man mag sagen, was man will –, ist Autorität. Ihre gesamten Aufstände sind nicht gegen die Idee der Macht gerichtet, sondern gegen die Parodie dieser Idee, gegen eine Scheinautorität, eine leblose Form, daher unfruchtbar und unfähig. Wir möchten geführt werden; nur wollen wir, dass die Besten und Weisesten unter uns unsere Führer sind;

141 142 143 144 145 146

Ebd., Band 4, S. 319. Mazzini, Scritti editi ed inediti, Band 7, S. 303. Vgl. ebd., S. 284–292, 302–305; Band 6, S. 174 f.; ders., Life and Writings, Band 3, S. 30. Mazzini, Scritti editi ed inediti, Band 7, S. 304. Ebd. Vgl. auch ebd., S. 303; ders., Life and Writings, Band 4, S. 238. Mazzini, Scritti editi ed inediti, Band 7, S. 304. Vgl. zum gesamten Absatz Salvemini, Mazzini, S. 61–67.

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im Verfolg eines gemeinsamen, von allen freiwillig gebilligten Ziels, und nicht eines fragmentarischen Ziels einer einzelnen Klasse oder Partei.“147 Mazzini greift die Idee einer erleuchteten Elite der Menschheit auf. Seine Vision von einem „Menschheitsrat“ trägt unverkennbar apokalyptische Züge. Er soll von dem „Initiator - Volk“ oder „Messias - Volk“ einberufen werden, das von Gott inspiriert wird, „wenn die Zeit reif ist“, und „verbunden durch einen einzigen Gedanken und eine einzige Liebe“ zu den Waffen greifen wird; aus seinem Sieg oder Unterliegen „wird das Wort der Epoche entstehen und die Welt erlöst werden“.148 Der „Menschheitsrat“ wird aus den weisesten und tugendhaftesten unter jenen bestehen, die an ewige Werte, an die Mission der Kinder Gottes auf Erden und an den Sieg der fortschreitenden Wahrheit glauben, „versammelt, um gewissenhaft den Geist dieser kollektiven Menschheit zu erforschen und die ahnungsvollen Völker, die ihrer selbst und der Zukunft noch ungewiss sind, zu befragen : ‚Welcher Teil des alten Glaubens ist tot in euren Herzen ? Welcher Teil der Zukunft beginnt, in euch zu leben ?‘ In diesem Rat wird der Sinn aller auf den höchsten Gipfel geistiger Macht getragen durch das Schauspiel eines Volkes von Gläubigen, durch die Betrachtung der menschlichen Natur, die zu außerordentlicher Aktivität bewegt wird und mit deren Fähigkeiten sich alle in Übereinstimmung befinden.“149 In solch tiefer geistiger Konzentration und völliger Demut, nachdem alle selbstsüchtigen und irdischen Einflüsterungen zum Schweigen gebracht sind, geschieht es, dass alle Seelen in reine, zum Empfang von Gottes Führung bereite Gefäße ver wandelt werden und der ökumenische Rat oder die päpstliche Konklave die Stimme Gottes hört und diese aus ihnen spricht. In der destillierten reinen Substanz der zum höchsten Gipfel emporgehobenen Geister und Herzen, in der vergeistigten Empfindsamkeit derer, die das evolutionäre Wachstum der Menschheit am intensivsten erleben, geschieht es, dass sich Materie gleichsam in Geist ver wandelt, dass das Universum selbst unter schwerem Druck zu sprechen beginnt und Prozesse sich zu Bewusstsein entwickeln.150 Letzten Endes ist die Souveränität durchaus nicht ein Besitz der Menschen. Der einzige Souverän ist Gott oder das Ziel der Geschichte, die der Gedanke Gottes ist. „Dasjenige Maß an souveräner Macht, das auf dieser Erde mit Recht vertreten werden kann, ist von Gott der Menschheit, den Nationen, der Gesellschaft anvertraut worden. Und sogar das hört auf und wird diesen Kollektiv -

147 148 149 150

Mazzini, Life and Writings, Band 6, S. 115. Salvemini, Mazzini, S. 37. Vgl. auch ebd., S. 62–66. Salvemini, Mazzini, S. 37 f. Vgl. auch ebd., S. 62–66; Mazzini, Scritti editi ed inediti, Band 7, S. 308 f. Vgl. Salvemini, Mazzini, S. 62–66.

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Verbänden der Menschheit entzogen, sobald sie es nicht mehr zum Guten ver wenden.“151 Die Ausübung unserer Souveränität dadurch, dass wir zu einer demokratischen Entscheidung gelangen und ihr Ausdruck verleihen, bedeutet in Wirklichkeit die Bemühung, „unsere Handlungen mit ihm ( dem Gesetz des Fortschritts ) in Einklang zu bringen – connaître sa loi et s’y conformer“.152

3. Ein einziger Glaube Alle Aspekte des Lebens sind untereinander verbunden, ineinander verschlungen. In einem gesunden sozialen Organismus gehorchen alle einem einzigen Impuls. Eine Gesellschaft, der dieser organische Zusammenhalt fehlt, befindet sich in einem Krankheitszustand, und ihr Fortschritt wird durch Schizophrenie gehemmt und entstellt. Der schöpferische Geist des Menschen soll nicht „kapricenhaft ( wirken ) [...] in jeder Richtung, die sich bietet [...]. Das ist nicht Leben, sondern eher eine einfache Folge von Handlungen, Erscheinungen, Symptomen der Vitalität, ohne Verbindung oder Beziehung oder Kontinuität : ihr Name ist Anarchie [...] Kraftvergeudung und nutzlose Verschwendung.“153 Mazzini ist tief beunruhigt von dem anarchischen Zustand, in dem sich Universitäten, Akademien, Schulen befinden, ohne das Gefühl einer Sendung, ohne einheitliches Programm, ohne „vue d’ensemble“, wo ein Professor Materialismus in der Medizin lehrt, ein anderer eine idealistische Rechtsphilosophie vorträgt, ein Wirtschaftler Laissez - faire preist und ein Lehrer der Sozialwissenschaften das Prinzip der Assoziation predigt; wo Katholiken, Hegelianer, Utilitarier gegeneinander arbeiten, als ob beabsichtigt wäre, Zweifel und Ver wirrung zu verbreiten, und nicht das Stadium des Fortschritts widerzuspiegeln und Führung zu bieten.154 „Zu viel Eitelkeit, zu viel Individualismus gärt noch in den Herzen des Volkes.“155 Akademische Freiheit hatte in der Vergangenheit der Sache der Menschheit natürlich überall dort große Dienste geleistet, wo die Erziehung das Monopol despotischer Regierungen, obskurantistischer Geistlicher und reaktionärer Klassenherrschaft war. In jenen Tagen war sie

151 152 153 154 155

Mazzini, Life and Writings, Band 4, S. 308. Mazzini, Scritti editi ed inediti, Band 6, S. 254. Ebd., S. 252 f.; King ( Hg.), Mazzini Essays, S. 56. Vgl. Mazzini, Scritti editi ed inediti, Band 7, S. 293–296, 309 f.; ders., Life and Writings, Band 4, S. 331; Salvemini, Mazzini, S. 36, 94 f. Mazzini, Scritti editi ed inediti, Band 7, S. 311.

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eine Waffe gegen die Tyrannei und ein Losungswort der Emanzipation, „unvollkommen, doch unentbehrlich“.156 „Doch ich spreche zu euch von einer Zeit, in der religiöser Glaube das Wort ‚Fortschritt‘ auf die Türen geschrieben haben wird und alle Institutionen das Wort in einer anderen Form wiederholen werden.“157 Die Freiheit der Erziehung wird dann von den durch den Staat garantierten Freiheiten ausgeschlossen sein. Das Dogma der Assoziation als ein objektives, festes und allumfassendes Kriterium wird die einzige Basis des Unterrichtes an Schule und Universität bilden. „Es wird ( dann ) ein wahres Apostolat der ‚lumières‘ geben mit einer kleinen Zahl grundlegender Wahrheiten als Ausgangspunkt, die von jetzt ab für die Menschheit in dem Ausmaß erworben werden, in dem ihr von einigen genialen Männern Beweismaterial, das jedoch noch popularisiert werden muss, geliefert wird. Die Erziehung wird festgelegt sein. Die Bilanz unseres Wissens wird rasch gezogen werden. Und diese Bilanz zusammen mit einer Gesamtschau wird eine allgemeine Doktrin entstehen lassen, einen allgemeinen Glauben, der das Programm des neuen Zeitalters sein wird.“158 Mazzini träumt von einer „großen philosophischen Assoziation“, in die die „ebenso von Liebe beseelte wie treu ergebene ‚intelligence‘, überzeugt von der Notwendigkeit eines gemeinsamen Glaubens [...] einer allgemeinen Doktrin als Antwort auf die unbestreitbare zeitgenössische Bewegung, die [...] die Menschheit mitreißt, einer neuen Bestimmung entgegen [...] das Gesamtresultat ihrer Arbeiten“159 einbringen und die Vielheit von heterogenen und widerspruchsvollen Lehren, Assoziationen, Theorien und Koterien abschaffen und ersetzen würde. Priester, Dichter, Künstler, Historiker hören als erste die fernen Glocken läuten, denn ihre Empfänglichkeit ermöglicht es ihnen, die Laute eher zu vernehmen. Sie erleben das Menschheitsdrama, wie es sich im Laufe der Zeiten entfaltet, intensiver. Sie umfassen es in toto und werden von ihm umfasst. Ein wahrer Künstler ist ein „Priester des universalen Lebens und ein Prophet hoher sozialer Ziele“.160 Sein Kompass ist das das Menschengeschlecht beherrschende Lebensgesetz, dessen einziger fortlaufender Interpret die Menschheit ist. Ein Künstler, dem dieser Kompass fehlt, kann nur individuelle Impulse, zufällige Umstände, vorübergehende Eindrücke, ziellose Phantasiegebilde darstellen. Er wird zum Gaukler degeneriert, wenn er „alle Gesetze oder Regeln der Beurteilung außer dem Diktat seines individuellen Gewissens aufgegeben hat“, wenn er auf seine Mission verzichtet, der gemeinsamen Aufgabe der Mensch156 157 158 159 160

Salvemini, Mazzini, S. 94 f. Ebd., S. 95. Mazzini, Scritti editi ed inediti, Band 7, S. 309 f. Ebd., S. 308 f. Clarke ( Hg.), Essays Mazzini ( selected ), S. 153.

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heit und seiner Nation, den Geheimnissen des Lebens und der Erkenntnis der Zukunft Ausdruck zu verleihen.161 Die Dichtung in England ist tot seit Byron, „dessen Gedichte das Fühlen einer früheren Welt und eines zukünftigen Zeitalters ausdrücken [...]. Durch seine Melancholie und seine Begeisterung ist sein Werk sittlich, sozial und prophetisch.“162 Byron ist das Symbol der zukünftigen Bestimmung; er stellt eine wunderbare Mischung von Denken und Handeln, Heldentum und Opferbereitschaft dar.163 Shakespeare und Goethe werden beide abgelehnt; der erste wegen fehlender Einsicht in „die Gesetze der Menschheit“, wegen völligen Fehlens jeder „Begeisterung für große Prinzipien“ – „die Zukunft hat in seinen Werken keine Stimme“; der letztere, weil sein Werk rein „dichterischen Materialismus im Gegensatz zur Kultur des Ideals“ ausdrückt und „keine Sympathien für die Menschheit“164 zeigt. Unnötig zu sagen, dass Schiller gelobt wird wegen des „Vertrauens auf Gott und der Hoffnung für die Geschicke der Menschheit“, „Gesundheit des Geistes“ und „Inspiration zu Opfern und noblen Taten“,165 die seine Gedichte und Dramen enthalten. Die moderne Musik ist herabgewürdigt worden zu „einer sterilen Kombination von Tönen ohne Bedeutung, ohne Einheit, ohne sittliche Ideen. Pedanterie und Käuf lichkeit haben die Kunst zu einer mechanischen und ser vilen Übung, zu einer Ablenkung für die satten Reichen degradiert.“166 Die „soziale Dichtung“ der Zukunft wird „Harmonie, Leben und Einheit mit sich bringen [...] initiieren und zusammenfassen [...]. Sie wird die Bestimmung des Menschen besingen und das Ringen seines Geistes erleichtern, ihn lehren, auf dem Wege über die Menschheit seine Gedanken zu Gott zu erheben.“167 Ihr Gesang gilt „den Freuden des Martyriums, der Unsterblichkeit für die Besiegten, dem Kummer, der sühnt, und dem Leid, das läutert, den Erinnerungen, Hoffnungen und Traditionen einer Welt, die eine andere gebiert, [...] einen Glauben an zukünftige Dinge“.168 Da völlige gegenseitige Abhängigkeit aller Aspekte des Lebens unermüdlich postuliert und vorausgesetzt wird, dass die Definition des Sinnes des gegebenen Ereignisses, Prozesses oder Problems notwendiger weise kategorisch sein muss, kann es keine Unterscheidung geben zwischen der Formulierung von politischen Geboten, philosophischen Wahrheiten oder künstlerischem Urteil. Die zugrunde liegende Annahme 161 162 163 164 165 166 167 168

Vgl. ebd., S. 154. Ebd., S. 105; Salvemini, Mazzini, S. 31, 97. Clarke ( Hg.), Essays Mazzini ( selected ), S. 105–107. Salvemini, Mazzini, S. 97. Vgl. auch ebd., S. 96. Ebd. Ebd., S. 31. Vgl. auch ebd., S. 30. Clarke ( Hg.), Essays Mazzini ( selected ), S. 102; Salvemini, Mazzini, S. 55. Clarke ( Hg.), Essays Mazzini ( selected ), S. 54; Salvemini, Mazzini, S. 55.

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eines unvermeidlichen Fortschritts auf allen Gebieten gleichzeitig macht es axiomatisch, dass alle Kunst fortschrittlich sein müsse, intuitiv im Voraus die Offenbarungen des Fortschritts erfühle oder auf sie reagiere, als Sprachrohr und gleichzeitig als Inspirator der leidenden oder mühsam vor wärtskommenden Massen diene. Diese Auffassung der Rolle des Künstlers als eines sozialen Propheten, als eines Hüters des Gewissens hat übrigens in Zeitaltern und in Ländern, insbesondere osteuropäischen, die keinen Raum oder nur beschränkte Möglichkeiten für freien politischen Selbstausdruck in parlamentarischen Institutionen und einer freien Presse ließen, Wurzeln geschlagen. Infolgedessen wurden Dichter zu Propheten und Sehern, mit den Worten Shelleys „the unacknowledged legislators of the world“.169

4. Die Stunde der Völker Saint - Simonismus auf Nationalismus angewandt – so ließe sich fassen, worin Mazzini über Michelet hinausreicht. Für den italienischen Propheten war die Französische Revolution nicht die Morgenröte eines neuen Zeitalters, sondern eher der Gipfelpunkt eines Prozesses und das Ende einer Epoche. Sie befreite das Individuum von seinen Ketten. Individualistisch in ihrem Grundgehalt, hat die Französische Revolution es jedoch unterlassen, eine neue „conception unitaire“170 zu entwickeln, die als Basis für einen großartigen gemeinsamen Krafteinsatz dienen könnte. Sie hat den Sklaven des Feudalismus und der Kirche befreit, aber nichts dazu getan, um es dem Menschen zu ermöglichen, zu vollem Selbstausdruck in harmonischer Zusammenarbeit mit seinen Mitmenschen in einem kohärenten und dynamischen sozialen Ganzen zu gelangen. Und so wurde die Welt in dem Gefühl belassen, in einem Provisorium und Übergangsstadium zu leben; erst an der Schwelle des Wahren.171 Die Menschheit ist reif für die nächste Mutation – vom Individualismus zur Assoziation. „Ich glaube an Assoziation als das einzige Mittel, denjenigen Fortschritt auf Erden herbeizuführen, den wir alle anstreben; nicht nur weil sie die Wirkung der produktiven Kräfte ver vielfacht, sondern weil sie in der Annäherung aller verschiedenen Manifestationen der menschlichen Seele das Leben des Einzelnen dadurch erweitert und wirksamer gestaltet, dass sie ihn zur Teilnahme am kollektiven Leben führt.“172

169 170 171 172

Cook ( Hg.), A Defense of Poetry, S. 46. Mazzini, Scritti editi ed inediti, Band 7, S. 169, 405. Vgl. Mazzini, Scritti editi ed inediti, Band 7, S. 167 f.; ders., Life and Writings, Band 3, S. 65, 98, 120; Band 4, S. 234 f. Mazzini, Life and Writings, Band 6, S. 197.

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Die Morgenröte der Emanzipationsära stellt als Werkzeug der Ver wirklichung die Nation in den Vordergrund, und nicht, wie Saint - Simon glaubte, die Produzenten. Die Nation ist der natürliche und erste Träger der Assoziation, und sie ist in ihrer Zusammensetzung und an gefühlsmäßigen Inhalten auch viel reicher als die Produzentenklasse. Die Natur und die Geschichte haben die Nation zur Einheit der Assoziation ausersehen, und zwar dadurch, dass sie für sie den geographischen Hintergrund schufen, ihr eine eigene Sprache und einen eigenen Genius verliehen und sie für ein besonderes Schicksal vorbehielten. Vor dem Sieg der Rechte des Individuums in der Französischen Revolution hätte die Stunde der Nationen nicht schlagen können und auch nicht vor dem Aufkommen der Idee der Assoziation. Despotische Regierungsordnungen, Klassenausbeutung und klerikaler Obskurantismus haben den Selbstausdruck des Einzelnen verhindert und nicht die Bedingungen geboten zur Aktivierung aller menschlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten in einem kollektiven Streben. Das Nebeneinander von Herren und Knechten; ein Aggregat von Klassen und Kasten; ein Despot auf der einen Seite und atomisierte Individuen auf der anderen; eine von Gott eingesetzte Elite gegenüber einer formlosen Masse von Sündern – das ist keine Nation. Eine Nation bedeutet die Allgemeinheit von freien und gleichen Menschen, die einen wohlorganisierten Betrieb darstellen, von einem gemeinsamen Glauben bewegt werden und sich einer besonderen kollektiven Sendung zutiefst bewusst sind.173 „Wir glauben an das eine und unteilbare Volk; erkennen weder Kasten noch Privilegien an, mit Ausnahme derjenigen von Genie und Tugend; weder Proletariat noch Aristokratie, gleichgültig ob auf Grundbesitz oder auf Geld begründet; sondern einfach ein Aggregat von Fähigkeiten und Kräften, die auf das Wohlergehen aller, auf die Verwaltung der gemeinsamen Substanz und Besitzung – die Erdkugel – konzentriert sind. Wir glauben an das eine und unabhängige Volk : so organisiert, dass die individuellen Fähigkeiten innerhalb der sozialen Idee harmonieren; von den Früchten seiner eigenen Arbeit lebend. [...] Wir glauben an das von gemeinsamem Glauben, gemeinsamer Tradition, der Idee der Liebe in Brüderschaft miteinander verbundene Volk; das nach der fortschreitenden Erfüllung seiner besonderen Sendung strebt, sich dem Apostolat der Pflichten weiht, niemals eine einmal erreichte Wahrheit vergisst und nie infolge des Erreichten in Trägheit versinkt.“174

173 174

Vgl. auch Mazzini, Scritti editi ed inediti, Band 6, S. 125–127. Life and Writings, Band 3, S. 130 f.; Mazzini, Scritti editi ed inediti, Band 6, S. 277 f. Vgl. auch ders., Scritti editi ed inediti, Band 4, S. 224; Band 6, S. 125–127, 220; King ( Hg.), Mazzini Essays, S. 31 f.

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Ebenso wie die Nation das Prinzip der Assoziation unter Menschen gleichen Ursprungs innerhalb eines natürlichen Rahmens ver wirklicht, wird die Weltassoziation in der Harmonisierung der Beiträge der einzelnen Nationen ver wirklicht werden. Die Nation ist also der Mittler zwischen dem Einzelnen und dem Universalplan.175 „Durch Arbeit nach dem richtigen Prinzip für unser Land arbeiten wir für die Menschheit. [...] Bevor die Menschen sich mit den die Menschheit bildenden Nationen verbinden können, müssen sie ein nationales Dasein haben. Es gibt wahre Assoziation nur zwischen Gleichen. [...] Die Menschheit ist eine ungeheure Armee auf dem Vormarsch zur Eroberung von unbekannten Ländern, gegen mächtige sowohl als listige Feinde. Die Völker sind die verschiedenen Korps, die Divisionen der Armee. Jedes einzelne bekommt seine Stellung zugewiesen und hat seine Aktion durchzuführen; der gemeinsame Sieg hängt von der Genauigkeit ab, mit der diese verschiedenen Aktionen ausgeführt werden.“176

5. Roma terza und der Christus der Nationen ( Polen ) Die Botschaft des Christentums war eine Botschaft der Erlösung an den Einzelnen. Sein Vorbote war daher ein Einzelner, Johannes der Täufer, und sein Messias wiederum ein Mann. Die Kirche der Menschheit, die hinter den Kulissen wartet, um der Gesellschaft Erlösung zu bringen, wird einen kollektiven Vorläufer zum Sendboten haben – „eine Menschengruppe von kraftvoller Intelligenz und erwiesener Sittlichkeit“, und der „Messias wird ein ganzes Volk sein, frei, groß und durch einen einzigen Gedanken und eine einzige Liebe verbunden“.177 „Wenn die Zeit reif ist, flößt Gott dem Volke, das am meisten gelitten und seinen eigenen Glauben unversehrt erhalten hat, den Willen und den Mut ein, für alle anderen zu siegen oder zu sterben. Das ist das Initiator volk. Es greift zu den Waffen und kämpft; es mag siegen oder sterben, aus seiner Asche oder aus seinem Siegerkranz wird das Wort der Epoche erstehen und die Welt erlöst werden.“178 175

176 177 178

Vgl. Mazzini, Scritti editi ed inediti, Band 6, S. 176 f., 240–245; Band 7, S. 336 f., 404 f.; ders., Life and Writings, Band 3, S. 15, 33; King ( Hg.), Mazzini Essays, S. 37, 88–92, 97; Clarke ( Hg.), Essays Mazzini ( selected ), S. 107, 166. Mazzini, Life and Writings, Band 4, 277; Salvemini, Mazzini, S. 51. Vgl. auch Mazzini, Scritti editi ed inediti, Band 6, S. 242; Band 7, S. 346 f. Salvemini, Mazzini, S. 37. Mazzini, Scritti editi ed inediti, Band 4, S. 129; ders., Life and Writings, Band 3, S. 60 f.

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Die italienische Nation, sagt Mazzini, ist dazu bestimmt, den Aufstieg der Nationen einzuleiten.179 Warum Italien ? Der Aufstieg der Nationen auf dem Weg zur Weltverbrüderang kennzeichnet die Negierung der vom römischen Papsttum vertretenen Werte. Sie spricht die Menschen von der Last der Erbsünde frei und sichert ihnen Erlösung zu, anstatt sie zu ewiger Buße anzuhalten. Sie schafft die Unterscheidung zwischen Kirche und Staat ab. Sie negiert die Dichotomie von Theorie und Praxis. Sie verkündet eine neue universale Kirche. Mit anderen Worten, sie soll das päpstliche Rom ersetzen, „die Matrix [...] aller Willkürmacht in Europa; die die menschliche Seele in Knechtschaft hält und alle künftige religiöse Entwicklung verbietet, indem sie sie vom Fortschritt der Menschheit trennt“.180 Es war zweimal die Sendung Roms, die Menschheit zu vereinen – des Roms der Kaiser und des Roms der Päpste. Die dritte von Rom herbeigeführte Vereinigung wird die der Völker sein. „Europa wandelt im Leeren und sucht nach neuen Bindungen, um in einer Religion alle Glaubensbekenntnisse, Erwartungen und Lebenskräfte der jetzt durch Zweifel isolierten Individuen zu vereinen, die ohne eine Zuflucht sind und infolgedessen ohne die Macht, die Erde zu ver wandeln. Und diese ersehnte Einheit, o Italien, kann nur von deinem Lande kommen und von dir : sie kann nur auf dem Banner verherrlicht werden, das hoch über den zwei Marksteinen – dem Campidoglio und dem Vatikan, die den Verlauf von dreißig und mehr Jahrhunderten im Leben der Menschheit überliefern – gehisst wird [...]. Von Rom allein kann das Wort der modernen Einheit ausgehen, denn von Rom allein kann die absolute Vernichtung der alten Einheit kommen [...]. Die Crux der ganzen europäischen Frage liegt also in Italien. Italien fällt das hohe Amt zu, die europäische Emanzipation feierlich zu proklamieren.“181 Dieses hohe Amt wurde von dem großen polnischen Dichter Adam Mickiewicz für Polen in Anspruch genommen. Polen war in der Tat ein Testfall. Man könnte sagen, dass durch das Verschwinden Polens die Nationalitätenfrage zuerst auf die europäische Tagesordnung gelangte. Ein alter, großer, unabhängiger und ehemals mächtiger Staat war zerstückelt, unter drei Nachbarn aufgeteilt und von der Landkarte Europas ausgelöscht. Alle, mit Ausnahme der Räuber, waren entsetzt, obwohl sie nicht recht erklären konnten, warum. Polen war eine Republik mit einem gewählten Monarchen, und so war kein dynastisches Prinzip verletzt worden. Seine Misswirtschaft und Anarchie waren seit Generationen sprichwörtlich, und einige der „philosophes“ empfanden keine Skrupel, nach der ersten Tei179 180 181

Vgl. Mazzini, Life and Writings, Band 1, S. 36 f.; Kohn, Prophets and Peoples, S. 82–89. Salvemini, Mazzini, S. 79. Salvemini, Mazzini, S. 79 f. Vgl. auch ebd., S. 83 f.

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lung die „aufgeklärten“ Despoten dazu zu beglückwünschen, dass sie ganze Landstriche von Chaos und Obskurantismus befreit hatten. Die Teilungsmächte beriefen sich im Laufe der beiden späteren Teilungen auf die in dem daniederliegenden Polen überhand nehmende Gefahr des Jakobinismus. Vom revolutionären Standpunkt war Polen jedoch ein Land krasser Klassenherrschaft und Klassenunterdrückung, die Karikatur einer demokratischen Republik : Eine Minorität von Adligen hielt viele Millionen Bauern unter unsagbarer Knechtschaft danieder. Europa war von dem Schauspiel tief beunruhigt, ohne in der Lage zu sein, die Natur des Verbrechens genau zu definieren, noch die Ver urteilung auf anerkannte und artikulierte Prinzipien zu beziehen. Nichtsdestoweniger war den Menschen eine neue Idee bewusst geworden : dass es unnatürlich ist, eine historische Nation ihrer Identität und ihres unabhängigen Daseins zu berauben. Sofort nach der letzten Teilung von 1795 gründeten polnische Flüchtlinge eine polnische Legion, um an der Seite der französischen Armee in Italien gegen Österreich und die anderen Teilungsmächte für eine Auferstehung Polens zu kämpfen. Das war etwas Neues : eine nationale Idee ohne Staatswesen in Waffen; eine Nation im Exil, mit Angehörigen, die weder einem König noch einer Regierung Gefolgschaft leisten, sondern einer Vision, einem Mythos, einer Hoffnung. Mit oder ohne Willen wurden die Polen zu Feinden der monarchischen und dynastischen Legitimität und zu Vertretern der Rechte der Völker gegen die Könige im Lager der europäischen Revolution. Der Fall Polens nahm die Dimensionen eines Testfalls zwischen Legitimität und Revolution an, wurde weitgehend zum Bindemittel für die Heilige Allianz, zum Schutz gegen die die Allianz bedrohenden widerstreitenden Interessen. Aus rein patriotischen Motiven wurden viele Angehörige des polnischen Adels dazu getrieben, sich der Bewegung des sozialen Radikalismus anzuschließen : Keine nationale Erhebung hatte Aussicht auf Erfolg ohne Beteiligung der Masse der Bauern, und die Bauern würden sich nicht rühren, solange ihnen nicht Emanzipation versprochen wird. Die Bauern aufzuwiegeln, würde soziale Revolution im internationalen Maßstab mit sich bringen, vielleicht sogar einen riesigen Bauernaufstand, wie der reaktionäre polnische Dichter Zygmunt Krasiński fürchtete. Es liegt eine düstere Ironie in der Tatsache, dass 1846 die österreichischen Behörden in Galizien zur Abwendung einer nationalen Erhebung durch den Adel die Bauern gegen ihre Herren losließen. Der Schrecken dieses Bauernaufstandes trug nicht wenig dazu bei, sowohl den polnischen Nationalismus als auch die besitzenden Klassen des Habsburgerreichs im Allgemeinen im Jahre 1848 zu paralysieren. Die polnische Religion des Nationalismus entstand unter den Exilierten in Frankreich, die ihr Heimatland nach dessen Niederlage in der Erhebung gegen Russland 1830/31 verlassen hatten – ein klassisches Beispiel übrigens für den

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romantischen Typ eines von einer kleinen Zahl von überspannten jungen Menschen ausgedachten und durchgeführten Putsches und eines mit kläglicher romantischer Unfähigkeit geführten Krieges. Die Exilierten, zu denen die Blüte der polnischen Nation zählte, wurden die fahrenden Ritter der europäischen Revolution. Während einer Generation oder mehr gab es in Europa keinen Aufstand, keine Unruhen, keine Verschwörung, keinen Geheimbund, keine Barrikaden, an denen nicht Polen als Kämpfer und selbst Führer beteiligt waren. Die Polen nahmen die alten jüdischen Begriffe der Auser wähltheit, Sünde, Sühne und Erlösung wieder auf. Das Schicksal Polens wurde von ihnen zu einem höchst bedeutsamen Moment im universalen Plan der Geschichte erklärt. Sollte die Erlösung der Menschheit durch das Leiden eines stellvertretenden Opfers erreicht werden, so war Polen der Christus der Nationen : die Nation auf der Folter, nichts als Pein, Geist, Idee, ein reines Prinzip. Der polnische Nationalismus wurde zu einer Religion, etwas Mystischem, so leidenschaftlich wie und bei weitem sophistischer als der irische Nationalismus. Er verknüpfte sich unlösbar mit dem Harren und der Vorbereitung auf den Tag des Weltgerichts, und andererseits nahm die Idee des Vaterlandes für die Polen den Charakter eines Kults, einer Vision von unerreichbarer Vollkommenheit an, wurde zum Brennpunkt aller edelsten und ergreifendsten Triebkräfte.182

6. Revolutionäre Verbrüderung der Nationen Mickiewicz und Mazzini predigten, man möchte sagen, einen universalistischen revolutionären Nationalismus, im Gegensatz zu dem, was sie als royalistisches Zerrbild des Nationalismus bezeichnet haben würden. Solange die Länder als Privateigentum der Königsfamilien angesehen und die Völker nicht über ihr Schicksal und nach ihren Wünschen befragt wurden, pflegten ehrgeizige Herrscher die Völker gegeneinander aufzureizen und Kriege zu provozieren. Als Reaktion auf diesen niedrigen Nationalismus stellte der Rationalismus des achtzehnten Jahrhunderts die Idee des Weltbürgertums des Menschen auf. Die Assoziationsidee entstand als Reaktion auf den kosmopolitischen individualistischen Atomismus und brachte der Welt einen gänzlich neuen Begriff der Nationalität : das Solidaritätsgefühl derjenigen, die an einem gemeinsamen kollektiven Bestreben innerhalb des großartigen Plans der Universalgeschichte teilhaben. Die Völker stehen sich nicht mehr als Wesenheiten mit widersprechenden Interessen, Rechten und Zielen gegenüber, sondern 182

Vgl. zu Polen Pouthas, Mouvement des nationalités; Namier, Revolution of Intellectuals; Ujejski, Wielcy Poeci 1848 roku.

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in gemeinsamem Dienst für das eine gemeinsame Ideal – das Humanitätsideal : „Fraternité de tous, amour pour tous, abaissement des barrières qui séparent les peuples.“183 „Die Vereinigung der Despoten“ – sagt Mickiewicz – „vervollständigte mit der Ermordung Polens das endgültige Verbrechen : sie haben hierdurch ihren eigenen Untergang besiegelt. Ein auferstandenes Polen soll die Nationen in Freiheit verschmelzen. Wer von den Interessen eines einzelnen Volkes spricht, ist ein Feind der Freiheit.“184 „Polen sagt zu den Völkern : Lasst all eure Lokalinteressen beiseite und folgt der Freiheit [...]. Das Schicksal der polnischen Nation unabhängig von dem Zustand Europas als eines Ganzen verbessern zu wollen, bedeutet, gegen die Interessen Polens zu handeln.“185 „Was ist der erste, tiefste und lebhafteste Wunsch der Völker ?“, fragt Mickiewicz.186 Er zweifelt nicht, dass es der Wunsch nach „gegenseitigem Verständnis [und ] allgemeiner Interessenversöhnung“187 ist. Dieser Glaube an die Brüderschaft der freien Nationen leitet sich natürlich von derselben Prämisse her wie der rationalistische Glaube des achtzehnten Jahrhunderts an die Brüderschaft der Menschen im natürlichen Harmoniezustand : der Mensch ist gut, er wird schlecht und unsozial, wenn seine natürlichen Triebe unterdrückt werden. Lasst ihnen Freiheit, und sofort werden sich die nach Solidarität strebenden Kräfte durchsetzen.188 Im Lichte dieses Glaubens implizierte die nationalistische Ideologie offensichtlich eine allgemeine Erhebung gegen alle den Selbstausdruck des Volkes unterbindenden Mächte, in erster Linie gegen die Heilige Allianz. Polen erschien als der spiritus movens des allgemeinen Aufstandes der für die universale Emanzipation von Nationen, Klassen und Menschen kämpfenden Völker. „Der Pilger ( Pole ) wartet auf einen Gegenwind gegen alle europäischen Monarchien, alle Regierungen ohne Ausnahme. [...] Die Feinde der alten Ordnung in Europa sind unsere einzigen Verbündeten. [...] Alle herrschenden Klassen [ des gegenwärtigen Europas ] sind von Verbrechen belastet [...] und blind.“189

183 184 185 186 187 188 189

Mazzini, Scritti editi ed inediti, Band 7, S. 336. Vgl. auch ebd., S. 342, 344 f.; ders., Life and Writings, Band 3, S. 10 f. Mickiewicz, zit. in Ujejski, Wielcy Poeci 1848 roku, Teil 2, S. 22. Ebd., Teil 2, S. 23. Mickiewicz, zit. in Kridl, Mickiewicz i Lamennais, S. 76. Ebd. Vgl. Mazzini, Life and Writings, Band 3, S. 29, 35; Band 4, S. 275; Salvemini, Mazzini, S. 50 f. Vgl. auch Kridl, Mickiewicz i Lamennais, S. 18, 65. Kridl, Mickiewicz i Lamennais, S. 76 f.; Ujejski, Wielcy Poeci 1848 roku, Band 2, S. 15 (Hervorhebung im Original).

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Die Völker Europas befinden sich in einem Zustand des Aufstandes und heiligen Krieges gegen ihre Regierungen : die Heilige Allianz der Völker gegen die Heilige Allianz der Könige; ein Aufstand, rastlos, unbarmherzig, überall. In denjenigen Ländern, in denen despotische Regierungsordnungen keine Möglichkeit lassen für freie Meinungsäußerung und gesetzliche Opposition, bilden Verschwörung, Terror und Erhebung die einzige Waffe gegen gewaltsame Unterdrückung, die sich als gesetzliche Regierung ausgibt. Der Terror ist die Waffe der Schwachen, Guerilla die der Unbewaffneten. Doch auch die sogenannten konstitutionellen Regierungen, wie Frankreich unter der Julimonarchie, haben sich durch ihre unterdrückenden Gesetze gegen Pressefreiheit und politische Betätigung mit der Heiligen Allianz vereint. Die einzige Wahl besteht daher zwischen Despoten und Völkern, zwischen dem Lager des Fortschritts und dem Lager der Reaktion. Tertium non datur.190 Vor allem darf es keine Anpassung geben an das Bastardsystem des „juste milieu“ und kein Akzeptieren von Teilkonzessionen. Alle Ratschläge zu Geduld und Mäßigung müssen zurückgewiesen werden. Der Zustand latenter Auf lehnung muss aufrechterhalten und jede Gelegenheit ausgenützt werden, ihn in einen Zustand tatsächlichen Aufruhrs und revolutionärer Aktion zu ver wandeln. Niemals darf die Initiative den Regierungen überlassen werden. Opportunismus in jedweder Form tötet die revolutionäre Energie, erzeugt Heuchelei und profaniert die feierliche Würde des Kampfes. Keine friedliche Oppositionspolitik, keine allmählichen objektiven Veränderungen, kein „travail fractionnaire et froidement analytique“ kann ein Ersatz sein für revolutionäre Aktivität, für die „immense puissance de révélation qui appartient à la synthèse insurrectionnelle“.191 Die Revolutionspartei ver wirft „inaction systématiquement appliquée“,192 Schweigen, Verstellung. „Nous poussons le cri d’Ajax. Nous voulons combattre en plein jour, à la grande lumière du ciel“,193 mit wehenden Bannern. Die Partei wartet nicht auf Gelegenheiten, sie schafft sie. Die Ver werfung jeder Art von Opportunismus durch das Revolutionslager ist eine Folge ihrer Verneinung der Unterscheidung zwischen Theorie und Praxis, Konzeption und Ver wirklichung. Die Tat ist „le complément de nos doctrines, le baptême de notre croyance“.194 Nicht nur, weil unaufhörliche revolutionäre Aktivität eine revolutionäre Situation schafft oder näher bringt oder 190

191 192 193 194

Vgl. Mazzini, Scritti editi ed inediti, Band 6, S. 64 f., 145, 224–230, 242, 276; Mazzini, Life and Writings, Band 3, S. 249; King ( Hg.), Mazzini Essays, S. 36 f.; Limanowski, Historia demokracji polskiej. Mazzini, Scritti editi ed inediti, Band 6, S. 227, Fußnote. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. auch ebd., S. 16 f.

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den Feind schreckt, entnervt und demoralisiert, nicht nur weil Heldentaten und Märtyrertum einen Mythos schaffen, die Herzen höher schlagen lassen, einen Kult gestalten. Taten bezeugen den Gang der Geschichte, läuten die Glocken für das kommende Zeitalter, bekunden seine Realität.195 Außerdem ist die Revolutionspartei nicht lediglich eine Widerstandspartei, sondern Träger einer schöpferischen Sendung; die Inkarnation einer religiösen Idee. „Die republikanische Partei darf weder Haltung noch Sprache ändern. Jede aus zweifelhaften taktischen Gründen in ihre Lebensbedingungen eingeführte Modifikation würde sie aus ihrem hohen Rang zu einer bloßen politischen Partei machen [...]. Sie hat ihren Glauben, ihre Doktrin, ihre Märtyrer [...], sie muss eine unverletzliche Doktrin haben, eine unfehlbare Autorität, Märtyrergeist und Bereitschaft zur Selbstaufopferung“,196 berufen sein zur Ver wirklichung eines „œuvre profondément organique, œuvre d’initiation, de renouvellement; [...] principe éminemment social, [...] réorganisation complète [...], dissonance à faire disparaître [...], harmonie à établir [...], unité morale à conquérir“.197 Der Auf lehnungszustand von Völkern bedeutet einen Zustand latenten Bürgerkrieges, und es gibt keinen wirksameren Katalysator für eine Revolution als tatsächlichen internationalen Krieg. Die Könige und die bestehenden Mächte wissen das und werden ihr Äußerstes tun, um Krieg untereinander zu vermeiden. Sie wissen sehr wohl, dass ein Kriegsausbruch eine soziale Revolution ankündigt. Darum sind sowohl die Heilige Allianz als auch die westeuropäische Bourgeoisie so beflissen friedliebend : „Le premier coup de canon, en mettant hors de cause le système pacifique de la bourgeoisie, devait amener le prolétaire.“198 Darum beteten auch die Polen so inbrünstig : „O Herr, wir flehen Dich an um einen Krieg der Völker.“ Sogar ein kleiner Grenzzwischenfall zwischen zwei Mächten würde sofort die Erhebung aller Völker gegen ihre Könige auslösen. Die Revolution würde sich wie ein Lauffeuer verbreiten. In einer scharfsinnigen Analyse legt Mazzini dar, dass ohne Krieg, ausländische Inter vention einerseits und ohne den extremen Akt revolutionärer Herausforderung, nämlich die Hinrichtung des Königs und damit Verbrennung aller Brücken andererseits, die Triebkraft von 1789 sich bis 1791 in einer konstitu-

195 196

197 198

Vgl. ebd., S. 125, 128, 239. Mazzini, Scritti editi ed inediti, Band 6, S. 227 f., ders., Life and Writings, Band 3, S. 84; King ( Hg.), Mazzini Essays, S. 38. Vgl. auch Mazzini, Life and Writings, Band 3, S. 85; ders., Scritti editi ed inediti, Band 6, S. 224–226. Mazzini, Scritti editi ed inediti, Band 6, S. 216; Band 7, S. 126. Mazzini, Scritti editi ed inediti, Band 4, S. 126. Vgl. auch ebd., S. 129; Kukiel, Koncepcje powstania narodowego.

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tionellen Monarchie mit begrenztem Wahlrecht verbraucht hätte. 1793 wäre ohne auswärtigen Krieg nicht das geworden, was es wurde.199 Wenn nur von den republikanischen Thermopylen her ein Signal ausgeht, wird der Gott der heiligen Schlachten die große Stunde schleunigst herbeiführen. Ein Revolutionskrieg macht nationale Grenzen unerheblich, und die Bedrohung durch eine königliche Macht ist imstande, die bedrohte Nation in einen begeisterten Taumel von revolutionärem Patriotismus zu versetzen. Es gibt in einem Revolutionskrieg kein schlimmeres Verbrechen seitens eines Volkes als Neutralität, Nichtinter vention, Weigerung, einem anderen unterdrückten oder um seine Freiheit kämpfenden Volk zu Hilfe zu kommen. Solches Sichfernhalten ist Selbstsucht zum Prinzip erhoben. Es stellt die Abdankung eines Volkes von seiner Sendung dar – einen feigen Akt von Sabotage, eine Demonstration von sittlicher Ver worfenheit, die schlimmste Art von nihilistischem Atheismus. Es wäre ebenfalls dumm und verbohrt, die vorrückenden Revolutionsarmeen eines Volkes der Invasion in die Territorien anderer Nationen zu beschuldigen.200 Michelet drückt es so aus : „Die Revolution könnte nichts erreichen, wenn sie nicht ihren Versuch überall unternähme. Die erste Bedingung für ihre Dauerhaftigkeit war, allgemein zu werden. Die zweite war, überall Boden zu fassen, um sich einzugraben“,201 die alten Klassen und Kasten zu zerschmettern, die Ängstlichen und Langsamen durch den Vorteil aus beschlagnahmtem Vermögen zu zwingen, sich mit der Revolution so zu identifizieren, dass ihnen keine andere Wahl blieb „als sich an uns zu klammern und zusammen [...] vor wärts zu marschieren [...] und die ganze Erde wird nach unserem Beispiel zur Revolution werden“.202 „Notre glorieuse armée“ – ruft Michelet in Le Peuple aus – „sur qui le monde a les yeux, qu’elle se maintienne pure ! qu’elle soit de fer contre l’ennemi, et d’acier contre la corruption ! que jamais l’esprit de police n’y pénètre ! [...]. Au jour du suprême combat de la civilisation et de la barbarie ( qui sait si ce n’est pas demain ?) il faut que le Juge les trouve irréprochables, leur épée nette, et que leurs baïonnettes étincellent sans tache ! Chaque fois que je les vois passer, mon cœur s’émeut en moi : ‚Ici seulement, ici, vont d’accord la force et l’idée, la vaillance et le droit, ces deux choses, séparées par toute la terre. Si le monde est sauvé par la guerre, vous seuls le sauverez.‘“203

199 200 201 202 203

Vgl. Mazzini, Scritti editi ed inediti, Band 6, S. 218 f., 222 f., 387–390. Vgl. ebd., S. 29 f., 144, 238, 243 f. ( Fußnote ); ders., Life and Writings, Band 3, S. 205. Geyl, Debates with Historians, S. 78. Ebd. Vgl. auch Cornuz, Jules Michelet, S. 254. Michelet, Le Peuple, 98 f.

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7. Persönlicher oder kollektiver Messias ? Es dürfte von einigem Interesse sein, einen Vergleich zu ziehen zwischen dem Begriff eines persönlichen Messias, so wie er von Mickiewicz in seinen Vorlesungen über slawische Literatur am „Collège de France“ vorgetragen wurde – Vorlesungen, nebenbei, die mehr Kanzelreden und Prophezeiungen vor einer Hörerschaft von überspannten Auferstehungsgläubigen und „shakers“ glichen als Vorlesungen vor Studenten –, und den Ansichten von Michelet und George Sand über das Volk als Messias.204 Als Folge von Exil, schmerzlichen Familienerlebnissen sowie unter dem Einfluss des Mystikers Towianski entwickelte Mickiewicz eine extreme Form von antirationalistischem Romantizismus und äußerste Verachtung für das „Glas des Gelehrten“, das Mikroskop. Da das Universum ein vibrierender, lebendiger Organismus ist, können seine Wahrheiten nicht durch pedantische Analyse und mühselige Addition von Einzelheiten ergründet werden. Sie werden durch tiefes Gefühl, begeisterten Glauben, phantasievolle Einsicht erschaut; ihre Erkenntnis stammt aus der Inspiration. „In der Inspiration ist der erste Keim, der erste Funke, das erste Wort aller Weisheit und aller Wahrheit.“205 Verständnis der Geschichte wird daher auser wählten Individuen, Sehern und Propheten in Form plötzlicher Offenbarungen zuteil. Der ProphetSeher - Messias ist mit einem höheren Grad von Geistigkeit begabt. Er ist Gott näher, und Gott spricht zu ihm und durch ihn. Seine Sendung ist es darum, die kleineren und schwächeren Brüder zu führen.206 Es war ein Fehler der politischen Schulen, darauf zu vertrauen, dass die unerleuchteten Massen ihre Probleme lösen würden. „Die Meinung einer Majorität kann nicht absolutes Gesetz sein. Es ist ein Irrtum zu glauben, die Mehrheit irgendeines Landes oder irgendeiner Gesellschaft verfüge über universales Wissen und besitze die höchste Erleuchtung“, als ob die vielen im Dunkeln zusammen Licht her vorbringen könnten, als ob die Toten zusammen Leben und Macht erzeugen könnten und die, die nicht zählen können, zusammen einen Mathematiker ergeben könnten. Es gibt kein Heer ohne einen einzelnen Führer und kein Orchester ohne einen Dirigenten.207 Mensch und Wort, Organ der Offenbarung Gottes, muss der „Ewige Mensch“ sich als Mitglied seiner Kirche, Sohn seines Volkes, für alle Vorfahren in der geistlichen sowohl als in der weltlichen Familie verantwortlicher Abkömmling ( fühlen ); er muss der Erbe aller Merkmale, aller Tugenden sein, 204 205 206 207

Vgl. Mickiewicz, Les Slaves, Band 4, S. 19 f., 28 f., 45. Vgl. Mickiewicz, Les Slaves, Band 5, S. 255. Kridl, Mickiewicz i Lamennais, S. 51 f. Vgl. ebd., S. 158 f.

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die unsere Vor väter im Schweiße ihres Angesichts und in blutigen Kämpfen erworben haben.208 „Die ganze religiöse und politische Vergangenheit muss zu einem Feuer verdichtet werden.“209 Er muss sich seiner eigenen Unsterblichkeit und seiner Gottesnähe bewusst sein. Er muss imstande sein, durch Hören auf seine innere Stimme sittliche Gewissheit zu erlangen. In Mickiewicz’ Augen war Napoleon ein solcher Mann, und er war der Vorläufer eines anderen und größeren kommenden Messias.210 „Napoleon trug die gesamte Vergangenheit des Christentums in seiner Seele und ver wirklichte sie in seiner Person. Mächtig im Wort wie Sankt Peter oder Sankt Paul, einfach und enthaltsam in seinem Leben wie die frühen Kirchenväter, majestätisch wie ein mittelalterlicher Bischof, fühlte er dennoch, dass es nicht genügt, die ganze Vergangenheit zu besitzen, um das Oberhaupt der Weltkirche zu sein.“211 Auf Sankt Helena erwarb der Märtyrer das Verständnis dafür, dass die Menschheit ein Ziel braucht, um eine neue kämpferische Liebe und eine neue siegreiche Kraft freizusetzen. Er wurde auf diese Weise zum Vorläufer einer Völker verbrüderung um eine gemeinsame Idee herum, eine neue sittliche Vereinigung. „Et cette union sera le commencement d’une évolution religieuse et politique. Napoléon a commencé une évolution du Christianisme.“212 Mickiewicz lädt seine Hörer ein – er verteilt auch Bildchen von Napoleon, wie er über der Landkarte von Europa weint –, mit ihm zusammen mit dem Geist Napoleons in Verbindung zu treten – „cène spirituelle“.213 „O toi ! Maître lumineux“ – ruft der Dichter aus – „à tes inspirations, à la direction que, d’après la volonté de Dieu, dont tu es plus rapproché, tu nous imprimeras pour la joie, le repos et le salut de ton Esprit!“214 Das Vermächtnis Napoleons wird von dem neuen Messias, der erstehen wird, fortgeführt und erfüllt werden. Dieser Mann wird ein neues Stadium des Ewigen Menschen nach Jesus und Napoleon personifizieren und „den Eifer der Apostel besitzen, die Ergebenheit der Märtyrer, die Einfachheit der Mönche, die Kühnheit der Männer von 1793, den festen, unerschütterlichen und über wältigenden Mut der Soldaten der Grande Armée und den Genius ihres obersten Führers“,215 nicht ein Christus vor Pilatus, sondern ein wiederauferstandener Christus, ein verklärter Christus, der mit allen Attributen der Macht bewaffnet ist, der rächt und aufrichtet, der Christus des Jüngsten Gerichts aus 208 209 210 211 212 213 214 215

Vgl. ebd., S. 157–159; Mickiewicz, Les Slaves, Band 5, S. 246 f. Kridl, Mickiewicz i Lamennais, S. 157; Mickiewicz, Les Slaves, Band 5, S. 247. Vgl. Mickiewicz, Les Slaves, Band 4, S. 49 f. Ebd., Band 5, S. 108. Ebd., Band 3, S. 261. Ebd., Band 5, S. 300. Ebd., S. 301. Ebd., S. 247.

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Michelangelos Apokalypse. „Ici est l’Ecce Homo de notre époque.“216 Eine Prophezeiung, die Napoleon III. nicht gerade missfiel. Der Messias „imprime ses idées avec le fer des lances, il les communique à coups de canon, il écrit ses codes à l’ombre des drapeaux et des lauriers“.217 Michelet konnte Mickiewicz’ Idee eines persönlichen Messias nicht akzeptieren, auch nicht die slawische Ansicht, dass Despotie nicht Regierung durch eine einzige Person bedeutet, sondern lieblose Regierung, gleichgültig in welcher Form. Michelet erging sich gelegentlich in Lobpreisungen des Genies und sprach von einem besonderen, direkten und instinktiven Kontakt zwischen dem großen Mann und dem Volk, beide so rein und einfach wie ein kleines Kind; in seinen Visionen sah er eine Menschheit „vibrer au moindre mot qu’il dit [...], la vague populaire traîner à ses pieds“.218 Er sah in Karl dem Großen, Napoleon und anderen die Verkörperung des französischen Genius. Doch er konnte sich nicht bereit finden zu akzeptieren, dass die Vision der göttlichen Wahrheit einem einzigen auser wählten Manne gewährt und dann von oben durch den großen Mann den Massen unten mitgeteilt werde. Michelet glaubt daran, dass das Leben von unten her zu dem großen Mann, der die Verkörperung, ein Prototyp des Volkes ist, heraufkommt : „Cette voix, c’est celle du peuple; muet en lui - même, il parle en cet homme, et Dieu avec lui. [...] Vox populi, vox Dei; [...] restent impuissantes jusqu’à ce qu’elles rencontrent l’homme complet qui seul a la fécondité.“219 Michelet verwirft die Vision der Geschichte als einer Folge von Inkarnationen der ewigen Wahrheit in großen Männern. Der letzte in der Geschichte aufgetretene Held war nicht Napoleon, sondern die Französische Revolution : sie wies keine Helden auf, sondern bildete „ein großes und neues Schauspiel einer Idee, die auf große Männer, Helden, falsche Götter, Idole verzichtete“.220 „Elle a été ( bien plus que Kant ) la critique de la raison pure.“221 Übertriebener Individualismus hat Polen ruiniert. Die Polen sehnen sich nach einer Einzelperson, die durch mystische Autorität mitreißen würde, während der Westen immer mehr an Kollektivismus, an die Vielen, glaubt. Die jakobinische Idee war „l’unité dans la collection des égaux. C’est - à - dire l’unité voulue en l’unité de cœur, l’unité libre, plus féconde, plus inventive. L’unité mystique en un homme individuel, messie successif. C’est encore matérialité, fatalité.“222 Michelet verwirft das zufällige Wunder individueller Erleuchtung von oben als 216 217 218 219 220 221 222

Ebd., S. 275. Monod, La Vie et la pensée de Jules Michelet, Band 2, S. 91. Michelet, Le Peuple, S. 202. Ebd., S. 202, 206. Monod, La Vie et la pensée de Jules Michelet, Band 2, S. 96. Ebd. Ebd.

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Ersatz für das natürliche Wunder der Vegetation tief unten. Er schaltet verwirrte Intuition aus und bevorzugt „vue nette de l’esprit“.223 Nicht „le concret obscur d’un homme“, sondern „l’énergie distincte d’une nation“224 soll das Werkzeug der Geschichte sein. In einem Artikel in der „Revue Indépendante“ vom 10. April 1840 schreibt George Sand : „Je crois à la divinité de la révélation intérieure, mais pas par des messies individuels. Nous croyons à une vie plus large de la manifestation révélatrice dans l’avenir. Nous l’attendons de tous; nous la sentons dans les masses françaises, nous croyons en un mot que notre Messie c’est le peuple et que l’idée s’incarnera, non dans un homme, mais dans des milliers d’hommes. L’Eglise est dans l’avenir des peuples, et il est fort douteux qu’elle porte le nom de chrétienne, bien qu’elle soit destinée à développer les vérités révélées et acquises à l’humanité par le christianisme.“225 Im Grunde kann man sowohl Michelet als auch Mazzini, ebenso wie all den anderen von uns untersuchten messianischen Schriftstellern, persönlichen Messianismus zur Last legen. Nur dass jeder von ihnen sich selbst für den Messias hält, während Mickiewicz die Sendung einem Mann der Tat zuschreibt, Napoleon und seinem Nachkommen. Das ist das Paradoxe am politischen Messianismus. Er beginnt mit dem Postulat der Einheit der Geschichte und endet mit dem in einem einzelnen Individuum verkörperten lebenden Gesetz. Er stellt sich auf den Standpunkt von Determinismus und historischer Unvermeidbarkeit und beschwört am Ende die persönliche Intuition des Seher - Propheten - Messias herauf. Das ist tatsächlich die Unvermeidbarkeit historischer Unvermeidbarkeit. Wenn eine überlegene Logik das Gewebe der Geschichte in allen seinen Teilen und Aspekten zusammenhält, dann kann die Deutung der Offenbarungen der Geschichte nicht eine Angelegenheit des Aufeinanderprallens von Interessen, eines Konfliktes zwischen Vermutungen, eines Kompromisses zwischen Gefallen und Missfallen sein. Es kann nur ein einziges Verdikt durch die wahrlich und ausschließlich Befugten geben. Manchmal ist das Volk der Befugte, manchmal sind es die Erleuchteten. In jedem Fall muss das Urteil kategorisch sein, nicht eine komplizierte Erklärung. Wenn mehrere Ansprüche geltend gemacht werden, die Stimme des Volkes oder der Erleuchteten zu repräsentieren, dann ist es einer und nur einer, der sich am Ende behaupten und als das wahre Orakel anerkannt werden muss. Auf dem Wege allmählicher Elimination und Reduktion wird der Wille der Geschichte zurückverfolgt bis zu dem Entdecker des universalen Plans, dem Prometheus, der das Feuer 223 224 225

Ebd., S. 97. Ebd. George Sand, zit. in ebd., S. 98.

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vom Himmel stahl und es den Sterblichen brachte. In Situationen, in denen Gewalt angewandt werden kann, beantwortet der Sieg einer Seite über die Rivalen natürlich die Frage, wessen Auslegung des Diktates der Geschichte die richtige war. „L’histoire“ – schreibt Michelet – „est une violente chimie morale où mes passions individuelles tournent en généralité; où mes généralités deviennent passions; où mes peuples se font moi; où mon moi retourne animer les peuples. Ils s’adressent à moi pour que je les fasse revivre [...]. Hélas suis - je bien vivant ? Ah ! Frères, la compassion ne me manque pas; elle est immense et douloureuse. Mais pensez - vous que je puisse parmi mes douleurs bien démêler vos douleurs ?“226 „Moi, pauvre rêveur solitaire“ – schreibt Michelet von seiner eigenen proletarischen oder richtiger plebejischen Kindheit – „un hibou en plein jour, tout effarouché.“227 Wir können ihn beobachten in seinem einsamen Brüten, erstickt von den Tränen des überspannten Märtyrers, der sich bewusst ist, von den Göttern für ein einzigartiges Geschick ausersehen zu sein; wie er sich selbst Maßstäbe von übermenschlicher Reinheit und Vollkommenheit setzt und sich doch immer wieder zweideutigen Opportunismus, zweifelhafte Kompromisse und schreckliche Fehltritte zu Schulden kommen lässt und infolgedessen von Gewissensbissen geplagt wird und äußerst unglücklich ist; und wie er in einer Orgie von Reue und Selbstbemitleidung schwelgt und sein Leben zutiefst und intensiv als tragisch empfindet. Weil er von innerem Zwiespalt zerrissen wird, ist Michelet bissig, launisch, von einer krankhaft übertriebenen Eigenliebe, leicht gekränkt und immer auf Kränkung gefasst. Er wiederholt immer wieder, er habe ein Recht darauf, für die Geschichte zu sprechen, da er gelebt, das heißt gelitten hat. Durch Michelets gesamte Geschichtsschreibung zieht sich diese furchtbare Anstrengung, seinen inneren Zwiespalt in das dichterische Drama der Geschichte zu sublimieren. „Dieu m’a donné, par l’histoire, de participer à toute chose.“228 „Va donc“ – hatte Gott zu ihm gesagt – „si tu donnes à la patrie son histoire, je t’absoudrai d’être heureux.“229 Wenn die Realität des Lebens sich in Gefühl offenbart, sollte man es dort suchen, wo sich die größte Gefühlsunmittelbarkeit und - spontaneität findet. In einem tieferen Sinn – könnte man sagen – sind Leid und Liebe Kennzeichen der Eindringlichkeit des Erlebens, die intensivsten Erscheinungsweisen des Lebens. Und diese finden sich vor allem, wenn nicht ausschließlich, unter dem Volk und seinen wahren Söhnen und Sprechern. 226 227 228 229

Monod, La Vie et la pensée de Jules Michelet, Band 2, S. 74. Michelet, Le Peuple, S. XXX, 220. Ebd., S. XXXI. Ebd., S. XXXII.

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Das Volk als Messias

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Es hat – sagt Michelet – größere Geschichtsschreiber gegeben, brillantere, urteilsfähigere, tiefere. Doch er „hat mehr geliebt“. Er hat mehr gelitten als andere. Seine Erfahrungen aus seiner Kindheit voll Armut und Bitterkeit, aus früher Arbeit und Entbehrung, sind ihm immer gegenwärtig – „je suis resté peuple“, obwohl er mehr als irgendein anderer unter der „Trennung zwischen den Klassen“ gelitten hat, „moi qui les ai tous en moi“.230 Michelet spielt natürlich auf sich selbst an, wenn er nach dem Geschichtsschreiber verlangt, der aus dem Volk kommt und die verjüngende Kraft des Volkes mit sich bringt und aus der Geschichte „la chose grande et salutaire que j’avais rêvée“ machen wird.231 Mazzini spricht von „einer Art Zwang, der mir selbst unerklärlich ist, der allen meinen Handlungen Richtung gibt und der für jeden anderen immer ein Geheimnis bleiben wird, da ich nicht weiß, wie ich ihn erklären sollte und andere ihn nicht verstehen würden; da er die Natur eines religiösen Antriebs hat, scheint es mir ein Verbrechen zu sein, ihm nicht nachzugeben, wenn ich ihn fühle.“232 Er spricht von den „höchsten Augenblicken tiefsten Empfindens und tiefster Ehrfurcht, die das Herz kennt, nachdem es sich wie eine heilige Stätte von jeder unwürdigen Leidenschaft, von jedem schuldvollen Begehren und von allem götzendienerischen Aberglauben geläutert hat“; von der „raschen, intensiven Konzentration aller Fähigkeiten auf einen gegebenen Punkt“; von den „Geheimnissen einer Intuition, die der Analyse trotzt“.233 Mazzinis Bericht darüber, wie es ihm gelang, einen zeitweiligen Zustand der Mutlosigkeit zu über winden, wird von Gaetano Salvemini mit Recht als Illustration einer rein intuitiven, wenn nicht emotionellen Einstellung zu den tiefsten Problemen angeführt.234 „Vielleicht war ich im Unrecht und die Welt im Recht. Vielleicht war die Idee, der ich nachging, nur ein Traum“235 – fragte er sich gequält eines Tages im Jahre 1836. Welches Recht hatte er, ein einsamer Mann in der Verbannung, ohne Auftrag von irgendeinem Parlament oder einer Wählerschaft, junge Männer aufzurufen, ihr Leben zu wagen und Mütter zum Weinen zu bringen um das Leben ihrer Kinder ? Könnte er nicht von Hybris geleitet sein ? 230 231 232

233 234 235

Ebd., S. XXXV, XXXIX. Ebd., S. 115. Vgl. auch ebd., S. 114. Salvemini, Mazzini, S. 16 f. A. d. Hg. : Im engl. Original heißt es : „A kind of compulsion, inexplicable to myself, that directs all my actions, and that – being in the nature of religious stimulus, to which, when I feel it, it seems a crime not to give way – will always remain a secret from everyone else, since I know not how to explain it and others would not understand it.“ Ebd., S. 15. Vgl. ebd., S. 99–105. Ebd., S. 100.

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Es ist charakteristisch ( und Salvemini bemerkt hier nicht die saint - simonistische Gemütsverfassung ), dass Mazzini sich um Trost und „einen heiligen Segen“ an Eleanora Ruffini wendet, die er so tief verehrt wie seine eigene Mutter.236 „Lieben Sie mich weniger ? Bin ich ein Egoist ? Versäume ich in herzloser Weise meine Pflichten als Mann ? Falls Sie mir mit gutem Gewissen ein Wort des Trostes geben können, tun Sie es; falls nicht, bitte ich Sie, still zu sein. Ich weiß dann, dass ich im Unrecht bin. Ich weiß dann, dass ich einem Phantom nachjage, dass meine Religion ganz falsch ist [...] und ich werde sie aufgeben, weil ich an Sie, die tugendhafteste, durch Leid geläuterte und ver vollkommnete religiöse Seele, die es auf Erden gibt, wie an ein Orakel glaube.“237 Nach Wochen der Qual erwachte Mazzini eines Tages, und siehe da, sein Herz war leicht, die Welt war hell, seine Gedanken waren geordnet. Es wurde ihm klar, dass „ich durch meinen eigenen Egoismus in die Irre geführt worden war und dass ich das Leben nicht richtig verstanden hatte“.238 Alles rückte wieder an seine richtige Stelle.

236 237 238

Vgl. ebd., S. 100 f. Ebd., S. 101. Ebd.

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IV. Uni ver sa ler Glau be und natio na le Ein zig ar tig keit 1. Utopischer Sozialismus und die Nation Auf lange Sicht gesehen gab es kaum ein wichtigeres Moment in der Entwicklung des Staatensystems der Nationen seit 1848 als die Beziehung zwischen Sozialismus und Nationalismus. Wie bereits festgestellt, betrachten wir in diesem Band den Sozialismus und den revolutionären Nationalismus in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts als zwei Aspekte des gleichen Phänomens, die aus denselben Beweggründen entstanden – nämlich aus politischem Messianismus. Sie teilten den Glauben an die Zielstrebigkeit der Weltgeschichte. Sie glaubten, der Individualismus werde – dem Diktat der Geschichte gehorchend – durch das Prinzip der Assoziation ersetzt. Sie trafen sich in der gemeinsamen Erwartung einer unmittelbar bevorstehenden Endlösung der Geschichte, die durch Ver wirklichung des Assoziationsideals den Selbstausdruck des Menschen mit der Gebundenheit eines integrierten sozialen Systems in Einklang bringen würde. Während die Sozialisten die klassenlose Gesellschaft der Produzenten oder Arbeiter als den Träger der Assoziation ( die zur Weltassoziation auszudehnen war ) betrachteten, verkündeten die Nationalisten, die Nation sei die Einheit der Assoziation ( und Weltassoziation ) par excellence. Obzwar in Debatten miteinander begriffen, betrachteten die beiden Schulen einander zunächst nicht als Feinde. Sie waren Verbündete gegen einen gemeinsamen Feind, und sie verfolgten, auf etwas unterschiedlichen Wegen, dasselbe Ziel – die Verbrüderung von Menschen und Völkern auf der Grundlage sozialer Gerechtigkeit. Die meisten sozialistischen Denker lehnten es ab, die Nation als ursprüngliche und dauernde Gegebenheit anzuerkennen. In den Fußstapfen von Adam Smith wandelnd, schrieben sie den wirtschaftlichen Faktoren einen höheren Grad von Realität zu als der Einzigartigkeit einer nationalen Tradition. Ihre Geschichtsauffassung arbeitete mit Begriffen von sozialökonomischen und geistigen Prozessen, die über die nationalen Grenzen hinausgingen und die europäische Gesellschaft als Ganzes betrafen, und nicht mit Vorstellungen von nationalem Wachstum und nationaler Selbstbehauptung. Saint - Simon brachte keine Geduld auf für irgendeine Ansicht, die das nationale Ethos eines Volkes oder die Tugenden des Patriotismus pries. „Patriotismus ist nichts anderes als nationaler Egoismus [...] ungebärdig und absurd“,239 239

Saint - Simon, Œuvres, Band 1, S. 43 f.; Durkheim, Le Socialisme, S. 246 f.

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in keiner Weise verschieden von individueller Selbstsucht. Saint - Simon weigert sich, die Besonderheit des französischen nationalen Genius anzuerkennen. „Frankreich hat kein geistiges Leben, das nur ihm eigen ist; es ist nichts als ein Mitglied der europäischen Gesellschaft. Zwischen ihm und seinen Nachbarn besteht eine unlösliche Gemeinschaft politischer Prinzipien.“240 Der Prophet und seine Schule verlangten nach der mittelalterlichen Gemeinschaft christlicher Nationen mit einem einzigen Oberhaupt und einer einzigen Doktrin und Kultur. Alle sozialen Propheten betrachteten ihre Theorien als Botschaften an die Menschheit und nicht an eine bestimmte Nation. Sie leiteten geradezu ihren Anspruch auf die Rolle eines Messias von der leidenschaftlichen Überzeugung her, dass ihre Systeme dazu bestimmt seien, dem immerwährenden Kriegszustand zwischen den Völkern ein Ende zu setzen und eine Epoche konstruktiven Weltfriedens einzuleiten. „Le globe entier ne composera qu’une seule nation, n’aura qu’une seule administration [...] paix perpétuelle [...] unité universelle“ ( Fourier ).241 Keiner wankte in dem Glauben, dass der natürliche Zustand der des Friedens unter den Nationen sei, und Krieg eine unnatürliche Verderbtheit, künstlich herbeigeführt durch böse Kräfte oder Unkenntnis der ökonomischen Gesetze. Alle Kriege, all die schreckliche Vergeudung dadurch, dass 3,5 Mio. Mann in ihrer Jugendblüte in nutzlosem Nichtstun gehalten und unter Aufwand von sieben Milliarden pro Jahr „pour la tuerie“ angelernt werden, all das schäbige diplomatische Spiel rühren von „feudalen und monarchischen Ambitionen“ her, von den „Interessen der königlichen Familie von Preußen, des kaiserlichen Hauses von Österreich, Seiner Zarischen Majestät Aller Reussen, einiger vierzig Prinzen und absurden Prinzlein von Deutschland und von zwei oder drei Groß - oder Kleinherzögen in Italien“242 – sagt Considérant. Er ist sicher, die europäische Ordnung hätte sich ohne Diplomatie und Armeen erhalten lassen, wenn sie mit den Wünschen und Interessen der Völker übereingestimmt hätte, wenn sie der wahre Ausdruck der Freiheit gewesen wäre. Die messianischen sozialistischen Denker waren hauptsächlich geeint in ihrem Glauben, dass der Fortschritt der Industrialisierung und die Verbreitung der Wissenschaft einerseits und der Aufstieg der Völker andererseits dazu angetan seien, mit Kriegen und streitbarer Diplomatie aufzuräumen, mit Considé-

240 241 242

Saint - Simon, Œuvres, Band 6, S. 123; Durkheim, Le Socialisme, S. 255 f. Saint - Simon, Œuvres choisies, Band 1, S. 60 ff.; Band 2, S. 262 f.; Band 3, S. 171, 174. Considérant, zit. in Dommanget, Victor Considérant, S. 146 f. Die Saint - Simonisten drängten Frankreich eine Zeit lang um 1830 zu revolutionärem Proselytismus.

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rants Worten „die Festungen zu schleifen, die Armeen aufzulösen [...] diese feudalen Könige loszuwerden“.243 Industrie bedeutet Frieden, friedliche Arbeitsteilung, internationalen Austausch. Das war die feste Überzeugung nicht nur der Saint - Simonisten, sondern auch der Fourieristen – „die einst gänzlich auf Krieg gerichtete menschliche Aktivität wird fast völlig von produktiver Arbeit absorbiert, und wenn Krieg die unvermeidliche Begleiterscheinung der alten sozialen Ordnung war, so führt die allgemeine Entwicklung von Großindustrie, Handel, Kunst und Wissenschaft uns zu einem Zustand, aus dem unvermeidlich Frieden resultieren wird. Es gibt somit eine neue Ordnung, einen Zusammenhang von Tatsachen und Bedingungen, den es vorher auf der Erde nicht gegeben hatte, und die Schaffung und Verallgemeinerung von Kunst und Wissenschaft und Großindustrie haben diesen Zustand bewirkt und charakterisieren ihn [...]. Brutale Gewalt ist im Abdanken begriffen. Das ist eine Tatsache, die für unser Zeitalter bezeichnend ist. Raub und Krieg bildeten in vergangenen Jahrhunderten das Ziel der Aktivität [...]. Industrielle und produktive Betätigung sollen Zerstörungs - und Kriegshandlungen ersetzen [...] industrielle Solidarität [...] durch wachsende Ver vielfachung der Transportmittel und Beziehungen.“244 In einer Welt von eng ineinandergreifenden Interessen werden Kriege zwischen Nachbarn unmöglich werden, ohne das allgemeine Gefüge zu zerstören. „Comment la guerre serait - elle possible?“245 Wenn die Nation nicht die erste und letzte Gegebenheit ist und die an Bedeutung zunehmenden ungeheuren sozialen und geistigen Wandlungen von allgemeiner Natur sind und auf internationale Gebilde hindeuten, während die alten, den Fortschritt hemmenden Kräfte auch eine Art internationaler egoistischer Interessen darstellen, dann muss man gewisslich ein Bündnis zwischen den Kräften, die den zukünftigen Geschichtsablauf repräsentieren, erwarten und herbeizuführen suchen. Zwei über die nationalen Grenzen hinausreichende internationale Bündnisse würden sich also gegenüberstehen. Man kann beinah Saint - Simon ausrufen hören : Industrielle und Produzenten aller Länder, vereinigt euch zum gemeinsamen Kampf gegen den militaristischen Feudalismus und den nationalen Isolationismus und für die Begründung des Weltfriedens durch gemeinsamen produktiven Arbeitseinsatz. Die Industriellen in Frankreich, behauptet er, verbindet mehr mit ihren Gegenspielern in England als mit den Mitgliedern der Militär - und Feudalkasten ihres

243 244 245

Dommanget, Victor Considérant, S. 147. Ebd., S. 150 f. Ebd., S. 151.

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eigenen Landes. „Aus der Organisation der Industriellen Europas als politische Partei wird die Errichtung des Industriesystems in Europa folgen.“246 Considérant kann einen Erzengel hinter den Kulissen warten sehen, um alle Könige, Prinzen, Kriegsherren und ihre Anhänger in eine bessere Welt zu befördern und so eine Ordnung dauernden Friedens zu begründen; „der Erzengel ist da – sein Name ist Demokratie“,247 die Demokraten aller Völker. Ein Mazzini oder Michelet würden nicht gezögert haben, diesem Ruf beizupflichten : die Emanzipation der Völker – ein sozialer und nicht lediglich rassischer Begriff – wird gewisslich Eintracht zwischen den Nationen herbeiführen. Das Diktum des Kommunistischen Manifests, das Proletariat habe kein Vaterland, und der Aufruf an die Arbeiter aller Länder, sich gegen die allgemeine Ausbeutung zu vereinigen, leiten sich von der Prämisse her, dass die Arbeiter, allen Eigentums und aller Rechte beraubt, keinen Anteil an ihrem Land haben, aus der nationalen Gemeinschaft ausgestoßen sind. Mitglieder keiner Nation, gehören sie der Menschheit an, sind in der Tat die Menschheit. Die nationalistischen Schlagworte der Bourgeoisie seien kein Ausdruck echten Erlebens, denn den Ausbeutern liege im Grunde an keinerlei objektiven Werten, sondern nur an ihrem Besitz. Die patriotische Phraseologie sei dazu bestimmt, das Proletariat einzulullen in einen Verzicht auf den Klassenkampf zugunsten einer vorgegebenen nationalen Einheit, der angeblichen Sicherheit und Größe der Nation. Außerdem sei die Welt ein einziger Markt geworden, und nationale Kultur und Rassenmerkmale werden durch universale Kräfte ersetzt. Das siegreiche Proletariat werde die ungeteilte Menschheit bilden. Es wäre ungenau, das Problem der sozialistischen Haltung zur nationalen Frage zu einer bloßen Negation der Nationalität um der universalen Einheit willen zu reduzieren. Für Nationalstaaten, die seit langem bestehen, ist die nationale Frage kein Problem. Sie ist das Problem der unterdrückten Nationalitäten oder der Vielvölkerstaaten. Die meisten utopischen Denker waren Franzosen. Frankreich war in Bezug auf Rassen fast homogen : ein mächtiges und stolzes Land, einstweilen noch die führende Nation Europas. Es war das Land der Revolution, die Heimat aller sozialen Ideologien und Bewegungen. Angesichts der Niederlage, die es durch die despotischen Mächte 1815 erlitt, war es der natürliche Führer aller sich gegen die alte Ordnung auf lehnenden nationalen und sozialen Kräfte. Es war also nicht unlogisch, dass die Saint - Simonisten oder Considérant universale Einheit predigten und Frankreich mit der glorreichen Mission betrauten, als Pionier und Vollstrecker des Willens der Geschichte für alle 246 247

Saint - Simon, Œuvres choisies, Band 3, S. 103 f.; vgl. auch ebd., S. 254 f.; Band 2, S. 262, 269, 294, 445. Dommanget, Victor Considérant, S. 148.

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anderen Völker und in ihrem Namen zu handeln. Die utopischen Sozialisten missbilligten nationalistische Absonderung, doch als Franzosen waren ihnen die Gefühle unterdrückter Nationalitäten nur von fern bekannt. Sie konnten nicht anders als Sympathie für sie empfinden, ohne irgendeinen inneren Widerspruch zwischen den Bestrebungen nach nationaler Befreiung und der Idee einer auf Sozialismus gegründeten Weltföderation zu befürchten.

2. Marx und der Nationalismus Obwohl es Marx und Engels an jedem echten Gefühl für die Mythologie der Nationalität fehlte und sie vor wiegend von der Vision einer allgemeinen Revolution des internationalen Proletariats angetrieben wurden, konnten sie der Bewegung für die deutsche Einheit oder – in den frühen Tagen – für die Wiedererstehung der unterdrückten Nationalitäten ihre Unterstützung nicht versagen. Die sozialistische Revolution erforderte eine hochentwickelte Industrie und politische Konzentration. Ein geeintes Deutschland stellte einen entscheidenden Fortschritt dar im Vergleich zu einem in drei Dutzend Staaten aufgeteilten Deutschland. Ein geeintes Deutschland würde, so hofften Marx und Engels, zwangsläufig die Spinngewebe dynastischer Rechte, feudaler Privilegien, örtlicher Überlieferungen, kurz historischer Einrichtungen hinwegfegen zugunsten einer einzigen und unteilbaren, auf freier und gleicher Staatsbürgerschaft und rationalen Prinzipien begründeten Republik. Das könnte nicht ohne eine allgemeine Revolution erreicht werden. Da in Deutschland ein dem französischen „tiers état“ vergleichbarer Mittelstand fehlte, sei es das Schicksal des Proletariats, die Rolle der nationalen Partei, der Nation, zu spielen. Es war leichter für die deutschen Arbeiter als für das zaghafte und selbstsüchtige Bürgertum, sich wie ein Mann zu erheben, denn das aller Rechte beraubte Proletariat hatte in keinem der bestehenden Staaten irgendwelche egoistischen Interessen. Es gehörte zu Deutschland als einem Ganzen. In den Augen von Engels, der übrigens auch gefühlsmäßig mehr von einem jakobinischen deutschen Patrioten hatte als Marx, war der unmittelbare Verbündete des deutschen Proletariats das Großbürgertum und nicht das Kleinbürgertum. Handwerker und kleine Ladenbesitzer, niedere Staatsbeamte und Bauern hatten nur bescheidene Bedürfnisse und einen sehr begrenzten Horizont. Sie waren vom örtlichen Markt abhängig und sehr oft eng mit dem Hof und der Bürokratie ihres Kleinstaates verbunden. Sie verlangten Rechte und Sicherheiten und waren nicht daran interessiert, die politische Macht in ihrem eigenen kleinen Staat zu ergreifen, geschweige denn in einem geeinten Deutschland. Die Großindustriellen und Großkauf leute hatten weitausgebreitete, oft über die Gren-

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zen Deutschlands hinausreichende Interessen, während der bestehende Staatsapparat, die altmodische restriktive Bürokratie und die feudalen Junker der freien Initiative des Untertanen misstrauten und unfähig waren, mit den Problemen einer modernen Industriegesellschaft fertig zu werden. Die deutsche Industrie brauchte auch verständige und kräftige Staatsunterstützung in ihrem Wettbewerb mit der britischen Industrie. Alle diese Erwägungen geboten der „haute bourgeoisie“ in Deutschland, nach einer Einigung zu streben mit dem Ziel, in dem geeinten Deutschland die Macht zu ergreifen. Sie konnten sich nicht nur mit Rechten und Garantien zufrieden geben. Sie mussten die Macht haben, den Staat und seine Gesetze zu formen. Das Proletariat sollte eine Zeit lang ihre Politik unterstützen, jedoch in voller Kenntnis dessen, was damit verbunden war, und mit dem vollen Entschluss, als Henker zu fungieren, der hinter den Kulissen wartet, um die Hinrichtung der siegreichen Kapitalistenklasse zu vollziehen. Obwohl ihnen jede Sympathie fehlte für die Bestrebungen der unterdrückten kleinen Völker, ihre Kultur fortzuführen, ihre oft toten oder halbvergessenen Sprachen wiederzubeleben und alte folkloristische Gebräuche zu pflegen, traten Marx und Engels – vor 1848 – auch für das Nationalitätenprinzip als solches ein. Nationale Unterdrückung war dazu angetan, ihnen als Folge oder als Ursache sozialer Unterdrückung zu erscheinen. Nationale Befreiung war somit eine Phase in dem Prozess der sozialen Befreiung. Die großen Unterdrücker von Nationalitäten waren auch die drei Despoten der Heiligen Allianz. Daher war jede Bewegung, die sich gegen ihre Tyrannei und die Feudalordnungen, über die sie herrschten, richtete, eine Verbündete der Kräfte der Revolution und des Fortschritts. Die revolutionäre Dynamik der nach Freiheit strebenden unterdrückten Nationalitäten war leicht in Kanäle sozialer Revolution zu lenken. Erstens, weil die besitzenden Klassen der slawischen Nationen letzten Endes die durch die Fremdherrschaft gebotene „Sicherheit“ dem revolutionären Abenteuer einer nationalen Erhebung vorziehen würden. Sie würden daher als Verräter an ihren Nationen bloßgestellt werden. Zweitens würden, wenn eine nationale Empörung erst einmal ausbricht, die radikalsten Elemente, die nichts als ihre Ketten zu verlieren hatten und von der richtigen revolutionären Überzeugung durchdrungen waren – die Arbeiter und ihre Avantgarde, die Kommunistische Partei –, sich der Leitung des nationalen Kampfes bemächtigen. Wir werden später sehen, wie diese Ansichten in der Feuerprobe von 1848 bestanden und von ihr verändert wurden.248

248

Vgl. Bloom, The World of Nations; Mayer, Friedrich Engels, Band 1, S. 264–269; Rubel, Karl Marx, S. 247 ff.

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3. Soziale Akzente der nationalistischen Propheten Die nationalistischen Volkspropheten betrachteten den Aufstieg der Völker als die Morgendämmerung eines Zeitalters sozialer Erneuerung, als die Ver wirklichung sozialer Gerechtigkeit als solcher. Das Volk war für sie durchaus eine soziale Kategorie. Es bedeutete die Volksmassen, die Benachteiligten. Die soziale Erneuerung sollte nicht auf eine Nation beschränkt bleiben, sondern in alle Länder verbreitet werden. „L’humanité tout entière vibre en lui [...]. Il s’inquiète des malheurs les plus lointains.“249 Wenn auch die Französische Revolution von Michelet wegen ihrer sozialen Rolle verherrlicht wurde, während Mazzini glaubte, sie sei der Höhepunkt des Individualismus, und nicht die soziale Heilsbotschaft, gewesen, so stimmten sie doch beide darin überein, dass „le Verbe social“, „le sentiment de la généralité sociale“250 durch den Aufstieg der Völker erklungen sei, im Gegensatz zu dem individualistischen Isolationismus und der Klassenunterdrückung der Vergangenheit. „Alle, die seufzen, diejenigen, die stumm leiden, alles, was strebt und versucht, sich selbst zum Leben zu erheben, sie sind mein Volk [...] Sie sind das Volk – sie sollen alle mit mir kommen. [...] die Machtlosen, die Unfähigen, [...], die nichts für sich selbst tun können.“251 Die Cité ruft alle auf, sie nicht lediglich gerecht und stark zu machen, sondern „heilig und göttlich“.252 In diesem Aufruf verlangt die Cité „nach jenem Leben, das allein sie verjüngen kann“.253 Wir haben Michelets Anbetung der Volksmassen gesehen. Wie in den von dem Geologen untersuchten Schichten – sagt er –, sind die unteren die reichsten, lebendigsten und fruchtbarsten. Je höher man kommt, desto dünner werden sie. Wie bei einem Baum sind die Wurzeln und der Stamm am mächtigsten, am dicksten, und die Ausdehnung nach oben und nach allen Seiten bringt immer dünner werdende Äste, Zweige und Blätter her vor. Die oberen Klassen sind „die ver wöhnten Kinder der Welt“.254 Sie führen kaum ein Leben, „die mächtigen und tiefen Realitäten“255 des Lebens bleiben ihnen unbekannt. Denn ihr Dasein ist unbedacht, äußerlich und oberflächlich.256 Sie sind ato249

250 251 252 253 254 255 256

Michelet, Introduction à l’histoire universelle, S. 97. A. d. Hg. : Im frz. Original heißt es : „Il s’inquiète des malheurs les plus lointains. L’humanité tout entière vibre en lui.“ Ebd., S. 107. Michelet, Le Peuple, S. 220 f. Vgl. auch ebd., S. VI f. Ebd., S. 221. Ebd. Vgl. ebd., S. 118 f. Ebd., S. 231. Vgl. ebd.

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misiert, selbstbewusst, frustriert, ewig berechnend, empfinden Unbehagen und machen sich Sorgen, sie sind der Analyse und dem Zweifel ergeben, unsicher und ver wirrt und vor allem lieblos.257 „Wenn, wie ich glaube, Liebe das Leben selbst ist, dann gibt es hoch oben wenig davon. Vom Standpunkt des natürlichen Gefühls, das einen Menschen in die Lage versetzt, sein Leben mit dem großen Leben Frankreichs zu verschmelzen, scheint es, dass man um so weniger Leben findet, je höher man nach den oberen Klassen hin steigt.“258 Für Mazzini stellt der Aufstieg der Völker die endgültige Phase in dem universalen Prozess der menschlichen Emanzipation dar. Auf die Abschaffung der Sklaverei folgte die Ausmerzung der Leibeigenschaft, und die Vollendung wird in der Liquidation des Lohnsystems bestehen. Der Abschaffung des königlichen Despotismus durch die Patrizierklasse ist der Sieg der Bourgeoisie über den Adel gefolgt. Wir stehen am Vorabend der Zerstörung der kapitalistischen und bürgerlichen Klassenvorrechte durch das Volk, die Arbeiter. Das von Mazzini vorgesehene Regime der Zukunft sollte nicht Demokratie genannt werden, sagt er, sondern soziale Herrschaft.259 Wer ist das Volk als soziale Kategorie ? Mazzinis Antwort wäre in ihren Hauptzügen von Lamennais und Michelet akzeptiert worden : „Auf der einen Seite steht das Volk, auf der anderen die privilegierten Klassen, König, Adel, reiche Bürger und ähnliche“; „das Volk – die Masse der Städter und Bauern“.260 Es gab bei Mazzini eine viel stärkere Portion Sozialismus als bei Michelet, wenigstens näherte sein Denken sich mehr sozialökonomischen Begriffen an. Er erkannte die grundlegende Spaltung zwischen Kapital und Arbeit, zwischen den besitzenden Klassen und dem Proletariat, „zwischen dem Klassenprinzip und dem Gleichheitsprinzip, zwischen Privileg und Arbeit [...], denjenigen, die im ausschließlichen Besitz der Elemente aller Arbeit sind, das heißt Land, Kredit oder Kapital; und den anderen, die nichts als ihre Hände besitzen“.261 Es wird ihm sogar klar, dass „die Arbeiter besondere Bedürfnisse haben [...] lediglich politische Mittel sind nicht genug“.262 Sie werden Anerkennung ihrer 257 258 259

260 261 262

Vgl. ebd., S. XVIII, 141. Ebd., S. 120. Vgl. Salvemini, Mazzini, 179; S. Mazzini, Scritti editi ed inediti, Band 6, S. 20; ebd., Band 7, S. 390, 391 f. : „Signe de servage sur le front des dix - huit vingtièmes de ceux que vous appelez vos semblables; [...] votre constitution sociale en déshérite à perpétuité; [...] sans dignité, sans patrie, sans droits réels, sans participation aux améliorations [...] dans l’exploitation terrestre.“ Salvemini, Mazzini, S. 178. Vgl. auch ebd., S. 179. Ebd., S. 162. Vgl. auch ebd., S. 163. Ebd.

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Beschwerden durch die anderen Klassen, die ihr Schicksal nicht teilen und ihre Probleme nicht verstehen, nur dann erreichen, wenn sie sich als eine für ihre Interessen kämpfende Arbeiterklasse organisieren. Doch sowohl bei Michelet als auch bei Mazzini ist der Ausgangspunkt nicht das Schicksal der Arbeiter, trotz ihrer Sympathie für „den wahren Produzenten [...], der hungers stirbt als ein Sklave der Anmaßungen und Habgier seiner Mitmenschen“,263 sondern die Vision der erneuerten Nation. „Im Namen der Liebe, die ihr für euer Land hegt, müsst ihr auf friedlichem Wege, aber unermüdlich das Bestehen von Privilegien und Ungleichheit in dem Land bekämpfen, das euch das Leben gab.“264 Der Besitz von Privilegien und das Hängen an selbstsüchtigen Interessen hindern patriotische Ergebenheit. Wie das Kamel, das nicht durch ein Nadelöhr geht, so kann der reiche Mann sich nicht seinem Lande hingeben, ohne auf seine Schätze zurückzublicken. Mazzini proklamiert „das eine und unteilbare Volk, das weder Kaste noch Privileg, weder Proletariat noch Aristokratie des Grundbesitzes oder der Finanz kennt“.265

4. Die Nation als Träger der Erlösung Michelet und Mazzini sehen in der Nation den Träger der Erlösung für das Individuum nicht weniger als für die Gesellschaft. Michelet gibt eine ergreifende Schilderung von dem Unbehagen seiner Zeit, das durch die nationale Idee geheilt werden soll. Sie lässt uns eine tiefere Einsicht gewinnen in die inneren Triebfedern der Menschen im Zeitalter der Hochflut des politischen Messianismus. „Zu den moralischen und physischen Leiden, mit denen unsere Gesellschaft geschlagen ist, hat sich ein ihr eigenes Leiden hinzugesellt. Obwohl sich die gewöhnlichen Übel, von denen die Menschheit seit Jahrhunderten heimgesucht wurde, verringert haben, hat die Angst sich verstärkt und ist grenzenlos geworden.“266 „L’âme, tout endolorie“267 ist nicht lediglich von gegenwärtigen Schwierigkeiten beängstigt oder von der Erinnerung an eine böse Vergangenheit. Sie wird ständig geplagt von unklaren Ängsten vor kommendem Unheil, das vielleicht niemals eintreffen wird. „Zu alledem ist dieses Zeitalter extremer individueller Empfindlichkeit genau das Zeitalter, in dem man

263 264 265 266 267

Ebd., S. 51 f. Ebd. Ebd., S. 61, 178. Michelet, Le Peuple, S. 121 f. Ebd., S. 122.

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alles mit kollektiven Mitteln tut, die am wenigsten dazu angetan sind, das Individuum zu schonen.“268 Ob er will oder nicht, der Mensch ist ein Zahnrad in einer riesigen, zentralisierten, unpersönlichen Maschine. „La machine roule immense, majestueuse, indifférente, sans savoir seulement que ses petits rouages, si durement froissés, ce sont des hommes vivants“,269 jeder mit seinen intimen Gedanken, privaten Seelenängsten. Das tragische Paradox ist, dass in einer Zeit, in der wir alle unter dem gleichen zentralen Impuls gemeinsam handeln müssen, die Herzen weniger denn je geeint sind. Niemals sind die Mittel, einen gemeinsamen Gedanken zu inspirieren, wirksamer gewesen, und niemals die Vereinsamung der Menschen tiefer. Maschinen, Bürokratie, große Fabriken, riesige Armeen „les tiendront assemblées sans amour, qui encadreront, serreront si bien les hommes, cloués, rivés, vissés, que, tout en se détestant, ils agiront d’ensemble“.270 Gegenseitiges Verkennen und Misstrauen, Missverständnis und Nichtachtung zwischen Menschen, Klassen und Gruppen erzeugen so viel geistiges Elend. Keine mechanischen Teillösungen werden hier helfen. Wir brauchen ein allgemeines Heilmittel – „guérir l’âme“.271 „Il faut que le cœur s’ouvre, et les bras [...]. Eh ! ce sont vos frères, après tout. L’avez - vous oublié ?“272 Wir müssen hinabsteigen in jene Tiefen der „chaleur sociale“, „vie universelle“, „les sources taries de l’amour“.273 Der Zufluchtshafen für den isolierten, einsamen, geängstigten modernen Menschen, dem die unpersönliche Maschine das Zugehörigkeits - und Solidaritätsgefühl genommen hat, ist die Idee des Vaterlandes, „patrie“. Im alten Frankreich hatten die Kommunen ein Synonym für „patrie“ – „amitié“, Brennpunkt aller Bindungen. Wir lieben Frankreich, weil es das geliebte Land derer ist, die wir lieben.274 Die Liebe für ein Volk ist die Ausweitung der greifbareren privaten Freundschaften, eine veredelnde Sublimation dieser Freundschaften. „L’ami devient tout un peuple. Nos amitiés individuelles sont comme des premiers degrés de cette grande initiation, des stations par où l’âme passe, et peu à peu monte, pour se connaître et s’aimer dans cette âme meilleure, plus désintéressée, plus haute, qu’on appelle la Patrie.“275 Das Vaterland ist die große Freundschaft, weil es uns heroisch und unvergänglich macht. Es erhebt uns über uns selbst, über unsere kleinliche Selbst268 269 270 271 272 273 274 275

Ebd. Ebd. Ebd., S. 123. Ebd., S. 129. Ebd. Ebd., S. 141. Vgl. ebd., S. 223 f. Ebd., S. 224.

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bewusstheit, unseren niedrigen Neid und unsere Intrigen. Es ist die Quelle aller großen und schönen Tugenden, die von dem Drang nach Aufopferung und Hingabe hergeleitet werden. Es neutralisiert alle Ungleichheiten von Eigentum, Schicksal, Rang oder Erziehung und macht sie bedeutungslos. Es macht uns zu Teilen und Teilhabern von etwas so Reichem, Mannigfaltigem, Ewigem; Ungleichheiten werden wie die Beziehung einer schwachen Frau zu einem starken Mann, wie die Freundschaft zwischen zwei jungen Freunden von ungleicher Stärke, wo der eine sich bemüht, dem anderen gleich zu werden, und der andere fürchtet, seinem Freund überlegen zu bleiben. Hier ist Streben und Gegenseitigkeit. „Liebe rechnet nicht und wendet keinen Maßstab an. Sie hält sich nicht damit auf, eine mathematische und genaue Gleichheit, die niemals erreicht werden kann, zu berechnen.“276 Alle sozialen und politischen Probleme würden gelöst, wenn in früher Kindheit, in jenem paradiesischen Zustand der Unschuld und Uneigennützigkeit, frei von Hass, Neid, Verachtung und Niederträchtigkeit, das reiche und das arme Kind auf derselben Bank säßen, und das arme Kind „das andere wegen seines Reichtums trösten“ und es einweihen würde in das, was wirkliches Leben ist : die Realität von Leid, Armut und Arbeit; und das reiche Kind retten würde vor der oberflächlichen Unbekümmertheit, die von einem zu leichten Dasein herrührt.277 Die Idee des Vaterlandes wird den Armen den Heroismus des „immoler l’envie“ lehren und ihn über Selbstbemitleidung und Neid auf den Reichtum des anderen hinausheben – „ce n’est pas sa faute ( reich zu sein ) après tout, il est né tel“,278 dabei oft arm an Willen und moralischer Kraft. Der Reiche wird lernen, heldenhaft entschlossen zu sein, zum Volke zu gehen und die Armen zu lieben. Demokratie ist nicht in Kategorien von Rechten und Pflichten zu definieren. „La démocratie, c’est l’amour dans la Cité.“279 „Et l’on n’a eu que la loi morte [...]. Ah ! Reprenons - la par la grâce.“280

5. Die Nationalisten und der Sozialismus Weder Michelet noch Mazzini konnten sich mit der Idee des Klassenkampfes abfinden. Mazzini wollte vermeiden, das System der Zukunft als Demokratie zu bezeichnen, weil diese mit den Erinnerungen an Auf lehnung und Zwietracht belastet war, und das soziale Regime der Zukunft vor allem konstruktiv sein, koordinieren und vereinen soll, anstatt zu trennen. 276 277 278 279 280

Ebd., S. 227. Vgl. ebd., S. 305 f. Ebd., S. 233, 306. Ebd., S. 228. Ebd., S. 233. Vgl. auch Kohn, Prophets and Peoples, S. 65 ff.

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Michelet betrachtete es als seine „œuvre morale entre toutes, [...] humaine“, „moralische und soziale Einheit“ zu predigen und dadurch beizutragen zur „Befriedung [...] des Klassenkampfes [...], Niederreißung der mehr scheinbaren als wirklichen Schranken, die jene Klassen trennen und verfeinden, deren Interessen im Grunde einander nicht widersprechen“.281 Ähnlich ruft Mazzini die Arbeiter auf, sich von allen „Gedanken der Rache und Ungerechtigkeit gegen diejenigen, die ( sie ) ungerecht behandelten [...], zu befreien“.282 „Die Klassen, die euch heute unterdrücken, ob willentlich oder nicht, müssen ihre Pflichten euch gegenüber begreifen [...]. Predigt Pflicht [...] und erfüllt eure eigenen Pflichten [...], predigt Tugend, Opfer, Liebe [...]. Fasst eure Gedanken und eure Nöte tapfer in Worte, ohne Ärger, ohne Rachsucht und ohne Drohungen.“283 In ihrer Kritik der sozialistischen Utopisten lassen Michelet und Mazzini die gleiche Note vernehmen. Die Propheten werden wegen ihrer tiefen Menschlichkeit und ihres zartfühlenden Gewissens gelobt. Sie werden ehrerbietigst zur Rechenschaft gezogen, weil sie sich an Bedürfnisse und Interessen wandten, statt an Pflicht und heroische Aufopferung, und weil sie glaubten, eine neue Organisation der Produktion und geschickte Manipulierung der menschlichen Triebe genügten, um soziale Harmonie zu sichern. Der Mensch sei vor allem ein homo religiosus. Sein tiefstes Bedürfnis sei Glaube und Liebe, alles andere folge. So sei das Problem vor allem das, die Herzen aufeinander abzustimmen, einen lebendigen Glauben einzuflößen.284 „Es gibt nichts Leichteres“ – schreibt Michelet – „als sich eine Gesellschaft vorzustellen, die gerecht, liebend, vollkommen einig, noch rein und enthaltsam ( wesentliche Bedingung ) ist und die eine absolute Gütergemeinschaft begründen und beibehalten würde. Diese Gütergemeinschaft ist sehr leicht, wenn es eine Gemeinschaft der Herzen gibt [...] eine Willenseinheit.“285 Das oberste und erste Ziel ist daher die geistige Wandlung. Keine kommunistische Ordnung kann ohne diese Einigkeit der Herzen eingeführt werden, es sei denn durch Terror, der alle menschliche Tätigkeit lahmlegen würde. Andererseits : „Wer ist kein Kommunist in der Liebe, in der Freundschaft ?“286 Wo es über281 282 283

284 285 286

Cornuz, Jules Michelet, S. 265, Anm. 11. Salvemini, Mazzini, S. 174. Ebd., S. 181 f. Vgl. auch Mazzini, Scritti editi ed inediti, Band 4, S. 224 : „Le peuple que la Jeune Europe aspire à réaliser, ne connaît ni aristocratie, ni démocratie, ni prolétaire, ni propriétaire – c’est le peuple un, le peuple jouissant de mêmes droits, accomplissant les mêmes devoirs, vivant de son travail [...], associé vers un but commun [...], seule loi, [...] seule pensée.“ Vgl. Mazzini, Scritti editi ed inediti, Band 7, S. 379 f., 416 ff. Cornuz, Jules Michelet, S. 273. Ebd.

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strömende Liebe gibt, werden die materiellen Anordnungen unerheblich, fast unnötig. Frankreich ist für Michelet eine Nation von Eigentümern par excellence. Proudhon, sagt Michelet, nannte Eigentum Diebstahl. Er selbst möchte, dass jeder ein Eigentümer wäre.287 Michelet hat nichts gegen den Reichen, solang er arm im Herzen und überzeugt von der Idee der Gleichheit ist. Er wird dann zum Treuhänder des Eigentums zugunsten der Gesellschaft. „Der reiche Mann, der auch arbeitet, ist ein Heiliger. Ich verehre ihn.“288 Ähnlich sah Mazzini im Eigentum „ein Zeichen der Frucht der Arbeit [...] gut und nützlich [...] die Darstellung der menschlichen Individualität in der materiellen Welt [...] nicht nur einen Anreiz zur Arbeit, sondern eine Garantie für die Verbesserung der Arbeit als solcher“.289 „Warum dann nicht sich bemühen, die Organisation des Eigentums abzuändern, es mit den großen Ideen der Hingebung, der Gleichheit, des menschlichen und sozialen Fortschritts in Harmonie zu bringen, anstatt es brutal abschaffen zu wollen“ zugunsten jener absoluten Gleichheit und Gleichförmigkeit, die so „ungerecht, unver wirklichbar ( ist ) und unvermeidlich zu dem führt, was sie zu unterdrücken behauptet ?“290 Salvemini weist darauf hin, dass Mazzini einer der Ersten war, die das Wort Sozialismus gebrauchten. Schon 1834 schrieb er, dass seine „neue Bewegung dazu bestimmt ist, die Menschheit in der Form des Sozialismus zu konstituieren“, und ein paar Jahre später sprach er von „Sendung, Menschheit, immer währendem Fortschritt, Sozialismus“.291 Mazzini konnte noch Mitglied der Ersten Internationale werden, dank Mar xens verächtlicher Konzession an den von ihm „Theopompus“ Benannten, der in großer Rhetorik über Gott, Pflicht, Opfer, Sendung redete. Jedoch war Mazzini kein Sozialist, obwohl er „eine progressive Regulierung der menschlichen Gesellschaft“ anstrebte und ( im Gegensatz zu dem den anarchischen Krieg selbstsüchtiger Interessen nährenden Laissez - faire ) lehrte, in seinem Regime der Zukunft „müssen alle produzieren : die nicht arbeiten, haben kein Recht zu leben“.292 Sein sozialer Radikalismus – denn das war es, worauf sein Sozialismus hinauslief – ging nicht weiter als bis zur Vision von „freien, spontanen Arbeiterassoziationen verschiedenen Charakters und begründet auf Opfer, Tugend, Liebe und auf wirtschaftlichen Prinzipien“, die allmählich das Lohnsystem ersetzen würden durch „das Prinzip, dass das Ver-

287 288 289 290 291 292

Vgl. ebd., S. 273, 279. Ebd., S. 284. Mazzini, Scritti editi ed inediti, Band 34, S. 226. Ebd., S. 227. Salvemini, Mazzini, S. 183. Ebd., S. 52.

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mögen jedes Menschen im Verhältnis zu seiner Arbeitsleistung stehen muss“, und auf diese Weise „dem Arbeiter einen Weg öffnet, Eigentum und Reichtum zu erwerben und es jedem Menschen von erwiesener Moralität, Fähigkeit und gutem Willen ermöglicht, Kapital und die Mittel, in Freiheit zu arbeiten, zu finden“.293 Das bedeutete Erzeuger - und Verbraucherkooperativen mit Kreditbeihilfen und Vorschüssen seitens des Staates, ein hohes Maß von Verstaatlichung gemeinnütziger Betriebe und möglicher weise von Bergwerken und Schwerindustrie, progressive Besteuerung, Abschaffung der indirekten Steuern, freien und allgemeinen Unterricht, ein Netzwerk von Sozialfürsorge. Michelet und Mazzini waren unnachgiebig gegen den Kommunismus eingestellt. Sie hielten ihn geradezu für die Negation des menschlichen Selbstausdrucks und der Assoziation, denn er sei geeignet, jede persönliche Initiative und Bestrebung zu töten, kurzum einerseits die Menschen in seelenlose Maschinen zu ver wandeln und andererseits eine Herrenklasse aufzurichten, die eine beispiellose Tyrannei über die Seelen und Körper der Menschen ausüben würde.294 Es wäre falsch, diese Analyse der sozialen Ideen der nationalistischen messianischen Propheten mit dieser Note zu beenden. Ihr Sozialismus mag nicht über eine vage Vision von freien und unabhängigen Bauern, Handwerkern, Kooperativen von Bauern und kleinen Leuten hinausgegangen sein, wo alle am Vermögen beteiligt und von den gleichen tugendhaften Gefühlen beseelt waren. Aber es gab sehr weitgehende sozialistische Schlussfolgerungen in ihrer Gesamteinstellung. Die plebejische Rhetorik war in dieser Beziehung vielleicht weniger wichtig als das Prinzip der Assoziation : die emphatisch wiederholte Idee, der Individualismus müsse durch soziale Kohäsion ersetzt werden und das freie Spiel der Kräfte durch soziale Regulierung. Dass die individualistischen Vorbehalte sich als unhaltbar erweisen würden, war zu erwarten. Hier war Inspiration sowohl für Sozialismus als auch für faschistischen Nationalsozialismus.

293 294

Ebd., S. 53. Vgl. ebd., S. 180; Mazzini, Life and Writings, Band 4, S. 353, 357; Band 6, S. 192. Michelet, Le Peuple, S. 108 : „Quant au Communisme [...]. Le dernier pays du monde où la propriété sera abolie, c’est justement la France.“ Siehe auch Cornuz, Jules Michelet, S. 168–173, Kapitel XVIII.

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6. Nationale Einzigartigkeit und internationaler Klassenkampf Der Unterschied zwischen den universalistischen Prophezeiungen der Sozialisten und denen der Nationalisten besteht, wenn auf seine letzten Wurzeln zurückgeführt, darin, dass die ersteren der Zugehörigkeit zu einer Klasse oder zu einem über die nationalen Grenzen hinausgehenden Bekenntnis höhere Realität zuschrieben, während die letzteren an die Verbrüderung der reformierten und erneuerten Nationen glaubten und die Nation als das primär Gegebene ansahen. Keiner der beiden Protagonisten sah die Möglichkeit eines jähen Zusammenstoßes zwischen ihnen voraus. Michelet mag Fourier einen Vor wurf machen wegen seiner Prophezeiung, eines Tages werde eine universale Sprache das Babel der Zungen ersetzen; er mag den Saint - Simonismus kritisieren, weil er Luftschlösser baute, ohne auf nationale Traditionen und psychologische Unterschiede der Völker zu achten, und weil er nicht an die Ideen – und den Mythos der Französischen Revolution anknüpfte. Aber letzten Endes predigte auch er, bei all seinem französischen Chauvinismus, eine auf den gleichen Prinzipien von Freiheit und Gerechtigkeit aufgebaute universale Verbrüderung. Mazzinis Menschheitsrat, der das Gesetz des Fortschritts für alle erneuerten Völker niederlegt, braucht nicht als etwas Grundverschiedenes von Fouriers Weltkongress der Phalangen angesehen zu werden, oder von Saint - Simons Plan eines europäischen Parlamentes, dessen Mitglieder nicht von den nationalen Regierungen oder Parlamenten ernannt würden, sondern von den Bevölkerungen direkt. Dieses europäische Parlament sollte die „volonté de corps“, den Allgemeinen Willen der europäischen Konfraternität verkörpern. Es sollte allen Ländern ein „systematisch homogenes“ Regime auferlegen und eine Gewähr dafür bieten, dass „alle seine Institutionen [...] Ergebnis einer einzigen Konzeption [...] auf jeder Ebene [...] ähnliche Formen haben“.295 Die europäischen Völker sollten von ihm mit gigantischen öffentlichen Arbeiten und Kreuzzügen in anderen Kontinenten in atemloser Geschäftigkeit gehalten werden. Welches Motiv würde sich im Falle eines Zusammenstoßes als kraftvoller erweisen – die Loyalität zur einen und unteilbaren Nation oder die Loyalität zu einer internationalen Bruderschaft ? Es dürfte von Interesse sein, eine sozialistische Äußerung und nationalistische Aufrufe nebeneinander zu stellen. In den Augen Saint - Simons „ist das Nationalitätsgefühl völlig ausgeschaltet, und die Gelehrten ganz Europas haben einen unauf löslichen Bund gebildet, der immer dazu tendiert hat, jedem an irgendeinem besonderen Punkt 295

Saint - Simon, Œuvres choisies, Band 2, S. 273. Vgl. auch ebd., S. 289, 293.

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gemachten wissenschaftlichen Fortschritt einen europäischen Charakter zu geben. Diese ‚heilige Allianz‘, der das alte System keinesfalls widerstehen kann, hat eine größere Kraft, das neue System zu betreiben, als die Kraft aller europäischen Bajonette zusammengenommen, um die Herbeiführung des Industriesystems zu verhindern oder auch nur zu verlangsamen.“296 Saint - Simons berühmte Prophezeiung von dem goldenen Zeitalter, das vor uns liegt, anstatt in eine undeutliche Vergangenheit projiziert zu werden, war ausgesprochen worden in Verbindung mit dem vorausbestimmten Eintreten einer Zeit, in der alle Völker Europas fühlen werden, dass Angelegenheiten von allgemeinem Interesse erst geregelt werden müssen, bevor sie sich mit Angelegenheiten von nationalem Interesse befassen. Dann werden die Übelstände abnehmen, Unruhen werden beigelegt, Kriege abgeschafft werden. Die Gefühle von Michelet und Mazzini waren ganz anders. „Un peuple ! Une patrie ! Une France !“297 – ruft Michelet aus. „Ne devenons jamais deux nations, je vous prie. Sans l’unité, nous périssons. Comment ne le sentez - vous pas? Français, de toute condition, de toute classe, et de tout parti, retenez bien une chose, vous n’avez sur cette terre qu’un ami sûr, c’est la France. [...] France, glorieuse mère, [...] faites que nous nous aimions en vous. [...] L’association [...] seule encore, peut nous réunir, et par nous, sauver le monde.“298 In ähnlichem Geiste schrieb Mazzini : „Ohne Land habt ihr keinen Namen, keine Stimme, keine Rechte, keine Taufe der Brüderschaft unter den Völkern. Ihr seid die Bastarde der Menschheit, Soldaten ohne eine Fahne. Als Kinder Israel unter den Nationen werdet ihr weder Vertrauen noch Schutz genießen : Ihr werdet keine Sicherheit haben. Redet euch nicht ein, ihr könntet euch von ungerechten sozialen Bedingungen befreien, bevor ihr ein eigenes Land gewinnt. Lasst euch nicht verführen von der Idee, eure materiellen Bedingungen zu verbessern, ohne erst die nationale Frage zu lösen. Nur euer eigenes Land, das große fruchtbare Land Italien, das sich von den Alpen bis zur entferntesten Küste Siziliens erstreckt, kann eure Hoffnungen zur Erfüllung bringen.“299 Die Beziehung zwischen der internationalen Revolution und nationaler Einzigartigkeit wurde 1848 zum ersten Mal auf die Probe gestellt.

296 297 298

299

Manuel, The New World of Henri Saint - Simon, S. 171–179. Michelet, Le Peuple, S. XLII. Ebd., S. XLII, 257. A. d. Hg: Im frz. Original heißt es in umgekehrter Reihenfolge: „L’association [...] seule encore, peut nous réunir, et par nous, sauver le monde. France, glorieuse mère, [...] faites que nous nous aimions en vous!“ Vgl. auch ebd., S. 263 f. Salvemini, Mazzini, S. 132 f. Vgl. auch Mazzini, Scritti editi ed inediti, Band 6, S. 236 f., 313 ( A. d. Hg. : italienische Fassung des Textes auf S. 236 f.); Kohn, Prophets and Peoples, Kapitel 2 ( Michelet ), Kapitel 3 ( Mazzini ).

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Dritter Teil Konfrontierungen

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It is the tragedy of a world where man must walk by sight that the discovery of the reconciling formula is always left to future generations, in which passion has cooled into curiosity, and the agonies of peoples have become the exercise of the schools. The devil who builds bridges does not span such chasms till much that is precious to mankind has vanished down them for ever. R. H. Tawney

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I. Die kon ter re vo lu tio nä re Rech te – de Mais tre, de Bonald, die deut schen Roman ti ker 1. Revolution und menschliche Ohnmacht Den ultramontanen Konterrevolutionären und der traditionalistischen Rechten in den anderen Ländern war die Französische Revolution eine Widerlegung der eigentlichen Revolutionsidee.1 Sie hatte bewiesen, dass die Gesellschaft nicht durch Menschenverstand aus dem Fluss der Geschichte herausgehoben und ihrer erdgebundenen Bestimmung entzogen werden kann. Der Versuch, Vernunft gegen Geschichte zu setzen und zu beweisen, dass nicht das Geschichtliche, sondern das Vernunftgemäße das Natürliche sei, hat in Chaos und Unheil geendet. Anarchie, Tyrannei, Terror und ungesetzliche Regierungen haben die Hoffnung, der Mensch könne sein eigener Gesetzgeber, das alleinige und letzte Kriterium für Gut und Böse sein, Lügen gestraft; ebenso den Glauben, die autonome individuelle Vernunft sei fähig, anstatt Chaos zu gebären, ein System sozialer Harmonie von ausschließlicher und definitiver Gültigkeit zu errichten.2 Wenn dies die wesentlichsten und tiefsten Fragen sind, die man über die Bedeutung der Geschichte und die Bestimmung des Menschen stellen kann, dann wäre die Französische Revolution, mit den Worten de Maistres und de Bonalds, einem jener mächtigen Orkane vergleichbar, die die stürmischen Fluten himmelhoch aufpeitschen und dadurch einen Blick in den freigelegten Felsgrund des Ozeans gestatten – „dans les événements de quelques jours, les leçons pour tous les siècles“.3 Die ehrfurchtgebietendste Lehre der Französischen Revolution ist nicht, dass Menschen mit ihrem erwägenden Verstand eine Revolution machen können, sondern dass die Revolution die Menschen vernichtet, sie groß macht und 1

2 3

Vgl. Bonald, Œuvres complètes; ders., Théorie du pouvoir; Bourget / Salomon ( Hg.), Bonald; Maistre, Considérations sur la France; ders., Les Soirées de Saint - Pétersbourg; ders., Une Politique expérimentale; ders., Étude sur la souveraineté; ders., Essai sur le principe générateur; ders., Du Pape; Reiss ( Hg.), The political thought of the German Romantics; Müller, Die Elemente der Staatskunst; Bagge, Les Idées politiques en France; Berlin, The Hedgehog and the Fox; Bowle, Politics and Opinion; Faguet, Politiques et moralistes; Leroy, Histoire des idées sociales en France; Mannheim, Essays on Sociology and Social Psychology, Kapitel 2; Michel, L’Idée de l’État; Soltau, French Political Thought. Vgl. Bourget / Salomon ( Hg.), Bonald, S. 86 f. Ebd., S. 86 f., 90 ( Zitat ), 96 f.

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Konfrontierungen

zerstört, sie uner wartet emporhebt und dann plötzlich hinwegfegt. Bereits Cromwell hatte entdeckt, dass derjenige am weitesten kommt, der nicht weiß, wohin er geht. Um wie viel mehr traf dies auf die Führer der hundertfünfzig Jahre später erfolgten Revolution zu : „jene mitreißende Kraft, die sich über alle Hindernisse hinwegsetzt. Ihr Wirbelwind trägt wie Spreu alles fort, was Menschenkraft ihr in den Weg legen mag. Niemand kann sich ihrem Vormarsch ungestraft widersetzen [...], die Revolution führt die Menschen mehr, als die Menschen die Revolution führen.“4 Robespierre, Collot d’Herbois oder Barère hatten nicht im Traum daran gedacht, eine Revolutionsregierung oder eine Terrorherrschaft einzuführen. Sie wurden wie Schlafwandler unwiderstehlich dazu getrieben. Diese überaus mittelmäßigen Männer, die die blutigste Despotie in den Annalen der Menschheit über eine große Nation ausübten, waren selbst am meisten überrascht, sich im Besitze derartiger Macht zu finden. Es liegt „etwas Passives und Mechanisches“5 in der Art, in der die Revolution diejenigen benutzt, die behaupten, ihre Schöpfer zu sein. Wer kann das Geheimnis erklären, dass „alle Revolutionen von den Klügsten begonnen und immer von den Wahnwitzigen zu Ende geführt werden; dass die Urheber ausnahmslos zu Opfern ihrer eigenen Tat werden; und dass die Bemühungen der Nationen, ihre Freiheit zu erlangen oder zu erweitern fast immer dazu führen, sie in schwerere Ketten zu legen“ ?6 Alle werden zu Boden geschlagen – die Ehrgeizigen, die in der Revolution ihren eigenen Interessen nachgehen, und die Fanatiker, deren Bestrebungen über sie hinausreichen, ebenso wie diejenigen, die sie zum Betrug ausnutzen und die, die sie zu bekämpfen versuchen.7 Alle diese unheimlichen und gewaltigen Geschehnisse lassen sich zurückführen auf „une cause première, unique, efficiente“, ohne die keine anderen Faktoren wirksam geworden wären : „die Verbreitung falscher Doktrinen“.8 Die Enzyklopädie war der erste, die Geschehnisse seit 1789 der zweite Band des Buches der Revolution.9 Auf den ersten Blick scheint ein gewisser Widerspruch zu bestehen zwischen der Vision des Schicksals als einer unwiderstehlichen objektiven Kraft und der gewaltigen Wirksamkeit, die man Verfassern von Büchern zuschreibt. 4

5 6 7 8 9

Maistre, Une Politique expérimentale, S. 56. Vgl. auch Leroy, Histoire des idées sociales en France, Band 2, S. 115–152, besonders über Chateaubriand; Bourget / Salomon ( Hg.), Bonald, S. 86. Maistre, Une Politique expérimentale, S. 57 f. Ebd. S. 301 f.; ders., Du Pape, S. 162. Vgl. Bourget / Salomon ( Hg.), Bonald, S. 86. Ebd., S. 91. Vgl. ebd., S. 92.

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Die Antwort darauf lautet, dass der Mensch zwar unfähig ist, bewusst und planvoll zu bauen und zu ersinnen, sein Verstand jedoch unermessliche Kraft hat als ein Solvens, das zu Desintegration, Anarchie und Vernichtung führt. Die Beschaffenheit des menschlichen Daseins sei überdies in der Struktur des Universums ver wurzelt.

2. Die Domäne des Mordes und der Sünde „Im Weltall gibt es nichts als Gewalttätigkeit; doch wir sind von der modernen Philosophie verdorben, die uns erklärt, alles sei gut. Dabei hat das Böse alles besudelt, alles ist im wahrsten Sinne schlecht, denn nichts ist am rechten Ort. La note tonique du système de notre création ayant baissée [...]. Tous les êtres gémissent et tendent, avec effort et douleur, vers un autre ordre de choses.“10 Mit diesen beängstigenden Sätzen ver wirft de Maistre geradewegs die Annahme, auf der die Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts basiert – die Rationalität des Weltalls. Das Weltall unterliegt nicht den Kriterien mathematischer Logik und rationaler Folgerichtigkeit. Es ist in seinem Kern irrational. Die Geschehnisse in ihm rühren – in Bildern und Begriffen aus dem Bereich der Psychologie ausgedrückt – aus gewissen dunklen und mächtigen Zwangshandlungen und Per versionen her, der ver wirrende Mangel an Zusammenhang ist auf unergründliche Ambivalenzen zurückzuführen, und die herzzerreißenden Frustrationen werden durch unzugängliche Stumpfheit verursacht. Wenn es nicht in der Macht des Verstandes liegt, diese „tiefen, soliden und kräftigen Absurditäten“11 in ein System übersichtlicher Logik mit genau ineinandergreifenden Teilen zu bringen, dann hat das achtzehnte Jahrhundert mit seinen beiden Annahmen völlig Unrecht gehabt – nämlich, dass das Weltall rational und der Mensch gut und der Ver vollkommnung fähig sei. Es hat sich hoffnungslos geirrt in der Erwartung, die aus diesen beiden Grundsätzen folgte – dass die Gesellschaft eines Tages eine Nachbildung der universalen Ordnung werden könnte. Die Philosophen hatten behauptet, die von Natur aus guten Triebe des Menschen seien verdorben worden durch die falsche Lehre von der schlechten Natur des Menschen : Selbstsüchtige Interessen und tyrannische Ambitionen hätten in dieser Theorie eine Rechtfertigung für ihre Unterdrückungs - und Ausbeutungspolitik gefunden. Als Ergebnis seien die unterdrückten guten Triebe auf Wege der Per version geraten. Die Unterdrückung erzeugte Gift und 10 11

Maistre, Considérations sur la France, S. 45; ders., Une Politique expérimentale, S. 138 f. Faguet, Politiques et moralistes, S. 42.

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Übel, die den usurpierenden Erziehern und Gesetzgebern eine neue Handhabe boten. Und so sei die Kette des Verderbens immer komplexer geworden, bis die Gesellschaft zu einem Räubernest wurde und das Leben zu einem Tränental. Man gewähre nur den natürlichen Instinkten freien Lauf, erlöse sie von der Bedrückung, und einmal frei, werde sich aus ihnen ein harmonisches System bilden. Freiheit werde Tugend erzeugen. In den klingenden Tönen eines echten Propheten und Dichters ver wirft de Maistre diesen hoffnungsvollen Ausblick : „Ich kann niemals über dieses schreckliche Thema nachdenken, ohne den Zwang zu verspüren, mich auf die Knie zu werfen wie ein Sünder, der um Gnade fleht; ohne im Voraus jede Strafe, die auf mein Haupt entfallen mag, als eine kleine Abzahlung auf die ungeheure Schuld zu akzeptieren, die ich gegenüber der ewigen Gerechtigkeit auf mich geladen habe.“12 Die Beschaffenheit des menschlichen Daseins ist in der Struktur des Universums verankert. Das Gesetz der Welt ist aber nicht Harmonie, sondern Ungleichheit, Ungerechtigkeit, Gewalttätigkeit und Mord. Die Welt bietet ein Schauspiel unendlichen Mordens dar : Vom Niedersten zum Höchsten mordet der Stärkere den Schwächeren, und jedes Geschöpf lebt von dem Blut und dem Fett des niedrigeren. Über ihnen allen steht der größte Mörder, der Mensch. Und so wird es bleiben bis zum Ende der Tage. Alle Gruppen und Gesellschaften von Lebewesen sind für Krieg mit anderen, für Mord, organisiert.13 „Hört Ihr nicht die Erde nach Blut schreien ?“14 Der Blutdurst der Erde ist unstillbar, denn die Welt ist „ein ungeheurer Altar, auf dem alles Lebende geopfert werden muss – sans fin, sans mesure, sans relâche, jusqu’à la consommation des choses, jusqu’à l’extinction du mal, jusqu’à la mort de la mort“.15 Mord einerseits und Opfer andererseits – das sind die beiden Gesetze des Universums; und zwei Institutionen symbolisieren diese Ordnung auf das Treffendste und Unheimlichste : der Henker und der Krieg. Gefürchtet, verabscheut, bis zum äußersten vereinsamt, übermenschlich und dämonisch und so unentbehrlich, ist der Henker der Pfeiler der Gesellschaft. Er ist so viel größer und schrecklicher als das Leben. Er ist eine Macht, nicht ein Mensch. Ohne ihn würden alle Dämme, die die Wasserfluten der großen Tiefe zurückhalten, reißen. Denn die Gesellschaft ist ein so empfindlich 12 13 14 15

Maistre, Les Soirées de Saint - Pétersbourg, S. 55. Vgl. ebd., S. 109–128; ders., Une Politique expérimentale, S. 90–126; Leroy, Histoire des idées sociales en France, Band 2, S. 131–137. Maistre, Les Soirées de Saint - Pétersbourg, S. 122; ders., Une Politique expérimentale, S. 113. Maistre, Les Soirées de Saint - Pétersbourg, S. 123; ders., Une Politique expérimentale, S. 115; Leroy, Histoire des idées sociales en France, Band 2, S. 130 f.

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ausbalancierter Organismus, dass die sie tragenden Streben bis zum Bruchpunkt belastet sind.16 „Toute grandeur, toute puissance, toute subordination repose sur l’exécuteur : il est l’horreur et le lien de l’association humaine. Otez du monde cet agent incompréhensible, dans l’instant même l’ordre fait place au chaos, les trônes s’abîment et la société disparaît.“17 Das Phänomen des Krieges lässt sich nicht aus rationalen, bewussten und klaren Ursachen erklären. Es übersteigt diese.18 Der Krieg als Institution verkörpert die beiden kosmischen Gesetze – Mord und Opferung. Daher der Schrecken des Krieges und seine seltsame Faszination. Eine Armee mordet Unschuldige, und Unschuldige werden geopfert. Man denke nur an den Glorienschein, der den Krieg und die Armee umgibt; man denke an die unheimliche Mischung von organisiertem Massenmord, unendlicher Qual und Tücke, und an all die schönen Tugenden, die mit dem Soldaten und Krieger in Verbindung gebracht werden.19 Man denke an jene „göttliche Raserei [...] von der eine zum Angriff vorrückende Armee gepackt wird und in der sie nicht weiß, was sie will und was sie tut“.20 Man denke an die gewaltige Kriegspsychose, die von einer ganzen Nation Besitz ergreift. „Der Krieg an sich ist darum eine göttliche Einrichtung, denn er ist das Gesetz der Welt [...] durch seine Folgen einer übernatürlichen Ordnung [...] in der geheimnisvollen Glorie, die ihn umgibt, und in der nicht weniger unerklärlichen Faszination, die uns ihm zutreibt.“21 Der Krieg ist die Abrechnung Gottes mit der schuldbeladenen Menschheit, nicht mit dieser oder jener Nation, nicht mit diesen oder anderen Einzelpersonen, sondern mit der Menschheit als Ganzes. Denn alle sind mit kollektiver Schuld beladen. „In einem bestimmten Augenblick, der von Menschen herbeigeführt wird und von der Gerechtigkeit vorgesehen ist, steht Gott auf, um das Unrecht zu rächen, das die Bewohner der Welt gegen Ihn begangen haben. Die Erde dürs16

17 18 19 20 21

Vgl. Maistre, Les Soirées de Saint - Pétersbourg, S. 27–29, 111 f.; ders., Une Politique expérimentale, S. 71–73, 94 f.; Leroy, Histoire des idées sociales en France, Band 2, S. 130 f. Maistre, Les Soirées de Saint - Pétersbourg, S. 28; ders., Une Politique expérimentale, S. 73. Vgl. Maistre, Les Soirées de Saint - Pétersbourg, S. 109; ders., Une Politique expérimentale, S. 90, 118. Vgl. Maistre, Les Soirées de Saint - Pétersbourg, S. 114; ders., Une Politique expérimentale, S. 99 f. Maistre, Les Soirées de Saint - Pétersbourg, S. 122 ( Zitat ), 127; ders., Une Politique expérimentale, S. 114. Maistre, Les Soirées de Saint - Pétersbourg, S. 123; ders., Une Politique expérimentale, S. 116.

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tet nach Blut, öffnet ihren Schlund, um es aufzusaugen und es zu halten, bis die Zeit kommt, es wieder zu vergießen [...]. Der Vernichtungsengel kreist wie die Sonne um diesen unglückseligen Erdball und gewährt einer Nation eine kurze Atempause, nur um eine andere zu schlagen [...]. Pareil à la torche ardente tournée rapidement, l’immense vitesse de son mouvement le rend présent à la fois sur tous les points de sa redoutable orbite. Il frappe au même instant tous les peuples de la terre.“22 Mord und Opfer, Schuld und Unschuld, Sühne und sinnloses Leid sind so schrecklich miteinander vermengt. Warum sollen die Unschuldigen leiden ? Warum ist Gott ungerecht ? Die Antwort ist : Wir sind alle schuldig, und es gibt nicht einen gerechten Menschen auf der Erde. Es gibt eine unendliche Kollektivschuld, und daher kollektive Verantwortung. Nicht einige Menschen, sondern die gesamte Menschheit führt die ganze Zeit Krieg gegen Gott. Die Opferung der Unschuldigen dient der Versöhnung Gottes für die Verfehlungen der sündigen Masse. Es ist kein Zufall, dass alle Religionen seit undenklichen Zeiten an der Idee des Opfers festgehalten haben. Die Christuspassion ist der Höhepunkt dieses universalen Glaubens. Sie war der größte Akt der Sühne, weil ihr Opfer am unschuldigsten war.23 Wir alle haben teil an der Schuld der Erbsünde. De Maistre gibt eine wahrhaft moderne Auslegung des Dogmas. Die Erbsünde ist einem traumatischen Kindheitsereignis vergleichbar. Mit ihr begann eine Dialektik der Sünde. Eine Sünde zieht eine andere nach sich, ein schicksalhaftes Erlebnis macht uns unfähig, einem anderen gleicher Art zu widerstehen, es zwingt uns gewissermaßen zur Wiederholung; ein ganzes Netz von Schlingen und Ver wirrungen bildet sich; die Krebsgeschwulst greift immer weiter um sich. Es ist, wie wenn ein Fels sich ablöst und anfängt, den Abhang hinunterzurollen. Sehr bald wird er zum Gesteinshagel, der in den Abgrund stürzt. Die Sünde wächst in geometrischer Progression. Der Mensch verliert die Kontrolle, er tappt umher, stolpert und fällt zu Boden, er verstrickt sich und gerät in Raserei. Er wird niemals imstande sein, sich aus eigener Kraft zu erlösen. Er ist schlecht, und er leidet. Auf Glücklichsein hat er kein Anrecht, seine Vernunft ist nicht sein unfehlbarer Führer, sein Wille nicht die letzte Sanktion. Er ist ein elendes Geschöpf, das sich höchstens nach Gnade sehnen kann.24 Und wir sind alle, alle schuldig. Wir stiften Verbrechen an und leisten ihm Vorschub, wir entschuldigen Böses und geben ein schlechtes Beispiel, wir verhalten uns neutral und greifen nicht ein gegen die Sünde, deren Früchte wir 22 23 24

Maistre, Les Soirées de Saint - Pétersbourg, S. 123 f.; ders., Une Politique expérimentale, S. 115, 117. Vgl. Bourget / Salomon ( Hg.), Bonald, S. 44–46. Vgl. Maistre, Les Soirées de Saint - Pétersbourg, S. 53–57; ders., Une Politique expérimentale, S. 85–90.

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alle genießen. Das ist die Rechtfertigung für die réversibilité von Schuld und Bestrafung. Gott wählt nicht gerade die Guten aus, um sie zu morden. Die Pfeile Gottes fallen auf die ganze irdische Armee und treffen, wie im Krieg, blindlings die Guten und die Bösen. Die Sünden müssen getilgt, von Sühne aufgesaugt werden. Es gibt keine Heilung ohne Schmerz. „Le remède du désordre sera la douleur.“25 Das ist das geheimnisvolle Gesetz der Natur.26

3. Moi et nous Der Mensch ist niemals schöpferisch, er nimmt nur auf. Die Dinge sind da; die Natur liefert die Elemente. Der Mensch ist weit davon entfernt, sie zu schaffen, er gibt ihnen höchstens Namen. Er manipuliert, isoliert oder verbindet sie, er sichtet sie und stellt sie nebeneinander; er führt Unterscheidungen ein und entdeckt Beziehungen. Ja, was als höchste Leistung des menschlichen Intellekts erscheinen muss, die Sprache, unterstreicht in Wahrheit nur die Schwäche des Einzelnen. Denn sicherlich ist der bedeutsamste Aspekt der Sprache der, dass der Mensch seine geistige Laufbahn – in sprachlicher Beziehung – mit Zuhören beginnt, mit aufnehmender, nicht schöpferischer Tätigkeit. Er empfängt und absorbiert durch Worte Verständnis, Gedanken, Gefühle, kurz : Kultur – und macht sich zum Herrn über seine Umgebung. Im Vergleich zu diesem Prozess der Aufnahme und Assimilierung des Kapitals von ungezählten Generationen ist das kleine Licht des Einzelmenschen, mag er noch so begabt sein, von unendlich geringer Bedeutung. Nun ist die Sprache nicht ein bewusstes, planmäßig angestrebtes Vollbringen von einzelnen Menschen oder Gemeinschaften, sondern das Ergebnis einer unbewussten Kollektivleistung im Laufe der Geschichte. Niemand unternimmt es, eine Sprache zu verfassen. Die Sprache entsteht, während Generationen ein Leben voller Zerstreutheit, Nachlässigkeit und Unklarheit führen. Doch das Resultat ist ein Meister werk an Ordnung und Zusammenhang.27 Wenn der Mensch so viel erwirbt und als Einzelner nichts schafft, so muss er als eine Funktion von Geschichte, Volk, Gruppe, kurz : der Gesellschaft, angesehen werden.28 Das Individuum erscheint als eine bloße Abstraktion. Mit

25 26 27

28

Maistre, Une Politique expérimentale, S. 144. Vgl. Maistre, Les Soirées de Saint - Pétersbourg, S. 17–22, 144–156, 183–214; ders., Une Politique expérimentale, S. 137–144. Vgl. Maistre, Essai sur le principe générateur, S. 285–287; ders., Les Soirées de Saint Pétersbourg, S. 48–52; ders., Une Politique expérimentale, S. 168 f.; Bourget / Salomon ( Hg.), Bonald, S. 67–71. Vgl. Bourget / Salomon ( Hg.), Bonald, S. 170–175.

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den Worten Bonalds ist es an der Zeit aufzuhören, von moi zu sprechen und unsere ganze Aufmerksamkeit auf das nous zu lenken.29 Nur das Kollektivwesen, die Nation, ist wirklich. „Die Richtung wird dem Menschen durch das Ganze, von dem er einen Teil bildet, aufgeprägt. Individualität ist nicht sein Los in dieser Welt“,30 sagt Ballanche. Aufs Politische übertragen schließt Bonald hieraus, dass nicht etwa der Mensch die Gesellschaft bildet, sondern die Gesellschaft den Menschen, sie formt ihn mit Hilfe der „éducation sociale“.31 Daher : „La société est la vraie et même la seule nature de l’homme.“32 Die Gesellschaft wird nicht durch planende Vernunft zusammengehalten und durch den Entschluss des Menschen, dass jeder sein eigener Gesetzgeber sein solle, sondern – in der Sprache Burkes – durch die von Generation zu Generation weitergeleiteten massiven Gefühle. Für den Skeptiker Hume waren dies die Kräfte der Gewohnheit und Trägheit, die durch Tabus erzeugten Ängste, die durch Gedankenassoziationen geförderten mechanischen Reaktionen, und vielleicht mehr als alles andere das Zurückweichen vor Neuartigem, das Unbehagen dadurch verursacht, dass es das Gewohnte aufhebt. Für Burke und seine Nachfolger waren es die Gefühle der Ehrfurcht, Ergebenheit, Zuneigung, der ritterlichen Loyalität und schließlich das Vorurteil. Letzteres besteht aus den nicht vorbedachten, fast instinktiven Reflexen, die her vorgerufen werden durch sich wiederholende Situationen, ähnliche Reize und gleichbleibende Realitäten. Das Verhalten eines Tieres wird durch „Vorurteile“ einer solchen Art als Ergebnis äußerst langer Erfahrung und Selbstanpassung bestimmt. Die gute Kinderstube eines Menschen, die sich in solchen fast automatischen Reaktionen ausdrückt, ist nichts anderes als Vorurteil in Funktion. Vorurteile sind also das Destillat des kollektiven Denkens unzähliger Vorfahren. Sie sind die eigentliche Bedingung der Zivilisation und ihrer Kontinuität. Man stelle sich vor, jeder von uns müsste jedes Mal, bevor er eine Entscheidung trifft oder einen Schritt tut, innehalten, um das ganze Kalkül der Grundprinzipien und allgemeinen Erwägungen in Bezug auf die unmittelbare Situation anzustellen. Das Leben würde in Fragmente zerlegt, und es gäbe nichts als Schwanken und Umhertappen. Der Bundesgenosse des Vorurteils ist das Dogma. Dogmen sind die Glaubenssätze, Werte und Geisteshaltungen, in die man hineingeboren wird. Sie sind sowohl der Rahmen als auch der Stoff unseres Lebens. Wenn man sie wegnimmt, findet sich der Mensch steuerlos dahintreibend. Es war verbreche29 30 31 32

Vgl. ebd., S. 3, 6, 9 f. Ballanche, Essai sur les institutions sociales, S. 47. Vgl. Bourget / Salomon ( Hg.), Bonald, S. 134. Ebd., S. 7.

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risch von Descartes zu sagen, der Mensch solle damit beginnen, alles anzuzweifeln und nichts als wahr hinzunehmen, was er nicht vorher durch die Vernunft geprüft habe. Descartes wurde daher mit Francis Bacon zu de Maistres bête noire, zum Urheber allen Übels. Im Anfang sollte der Mensch nicht sagen „je doute“, sondern „je crois“.33 De Bonald, de Maistre, Ballanche und der junge Lamennais setzen die Kräfte, die für soziale Kohäsion wirken, kurz : die Gesellschaft, in schärfsten Gegensatz zu den im Wesentlichen zentrifugalen, anarchischen und selbstzerstörerischen Neigungen des Einzelnen. Wir alle kommen schlecht auf die Welt, nur die Gesellschaft macht uns gut und verhindert, dass wir uns ins Verderben stürzen.34 Die Gesellschaft bedeutet zugleich Erhaltung, Kohäsion, Stabilität. Aus diesem Grund sind „Wahrheiten gut und gültig, soweit sie relevant sind für die Gesellschaft“.35 Der Prüfstein sittlicher Wahrheiten liegt letzten Endes in ihrer Anwendbarkeit auf die Gesellschaft und ihre Erhaltung, sagt Bonald, der fast zum Pragmatiker wird und nach Ergebnissen urteilt. „Andere haben die Religion des Menschen verteidigt, ich verteidige die Religion der Gesellschaft.“36 Individuelle Spontaneität ist immer verdächtig und wird als zur Verdammung führend gefürchtet. Sie bedeutet Zweifel, Analyse, Kritik, das eigene Urteil gegen Vorurteil und kollektive Weisheit stellen, Neuerung gegen Tradition stützen, Rationalisierung von Sophismen meines rebellischen Herzens zu Zweifeln, die aus einem Vernunftschluss geboren sind. Alle diese Haltungen führen zu Spaltungen, sind bestenfalls unfruchtbar und im schlimmsten Fall verderblich. Große Leistungen sind immer das Ergebnis von Glauben gewesen und in begeisterter Bejahung und Hingabe durchgeführt worden. Mit de Maistres Worten : „Individuelle Vernunft, die auf ihre individuellen Kräfte zurückgeführt wird, ist nicht nur unfähig zur Schaffung, sondern auch zur Erhaltung jeder religiösen oder politischen Assoziation, weil sie nichts als Streitigkeiten her vorruft. [...] Je mehr die menschliche Vernunft auf sich vertraut, [...] desto absurder wird sie, desto größer das Unvermögen, das sie beweist. [...] Ein Ungeziefer [...] verunreinigt unsere Heimstätten, immer einsam, immer isoliert [...]; aufgeblasen von Hochmut, [...] wirkt nur auf Zerstörung hin, ver weigert jeden Zusammenschluss [...]. Für sein Verhalten braucht der Mensch keine Probleme, er braucht Glauben. Seine Wiege sollte von Dogmen umgeben sein, und wenn seine Vernunft erwacht, sollte er alle Meinungen fertig vorfinden [...]. Es gibt für ihn nichts Wichtigeres als Vorurteile [...]

33 34 35 36

Vgl. ebd., S. 175–179. Vgl. ebd., S. 159 : „Nous sommes mauvais par nature, bons par la société.“ Siehe auch Maistre, Une Politique expérimentale, S. 191 f. Bourget / Salomon ( Hg.), Bonald, S. 26. Bonald, Théorie du pouvoir, Band 2, S. 9.

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Meinungen, die er ohne vorherige Prüfung übernimmt. Diese Art Meinungen hat der Mensch am nötigsten, sie sind die wahren Elemente seines Glücks, das Palladium von Kaiserreichen. Ohne sie wird es keinen Kult, keine Sittlichkeit, keine Regierung geben. Es muss eine Staatsreligion geben, ebenso wie es eine ‚politique de l’Etat‘ gibt.“37 Die unpersönlichen und irrationalen Kräfte, die die soziale Kohäsion sichern, werden manchmal die „raison universelle ou nationale“38 genannt, im Gegensatz zu den Verirrungen „der individuellen Vernunft, die von Natur der Todfeind jeden Zusammenschlusses ist“.39 Dieses universale und nationale Dogma de Maistres und de Bonalds hat einen religiösen Klang. Es kann für sie nichts anderes sein als ein Widerschein der Absichten Gottes. Es ruft ein Gefühl der Pietät, der Weltfrömmigkeit wach, denn es muss vom Schöpfer gewollt und inspiriert sein, und es bildet einen Teil der Struktur des göttlichen Moralgesetzes und ist in dem Prinzip absoluter Autorität begründet.40 Das Glück der Nationen hängt von der Herrschaft und Lebendigkeit, dem „règne absolu et général“41 des nationalen Dogmas ab, sowie von der Vernichtung rebellischer individueller Spontaneität, insbesondere bei den begabten Mitgliedern der Gesellschaft, denn der talentierte und mächtige Rebell ist der gefährlichste. Die „Herrschaft der Toten über die Lebenden“42 ist daher höchst notwendig und heilsam. Nur die kleinen und ungeschliffenen Geister sind von einer „manie de faire“43 aufgeblasen, die edlen Geister sind von Ehrfurcht erfüllt und von dem Wunsche zu bewahren und zu beschützen. Sie schrecken schmerzlich vor dem Gedanken zurück, jahrhundertealte Gebilde, die wie erlesene feine Kunstwerke oder schön gepflegte Gärten sind, mit roher Hand zu zerstören. Sie bezeugen der gehobenen Stellung feierliche Demut, sie begeistern sich an Pracht und Zeremonie, und sie fühlen sich in ihrem Innersten angesprochen von dem Geheimnis des großen Dramas der Geschichte. Sie können sich nicht mit den trockenen abstrakten Syllogismen des Rechenmeisters anfreunden, der, aller Symbole und Verbrämungen des Lebens entkleidet, in armseliger Nacktheit erschauert.

37 38 39 40 41 42 43

Maistre, Étude sur la souveraineté, S. 357, 375, 402. Ebd., S. 375. Ebd., S. 375 f. Vgl. Bourget / Salomon ( Hg.), Bonald, S. 173 f. Maistre, Étude sur la souveraineté, S. 376. Bourget / Salomon ( Hg.), Bonald, S. 157. Ebd., S. 153.

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„Die schuldigen Hände, die einen Umsturz des Staates herbeiführen, bewirken schmerzhafte Risse, denn niemand darf nach seinem eigenen Willen die Absichten des Schöpfers durchkreuzen.“44 Zwischen den französischen Ultramontanen und den deutschen reaktionären Romantikern wie Adam Müller, den Schlegels und Novalis besteht ein interessanter Akzentunterschied in der Einstellung zu den Werten des Volksgeistes. Das französische Erleben hat gewisse tiefreligiöse und auch ästhetisch aristokratische Nuancen. Es vibriert ferner von einem Gefühl geschichtlichen Dramas und geschichtlicher Größe. Die Haltung der deutschen Romantiker stellt ein kränkliches efeugleiches Sichanklammern an das Bestehende dar, eine ungesunde Angst vor Veränderung, Trennung und Entwurzelung, eine erschreckte Sehnsucht danach, sich in Scharen zusammenzudrängen. „Was ist Patriotismus ?“ fragt de Maistre. „Er ist die ‚raison nationale‘, von der ich spreche, er bedeutet individuelle Selbstverleugnung. Glaube und Patriotismus sind die beiden großen Wundertäter in dieser Welt. Der eine wie der andere ist göttlich : alle ihre Taten sind wunderbar; lasst euch nicht einfallen, zu ihnen von Prüfung, Wahl, Diskussion zu reden; sie werden sagen, ihr seid alle der Blasphemie schuldig; sie kennen nur zwei Worte : Unter werfung und Glauben; mit diesen beiden Hebeln werden sie das Weltall emporheben; sogar ihre Fehler sind erhaben [...], sie erhöhen sie, machen sie göttlich, verstärken ihre Kräfte hundertfach. [...] Es ist die edle Bestimmung aller geistigen Geschöpfe, sich auf ihren eigenen Gebieten an der Erfüllung der ewigen Dekrete freiwillig zu beteiligen. [...] Jede Handlung der erschaffenen Intelligenz, die den Ansichten der schöpferischen Intelligenz entgegengesetzt ist, führt notwendiger weise zur Herabwürdigung eben jenes Lichtes, das ihr gegeben wurde, um zur Ordnung beizutragen; [...] eine wirkliche Auf lehnung, deren Wirkungen besonders schädlich sein müssen.“45 „Totalität“ und „Eigentümlichkeit“ sind die beiden Lieblingsbegriffe der deutschen Romantiker. Beide bedeuten die Ver werfung der mechanischen, analytischen und abstrakten Verfahren des atomistischen Rationalismus. Anstatt die Dinge in selbstgenügsame Atome zu zerlegen, sie auf die gleiche Ebene zu stellen und dann zu mechanischen Zusammensetzungen zu verbinden, empfindet die deutsche Romantik auf das Lebhafteste die organische Totalität der Wirklichkeit, die alle ungleichartigen Erscheinungen, widerspruchsvollen Gefühle und Spannungen zu einem pulsierenden Leben verschmilzt.

44 45

Maistre, Une Politique expérimentale, S. 282; ders., Considérations sur la France, S. 133. Maistre, Étude sur la souveraineté, S. 377; ders., La Philosophie de Bacon, S. 264 f.

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Die gesamte Wirklichkeit wird als ein unendlicher Komplex kleiner lebendiger Totalitäten gesehen, jede mit ihrem besonderen Geist, ihrer Eigentümlichkeit, und alle in ein einziges großes Leben einfließend. Nichts steht allein und für sich. Der Mensch besitzt Dinge, aber mehr noch ergreifen sie von ihm Besitz. Es gibt eine schreckliche Verknüpfung von ineinandergreifenden und einander sich überdeckenden Inhalten. Die ersten Gegebenheiten sind nicht individuelle Menschen, sondern Kräfte, Inhalte, Gemeinschaften, Sippen, Brauch, Interessen, Gruppen, Beziehungen. Wir sollten uns zu ihnen nicht wie ein zergliedernder Analytiker verhalten, sondern liebevoll aufnahmebereit und intuitiv eingehend auf den eigentümlichen Geist, die ausweichende, schwer greifbare Beschaffenheit jedes einzelnen Komplexes von Dingen. Der Selbstausdruck wird in der Hingabe an sie gefunden. Daher die Verherrlichung von Genossenschaftsgeist, mittelalterlichem Zunftwesen, Feudalordnung, Familie und Freundschaft, bis zur Forderung eines Gesetzes, das den unteren Ständen verbieten soll, höhere Bildung zu erwerben und dadurch aufzusteigen und die feudale Hierarchie zu durchbrechen. Der leidenschaftliche Widerstand aller Konterrevolutionäre gegen eine geschriebene Verfassung war in ihrer Ver werfung der Idee von der schöpferischen Kraft des Menschen begründet. Eine Verfassung niederzuschreiben hieße, die Doktrin des Gesellschaftsvertrags anzunehmen, die Vorstellung, dass Menschen bewusst eine Gesellschaft gestalten, anstatt dass die Gesellschaft die Menschen formt. Für die Ultramontanen sowohl wie für Burke bedeutete es die Einschränkung der Idee vom Staate als einer Gemeinschaft in allen Dingen zu einem dürftigen Gefüge abstrakter juristischer Beziehungen. Die Geschichte einer Nation ist ihre Verfassung. Die Verfassung einer Nation liegt in der Fülle all der Kräfte von Sitten und Gebräuchen, Vorurteilen, Instinkten, kurz : in dem Temperament einer Nation.46 Es ist grotesk, dass eine Nation mit einer Geschichte von 1300 Jahren nach einer geschriebenen Verfassung verlangt. Das ist dasselbe, wie wenn ein Patient seinen Arzt um ein Temperament bäte.47 Verglichen mit dem Reichtum und der Einzigartigkeit nationalen Lebens kann eine geschriebene Verfassung mit ihrer stereotypen Phraseologie niemals mehr sein als eine Beschreibung in Worten oder eine gesetzliche Verkündung dessen, was bereits seit sehr langer Zeit bestanden hat, ohne in Worten niedergelegt und definiert worden zu sein.48 Tatsächlich entstanden große

46 47 48

Vgl. Maistre, Considerations sur la France, S. 75–82; ders., Une Politique expérimentale, S. 166–173; Bourget / Salomon ( Hg.), Bonald, S. 131–134, 136, 138 f., 156. Vgl. Bourget / Salomon ( Hg.), Bonald, S. 111, 135. Vgl. Maistre, Essai sur le principe générateur, S. 244, 265; ders., Considerations sur la France, S. 75–82; Bourget / Salomon ( Hg.), Bonald, S. 136, 138 f.

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Verfassungsgesetze wie die Magna Charta und die verschiedenen Freiheitsurkunden ( Burke pflegte insbesondere 1688/89 her vorzuheben ) nicht, weil ihre Verfasser gänzlich neue Prinzipien verkünden wollten, sondern weil sie fanden, dass die guten alten bestehenden Gesetze, die das spezielle Erbgut ihrer Nation, und dieser Nation allein, waren, verletzt wurden und eine erneute Feststellung der ererbten Rechte und Vorrechte erforderlich war. Der letzte und in Wahrheit einzige Prüfstein sozialer Systeme und Gesetze ist Dauerhaftigkeit und Kontinuität und nicht abstrakte Vernunftgemäßheit : Beweis – das Schicksal der Verfassung von 1789 und derer, die ihr folgten. Der Allgemeine Wille eines Volkes drückt sich nicht in den Ergebnissen einer in einer Nationalversammlung abgehaltenen öffentlichen Beratung aus, sondern in dem niemals ausdrücklich erklärten und nur historisch dokumentierten Willen, eine bestimmte Lebensform zu bewahren.49 In Wahrheit ist es eine Ironie des Schicksals, in welcher Weise die Geschichte dem planenden und beschließenden Verstand Streiche spielt. Die Ergebnisse sind so seltsam verschieden von den Absichten. De Maistre ist bereit, eine Wette einzugehen, dass entgegen dem Beschluss des amerikanischen Volkes, eine neue Hauptstadt, Washington, D. C., zu erbauen, die zukünftige Hauptstadt der Vereinigten Staaten ganz gewiss nicht in Washington sein werde.50

4. „So will ich es“ Wenn der Mensch unfähig ist, sein eigener Gesetzgeber zu sein, wenn er niemals sich selbst gehorchen und immer jede Form des Zusammenschlusses durchbrechen wird, dann erlangt die Frage der Souveränität höchste Bedeutung. Es muss jemand da sein, der sagen kann : „So will ich es“ – und der die Macht hat, Zwangsmittel anzuwenden. Tatsächlich – so sagen unsere Ultramontanen – ist eine Regierung niemals durch Vertrag oder gegenseitiges Übereinkommen gebildet worden. Ein Konglomerat von Menschen hat sich entweder langsam, schrittweise und fast unmerklich zu einem Staat entwickelt, oder es war auf einmal da und ist deshalb plötzlich zu einem Staat geworden, weil in einer Stunde der Krise und Gefahr ein Führer auftauchte. Sein erfinderischer Geist, seine Energie und sein Führertalent bewirken, dass alle anderen sich um ihn scharen und ihm gehorchen. Menschen gleiten unmerklich in das Verhältnis von Führer und Geführten. Solche Führer sind niemals Männer der Idee oder der Feder, son49 50

Vgl. Maistre, Considerations sur la France, S. 75–82; Bourget / Salomon ( Hg.), Bonald, S. 140 f. Vgl. Maistre, Une Politique expérimentale, S. 172 f.

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dern Männer des Instinkts und der Kraft, mit einem ungehemmten Drang zur Führerschaft. Der Führer zieht sich natürlich eine Hierarchie von Unterführern heran. Sie zusammen schaffen ein Volk. Nicht ein Volk wählt einen Führer, sondern Führer schaffen ein Volk. Die souveräne Nation leistet nicht ihren Führern Gefolgschaft auf Widerruf; eine Nation kristallisiert sich um das Souveränitätsprinzip herum.51 Eine Vielheit von Menschen ist nichts als Staub. Sie wird erst dann zu einer Nation, wenn Führer – ein König und eine Aristokratie – die Formen und Wege dazu schaffen und den Menschenstaub zu einer zusammenhängenden Gesellschaft machen. In Wahrheit sind die Führer die Nation, denn sie machen ihre Geschichte. Die ungeformte ursprüngliche Masse ist nichts als Ton in des Schöpfers Hand. Nation heißt Geschichte. So lautet die Version des nationalistischen rechten Flügels in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, im Gegensatz zu der demokratisch - revolutionären Auffassung der Mazzini - Schule.52 „Macht“ – sagt Bonald – „besteht vor aller Gesellschaft, denn Macht bildet die Gesellschaft; eine Gesellschaft ohne Macht, ohne Gesetz, könnte sich niemals bilden.“53 „Das Wort Volk ist“ – gemäß de Maistre – „ein relativer Begriff, der keinen Sinn hat, wenn er von der Idee der Souveränität getrennt wird; denn die Idee eines Volkes ruft die Idee eines Aggregats um einen gemeinsamen Mittelpunkt herum wach, und ohne Souveränität gibt es kein Ganzes und keine politische Einheit“,54 „die Masse des Volkes zählt nichts in allen politischen Schöpfungen“.55 Außerdem ist es absolut wesentlich, dass dem Volke alle Autorität als von oben und außen kommend erscheint. Es ist nicht wahr, dass das Volk einer Regierung seiner eigenen Wahl gehorchen wird. Im Gegenteil, es wird nur einer solchen Regierung gehorchen, die es nicht selbst gemacht hat. „Es wird sich einer souveränen Macht beugen, weil es in ihr etwas Heiliges sieht, das das Volk weder schaffen noch zerstören kann.“56 Wenn ein Volk dieses Gefühl der Ehrfurcht vor der Autorität verliert und anfängt, sich selbst en masse zur Reformierung des Staates berufen zu fühlen, dann ist alles verloren. Der Erhaltungstrieb weicht dann den verderblichen Tendenzen perfider, zentrifugaler Zersetzung. Darum ist es sogar in sogenannten freien Staaten wichtig, dass die 51 52 53 54 55 56

Vgl. Maistre, Considerations sur la France, S. 75–82; Bourget / Salomon ( Hg.), Bonald, S. 116–122; Maistre, Une Politique expérimentale, S. 153–160, 196–199. Vgl. Maistre, Une Politique expérimentale, S. 211–213, 218. Bourget / Salomon ( Hg.), Bonald, S. 212. Maistre, Étude sur la souveraineté, S. 324. Ebd., S. 354. Ebd.

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regierende Schicht von der breiten Masse des Volkes durch Geburt oder Reichtum geschieden sei.57 Das gewöhnliche Volk muss fühlen, dass die Macht außerhalb seiner Reichweite ist. Wenn es anfängt, sich der kleinen regierenden Klasse gleichzudünken, kommt alle Regierung zu einem Ende. „Und darum ist die Aristokratie souverän und ihrem Wesen nach die regierende Klasse : und die Prinzipien der Französischen Revolution sind ein Frontalangriff auf die ewigen Naturgesetze“58 – schließt de Maistre. Diejenigen, die dem Volk einflüstern, es sei souverän – sagt de Bonald –, sind wie die Schlange, die zu Eva sprach. Anstatt ihr Augenmerk auf das Licht und die Annehmlichkeit ihres privaten Glücks und auf die Pflichten zu lenken, die mit ihrem bescheidenen Stand verbunden sind, werden sie unzufrieden wegen ihrer angeblichen Minder wertigkeit.59 Dieser notwendige und unvermeidliche bescheidene Stand, ohne den keine Gesellschaft möglich ist, beginnt ihnen als Elend und Unterdrückung zu erscheinen. „Seine Unwissenheit hat es behalten, aber seine Einfachheit verloren. Es war glücklich, solange es Untertan war, doch als Souverän findet es sich arm und nackt. Alles Glück ist dann für es vorüber; aus der Ordnung vertrieben, wie Adam aus dem irdischen Paradies, tritt es eine lange Laufbahn von Revolutionen und Unheil an.“60 Die souveräne Macht muss nicht nur von außen und von oben auferlegt werden, sie muss auch einzig und unteilbar sein. In dieser Beziehung ver warfen die konterrevolutionären Denker des frühen neunzehnten Jahrhunderts den liberalen Konser vatismus solcher Denker wie Montesquieu und Burke. Während der Letztere die erblichen Vorrechte guthieß als Bollwerk der Freiheit gegen den königlichen Absolutismus – sie spielten für ihn die Rolle mächtiger Eichen, deren Macht nicht von königlicher Gnade abgeleitet ist und in deren Schatten die Massen vor Anschlägen von asiatischem Despotismus geschützt sind –, waren die Legitimisten zu sehr beeindruckt von den Folgen der Ideen von 1789 über die Teilung der Gewalten, als dass sie irgendwelche Theorien über checks and balances vertreten hätten. Wie die Jakobiner predigten sie eine Form der Regierung, die einzig und unteilbar sei. Die Ersteren sahen in ihr eine Waffe der Not gegen die Konterrevolution, die Ultramontanen hingegen einen Ausnahmezustand gegen die dauernde Revolutionsgefahr. Wird die Macht geteilt, so wird allen zentrifugalen Kräften der Anarchie und Rebellion freier Lauf gelassen. Es muss eine einzige Quelle der Macht geben, einen einzigen lenkenden Willen.

57 58 59 60

Vgl. ebd., S. 355. Ebd. Vgl. Bourget / Salomon ( Hg.), Bonald, S. 242. Ebd., S. 242.

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Es widerspricht dem eigentlichen Wesen der Souveränität, wenn die souveräne Macht noch der Zustimmung von Hilfsgewalten bedarf, um zu handeln. Sie ist dann nicht mehr unabhängig, da sie Teilhaber hat; sie ist nicht mehr die höchste Gewalt, da es Gewalten gibt, die ihr den Gehorsam versagen können und sich so in eine Stellung der Überlegenheit versetzen. „Jede Art Souveränität“ – sagt de Maistre – „ist von Natur absolut; ob ihr sie in die Hände eines Einzelnen oder in die mehrerer gebt, auch wenn ihr sie teilt. Ihr mögt sie organisieren, wie immer ihr wollt : Stets wird es in letzter Analyse eine absolute Macht geben, die ungestraft Böses tun kann und daher despotisch ist [...] und gegen die es keine andere Wehr geben wird als Aufstand.“61 In ähnlichen Ausdrücken behauptet Bonald, wenn wir uns einmal „von der einfachen und wahren Idee der Einheit und Unteilbarkeit der Macht“ entfernen, verlieren wir uns in den „mühsamen Kombinationen der Teilung und des Gleichgewichts der Gewalten; [...] Einheit des Handelns, [...] Wollens, [...] Planens. [...] Jede wohlkonstituierte Macht, ich will sagen eine auf natürlichen, rationalen, legitimen Gesetzen begründete, muss unabhängig von Menschen und folglich absolut sein, und sie ist es in der Tat.“62 Es war nicht leicht für die Verfechter von Feudalismus und Feudalrechten, plötzlich zu Anhängern eines in einem einzigen Herrscher verkörperten extremen Zentralismus zu werden. Zwei entgegengesetzte Haltungen werden in dieser Beziehung von de Maistre und Haller eingenommen. De Maistre, der in seinem Herzen nach Rom tendierte, ein Spross der noblesse de robe und nicht des Landadels war und uns in manchem seltsam modern anmutet, empfand eine heimliche Bewunderung für den verzweifelten Kampf der Jakobiner um die République une et indivisible. Sie erschienen ihm zwar verbrecherisch und verderbt, jedoch als Werkzeuge der Vorsehung und als Testamentsvollstrecker der französischen Geschichte. Er konnte nur schwer seine Verachtung für die französischen Emigranten verbergen, die in den Reihen der überkommenen Feinde Frankreichs gegen die Unantastbarkeit und Unteilbarkeit ihres eigenen Landes kämpften. Hieran lässt sich der Umfang der tiefen Ambivalenz ermessen, die diese seltsam poetische und gemarterte, vom Mysterium des Bösen geplagte Seele formte. Für de Maistre waren die Stände des Feudalsystems unter dem König nicht Klassen mit angeborenen Menschenrechten und zu ihrem Stand gehörigen Vorrechten, die selbst der König als gegeben hinnehmen musste, sondern eher – wie für Friedrich den Großen – wohl eingerichtete, symmetrisch angeordnete und spezialisierte Werkzeuge zur Verfügung des einzigen souveränen Wil61 62

Maistre, Une Politique expérimentale, S. 193. Zum Thema Souveränität vgl. auch ders., Étude sur la souveraineté, Kapitel I., S. 311–314. Bourget / Salomon ( Hg.), Bonald, S. 219, 221.

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lens – zum Beten, Kriegführen, Handeltreiben, zur Bearbeitung des Bodens und zur Verrichtung der niederen Arbeiten. Oder mit den Worten Bonalds : „Die Macht ist ein Wesen, dessen Wollen und Tun auf die Erhaltung der Gesellschaft gerichtet ist. Ihr Wille heißt Gesetz und ihr Handeln Regierung. Sie will allein ( par lui - même ), sie handelt durch ihre Minister, die dazu da sind, ihr Informationen zu geben und ihre Handlungen zum allgemeinen Vorteil der Untertanen auszuführen.“63 Absolutisten haben niemals Spielraum gelassen für irgendetwas wie Niemandsland. Es gibt entweder einen einzigen obersten und ausschließlichen Willen oder Anarchie. Haller war besessen von der Idee der Gewalt als der einzigen natürlichen Sanktion in der Politik, doch dem Begriff des abstrakten, zentralisierten Staates stand er äußerst feindselig gegenüber. Der grimmige Reaktionär, für den alles, was seit der Renaissance geschehen war, Anathema und geradezu Wahnsinn und Verderbtheit darstellte, betrachtete alle Ideen des Naturrechts, der Menschenrechte, des Gesellschaftsvertrags, der Volkssouveränität, des Systems von checks and balances, der geschriebenen Verfassung und sogar des erleuchteten Despotismus als die direkte Negation der Gesetze von Natur und Vernunft. Die wichtigste Tatsache in der Welt war, dass Gott die einen stärker, die anderen schwächer gemacht hat. Die Stärkeren sind imstande, Hilfe zu leisten und Schutz zu gewähren, und die Schwächeren brauchen Verteidigung und Stütze. Das ist die natürlichste, universale Beziehung. Es ist Unsinn, sich über Gewalt und Zwang aufzuregen. Für die Schwachen ist es ein Vorteil, von den Starken beschirmt zu werden. Dieselbe Beziehung geht durch alle gesellschaftlichen Abmachungen hindurch; sie fand ihre augenfällige und ideale Verkörperung im mittelalterlichen System von Lehnsherren und Vasallen. Die Lehren über abstraktes Recht und abstrakte Beziehungen, die durch solche unpersönlichen Institutionen wie Staat, Ideologie oder Partei hergestellt werden, sind nichts als Trug und Falschheit. Nicht nur fühlt sich der in mittelalterlichen Paternalismus vernarrte schweizerische Patrizier nicht von den Begriffen der Nation und des Volksgeistes angezogen, sondern seine Lehre wird durch sein beharrliches Bestehen auf dem einen absoluten und universalen Kriterium zu einer invertierten Naturrechtstheorie. Die Gesellschaft ist für ihn nichts als ein loser Komplex privater Bande des Schutzes und der Unter werfung. Dem modernen Begriff des Staates als einer Kollektivpersönlichkeit mit einem einzigen Willen scheint der Boden entzogen.

63

Ebd., S. 209. Vgl. auch ebd., S. 22–25.

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5. Anlehnung und Verankerung Die aus der Revolution zu ziehende Lehre von dem Schiffbruch einer von ihrer Vertauung losgerissenen Gesellschaft hatte sich den ultramontanen Konterrevolutionären tief eingeprägt und sie mit dem verzweifelten Wunsch erfüllt, einen Anker zu finden. Religion und Tradition, ihr eigener historischer Rang, auf altüberkommenen Privilegien basierend, waren dazu geeignet, in ihnen a priori eine beinahe instinktive Ehrfurcht vor historischer Kontinuität zu erzeugen. Die Französische Revolution oder Revolution überhaupt konnte in dem System der Geschichte keinen Platz finden. Revolution schien der ganzen Geschichte und aller natürlichen Ordnung der Dinge ins Gesicht zu schlagen. Das erzeugte einerseits eine sehr oberflächliche Auffassung von dem Phänomen der Revolution – sie sei nichts als menschlicher Dünkel und Stolz und habe keine Wurzeln in der Geschichte; doch andererseits entstanden tiefschürfende und sogar ergreifende Betrachtungen über das Problem des Bösen, historische Notwendigkeit und die Stellung des Menschen. Was ist die natürliche Ordnung einer Gesellschaft, von der abzuweichen mit solch schrecklichen Gefahren verbunden ist ? Wo ist die Macht, die die widerspenstigen Menschen in Schach und die stets drohende Flut hinter Deichen halten kann ? Die Argumentation der Ultramontanen vollzieht sich auf mehreren Ebenen, die sie – allerdings nicht ohne beträchtliche Schwierigkeiten – auf dasselbe Niveau zu bringen versuchen. Da ist die Ebene des reinen Empirismus; da ist die naturalistische Hinwendung zur Tatsache der Gewalt; da ist die scholastische Folgerung aus irgendwelchen angeblichen Gesetzen der Logik und Natur; da ist die Apotheose des Volksgeistes; da ist das fromme Erschauern beim Gedanken an eine Welt, deren Weisen von Gott gewollt sein müssen und nur in der christlichen Offenbarung und Tradition verkörpert sein können. In allen Argumenten erscheint die Anrufung der letzten religiösen Sanktion unausweichlich. „Politik ist wie Physik“ – sagt de Maistre –, „es gibt nur eine Art, die gut ist: experimentelle Politik.“64 Jede Nation hat ihr eigenes Regierungssystem, so wie sie eine eigene Sprache und einen eigenen Charakter hat. „Bei den Gegebenheiten von Bevölkerung, Sitten und Gebräuchen, Religion, geographischer Lage, politischen Beziehungen, guten und schlechten Eigenschaften einer Nation ist es die Aufgabe des Gesetzgebers, Gesetze zu finden, die zu ihnen 64

Maistre, Une Politique expérimentale, S. 147. A. d. Hg. : Korrekt muss es heißen : „L’histoire est la politique expérimentale, c’est - à - dire la seule bonne; et comme, dans la physique, cent volumes de théories spéculatives disparaissent devant une seule expérience, de même, dans la science politique, nul système ne peut être admis s’il n’est pas le corollaire plus ou moins probable de faits bien attestés.“

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passen.“65 Es ist schwer einzusehen, in welcher Weise uns dies weiterbringt; ein gutes Beispiel für eine petitio principii. De Maistre weigert sich gelegentlich sogar zuzugeben, dass es eine menschliche Natur als solche gibt. Nur die Geschichte sollte über den Charakter einer gegebenen Nation befragt werden. Keine apriorische Beweisführung verdient, gehört zu werden. Als letzter Scholastiker ( mit Ausnahme von Karl Marx ) verkündet Bonald, der bestreitet, ein eigenes System zu haben : „Hier ist das System der Natur in der Organisation politischer Gesellschaften, wie sie sich aus der Geschichte dieser Gesellschaften ergibt.“66 Bei aller Hinwendung zur Geschichte kann er nicht auf die Hinwendung zur Natur verzichten, in der Annahme, dass die Geschichte letzten Endes die Entfaltung der natürlichen Potentialitäten im aristotelischen Sinne sei. Er spricht von der „nature des êtres“, die nicht ohne Gefahr verletzt oder entstellt werden könne.67 Er spricht gleichzeitig von der „Lebenserfahrung als Grundlage jeder guten Art des Philosophierens“.68 Bonald macht häufigen Gebrauch vom Rousseau’schen Begriff des Allgemeinen Willens. Aber er setzt ihn der Natur gleich, der natürlichen Verfassung einerseits und dem implizierten Willen einer Gesellschaft, eine bestimmte Lebensweise, ihre eigene natürliche Konstitution durchzusetzen, andererseits.69 „Die Natur sollte die einzige gesetzgebende Macht der Gesellschaften sein, [...] und Könige sind nicht mehr als Sekretäre der Natur, die das Diktat der Natur registrieren“,70 althergebrachte Gebräuche neu definieren und die Bedürfnisse, die die Natur zu gegebener Zeit zu entwickeln beliebt, zu befriedigen. Wenn die Natur einer Gesellschaft, ebenso wie die eines Menschen oder irgendeines anderen Wesens, Tier oder Pflanze, die vollständige Entfaltung und Entwicklung dessen ist, was in ihm steckt, dann ist der Allgemeine Wille einer Gesellschaft der implizierte Wille, ihre inneren Möglichkeiten bis zum Letzten zu ver wirklichen, einschließlich des Wollens der Mittel, die zu diesem Ziel führen. „In einer politischen Gesellschaft als einem Gemeinwesen ist der Allgemeine Wille derjenige Wille oder diejenige Tendenz, die jedes Wesen hat, das Ziel zu erreichen, für das es geschaffen ist; ein Wille oder eine Tendenz, die zusammen mit den Mitteln zur Erreichung dieses Ziels die Natur dieses Wesens darstellt.“71 Diese natürliche Konstitution, gegen die verderbter individueller Wille sich in ständiger Rebellion befinden kann, ist nicht eine Angelegenheit der Abstim65 66 67 68 69 70 71

Maistre, Considerations sur la France, S. 82. Bourget / Salomon ( Hg.), Bonald, S. 56 f. Vgl. ebd., S. 32–38. Ebd., S. 56. Vgl. ebd., S. 123–131. Ebd., S. 140. Ebd., S. 141.

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mung, der Majorität oder Minorität, oder überhaupt einer ausdrücklichen Feststellung. Ein konservativer Schluss folgt auf eine Rousseau’sche Prämisse : „La volonté générale, ou la volonté du corps social, est essentiellement droite, puisqu’elle n’est autre chose que la nature ou la tendance naturelle d’un être à remplir sa fin. [...] Conservatrice, agissante par l’amour.“72 Solange die natürliche Konstitution ( oder der Allgemeine Wille ) reibungslos funktioniert, herrscht Stabilität und Gesundheit in einer Gesellschaft; wird sie durch verderbliche Einflüsse gestört, ist das Ergebnis Schwäche und Unruhe jeder Art. „Zeit und Geschehnisse haben diese Wahrheiten zum Reifen gebracht.“73 Bonald macht hier die Unterscheidung zwischen Gesellschaften, die „constituées“ sind, und solchen, die es nicht sind, die keine „in der Natur ihres Wesens begründeten [...] notwendigen [...] Grundgesetze“ haben, sondern „veränderlich, mangelhaft, [...] absurd und pueril“ sind.74 Kurzum, es gibt gesunde und es gibt kranke Gesellschaften. Wie ist die Beziehung zwischen dieser objektiven Natürlichen Ordnung der Gesellschaft und dem Wollen und der Spontaneität des Menschen ? Wir sollten so passiv wie möglich sein, in der Tat quietistisch. Die Menschen sollten „sich dem Ablauf der Zeit und dem unwiderstehlichen Lauf der Dinge hingeben, ohne sie durch ihre überstürzten Handlungen zu stören [...]. Sprecht mir nicht von Menschen oder ihren Motiven, die Natur ver wendet sie zu ihren eigenen Zwecken; haltet mir keine gegenteiligen Tatsachen vor, die Natur biegt sie für ihre eigenen Absichten zurecht; kommt mir nicht mit Daten, die Natur kennt keine Epochen in ihrem Wirken.“75 Was ist mit dem Anspruch der Freiheit ? Bonald verurteilt Rousseau, weil er Beherrschungswillen mit Freiheit ver wechselt habe und Unruhe mit Kraft, Agitation für Bewegung gehalten und Rastlosigkeit als Unabhängigkeit bezeichnet habe.76 Eine Volksregierung bedeutet Unbeständigkeit einführen und Unordnung anbefehlen. Es gibt tatsächlich einen ständigen, offenen oder latenten Kampf zwischen dem verderbten Partikular willen des Menschen und den notwendigen Gesetzen und Beziehungen in einer Gesellschaft.77 „Über neue Ideen sollte eine Quarantäne verhängt werden, bevor man sie zur Gesellschaft zulässt.“78 Nichts ist wichtiger als eine Zensur über Bücher 72 73 74 75 76 77

78

Ebd., S. 131, 143. Ebd., S. 134 ( Zitat ), 142. Ebd., S. 127 ( Zitat ), 128–130, 133. Ebd., S. 146, 148. Vgl. ebd., S. 75 f. Vgl. ebd., S. 134 f. : „Il y a des lois pour la société des fourmis et pour celle des abeilles; comment a - t - on pu penser qu’il n’y en avait pas pour la société des hommes, et qu’elle était livrée au hasard de leurs inventions ?“ Ebd. S. 163.

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und vor allem über die Presse. Ideen sind das Dynamit des Anarchisten und des Verderbten. Es wird eine besondere Genehmigung benötigt zum Besitz von Waffen. Warum gibt es keine zur Ver wendung geistiger Waffen ?79 Es kann beinah als selbstverständlich angenommen werden, dass neue Ideen irrig sind, denn „Wahrheit, so sehr sie auch von den Menschen vergessen sein mag, ist niemals neu“,80 sagt Bonald. Die Wahrheit ist seit jeher mit uns. Der Irrtum ist neu, er hat keine Ahnenschaft und schmeichelt daher seinem ehebrecherischen Erzeuger. Es ist alles schön und gut, wenn man freie Diskussion über die Physik erlaubt, da das wenig Unheil anrichten kann. Doch alles ist verloren, wenn die fundamentalen Glaubenssätze einer Gesellschaft zum Gegenstand der Diskussion, der Kritik und der pietätlosen Spötterei gemacht werden. Die Gesellschaft wird wieder zu Chaos, wenn der Einzelne sich in „einen Aufstand gegen die Gesellschaft“ versetzt, indem er „sich, dem einzelnen Individuum, das Recht anmaßt, die Allgemeinheit zu richten und zu reformieren, und danach strebt, die universale Vernunft abzusetzen, um seine eigene partikulare Vernunft auf den Thron zu heben“.81 Wenn jeder sich zum Richter über die Prinzipien der Regierung einsetzen wollte, würde daraus Anarchie und die Zerstörung der politischen Souveränität folgen. „Regieren ist eine richtige Religion : es hat seine Dogmen, seine Mysterien, seine Priesterschaft; es zu vernichten oder zur Diskussion durch jedermann zuzulassen, läuft auf dasselbe hinaus; es lebt nur auf Grund der nationalen Vernunft, das heißt des politischen Glaubens [...]. Die erste Notwendigkeit des Menschen ist, dass seine entstehende Vernunft durch ein doppeltes Joch gebändigt werde, das heißt, dass sie sich selbst vernichtet, das heißt, dass sie mit der nationalen Vernunft verschmilzt und in ihr aufgeht, damit sie ihre individuelle Existenz gegen eine andere gemeinsame Existenz vertauscht, wie ein Fluss, der sich in den Ozean ergießt.“82 Je umfangreicher die Beratung und je größer die Zahl der Menschen, die versuchen, eine Verfassung zusammenzubrauen, desto gebrechlicher wird das Produkt.83 Letzten Endes ist die natürliche Verfassung eines Staates unzerstörbar. Sie kann heftig erschüttert werden, aber am Ende wird sie die Krise über winden. Und es mag sich dann ergeben, dass sogar die Krise einen notwendigen Platz in der Ordnung der Dinge hatte, was dasselbe bedeutet wie zu sagen, man kann der Vorsehung nicht trotzen. Denn Gott hält uns an einer langen Kette. Die Freiheit, die die Länge der Kette uns erlaubt, gibt uns manchmal eine Illusion

79 80 81 82 83

Vgl. ebd., S. 252–260. Ebd., S. 162. Ebd., S. 161, 174. Maistre, Étude sur la souveraineté, S. 376. Vgl. Maistre, Une Politique expérimentale, S. 170.

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von unbegrenzter Freiheit. Es ist nutzlos und in der Tat gefährlich zu versuchen, sich gänzlich loszureißen, so als ob die Planeten sich von ihrer Bahn losreißen würden. In dem Universalplan Gottes ist scheinbare Unordnung ein Teil einer umfassenden Ordnung, die zu einem Endziel hinstrebt. Unheil ist Strafe, Leiden ist eine Art der Sühne, und Heimsuchung führt zur Läuterung.84 „Il n’y a point de hasard dans le monde, et même dans un sens secondaire, il n’y a point de désordre, en ce que le désordre est ordonné par une main souveraine qui le plie à la règle et le force de concourir au but.“85 Es genügt nicht, sich wie Efeu an die überlieferte Ordnung zu klammern, es besteht die Notwendigkeit, sich in einem Felsen zu verankern. Hingabe genügt nicht, es ist Gewissheit nötig. „Die Französische Revolution [...] hat eine neue Weise der Berücksichtigung der Politik in der Religion und der Religion in der Politik geboren. [...] In Wahrheit besteht nur eine einzige Konstitution der politischen Gesellschaft und nur eine einzige Konstitution der religiösen Gesellschaft.“86 Die Vereinigung der beiden ergibt die bürgerliche Gesellschaft. Bonald sagt, er unterstellt den Teil seiner Arbeit, der sich mit der Religion beschäftigt, der Autorität der Kirche, geradeso wie er ihren politischen Teil der Autorität der Tatsachen unterstellt. Gott offenbart sich in der religiösen Verkündung und in der Kirche und Er offenbart sich in der Geschichte.87 Letztlich kann es nur eine Sanktion und ein Kriterium absoluter Sicherheit geben – Gott. Die Ansprüche der autonomen Vernunft sind nichts als Blasphemie und der Wille, sie anderen aufzuzwingen – nackte Gewalt. „Der Mensch vermag über den Menschen nichts, es sei denn durch Gott, und er schuldet dem Menschen nichts, sondern nur Gott. Keine andere Doktrin gibt der Macht eine Grundlage oder der Pflicht ein Motiv.“ Jede andere Doktrin „zerstört die Gesellschaft, da sie die Macht nur zum Vertrag stempelt, der nach Belieben widerrufen werden kann. Sie erniedrigt den Menschen, indem sie seinen Pflichten den Charakter eines geschäftlichen Abkommens zwischen persönlichen Interessen gibt.“88 Kein Gott, kein Ideal; nichts als Selbstsucht und Herrschaft der Gewalt. Von diesem Gesichtspunkt aus ist demokratische, durch Mehrheit verkörperte Volkssouveränität nicht lediglich atheistisch, sondern die erniedrigendste, tyrannischste und anarchischste Regierungsform. Sie bedeutet die Unter werfung von Menschen unter Menschen, die Unter werfung einiger unter den eigenmächtigen, verderbten und

84 85 86 87 88

Vgl. ebd., S. 257; Bourget / Salomon ( Hg.), Bonald, S. 142. Maistre, Une Politique expérimentale, S. 60 f. Bourget / Salomon ( Hg.), Bonald, S. 99, 133. Vgl. ebd., S. 55. Ebd., S. 28.

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selbstsüchtigen Willen der anderen, der sich als Vernunft oder als Gemeinwohl ausgibt.89 Denn wenn man erst die Basis des Gottesgesetzes, dieses kategorischen Infinitivs, der alle in gleicher Weise und in gleichem Ausmaß bindet, entfernt, dann wird das Gesetz einfach zu einem Werkzeug der Gewalt in den Händen der Herrscher, eigenwilliger Menschen. Und so „gibt es in einer Demokratie Freiheit nur in Worten, doch Knechtschaft in Wirklichkeit.“90 Sie ist eine Tyrannei der Schwachen, denn sie ist eine Herrschaft, die von Volksleidenschaften und jeder Art von Ängsten und Beunruhigungen hin und her geworfen wird, sagt de Bonald.91 Nach de Maistre haben wirkliche Gesetzgeber immer eingesehen, dass der menschliche Verstand nicht auf sich allein gestellt und keine rein menschliche Institution von Dauer sein könne.92 Deshalb durchsetzten sie die Politik mit Religion, „damit die menschliche Schwäche durch übernatürliche Stützen gestärkt werde [...]. Die Politik wird vergöttlicht ( divinisée ), damit die menschliche Vernunft durch die Überlegenheit der Religion erdrückt wird und nicht imstande ist, das zersetzende und verderbliche Gift unbemerkt in die Sphäre der Regierungskompetenz hineinzutragen; damit der Bürger zu einem Getreuen werde, dessen Anhängerschaft zu Gläubigkeit und dessen Gehorsam zu Begeisterung und Fanatismus erhoben wird. Die großen politischen Institutionen sind in dem Ausmaß vollkommen und dauerhaft, in dem die Verbindung von Politik und Religion in ihnen ver vollkommnet worden ist.“93 In diesem Zusammenhang beschwört de Maistre das großartige Bild herauf, wie „jene Nation von fünf oder sechs Millionen, die auf den nackten Felsen von Judäa sitzt, der stolzeste Staat in dem stolzen Asien, allen Stößen standhält, die eine zehnmal zahlreichere Nation zu Staub gemacht hätten, dem Strom der Jahrhunderte, dem Schwert der Eroberer und dem Hass der Völker trotzt, durch seinen Widerstand die Herren der Welt in Erstaunen versetzt und schließlich alle erobernden Nationen überlebt und noch nach vier Jahrtausenden seine kläglichen Überreste den Augen des überraschten Beobachters zeigt“.94 Die Rationalisten riefen die Volkssouveränität gegen den königlichen Despotismus an. Doch das Heilmittel ist unendlich viel schlimmer als die Krankheit. Es ist, als ob man ein Haus mitten in einem reißenden Strom erbaute, um sich vor Feuer zu schützen.95 Indessen lässt sich nicht verhehlen, dass 89 90 91 92 93 94 95

Vgl. ebd., S. 226. Ebd., S. 240. Vgl. ebd., S. 240 f. Vgl. Maistre, Étude sur la souveraineté, Kapitel IV, V, VI, S. 325–341. Ebd., S. 361. Ebd., S. 377 f. Vgl. Bourget / Salomon ( Hg.), Bonald, S. 224.

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königlicher Despotismus etwas sehr Reales sein kann. Wir sind gefangen zwischen der Scylla der Volksanarchie und der Charybdis des monarchischen Despotismus; Abgründe auf beiden Seiten. Es kann nur einen Retter geben, den Papst, den natürlichen und von Gott eingesetzten Schiedsrichter zwischen den Nationen und Richter zwischen Herrschern und Untertanen. Es kommt nicht allein auf den doktrinären Aspekt der päpstlichen Unfehlbarkeit an. De Maistres leidenschaftliches Gefühl ist, dass der Papst unfehlbar sein muss, ja dass er als unfehlbar proklamiert werden müsste. Denn es muss eine letzte Autorität geben, die befiehlt und der gehorcht wird, einen letzten Richter, einen Anker in dem stürmischen Meer der modernen Geschichte.96

96

Vgl. Maistre, Du Pape, Buch 1, Kapitel 1 ( S. 17–25), Buch 2, Kapitel 2 ( S. 158–162); ders., Une Politique expérimentale, S. 293–297. Siehe auch Bourget / Salomon ( Hg.), Bonald, S. 142 : „Donc la volonté générale conser vatrice de la société religieuse constituée, et celle de la volonté politique constituée, ne font qu’une volonté générale qui est la volonté de Dieu.“

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II. Der Libe ra lis mus als Gegen spie ler des demo kra ti schen und sozia lis ti schen Mes sia nis mus 1. Der Wert der Freiheit ( Humboldt ) Von Wilhelm von Humboldt, der noch tief in der Atmosphäre des achtzehnten Jahrhunderts befangen ist, bis zu dem weit in das zwanzigste Jahrhundert vorausschauenden Tocqueville sind die Liberalen niemals wankend geworden in ihrem Glauben an die überragende Bedeutung der individuellen Freiheit als Grundbedingung für alles andere.97 Hellenisch heiter im Ausblick, sieht Humboldt in der Freiheit die Bedingung zur Erreichung des höchsten Zieles der Menschen – „die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen“, „gleichsam nur die Möglichkeit einer unbestimmt mannigfaltigen Tätigkeit“.98 Ihm ist ebenso wie Benjamin Constant die Sorge um die Erhaltung der Freiheit anziehender als ihr Genuss.99 Freiheit erscheint nicht als ein gesicherter Besitz, sondern eher als eine „edle Unruhe, die uns verfolgt und quält“100 und uns tatsächlich oft in Gegensatz zu anderen Menschen bringt. Alles Wertvolle kommt aus dem Innern des Menschen, und „das höchste Ideal des Zusammenexistierens menschlicher Wesen wäre mir dasjenige, in dem jedes nur aus sich 97

98 99 100

Quellen : Humboldt, Über die Grenzen; Constant, Cours de politique constitutionnelle (2 Bände ); ders., Œuvres politiques; Guizot, Mémoires pour ser vir à l’histoire de mon temps (8 Bände ); ders., Democracy in Modern Societies; ders., Democracy in France; ders., Histoire parlementaire de France (5 Bände ); Lamartine, La Politique de Lamartine (2 Bände ); ders., La France parlementaire (16 Bände ); Tocqueville, Œuvres complètes (9 Bände ); ders., Recollections; Sekundär werke: Barthou, Lamartine orateur; Bert, Lamartine; Eichthal, Alexis de Tocqueville; Federici, Der deutsche Liberalismus; Guillemin, Lamartine et la question sociale; Laski, The Rise of European Liberalism; Mayer, Tocqueville, Prophet of the Mass Age; Mitard, Origines du radicalisme; Pouthas, La Jeunesse de Guizot; ders., Guizot pendant la Restauration; Quentin - Bauchart, Lamartine : Homme politique; Ruggiero, The History of European Liberalism; Schieder, Das Verhältnis von politischer und gesellschaftlicher Verfassung; Sell, Die Tragödie des deutschen Liberalismus; Woodward, Three Studies in European Conser vatism. Humboldt, Über die Grenzen, S. 19, 27. Vgl. Michel, L’Idée de l’État, S. 302; Constant, Cours de politique constitutionelle, Band 1, S. 283 f., 346–356. Constant, Cours de politique constitutionnelle, Band 2, S. 559; Michel, L’Idée de l’État, S. 313.

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selbst und um seiner selbst willen sich entwickelte“.101 Humboldt glaubt fest an uneingeschränkten Individualismus, der im Kampf mit der rauen Natur aus dem Menschen das herausholt, was in ihm das Ursprünglichste ist. Er bedauert fast, dass zivilisierte Lebensbedingungen den Menschen vor fertige Dinge und in voraussagbare Sicherheit stellen. Tocquevilles Schriften aus dem neunzehnten Jahrhundert klingen weniger zuversichtlich und weniger aggressiv. „Ich betrachte die Freiheit“ – erklärt er mit einer gewissen Besorgnis – „als die erste aller Segnungen; ich sehe in ihr eine der fruchtbarsten Quellen männlicher Tugenden und großer Taten. Ich würde sie niemals um der Ruhe oder der Wohlfahrt willen aufgeben.“102 Den Drang nach Freiheit dürfe man nicht ver wechseln mit dem Hass gegen despotische Herren und den „Fluch der Abhängigkeit“, noch mit der Hoffnung auf die materiellen Vorteile, die Bequemlichkeit oder den Reichtum, die sie bringen mag.103 „Es ist zu allen Zeiten [...] die Anziehung der Freiheit selbst, ihre natürlichen Reize unabhängig von ihren Gaben – das Vergnügen, ungehindert sprechen, handeln und atmen zu können, unter keinem Herrn außer Gott und dem Gesetz. Wer in der Freiheit etwas anderes als sich selbst sucht, ist nur zum Dienen geeignet. [...] Eine so kostbare und so notwendige Gabe, dass nichts über den Verlust dessen trösten könnte, was über den Verlust alles anderen tröstet.“104 Vieles in Humboldts Jugendschrift Über die Grenzen der Wirksamkeit des Staates liest sich wie eine gegen den modernen Wohlfahrtsstaat gerichtete Abhandlung. Wenn das Hauptziel des Menschen Selbstver wirklichung durch autonome Tätigkeit und freies Eingehen auf die mannigfaltigsten Situationen ist, dann muss offensichtlich der Umfang der Staatsbetätigung auf das knappste Minimum beschränkt werden : die Erhaltung der öffentlichen Ruhe, oder negativer und daher genauer – die Verhinderung der Störung der öffentlichen Sicherheit. Der Staat sollte auf keinen Fall für die positive Wohlfahrt der Bürger sorgen, daher nicht einmal für ihr Leben und ihre Gesundheit, sondern nur für ihre Sicherheit. Der Staat kann kein kooperierender Faktor sein, denn er lässt sich nicht trennen von dem Element des Zwangs oder zumindest über wältigenden Drucks. Er kann daher im besten Falle nur hindern. Entsprechend seiner Natur als eine abstrakte Zentralgewalt kann der Staat nur nach Gleichförmig-

101 102 103 104

Humboldt, Über die Grenzen, S. 31. Tocqueville, Œuvres complètes, Band 6, S. 307; Mayer, Tocqueville, Prophet of the Mass Age, S. 126. Vgl. Tocqueville, Œuvres complètes, Band 4, S. 247; Mayer, Tocqueville, Prophet of the Mass Age, S. 132 f. Tocqueville, Œuvres complètes, Band 4, S. 248.

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Der Liberalismus als Gegenspieler

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keit streben. Er kämpft daher gegen Mannigfaltigkeit. Wenn der Staat die Aufgabe übernimmt, seine Bürger zu bevormunden, indem er für sie sorgt, tötet er ihre Selbstachtung und stumpft ihr Gefühl des Selbstvertrauens ab. Jeglicher Versuch seitens des Staates, seine Bürger zu erziehen, in ihnen die Saat der Moralität oder der Religion zu pflanzen, läuft auf eine Verletzung ihrer sittlichen Autonomie hinaus. Moralität muss frei von innen heraus wachsen und nicht durch Autorität aufgezwungen oder gar voller List untergeschoben werden. Wie aber steht es mit denjenigen Dienstleistungen, die die individuelle Bemühung nicht erfüllen kann ? Der Staat sollte sie dem freien Zusammenschluss von Bürgern überlassen. Ein Staatsunternehmen muss notwendiger weise die Menschen in Maschinen ver wandeln und dadurch die Kräfte der Nation schwächen. Freiwillige gegenseitige Hilfe weckt Begeisterung und Großzügigkeit, regt gesunden Wettbewerb an. Sie lässt dem Einzelnen noch das Gefühl, für sich selbst zu arbeiten, und gibt ihm die Befriedigung der Leistung und damit ein Gefühl der Würde. Staatliche Direktion mit Amtsschimmel und seelenloser Formalität vertreibt alle Spannung und Lebendigkeit. Die freiwilligen Vereinigungen sollten bestimmte Zwecke haben und nicht für irgendwelche möglichen künftigen Fälle geschlossen werden. Sie sollten auch nicht große Mitgliedschaft anstreben. In einer zu großen Vereinigung, die zu viele und zu unbestimmte Zwecke umfasst, wird das Einzelmitglied zu leicht zum Werkzeug und zur bloßen Null.105 „Die tote Hieroglyphe begeistert nicht wie die lebendige Natur.“106 Es ist wahr, dass die letzten Jahrhunderte zu Zeugen großer Leistungen durch den Zusammenschluss großer Massen wurden. „Die Frucht wäre langsamer, aber dennoch gereift. Und sollte sie nicht segenvoller gewesen sein ?“107

2. Frühe liberale Kritik an der totalitären Demokratie ( Benjamin Constant ) Unter dem Eindruck der Erinnerungen an das Ancien Régime und an die Französische Revolution, gar nicht zu reden von denen an die Napoleonische Ära, scheinen die Liberalen des beginnenden neunzehnten Jahrhunderts gegen die paternalistische Monarchie zu polemisieren, wenn sie über sozialökonomische Probleme sprechen, und gegen die Jakobiner und Napoleon, wenn von politischer Freiheit die Rede ist. 105 106 107

Vgl. Humboldt, Über die Grenzen, S. 28 f., 31–35, 37 f., 55–59, 63, 131–133. Ebd., S. 63. Ebd. Siehe außerdem : Droz, L’Allemagne et la Révolution française, S. 187–309.

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Der schwer wiegendste Einwand, den Madame de Staël und Benjamin Constant gegen die Französische Revolution erheben, ist, dass sie die bürgerliche Freiheit der politischen Freiheit unterordnete und so eine Illusion der Freiheit schuf, mit Unterdrückung hinter der Fassade. „Die abstrakte Anerkennung der Volkssouveränität“ – sagt Constant – „erhöht in keiner Weise die Summe der Freiheiten des Einzelnen. Wenn dieser Souveränität Raum zugestanden wird über das hinaus, was sie sein sollte, dann kann die Freiheit verloren gehen trotz oder vielleicht gerade wegen des Prinzips.“108 Das ist die Lehre aus der Antike, von der Rousseau und seine Schüler in der Revolution auf so unheilvolle Weise fasziniert wurden. Die antike direkte Demokratie wollte „viele Funktionen der Souveränität in ihrer Totalität kollektiv, doch direkt ausüben, im öffentlichen Forum über Angelegenheiten von Krieg und Frieden beraten, Bündnisverträge mit fremden Staaten abschließen, Gesetze erlassen, Urteile fällen, Abrechnungen, Tätigkeit und Verhalten der Magistrate prüfen, sie vor dem versammelten Volk erscheinen lassen, sie unter Anklage stellen und sie verurteilen oder freisprechen. Gleichzeitig [...] ließen sie die vollständige Unter werfung des einzelnen Menschen unter die Autorität des Ganzen als mit dieser kollektiven Freiheit vereinbar zu.“109 Das in öffentlichen Angelegenheiten souveräne Individuum wurde in seinen privaten Beziehungen zum Sklaven, dem kein eigener Weg erlaubt war.110 Die Folge dieser Haltung war, wie Humboldt ausführt, dass die Bedeutung der Erziehung der Bürger, die Formung ihrer Mentalität und ihres Verhaltens nach dem Vorbild republikanischer Tugend ungeheuer betont wurde. Daher gemeinschaftliche Erziehung und gemeinschaftliches Leben, daher eine Art Nationalisierung der Kunst, die dazu bestimmt war, die Phantasie anzufeuern, an das Gefühl zu appellieren und den Willen zu unter werfen.111 Direkte Demokratie, die ein so großes Maß von Einmütigkeit braucht wie nur möglich, konnte nicht ohne solche Ähnlichkeit in der Disposition aller gedeihen. Andererseits werden ständig überstimmte Minoritäten in einer solchen Demokratie nicht mehr das Gefühl haben, politische Freiheit zu genießen und teilzunehmen an der Formung der Souveränität. Benjamin Constants Gefühle für jene Propheten der Revolution, „erste Führer, [...] Freunde der Menschheit [...], nobler und großherziger“112 Entschlüsse – werden zwischen tiefem Respekt und Ver urteilung hin - und hergerissen. 108 109 110 111 112

Constant, Œuvres politiques, S. 2 f.; Bagge, Les Idées politiques en France, S. 57. Michel, L’Idée de l’État, S. 310 f.; Constant, Cours de politique constitutionnelle, Band 2, S. 541. Vgl. Constant, Cours de politique constitutionelle, Band 2, S. 542; Michel, L’Idée de l’État, S. 311. Vgl. Humboldt, Über die Grenzen, S. 21–23. Constant, Œuvres politiques, S. 270.

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Denn „wer von uns hat nicht beim Betreten des Weges, den sie zu eröffnen schienen, sein Herz schneller schlagen gefühlt“ ?113 In dieser Stimmung der Sehnsucht und bedauernden Ernüchterung spricht er von Rousseau, „le plus illustre de ces philosophes, [...] ce génie sublime“, der von der reinsten Freiheitsliebe beseelt war, als von „dem schrecklichsten Helfer für jede Art von Despotismus“.114 Constant erklärt, er kenne kein System der Knechtschaft, das verderblichere Irrtümer geheiligt hat als „die unvergängliche Metaphysik“ des „Contrat social“.115 Benjamin Constant war vielleicht der erste Denker, dem klar wurde, dass von dem Despotismus der Könige von Gottes Gnaden nicht mehr viel zu befürchten war, und dass seit 1789 der wirkliche Feind der individuellen Freiheit das war, was wir als totalitäre Demokratie bezeichnet haben. „Die gröbsten Sophismen der wildesten Aposteln des Terrors, die empörendsten Folgerungen, waren nichts als vollkommen berechtigte Schlüsse aus Rousseau.“116 Wenn der Volkswille erst mit dem Allgemeinen Willen gleichgesetzt und daher als heilig und unfehlbar proklamiert wird, haben diejenigen, die ihn zu vertreten behaupten, keine Skrupel, Handlungen zu begehen, die „kein Tyrann in seinem eigenen Namen zu begehen gewagt hätte“.117 Die als der Ausdruck des Allgemeinen Willens hingestellten Maßnahmen mögen noch so ungeheuerlich und unterdrückend sein, die individuellen Bürger können dagegen nicht protestieren, da ihnen gesagt wird, dass „sie niemandem als sich selbst gehorchen, und dass sie um so freier sind, je selbstverständlicher ihr Gehorsam“.118 Der Allgemeine Wille ist ihr Wille, oder aber ihr Wille ist verderbt und selbstsüchtig. Diejenigen, die als die Sprecher des Allgemeinen Willens auftreten, sind umso gefährlicher, je echter ihr Glaube an den ausschließlichen Allgemeinen Willen ist.119 „Das Volk, das alles tun kann, ist gefährlich, in der Tat gefährlicher als irgendein Tyrann, oder es ist ziemlich sicher, dass Tyrannei sich die Rechte aneignen wird, die dem Volke zugestanden sind. Sie wird nichts anderes zu tun brauchen, als die Allmacht des Volkes zu verkünden und sie dadurch zu bedrohen, und in seinem Namen zu sprechen und es dadurch zum Schweigen zu bringen.“120 Und tatsächlich behauptete auch der napoleonische Despotismus, der auf die Herrschaft der Demagogen folgte, dass er den Volkswillen verkör113 114 115 116 117 118 119 120

Ebd. Ebd., S. 271; Bagge, Les Idées politiques en France, S. 56. Bagge, Les Idées politiques en France, S. 56. Constant, Œuvres politiques, S. 15. Ebd. Ebd. Vgl. ebd. Ebd., S. 15 f.

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pere, und er bediente sich der Volksbefragung und erkannte nur den einen Volkswillen an. „Die beiden Extreme haben sich in grundlegender Übereinstimmung gefunden; in beiden war der Wille zur Tyrannei enthalten.“121 Der entscheidende Punkt ist nach Ansicht der Liberalen nicht, wer der Träger der Souveränität ist, sondern wo die Grenzen der Souveränität gezogen sind; nicht, wie Montesquieu betonte, die Freiheit, die mit der Herrschaft des Gesetzes gleichbedeutend ist, sondern die klare und einschränkende Definition des Wirkungsbereichs der Staatsgesetze. Ein legitimer Souverän wie der Konvent kann vom formalen Gesichtspunkt aus völlig rechtmäßig die tyrannischsten Gesetze erlassen. Doch das wäre keine Freiheit.122 „Unter Freiheit“ – sagt Constant – „verstehe ich den Sieg der Individualität sowohl über die Autorität, die durch Despotismus regieren möchte, als auch über die Massen, die das Recht fordern, die Minorität zum Sklaven der Majorität zu machen.“123 „An dem Punkt, an dem persönliche Freiheit und Privatleben beginnen, hat die Rechtsgewalt jener Souveränität ein Ende.“124 Es ist ziemlich unerheblich, ob der Übergriff von einem einzelnen Herrscher begangen wird oder von der ganzen Nation mit Ausnahme der einen Person, der Unrecht geschieht. Die Gesellschaft wird zum Usurpator und die Mehrheit faktiös.125 „Das Volk hat nicht das Recht, einem einzigen Unschuldigen etwas anzutun, noch einen einzigen Angeklagten ohne rechtlichen Beweis als schuldig zu behandeln. Es kann daher ein solches Recht an niemanden abtreten. Das Volk hat kein Recht, einen Anschlag auf Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Rechtsschutz und Sicherungen zu unternehmen. Kein Despot und keine Nationalversammlung können ein derartiges Recht ausüben mit der Begründung, das Volk habe es ihnen verliehen. Jeder Despotismus ist daher illegal; nichts kann ihn sanktionieren, nicht einmal der Volkswille, auf den er sich stützt, denn er maßt sich im Namen der Volkssouveränität eine Macht an, die in dieser Souveränität nicht enthalten ist.“126 Constant stellt eindeutig fest: „Dies ist nicht eine unrechtmäßige Verschiebung von bestehender Macht, sondern die Schaffung einer Macht, die gar nicht bestehen sollte.“127 „Alles, was das Privatleben betrifft, kann nicht rechtlich einer Regierungsmacht unterstellt werden.“128 121 122 123 124 125 126 127 128

Ebd., S. 14 f. Der Erztotalitäre für Constant ist Mably. Vgl. Constant, Œuvres politiques, S. 9. Faguet, Politiques et moralistes, S. 214. Michel, L’Idée de l’État, S. 301. Vgl. Faguet, Politiques et moralistes, S. 217. Constant, Œuvres politiques, S. 13 f. Ebd., S. 14. Michel, L’Idée de l’État, S. 309.

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Constant erkannte in voller Schärfe, dass die wesentliche, wenn auch verschleierte Gefahr in neuerer Zeit der Freiheit nicht von offenem, herausforderndem Despotismus drohte, sondern von dem Prinzip, dass ein Ausnahmezustand die Aufhebung der konstitutionellen Garantien und eine potentielle Bedrohung der Sicherheit Vorbeugungsmaßnahmen erfordere. Wenige Despoten sind so zynisch, dass sie den Anspruch auf das Recht erheben würden, ihre Untertanen ihren Launen zu unter werfen, lediglich weil sie es wollen. Die Verfechter der Autorität von oben – auf der Rechten – ver weisen auf einen permanenten Ausnahmezustand, latent oder tatsächlich, der von der unbändigen und zentrifugalen Natur des Menschen her vorgerufen wird. Daher die Notwendigkeit eines höchst sorgfältigen Systems von Vorsichtsmaßnahmen. Die totalitären Demokraten – auf der Linken – erstrecken den Notstand ebenfalls ins Unendliche : er dauere an, solange die Niedergebeugten gegen ein Regime kämpfen, das ein Werkzeug der Unterdrückung ist und keine wirkliche Legalität besitzt; er verschärfe sich erheblich zur Zeit des gewaltsamen revolutionären Durchbruchs; er müsse nach dem Sieg fortgesetzt werden, solange noch Gefahren im Hinterhalt lauern. Gewitzigt durch die lettre de cachet des Ancien Régime, durch den jakobinischen Terror und dann durch die Verordnungen Karls X., richten die Liberalen des beginnenden neunzehnten Jahrhunderts ihren Angriff bereits gegen den bloßen Begriff des Notstands und der Präventivhandlung. Sie verurteilen jede Tendenz zur Anwendung von Vorbeugungsmaßnahmen, die auf Mutmaßung und Wahrscheinlichkeit basieren. Eine solche Haltung verkennt die unzähligen Nuancen in menschlichen Motiven und Möglichkeiten und hält außerdem den Menschen für konsequenter und logischer als er wirklich ist. Wie im Falle des Präventivkrieges muss die Möglichkeit des Eintretens Mutmaßung bleiben, doch der Krieg zur Vorbeugung ist wirklich. Obwohl das Verhalten eines Menschen aussehen mag, als ob es darauf abgestellt sei, gegen die Tätigkeit oder die Nutznießung eines anderen zu verstoßen, unterliegt es rechtlicher Verfolgung erst, wenn eine Minderung von Freiheit oder Eigentum eines anderen gegen den Willen der betroffenen Partei und auf eine gegen ein ausdrückliches Gesetz verstoßende Weise tatsächlich erfolgt ist. Die Verteidigung gegen vermutliche Verletzung und möglichen Betrug soll der Wachsamkeit und Intelligenz des Einzelnen überlassen werden. Ähnlich ist es nicht Sache des Staates, Menschen daran zu hindern, die Gefühle ihrer Nachbarn zu verletzen. Wir müssen darauf vertrauen, dass die potentiell Beleidigten genug Verstand, Charakterstärke oder auch nur Humor haben, um die Achseln zu zucken. Ebenso wenig wie Vorbeugungsmaßnahmen sind Vergeltungsmaßnahmen zulässig, um potentielle Missetäter abzuschrecken oder den überführten Verbrecher von neuen Verbrechen abzuhalten. Es darf nicht angenommen werden, dass der Verbrecher zu ewigen Missetaten ver urteilt oder seine Mit-

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menschen für schlechtes Beispiel zu empfänglich seien. Noch einmal : die Minderung des Bereichs der Selbstver wirklichung ist real, die Gefahren sind nur hypothetisch. Risiken müssen akzeptiert werden. Das Leben ist voll von ihnen und wird durch sie nur umso reizvoller. Benjamin Constant hebt das Thema auf eine höhere Ebene durch seine glänzende Analyse des politischen Aspekts – der Ergreifung von unliberalen und unlegalen Maßnahmen gegen die Bedrohung eines Regimes : „Es läuft darauf hinaus, das eigentliche Fundament des Gebäudes, das wir errichten wollen, für überflüssig zu erklären.“129 Oder mit den Worten Humboldts : Es ist undenkbar, dass ein Staat, der schließlich nur zur Sicherung unserer Freiheiten geschaffen worden ist, die Freiheit und mit ihr unvermeidlich auch die Sicherheit sollte abschaffen müssen.130 Das in Gesetzen verbriefte Gefüge von Freiheiten und Rechten ist unteilbar. Wenn man einen Baustein herausnimmt, muss das ganze Gebäude einstürzen. „Nicht ein einziges gerechtes Gesetz bleibt unverletzlich neben einer einzigen ungesetzlichen Maßnahme. Man kann nicht Freiheit einigen ver weigern und sie anderen zugestehen. [...] Eine einzige Abweichung zerstört sie, wie in einem mathematischen Kalkül der Irrtum in einer Einer - oder einer Tausenderstelle das Ergebnis in der gleichen Weise verfälscht.“131 Ein einziger illegaler Akt öffnet die Schleusen der Gesetzlosigkeit. Wenn die heute herrschende Partei die gebieterische Notwendigkeit ins Feld führt, Ausnahmegesetze gegen einen Umsturz anzuwenden, so wird morgen ihr Feind dieselben Rechte gegen seine Gegner verlangen.132 Sicherlich werden diejenigen, gegen die Sondergesetze erlassen werden, zwangsläufig nicht nur die Ausnahmegesetze sabotieren, sondern auch die regulären Gesetze als Teil eines Systems der Verfolgung betrachten. Es gibt keine Partei, die nicht ihrerseits zum Opfer von Ausnahmegesetzen werden kann, da keine Partei für immer an der Macht bleiben kann. Sie reden leichtherzig von der Notwendigkeit, in außergesetzlicher Schnelligkeit mit Umstürzlern zu verfahren, um sie zu ver wirren und zu verhüten, dass sie sich zusammentun. „Doch lasst uns die Tatsachen befragen.“133 In einer Krise werden nur wenige der wirklich Schuldigen gefasst. Die anderen verstummen, verstecken sich und warten ab. Sie ziehen Vorteil aus der Ver wir-

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Constant, Cours de politique constitutionnelle, Band 1, S. 174. Vgl. Humboldt, Über die Grenzen, S. 133 : „Überdies aber darf, [...], der Staat nicht für das Wohl der Bürger sorgen und um ihre Sicherheit zu erhalten, kann das nicht notwendig sein, was gerade die Freiheit und mithin auch die Sicherheit aufhebt.“ Constant, Œuvres politiques, S. 87 f. Vgl. ebd., S. 74. Ebd., S. 89.

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rung und Bestürzung, von der gewissenhafte Liberale erfasst werden, und sie erwerben Sympathien. „Sie weisen auf das Staatsinteresse hin, auf die Gefahren des langsamen Verfahrens, auf die öffentliche Sicherheit. Haben wir von all dem unter dem verabscheuungswürdigsten System nicht genug gehört ? [...] Wenn man diese großartigen Vor wände, diese blendenden Worte anerkennt, wird jede Partei das Staatsinteresse in der Vernichtung ihrer Feinde, Verzögerungsgefahren in einer Untersuchung von einer Stunde und öffentliche Sicherheit in einer Aburteilung ohne Prozess und ohne Beweise sehen. Jede gemäßigte Regierung, jede Regierung, die auf ordnungsgemäßer Prozedur und Gerechtigkeit basiert, bringt sich durch die Durchbrechung der Gerechtigkeit, durch jede Abweichung von der Ordnungsmäßigkeit selbst ins Verderben. [...] Es mag scheinen, als ob die Gewaltanwendung sie für eine Zeit lang gerettet hat; aber sie hat ihren Sturz unvermeidlich gemacht.“134 Ist ein liberales Regime verpflichtet, die liberalen Gesetze Verschwörern gegenüber zu beachten, deren Ziel es ist, die konstitutionellen Freiheiten auszunützen, um sie zu zerstören und eine Despotie zu errichten ? Constants Antwort ist eine unbedenkliche Bejahung des kategorischen Imperativs des Liberalismus. „Seit der Verschwörung des Babeuf sind die Menschen ungeduldig geworden gegenüber der Beachtung der langsamen Formalitäten. Wenn die Verschwörer ans Ziel gekommen wären, rufen sie aus, hätten sie dann alle diese Formalitäten uns gegenüber beachtet ? Gerade darum, weil sie sie nicht beachtet hätten, müssen wir uns an sie halten. Dies ist es, was uns von ihnen unterscheidet, dies, und dies allein, was uns das Recht gibt, sie zu bestrafen, dies ist es, was sie zu Anarchisten macht und uns zu Freunden der Ordnung.“135 Diese kompromisslose Haltung ist vielleicht zu idealistisch und zu naiv, doch sie bezeugt eine erfrischende Anerkennung des Prinzips der Reziprozität, das seinerseits von dem Fehlen einer arroganten Selbstgerechtigkeit und von einer grundlegenden Achtung des Gegners herrührt. Sie atmet auch den Geist eines nüchternen Relativismus, der ebenfalls in Constants Weigerung fühlbar ist, die Debatte auf der Ebene des abstrakten Prinzips fortzuführen. In einer Auseinandersetzung mit der Behauptung, die höchste Macht in den Händen eines Mannes – als alleinige Verkörperung und alleiniger Behüter der herrschenden Doktrin – sei eine bessere Garantie für das Gemeinwohl als die unter viele geteilte Macht, findet es der liberale Schriftsteller charakteristischer weise leicht zu beweisen, dass es keine Macht gibt, die nicht unterteilt, und kein Prin-

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Ebd., S. 90. Ebd., S. 74.

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zip, das nicht in der Praxis in Fleisch und Blut verkörpert ist,136 „von denen jeder in nächster Nähe jemanden hat, der ihm gleich oder unterlegen ist, und dessen Verluste ihn bereichern, dessen Demütigung seiner Eitelkeit schmeicheln und dessen Entfernung ihn von einem Konkurrenten, einem unbequemen Aufseher befreien würde“.137 Sehr fein bemerkt Constant, nicht Interessengleichheit aller und Selbstidentifizierung mit dem abstrakten Prinzip sei notwendig, sondern „Universalität der Desinteressiertheit [...] ohne Leidenschaft, ohne Kaprice, der Verführung, dem Hass, der Begünstigung, dem Ärger, der Eifersucht [...] aller amour propre unzugänglich“.138 Humboldt, der im Allgemeinen theoretischer ist als Constant, zeigt in seiner Behandlung des Ethos der Macht eine realistische Ader. Anfangs, sagt er, waren alle Staatsverbindungen nichts als Nationalvereine. Die ursprüngliche Absicht wurde bald durch Vermischung von zwei verschiedenen Zielen entstellt – Sicherheit und irgendeinem positiven Endzweck. Es wurden spezielle Vollmachten verlangt, um eine Gefahr abzuwenden, die die Erreichung des Ziels bedrohte, und das bedeutete tatsächlich die Ausdehnung der absoluten Macht auf alles. Die Macht wuchs unmäßig, und mit ihr verblasste die Erinnerung an die Natur des ursprünglichen Gesellschaftsvertrags.139

3. Gegen revolutionären Messianismus – Kritik von Guizot und Tocqueville „Vom achtzehnten Jahrhundert und der Revolution flossen, wie aus einer gemeinsamen Quelle, zwei Flüsse,“ – sagt Tocqueville – „der eine trug die Menschen zu freien Institutionen, der andere zu absoluter Macht.“140 Der Letztere wird von einem Geist der Ausschließlichkeit getrieben, und Guizot, und zu einem gewissen Ausmaß auch Tocqueville vor 1848, neigen dazu, ihm den allgemeinen Namen Demokratie zu geben. Sie erkennen, dass die Bewegung verschiedene und oft anscheinend widerspruchsvolle Facetten 136 137 138 139

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Vgl. ebd., S. 81 f. Ebd., S. 82. Ebd. Vgl. Humboldt, Über die Grenzen, S. 61 f. Am 9. Ventôse 1798 sagte Constant im „Cercle Constitutionnel“, zit. in Lefebvre, Directoire, S. 124 : „La Révolution a été faite pour la liberté et l’égalité de tous en laissant inviolable la propriété de chacun. Elle s’est donc engagée à la défendre : tous les moyens du gouvernement, toutes les mesures des législateurs doivent tendre à la maintenir, à la consolider, à l’entourer d’une barrière sacrée. [...] Qui proscrit l’opulence conspire contre la médiocrité.“ Doch Constant behauptete auch, zit. in Faguet, Politiques et moralistes, S. 216 : „La perfectibilité de l’espèce humaine n’est autre chose que la tendance vers l’égalité.“ Tocqueville, Œuvres complètes, Band 9, S. 16.

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umfasst, doch sie halten die Verschiedenheiten für nichts anderes als Aspekte der gleichen Erscheinung. Da sind an erster Stelle ihre absolutistische Natur und ihre absolutistischen Ansprüche. Es ist nicht neu, sagt Tocqueville, dass mächtige und rebellische Geister sich gegen diesen oder jenen Glauben oder Brauch erheben.141 „Was das achtzehnte Jahrhundert auszeichnet [...] ist, dass diese kühne und reformierende Neugier von einer ganzen Generation empfunden wurde und zur gleichen Zeit auf alle Überzeugungen in einer Weise gerichtet war, dass die Prinzipien, auf denen die Wissenschaft, Kunst, Philosophie, Politik bis dahin beruhten, zusammen von einer Art universaler Erschütterung befallen wurden.“142 Hier war „ein stolzer Glaube, die absolute Wahrheit sei endlich gefunden : diese schönen Illusionen über die menschliche Natur, dieses fast grenzenlose Selbstvertrauen, dieser großartige Elan auf das Ideal zu“.143 Guizot meint dasselbe, wenn er sagt, „die Französische Revolution und Kaiser Napoleon I. haben eine gewisse Anzahl von Geistern, darunter einige der her vorragendsten, in eine fieberhafte Erregung versetzt, die zur moralischen Erkrankung, ich möchte fast sagen, Geisteskrankheit wird. Sie sehnen sich nach gewaltigen, unverhofften und ungewöhnlichen Ereignissen; sie beschäftigen sich damit, Regierungen, Nationen, Religionen, die Gesellschaft, Europa, die Welt zu schaffen und zu zerstören. [...] Sie sind berauscht von der Größe ihrer eigenen Pläne und blind für die Erfolgsaussichten. Wenn man sie reden hört, könnte man glauben, dass die Elemente und Zeiten ihnen unterstehen [...] und dass dies die ersten Tage der Schöpfung seien oder die letzten der Welt. [...] Hier schaffen sie soziale Bindungen ab, isolieren das Individuum, geben die Menschen der Zügellosigkeit oder der Schwäche ihres eigenen und alleinigen Willens preis; dort überliefern sie sie dem Staat, der über ihr Schicksal bestimmt. Manche behandeln die Menschen wie einsame Tiere, die keine anderen Hilfsmittel haben als ihre persönliche Kraft [...] und Phantasie; andere treiben sie [...] wie Schafe zusammen in eine Herde unter der Verantwortlichkeit des Schafhirten; [...] ( alle ) sehen in der Demokratie allein die ganze Gesellschaft.“144 Tocqueville glaubt, dass eine kollektivistische Theorie der historischen Unvermeidbarkeit sich notwendiger weise dort entwickeln muss, wo ein absolutistischer Anspruch sich feindlich gegen alle ererbten Werte und bestehenden Realitäten stellt, in der Absicht, sie alle auf der Basis einer allumfassenden Philosophie neu zu gestalten. Er bekennt seine Abscheu gegen „diese absoluten Systeme, die alle Begebenheiten der Geschichte so darstellen, als ob 141 142 143 144

Vgl. ebd., S. 10 f. Ebd., S. 2 f. Ebd., S. 4. Guizot, Mémoires, Band 2, S. 257 f.; ders., Histoire parlementaire, Band 1, S. CXXX f.

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sie von großen letzten, durch eine schicksalhafte Kette miteinander verbundenen Ursachen abhingen, und die sozusagen die Menschen aus der Geschichte des Menschengeschlechts ausschalten. Sie sind eng unter Vorspiegelung von Breite und falsch hinter dem Schein mathematischer Genauigkeit.“145 Wenn die durch Freiheit gesicherte spontane Mannigfaltigkeit das letzte Ziel ist, so folgt daraus, dass kein einzelner Gesichtspunkt oder Einfluss absolute Macht gewinnen darf. Die von Guizot und den Doktrinären gezogene Schlussfolgerung bestand in erster Linie in einer notwendigen Verneinung des Souveränitätsbegriffs als solchem in der Gesellschaft, gleichgültig ob der Anspruch von einem Königtum von Gottes Gnaden, einer gewählten Nationalversammlung oder dem Volk erhoben wird. Nachdem wir gesehen haben, dass „so viele angebliche Prinzipien, die zeitweise als höchste Stufe der Wissenschaft gepriesen, [...] ( von ) [...] absoluter Unwiderruf lichkeit, auf denen die Glückseligkeit der Gesellschaft für immer beruhen sollte, [...] der Erfahrung widersprechen und vom gesunden Verstand des Volkes abgelehnt werden“,146 ist es nicht länger möglich, irgendwelchen Sterblichen das Recht zuzuerkennen zu sagen „das will ich“, und ihnen die Macht zu gewähren, ihren Willen zum Gesetz des Landes zu erheben, gleichgültig, was seine Motive oder Verdienste sein mögen. Solch eine Auffassung der Souveränität ist nicht nur eine Form des Götzendienstes. Sie ist höchst schädlich für die Menschheit, weit davon entfernt, ihr Ehre anzutun. Denn obwohl, wie Guizot glaubt, die allgemeine und konsequente Tendenz der Geschichte in dem Drang zum Ausdruck kommt, der menschlichen Würde zum Vorrang zu verhelfen und „die Wohltaten der Gerechtigkeit, Anteilnahme und Freiheit“ einer zunehmenden Zahl, ja allen Menschen zu gewähren, so hat doch die Erfahrung der Jahrhunderte erwiesen, dass die Ambivalenz charakteristisch ist für den Menschen.147 Er ist weder ein vollkommenes Wesen, noch ist er ganz verdorben, sein glühendes Verlangen nach dem Guten ist vermischt mit egoistischer Eitelkeit, der Wunsch nach Gerechtigkeit mit der Gier nach Rache, die Liebe zur Wahrheit mit vermessener Tollkühnheit. Eine Rousseau’sche Doktrin, die den Gesellschaftsvertrag von der direkten Zustimmung jedes Einzelnen abhängig macht, würde Unordnung und Not in das wankende und ver wirrte Herz des seiner selbst nicht allzu sicheren Individuums bringen und würde am Ende die Gesellschaft in Anarchie stürzen oder sie zur Beute für die Arroganz der Machthungrigen werden lassen. Die Wahrheit ist, dass ebenso wie in Angelegenheiten des Wissens und der Moral der Mensch auch in Staatsangelegenheiten einen Souverän über sich 145 146 147

Tocqueville, Recollections, S. 68. Guizot, Democracy in Modern Societies, S. 6. Guizot, Histoire parlementaire, Band 1, S. CXXXVI ( Zitat ), CXLI.

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hat – die Vernunft, Wahrheit, Gerechtigkeit. Er mag diesem Souverän den Gehorsam ver weigern, doch kann er kaum von seinen Entscheidungen abweichen. So sehr er das auch möchte, so will er doch in seinem Innersten „in unermüdlichem Eifer an ihn glauben und ihm gehorchen, ihm und keinem anderen“.148 Die Vernunft ist nicht der ausschließliche und gesicherte Besitz irgendeiner Person, Gruppe oder Generation. Sie wird sehr mühsam entdeckt, und zwar nicht in Form von fertigen Antworten, sondern als Annäherungen und Andeutungen, Jahrhunderte hindurch in dem unaufhörlichen Aufeinanderprallen von Ansichten und Interessen, durch Über windung von Hindernissen und durch Lernen aus Erfahrung und Fehlern, trial and error. Das impliziert, dass das Bestreben einer Regierung nicht sein sollte, ein bestimmtes positives Ziel durchzusetzen, sondern eher denjenigen Kräften Widerstand zu leisten, die den freien Fluss der Meinungen bedrohen und die soziale Beweglichkeit einzuschränken trachten.149 Mannigfaltigkeit, die auf unterschiedliche Interessen und soziale Ungleichheit hinausläuft, wird als die eigentliche Bedingung und auch als das Ergebnis des freien Strebens nach Vernunft gesehen sowie als das Fundament der Gesellschaftsordnung. Historische Kontinuität und allmähliche Entwicklung im Gegensatz zu gewaltsamer revolutionärer Aufzwingung entweder eines abstrakten oder eines ausschließlichen Systems erscheinen als die Begleitumstände der liberalen Ideologie. Nachdem die Liberalen despotischen Paternalismus oder die tote Hand der Vergangenheit nicht mehr fürchten und sich nicht mehr im ersten Ansturm eines siegreichen Aufstands gegen diese befinden, greifen sie nunmehr die antirevolutionären Argumente von historisch gesinnten Konser vativen auf – dass der Versuch, ein abstraktes System der Gleichheit aufzuzwingen, um das Individuum zu befreien, ein Ersticken der Individualität mit sich bringt, das heißt jener Eigenheit des Individuums oder der Gruppe, die ein Produkt von Zeit, Ort, Vererbung, Umständen, kurz, der Geschichte ist. 148

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Pouthas, Guizot pendant la Restauration, S. 316 f. Siehe auch Guizot, Philosophie politique, Kapitel 2 ( S. 321 f.), 7 ( S. 334–336), 8 ( S. 336–339), 9 ( S. 339–341), 20 (S. 372 f.). A. d. Hg. : Zu Guizots „Philosophie politique“ fehlen bei Talmon genauere Angaben. Es handelt sich hierbei um ein lange nur in Auszügen veröffentlichtes Manuskript. Erste Hinweise auf die Existenz dieses Manuskripts ( Nennung einzelner Kapitel, Wiedergabe kurzer Passagen ) finden sich in Pouthas, Guizot pendant la Restauration, z. B. auf S. 316 f. Diese Verweise wurden von Talmon aufgegriffen. 1985 wurde Guizots Text erstmals vollständig in französischer Sprache veröffentlicht. Die weiter oben in dieser Fußnote gemachten Angaben zu den Seitenzahlen beziehen sich auf eben diese Ausgabe. Vgl. Pouthas, Guizot pendant la Restauration, S. 319, 321; Woodward, Three Studies in European Conservatism, S. 136.

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Früher, in ihrem Kampf gegen Kirche und Monarchie, die beide auf Überlieferung und Herkommen begründet waren, legten die Liberalen allen Nachdruck auf die ewige und unveräußerliche Vernunft. Jetzt, wo sie selber im Sattel sitzen, weisen sie die Ansprüche abstrakter Vernunft und Gerechtigkeit, die von denen, die unter ihnen stehen, vorgetragen werden, mit empiristischen und pragmatischen Argumenten zurück.150

4. Demokratie und soziale Revolution ( Guizot ) Demokratie, so wie sie von denjenigen proklamiert wird, die Guizot bekämpft, bedeutet nach ihm „Krieg der vielen Niedriggestellten gegen die wenigen Höhergestellten“,151 „das Echo eines uralten Kriegsrufs“, der unaufhörlich sozialen Krieg schürt und „direkt zu revolutionärem Despotismus“ führt.152 Guizot erkennt die Demokratie als eine legitime Tendenz an, als eine unter anderen. „Sie hat große Rechte und sie spielt eine große Rolle“, größer denn je, doch „sie ist nicht die einzige, sie ist nicht alles“.153 Sie ist, wenn man will, wie der Saft des Baumes, aber nicht der ganze Baum mit all seinen Ästen, Blüten und Früchten. Sie ist der Wind, der das Boot treibt, doch sie ist nicht der Stern oder der Kompass. Sie stellt einen fruchtbaren Geist des Fortschritts dar, doch es fehlt ihr der Geist der Erhaltung und die Gabe der Voraussicht, die in anderen sozialen Kräften zu finden sind. Demokratische Gleichmacherei droht jene Mannigfaltigkeit der Bedingungen zu ver wischen, die die Grundlage eines jeden freien Systems ist.154 „Soziale Ungleichheit und Mannigfaltigkeit sind nicht“ – verkündet Guizot – „ein zufälliges Ergebnis von bestimmten zeitlichen oder örtlichen Bedingungen“, von Zwang und schlechten Gesetzen. Sie bilden ein universales und dauerndes Phänomen, und es besteht „eine tiefe Harmonie zwischen diesen Tatsachen und der Natur des Menschen [...] und den Geheimnissen seiner Bestimmung“.155 Der Mensch wird mit seiner Freiheit, mit Verantwortlichkeit und sehr ungleichen Aussichten in diese Welt gestellt. Der Lebenskampf kann keinem erspart werden. „Einige schaffen sich durch ihre Intelligenz und gute Führung einiges Kapital und gelangen auf den Weg des Wohlergehens und 150

151 152 153 154 155

Vgl. Guizot, Histoire parlementaire, Band 1, S. 221; Woodward, Three Studies in European Conser vatism, S. 114; Leroy, Histoire des idées sociales en France, Band 2, S. 511–522. Guizot, Democracy in Modern Societies, S. 6, 16 ( Zitat ). Guizot, Democracy in France, S. 19, 21. Guizot, Histoire parlementaire, Band 1, S. CXXVIII. Vgl. ebd., S. CXXIX. Guizot, Democracy in France, S. 40.

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Fortschritts. Andere, die engstirnig, unmäßig oder faul sein mögen, bleiben in ihrer leichten und unsicheren, ausschließlich auf Entlohnung begründeten Existenzbedingung.“156 Es wird immer große Eigentümer und kleine Leute geben, klingende Namen und obskure Existenzen, denen jedoch nicht die Möglichkeit genommen werden sollte, berühmt zu werden. Guizot ist bereit zuzugeben, dass es Gelegenheiten gibt, in denen es die Pflicht und das Interesse der besitzenden Klassen gebieten, den arbeitenden Klassen zu Hilfe zu kommen. Im gewöhnlichen Verlauf der Dinge ist Regierungseinmischung in die Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit „schimärisch und unheilvoll“.157 Guizot ist überzeugt, dass die Prinzipien von 1789 die soziale Umwälzung, die für das Funktionieren einer freien Gesellschaft unerlässlich war, dadurch vollzogen haben, dass sie unbillige Privilegien und Beschränkungen beseitigten und politische Freiheit als Garantie für bürgerliche Freiheiten und bürgerliche Gleichheit einführten.158 „Heute sind, dank des Sieges der guten Sache und dank Gottes Hilfe, die Umstände und Interessen verändert. Kein Krieg mehr seitens derer unten gegen die oben; kein Motiv mehr dafür, die Standarte der Vielen gegen die Wenigen zu erheben; kein Hindernis mehr für die Masse der aufsteigenden Bewegung : ausgenommen alle jene natürlichen Hindernisse, die inhärent sind in der Lage des Menschen, so wie Gott sie gemacht hat, immer mühselig, oft schwer und traurig. Gott hat den Menschen zur Mühsal bestimmt, obwohl seine Mühsal nicht immer hienieden belohnt wird. Also gibt es keine Berechtigung mehr, auch keinen scheinbaren Vor wand für die Maximen und Leidenschaften, die so lange unter das Banner der Demokratie gestellt waren. Was vorher Demokratie war, wäre jetzt Anarchie; demokratischer Geist ist jetzt und bleibt auf lange Zeit hinaus nichts als revolutionärer Geist.“159 In der pluralistischen Gesellschaft, die Guizot der exklusiven Gleichmacherei der Demokratie entgegensetzt, genießt jedes im Ebenbild Gottes geborene Individuum „permanente“ und „universale Rechte“, die alle „nach dem Recht hin tendieren, nur weisen und gerechten Determinationen zu gehorchen“.160 Solche variablen Rechte wie das Wahlrecht, „das heißt die direkte oder indirekte Beurteilung der Weisheit von Gesetzen und Macht“, müssen an gewisse Bedingungen geknüpft werden und können nicht für alle gleich sein.161 Sie erfordern besondere Kompetenz, die nicht lediglich im Besitz von Bildung oder besonderer Klugheit besteht. „Sie ist ein komplexer und inhaltschwerer Tatbe156 157 158 159 160 161

Woodward, Three Studies in European Conservatism, S. 224 ( Fußnote ). Ebd., S. 221; Guizot, Histoire parlementaire, Band 1, S. 327. Vgl. Guizot, Histoire parlementaire, Band 1, S. CXXVII. Guizot, Democracy in Modern Societies, S. 48 f. Ebd., S. 42. Ebd.

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stand, der die spontane Ausübung von Autorität, die gewohnte Stellung des Menschen in der Gesellschaft, das natürliche Gefühl für die verschiedenartigen Interessen, die auszugleichen sind, umfasst – mit einem Wort, ein gewisses Ensemble von Fähigkeiten, Kenntnissen und Tatkraft, in dem der ganze Mensch enthalten ist.“162 Guizot spricht von einer „im wesentlichen politischen Klasse“,163 die „die erhabensten Seelen“164 aufweist, „que leur situation place naturellement au niveau des grandes affaires“,165 und deren Vermögen, Erziehung und Gewohnheiten eine Garantie sind für Unabhängigkeit, Wissen und Muße, die für das öffentliche Leben so notwendig sind.166 Guizot legt gleichzeitig größtes Gewicht auf die Tatsache, dass er nicht eine geschlossene regierende Kaste im Auge hat – „wenn sie ( die Regierung ) eine Begrenzung der politischen Rechte vornimmt, versucht sie auch, diese Grenze auszudehnen“.167 Guizot wollte keiner Erweiterung des Wahlrechts zustimmen, von allgemeinem Wahlrecht gar nicht zu reden – „idée routinière et fausse“.168 Denn schließlich ist „die moderne arbeitende Demokratie“, wie Guizot sie gern sehen möchte, vollständig mit ihren „intérêts domestiques“ und den Bedürfnissen ihres privaten, bescheidenen Daseins ausgefüllt.169 Sie ist daran interessiert, gut regiert zu werden und die notwendige Sicherheit zu genießen, um ihren privaten Angelegenheiten nachzugehen. „Sie strebt nicht danach zu regieren.“170 Was die besitzenden Klassen betrifft, so ist es, wenn das Prinzip der Vertretung nach dem Besitz erst aufgestellt ist, unerheblich, ob die Qualifikation bei 200 oder 150 Franken festgesetzt wird. Der Reichere vertritt und schützt natürlich die Interessen des ärmeren Steuerzahlers. „Niemals vorher in der Geschichte hat eine derartige Ähnlichkeit der Interessen eine solche Mannigfaltigkeit der Berufe und Ungleichheit der Bedingungen begleitet.“171 Und so ist das Geschrei nach Wahlreform faktiös : „eine parlamentarische Notwendigkeit, die nicht von einer sozialen Notwendigkeit her vorgerufen ist.“172 Die demokratische Bewegung hat gewaltig zugenommen und kann nicht aufgehalten werden. Doch sie muss um jeden Preis daran gehindert werden, ihre ausschließliche Herrschaft zu etablieren. „Diese gewaltige Bewegung,“ –

162 163 164 165 166 167 168 169 170 171 172

Ebd., S. 43. Vgl. auch Guizot, Histoire parlementaire, Band 1, S. 214. Guizot, Histoire parlementaire, Band 1, S. 318. Ebd., S. XVII. Ebd., S. XIII. Vgl., Guizot, Democracy in France, S. 18 f. Guizot, Histoire parlementaire, Band 3, S. 105. Guizot, Mémoires, Band 6, S. 373. Vgl. Guizot, Histoire parlementaire, Band 1, S. 316. Ebd. Guizot, Histoire parlementaire, Band 3, S. 556. Guizot, Histoire parlementaire, Band 5, S. 382.

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schreibt Guizot – „die in alle Länder getragen worden ist und sie bis in ihre letzten Tiefen beunruhigt; die unaufhörlich jede Klasse und jedes Individuum antreibt zu denken, zu wollen, zu verlangen, zu handeln, sich in jeder Richtung zu betätigen – diese Bewegung wird nicht aufgehalten werden.“173 Alle Parteien, von den Monarchisten zu den Kommunisten, sagt Guizot in seiner unmittelbar nach der Revolution von 1848 geschriebenen Démocratie en France, berufen sich auf das Wort Demokratie als auf ihren Talisman, „das souveräne und universale Wort“.174 „So groß ist die Macht des Wortes Demokratie, dass keine Regierung oder Partei ihr Haupt zu erheben wagt oder ihre eigene Existenz für möglich hält, wenn sie nicht dieses Wort auf ihr Banner geschrieben hat; und diejenigen, die dieses Banner am meisten zur Schau tragen und bis zum äußersten erheben, glauben stärker zu sein als die ganze übrige Welt.“175 Es mag unmöglich sein, diese Bewegung auszulöschen. Aber sie muss geleitet werden, andernfalls, wenn ihr völlig freie Zügel gelassen werden, wird sie den ganzen Strom der Zivilisation zurückwerfen, indem sie blutigen sozialen Krieg und schließlich egalitären Despotismus erzeugt. Der Demokratie sollte gestattet werden aufzusteigen, doch niemals herunterzuziehen. Sie muss „auf jeder Seite Schranken antreffen“.176 Angesichts des demokratischen Ansturms, „l’ardeur ascendante des masses populaires“,177 ist es unerlässlich, dass alle an der Erhaltung des pluralistischen sozialen Systems interessierten Klassen, kurz : alle konser vativen Kräfte, sich vereinen : „die im Staat dank ihres Vermögens, ihrer Erleuchtung, ihrer Beziehungen, ihrer Leistung selbstverständlich einflussreichen Klassen [...], ( und mag dieser Bund ) [...] Transaktion, Konziliation, Fusion oder wie immer sonst genannt werden.“178 Denn „Eigentum, Familie und alle Grundlagen der Gesellschaft werden überall angegriffen, sie müssen überall kraftvoll verteidigt werden“.179 Die Werkzeuge dieser Verteidigung sind die politischen Parteien der besitzenden Klassen, Nuklei der Disziplin und Loyalität, von denen manche mehr Gewicht legen auf Ordnung und Erhaltung, andere mehr auf Fortschritt und Freiheit. Sie mögen miteinander konkurrieren, aber angesichts der in der demokratischen Dynamik enthaltenen Gefahr von Revolution, Anarchie und Despotismus müssen sie die „Armeen der bürgerlichen Ordnung inmitten der Freiheit“180 bilden. 173 174 175 176 177 178 179 180

Guizot, Democracy in France, S. 68. Ebd., S. 2. Ebd., S. 3. Vgl. auch Guizot, Histoire parlementaire, Band 5, S. 381. Guizot, Democracy in France, S. 68. Guizot, Histoire parlementaire, Band 1, S. XIV. Ebd., S. XIV, CXXIII. Guizot, Democracy in France, S. 65. Guizot, Histoire parlementaire, Band 1, S. CXVIII.

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Konfrontierungen

Illiberale Maßnahmen, vor deren Anwendung Humboldt und Constant sogar zur Verteidigung der Freiheit entschieden zurückschreckten, wurden von Guizot gegen die Demokratie angewandt im Namen der liberalen Werte und in der unerschütterlichen Annahme, dass Demokratie soziale Umwälzung bedeute.181

5. Liberalismus, Demokratie, Sozialismus und konser vativer Liberalismus ( Tocqueville ) Tocqueville kam zu dem Schluss, dass das einschränkende, reaktionäre Bündnis der Parteien der Ordnung und des Besitzes bei weitem nicht der Freiheit als Schutz diente, sondern eine sehr ernste Gefahr für sie bildete. Das parlamentarische System der Julimonarchie ruhte auf einer zu engen Basis. Die Parteien, die die gleichen Interessen vertraten, spalteten sich wegen geringfügiger und faktiöser Angelegenheiten. Die Parlamentsdebatte wurde zu einer Farce. Das Volk draußen hatte keine Achtung vor einem solchen Parlament. Im Vergleich zu den nicht im Parlament vertretenen vitalen Kräften und drängenden Ansprüchen schienen dessen Prozeduren höchst unwirklich und irrelevant, abgesehen davon, dass sie langweilig waren. Außerdem begannen die herrschenden Klassen, die Gönner des Regimes, das Land wie ihr privates Erbe zu behandeln. Sie waren die Aktionäre in einer Aktiengesellschaft. In diesem geschlossenen Kreis wurde von jedem Einzelnen erwartet, dass er den anderen mit einer Art kaufmännischer Gegenseitigkeit behandelte, was die Verpflichtung einschloss, den jeweiligen Ver wandten, Freunden und Mätressen zu helfen. Das Regime war in Verruf geraten. Die herrschende Klasse war weit davon entfernt, die Zivilisation oder die Freiheit zu verteidigen; sie benutzte vielmehr die staatliche Macht als ein Werkzeug der Klassenherrschaft und des Klassenprivilegs. Auf diese Weise wurde die Nation, ebenso wie am Vorabend von 1789, in zwei Lager geteilt, in die Bevorrechtigten und die Benachteiligten.182 Nur dass in vieler Beziehung die Stellung der ersteren in den vierziger Jahren noch viel stärker unterminiert war als die der oberen Stände sechzig Jahre vorher. Im achtzehnten Jahrhun181

182

Eine soziale Republik (1848) bedeutete für Guizot, Democracy in France, S. 32 f., „die Degradierung des Menschen und die Zerstörung der Gesellschaft. Nicht nur der Gesellschaft, wie sie zur Zeit konstituiert ist, sondern jedweder menschlicher Gesellschaft; [...] nicht lediglich eine Invasion [...], es ist der Ruin des Gebäudes an sich [...], hassenswert und unmöglich [...], höchst absurd [...], per verseste aller Schimären.“ Vgl. auch Faguet, Politiques et moralistes, S. 335. Vgl. Tocqueville, Recollections, S. 3 f., 8–13, 32; ders., Œuvres complètes, Band 9, S. 514–516, 523, 525, 534.

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dert herrschte noch Ehrfurcht vor Königtum und Aristokratie, die mit dem Nimbus von Gottesgnadentum und altehr würdigem Herkommen umgeben waren. Die Bourgeoisie hatte ihr Bestes getan, diese Ehrerbietung zu zerstören. Die Menschen hatten gelernt, dass es angesichts des Individuums mit seinen Rechten und des Volkes mit seiner Souveränität keine geheiligten und unabänderlichen Werte und Einrichtungen gab. Warum sollten jetzt die Armen vor der Institution des Privateigentums, von der sie ausgeschlossen sind und deren Monopol in anderen Händen sie als das bedrückendste Privileg betrachten, haltmachen, nachdem sie gelernt hatten, jede althergebrachte Einrichtung in Frage zu stellen, nicht an ein künftiges Leben zu glauben, und man sie gedrängt hatte, die Gesamtheit der Rechte und Glückseligkeit zu fordern?183 „Die Besitzenden sollen sich nicht über die Stärke ihrer Position täuschen und nicht glauben, die Eigentumsrechte bilden eine unübersteigbare Schranke, weil sie bis jetzt noch nicht überstiegen wurde; denn unsere Zeiten sind anders als alle anderen. Als die Eigentumsrechte lediglich den Ursprung und Beginn einer Anzahl anderer Rechte bildeten, waren sie leicht zu verteidigen, oder richtiger, wurden sie niemals angegriffen; damals stellten sie einen Schutzwall der Gesellschaft dar, und alle anderen Rechte waren die Vorposten; kein Hieb erreichte sie; kein ernster Versuch wurde je unternommen, sie anzurühren. Doch heute, nachdem die Eigentumsrechte nichts anderes sind als die letzten Überbleibsel einer gestürzten aristokratischen Welt; nachdem sie allein unberührt geblieben sind, ein vereinzeltes Privileg inmitten der universalen Nivellierung der Gesellschaft; nachdem sie nicht mehr geschützt sind hinter einer Anzahl noch strittigerer und verhassterer Rechte, liegt der Fall anders, und sie allein sind übrig und dem direkten und unaufhörlichen Anprall der demokratischen Meinung ausgesetzt; [...] ihre Leidenschaften sind aus politischen zu sozialen geworden.“184 Die demokratischen Bestrebungen gipfeln somit in einem beständigen Ansturm auf das Privateigentum – „das letzte Symptom der alten demokratischen Krankheit, deren Krise bevorzustehen scheint“.185 Aber sogar wenn es keinen demokratisch - egalitären Messianismus gegeben hätte, würden objektive Bedingungen allein den Tag herbeiführen, an dem der allmächtige Staat seine Bürger versorgen und verhätscheln würde unter der Bedingung, dass sie fügsam und apolitisch sind. Tocqueville konnte gegen eine solche Entwicklung nur zwei Garantien sehen. Die eine war die Tradition der Freiheit, deren Grundlage nicht abstrakte, unter dem Vor wand einer der Gesellschaft drohenden Gefahr so leicht zu entwertende Prinzipien sind, son183 184 185

Vgl. Tocqueville, Recollections, S. 10–13, 83 f. Tocqueville, Recollections, S. 11 f.; ders., Œuvres complètes, Band 9, S. 516–517, 526. Tocqueville, Recollections, S. 11 f.; ders., Œuvres complètes, Band 9, S. 518.

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dern die jahrhundertealten Privilegien und Freiheiten von Aristokratie, Selbstver waltungskörpern und Korporationen. Diese schöpften ihre Vitalität aus altehr würdigem Herkommen und Brauch, und der dingliche Charakter der Privilegien sicherte ihnen Unabhängigkeit von der Staatsgewalt. Im Gegensatz zu England und, in einem anderen Kontext, den Vereinigten Staaten von Amerika war dieser Typ der Freiheit jedoch in Frankreich durch das Hinwegfegen der Aristokratie und den Bruch in der historischen Kontinuität, von der die Aristokratie einen überragend wichtigen Aspekt bildete, unmöglich geworden. Daher bleibt das Privateigentum als die wesentliche Bedingung für die Erhaltung der Würde und Unabhängigkeit des Menschen. Denn alle anderen Freiheiten sind zu schwer fassbar, zu ätherisch, um dem Ansturm despotischer Macht zu widerstehen. Doch Tocqueville ist sich schmerzlich klar darüber, welch prekäre Stütze das Privateigentum ist, nachdem es als alleiniges erbliches Privileg übrig geblieben ist.186 Obwohl er sich zum Liberalismus bekannte, war Tocqueville seinem Instinkt und seiner Erziehung nach ein Aristokrat. Er liebte die Freiheit leidenschaftlich und wusste so eindringlich zu ihrem Ruhme zu schreiben. Doch wurde er niemals wirklich von tiefer Anteilnahme mit dem Leiden und Elend der Armen und Gedemütigten erfasst. Er konnte sich nie eins fühlen mit der leidenden Menschheit, die nach Befreiung und Erlösung drängt. Er fühlte sich vielmehr bedroht, und nichts gibt besseren Aufschluss über diesen ver wöhnten Aristokraten als eine Stelle in seinen Memoiren, in der er berichtet, wie er kurz nach Ausbruch der Februarrevolution seinen Koch und sein Zimmermädchen darüber sprechen hörte, dass sie bald die ausgezeichneten Speisen ihres Herrn essen und seine feine Seidenkleidung tragen würden. Es war zu gefährlich, das zu jener Zeit zu beachten, doch nahm Tocqueville sich vor, die beiden anmaßenden Plebejer zurechtzuweisen, wenn die Situation sich etwas beruhigt haben würde.187 Bei aller Unterstreichung der Menschenwürde war Tocqueville außerstande, die Vorstellung abzuschütteln, dass die Menschheit sich teile in diejenigen, die dazu geboren sind, bedient zu werden, und diejenigen, deren Bestimmung es ist zu dienen, damit die Minorität einen erlesenen Ausschnitt der Kultur darstellen könne. Nicht messianische Erwartung, sondern eine apokalyptische, fatalistische Angst durchdringt seine Schriften. Nicht spontaner Drang nach Reform, sondern besorgtes Sinnen nach Mitteln und Wegen zur Milderung des unvermeidlichen Übels ist die treibende Kraft hinter Tocquevilles scharfer Analyse. Er würde uns tiefer und in seiner Tragik größer erscheinen, wenn seine nicht unbegründeten Befürchtungen mit lebhafterer Erbitterung gegen die gesell186 187

Vgl. Mayer, Tocqueville, Prophet of the Mass Age, S. 117–119. Vgl. Tocqueville, Souvenirs, S. 218 f.

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schaftlichen Übelstände und mit einer tieferen Anteilnahme an den Leiden seiner Mitmenschen verbunden gewesen wären. Es war ein schroffer Ton in der Rede, die Tocqueville über das Recht auf Arbeit nach den Junimassakern von 1848 in der Debatte in der Assemblée Constituante hielt und in der er den Arbeitern nur einen Anspruch auf christliche Nächstenliebe zubilligte. Indessen rief – zur ungeheuren Erleichterung der bürgerlichen Liberalen – eine allgemeine demokratische Abstimmung nicht nur keine sozialistische Revolution her vor, sondern ergab eine konser vative, besitzliebende Mehrheit.188

6. Demokratischer Liberalismus ( Lamartine ) Ein anderer Aristokrat, Lamartine, weit weniger alert und nicht so integer, erfasste mehr vom messianischen Geist des Zeitalters. Etwas übertrieben sagt er von sich – „l’instinct des masses, voilà ma seule vertu politique“.189 Er fühlte, dass er in einem Zeitalter der Erneuerung lebte, und suchte nach einem ewig gültigen Prinzip und nach letzter Sanktion. „Wir befinden uns in einer jener mächtigen Epochen, die die Menschheit zurückzulegen berufen ist, um zum Ziel ihrer göttlichen Bestimmung vorzudringen, in einer Epoche der Erneuerung und des sozialen Wandels, die vielleicht der Epoche des Evangeliums ähnelt.“190 Seine Berufung auf die Wahrheit des Evangeliums als Grundlage für die künftige Gesellschaftsordnung, seine Idee einer „politique rationnelle“191 und sein Bestehen darauf, dass die öffentliche Moralität endlich den Regeln der allgemeinen Ethik angeglichen werden müsse, sind nicht sonderlich scharfsinnig, doch sie offenbaren ein banges Suchen und sind mehr als leere Rhetorik. Für den Verfasser der Histoire des Girondins war die Französische Revolution eine glorreiche Erfüllung oder vielleicht Einleitung. Es ist wahr, von Lamartine konnte man spöttisch sagen, er sei einer von denen, die imstande sind, 188

189

190 191

Vgl. Tocqueville, Œuvres complètes, Band 9, S. 536–552. Sozialismus war „appel énergique, continu, immodéré aux passions matérielles de l’homme [...] procurer à tout le monde une consommation illimitée“, vgl. ebd., S. 539 f. Siehe auch ders., Œuvres complètes, Band 5, S. 425–427. Lamartine, La Politique de Lamartine, Band 1, S. XIV. A. d. Hg. : Lamartine gründete 1843 die Zeitung „Le Bien public“, die Talmon in diesem Abschnitt drei Mal als Quelle anführt : Die Ausgabe vom 26. Dezember 1844 sowie ( leider ohne genauere Angaben) die Seiten 158, 176, 193 und 196. Leider waren diese Quellen den Herausgebern nicht zugänglich und konnten somit nicht eindeutig bestimmten Absätzen des Kapitels zugeordnet werden. Guillemin, Lamartine et la question sociale, S. 83. Ebd.

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ungeheuer romantische und heroische Sehnsüchte nach dramatischen Taten, schrecklichen Tragödien, Märschen vom Ebro zur Newa, Schlachten wie denen von Jemappes und Austerlitz wachzurufen unter der Voraussetzung, dass sie in warmen Hausschuhen genossen werden können. So schrieb Madame de Girardin beim Erscheinen des Buches : „Es ist eine Revolution, es ist eine Prophezeiung, es ist ein Symptom, es ist vielleicht ein Dekret ! Denn nicht ohne Grund hat Gott einem solchen Mann gestattet, ein derartiges Buch zu schreiben [...]. Oh, wie schön es ist ! Doch was für Ereignisse werden aus diesem Buch entstehen ! [...] M. de Lamartine spricht von den revolutionären Ideen wie ein Mann, der das Geheimnis entdeckt hat, sie ohne Verbrechen, ohne Gewalttaten, ohne Stürme anzuwenden. Gebe Gott, dass er Recht hat und dass sein Buch der Anfang seines Unterfangens ist ! [...] Seit vierzehn Tagen sprechen die Menschen über nichts anderes. Es gab Konzerte, aber wir sind nirgends hingegangen, wir sind allein zu Hause geblieben, haben am Kamin gesessen, um dieses Buch voller Lehren und Prophezeiungen zu lesen und zu besprechen.“192 Lamartines Ausgangspunkt ist, anders als bei Guizot oder Tocqueville, nicht eine Klasse, sondern „la large base d’une nation tout entière“, „indivisible, complète“, „compacte individualité nationale“, die durch Fusion der Bedingungen, Kasten und Berufe erreicht wurde; der Mensch – „être moral“ und nicht Steuerzahler.193 Guizots Demokratie, sagt Lamartine, hat das Eigentum zum Axiom; seine eigene ist auf dem Menschen begründet.194 Guizot setzte die um einige Rangstufen erniedrigte Aristokratie wieder ein und nannte sie Mittelstand. Lamartine ruft das Volk auf : „Organiser la démocratie pour qu’elle se moralise.“195 Ihm liegt daran, die politische und bürgerliche Gleichheit aller Menschen zu heiligen, so wie Christus ihre natürliche Gleichheit vor Gott geheiligt hat. „Es mag gegenseitige Achtung zwischen diesen beiden Doktrinen geben, gelegentlichen Frieden und ein Bündnis auf kurze Zeit, aber es kann keinen dauerhaften Frieden geben und keine Willensverschmelzung.“196 Von diesen Voraussetzungen ausgehend schließt Lamartine, dass es kein Entrinnen vom allgemeinen Wahlrecht mehr gibt, wenn das Prinzip der repräsentativen Regierung erst einmal angenommen ist.197 Doch hier wird der Verfasser sehr unbestimmt. Er will, dass das Wahlrecht „jedem Einzelnen den wirklichen 192 193 194 195 196 197

Madame de Girardin, zit. in Quentin - Bauchart, Lamartine : Homme politique, S. 124. Vgl. Lamartine, La Politique de Lamartine, Band 2, S. 74, 85, 88; Barthou, Lamartine orateur, S. 193; Tchernoff, Le Parti républicain, S. 197. Vgl. Barthou, Lamartine orateur, S. 127 f. Lamartine, La France parlementaire, Band 2, S. 289. Ebd. Vgl. Lamartine, La Politique de Lamartine, Band 2, S. 260, 275; Tchernoff, Le Parti républicain, S. 197–199.

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Ausdruck seiner politischen Bedeutung gibt in dem wahren Maß und der exakten Proportion seines Daseins als soziales Geschöpf“ – „élection à plusieurs degrés“.198 Das konnte leicht als Besitz gleicher, doch nicht derselben Rechte ausgelegt werden. Es ist verbunden mit der Erklärung, dass „proportionale und allgemeine Wahlen“, die mit den niedrigsten Stufen des „droit du cité“ und Eigentums beginnen, bis zu den höchsten Stufen steigen werden.199 Somit sind wir in gewissem Sinne wieder bei dem Problem des Eigentums angelangt. Lamartine wird verfolgt von dem Gedanken, dass „die Frage des Proletariats die schrecklichste Explosion verursachen wird“, wenn die gegenwärtige Gesellschaft es versäumt, sie zu lösen.200 Es ist, sagt er, etwas zutiefst Ungerechtes in der Tatsache, dass eine Gesellschaft, die den Menschen dazu verurteilt, sein ganzes Leben lang schwer zu arbeiten, es unterlässt, Arbeit zu beschaffen.201 Er ist jedoch ebenso überzeugt, dass das Eigentum der „Grundstein jeder Gesellschaft ist“, die Grundlage der wertvollsten sozialen Einrichtung – der Familie, der Anreiz, den Gott für Leistungen vorgesehen hat.202 Eigentümer ist „der schönste Name des Menschen“.203 Es gibt zwei Worte, die die soziale Ordnung in ihren Fundamenten erzittern lassen : das Recht auf Arbeit und die Organisation der Arbeit.204 Es scheint Lamartine, dass sie entweder äußersten Despotismus bedeuten oder ein leerer Wahn sind. Wenn die Regierung Arbeit für jedermann beschaffen, das heißt das ganze System der Produktion und Konsumtion organisieren soll, dann muss sie alles Vermögen übernehmen und eine extreme Form der Organisation durchführen, die die Menschen zu Nummern macht.205 Das ist Tyrannei. Lamartine zieht es vor, die Parolen als leere, wenn auch klingende Schlagworte zu behandeln; doch als gefährlich, sobald sie eine Lösung anzudeuten scheinen, wo sie doch höchstens eine Problemstellung aufzeigen; und Befriedigung versprechen, wo es keine Mittel gibt, sie zu erfüllen.206 Im Februar 1848 wird er sich weigern, eine Verpflichtung in diesem Sinne zu unterzeichnen und am Ende doch schweren Herzens derselben Sache unter einem anderen Namen zustimmen.207 Lamartine konnte sich das „Recht auf Arbeit“ noch in „extremen Fällen“ und „dans

198 199 200 201 202 203 204 205 206 207

Lamartine, La Politique de Lamartine, Band 1, S. 43 f. Vgl. ebd., S. 43. Vgl. Barthou, Lamartine orateur, S. 61. Siehe auch Bert, Lamartine, S. 57. Vgl. Lamartine, La Politique de Lamartine, Band 2, S. 153 f. Vgl. Barthou, Lamartine orateur, S. 61; Lamartine, Voyage en Orient, Band 2, Résumé politique du voyage en Orient, S. 477–479, Zitat : 479. Lamartine, Cours familier de littérature, Band 11, S. 465. Vgl. Lamartine, La Politique de Lamartine, Band 2, S. 146. Vgl. ebd., S. 148–150, 154; Bert, Lamartine, S. 64. Vgl. Lamartine, La Politique de Lamartine, Band 2, S. 161 f., 164. Vgl. ebd., S. 306–308; Barthou, Lamartine orateur, S. 274 f.

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des conditions définies“ vorstellen.208 Er drängte die Regierung, ihre Aufmerksamkeit der Lage der Arbeiter zuzuwenden. Er setzte sich für unentgeltlichen Unterricht, Arbeitslosen - und Invalidenunterstützung, Berufsausbildung ein – „l’élever, l’éclairer, la moraliser sans cesse“, „créer en un mot une providence visible“.209 Er war sogar bereit zuzugeben, dass freier Wettbewerb einem zynischen Eigennutz Vorschub leistet.210 Doch Staatseigentum und Reglementierung durch den Staat gingen über sein Fassungsvermögen hinaus. Sein Sozialismus beschränkte sich darauf, das „christliche Prinzip, die Idee des gegenseitigen Beistands, menschlicher Brüderschaft und Staatshilfe“211 zu preisen, und die Reichen aufzurufen, ihren Überfluss mit den Armen in der Weise zu teilen, dass sie ihnen die zum Erwerb ihres Unterhalts benötigten Werkzeuge zur Verfügung stellen – „une sorte d’assurance mutuelle à des conditions équitables entre la société possédante et la société non possédante“.212 Lamartine erhob Anspruch auf den Titel „homme social“, weil er gegen den „hassenswerten Individualismus“213 Stellung nahm. Er war bestrebt, „se dépouiller de l’égoïsme, et se dévouer plus hardiment à la régénération des choses, à la charité politique envers les peuples, à la réforme rationnelle des oppressions, des iniquités sociales“.214 Am Vorabend von 1848 scheint Lamartine zu dem Schluss gelangt zu sein, dass eine politische Demokratie sich schließlich doch als Sicherheitsventil gegen eine totalitäre soziale Revolution erweisen könne.215

208 209 210 211 212 213 214 215

Lamartine, La Politique de Lamartine, Band 2, S. 165. Barthou, Lamartine orateur, S. 275; Bert, Lamartine, S. 62 ( Zitat ), 164. Vgl. Bert, Lamartine, S. 61. Lamartine, La France parlementaire, Band 2, S. 103; Michel, L’Idée de l’État, S. 330 f.; Guillemin, Lamartine et la question sociale, S. 83. Barthou, Lamartine orateur, S. 61. Zu Lamartines Ansichten zum utopischen Sozialismus siehe Lamartine, La Politique de Lamartine, Band 2, S. 156–158. Barthou, Lamartine orateur, S. 61, 81. Vgl. auch Bert, Lamartine, S. 98. Barthou, Lamartine orateur, S. 81. Lamartine, La Politique de Lamartine, Band 2, S. 343 : „La république inspirée de Washington triomphera de la république de Babeuf, de Robespierre et de Danton !“ Siehe auch ebd., S. 162 : „Ils rêvent le 18 brumaire des travailleurs. [...] Ils veulent que le gouvernement, pour vu qu’il soit démocratique, ose tout, fasse tout, tienne tout. La tyrannie, qui leur paraît exécrable en haut, leur paraît excellente en bas; ils oublient que [...] si l’arbitraire des rois ou des aristocrates est insolent, l’arbitraire du peuple est odieux.“

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Der Liberalismus als Gegenspieler

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7. Demokratischer Radikalismus ( Ledru - Rollin ) Ledru - Rollins Programm eines jakobinischen radikalen Demokraten erklärt 1841 mit Bestimmtheit, Wahlreform, allgemeines Wahlrecht, politische Erneuerung „können nur ein Schritt und ein Mittel zu gerechten sozialen Verbesserungen sein“,216 andernfalls würden sie lediglich eine Änderung im repräsentativen System darstellen. Hierin, behauptete er, bestand der Unterschied zwischen seiner eigenen demokratischen Partei und allen anderen Parteien der Julimonarchie.217 Keine wagte, die vollen Konsequenzen aus dem Prinzip der Volkssouveränität von 1789 und 1830 zu ziehen. Sie entwickelten einen oberflächlichen Begriff vom souveränen Volk : „Für unsere Väter (in den Tagen der großen Revolution ) war das Volk die ganze Nation, wo jeder Mensch gleiche politische Rechte genoss, ebenso wie Gott ihm einen gleichen Anteil an Luft und Sonne gegeben hat.“218 Die Regierungen seit der großen Revolution hatten nicht nur die Massen mit einer schweren Bürde belastet und ihnen dabei ihren Anteil an der Souveränität vorenthalten. Sie hatten jeden Versuch, solche Rechte zu verlangen, erstickt. Die Julimonarchie überlieferte die Arbeiter von Lyon dem Galgen, als sie einen Kampf um ihr Brot ansagten, und sie schickte Arbeiter ins Gefängnis, die sich zu organisieren versuchten, um für bessere Bedingungen zu kämpfen. „Doch das Volk [...] ist der Ecce homo unserer Zeit.“219 Die Pharisäer haben ihn gekreuzigt, aber er wird an dem bevorstehenden Tag der Abrechnung siegreich vom Kreuze niedersteigen. Ledru - Rollins Bundesgenosse Courcelle - Seneuil malt im Dictionnaire politique ein äußerst beredtes Bild von dem industriellen Elend und schlägt einen robespierristischen Ton an mit seiner Feststellung, die Gesellschaft sei der wahre Eigentümer aller Güter, und daher sei das Privateigentum nicht ein natürliches, unveräußerliches Recht, sondern ein konventioneller Verteilungsmodus für das Vermögen der Nation, unter Berücksichtigung von Gerechtigkeit und öffentlicher Nützlichkeit.220 Nachdem er jedoch dies gesagt hat, erklärt der Verfasser, die Abschaffung des Privateigentums würde die Regierung zum Ver walter allen Vermögens machen, zum Verteiler von Arbeit und Entlohnung, der die Kräfte und Bedürfnisse jedes Bürgers abschätzen würde. In einem solchen System „würde niemand irgendwelche Freiheit oder Unabhängigkeit besitzen, mit Ausnahme derjenigen, die die politische Macht in ihren Händen halten; und es würde weder nützlich noch wünschenswert sein,

216 217 218 219 220

Mitard, Origines du radicalisme, S. 47. Vgl. ebd., S. 62. Ebd., S. 46. Ebd., S. 47. Vgl. ebd., S. 71.

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Konfrontierungen

dass die Untertanen denken oder einen Willen haben“.221 Es würde jeder wirtschaftliche Ansporn zur Anstrengung fehlen. Kurz, die Kritik am Privateigentum richtete sich nicht gegen die Institution als solche, sondern gegen ihren Missbrauch als Werkzeug von Betrug und Unterdrückung, erklärt der Artikel. „Wir glauben, dieses Recht ( des Eigentums ), das die notwendige Garantie der Freiheit und Unabhängigkeit der Bürger ist, sollte sorgsam beibehalten werden [...] durch Bekämpfung ( betrügerischer Praktiken ) mit Hilfe der Gesetze [...]; die kleinen Eigentümer und Proletarier gegen Unterdrückung beschützen, [...] indem die Produktionsmittel in die Nähe der Arbeiter gebracht werden; [...] den Fortschritt des allgemeinen Wohlergehens begünstigen [...], gerechte Verteilung [...], Zerschlagung des Monopols des Kapitals [...], Gründung und Erweiterung von Kreditanstalten.“222 Mit anderen Worten, „es ist nicht so sehr notwendig, die Gesetze über das Eigentum zu ändern, als der politischen Macht die moralische Richtung zu geben, die ihr heute fehlt“.223 Die Vorstellung, das allgemeine Wahlrecht sei der Weg zu einer sozialen Umwälzung, beherrschte am Vorabend von 1848 fast alle Gemüter. Das allgemeine Wahlrecht führte 1848 zu einer gewaltigen konser vativen, besitzliebenden Mehrheit. Tocqueville konnte dann getrost und triumphierend den Sozialismus im Namen der Demokratie bekämpfen und das amerikanische Muster der Demokratie als Vorbild hinstellen.224 Der äußerste sozialistische oder kommunistische Flügel hatte keine Skrupel, die soziale Revolution über die formale Demokratie zu stellen. Am schwierigsten war die Stellung der radikalen Demokraten wie Ledru - Rollin, die an das allgemeine Wahlrecht als Mittel zur sozialen Umgestaltung glaubten. Sie hatten sich zu entscheiden zwischen orthodox demokratischer Legitimität und der durch Gewalt erzielten sozialen Umwälzung.225

221 222 223 224 225

Ebd., S. 72. Ebd., S. 69, 72 f. Ebd., S. 73. Vgl. Tocqueville, Œuvres complètes, Band 9, S. 544 f., 552. Vgl. Cuvillier, Hommes et idéologies de 1840, Kapitel 5, S. 95–144.

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III. Eine Kon fron tie rung Es ist kein Zufall, dass Saint - Simon und seine Schüler imstande waren, mit wohlwollender Bewunderung von den ultramontanen Absolutisten zu sprechen, während sie nichts als Verachtung für die bürgerlichen Liberalen empfanden. Eine ähnliche Haltung ist zuweilen sogar bei Marx nachweisbar. Das verborgene Band widerstrebender Sympathie lag in dem gemeinsamen Sehnen nach Gewissheit und in dem Bestreben, den Menschen in einem allumfassenden System zu verankern. Was die beiden Extreme am Liberalismus abstieß, war sein areligiöser Charakter, seine Freiheit sowohl von der Last der Sünde einerseits, als auch von der Sehnsucht nach Erlösung andererseits. Jene mit pragmatischem Empirizismus verbundene anscheinende Unbekümmertheit erschien beiden Gegnern des Liberalismus als das egoistische Interesse von selbstgefälligen und zufriedenen Menschen, das bleiben zu dürfen, was sie waren. In den Augen der Rechten waren die Liberalen gotteslästerliche Rebellen, die Angst bekamen, nachdem sie die Zündschnur angesteckt hatten; für die Linke waren sie eigennützige Verräter. Die Liberalen hätten sehr wohl mit dem Ausspruch Poincarés erwidern können, dass „diejenigen, die vor allem nach Gewissheit dürsten, die Wahrheit nicht wirklich lieben“.226 Und auch die Freiheit nicht.

226

A. d. Hg. : Das hier aufgeführte Zitat stammt nicht von Henri Poincaré, sondern von Marie Bonaparte. Sie lieh einst Sigmund Freud ein Exemplar von Henri Poincarés „La Valeur de la science“ mit den Worten : „Diejenigen, die vor allem nach Gewissheit dürsten, lieben die Wahrheit nicht wirklich.“ Vgl. Jones, Das Leben und Werk von Sigmund Freud, Band 2, S. 490. Poincaré schrieb jedoch in ähnlichem Sinne : „Il ne faut pas croire que l’amour de la vérité se confonde avec celui de la certitude.“ [„Man darf nicht glauben, dass die Liebe zur Wahrheit und die Liebe zur Gewissheit eins sind.“] Vgl. Poincaré, Savants et écrivains, S. VII.

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Vier ter Teil Ide en und Wirk lich keit

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Madmen in authority who hear voices in the air are distilling their frenzy from some academic scribbler of a few years back. Keynes

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I. Eine indust ri el le Revo lu ti on ? A. Strukturelle Krise und katastrophenartiger Wandel ? 1. Demographische Veränderungen Erlebte Frankreich in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts einen totalen oder zum mindesten weitreichenden sozialökonomischen Wandel ? In welchem Tempo ging die soziale Veränderung vor sich ? Gab es in Frankreich zu jener Zeit eine strukturelle Krise der Art, die normaler weise gekennzeichnet ist durch die Kluft zwischen einer Zusammenballung anscheinend unlösbarer Probleme und der völligen Unzulänglichkeit bestehender Gesetze und Einrichtungen, sie zu bewältigen ? Inwieweit finden wir, wenn wir den Umfang der Veränderung betrachten, das Gefühl einer strukturellen Krise und das Postulat eines totalen Wandels, von denen das zeitgenössische Denken so stark beherrscht wird, durch objektive Entwicklungen im engeren Sinne des Wortes gerechtfertigt ? Der Verfasser dieses Buches erhebt keinen Anspruch darauf, ein Spezialist auf dem Gebiet der französischen sozialökonomischen Geschichte jener Epoche zu sein, von der mangels zuverlässiger Statistiken und monographischer und regionaler Studien noch vieles recht dunkel ist. Die hier zusammengetragenen – mehr annäherungsweisen als genauen – Daten stützen sich sowohl auf zeitgenössische Beobachter als auch auf moderne Forscher.1 Sie erscheinen als ausreichende Anzeichen für die allgemeinen Formen und Trends, die uns hier interessieren.2

1

2

Chevalier, La Formation; Clapham, The Economic Development of France; Clough, France; Cuvillier, Un Journal d’ ouvriers; Dolléans, Histoire du mouvement ouvrier, Band 1; Dunham, La Révolution industrielle; Festy, Le Mouvement ouvrier (1830–1834); Martin, Histoire économique et financière; Hauser, Les Coalitions ouvrières; Labrousse ( Hg.), Aspects de la crise; ders., Le Mouvement ouvrier; ders., Comment naissent les révolutions; ders., Aspects de l’ évolution économique; Levasseur, Histoire des classes ouvrières; Louis, Histoire des classes ouvrières; QuentinBauchart, La Crise sociale de 1848; Rigaudias - Weiss, Les Enquêtes ouvrières; Sée, Histoire économique de la France, Band 2; ders., La Vie économique de la France; Simiand, Le Salaire; Sorel, Idées socialistes. Vgl. Martin, Histoire économique et financière, S. 273 f.

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Ideen und Wirklichkeit

Die Bevölkerung Frankreichs betrug 1815 1830 1841 1848 knapp über

30 000 000 32 500 000 34 230 000 35 000 000.3

Wie wohl bekannt, war die französische Geburtenziffer die niedrigste in Europa.4 Können wir, wenngleich keine nennenswerte Zunahme der Bevölkerung stattfand, Verschiebungen, Wanderungen oder Entwurzelung in größerem Umfang beobachten ? Es gab recht viel Wanderung vom Land in die Stadt, aber sie war bei weitem nicht vergleichbar etwa mit der Landflucht und den schnell emporschießenden Städten in England zu jener Zeit oder in den Vereinigten Staaten nach dem Bürgerkrieg. Die städtische Bevölkerung, die 1830 nicht mehr als 15 Prozent der Gesamtzahl ausmachte, wuchs bis 1846 auf etwa 25 Prozent an; man glaubt, dass die Bevölkerung von Städten mit mehr als 3 000 Einwohnern in den zehn Jahren zwischen 1836 und 1846 um etwa 2 Millionen anstieg.5 Woher kamen diese Neuankömmlinge ? Ein erheblicher Teil zweifellos vom Land, besonders aus Gegenden, in denen die Heimarbeit durch die Einführung der Maschine verdrängt wurde. Wir müssen auch die ständig fallende Sterblichkeitsziffer in Betracht ziehen ( sie betrug 1814 28,5 je Tausend; 1845 – 21,2).6 Ein wichtigerer Faktor scheint gewesen zu sein, dass die Geburtenziffer in den neuen Industriezentren beträchtlich höher war als in den landwirtschaftlichen und weinbauenden Gegenden. Es gab allerdings auch, besonders in Zeiten industrieller Krisen, ein erhebliches Rückfluten in die Dörfer. Viele wechselten ohnehin zwischen Land und Stadt hin und her. Villermé weist die Ansicht zurück, die Industrien hätten die ländlichen Gegenden ihrer Bevölkerung beraubt. Viele Industriearbeiter hatten niemals auf dem Land gearbeitet, und die industrielle Konzentration begünstigte eine Ausdehnung der Landwirtschaft – um mehr Nahrungsmittel zu beschaffen. Außerdem war die Zahl kleiner bäuerlicher Grundeigentümer im Wachsen begriffen, die Landwirtschaft blühte, und das Problem der Enteignung von Gemeindeland durch Einhegung bestand in Frankreich nicht.7

3 4 5 6 7

Vgl. Sée, Histoire économique de la France, Band 2, S. 176 f.; Charléty, La Monarchie, S. 210; Bertier de Sauvigny, La Restauration, S. 317. Vgl. Charléty, La Monarchie, S. 210 f. Vgl. ebd., S. 211. Vgl. ebd. Vgl. Villermé, Tableau de l’ état physique, Band 2, S. 293.

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Eine industrielle Revolution

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Wie war das Tempo der Urbanisierung im Frankreich der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts ? Natürlich wuchs Paris immer weiter, und nach L. Chevalier waren von hundert Personen, die in der Hauptstadt starben, nur fünfzig dort geboren.8 Aber Paris hatte schon immer wie ein Magnet die Unternehmungslustigen, die Ver wegenen und die Tüchtigen angezogen, was politisch von nicht geringer Bedeutung war. Paris hatte 1801 eine Bevölkerung von 546 856 1817 713 966 1831 785 866 1836 899 313 1846 1 053 900 Das Wachstum war stetig, wurde jedoch viel beträchtlicher nach 1848 : Paris, das mit seinen Vorstädten im Jahre 1846 eine Bevölkerung von 1 226 980 hatte, wuchs im Jahre 1851 auf 1 277 064 und im Jahre 1856 auf 1 538 613.9 In der Epoche der Julimonarchie konnten sich nur noch zwei andere französische Städte einer Bevölkerung von mehr als 100 000 rühmen : Lyon und Marseille – doch sie blieben weit unter 200 000, und ihr Wachstum war keineswegs ungewöhnlich. Die meisten Provinzhauptstädte – kaum mehr als ein halbes Dutzend insgesamt – hatten 1840 zwischen 50 000 und 100 000 Einwohnern. Einige der neuen Industriezentren weisen eine eindrucksvolle Expansion auf. So zählte Mühlhausen, das 1812 nur 10 000 Einwohner hatte, 1827 schon 20 000 und erreicht 1836 30 000 Einwohner. In den gleichen Jahren (1827– 1836) wächst Roubaix von 8 000 auf 34 000 und Saint - Étienne aus einem Städtchen von 16 000 zu einer ansehnlichen Stadt von 54 000. Die älteren Industriestädte wie Lille und Rouen (68 000 während der Restaurationsperiode und 92 000 nach beinahe zehnjähriger Herrschaft von Louis - Philippe ) weisen ein viel langsameres Wachstum auf.10 Jedenfalls ist Frankreich am Vorabend von 1848 noch ein vor wiegend landwirtschaftlicher Staat, und nach den Bevölkerungsbewegungen allein zu urteilen kann nicht behauptet werden, eine umwälzende Industrielawine sei über es hereingebrochen, vergleichbar mit England oder dem Amerika nach dem Bürgerkrieg, wo neue Städte über Nacht entstanden.11 Wie Dunham bemerkt,

8 9 10

11

Vgl. Chevalier, La Formation, S. 45; Bertier de Sauvigny, La Restauration, S. 319. Vgl. Bertier de Sauvigny, La Restauration, S. 319; Charléty, La Monarchie, S. 211; Chevalier, La Formation, S. 40; Sée, Histoire économique de la France, Band 2, S. 176. Vgl. Charléty, La Restauration, S. 315; ders., La Monarchie, S. 211; Sée, Histoire économique de la France, Band 2, S. 176 f.; Bertier de Sauvigny, La Restauration, S. 318 f. Vgl. Sée, Histoire économique de la France, Band 2, S. 177.

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Ideen und Wirklichkeit

waren die französischen Städte alt, und das Einströmen in sie erschien daher wie ein Ansturm.12 Es wird berichtet, dass 1826 etwa 26 750 000 Seelen der landwirtschaftlichen Bevölkerung angehörten, 5,3 Millionen dem Handel und 4,3 Millionen der Arbeiterklasse (13 Prozent von der Gesamtzahl). 1848 bildete die Arbeiterklasse mit 6,3 Millionen 18 Prozent der Gesamtbevölkerung.13 Das Industrieproletariat überschritt niemals die 5 - Millionen - Grenze, und nur 1,3 Millionen von ihnen waren in Großunternehmungen beschäftigt.14

2. Die Bedingungen einer industriellen Revolution Soll das heißen, dass Frankreich in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts keine industrielle Revolution durchmachte ? Wenn die Entdeckung von neuen Techniken und synthetischen Ersatzmitteln, die Anwendung der Wissenschaft auf die Bedürfnisse der Industrie und die Vereinfachung der Produktionsmethoden als das Wesen einer solchen Revolution betrachtet werden, dann braucht sich Frankreich seiner industriellen Leistungen nicht zu schämen. Es genügt, an den Beitrag zur Kriegswirtschaft, den französischen Chemiker und Ingenieure zur Zeit der Revolution und Napoleons leisteten, zu erinnern.15 Sieht man die Bedeutung einer industriellen Revolution jedoch in dem siegreichen Fortschritt der Mechanisierung, in industrieller Konzentration, dem erstaunlichen Wachsen der Produktion, einer gewaltigen Beschleunigung und Erweiterung der Verkehrsmittel, der Entstehung eines höchst komplexen Kredit - und Bankwesens, der Gründung von Aktiengesellschaften, der Schaffung 12 13

14

15

Vgl. Dunham, La Révolution industrielle, S. 161–163. Vgl. Charléty, La Restauration, S. 315; Sée, Histoire économique de la France, Band 2, S. 118; Aguet, Les Grèves sous la Monarchie de Juillet, S. IX. Von den 6,3 Millionen Mitgliedern der Arbeiterklasse führen die „Statistique industrielle“ von 1841–1845 und die „Enquête de la Chambre de Commerce de Paris“ von 1848 3,8 Millionen als zu „arts et métiers“ und 2,5 Millionen zu „manufactures“ gehörig auf. Vgl. Bertier de Sauvigny, La Restauration, S. 336 : 1820 lebten von der Industrie 4,3 Millionen, verglichen mit 22 251 000 von anderen Beschäftigungen, und bei je 1 000 ausgehobenen Rekruten kamen 228 „industriels“ auf 615 „agriculteurs“; Sée, Histoire économique de la France, Band 2, S. 176; Dunham, La Révolution industrielle, S. 155: Zahlen des Industrieproletariats, verglichen mit 14 Millionen landwirtschaftlichen Arbeitern. Vgl. zu Technologie Dunham, La Révolution industrielle, S. 43, 110 f., 217–228; zu allgemeinen Bedingungen ders., La Révolution industrielle, S. 2–10 ( Einleitung ), 377–390 ( Schlussfolgerungen ); Clapham, The Economic Development of France; Sée, Histoire économique de la France, S. 155.

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eines ungeheuren Industrieproletariats auf den Trümmern der alten Handwerkerklasse und des alten Typs von landwirtschaftlichen und städtischen Arbeitern, dann sieht die Sache etwas anders aus. Nehmen wir zuerst das Verkehrswesen. Um 1848 war das französische Eisenbahnnetz, obwohl es von 38 Kilometern im Jahre 1831 auf 1 921 Kilometer Schienenlänge angewachsen war, weit hinter den 6 349 Kilometern Englands oder den 3 424 Kilometern Preußens zurück, beides Länder mit erheblich kleinerem Territorium; die Schiffbarkeit der französischen Flüsse war so verbessert worden, dass Frankreich um 1848 8 225 Kilometer befuhr, im Vergleich zu 921 unter der Restauration, und die Landstraßen waren seit 1830 mehr als verdoppelt worden.16 Im Gegensatz zur Dürftigkeit des Geleisteten war die Debatte über das Problem der Eisenbahnen ausgedehnter, lebendiger und theoretisch interessanter als in den benachbarten Ländern. Mit dem verächtlichen Skeptizismus des hochintelligenten Thiers über das joujou, das die Pariser amüsieren mag, jedoch niemals einen einzigen Passagier oder eine einzige Ladung befördern wird, wetteifert die Befürchtung des gelehrten Arago, die Soldaten würden ver weichlichen, wenn sie in Eisenbahnen fahren ( keinerlei Vorahnung von den strategischen Möglichkeiten der Eisenbahnen ) und Menschen von schwacher Konstitution würden „Lungenbeschwerden, Rippenfellentzündungen und Erkältungen“ in den Tunnels bekommen.17 Charakteristischer weise teilten die Franzosen nicht die Besorgnis jener Preußen, die den Damen rieten, Stecknadeln in den Mund zu nehmen, wenn sie mit der Eisenbahn reisten, damit sie sich vor Belästigungen schützen können, wenn der Zug durch einen Tunnel fährt. Am anderen Ende der Skala standen in Frankreich die großartigen Saint - Simonistischen Visionen von dem Verkehrsnetz zur Verbindung des Mittelmeers mit dem Atlantischen Ozean; Lamartines glühende Hoffnung, das unvermeidliche Eingreifen des Staates werde beweisen, dass die Regierung in moderner Zeit – „die Nation in Aktion“, „die Aktion aller Bürger“18 – der große Wohltäter ist, der Urheber alles dessen, was wertvoll und großartig ist; und schließlich, dass der Staat der Hüter der Freiheit ist gegen die Bedrohung durch einen in den Privatbetrieben verkörperten monopolistischen Neofeudalismus. Diese errangen trotzdem einen partiellen Sieg als Teilhaber des Staates.19 Wie authentisch war das von Balzac, Flaubert und Marx überlieferte Bild eines von der Hochfinanz und gewissenlosen Drahtziehern an der Börse

16 17 18 19

Vgl. Clough, France, S. 143, 148. Vgl. ebd., S. 144. Ebd., S. 147. Vgl. ebd., S. 146–148. Generell zum Thema Eisenbahn siehe auch : Dunham, La Révolution industrielle, S. 41–72.

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beherrschten bürgerlichen Regimes, einer der Spekulation und dem Glücksspiel ergebenen Gesellschaft, in der das Geld Familiengefühl, Ritterlichkeit, weibliche Sittsamkeit und jede selbstlose Tugend aufhebt ? Diskontierungen bei der Banque de France stiegen von etwa 500 Millionen Fr. im Jahre 1817 auf 1,817 Milliarden Fr. im Jahre 1847, und in den Jahren zwischen 1840 und 1848 erfolgte eine ungeheure Ausdehnung des Kreditgeschäfts, das von den fünfzehn neuen Filialen der Banque de France, einigen anderen zentralen Banken in Paris und einer gewissen Anzahl von Privatbanken in der Hauptstadt und Zweigunternehmungen in den Provinzen getragen wurde. Doch manche wichtigen Städte wie etwa Straßburg und Mühlhausen hatten keine Bankinstitute.20 Eine Anzahl von Aktiengesellschaften wurde durch öffentliche Arbeiten wie Eisenbahnbauten, Gasbeleuchtung, Kanalbauten und Schwerindustrie ins Leben gerufen. Trotzdem war die Finanzorganisation Frankreichs weit hinter der Englands oder Belgiens zurück.21 Die Banque de France war mehr ein Depositeninstitut der Regierung, als dass sie der Förderung freier Investitionen diente. Die Bevölkerung zog vor, Bargeld zu horten, statt ihr Vertrauen in Papiere zu setzen. Die Verbindung zwischen der Hauptstadt und den Provinzen und zwischen den verschiedenen Landesteilen untereinander war infolge der schlechten Verkehrsmittel noch recht locker. Im Vergleich zu dem Zinssatz von 4–5 Prozent in Paris waren die Sätze in der Provinz wucherisch.22 Die Menschen liehen ihr Geld gegen Hypotheken oder an den Staat aus. Aktien standen noch in dem schlechten Ruf, der ihnen seit den Tagen von John Law anhaftete.23 Sie blieben in der Volksmeinung mit den dunklen Machenschaften des perfiden Albion verknüpft. Es dürfte kein Zufall sein, dass Protestanten, Juden und Ausländer im Bankgeschäft so her vorragten; auch im Eisenbahnbau war dies der Fall, insbesondere durch die jüdischen Rothschilds und Pereiras.24 Die Finanzverfassung Frankreichs war zu jener Zeit nicht günstig für eine ausgedehnte kapitalistisch - industrielle Expansion. Die im Zweiten Empire fast plötzlich erfolgende Einreihung Frankreichs unter die im Bankwesen und Geldverleihen führenden Nationen machen die Auffassung glaubhaft, dass in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts bei passiver Außenhandelsbilanz – die Zahlen für 1847 sind 956 Millionen Fr. Importe und 720 Millionen Fr. Exporte, wobei die Differenz teils dem Verlust der Kolonien, teils dem

20 21 22 23 24

Vgl. Sée, Histoire économique de la France, Band 2, S. 226–228; Clough, France, S. 155. Generell siehe : Dunham, La Révolution industrielle, S. 186–216. Vgl. Sée, Histoire économique de la France, Band 2, S. 228; Clough, France, S. 155. Vgl. Dunham, La Révolution industrielle, S. 196 f., 210 ff. Vgl. ebd., S. 58. Vgl. ebd., S. 48–51, 190–196.

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Bedarf an industriellen Rohstoffen zuzuschreiben ist – ein beträchtlicher Sparprozess stattgefunden haben muss.25 In dieser Beziehung ist die knauserige Umsicht der Restaurationsregierung anzumerken, die eine sparsame Ver waltung des Staatsschatzes in der Vermeidung von Ausgaben für öffentliche Arbeiten sah. Hier ist einmal ein Fall, in dem eine Lehre aus der Geschichte gezogen wurde : Das traumatische Erlebnis von 1789 hatte sich in das Gedächtnis der Menschen eingebrannt – es durfte kein Defizit mehr geben ! Die Orléans - Monarchie hingegen führte öffentliche Arbeiten in ziemlich großem Maßstab aus, um die Transportbedürfnisse zu befriedigen und einer beginnenden industriellen Revolution zu helfen – und das, obwohl sie auf einem Regime der höchsten Steuerzahler basierte und sprichwörtlich dazu neigte, die Staatswirtschaftslehre als die Kunst der Sparsamkeit zu betrachten und nicht als eine Lehre zur Vorsorge für das Volk.26 Im Gefolge von Guizots Reform des Volksschulwesens im Jahre 1833 gab sie auch große Summen für Erziehung aus.

3. Die Landwirtschaft Versuchen wir, einige Daten über das wirtschaftliche Wachstum Frankreichs in der Zeit zwischen 1815 und 1848 auszuwählen, um etwas über die Zunahme des Volksvermögens und seine Verteilung unter die verschiedenen Klassen zu erfahren.27 Die Angaben über die Landwirtschaft können als zuverlässiger gelten als die ziemlich problematischen Schätzungen für die anderen Zweige der Volkswirtschaft, da sie leichter nachprüfbar und eindeutiger sind. Nach Sée gab es nicht nur keine Abnahme in den Zahlen der landbesitzenden Bevölkerung, sondern einen entschiedenen Anstieg. Die im Kataster ausgewiesene Zahl wuchs von 10 Millionen im Jahre 1815 auf 11,5 Millionen im Jahre 1842, und die Zahl der in der Landwirtschaft beschäftigten landbesitzenden Personen stieg von 6,5 Millionen im Jahre 1825 auf 7 Millionen bis 7,5 Millionen im Jahre 1850.28 Dieses Anwachsen, wird uns gesagt, war viel weniger auf Parzellierung zurückzuführen als auf entschiedene Verbesserung im Anbau sowie auch auf neu unter den Pflug genommenes Land. Der Fortschritt wurde kaum behindert durch das Fortbestehen der Allmende, die der Volksinstinkt weiter-

25 26 27 28

Vgl. Clough, France, S. 156. Vgl. Dunham, La Révolution industrielle, S. 200–216. Ich habe mich auf Angaben von Sée gestützt : Sée, Histoire économique de la France, Band 2, S. 118–152. Vgl. Sée, Histoire économique de la France, Band 2, S. 144 ( Fußnote 2).

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hin zugunsten der Armen verteidigte. Er hätte rascher sein können, doch der eingefleischte Konser vatismus der französischen Bauern, Mangel an Düngemitteln, Rückständigkeit der Arbeitsweisen und unzureichendes Kapital wirkten sich hemmend aus.29 Die Steigerung des Ertrags übertrifft das Anwachsen der Bevölkerung. Die Getreideerzeugung Frankreichs stieg von etwa 31 Millionen Hektolitern im Jahre 1789 auf 68 Millionen Hektoliter im Jahre 1841, und der Ertrag je Hektar in den gleichen Jahren von 7,75 auf 12,78 Hektoliter.30 Die Weinerzeugung stieg von 36 Millionen Hektolitern im Jahre 1840 auf 50 Millionen Hektoliter im Jahre 1848,31 und die Zuckerproduktion von 6,5 Millionen Kilogramm im Jahre 1828 auf 52 Millionen Kilogramm im Jahre 1848.32 Das Verhältnis von unbeweglichem zu beweglichem Eigentum erlitt in dem betrachteten Zeitabschnitt keine wesentliche Veränderung; von 880 Millionen zu 457 Millionen Fr. ( oder 66 resp. 34 Prozent des Volksvermögens ) im Jahre 1826 zu 1,244 Milliarden ( oder 61 Prozent ) und 750 Millionen Fr. im Jahre 1848.33 Wir besitzen keine genauen Statistiken über die Verteilung des landwirtschaftlichen Vermögens in dem ganzen Zeitraum. Während das kirchliche Vermögen in der Revolution verschwunden war, blieb der Landbesitz des Adels, der in manchen Gegenden schwere Eingriffe erlitten hatte, in den westlichen Provinzen fast unberührt; dieser Teil des Adels zog erheblichen Vorteil aus den strengen Schutzzöllen, der Milliarde Franken Entschädigungszahlungen für Verluste in der Revolution, und nach Henri Sée auch aus dem Rückzug vieler legitimistischer Familien aufs Land nach 1830.34 Es gab auch eine beträchtliche Zunahme von großen und mittleren bürgerlichen Besitzungen. Die Bauern, das heißt Freisassen, Geldpächter und métayers, scheinen an Zahl zugenommen zu haben und oft auch die Größe ihrer Besitzungen ( anstatt bessere Anbauweisen anzunehmen ), doch auch die Zahl der landlosen Tagelöhner vergrößerte sich.35 Die ständige Angst vor Hungersnot in einem Land mit noch dürftigem Verkehrswesen, die Notwendigkeit, das „Rückgrat Frankreichs“ und die Quellen seiner Kampfkraft zu schützen, der Glaube der Industriellen, dass niedrige Lebensmittelpreise zu Faulheit anregten – alle diese Faktoren kamen den Landeigentümern zugute, die an der Beibehaltung von Prohibitivzöllen mit gleitender Skala auf landwirtschaftliche Erzeugnisse interessiert waren. Obwohl schlechte Ernten bald nach 1815 und danach am Vorabend von 1830 29 30 31 32 33 34 35

Vgl. ebd., S. 118–152. Vgl. ebd., S. 134. Vgl. ebd., S. 138. Vgl. ebd., S. 147. Vgl. ebd., S. 118. Vgl. ebd., S. 118 f. Vgl. ebd., S. 119; Dunham, La Révolution industrielle, S. 158.

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und 1848 heftige Schwankungen des Getreidepreises her vorriefen, blieb Brot im großen Ganzen einheitlich billig, zum Teil wiederum weil das Schutzzollsystem extensivere Bebauung förderte.36 Die wahre Struktur veränderung auf dem Land bestand während unseres Zeitabschnitts in einem stetigen Absinken der ländlichen Heimindustrie, insbesondere der Textilindustrie, in der Konkurrenz mit der mechanisierten und zentralisierten Industrie. In der Normandie verschwindet die ländliche Spinnerei früh in der Restaurationsperiode, und die Weberei in den beiden folgenden Jahrzehnten. Die Bretagne wird bald zur rein landwirtschaftlichen Provinz. Wo es einen Überfluss an Arbeitskräften gibt, wie in den hochindustrialisierten Gegenden von Flandern und der Picardie, bleiben die Dorfindustrien etwas länger und kämpfen um ihr Bestehen. Die entwurzelten Elemente verstärken die Arbeiterschaft in den Städten oder werden zu landlosen landwirtschaftlichen Arbeitern oder versuchen auf irgendeine Weise, als Bauern ihren Unterhalt zu finden.37 Verglichen mit der Rastlosigkeit der industriellen Zusammenballungen scheint die französische Landwirtschaft keine Geschichte zu haben : das Lebenstempo folgt dem Rhythmus der Jahreszeiten, Schicksale schwanken mit dem Wechsel der Ernten, unberührt von jedem Gedanken an eine Endlösung oder dem Verlangen danach. Bessere Ver waltung und erleichterte Verkehrsbedingungen ließen die endemische Angst vor Hungersnöten zurückgehen, und Getreideaufstände wurden eine immer seltenere Erscheinung. In manchen Gegenden beschwor die Französische Revolution Erinnerungen an die grande peur und an brennende Schlösser herauf und Dankbarkeit für die Befreiung von Feudalunter werfung und Abgaben an die Geistlichkeit.38 In anderen sind Erinnerungen an die heimlichen Messen, die von eidver weigernden Priestern in Wäldern und Verstecken abgehalten wurden, noch wach. Es waren blasse Reminiszenzen, gewissermaßen überschattet von dem Epos der Napoleonischen Kriege. Heeresdienstver weigerung und Massendesertionen sowie droits réunis wurden kaum erwähnt, wenn Veteranen ihren verzauberten jungen Zuhörern von ihren Märschen durch Europa vom Tajo bis nach Moskau erzählten, und von dem Ruhm der französischen Waffen unter dem kleinen Korporal. Es herrschte wenig Groll über die Tatsache, ja gar kaum ein Interesse daran, dass im fernen Paris die politische Macht in den Händen erst des alten Adels und dann der reichen Emporkömmlinge aus der Bourgeoisie lag. Es bestand kein Unwille, höchstens Gleichgültigkeit gegenüber den unversöhnlichen Mitgliedern des alten Adels, die nach dem Fall der älteren Linie schmol36 37 38

Vgl. Sée, Histoire économique de la France, Band 2, S. 118–152. Vgl. ebd., S. 170 f.; Dunham, La Révolution industrielle, S. 156. Vgl. Sée, Histoire économique de la France, Band 2, S. 4.

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lend auf ihren Schlössern saßen. Lawinenhaft schwollen die Bauernstimmen 1848 gegen die städtischen Roten an, die – wie behauptet wurde – es darauf abgesehen hatten, allen Besitz zu beschlagnahmen. Sie fegten den Neffen des großen Kaisers auf seinen Präsidentenstuhl und dann auf den kaiserlichen Thron – um Ordnung zu halten und das Eigentum zu schützen.

4. Industrielles Wachstum Wenn wir eine Schätzung des Volksvermögens vornehmen auf Grund der Erweiterung der wirtschaftlichen Betätigung und der industriellen Erzeugung, dann sehen wir, dass der zwischen 1815 und 1848 gemachte Fortschritt die Bevölkerungszunahme überstieg. Charles Dupin schätzte im Jahre 1827 die jährliche Gesamtproduktion Frankreichs auf 1,340 Milliarden Fr., während die offizielle statistische Erhebung des Jahres 1847 die Gesamtzahl für 63 Départements auf 3,648 Milliarden Fr. ansetzt. Nach Moreau de Jonnès war die Gesamtsumme für ganz Frankreich in den vierziger Jahren über vier Milliarden.39 Jürgen Kuczynski gibt die folgenden Vergleichszahlen :40 Wert der gesamten industriellen Produktion ( in Millionen £ ) Jahr

Deutschland

England

Frankreich

USA

1800

60

230

190

25

1820

85

290

220

55

1840

150

387

264

96

Förderung von Kohle ( in Millionen Tonnen ) Jahr

Deutschland

England

Frankreich

1800

300

10 000

800

1840

3 400

30 000

3 000

1850

6 700

49 000

4 400*

* Fast 2,5 Millionen mussten zusätzlich importiert werden.

39

40

Vgl. ebd., S. 160 f.; Levasseur, Histoire des classes ouvrières, Band 2, S. 210, 300 ff. (Statistiken ). Dunham, La Révolution industrielle, bietet für jede Industrie gesondert Untersuchungen und Zahlen. Jürgen Kuczynski, zit. in Droz, Les Révolutions allemandes, S. 72 f.

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Außenhandel ( in Millionen £ ) Jahr

Deutschland

England

Frankreich

1800

36

67

31

1840

52

114

66

1850

70

169

95

Die Gewinnung von Roheisen, einem von der Natur in Frankreich nicht begünstigten Zweig, stand im Jahre 1847 – obwohl sie seit 1831 mehr als verdoppelt worden war – auf nur 1,658 Millionen Tonnen im Jahr, während die Stahlproduktion im gleichen Jahr nicht mehr als 13 000 Tonnen insgesamt betrug.41 Was den allgemeinen Fortschritt der Mechanisierung betrifft, so hatte das Frankreich von 1847 sechsmal so viel Dampfkraft wie es 1830 hatte : Sie stieg von 10 000 Pferdestärken, erzeugt von 625 Dampfmaschinen, im Jahre 1830 auf 61 630 Pferdestärken, die 4 853 Maschinen repräsentierten. Während es nach Labrousse um 1830–35 nur 25 mit Koks gefeuerte Hochöfen gab gegenüber 372, die mit Holzkohle arbeiteten, ist die Proportion 1846 schon 106 zu 364.42 Mechanisierung in großem Maßstab und infolgedessen auch die Produktion wurden gehemmt durch das Übergewicht, das die Holzkohle in der französischen Wirtschaft noch dem Koks gegenüber hatte. Das hatte viele Gründe. Frankreich hatte noch einen großen Reichtum an Wäldern, deren Eigentümer die Regierung pressten, ihr Holz durch hohe Zölle zu schützen. Der Kohlenbergbau war zum größten Teil noch Tagebau. Es scheint wenig Bedarf und nicht genügend Kapital vorhanden gewesen zu sein, um die tieferen Ablagerungen abzubauen. Das Kohlenfeld von Pas - de - Calais wurde erst am Ende des betrachteten Zeitraums entdeckt, und die lothringischen Felder wurden sogar noch später ausgebeutet. Die meiste Kohle musste vom Zentrum oder vom Süden des Landes bezogen werden, und die Eisenbahnen waren noch knapp, und es gab keine Gelegenheit, Seetransporte zu benutzen. Zudem war weitgehend Wasserkraft in Gebrauch. Diese Faktoren neben dem eingefleischten Konser vatismus und Individualismus der Franzosen erklären die kleinen Dimensionen der Unternehmungen in der metallurgischen Industrie und die erbitterte Konkurrenz unter ihnen. Natürlich bestanden schon die Creusot 41 42

Vgl. Sée, Histoire économique de la France, Band 2, S. 167 f. Vgl. Labrousse, Le Mouvement ouvrier, S. 26; Aguet, Les Grèves sous la Monarchie de Juillet, S. X f. Dunham, La Révolution industrielle, S. 100, und Sée, Histoire économique de la France, Band 2, S. 166, geben ähnliche Schätzungen.

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Werke, das Denain - Unternehmen und die Compagnie d’ Anzin, mit der die Périers aus der Familie des Premierministers und später Thiers verbunden waren. Als gegen Ende der Julimonarchie die Lichtung der Waldbestände, die Erschöpfung der Oberflächenminen und die weitere Ausdehnung der Eisenbahnen Tiefschürfungen notwendig und in gewissem Ausmaß möglich machten, sahen die Firmen sich zu Zusammenschlüssen gezwungen, um das Kapital und die Maschinerie für die neuen Produktionsmethoden aufzubringen. Diese Entwicklungen hatten natürlich weitreichende Folgen für alle anderen Industriezweige, die auf Brennstoff und schwere Maschinen angewiesen waren.43 Es ist von George Sorel angeführt worden, vom sozialen Gesichtspunkt sei die industrielle Revolution vor allem die Geschichte der Textilindustrie und insbesondere der Baumwollindustrie.44 Der Import von Baumwolle stieg in den Jahren 1816 bis 1848 von 12 000 Tonnen auf 65 000 Tonnen, der Ertrag je Spindel um das Drei - bis Vierfache, während die Produktionskosten um etwa 60 Prozent gesenkt wurden. Die Wollfabrikation wurde in Frankreich nur langsam mechanisiert, obwohl sie keine darniederliegende Industrie war, und die Leinenfabrikation blieb noch eine Art Hilfsindustrie der Landwirtschaft. Der Kampf zwischen Mechanisierung und Konzentration einerseits und kleiner Heimindustrie andererseits war am erbittertsten in der Baumwollindustrie, die für ihre Rohstoffe gänzlich auf Auslandsversorgung angewiesen war und, um bestehen zu können, der britischen Konkurrenz und vielen unvorhersehbaren Wechselfällen standhalten musste. Auch die Seidenindustrie erlebte viel Auf und Ab und einige Maschinenstürmerei.45 Die Baumwollspinnereien scheinen viel fortschrittlicher gewesen zu sein als die Webereien und waren zumeist relativ große Unternehmungen, besonders am Oberrhein. Ein Zentralpunkt wie Mühlhausen, wo die Anzahl der Spindeln von 2,5 Millionen im Jahre 1834 auf 3,5 Millionen im Jahre 1844 anwuchs, bot ein Beispiel weitgehender Konzentration.46 In der Gegend von Reims jedoch war die Fabrikation weit verstreut und wurde teilweise noch in den Dörfern ausgeführt. Wenige Fabriken hatten mehr als 150 Arbeiter. In Amiens galt ein Unternehmen als groß, wenn es 200 Arbeiter beschäftigte. Ländliche Textilheimarbeit blühte in der Alpenregion noch bis 1850. Im Jahre 1842 verkauften Dorfweber in Rouen noch 300 000 Stücke verglichen mit 43 44 45

46

Vgl. Dunham, La Révolution industrielle, S. 5 f., 75–80, 217–228; Sée, Histoire économique de la France, Band 2, S. 167–169. Vgl. Sorel, Idées socialistes, S. 391 ( Fußnote ). Vgl. Dunham, La Révolution industrielle, S. 142–145, 229–244 ( Baumwolle ), bes. S. 234, weiterhin S. 245–259 ( Wolle ), S. 260–273 ( Leinen ), S. 274–291 ( Seide ); Sée, Histoire économique de la France, Band 2, S. 154–160. Vgl. Sée, Histoire économique de la France, Band 2, S. 163.

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621 720 von Fabriken, und im Bezirk Seine - Inférieure erstellte die Maschinenweberei mit 40 000 von 150 000 Baumwollarbeitern des Départements nur 32 Prozent der Produktion. In dem sehr fortschrittlichen Mühlhausen gab es im Jahre 1834 31 000 Handwebstühle und 3 090 mechanische Webstühle, während 1844 die Zahlen bereits 19 000 zu 12 000 betrugen.47 Um 1847 gab es etwa 14 000 Arbeiter in mechanisierten Leinenspinnereien im Vergleich zu 70 000 Handarbeitern. Aber nach Dunham produzierten diese 14 000 Arbeiter mit 295 000 Spindeln ebenso viel wie 200 000 Handarbeiter.48 Derselbe Verfasser zitiert als Beispiel dafür, wie groß die Abneigung der französischen Bauern gegen Fabrikbedingungen war, die Tatsache, dass in Alençon (1838) von einigen 45 000 in der Leinenindustrie beschäftigten Arbeitern nur 3 000 in Städten lebten. Die Fabrikbesitzer, von denen diese Zahlen stammen, behaupteten, jeder Versuch, die Bauern zu zwingen, in Fabriken zu arbeiten, würde zu einer Revolution führen.49 Wegen der ungeheuren politischen Bedeutung von Paris lohnt es sich, die Verteilung der Arbeiterschaft in der Hauptstadt zu betrachten. Eine von der Handelskammer 1851 durchgeführte Erhebung zeigt, dass 7 000 Arbeitgeber mehr als 10 Arbeiter beschäftigten, während 32 000 Arbeitgeber selbst arbeiteten und nur einen Gehilfen hatten. In den meisten Fällen ist die Grenze zwischen Arbeitgeber und Arbeiter vor dem Zweiten Kaiserreich noch recht verschwommen.50 Wir geben nachstehend einige Schätzungen von L. Chevalier. 1847 stand in Paris an erster Stelle die Bekleidungsindustrie mit 26,29 Prozent der gesamten Arbeiterschaft. Die Schneiderbranche war mit 6 891 Unternehmern und 22 215 Arbeitern vertreten. Wenn wir hierzu 12 629 apièceurs hinzufügen, erhalten wir 41 735 im Schneidergewerbe Beschäftigte. Die Zahl der Textilarbeiter betrug 36 685 und stellte 11 Prozent aller Pariser Arbeiter dar. Doch die Konkurrenz der niedrigen Löhne in den Provinzen vernichtete die Pariser Textilindustrie. Die Bauindustrie beschäftigte 12,15 Prozent der Pariser Arbeiterschaft bei 4 061 Unternehmen mit 41 603 Arbeitern. Die Nahrungsmittelindustrie hatte 3 673 Unternehmer und 10 424 Arbeiter, zusammen 3,04 Prozent aller Pariser Arbeiter. In der Metallbranche gab es 3 104 Unternehmungen und 24 894 Arbeiter, zusammen 7,27 Prozent. Die chemische Industrie ernährte 1 295 Unternehmer und 9 737 Arbeiter.51

47 48 49 50 51

Vgl. ebd., S. 157, 163, 165, 169. A. d. Hg. : Siehe auch Landes, The unbound Prometheus, S. 160. Vgl. Dunham, La Révolution industrielle, S. 269. Vgl. ebd., S. 272 f. Vgl. Sée, Histoire économique de la France, Band 2, S. 170. Vgl. Chevalier, La Formation, S. 110–115.

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Eine 1848 vom Comité du Travail der Assemblée Constituante angeordnete Erhebung über die Frage der Arbeitskonzentration in ganz Frankreich ergab ein Über wiegen kleiner Produzenten, Handwerker und kleinster Arbeitgeber in kleinen und mittleren Städten. Es wird festgestellt, dass 124 000 große Unternehmungen 1,306 Millionen Männer und Frauen beschäftigen, während in 1,548 Millionen kleinen Unternehmungen 1,434 Millionen Männer und 1,370 Millionen Frauen arbeiten. Die 1847 in 63 Départements ausgeführte statistische Erhebung beziffert die Arbeiter in Unternehmungen mit mehr als 10 Arbeitern auf 670 000 Männer, 254 000 Frauen und 131 000 Kinder, zusammen 1,055 Millionen, während die Gesamtzahl der Arbeiterschaft auf 6,3 Millionen geschätzt wurde.52 Michelet behauptete, die Arbeiter bildeten höchstens ein Sechstel der französischen Bevölkerung, und von diesen seien die Industriearbeiter eine kleine Minorität.53 Angesichts dieser Angaben brauchen wir nicht überrascht zu sein über die von dem französischen Wirtschaftler Charles Laboulaye 1848 in seinem Buch Organisation de travail. De la démocratie industrielle zum Ausdruck gebrachte Ansicht, Großindustrie sei ein künstliches und fremdes Gewächs auf französischem Boden, das durch irregeführte Schutzzollpolitik gefördert werde und für das französische Volk mit seinem künstlerischen Stolz auf feine Handarbeit, seiner Ablehnung der standardisierten Massenproduktion und seinem kräftigen Individualismus ungeeignet sei. Er sah für sie keine Zukunft in Frankreich.54 In einer weniger rühmlichen Weise ist hervorgehoben worden, dass das niedrige Niveau und die unterbliebene Konzentration eher auf das Zögern zurückzuführen waren, Arbeiter während vieler Jahre zu hohen Kosten zu schulen; dazu kamen dann noch der ungehemmte innere Wettbewerb und die starke britische Konkurrenz, die zu Preisunterbietungen und Lohnsenkungen führten.55 Nichtsdestoweniger gibt es zahlreiche Anzeichen dafür, dass die Periode der Julimonarchie von Zeitgenossen als eine Zeit der Beschleunigung des Wirtschaftsprozesses und des zunehmenden Wohlstands betrachtet wurde. So sagt Stendhal zögernd und entschuldigend, aus Angst, als Verteidiger des Regimes betrachtet zu werden, in seinen Mémoires d’ un touriste: „Ich weiß nicht, wie ich vorsichtige Ausdrücke finde, um den zunehmenden Wohlstand zu beschreiben, den Frankreich unter Louis - Philippe genießt. Ich fürchte, als feiler Söldling zu erscheinen. Ich sehe auf Schritt und Tritt Bauarbeiten im Gang; in Städten und Dörfern werden sehr viele Häuser gebaut; überall entstehen Stra52 53 54 55

Vgl. Sée, Histoire économique de la France, Band 2, S. 170, 177. Vgl. Michelet, Le Peuple, S. 136. Vgl. Laboulaye, Organisation du travail. De la démocratie industrielle. Vgl. Dunham, La Révolution industrielle, S. 159–161.

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ßen. Auf den Feldern sieht man allerseits, wie Einfriedungen gemacht, Gräben gezogen und Mauern errichtet werden.“56 Wie verteilten sich die Segnungen aus diesem Fortschritt unter die verschiedenen Klassen ?

B. Anatomie des Elends 1. Löhne Mancher Historiker hat voller Verzweif lung jeden Versuch aufgegeben, Durchschnittslöhne oder ihren Rhythmus im Lauf des betrachteten Zeitraums festzulegen. Die zeitgenössischen Daten sind äußerst ver wirrend. Je nach Einstellung und Interessen der Verfasser werden manchmal Höchstlöhne und manchmal Mindestlöhne als Durchschnitt angegeben, Schwankungen zwischen Perioden des Aufschwungs und der Krise werden nicht in Betracht gezogen. Angaben über Löhne werden selten mit den Veränderungen in Preisen und Lebenshaltungskosten verglichen. Örtliche Unterschiede und riesige Vielfalt von Artikeln im gleichen Produktionszweig, aus bitterer Konkurrenz entspringend, nehmen den durchschnittlichen Schätzungen ebenfalls viel von ihrem Wert. Um ein Beispiel für die Schwierigkeiten zu geben : Lohn wurde in der Zeit zwischen 1815 und 1848 zum großen Teil als Stücklohn gezahlt. Die von Volkswirtschaftlern gemachten Berechnungen legen einen Tageslohn zugrunde, ohne die Änderungen im Ertrag infolge der Mechanisierung, die sich oft zugunsten der Arbeiter auswirkte, zu berücksichtigen. Ebenso wird nicht beachtet, dass eine große Zahl von Arbeitern noch mit einem Fuß auf dem Land lebte und im eigenen Häuschen wohnte. Diese waren in der Lage, zu niedrigeren Löhnen zu arbeiten, und indirekt wurde dadurch der Verdienst der anderen verringert.57 Für die Restaurationsperiode zitiert Bertier de Sauvigny Lohnzahlen für das Département du Nord, die von 1,50 bis 3 Fr. für einen männlichen Arbeiter und von 0,50 bis 1,25 Fr. für eine Frau variieren, während in Haut - Rhin sich die Schwankungen zwischen 1,50 und 2,50 Fr. für einen Mann und zwischen 0,50 und 1,50 Fr. für Frauen und Kinder bewegten.58 Villermés Zahlen für die Mitte der dreißiger Jahre weisen keine erheblichen Abweichungen auf. Seine

56 57 58

Stendhal, zit. in Sée, Stendhal et la vie économique et sociale, S. 102. Siehe auch Sée, Histoire économique de la France, Band 2, S. 226. Vgl. Dunham, La Révolution industrielle, S. 168–173, bes. S. 170; Chevalier, La Formation, S. 91. Vgl. Bertier de Sauvigny, La Restauration, S. 343.

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Durchschnitte für die Textilindustrie sind 2 Fr. für einen Mann, 1 Fr. für eine Frau, 0,75 Fr. für Jugendliche zwischen 13 und 18 Jahren und 0,45 Fr. für Kinder unter 12.59 Stückarbeiter erhielten normaler weise mehr, und es wird angenommen, dass sie etwa zwei Drittel der in der Industrie Beschäftigten ausmachten. Baumwollspinner in Lille, Rouen, Mühlhausen und einigen anderen Orten verdienten mehr, Männer 3 bis 4 Fr., doch Frauen waren mit 0,75 bis 1,50 Fr. je Tag stark unterbezahlt. Weber verdienten zwischen 1,50 und 2,50 Fr. Bis zum Alter von dreißig war eine steigende Tendenz in den Löhnen zu bemerken; Knaben und Mädchen bis zum Alter von fünfzehn Jahren verdienten dasselbe; von diesem Alter aufwärts begann der Lohn einer Frau zu fallen, meist bis zur Hälfte des Lohnes eines Mannes.60 Villermé spricht von einer Steigerung von 17 Prozent in den Löhnen der Baumwollindustrie in den Jahren 1835–47, doch von einem mehr als entsprechenden Sinken in den Verdiensten der Textilhandarbeiter.61 Die Enquête industrielle ( von 1847) für die Jahre 1840–45 in 63 Départements und die Forschungen von Dupin und Villeneuve - Bargemont weichen nicht wesentlich von den von Villermé angeführten Daten ab. Die Enquête weist in mittleren und großen Industrieunternehmungen für einen Mann 1 bis 4 Fr. aus, für eine Frau 0,75 bis 2,50 Fr., für ein Kind 0,75 Fr.62 Levasseur fasst die von der Erhebung des Comité du Travail der Assemblée Constituante von 1848 gegebenen Statistiken zusammen als 1,78 Fr. je Mann, 0,77 Fr. je Frau und 0,50 Fr. je Kind.63 Die Elite der Arbeiterschaft in den großen Städten hatte verhältnismäßig wenig Grund zur Klage. Die Löhne der Bauarbeiter, Bäcker, Schreiner beliefen sich auf 4 bis 5 Fr. am Tag, und die der Tabakarbeiter, Juweliere, Gaswerkarbeiter, Papierarbeiter, Schneider und sogar Textilfabrikarbeiter weisen erhebliche Stabilität auf. Der Durchschnittsverdienst eines Bergwerksarbeiters war wenig über 2 Fr. am Tag, und Hochofen - und Glasarbeiter erhielten über 3 Fr. am Tag.64 Wie hält der Nominallohn den Vergleich mit den Lebenshaltungskosten aus? 59 60 61

62 63 64

Vgl. Villermé, Tableau de l’ état physique, Band 2, S. 11; Sée, Histoire économique de la France, Band 2, S. 179; Dunham, La Révolution industrielle, S. 169. Vgl. Aguet, Les Grèves sous la Monarchie de Juillet, S. XIII; Villermé, Tableau de l’état physique, Band 2, S. 12. Vgl. Sée, Histoire économique de la France, Band 2, S. 181. Dunham stimmt mit Simiand und Sée überein, dass zwar die Löhne in der Zeit von 1815 bis 1850 im Ganzen auf gleicher Höhe blieben oder eher eine fallende Tendenz zeigten, es aber auch eine Zeit fallender Preise war, vgl. Dunham, La Révolution industrielle, S. 169 f. Vgl. Sée, Histoire économique de la France, Band 2, S. 179; Aguet, Les Grèves sous la Monarchie de Juillet, S. XIII. Vgl. Levasseur, Histoire des classes ouvrières, Band 2, S. 259. Vgl. Sée, Histoire économique de la France, Band 2, S. 179–181.

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Villermé teilt die Ausgaben einer Arbeiterfamilie wie folgt auf : Für Essen geben genügsame Familien die Hälfte ihres Budgets aus, verschwenderische Haushaltungen zwei Drittel bis drei Viertel. Frauen geben nie mehr als zwei Drittel ihres Verdienstes für Essen aus, Jugendliche etwa drei Viertel. Kleidung und Wäsche beanspruchen zwischen einem Achtel und einem Viertel, Miete ein Halb bis ein Achtel.65 1827 berechnete Charles Dupin das Jahreseinkommen einer Familie in der Landwirtschaft auf 474 Fr. (508 im Norden, 441 im Süden ) und in der Industrie auf 720 Fr. ( im Norden 783, im Süden 656).66 Baron de Morogues analysierte 1832 das Budget einer städtischen Arbeiterfamilie :67 Essen

Fr.

Brot, 16 Unzen täglich je Person, für 365 Tage und 5 Personen – 912 kg zu 32,5 Centimes

296,40

Fleisch, Eier, Käse, Gemüse, Salz

182,50

Getränke

91,25 570,15 (66 Prozent )

Miete

50,--

Licht und Heizung

40,--

Steuern

10,--

Instandhaltung, Reparaturen

30,-130,-- (15 Prozent )

Kleidung Mann

50,--

Frau

30,--

Drei Kinder

60,-140,-- (16 Prozent )

Tabak und Diverses

65 66 67

19,85 (3 Prozent )

Vgl. Villermé, Tableau de l’ état physique, Band 2, S. 21 f. Vgl. ebd., S. 27. Vgl. ebd., S. 28–30.

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Das Budget beläuft sich auf 860 Fr. Bei weniger als 760 Fr. leidet die Familie Not. Das Budget einer Familie in der Landwirtschaft wird auf 620 Fr. jährlich geschätzt. Um das Budget zu decken, müsste nach Morogues Schätzung der Vater in 300 Arbeitstagen im Jahr 450 Fr. verdienen, die Mutter in 200 Tagen 180 Fr. und die Kinder die restlichen 130 Fr. Dunham rechnet, dass diese Bedingungen in Rouen und Mühlhausen normaler weise erfüllt wurden, jedoch kaum in Lyon oder Lille.68 In seinem Buch Classes ouvrières gibt Blanqui das Beispiel eines ouvrier filtier in der Gegend von Lille. Er hat vier Kinder, verdient 2 Fr., seine Frau verdient 0,10 bis 0,15 Fr. je Tag. Die Familie verbraucht 24 Kilogramm Brot die Woche, das sind 5,40 Fr.; dreimal die Woche etwas Fleisch zu 0,75 Fr.; Butter, Obst 1,30 Fr.; Kartoffeln, Bohnen, 1 Fr.; ein Viertelliter Milch je Tag 0,35 Fr.; Seife und Licht 1,10 Fr.; Kohle 1,35 Fr.; die elende Wohnung 1,50 Fr. Zusammen kommt es zu einer wöchentlichen Ausgabe von 12,75 Fr. Alle vierzehn Tage bekommen sie 3 Kilogramm Brot als Armenunterstützung und etwas Hilfe für die Kinder. Indessen klagen die Arbeiter, dass sie wie Bettler leben, obwohl sie sehr schwer arbeiten.69 Doch alle Wirtschaftshistoriker scheinen sich darin einig, dass auch bei Berücksichtigung der Inflation in den Tagen der Revolution und am Ende der Napoleonischen Zeit die Lohnskala in dem Zeitraum von 1815 bis 1848 einen Anstieg aufweist im Vergleich zu den früheren Tagen : Nach Sée hatten sich die Nominallöhne seit dem Ende des Ancien Régime verdoppelt. Doch standen sie noch immer in keinem Verhältnis zu der Länge des Arbeitstages mit 13 bis 14 effektiven Arbeitsstunden.70 Senkungen in einigen Branchen oder Gegenden wurden in gewissem Ausmaß durch Steigerungen ander weitig ausgeglichen, und der Lohnsatz für die Arbeiterklasse als Ganzes blieb mehr oder weniger beständig, mit Ausnahme der heftigen Erschütterungen in Zeiten der Krise, wenn gleichzeitig die Preise eine fallende Tendenz aufwiesen, mit Ausnahme von Fleisch, das weiterhin für die meisten Arbeiter ein Luxus war. Die Erreichbarkeit solcher Artikel, die in der Vergangenheit völlig außerhalb der Reichweite des Arbeiters lagen, wie Zucker, Kaffee und Wein, muss auch in Betracht gezogen werden, ferner die ungeheure Bedeutung der Verbreitung der Baumwolle für billige Kleidung – ein Punkt, der von Michelet stark unterstri-

68 69 70

Vgl. Aguet, Les Grèves sous la Monarchie de Juillet, S. XIV; Dunham, La Révolution industrielle, S. 172; Villermé, Tableau de l’ état physique, Band 2, S. 28–30. Vgl. Blanqui, Des Classes ouvrières, S. 91 f.; Sée, Histoire économique de la France, Band 2, S. 182 ( Fußnote ). Vgl. Sée, Histoire économique de la France, Band 2, S. 181; Chevalier, La Formation, S. 91.

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chen wird.71 Es wird übrigens behauptet, dass die Arbeiter in vielen Fällen die von den Reichen abgelegten Kleider trugen.

2. Verarmung Ist eine fortschreitende Verarmung der französischen Bevölkerung in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts nachweisbar ?72 Sogar wenn wir volle und zuverlässige Statistiken für die Zeit hätten, wäre es ganz falsch, uns mit vergleichsweise quantitativen Messungen zu begnügen. Armut in einer industriellen Gesellschaft ist ein Phänomen, das sehr verschieden ist von der Armut in einem vorindustriellen oder landwirtschaftlichen Land, und in Verzeichnissen über Armenunterstützung enthaltene quantitative Daten geben davon kein hinreichendes Bild. Obwohl in früheren Jahrhunderten Auswanderung nach Übersee in größerem Maßstab und sogar Wanderungen innerhalb des Landes selten waren, da die französische Bevölkerung tief in ihren Heimatbezirken

71

72

Vgl. Michelet, Le Peuple, S. IX, 33 f.; Sée, Histoire économique de la France, Band 2, S. 181. Eine abgewogene Zusammenfassung gibt Simiand, Le Salaire, Band 1, S. 526 f.: „Il paraît pouvoir se dégager et se coordonner comme assez probable le groupe des résultats suivants. Pour les métiers courants, et la petite production locale, les salaires paraissent se soutenir tant bien que mal ( en gain journalier, sinon en prix de pièces, qui auraient souvent baissé ), et même à la longue peut - être progresser très légèrement. Pour certaines productions et dans certains cadres, par exemple dans le bâtiment à Paris, se marquent, en cette période, des poussées favorables, mais séparées par des retours aussi marqués à des conditions plus basses. Il n’ est pas exclu par nos indications que même ait pu se réaliser une certaine progression, sur l’ ensemble de cette période pour certains groupes territoriaux. Mais il se marque, par contre, une baisse manifeste et soutenue des salaires pour certaines catégories importantes de travailleurs et dans des industries qui, à ce moment, deviennent plus importantes et plus représentatives par la condition du travailleur industriel masculin et aussi, – dès lors en proportion notable et justement en ces industries – féminines [...]. Au total, nous rencontrons bien ici, semble - t - il, une phase dont le caractère majeur est d’ ensemble : salaire stationnaire, en baisse pour partie, et seulement parfois en hausse légère.“ Ich stützte mich auf Burets vortreffliche Zusammenfassung ( Buret, De la misère des classes laborieuses, Band 1, S. 212–233, 243–248, 276 ff.) sowie auf Rigaudias - Weiss ( Les Enquêtes ouvrières ), Villermé ( Tableau de l’ état physique ) und Blanqui ( Des Classes ouvrières ). Levasseur, Histoire des classes ouvrières, Band 1, S. 633, bemerkt über die Arbeit dieser Autoren : „Mais la France, qui n’ avait pas de lois de pauvres et dans laquelle l’ évolution était beaucoup plus lente et moins générale, ne ressentait pas les mêmes maux; il n’ y avait guère que les fileuses de la campagne qui eussent été jusque là fortement atteintes; dans les villes le travail n’ était pas réduit. La thèse des moralistes reposait donc en France sur des considérations théoriques plutôt que sur l’expérience des faits.“

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ver wurzelt war, gab es immer eine verhältnismäßig große Grenzgruppe von Vagabunden, Bettlern, Banditen, teilweise außerhalb des Gesetzes stehend, teilweise missraten, ohne Adresse und wahrscheinlich nirgends registriert. Das neunzehnte Jahrhundert sah viel Wanderung und Verschiebung und das Entstehen von städtischen wurzellosen Massen, unstet und ohne Sicherheit, doch die Zahlen der Gestrandeten in der früheren Art nahmen sehr erheblich ab. Die Gesellschaft war beständiger geworden und die Polizeikontrolle strenger. Bedürftigkeit in früheren Tagen war ein Problem der Hilfeleistung an Menschen, denen die Fähigkeit für den Existenzkampf fehlte oder verloren gegangen war, oder an Arbeiter und Dorfbewohner, die besonders in Jahren von Arbeitslosigkeit, schlechter Ernte und Hungersnot unter dem Existenzminimum lebten, und schließlich an von Krankheit befallene Arme. Armut in einer industriellen und städtischen Zivilisation ist ein ganz anderes Phänomen und ein viel komplexeres Problem. Der erste auffallende Zug ist das Fehlen jeglicher Gesetzgebung über Arme und Armenunterstützung in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, in so schlagendem Gegensatz zu England. Es gibt nur Polizei - und Ver waltungsmaßnahmen in Bezug auf Landstreicherei und Betteln, mit anderen Worten, Unterdrückungsmaßnahmen gegen Vergehen und nicht Verordnungen betreffend „unschuldige Armut“. Warum ? Weil die Gesetze der Französischen Revolution und Napoleons die Armut „abschafften“, indem sie Arbeit und Beistand für die Bedürftigen versprachen und die vorsätzlich Faulen mit schwerer Strafe bedrohten. Wie zu erwarten war, beschaffte der Staat weder Arbeit, noch leistete er Beistand, doch er hob auch die guten Gesetze nicht wieder auf. Da dem Gesetze nach die Armen versorgt und somit „abgeschafft“ waren, kannte das Gesetz den Armen nur als Missetäter. Aus einer übertrieben hohen Auffassung von den Menschenrechten und den Pflichten des Staates gegenüber den Armen heraus, gelangten die Regierungen von der Revolution an dazu, immer weniger für die Bedürftigen zu tun. Die alte Monarchie hatte eine Armengesetzgebung, die der englischen auffallend ähnlich war und sogar zeitlich parallel mit ihr lief. Die Verordnung von 1351 des Königs Johann hat viel Ähnlichkeit mit dem Statute on Workers von Eduard III. Das französische Edikt von 1656 ist geradezu eine Kopie des 43rd Act der Königin Elisabeth. Die Gemeinde war verpflichtet, aus örtlich erhobenen Steuern Armenhausunterstützung zu gewähren, und Landstreicherei wurde in beiden Ländern mit gleich schrecklichen Strafen bedroht. Die Assemblée Constituante setzte frühzeitig in der Revolution ihr berühmtes comité de mendicité unter dem Vorsitz des Duc de la Rochefoucauld ein, das wunderbare Arbeit leistete in Bezug auf Untersuchung und Gesetzentwurf. Die Verfassung von 1791 verkündete feierlich, „es wird eine Einrichtung für öffentliche Unterstützung geschaffen und organisiert werden, um verlassene Kinder

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zu erziehen und den Kranken sowohl als auch den gesunden Armen zu helfen“.73 Der Konvent beginnt, das Problem in einem großen Maßstab und radikal zu behandeln. Der Konvent adoptierte alle Findelkinder, versprach Errichtung von Asylen für Alte, Kranke und Gebrechliche und, natürlich, Arbeitsbeschaffung für alle. Er legte das berühmte Livre de la bienfaisance nationale an und versprach eine Rente von 160 livres per annum, einen Betrag, der höher war als das durchschnittliche Jahreseinkommen eines Menschen im damaligen Frankreich, wenn man das jährliche Volkseinkommen gleichmäßig aufteilte. Da das Verhältnis der Armen auf ein Zwanzigstel der Bevölkerung geschätzt wurde, unter nahm die Republik, jährlich 7,480 Millionen livres auszugeben. Mütter und Witwen sollten eine Zivilliste von 3,069 Millionen livres haben. Es sollte keine hôpitaux mehr geben, nur noch Armenhausunterkunft, und jeder Bezirk sollte einen besonderen Gesundheitsbeamten haben. Der Gesundheitsdienst allein sollte 4 187 833 livres 10 sous kosten. Angesichts dieser weitgehenden und freigebigen Fürsorge wurde die Bettelei zum schweren Verbrechen erklärt, und Armut musste aussehen, als sei sie eigenes Verschulden.74 Hatte nicht die Regierung gutbezahlte Beschäftigung garantiert ? Aus Achtung für die Menschenwürde fasst das Nach - Thermidor - Regime den Entschluss, alle privaten Almosen abzuschaffen – die kirchliche Wohltätigkeit war schon früher durch die Enteignung der Kirche zu einem Ende gekommen. Die Regierung übernahm es – durch die Gesetze vom 7.10.1796 und 10.3.1797 –, Schenkungen aus dem Nationalvermögen an Hospize und Wohlfahrtsanstalten zu machen und die Kontrolle der Einnahmen und Ausgaben dieser Institutionen zu übernehmen.75 Die bureaux de bienfaisance waren unter einem Gesetz vom 27.11.1796 verpflichtet, Armenhauspflege zu gewähren. Zuerst versuchten das Konsulat und dann das Empire einfach, die von François de Neufchâteau eingeführten bureaux de bienfaisance und commissions administratives vom 27.11.1796 zu regularisieren. Diese sollten sich eigentlich nur mit zufälligen und vorübergehenden Fällen von Elend befassen.76 Das war für Napoleon nicht gut genug. Der mendicité musste ein für allemal ein Ende gemacht werden. In einem Brief vom 24.11.1807 schreibt der aufgebrachte Kaiser an den Innenminister Crétet : „Il ne faut point passer sur cette terre sans laisser des traces qui recommandent notre mémoire à la postérité.“77 Er warnt den Minister, nicht einzuwenden, er brauche noch drei oder vier Monate zu weiteren Unter-

73 74 75 76 77

Buret, De la misère des classes laborieuses, Band 1, S. 214–216, Zitat : 216. Vgl. ebd., S. 222–224. Vgl. ebd., S. 224 f. Vgl. ebd., S. 226 f. Ebd., S. 227.

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suchungen. Alles muss in einem Monat geschehen. Die Dinge müssen „ins Rollen gebracht werden“ und nicht in den Ämtern schlummern. Ein Gesetz vom 5.7.1808 verbietet das Betteln und erklärt es zum Verbrechen. Die Regierung ist somit verpflichtet, Arbeit zu beschaffen oder hartgesottene Vagabunden nach Madagaskar zu schicken. Es werden dépôts de mendicité als Armenasyle gegründet. Diese nehmen sehr schnell den Charakter virtueller Gefängnisse an wie die englischen Arbeitshäuser. In vier Jahren werden 59 dépôts gegründet, die 22 550 Bettler aufnehmen. Wirklich Arme und Prostituierte, Invaliden und gefährliche Geisteskranke werden unter entsetzlichen Bedingungen alle zusammengepfercht.78 Ein unter würfiger Schriftsteller, Noailles du Gard, lobpreist folgendermaßen die neue Errungenschaft des Helden, der einen Ort nicht passieren will, ohne Spuren zu hinterlassen : „Reconnaissance éternelle à la bienfaisance du héros qui assure à l’ indigence une retraite, et des aliments à la pauvreté ! L’ enfance ne sera plus abandonnée, les familles ne manqueront plus de ressources, ni le travail d’ encouragement et d’emploi ! – Nos pas ne seront plus arrêtés par l’ image dégoûtante des infirmités et de la honteuse misère.“79 Die Restauration schaffte die dépôts de mendicité ab aus dem einfachen Grund, weil sie von Napoleon gegründet waren. Doch die strengen Gesetze gegen die Bettelei wurden beibehalten. Es ist unmöglich, die von ihnen angedrohten schweren Strafen aufzuerlegen, wo es keine dépôts de mendicité gibt. Andererseits muss ein armer Mann, um in das Pariser dépôt aufgenommen zu werden, wegen Bettelns, das heißt wegen einer Gesetzesübertretung, verurteilt sein. „Il faut passer“ – bemerkt Buret – „par la police correctionnelle pour arriver à la maison de charité !“80 Im Gegensatz zu England, wo die Armenunterstützung zu einer primären Sorge der Zentralregierung und einem wichtigen Problem in der nationalen Politik wird, übt die Regierung in Frankreich nach 1815 nur noch eine vage Kontrolle über die commissions des hospices und bureaux de bienfaisance aus, die sich selbst erhalten müssen, da die Regierung nur noch ein Subsidium von 10 Millionen Fr. gibt. Bei einer Bevölkerung, die das Doppelte der englischen beträgt, verausgabt Frankreich weniger als ein Viertel der von der britischen Regierung erhobenen Armensteuer.81 Private Wohltätigkeit war unter der Restauration hoch entwickelt infolge des starken Wiederauf lebens der Religion in den oberen Gesellschaftsschichten, teils auch als Maßnahme, um eine Revolution abzuwehren. Die harten Kapitalisten unter der Julimonarchie – sagt Vil78 79 80 81

Vgl. ebd., S. 227–229. Noailles du Gard, zit. in ebd., S. 229 f. Buret, De la misère des classes laborieuses, Band 1, S. 231. Vgl. ebd., S. 233 f.

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lermé – erklärten, ihr Ziel sei es, reich zu werden, und nicht Wohlfahrtspflege zu treiben.82 Doch der Hauptgrund für den Unterschied zwischen England und Frankreich ist in der Verschiedenheit der sozialen Struktur des hoch industrialisierten England und des noch vor wiegend landwirtschaftlichen Frankreich zu suchen. Es mag lehrreich sein, einige Zahlen zusammenzutragen, um das Problem der Verarmung in verschiedenen Zeitpunkten zu vergleichen. 1640 gab es in Paris etwa 40 000 Bettler. Das Jahr 1659 erlebte acht bewaffnete Aufstände von Pariser Bettlern, von einigen Soldaten unterstützt und gut organisiert. Am Vorabend der Französischen Revolution analysierte Necker die Ausmaße wie folgt: 6 000 bis 7 000 Bettler in 32 dépôts, 7 000 hôpitaux und etwa 100 kleine Institutionen mit 3 bis 4 Betten ( durch private Wohltätigkeit gegründet ), die 40 000 Invaliden oder Arbeitsunfähige beherbergten, 25 000 Kranke, 40 000 Findelkinder, insgesamt etwa 100 000 bis 110 000.83 In seinem großen Bericht schätzt der Duc de la Rochefoucauld Liancourt die Zahl der sozialen Fälle auf 3 248 691 : 804 775 515 362 1 886 035 42 519

Alte und Invaliden, gesunde Arme, Kinder von Armen, unter 4 Jahre alt, Kranke.84

Die Armut war ungleich verteilt. In einigen Départements wurde jede vierte Person als Armer betrachtet, in anderen war es 1 von 25 oder gar 30.85 Die Schätzungen der Zahl der Armen vom Ende des achtzehnten bis zur Mitte des neunzehnten Jahrhunderts gehen weit auseinander, je nach der Zeit – des Aufschwungs oder der Krise –, in der sie gemacht wurden, und der bewussten oder unbewussten Absicht des Statistikers, die Zu - oder Abnahme des Massenelends zu beweisen. Und natürlich gibt es riesige Differenzen zwischen den verschiedenen Gegenden. Zur Zeit des Konvents berechnete Barère, dass unter zwanzig Personen in Frankreich ein Armer war. 1808 meinte Fourcroy, Barères Zahl stimme nur für gute Jahre. In schlechten Zeiten sei jeder Zehnte unterstützungsbedürftig. Der Durchschnitt wäre somit ein Fünfzehntel der Bevölkerung. In den dreißiger Jahren sprach Morogues von einem Sechzehntel, Balbi von einem Vierunddreißigstel und der katholische Sozialrefor82 83

84 85

Villermé, zit. in Sée, Histoire économique de la France, Band 2, S. 190 : „qu’ ils sont fabricants pour devenir riches et non pour se montrer philantropes“. Vgl. Buret, De la misère des classes laborieuses, Band 1, S. 212 f. A. d. Hg. : Talmon spricht von 7 000 „hôpitaux“, die angegebene Quelle ( Buret ) nennt jedoch 700 „hôpitaux“. Ebd., S. 215. Vgl. ebd.

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mer Villermé von einem Fünfundzwanzigstel als in die Kategorie der sozialen Fälle gehörend.86 In seinem Bericht von 1833 stützt sich Gasparin auf Angaben über Hospitalaufnahmen und Unterstützung an Arme und kommt auf eine Gesamtzahl von 1 120 961 Personen aus einer Bevölkerung von 32 560 934, was auf 1 zu 29 hinausläuft.87 Der Sprecher für die extreme Linke, Pierre Leroux, behauptete, es gebe in Frankreich gegenüber 1,026 Millionen Boden besitzenden Familien 6 Millionen proletarische Haushalte, die ein Viertel der Gesamtbevölkerung Frankreichs darstellten.88 Offensichtlich entfernt sich diese Berechnung weit von den Tatsachen. Je stärker ein Bezirk industrialisiert war, desto größer die Zahl der Armen. Creuse hatte bei einer Bevölkerung von 276 274 nur 1 Armen auf 330; das hochindustrialisierte Département du Nord hatte bei einer Bevölkerung von 1 026 417 ein Verhältnis von 1 zu 6. Nach Villeneuve - Bargemont fiel jedoch in diesem Département zwischen 1789 und 1829 das Verhältnis von 1 zu 6,7 auf 1 zu 5,35.89

C. Erwachendes Bewusstsein 1. Unterdrückende Gesetzgebung der liberalen Machthaber Die offizielle Gesellschaft und das Gesetz der Orléans - Monarchie behandelten den Arbeiter wie einen Minderjährigen, der der Führung von Vernünftigen bedarf, oder als stets zu Aufstand und Missetat bereit. Ihre Arbeitsgesetzgebung ging auf die Französische Revolution und Napoleon zurück. Das Motiv hinter dem Loi Chapelier von 1791, das alle Assoziationen verbot, war die liberale individualistische Abneigung gegen alle Gilden, Korporationen und sonstige restriktiven Körperschaften monopolistischer Natur. Es sollte keine Mittler geben zwischen dem Staat und dem Einzelnen und zwischen verschiedenen Personen, die miteinander in Vertragsbeziehungen treten. Es ist kein Zufall, dass sich in der Debatte von 1791 nicht eine einzige Stimme erhob, die darauf hinwies, dass das Verbot dazu angetan war, die Arbeiter zu schädigen. Warum

86 87 88 89

Vgl. ebd., S. 243 f. Gemäß Levasseur, Histoire des classes ouvrières, Band 1, S. 643, zählte Paris 60 000 eingetragene Arme, das heißt 1 zu 10 der Bevölkerung. Vgl. Buret, De la misère des classes laborieuses, Band 1, S. 247. Vgl. Rigaudias - Weiss, Les Enquêtes ouvrières, S. 121. Vgl. Buret, De la misère des classes laborieuses, Band 1, S. 276–279.

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die Arbeiter herausgreifen ? Sie waren Bürger wie alle anderen. Besondere Gesetzgebung lief auf Diskriminierung hinaus.90 Zu Napoleons Zeit war die Gesetzgebung über diesen Gegenstand von der unausgesprochenen Annahme beseelt, die Arbeiter seien mobilisiert, um ihre Pflicht unter dem Befehl ihrer Arbeitgeber zu erfüllen und – die Tugenden des Gehorsams und der guten Disziplin zu erlernen. Die liberalen bürgerlichen Regimes sahen dann in jedem Streben nach Gewerkschaften oder nach Kollektivverhandlungen eine Drohung der Einschüchterung und des Zwangs. In dieser Beziehung hatte sogar der Staat sich nicht zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer einzumischen. Löhne, Länge des Arbeitstags, allgemeine Arbeitsbedingungen sollten von den beiden Seiten je nach den Erfordernissen des Geschäfts, der Zeit, kurz, nach den Umständen in voller Freiheit festgelegt werden. Arbeiterpetitionen und Versuche zur Organisation von Gewerkschaften unmittelbar nach der Julirevolution wurden mit einer Art schmerzvoller Überraschung begrüßt : „Dass die Arbeiter, die mit so viel Mut und Ergebenheit in den Julitagen kämpften, jetzt [...] einen Anschlag auf die für die Entwicklung unserer Industrie notwendige Freiheit zu machen wünschen !“91 „Die Freiheit der Arbeit ist nicht weniger heilig als alle anderen Freiheiten.“92 Der Préfet de police sagte am 25. August 1830, Arbeiter versammlungen an sich seien eine schwere Übertretung, selbst wenn sie nicht zu Ausschreitungen führten. „Sie beunruhigen friedliche Bürger, verursachen ernsten Verlust von Zeit und Arbeit.“93 Und natürlich dürfen sie nicht das Gesetz von Angebot und Nachfrage stören. „Die Arbeiter müssen verstehen“, – sagt der Premierminister Casimir Périer nach dem Aufstand von Lyon – „dass es für sie keine anderen Heilmittel gibt als Geduld und Ergebung.“94 Viele französische Staatsmänner und Politiker teilten die von einigen Gesetzgebern in Westminster ausgesprochenen Gefühle, die entsetzt waren darüber, wohin die Welt gekommen war – dass das Parlament Stunden über dem Thema der Nachtarbeit in Bäckereien zubrachte, anstatt sich mit Politik im großen Maßstab zu befassen. M. Sauzet, der Präsident der französischen Kammer, rief aus, das Haus sei dazu da, Gesetze zu geben und nicht, Arbeit zu beschaffen.95

90 91 92 93 94 95

Vgl. Aguet, Les Grèves sous la Monarchie de Juillet, S. XVII - XX; Hauser, Les Coalitions ouvrières, S. 540 ff. Dolléans, Histoire du mouvement ouvrier, S. 53. Ebd. Aguet, Les Grèves sous la Monarchie de Juillet, S. 7; Dolléans, Histoire du mouvement ouvrier, S. 47. Dolléans, Histoire du mouvement ouvrier, S. 69. Vgl. Cuvillier, Un Journal d’ ouvriers, S. 19.

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Vielen bürgerlichen Augen erschien es so, als ob es dem Arbeiter an Vorsichts - und Voraussorgegewohnheiten fehle, als ob er dem Trunk und Spiel ergeben sei und zu leicht Unruhestiftern Gehör schenke. Sein Elend war seinen eigenen Schwächen zuzuschreiben. Erlauchte Geister wie Victor Cousin und Gay - Lussac widersetzten sich 1840/41 der Gesetzgebung zum Schutze der Kinderarbeit : Würde der Staat die Arbeitgeber für ihre Verluste entschädigen? Und wenn die Regierung nicht in Hygieneangelegenheiten in einem Privathaushalt eingriff, warum sollte sie sich in private Industrieunternehmungen einmischen ?96 Es gab jedoch eine ganze Anzahl einsichtiger Menschen aus allen Schichten der Bevölkerung, einschließlich der Richterschaft, die menschlich tief angerührt wurden von dem Elend und der Hilf losigkeit des Proletariats und von der beredten Fürsprache von Volkswirtschaftlern wie Sismondi, Geistlichen und oft Adeligen. Ihnen verdanken wir jene bewundernswerten Erhebungen über Arbeitsbedingungen – von Villermé, Buret, Villeneuve - Bargemont und anderen. Anlässlich einer Ver urteilung von Arbeitern wegen Gewalttätigkeit in einem Streik gegen die als schlechter Arbeitgeber berüchtigte Compagnie d’Anzin im Gefolge einer Lohnsenkung von 20 Prozent fühlte sich der Präsident des Gerichtshofs von Valenciennes zu einer verschleierten Verurteilung der Gesellschaft gedrängt : „Die Stimme der Menschlichkeit wird nicht säumen, sich Gehör zu verschaffen; [...] die Verbesserung eures Loses; [...] die reichen Besitzer von Bergwerksunternehmungen können nicht eure Tyrannen sein, das können sie nicht.“97 Als erbitterndster Ausdruck von Unter werfung schien den Arbeitern das berühmte livret, in das die Arbeitgeber nach Anweisung der Napoleonischen Gesetzgebung Notizen über die Führung des Arbeiters eintrugen.98 Theoretisch musste das livret dem neuen Arbeitgeber vor der Anstellung zur Arbeit vorgezeigt werden, mit sämtlichen Möglichkeiten der Erpressung. Wie jedoch Dunham betonte, büßte im Laufe der Zeit mit dem Überhandnehmen von unpersönlichen Beziehungen in der Industrie das livret immer mehr an Bedeutung ein, insbesondere da es keine gesetzlichen Strafen für den Nichtbesitz eines livret gab. Ohnehin war es – wenn das Prinzip der Über wachung aufrechterhalten werden sollte – nur für Lehrlinge in alten Handwerken, Hausbediente und kleine Angestellte geeignet.99 96 97

98 99

Vgl. Sée, Histoire économique de la France, Band 2, S. 191. Hauser, Les Coalitions ouvrières, S. 544 f. A. d. Hg. : Im frz. Original heißt es in etwas anderer Reihenfolge : „pour l’ amélioration de votre sort; la voix de l’ humanité ne tardera point à se faire comprendre; les riches propriétaires des établissements de mines ne peuvent pas être vos tyrans, non, ils ne peuvent l’ être.“ Vgl. Dunham, La Révolution industrielle, S. 175 f. Vgl. ebd.

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Der Conseil des prud’ hommes, eine weitere von Napoleon eingeführte Arbeiterinstitution, war theoretisch ein Schieds - und Sühnegericht zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Solange Arbeiter in ihm gerecht vertreten waren, wie eine Zeit lang in Lyon vor 1831, war die Institution imstande, nützliche Arbeit zu leisten. Diese Bedingung war jedoch selten erfüllt. Und die Arbeiter empfanden mit Recht, dass ihre Richter auch ihre Arbeitgeber waren. Die Arbeiter mussten sich durch Klassengesetzgebung unterdrückt fühlen, wenn das Gesetz, das theoretisch Arbeitgeber verbände ebenso verbot wie Arbeiter verbände, Verfahren gegen Arbeitgeber nur vorsah, wenn sie infolge eines Komplotts die Löhne „ungerechter - und missbräuchlicher weise“ senkten, während im Falle der Arbeiter jeder Versuch eines concert préalable ein ausreichender Grund zur Anklage war.100 Der legitimistische Offizier Adolphe Sala traf den Nagel auf den Kopf mit seiner Feststellung in einer Zusammenfassung der Lehren aus den Unruhen von 1834 in Lyon, dass der „Arbeiter sich daran gewöhnte, in den Behörden die Verbündeten seiner natürlichen Feinde zu sehen“.101

2. Arbeiterunruhen Trotz der prohibitiven Gesetzgebung führten alte Formen von Arbeiterorganisationen ein halblegales, obwohl im Allgemeinen geduldetes Dasein, und neue Formen bildeten sich unter Umgehung des Gesetzes oder ihm zum Trotz. Die alte Compagnonnage umfasste, nach einem ihrer Führer, Agricol Perdiguier, dem Verfasser der interessanten Erinnerungen, einige 100 000 Mitglieder aus den besseren Gewerben wie Bauarbeiter, Schreiner, Steinmetzen, Lederarbeiter, Schuhmacher. Ihre bedeutsamste Leistung in der Vergangenheit war die Tour de France, eine Organisation, die zum Ziel hatte, wandernden Arbeitern bei der Arbeitssuche behilf lich zu sein. Im Laufe der Zeit nahmen sie den Charakter von Arbeiterklubs an mit altmodischen Riten, Festen und gelegentlichen brutalen Zusammenstößen zwischen den verschiedenen Gruppen.102 Es gab zahlreiche Gesellschaften zur gegenseitigen Hilfe mit geschriebenen Statuten, regelmäßigen Wahlen und Fonds. Da sie legal waren und unter Regierungsaufsicht standen, konnten diese Gesellschaften nicht für die Arbeiter gegen die Arbeitgeber oder die Behörden auftreten. Neben ihnen wurden geheime Widerstandsorganisationen ins Leben gerufen, wie etwa 1828 der 100 101 102

Vgl. ebd., S. 176 f. Dolléans, Histoire du mouvement ouvrier, S. 96. Vgl. Hauser, Les Coalitions ouvrières, S. 546–548; Sée, Histoire économique de la France, Band 2, S. 196–198.

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berühmte syndikalistische Verband der canuts von Lyon, genannt Devoir mutuel, der in Gruppen von unter zwanzig aufgeteilt war, um dem Buchstaben des Gesetzes zu genügen.103 Bei Streikanlässen wurde versucht, die philanthropischen Zusammenschlüsse zur gegenseitigen Hilfe in Produzentenkooperativen zu ver wandeln, die sich sowohl mit der Beschaffung von Rohstoffen als auch mit dem Absatz direkt befassten, wie die Société philanthropique der Pariser Schneider 1833, deren Atelier National am Faubourg St. Honoré von der Polizei gestürmt und deren Mitglieder verurteilt wurden wegen „der Schaffung eines Ateliers, das national genannt wurde, aber nichts anderes war als ein Mittel zur Begünstigung der Entwicklung und Fortdauer von Unruhen“.104 Jean - Pierre Aguet berichtet in Les grèves sous la Monarchie de Juillet über 382 Streiks in der Zeit von 1830–47 ( die Statistiken des Office du Travail geben die Zahl von 1 049) in 71 Branchen in 121 Ortschaften.105 Von diesen waren 162 im artisanat, 122 in der Bauindustrie, 82 in der Textilindustrie, 16 in Bergwerken oder der Schwerindustrie. Die schlimmsten Streikjahre waren 1833 und 1840, die niedrigsten Zahlen waren in den Jahren 1835, 1838 und 1843.106 1833 wurden 522 Männer vor Gericht gestellt, von ihnen wurden 218 freigesprochen, 270 zu Gefängnisstrafen unter einem Jahr, 7 über einem Jahr, 27 zu Geldstrafen verurteilt (219 bekamen mildernde Umstände zugebilligt ). 1840 erfolgten 682 Verhaftungen, 139 Freisprüche, 22 Ver urteilungen zu mehr als einem Jahr, 476 zu weniger als einem Jahr, 45 zu Geldstrafen (292 mildernde Umstände ). Die obigen Zahlen zeigen deutlich, dass die meisten Streiks unter der Elite der Arbeiterschaft jener Zeit erfolgten und nicht unter dem Industrieproletariat oder den verlierenden Textilhandarbeitern. Die Schneider, die übrigens streng republikanisch waren, die Schreiner, Maurer, Steinmetzen stehen an erster Stelle.107 Festy zieht aus den Streikbewegungen der Jahre 1830–34 die bestimmte Schlussfolgerung, dass sie „im Wesentlichen einer Modifizierung der Ideen der Arbeiterklasse zuzuschreiben“108 seien und rein wirtschaftliche Ursachen, wie industrielle Konzentration und Einführung von Maschinen ( es gab einige Maschinenstürmereien zu jener Zeit ) nur eine nebensächliche Rolle spielten. 103 104 105 106 107 108

Vgl. Hauser, Les Coalitions ouvrières, S. 546–548; Sée, Histoire économique de la France, Band 2, S. 198 f.; Bertier de Sauvigny, La Restauration, S. 338–341. Vgl. Dolléans, Histoire du mouvement ouvrier, S. 70 f., Zitat : 84. Vgl. Aguet, Les Grèves sous la Monarchie de Juillet, S. 365. Vgl. ebd., S. XXII. Vgl. Bertier de Sauvigny, La Restauration, S. 345; Sée, Histoire économique de la France, Band 2, S. 203 ff. Festy, Le Mouvement ouvrier (1830–1834), S. 329.

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Die industrielle Revolution war in jenen Tagen noch nicht so gewaltig, und die Streikenden – Schneider, Schuhmacher, Porzellanarbeiter und ähnliche – waren von ihr nicht betroffen. Diese Arbeiter, insbesondere die Drucker, waren sich ihrer Rolle in der Revolution von 1830 intensiv bewusst : Sie begann schließlich damit, dass die Drucker auf Anstiftung ihrer Arbeitgeber, die durch die ordonnances Karls X. erbost waren, auf die Straßen gingen. Die Wirtschaftskrise, die die ersten Stadien der Julimonarchie begleitete, verschärfte nur die Verärgerung der Arbeiter darüber, dass sie beiseitegeschoben wurden, nachdem sie ihre Schuldigkeit getan hatten.109 Zeitgenössische Beobachter bemerkten bereits das „sentiment d’ orgueil“, das in der Arbeiterklasse geboren ward und sie mit dem Wunsch beseelte, „auf der politischen Leiter höher zu steigen“.110 Das erklärt, weshalb die besser situierten und gebildeteren Arbeiter die Führung übernahmen. Die erste blutige Erhebung der Arbeiter von Lyon war die Folge von rein wirtschaftlichen Ursachen. Ein sehr wirksamer Mythos wurde jedoch durch die Tatsache geschaffen, dass die Arbeiter mit Hilfe des freundlich gesinnten Präfekten imstande waren, die Mehrzahl der Arbeitgeber zu einem Lohntarif zu überreden oder zu zwingen und darüber hinaus einen stark bewaffneten Widerstand unter der Parole „in Freiheit arbeiten oder kämpfend sterben“111 zu organisieren, während die Zentralregierung sich auf die Seite der widerstrebenden Minderheit von Arbeitgebern stellte. Es wird vielfach angenommen, der proletarische Klassenkampf habe in jenen Tagen in Lyon begonnen.112 Die Unruhen in Lyon im März bis April 1834 erwuchsen aus einem Abstimmungsbeschluss der Association mutuelliste vom 13.2.1834, zum Streik aufzurufen, aber „unter keinen Umständen in die Politik vermengt zu werden“; ein ernster Ausbruch erfolgte erst bei der Nachricht über das neue Assoziationsgesetz.113 Die Entscheidung, dem Gesetz gewaltsamen Widerstand zu leisten, erfolgte am 30.3.1834 mit dem Einverständnis der Vertreter der Arbeiter verbände – mutuellistes, ferrandiniers, concordistes, Société philanthropique des ouvriers tailleurs – und der rein politischen Société des Droits de l’ Homme in Verteidigung eines „Rechtes, das keine Menschenmacht fortnehmen kann [...] mit einer für freie Menschen charakteristischen Energie“.114

109 110 111 112 113 114

Vgl. ebd., S. 329 f. Vgl. ebd., S. 331; Stern, Histoire de la Révolution, Band 1, Introduction, S. XXXIX ff. Dolléans, Histoire du mouvement ouvrier, S. 78. Vgl. ebd., S. 58–69, Zitat : S. 65. Vgl. ebd., S. 93–96, Zitat : 95; Festy, Le Mouvement ouvrier (1830–1834), S. 304 ff. Dolléans, Histoire du mouvement ouvrier, S. 99. A. d. Hg. : Im frz. Original heißt es: „Ils sauront résister, avec l’ énergie qui caractérise les hommes libres, [...] d’ un droit qu’ aucune puissance humaine ne pourrait leur ravir.“

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3. Die Würde des Arbeiters In dem Maße, in dem das Gefühl des Ausgeschlossenseins von der Gesellschaft zunahm, wuchs der Sinn der Arbeiter für ihre eigene Würde und Bedeutung. Man gewinnt aus der Arbeiterpresse oft den Eindruck, alle die Beschränkungen und Unterdrückungen verschiedenster Art seien in erster Linie als Verletzung der Menschenwürde verübelt worden. Die Arbeiter entwickelten allmählich ein Gefühl der Solidarität und, gleichsam als Antwort auf die ihnen angetane Beleidigung, ein Bewusstsein ihrer gemeinschaftlichen Rolle in der Gesellschaft. L’ Artisan vom 22. und 26. September 1830 proklamiert, „drei Tage ( der Revolution ) haben genügt, unsere Funktion in der Wirtschaft der Gesellschaft zu verändern; und wir sind jetzt der Hauptteil dieser Gesellschaft; der Magen, der den oberen Klassen Leben spendet [...]. Das Volk : das heißt nach unserer Meinung die Arbeiterklasse; sie allein gibt dem Kapital seinen Wert, indem sie es ausnutzt; auf ihr beruhen Handel und Industrie der Staaten.“115 L’ Atelier wird zehn Jahre später sagen, dass es die Arbeiterklasse ist, die „das Vaterland verteidigt, das Brot für alle erntet, die Städte baut, die Wege für den Verkehr bahnt, kurz, die alles tut“, während die oberen Klassen „nichts produzieren, alles absorbieren und verschlingen“.116 Diese Geisteshaltung erzeugt das Gefühl, dass „die Emanzipation der Arbeiter das Werk der Arbeiter selbst sein wird“.117 Bis dahin wurden Arbeiter von Leuten vertreten, die nicht zu ihrer Klasse gehörten, und die sie verteidigten, „um sie als ein politisches Werkzeug zu benutzen, das zerbrochen werden würde, sobald sie es nicht mehr brauchten“.118 L’ Atelier ist über die Parteilichkeit des gegenwärtigen Regimes kaum empört. „Es wäre lächerlich, irgendetwas anderes von einer Vertretung zu erwarten, die ausschließlich aus hohen Industriebaronen besteht“, und von einer Regierung, die „durch Geld für Geld [...] zugunsten von Männern mit Geld eingesetzt wurde“.119 Die Schlussfolgerung ist, dass der Staat die Aufgabe der „direction sociale“ nicht erfüllt, sondern nur „eine Klasse durch eine andere unterdrückt“ und

115

116 117 118 119

Perreux, Au temps des sociétés secrètes, S. 23; Festy, Le Mouvement ouvrier (1830–1834), S. 66 f.; Dolléans, Histoire du mouvement ouvrier, S. 57; Sée, Histoire économique de la France, Band 2, S. 201 ( Fußnote ). Cuvillier, Un Journal d’ ouvriers, S. 13. Ebd., S. 13; Dolléans, Histoire du mouvement ouvrier, S. 298. Cuvillier, Un Journal d’ ouvriers, S. 22. Ebd., S. 120 f.

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„aus der Justiz ein Werkzeug zur Beherrschung macht“.120 „Das Elend der Armen macht den Reichtum der Besitzenden.“121 L’ Atelier spricht mit bitterem Hohn von den mildtätigen Damen, die Tanzveranstaltungen zur Unterstützung der armen Arbeiter organisieren – „dansent au profit des pauvres“.122 Sie lehnen Philanthropie ab, denn die Arbeiter sind keine Bettler, sie, die in Wirklichkeit alles produzieren. „Nous nous comprenions parfaitement.“123 Die „gütigen“ Leute versuchen in Wahrheit, „die Arbeiter noch viel länger ihren untergeordneten Zustand tragen zu lassen“.124 Es fehlt ihnen die wahre Nächstenliebe – das Gefühl der Gleichheit mit den Armen. Das Blatt missbilligt die Sparkassen, da Sparen ein egoistisches Interesse am Fortbestehen des Regimes schaffen und das proletarische Bewusstsein abstumpfen könne. Als 1846 eine Industriellengruppe beschloss, Prämien auszusetzen für Arbeiter, die Mut, Erfindungsgeist und gutes Benehmen bewiesen, antworteten die Arbeiter, sie würden Prämien aussetzen für gute Arbeitgeber – „gute Herren sind auch gute Arbeiter“.125 Es liegt eine stolze Behauptung der Menschenwürde in der Verkündung des Atelier : „wir sprechen hier von Befreiung, und obgleich sie die wirtschaftliche Sphäre betrifft, setzen wir uns nicht für die Sache unseres Appetits ein, sondern für die der Würde und Freiheit der Arbeiter“.126 Das livret und die Institution der prud’ hommes werden verurteilt als Werkzeuge der Unter werfung, die den Stolz der Arbeiter verletzen. Denn keine andere Klasse war einer Über wachung dieser Art ausgesetzt. Außerdem haben die Arbeiter ihre „Vorgesetzten“ genauer unter die Lupe genommen und sie als mangelhaft befunden.127 „Die Würde des Arbeiters des neunzehnten Jahrhunderts gestattet ihm nicht, ein gehorsamer Diener von irgendjemand anders zu sein“,128 geschweige denn ein bloßes Werkzeug. Die Arbeiter bilden eine Bruderschaft – „die heilige Allianz der Arbeiter“, verkündete L’ Echo de la Fabrique in Lyon.129 Das bedeutete Solidarität des Handelns, gegenseitige Unterstützung, kurz, „allgemeine Assoziation aller Arbei120 121 122 123 124 125 126 127 128 129

Ebd., S. 114, 116. Ebd., S. 112. Ebd., S. 132. Ebd., S. 136. Ebd. Levasseur, Histoire des classes ouvrières, Band 2, S. 234 ( Zitat ); Cuvillier, Un Journal d’ ouvriers, S. 130. Cuvillier, Un Journal d’ ouvriers, S. 128. Vgl. ebd., S. 129. Dolléans, Histoire du mouvement ouvrier, S. 70. Ebd., S. 94.

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terassoziationen“.130 Mit den Worten des Gewerkschaftlers Efrahem von 1833: „wir brauchen ein Band, das uns eint, eine Intelligenz, die uns regiert, [...] einen gemeinsamen Mittelpunkt [...], eine einzige zentrale Macht“.131 Efrahem sieht Kollektivverhandlungen mit den Arbeitgebern voraus und sogar direkten Verkehr der Gewerkschaften mit den Konsumenten, denen Arbeiterkooperativen ihren Bedarf direkt liefern werden. „Die Rechte und Interessen der Arbeiter, gleichgültig welchem Verband sie angehören, sind immer die gleichen. Durch Verteidigung der Rechte und Interessen eines Verbandes schützen wir die Rechte und Interessen aller anderen.“132

D. Gesinnung und Realität Die Daten, die wir gesammelt haben – wenn sie auch in manchem anfechtbar sind und oft nach feinerer Differenzierung verlangen –, gestatten immerhin einige allgemeine Betrachtungen. Nicht eine strukturelle Krise, sondern Anpassungsschwierigkeiten waren es, die Frankreich in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts durchmachte – es sei denn, man stellt sich auf den Standpunkt, jede andere Wirtschaftsform als egalitärer Kommunismus sei anormal und krankhaft und befinde sich in einem Zustand zunehmender Auf lösung, bis die unvermeidbare Endlösung erreicht wird. Es gab mehrere Gründe, weshalb die durch die Industrialisierung geschaffenen Probleme so schwer wiegend erschienen, dass sie sich wie eine herannahende Katastrophe von apokalyptischer Natur ausnahmen. Obwohl gering an Ausmaß, verglichen mit den statischen und ruhigen Verhältnissen auf dem Land, stellten sie eine dynamische Veränderung dar und erschlossen unendlich weite Ausblicke. Sie stachen ungeheuer in die Augen, weil ihr Brennpunkt in großen städtischen Zentren, vor allem in der Hauptstadt lag. Ein winziges Sandkorn im Auge lähmt einen ganzen Körper und stört ein ganzes Ner vensystem. Wichtiger war, dass diese dynamischen Entwicklungen von Menschen beobachtet wurden, die durch den Bruch in der historischen Kontinuität und die von der Französischen Revolution erzeugte Atmosphäre in einer besonderen Weise beeinflusst worden waren. 130 131 132

Ebd., S. 87. Ebd., S. 87 f. Ebd., S. 87. Engels beglückwünscht die Herausgeber des „L’ Atelier“, dass sie von „guerre à outrance qui s’ engage entre le travail et le capital dans tous les pays industriels de l’ Europe [...] ne cesse pas un moment entre le maître et l’ ouvrier“ sprechen; siehe Cuvillier, Un Journal d’ ouvriers, S. 112. A. d. Hg. : Hierbei handelt es sich nicht um einen Glückwunsch Engels’, sondern um Auszüge aus Beiträgen in „L’Atelier“.

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Waren die sozialen Übelstände, die als Folge der industriellen Entwicklungen auftraten, so völlig neuartig, so viel schlimmer an Intensität und Umfang als irgendetwas bis dahin Gekanntes ? Man kann schwerlich sagen, die Situation „der Armen“ – wenn wir diesen summarischen Ausdruck zur Bezeichnung der Benachteiligten jeder Art ver wenden wollen – habe sich katastrophal verschlechtert. Es ging ihnen sicherlich besser als beispielsweise dem erbärmlichen menschlichen Abschaum, den wandernden Bettlern und heimatlosen Vagabunden früherer Zeiten oder den durch Hungersnot zur Raserei gebrachten Massen in Jahren schlechter Ernte. Doch wie E. Buret so treffend her vorhob – städtisches und industrielles Elend ist entwürdigender, schwerer erträglich und demoralisierender als die altgewohnte Armut in einer landwirtschaftlichen Gesellschaft.133 Da war an erster Stelle der verzweifelte Kampf der Handarbeiter in der Textilindustrie, die, in ihrem Konkurrenzkampf mit der Maschine zum Untergang ver urteilt, sich während immer längerer Stunden in drückender Hitze und Feuchtigkeit abrackerten und dabei immer weniger verdienten. Dann war da das Elend des entwurzelten Dorfbewohners in einer neuen, fremden und unfreundlichen Umgebung. Er konnte sich nicht mehr in frischer Luft bewegen, sondern war angekettet zu höchst ermüdender eintöniger Arbeitsverrichtung in immer schnellerem Tempo in engen Räumlichkeiten. Seine Dorfumgebung und Hütte erschienen ihm jetzt wie ein warmes freundliches Nest, nachdem er in einem Haufen menschlicher Körper in den schrecklichen Hütten und Höhlen der städtischen Elendsviertel wohnte. Hier war die Brutstätte für jene Seelenpein, jene trübe Hoffnungslosigkeit und Erbärmlichkeit, die nicht allein oder auch nur vor wiegend aus materieller Not entspringen, obwohl sie natürlich durch sie verstärkt werden. Die Menschen werden von dunklen krankhaften Trieben besessen oder unterliegen einer betäubenden Lähmung. Sie werden von unbezwingbarer Aggressivität getrieben oder verfallen in Mürrischkeit. Das Zuhause wird zur Hölle. Männer suchen sich im Trunk zu trösten. Frauen fallen der Prostitution zum Opfer. Komplizierte Naturen enden als Versager. Von allen bekannten Übeln – niedrigen Löhnen, langen Arbeitsstunden, Kinderarbeit, schlechten Bedingungen in den Fabriken – ver ursachte wahrscheinlich keines mehr Elend und Leid als die Wohnbedingungen der Entwurzelten. Und in der Tat war das eine die Funktion des anderen. Hinzu kommt die Geißel der Unsicherheit. Das Schlimmste waren nicht die niedrigen Löhne. Wenn die Arbeit stetig war und die Gesundheit befriedigend, konnte eine Arbeiterfamilie auskommen. Es waren vielmehr die Angst vor und die Tatsa133

Vgl. Buret, De la misère des classes laborieuses, Band 1, S. 118–123, 256–258, 260, 315 f.

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che der Arbeitslosigkeit – ein Unglück, das zu jeder Zeit über einen kommen konnte, zusätzlich zu der Angst vor Krankheit und der grimmigen Aussicht für das Alter in einer Gesellschaft, die noch nicht die Mittel und Wege ausgebildet hatte, mit diesen Problemen fertig zu werden; diese Dinge waren es, die – bei der Häufigkeit der Krisen – das Leben so prekär und so voller Gefahren erscheinen ließen.134 Diese Bedrängnis war zweifellos objektiv gesehen ernst; doch die Geisteshaltung ihrer Opfer und wohlwollender Beobachter ließ sie noch ernster erscheinen. Die proletarischen Massen, die sich vom Schicksal über wältigt, verlassen und verloren fühlten, waren gleichzeitig von der Französischen Revolution durch die Idee der Menschenrechte und Menschenwürde angefeuert worden. Die Unbill wurde daher vertieft durch ein Gefühl der Beleidigung und Erniedrigung. Es ging nicht darum, dass die industrielle Revolution eine schreckliche Verarmung mit sich brachte, sondern vielmehr darum, dass die Bourgeoisie sich den ganzen durch die Mühsal der Arbeiter erworbenen Reichtum aneignete; nicht darum, dass es den Arbeitern so viel schlechter ging, sondern dass es der Mittelklasse so viel besser ging. In früheren Zeiten wäre es einem Bauern kaum eingefallen, den Grundherren um seinen Reichtum und seinen Lebensstil zu beneiden, oder einem Lehrling, sich mit einem Patrizier zu vergleichen. Die Französische Revolution hatte die Gleichheit der Menschen und die Ungerechtigkeit eines jeden Privilegs gelehrt. Sie erzeugte auch den Glauben an ein vorbestimmtes, natürliches, rationales und gerechtes soziales System, dessen Entstehen nur durch eigennützige Interessen verhindert wurde.135 Es wäre in diesem Zusammenhang ein zu leichtes und grobes Verfahren, dogmatisch zu erklären, wie einige „nichtideologische“ Historiker zu tun geneigt sind, dass die Massen nur daran interessiert seien, ihren Lebensunterhalt zu verdienen und ihre Bedingungen zu verbessern und kein Interesse oder Verständnis haben für hochtrabende Systeme. Die französischen Arbeiter am Vorabend von 1848, und besonders die Handwerker in Paris, waren keine Rohlinge, der Bildungsgrad unter ihnen war beträchtlich (1848 konnten 87 Prozent 134 135

Vgl. Villermé, Tableau de l’ état physique, Band 1, S. 437–446; Band 2, S. 342–354. Clapham schreibt dazu : „Die französischen Arbeiter wurden in ihrer Feindseligkeit gegen das Gesetz ( Nachrevolutions - und Napoleonische Gesetzgebung ) selbstbewusst, ebenso wie die englischen Lohnarbeiter selbstbewusst wurden aus Feindseligkeit gegen das von Napoleons Feinden gehandhabte Gesetz. Hinzu kam in Frankreich noch die schmerzliche Erkenntnis, dass Brüderlichkeit und Gleichheit verkündet und beiseite geschoben worden waren. Wenn die französische politische Geschichte von 1789 bis 1815 anders verlaufen wäre, so hätte möglicherweise auch die Arbeitergeschichte des neunzehnten Jahrhunderts einen anderen Verlauf genommen.“ Siehe Clapham, The Economic Development of France, S. 3.

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der männlichen und 83 Prozent der weiblichen Arbeiter lesen und schreiben; 1839 konnten 57 Prozent und 1857 66,5 Prozent der ausgehobenen Rekruten wenigstens lesen ) und ihre natürliche Wissbegierde und Intelligenz waren recht aufgeweckt.136 Sie verstanden von den sozialen Theorien sicherlich so viel wie, wahrscheinlich aber mehr als etwa einfache Gläubige im Mittelalter oder in einer späteren Epoche vom christlichen Dogma und von theologischen Streitfragen. Es gab in jenen Tagen bereits eine Arbeiterpresse – L’ Artisan, L’Echo de la Fabrique in Lyon, L’ Atelier ( dessen Mitarbeiter prinzipiell auf Mitglieder der Arbeiterklasse beschränkt waren ). Am Ende unserer Epoche war das sozialistische System von Louis Blanc zu ein paar Schlagworten destilliert worden, und in einem geringeren Maße das von Proudhon. Recht auf Arbeit, Organisation der Arbeit, Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, Proudhons ungeheuer wirksamer Ausruf – „Eigentum ist Diebstahl“, die ewige Spaltung der Gesellschaft in Besitzende und Habenichtse, in geringerem Ausmaß die Idee der Assoziation im Gegensatz zum isolationistischen und selbstsüchtigen Individualismus und Laissez - faire – diese beschwingten Ideen sanken tief ein, denn jeder konnte sie erfassen. Sie erzeugten eine Haltung, die die bestehende Gesellschaft als unrechtmäßig verurteilte, eine Erwartung eines unmittelbar bevorstehenden totalen Wandels, einen Glauben, dass die Armen demnächst die Erde erben werden. Sie waren ihrer Rechte sicher und davon überzeugt, dass es eine natürliche gerechte Ordnung gibt, die von schlechten Menschen zunichtegemacht wurde – kein Wunder, dass die Arbeiter mit ihrem begrenzten Horizont und der akuten Wirklichkeit ihres Leidens viele Übel, die auf objektive Ursachen zurückzuführen waren, der menschlichen Schlechtigkeit oder Gefühllosigkeit zuschrieben, oder dass sie nicht begriffen, dass manche dieser Übel vorübergehend waren.137 Niemand wird leugnen, dass es unter den Arbeitgebern harte, gierige Selbstsucht gab, oder dass die Laissez - faire Theorien der Nichteinmischung ebenso sehr Ergebnis von Denkfehlern waren wie Rationalisierung von Klasseninteressen. Die beschränkenden Maßnahmen gegenüber den Gewerkschaften waren ebenso wohl die Frucht einer individualistischen Philosophie wie eine Funktion der Befürchtung revolutionärer Gewalttat, Vermächtnis von 1793. Andererseits waren die Arbeiter nicht imstande zu sehen, dass der Fortschritt der Industrialisierung dazu angetan war, anstatt ihr Verderben zu besiegeln, viele der schlimmsten Übel, unter

136 137

Vgl. Levasseur, Histoire des classes ouvrières, Band 2, S. 145 f. Die Diskrepanz zwischen dem Reichtum an sozialistischen Ideen und der Rückständigkeit der Realität in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts einerseits, und der Kontrast zwischen der ideologischen Armut und der Schnelligkeit und dem Umfang des sozialen Wandels in der zweiten Hälfte andererseits, ist ein Lieblingsthema von Herrn Labrousse.

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denen sie litten, zu heilen. Als die Beschränkungen, die fünfundzwanzig Jahre Krieg und Blockade Frankreich aufgezwungen hatten, abzunehmen begannen, führten neue Produktionsmethoden zu größerer Konzentration. Geräumigere Fabriken boten infolgedessen bessere Arbeitsbedingungen. Der wilde Kampf zwischen kleinen Unternehmungen hinter schützenden Zollmauern wich einer größeren Stabilität von Beschäftigung und Löhnen. Das erleuchtete Selbstinteresse ließ Arbeitgeber mit großzügigeren Ansichten einsehen, dass zu lange Arbeitszeit und Kinderarbeit keinen wirklichen Zuwachs an Produktivität brachten und eine Bedrohung der Arbeitskraft der Zukunft darstellten. Die Elendsviertel auf sumpfigem Gelände und in ummauerten Städten wie Lille wurden notwendiger weise abgebrochen und durch bessere Wohnungen ersetzt, manchmal gegen den Willen der Arbeiter, die ihre armseligen Behausungen nicht verlassen wollten. Schließlich wirkte sich das Weichen des Alpdrucks der Revolution nach 1848 als zusätzlicher Faktor im Sinne einer veränderten Haltung der offiziellen Gesellschaft gegenüber der Arbeiterschaft aus.

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II. Die laten te Revo lu ti on A. Das Recht zur Revolution 1. Das Problem der Legitimität Die Aufeinanderfolge von französischen Regierungssystemen wurde während hundert Jahren durch Revolution und Konterrevolution, Gewaltstreich und Usurpation bestimmt.138 Jedes neue System verurteilte seinen Vorgänger als verbrecherisch und versuchte sogar oft, die gestürzten Herrscher zu bestrafen. Die Proklamation der Nationalversammlung von 1789 vernichtete die alte Ordnung; der 10. August 1792 und die ihm folgende Begründung der Republik brandmarkte die konstitutionelle Monarchie als verräterisch; der 9. Thermidor verhängte den Bann über die terroristische Diktatur; der 19. Brumaire ließ das Werk der Thermidor - und Direktoriumsherrschaft in verachtungsvolle Vergessenheit geraten; die Restauration erkannte natürlich weder die Legalität der Revolution noch der Napoleonischen Usurpation an; nach dem Sieg der Julirevolution wurden die Minister Karls X. vor Gericht gestellt; gar nicht zu reden von kleineren Gewaltstreichen und Säuberungsaktionen. Es war unvermeidlich, dass sich bei einem solchen Stand der Dinge eine besondere Auffassung von der Beziehung zwischen Regierung und Opposition herausbildete. Diese konnte nicht als die Alternativregierung betrachtet werden, die bei den nächsten Wahlen an die Macht gelangen mochte. Einige Abgeordnete von Oppositionsparteien saßen in der Kammer der Restauration und dann der Julimonarchie, doch wurden sie kaum als ein Teil des nationalen Ganzen angesehen. Sie erschienen, entweder auf Grund ihrer eigenen Persönlichkeit oder durch ihre Verbündeten und Mitläufer, als Träger von Anarchie und Ver wirrung und als Bedrohung einer zivilisierten Ordnung. Im besten Fall

138

Quellen : Blanc, Histoire de dix ans (1830–1840), 5 Bände; Bouton, Profils révolutionnaires; Chenu, Les Conspirateurs; Hodde, Histoire des sociétés secrètes; Gisquet, Mémoires; Lucas, Les Clubs et les Clubistes; Regnault, Histoire de huit ans (Fortsetzung von L. Blancs „Histoire de dix ans“);Watripon, Histoire politique; Moderne Werke : Bertier de Sauvigny, La Restauration; Cuvillier, Hommes et idéologies; Dolléans, Histoire du mouvement ouvrier; Dommanget, Blanqui; Duveau, Raspail; Evans, Le Socialisme romantique; Festy, Le Mouvement ouvrier (1830–1834); ders., Le Mouvement ouvrier (1840); Hammen, The Spectre of Communism; Jeanjean, Armand Barbès; Molinier, Blanqui; Perreux, Au temps des sociétés secrètes; Plamenatz, The Revolutionary Movement; Tchernoff, Le Parti républicain; Thureau - Dangin, Histoire de la Monarchie de Juillet.

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waren sie geduldet. Die Regierung fühlte sich als Hüter der Zivilisation und Moralität. Daher erschien die Rolle der Ver waltung nicht als die eines Systems von Institutionen, noch die Beamtenschaft als zur Verfügung einer jeden an der Macht befindlichen Regierung stehend, sondern als Werkzeuge, die in engem Bündnis mit der regierenden Partei die Fluten hinter Deichen halten sollten. Es war somit nichts Unnatürliches, dass eine große Zahl von Beamten als Abgeordnete in der Kammer saß und ihre Anweisungen von der Regierung erhielt. Die Opposition der Besiegten erwiderte verständlicher weise mit ähnlichen Gefühlen. Die Regierenden hatten in jedem Fall ihre Macht durch Gewalt errungen. Republikaner und Bonapartisten waren geeint in ihrer Behandlung der Restauration als einer Regierung der nationalen Schmach und Niederlage. Sie war Frankreich von einem fremden siegreichen Feind aufgezwungen worden. Es fehlte ihr nicht nur an nationaler Legitimität, sondern sie behandelte noch die besiegten Gegner so, als ob diese außerhalb des Gesetzes stünden und tatsächliche oder potentielle Übeltäter wären, die zu außergesetzlichen Maßnahmen aufforderten. Nachdem die Oppositionsparteien als Feinde und nicht als gleichberechtigte Partner in der politischen Gemeinschaft behandelt wurden, meinten sie, eine unrechtmäßige Regierung, die darauf aus war, sie zu verfolgen und zu unterdrücken, habe keinen Anspruch auf ihre Loyalität. Ihre Gesetze waren Werkzeuge tyrannischer Usurpation, weder die Emanation des Naturrechts noch die Frucht freier Volksentscheidung und auch nicht Richtsprüche einer freien Justiz. Gewalt sollte mit Gewalt beantwortet werden: Tyrannei mit Revolution, unterdrückende Maßnahmen mit Komplott und Verschwörung und mit revolutionärer Unruhe, die die Macht des Regimes untergräbt und die revolutionären Kräfte am Leben hält.139 Sowohl die Restauration als auch die Julimonarchie entzogen den Volksmassen das Wahlrecht : die Erstere beschränkte die Zahl der Wähler auf weniger als 100 000, die Letztere auf ein Maximum von weniger als 250 000. Um die Agitation gegen diese politische Beschränkung zu bekämpfen, griffen beide Systeme zu schweren Einschränkungen der Rede - , Presse - und Versammlungsfreiheit. Diese Politik erschien besonders empörend, wenn sie von einem Regime gehandhabt wurde, das 1830 selbst infolge einer Volksrevolution gegen die willkürliche Verletzung des Rechts der freien Meinungsäußerung zur Macht gelangt war. Das Dogma der beiden Lager wurde von Carrel in einem Artikel im National vom 20. März 1834 in den folgenden Worten formuliert : „Zwei Lager bilden sich und bedrohen sich gegenseitig. Im Lager der öffentlichen Ordnung verkünden sie bereits, die Suspension der Freiheit könne notwendig werden, 139

Vgl. Thureau - Dangin, Histoire de la Monarchie de Juillet, Band 2, S. 11, 208 f.

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Die latente Revolution

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um die Ordnung zu retten; aber im Lager der Freiheit [...] wird festgestellt, dass im Juli eine Revolution gemacht wurde, trotz der Partei der öffentlichen Ordnung; es wird festgestellt, dass diese Revolution nicht aufgegeben werden kann und nicht aufgegeben werden soll, dass sie nicht aufgegeben werden wird [...]. Wenn es eine Suspension der Freiheit gibt, dann muss die Antwort die gleiche sein wie im Juli : Suspension der öffentlichen Ordnung.“140 Thureau - Dangin zitiert eine Notiz von Marc Dufraisse, einem führenden Mitglied der Untergrundbewegung, die nach seiner Angabe 1836 von der Polizei gefunden wurde und sich auf das Bombenattentat von Fieschi bezieht. „Louis - Philippe und die älteren Mitglieder seiner Rasse sind Konterrevolutionäre; die erste Pflicht des Menschen ist, alles zu vernichten, was sich dem Fortschritt, das heißt, der Revolution, entgegenstellt; die Tat vom 28. Juli hatte ein revolutionäres Ziel; sie war daher moralisch.“141 Und die Notiz fährt fort, Morey, einen von Fieschis Komplizen, zu verherrlichen: „Ce vieux prolétaire, concevant l’ idée du régicide [...], toujours calme, toujours de sang - froid“,142 ein moderner Christus am Kreuz. Der sechsundzwanzigjährige Alibaud, dessen Anschlag auf das Leben des Königs am 25. Juni 1836 fehlschlug, gestand, dass er den König töten wollte, „weil er ein Feind des Volkes ist“.143 „Ich war unglücklich durch die Schuld der Regierung, und da der König an ihrer Spitze steht, beschloss ich, ihn zu töten. [...] Er verursachte die Massaker der Bürger auf den Straßen von Lyon und [...] Saint - Merry. Seine Herrschaft ist eine blutige Herrschaft, eine schändliche Herrschaft.“144

2. Soziologische Faktoren Gewisse demographische und soziale Entwicklungen trugen zur Verschärfung des Konflikts bei. Man hat das Restaurationsregime als Gerontokratie bezeichnet. Zurückgekehrte Emigranten und alte Loyalisten, die niemals in ihrer Loyalität für die Bourbonfarben wankten, verlangten und erhielten Stellungen, aus denen Bonapartisten und Republikaner entfernt wurden. Neben der stark eingeschränkten Wahlberechtigung war auch das erforderliche Mindestalter – für das aktive Wahlrecht 30, für das passive 40 – sehr hoch. Da die Revolution und das napoleonische Epos das Werk sehr junger Menschen war, fand sich 1815

140 141 142 143 144

Carrel, zit. in ebd., S. 236 ( Fußnote ). Ebd., S. 311. Ebd., S. 311 f. Thureau - Dangin, Histoire de la Monarchie de Juillet, Band 3, S. 35. Ebd.

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eine große Anzahl von ziemlich jungen Menschen von Betätigung und Einfluss entfernt, insbesondere entlassene Offiziere nach Jahren außerordentlicher Wirksamkeit. Hinwiederum diejenigen, die unter der Restauration das Mannesalter erreichten, waren dazu verurteilt, sehr lange zu warten, bis sie an die Reihe kamen, und dabei die phantastischen Geschichten anzuhören, die Männer, nur wenig älter als sie, von unerhörten Taten erzählten. Kein Wunder, dass sie sich der Verschwörung zuwandten.145 Der große Wandel unter der Julimonarchie bestand in dem Aufstieg von Elementen aus dem Volk. Das Volk galt vor 1830 sehr wenig. Der republikanische Führer Carrel schreibt zu diesem Punkt wie folgt : „War zur Zeit der Denkschrift der 221 in unseren Angelegenheiten vom Volk überhaupt die Rede ? [...] Es gab eine Menge Aufregungen unter uns, Doktoren, Kauf leuten, Abgeordneten, Schriftstellern. [...] Es gab nicht den Schimmer einer Ahnung dessen, was unter uns vorging, in den der politischen Rechte beraubten Schichten, die zu der kaum gefährlichen Ehre konstitutionellen Widerstands nicht zugelassen waren.“146 Die Oppositionszeitung National vom 22. Juli 1830 beschuldigte noch Polignac deswegen, weil er Unterstützung zu finden suchte „in einer anderen Nation als der, die Zeitungen liest, von den Debatten in den Kammern aufgerührt wird, über Kapital verfügt, die Industrie beherrscht und Land besitzt“, und „in die unteren Schichten der Bevölkerung hinabsteigt, wo es keine Meinungen gibt, wo kaum politische Einsicht besteht, [...] Tausende von guten, anständigen, einfachen menschlichen Wesen, [...] leicht zu täuschen und zu verbittern, [...] von einem Tag zum anderen leben, [...] zu jeder Stunde ihres Lebens gegen die Not kämpfen, die weder die Zeit noch die Ruhe von Körper und Geist haben, die notwendig sind zu gelegentlichem Nachdenken darüber, wie die Regierung dieses Landes geführt wird.“147 Ein sehr bedeutender Faktor unter der Julimonarchie war in dieser Beziehung die Nationalgarde. Nach Carrel war die Nationalgarde nicht ein Söldnerheer, sondern „la cité politique sous les armes“, der Schiedsrichter zwischen Regierung und Volk, „la véritable souveraineté nationale, la souveraineté de fait, [...] du [...] Champ de Mars de nos ancêtres“.148 Ein Polizeibeamter zu Anfang der vierziger Jahre wies auf die Gefährlichkeit dessen hin, dass Paris in Viertel von Wohlhabenden und Armen geteilt war, von denen jedes seine eigenen Formationen der Nationalgarde hatte.149 Dort waren die Keime von

145 146 147 148 149

Vgl. Bertier de Sauvigny, La Restauration, S. 319–321. Thureau - Dangin, Histoire de la Monarchie de Juillet, Band 1, S. 419. Ebd., S. 419 f. Thureau - Dangin, Histoire de la Monarchie de Juillet, Band 2, S. 212 f. Monin, Le Pressentiment social, S. 301 ( Fußnote ), zitiert diesbezüglich Languetin, Question de déplacement de la population de Paris.

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sozialem und Bürgerkrieg. Die Nationalgarde war als Konzession an das Volk beabsichtigt : Es sollte selber Ordnung halten, frei von der Angst vor einer unter dem Befehl der Exekutive stehenden Armee und sicher vor jeglichen tyrannischen Bestrebungen der Regierung. Sie war andererseits beabsichtigt als Verbündeter der Regierung gegen Volksunruhen von unten. Die Kombination von Nationalgarde und Revolutionsmythos war eine starke Macht. Der Mythos der Revolution wurde auf verschiedenen Ebenen ausgesponnen. An langen Winterabenden oder in Werkstätten, in denen die Arbeit Gespräche erlaubte, unterhielten Veteranen der Revolution junge Zuhörer mit Erzählungen aus den historischen Tagen der Revolution, als die Armen unter der Leitung von unbestechlichen reinen Führern die Reichen und Mächtigen demütigten. Dichterische Geschichtsschreibung – Michelet, Lamartine, Louis Blanc, Cabet – und volkstümliche Chansons umwoben die Revolution mit einem Schein übermenschlicher Herrlichkeit. Ihre handelnden Personen wuchsen ins Überlebensgroße, die Grausamkeiten wurden zu Taten gerechter Rache, die Verbrechen zu unergründlichem Geheimnis oder tragischer Notwendigkeit, unberührt von dem Schmutz und der Niedrigkeit des Alltags. So ver wandelte sich der Begriff der Revolution aus einem Akt der Verzweif lung in eine Stunde der feierlichen Erfüllung, aus force majeure in einen Befreiungsspasmus, aus einer Anrufung des Himmels in einen Tag der Abrechnung, aus Unheil in eine aufwühlende Aufforderung, es den Vätern gleichzutun. Die Dichtung der Barrikaden wurde von Béranger gesungen, von Michelet gepriesen und von Delacroix auf breite Leinwand gemalt.150

B. Aufruhr und Komplott 1. Aufruhr und Unterdrückung Die frühen Tage der Julimonarchie sind als das Regime gewohnheitsmäßigen Aufruhrs beschrieben worden. Die Trois Glorieuses brachten den Brauch und den Zauber der direkten Volksaktion wieder zum Leben.151 Die belgische Revolution und der Todeskampf des polnischen Aufstands hielt die Getreuen der Revolution in fieberhafter Erregung. Französischer Nationalstolz, Mitgefühl 150

151

Vgl. Chevalier, La Formation, S. 13–15 ( über den Revolutionsmythos in der Pariser Bevölkerung; er weist auch darauf hin, dass nur die Hälfte der Menschen, die zu jener Zeit in Paris starben, dort geboren waren, siehe ebd., S. 45); Picard, Le Romantisme social; Thureau - Dangin, Histoire de la Monarchie de Juillet, Band 1, S. 284–339 (über den Revolutionsmythos in der Literatur ). Man könnte natürlich Flaubert, Éducation sentimentale, hinzufügen. Vgl. Thureau - Dangin, Histoire de la Monarchie de Juillet, Band 1, S. 92–102.

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für die fremden Freiheitskämpfer, vor allem die Polen, Hass gegen Russland und Verachtung ihrer eigenen furchtsamen Regierung waren miteinander vermengt. Das russische Botschaftsgebäude wurde angegriffen, und die unselige Erklärung des Generals Sebastiani, in Warschau herrsche Ordnung, nachdem die Stadt einen Tag vorher gefallen war, rief einen tagelang dauernden Aufruhr her vor.152 Davor erregten sich die Gemüter anlässlich des Prozesses gegen die früheren Minister Karls X. Als die Abschaffung der Todesstrafe verkündet wurde, bestand ernsthafte Gefahr einer Lynchjustiz des Pöbels. Die Erregung legte sich erst, als die Studenten für l’ ordre public eintraten als Antwort auf ein Regierungsversprechen liberaler oder richtiger „republikanischer“ Maßnahmen.153 Dem Angriff auf die Kirche Saint - Germain - l’ Auxerrois, in der Royalisten Mitte Februar 1831 eine Gedenkfeier für den Herzog von Berry hielten und, wie behauptet wurde, die Bourbonfarben salutierten, folgte die Plünderung des Pariser Erzbistums, ohne dass die Sicherheitstruppen der Regierung überhaupt eingriffen.154 Jahrestage der Revolution und Begräbnisse von Volkshelden waren Anlässe zu Massendemonstrationen, die in Aufruhr endeten. So verursachte die Beerdigung des Generals Lamarque Anfang Juni 1832 einen mehrere Tage lang dauernden Aufstand.155 Ein Jahr später rief die Frage der forts détachés – ein Regierungsplan, die Hauptstadt mit einem Gürtel von Stützpunkten zu umgeben, die von der Opposition als Zitadellen zur Niederhaltung des Pariser Volkes bezeichnet wurden – eine intensive revolutionäre Agitation her vor.156 Doch die wirklichen Höhepunkte waren die politischen Prozesse. Sie wurden zu schallenden politischen Demonstrationen. Die Angeklagten wurden zu Anklägern, die die Feigheit und Niedrigkeit des Regimes angriffen und die Richter als Lakaien einer korrupten Verschwörung gegen das Volk schmähten. Ein Mitglied der Société des Amis du Peuple, Hubert, fragte den Gerichtshof, mit welchem Recht sie über ihn, einen der Kämpfer der Julitage, 152 153

154

155

156

Vgl. Thureau - Dangin, Histoire de la Monarchie de Juillet, Band 1, S. 389 f.; Band 2, S. 19 f., 22. Vgl. Thureau - Dangin, Histoire de la Monarchie de Juillet, Band 1, S. 140–147; Blanc, Histoire de dix ans (1830–1840), Band 2, S. 121–131, 215 ff.; Gisquet, Mémoires, Band 1, S. 206. Vgl. Blanc, Histoire de dix ans (1830–1840), Band 2, S. 287–293; Thureau - Dangin, Histoire de la Monarchie de Juillet, Band 1, S. 188–205; Gisquet, Mémoires, Band 1, S. 206. Vgl. Gisquet, Mémoires, Band 2, S. 189–292; Blanc, Histoire de dix ans (1830–1840), Band 3, S. 287–326; Thureau - Dangin, Histoire de la Monarchie de Juillet, Band 2, S. 120–130. Vgl. allgemein zu den Jahren 1831/32 : Thureau - Dangin, Histoire de la Monarchie de Juillet, Band 1, S. 415–451. Gisquet, Mémoires, Band 3, S. 86–126; Thureau - Dangin, Histoire de la Monarchie de Juillet, Band 2, S. 210–214. Vgl. allgemein zu den Jahren 1833/34 : Thureau Dangin, Histoire de la Monarchie de Juillet, Band 2, S. 207–246.

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zu Gericht säßen, während sie selbst, Angestellte der vertriebenen Dynastie, von ihren Posten weggelaufen seien und so „das Urteil des Volkes sanktioniert“157 haben. Ein anderer Angeklagter, Bergeron, der wegen eines Anschlags auf das Leben Louis Philippes vor Gericht stand und dessen Urteil „nicht bewiesen“ lautete, antwortete auf die Frage, ob er gesagt habe, der König verdiene, erschossen zu werden, er erinnere sich nicht, es gesagt zu haben, aber er denke es gewisslich.158 Die Geschworenen zeigten sich sehr mild und ihre Verdikte lauteten in den meisten Fällen auf Freispruch. Die Oppositionspresse und eine umfangreiche Literatur von Broschüren und Flugblättern gaben einen laufenden Kommentar zu den Verhandlungen. Sie missachteten auf gut französische Art alle Erwägungen der Sub - judice- Vorschriften und verherrlichten die Märtyrer für die Sache der Freiheit. Die revolutionäre Opposition hatte in den crieurs publics eine Art Radiopropagandamaschinerie zu ihrer Verfügung. Orthodoxe Bürger nannten diese Straßenjungen, die aus vollen Kehlen Schlagzeilen, in Wahrheit Parolen, brüllten, „héraults de sédition“.159 Eine Zeit lang schienen die Behörden gelähmt. Das Regime, das selbst der Sprössling eines Aufstands gegen die Unterdrückung der Redefreiheit war, wurde eingeschüchtert durch die verächtliche Herausforderung der Angreifer. Der starke Premierminister Casimir Périer war der Erste, der strenge Maßnahmen ergriff.160 1834 kamen die Regierung und ihre Anhänger zu dem Schluss, dass – wie der Abgeordnete Viennet es ausdrückte – „die gegenwärtige Legalität uns umbringen wird“.161 Inmitten heftiger Agitation und Ausschreitungen erließ die Abgeordnetenkammer ein Gesetz gegen die crieurs, das bestimmte, in Zukunft würde die Genehmigung widerruf lich sein und Zuwiderhandelnde würden nicht von Geschworenen - , sondern von Strafgerichten abgeurteilt werden. Das neue Gesetz über das Vereinsrecht dehnte den Artikel 291 betreffs Vereinigungen von mehr als 20 Personen auf alle Vereinigungen aus, sogar auf diejenigen, die in Gruppen von weniger als zwanzig Personen aufgeteilt waren. Es schaffte die Geschworenengerichte für Vergehen gegen die Sicherheit des Staates ab und machte keinen Unterschied zwischen Führern und Geführten,

157

158 159

160 161

Hubert, zit. in Thureau - Dangin, Histoire de la Monarchie de Juillet, Band 1, S. 107. A. d. Hg. : Talmon nennt als Quelle für weitere Informationen zu Hubert Victor Boutons „Profils révolutionnaires“, S. 118. Hier geht es aber nicht um Hubert, sondern um einen gewissen Aloysius Huber. Vgl. Thureau - Dangin, Histoire de la Monarchie de Juillet, Band 2, S. 209. Vgl. Hodde, Histoire des sociétés secrètes, S. 131–138. A. d. Hg. : Es ist hier von „héraults d’ armes de l’ émeute“ die Rede. Vgl. auch Perreux, Au temps des sociétés secrètes, S. 321. Vgl. Thureau - Dangin, Histoire de la Monarchie de Juillet, Band 2, S. 1–8, 8–12, 22. Perreux, Au temps des sociétés secrètes, S. 323; Gisquet, Mémoires, Band 3, S. 69.

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im Gegensatz zu politischen Vergehen, die unter die Charte fielen.162 Dieser Anlass war es, den der berühmte legitimistische Redner ergriff, um den Regierungsbänken die vielsagende Beleidigung ins Gesicht zu schleudern : „Es gibt etwas noch Abscheulicheres als revolutionären Zynismus. Das ist der Zynismus der Apostasie.“163 Die Reaktion auf diese Maßnahmen war rasch : im April 1834 der Aufstand in Lyon, der mit einer Ernte von 160 Toten und einer unbekannten Zahl von Ver wundeten unter den Aufständischen und 130 getöteten und 300 ver wundeten Soldaten endete; die grimmige Transnonaintragödie in Paris; und Ausschreitungen in einer Anzahl von anderen Städten.164 Dann kamen zwei größere Ereignisse. Eines war der Monsterprozess der 164 republikanischen Führer mit Cavaignac an ihrer Spitze, die angeklagt waren, die letzten Unruhen geschürt zu haben. Nach einer Reihe von unerhörten Szenen vor Gericht gelang es achtundzwanzig von den Angeklagten, aus dem Gefängnis zu entkommen, und unter den Übriggebliebenen kam es zu unziemlichen Unstimmigkeiten, die dem Prozess viel von seinem Nimbus und Interesse raubten. Am 28. Juli 1835 warf Fieschi seine Bombe in das Gefolge des Königs, die den König nicht traf, aber 18 Personen tötete. Zwei von Fieschis Komplizen, der Sattler Morey und der Ladenbesitzer Pépin, waren angeblich Mitglieder der Société des Droits de l’ Homme.165 Die Regierung krönte ihre unterdrückende Gesetzgebung mit den berühmten Septemberpressegesetzen. Fünf Jahre lang waren die Regierung und die Oppositionspresse in einem Katz - und Mausspiel befangen. Seit Ausbruch der Julirevolution bis zum 1. Oktober 1832 erfolgten 281 Konfiskationen von Zeitungen, und 251 Fälle wurden vor Gericht gebracht. 86 Zeitschriften wurden verurteilt, die Hälfte von ihnen in Paris. Eine Gesamtzahl von 1 226 Monaten Gefängnisstrafen wurde verhängt und Geldstrafen im Gesamtbetrag von 347 500 Franken auferlegt. Im Juli 1835 konnte die Tribune allein sich einer Rekordzahl von 114 Prozessen und großer Summen bezahlter Strafen rühmen. Vom 2. August bis 1. Oktober 1834 war Paris Zeuge von 520 Prozessen mit 188 Verurteilungen, die 106 Jahre Gefängnis - und 44 000 Franken Geldstrafen umfassten.166 Die neuen Pressegesetze beabsichtigten, Verstöße zu verhüten, nicht nur zu bestrafen. Sie verboten Angriffe auf die Person des Königs und die Regierungsprinzipien. Die zum Urteilsspruch notwendige Geschworenenmehrheit wurde 162

163 164 165 166

Vgl. Gisquet, Mémoires, Band 3, S. 211–267, 271–274, 283; Perreux, Au temps des sociétés secrètes, S. 324–330; Hodde, Histoire des sociétés secrètes, S. 133, 136–138; Thureau - Dangin, Histoire de la Monarchie de Juillet, Band 2, S. 227–234. Thureau - Dangin, Histoire de la Monarchie de Juillet, Band 2, S. 232. Vgl. Blanc, Histoire de dix ans (1830–1840), Band 4, S. 239–308; Gisquet, Mémoires, Band 3, S. 341–353, 381–404. Vgl. Thureau - Dangin, Histoire de la Monarchie de Juillet, Band 2, S. 306–312. Vgl. ebd., S. 8–12 ( Zahlen : S. 8, Fußnote ), 301 ( Fußnote ).

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von acht auf sieben herabgesetzt. Die Abstimmung sollte jetzt geheim sein. Dann wurde verboten, die Namen der Geschworenen zu veröffentlichen. Die Zensur für Theater und Illustrationen, vor allem für Karikaturen wie die von Daumier, die ein Dorn im Fleische des Regimes waren, wurde wieder eingeführt. Insgesamt betrachtet, stellten diese unterdrückenden Maßnahmen, die dazu bestimmt waren, Angriffe auf das Regime zu verhüten, faktisch eine Änderung des Regimes dar. Sie erreichten ihre unmittelbaren Ziele. Die republikanische Presse wurde fast zum Schweigen gebracht, offene Anstiftung zur Rebellion hörte auf, und es gab nach 1835 wenig Ausschreitungen in den Straßen von Paris. Doch für diese Ergebnisse war ein Preis zu zahlen. Die Revolutionsbewegung wurde zur Untergrundbewegung. Sie wurde kleiner an Zahl, doch radikaler. Und was wichtiger ist, die Personen wechselten. Die vor wiegend aus bürgerlichen und freien Berufen kommenden Elemente wichen bald Rekruten aus der Handwerker - und Arbeiterklasse. Das Vereinsverbot, das die Gewerkschaften nicht weniger traf als politische Vereinigungen, brachte die beiden bis dahin gesonderten Bewegungen zu geheimem Einverständnis. Infolgedessen wurde die soziale Frage unlösbar mit der politischen Revolte verknüpft.167

2. Verschwörung unter der Restauration Unter der Restauration waren organisierte Untergrundbewegungen in Frankreich beschränkt auf Freimaurerbetätigung und Anzettelung von Gewaltstreichen. Diese Art der Verschwörung wurde von Madrid bis St. Petersburg und von Neapel bis Warschau geübt, insbesondere unter jungen Armeeoffizieren. 1820 organisierten vier junge Beamte in der Zollver waltung, Bazard, Flotard, Buchez und Joubert, eine Art Freimaurerklub, genannt Loge des Amis de la Vérité. Die ersten Mitglieder waren Studenten der Rechtswissenschaften und der Medizin. Ihnen schlossen sich dann Handwerkslehrlinge in großer Zahl an.168 167

168

Dazu Hodde, Histoire des sociétés secrètes, S. 185 : „Quant au personnel, il sera encore le même pendant quelque temps, c’ est - à - dire tiré principalement de la jeunesse ambitieuse et turbulente de la bourgeoisie. Un fait assez caractéristique, c’ est que les conspirateurs qui, depuis 1830, ont voulu refondre la France au nom des ouvriers, n’ ont trouvé ni appui, ni soldats dans cette classe.“ Zu Martin Bernard siehe ebd., S. 198 : „Il représente [...] l’ élément vraiment populaire qui, jusque - là, n’ a presque pas paru dans les associations.“ Vgl. Blanc, Histoire de dix ans (1830–1840), Band 1, S. 88; Hodde, Histoire des sociétés secrètes, S. 18 f. A. d. Hg. : Die Schreibung des Namens „Flotard“ variiert in den verschiedenen Quellen.

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Als 1820 die Abgeordnetenkammer über einen Antrag zur Abänderung des Wahlsystems debattierte, ging die Loge auf die Straßen mit dem Schlachtruf Vive la Charte !, und in Handgemengen mit der Polizei wurde ein junger Mann, Lallemand, getötet. Sein Begräbnis hätte zu einer ernsten Angelegenheit werden können, wäre nicht strömender Regen gefallen.169 1821 beschloss das Administrativkomitee der Loge des Amis de la Vérité, die französische Charbonnerie nach italienischem Muster zu gründen mit dem Ziel, „der französischen Nation die freie Ausübung ihres Rechts, eine für sie passende Regierung zu wählen, zurückzugeben“.170 Die Organisation war auf einer hierarchischen Basis aufgebaut : Die oberste Körperschaft war die haute vente, die mittlere die vente centrale und die niedrigste die vente particulière. Die ursprüngliche haute vente bestand aus den vier Obengenannten und Dugied, Carriol und Limpérani. Die vente centrale wurde in der Weise gebildet, dass zwei Mitglieder der obersten Körperschaft ein neues Mitglied hinzuwählten und es zum Vorsitzenden einer neuen vente ( centrale ) machten, während einer der ersteren der stellvertretende Vorsitzende wurde und der andere censeur. Der stellvertretende Vorsitzende sollte das Verbindungsglied zwischen der neuen Vereinigung und der haute vente sein, und der Zensor kontrollierte de facto die Arbeit der neuen vente centrale. Der Vorsitzende sollte die wahren Rollen seines Stellvertreters und des Zensors nicht kennen. In ähnlicher Weise gründeten zwei Mitglieder einer vente centrale eine vente particulière. Es bestand ein absolutes Verbot – unter Androhung der Todesstrafe –, von einer vente zu einer anderen überzugehen. Eine vente wusste nichts von der anderen. Die oberste Körperschaft allein hatte alle Fäden in der Hand. Jedes neue Mitglied sollte ein Gewehr und fünfzig Patronen besitzen. Es wurde blinder Gehorsam verlangt.171 Die militärische Organisation der Charbonnerie war in Legion, Kohorten, Zenturien und Manipeln eingeteilt.172 Die Führer der Charbonnerie, insbesondere Bazard, waren in Kontakt mit Abgeordneten und Politikern der Opposition, an erster Stelle Lafayette, und anlässlich der Planung des fehlgeschlagenen Putsches von Belfort stand Lafayette auf der Liste der zukünftigen provisorischen Regierung, die außerdem solche wohlbekannten radikalen Politiker wie Corcelle den Älteren, Koechlin, Voyer d’ Argenson und den erfahrenen Dupont de l’ Eure enthielt. Die Constitution de l’ an III wurde als die Basis

169 170 171 172

Vgl. Watripon, Histoire, S. 91–93; Blanc, Histoire de dix ans (1830–1840), Band 1, S. 89 f.; Hodde, Histoire des sociétés secrètes, S. 20. Vgl. Blanc, Histoire de dix ans (1830–1840), Band 1, S. 97–99, Zitat : 99. Vgl. ebd., S. 99–101; Hodde, Histoire des sociétés secrètes, S. 21–23. Vgl. Blanc, Histoire de dix ans (1830–1840), Band 1, S. 101; Hodde, Histoire des sociétés secrètes, S. 22.

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des Regimes der Zukunft angenommen.173 Wie alle Putsche jenes Jahrzehnts waren die von der Charbonnerie 1822 unternommenen drei Putsche von Belfort, Saumur und La Rochelle jämmerliche Fehlschläge, ohne auch nur das geringe Maß von Anfangserfolg zu erzielen, das manche Putsche in Italien, Spanien und Polen aufwiesen. Die drei Anschläge waren Teile desselben Plans, und einer folgte dem Misslingen des anderen. In der Garnison von Belfort wurden die Verschwörer festgenommen, bevor irgendetwas geschah; der Marsch nach Saumur wurde nicht ver wirklicht, und die Schießerei in La Rochelle brachte drei Sergeanten an den Galgen, trieb einige zum Selbstmord, andere ins Exil, abgesehen von Gefängnisurteilen, die nachfolgten. Lafayette bereitete sich zweimal auf die Abreise zum Schauplatz der Handlung vor, um den obersten Befehl zu übernehmen, aber er ist beide Male nicht hingekommen. Die jungen Organisatoren gingen von einem Platz zum anderen in Erwartung des Ausbruchs des Aufstands, entsetzt über die Entdeckung von Indiskretionen und über die unglaubliche Ver wirrung.174 Diese Fehlschläge führten zur Demoralisation und schließlichen Auf lösung der Charbonnerie. Louis Blanc behauptet jedoch, trotz seiner Vorbehalte wegen des bürgerlichen Charakters der Organisation und des Fehlens einer einheitlichen Politik, die Drohung der Charbonnerie, intensiviert durch die Ermordung des Herzogs von Berry – der Mörder Louvel wollte „die Rasse der Könige ein für allemal vernichten“175 –, habe die Regierungen von Villèle und dann von Polignac dazu getrieben, jene Gewaltmaßnahmen zu ergreifen, die das Restaurationsregime ruinierten.176

3. Die Geheimbünde zu Beginn der Julimonarchie Die politischen Vereinigungen waren unter der Julimonarchie die Treuhänder der Revolution. Obwohl ihre Mitgliedschaft sich fast durchweg aus früheren Carbonari rekrutierte, ist es nicht ganz korrekt, sie alle als Geheimbünde und als die bewusste Avantgarde der bewaffneten Revolution zu beschreiben. Sie entwickelten sich erst nach den unterdrückenden Gesetzen von 1834 zu reiner und bewaffneter Verschwörung. Vorher waren sie nur halb untergetaucht. Sie agitierten offen. Ihre Versammlungen waren öffentlich, die Namen der Füh-

173 174 175 176

Vgl. Blanc, Histoire de dix ans (1830–1840), Band 1, S. 102, 105; Hodde, Histoire des sociétés secrètes, S. 23 f. Vgl. Blanc, Histoire de dix ans (1830–1840), Band 1, S. 106–113; Hodde, Histoire des sociétés secrètes, S. 24–26. Blanc, Histoire de dix ans (1830–1840), Band 1, S. 90. Vgl. ebd., S. 116.

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rer waren bekannt, Berichte über ihre Tätigkeit, Broschüren und Zeitschriften wurden offen verteilt. Auch die gewöhnliche Mitgliedschaft wurde nicht geheim gehalten. Natürlich gab es die ganze Zeit eine Katz - und - Maus - Beziehung zwischen den Behörden und den Klubs, doch genügten Regierungsschikanen nicht, um die Vereinigungen totzumachen, insbesondere da die Geschworenengerichte und die öffentliche Meinung nachsichtig oder gar freundlich waren und sich daran weideten, die Regierung in Verlegenheit zu sehen. Außerdem gewährten die 1830 gemachten liberalen Zusätze zur Charte ein gewisses Maß von Immunität.177 Einige unter den ersten Vereinigungen erscheinen fast wie professionelle Gruppierungen, wie zum Beispiel die Société des Condamnés politiques oder die Réclamants de Juillet, Revolutionskämpfer, die Anerkennung und Entschädigung forderten.178 Die Association des Écoles ging über eine Studentenorganisation hinaus und agitierte für freie, weltliche und obligatorische Erziehung. Sie stellte natürlich Rekruten zu jeder Demonstration und Ausschreitung.179 Entschieden politisch und verschwörerisch in ihrem Bestehen auf geheimer Bewaffnung waren solche Klubs wie die Société de la Liberté, de l’ Ordre et du Progrès mit ihrem ausgesprochenen Ziel, dem Volke seine Souveränität zu sichern, und die ziemlich kurzlebigen Vereinigungen wie die Amis de la Patrie, Les Francs régénérés und die Société Gauloise.180 Die Associations Nationales und mehr noch der Bund Aide-toi le ciel t’aidera, die beide über eine große Anhängerschaft in den Provinzen und über zahlreiche Publikationen verfügten, waren international gesinnt, doch dabei sehr nationalistisch und bourbonenfeindlich. Sie führten die Tradition der revolutionären Propaganda fort und dachten in Begriffen eines europäischen Aufstands der Völker – mit Frankreich an ihrer Spitze – gegen die Monarchien.181 Die bedeutendste Vereinigung unter allen, die Société des Amis du Peuple, die unmittelbar nach dem Sieg der Julirevolution gegründet wurde, war offen republikanisch. Alle bekannten republikanischen Führer und Schriftsteller gehörten ihr an, und ihr Versammlungssaal wurde Jeu de Paume de la Révolution nouvelle genannt. Ihr Republikanismus war nicht nur gegen die Monarchie gerichtet, sondern auch gegen „l’ aristocratie bourgeoise“, insbesondere 177 178 179 180 181

Vgl. Gisquet, Mémoires, Band 1, S. 255–260; Thureau - Dangin, Histoire de la Monarchie de Juillet, Band 1, S. 415–420. Vgl. Perreux, Au temps des sociétés secrètes, S. 2 f. Vgl. ebd., S. 3 f. Vgl. ebd.; Blanc, Histoire de dix ans (1830–1840), Band 2, S. 346. Vgl. Perreux, Au temps des sociétés secrètes, S. 5, 7 f.; Gisquet, Mémoires, Band 3, S. 131 ( der vollständigste und bestbelegte Bericht zu den hier vorgestellten Vereinigungen).

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als der radikale Raspail ihr Vorsitzender wurde. Die Vereinigung entwickelte Studiengruppen, Kommissionen genannt, über Steuer - und Gesetzgebungsfragen, und ernannte einen Ausschuss zur Pflege der Beziehungen zu Provinzgruppen. Ähnlich wie die Gesellschaften, die etwas später entstanden, waren auch die Amis du Peuple bemüht, praktische Arbeit unter der Arbeiterschaft zu tun. Ihren Mitgliedern wurde nahegelegt, bei der Erwachsenenbildung zu helfen, und von jedem Mitglied wurde erwartet, dass es für fünf bis sechs bedürftige Familien sorgte. Es versteht sich von selbst, dass eine der Aufgaben war, politischen Gefangenen zu helfen.182 Der betont intellektuelle Charakter der Gesellschaft erwies sich als ernstes Hindernis. Endlose Erörterungen gaben den Mitgliedern ein Gefühl der Frustration und führten zu Spaltungen, und da die Versammlungen mit viel Lärm geführt wurden, veranstaltete die bürgerliche Nachbarschaft eines Tages einen Angriff auf das Versammlungslokal und verjagte die Versammelten. Der Klub war fast aufgelöst, wurde aber schnell reorganisiert. Mitte 1833 war er jedoch tot infolge anhaltender Regierungsverfolgung.183 Die Vereinigungen, die 1833 Bedeutung hatten, waren : L’ Association libre pour l’ instruction gratuite du peuple, in der Cabet, Auguste Comte und Lechevallier sehr aktiv waren und an der sich so angesehene Republikaner wie F. Arago, Teste, Voyer d’ Argenson und sogar Odilon Barrot beteiligten. Sie organisierte Abendkurse in den Natur wissenschaften unter der Ägide der École polytechnique. L’ Association pour la liberté de la presse, die voll damit beschäftigt war, gegen die Regierungsverfolgungen zu kämpfen, war ebenfalls eine wichtige Vereinigung.184 Die Société des Droits de l’Homme war die radikalste und verbreitetste unter allen politischen Vereinigungen in der ersten Zeit der Julimonarchie. Die Société des Droits de l’ Homme war ursprünglich eine halbautonome Abteilung der Amis du Peuple mit der Aufgabe, Propaganda unter den Arbeitern zu machen und Mitglieder aus ihren Reihen zu werben.185 Die Gesellschaft war in Abteilungen von mindestens zehn und höchstens zwanzig Mitgliedern nach Arrondissements und Quartiers aufgeteilt ( um den Artikel 291 zu umgehen ). Jede Abteilung trug einen anderen Namen. Die 182

183 184 185

Vgl. Perreux, Au temps des sociétés secrètes, S. 8–12, Zitat : S. 9; Blanc, Histoire de dix ans (1830–1840), Band 2, S. 347–351; Thureau - Dangin, Histoire de la Monarchie de Juillet, Band 1, S. 418 f.; Gisquet, Mémoires, Band 2, S. 153–182; Duveau, Raspail, S. 15–18. Vgl. Perreux, Au temps des sociétés secrètes, S. 13 f., 49 f. Vgl. ebd., S. 52–60; Gisquet, Mémoires, Band 3, S. 131–135, 135–160. Vgl. Gisquet, Mémoires, Band 3, S. 63–126 ( ganzes Kapitel über die „Société des Droits de l’ homme“), 184–208; Thureau - Dangin, Histoire de la Monarchie de Juillet, Band 2, S. 207–214; Perreux, Au temps des sociétés secrètes, S. 63 f.; Hodde, Histoire des sociétés secrètes, S. 114.

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Namen waren sehr signifikant : Robespierre, Marat, Babeuf, Louvel, Abolition de la propriété mal acquise, Guerre aux châteaux etc. Die zentrale Körperschaft der Organisation, das Comité central, bestand aus elf Männern, von denen ein Drittel alle drei Jahre zu erneuern war. Die Beamten jeder Abteilung waren der chef, sous - chef und drei quinturions, die mit absoluter Mehrheit gewählt wurden. Das Zentralkomitee ernannte die commissaires d’ arrondissement und commissaires de quartier. Jede Abteilung sollte eine Versammlung in der Woche abhalten und einen wöchentlichen Bericht liefern. Es fanden auch jede Woche Versammlungen der chefs de section und commissaires d’ arrondissement und de quartier statt. Die Mitgliederzahl der Vereinigung in Paris allein wurde auf über 3 000 geschätzt.186 Sie war kein eigentlicher Geheimbund und wurde deshalb scharf kritisiert von dem Nestor der europäischen Verschwörung, Buonarroti. Zwar sei sie ein brauchbares Propagandawerkzeug, doch als Kampforganisation äußerst ver wundbar, da alle ihre Führer wohlbekannt waren und von der Polizei leicht verhaftet werden könnten, bevor man irgendeine Aktion beginnen könnte; und das geschah in der Tat des öfteren. Ganz am Anfang gab es fast einen Riss in der Vereinigung, als sich in ihrer Mitte eine Société de Propagande unter Beteiligung von Napoléon Dubon, Marc Dufraisse, Vignerte, Recurt, Berrier - Fontaine zur Aktion unter den Arbeitern bildete, und später als Kersausie ein Comité d’ action für direkte revolutionäre Aktion aufstellte.187 Verfolgung und erschlaffender Eifer der schwächeren Brüder, insbesondere derjenigen mit royalistischen, bonapartistischen und bürgerlichen Neigungen, wiesen bereits früh auf die Notwendigkeit größerer doktrinärer und sozialer Homogenität und zentralisierter Führung hin. In der Theorie war die Pariser Zentrale eine diktatorische Körperschaft nach dem Vorbild der Montagnards. De facto waren die Abteilungen in den Provinzen ziemlich lose mit ihr verbunden, gaben Informationen weiter über die politische Lage in ihrem Bezirk und empfingen Berichte und Anweisungen von der Zentrale. Es gab keine gemeinsamen Fonds und, abgesehen von dem Comité d’ affiliation et de correspondance, keine über dem Ganzen stehende administrative Autorität.188 Nach den Junitagen war es keine Frage mehr, dass solche Vereinigungen wie die Droits de l’ Homme, die Association en faveur de la presse patriote oder die 186

187

188

Vgl. Thureau - Dangin, Histoire de la Monarchie de Juillet, Band 2, S. 207–214; Perreux, Au temps des sociétés secrètes, S. 65, 67; Hodde, Histoire des sociétés secrètes, S. 114, 118, 136. Vgl. Gisquet, Mémoires, Band 3, S. 166–175, 284–337; Hodde, Histoire des sociétés secrètes, S. 128–130. A. d. Hg. : Gisquet spricht nicht von „Napoléon Dubon“, sondern von „Napoléon Lebon“. Vgl. Perreux, Au temps des sociétés secrètes, S. 232 f. A. d. Hg. : Korrekt muss es „Comité de correspondance générale et d’ affiliations républicaines“ heißen.

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Association libre pour l’ éducation du peuple ( die den Arbeitern auch ärztliche und rechtliche Hilfe gewährte, Streikenden half und gegen Verbrauchssteuern agitierte ) treu republikanisch waren : „Erinnert euch der Tage, die den Schlachten von Saint - Merry folgten; wir waren verstreut und ohne Kraft [...]. Heute hat die Republik die Kraft der Einheit und Disziplin erworben, die ihr fehlte. [...] Sie besitzt und bekennt sich zu Doktrinen, die klar und befriedigend sind, und über die Einigkeit besteht [...] Doktrinen, die nur die Republikaner haben, weil sie allein ein klares Bewusstsein und Logik besitzen.“189

C. Die Radikalisierung der Untergrundbewegung 1. Die soziale Frage So dunkel und oft ver wirrend die Einzelheiten auch sein mögen, die große Linie in der Geschichte der republikanischen Untergrundbewegung in Frankreich von den frühen Tagen der Julimonarchie bis 1848 ist klar erkennbar als ein Kampf zwischen zwei Tendenzen. In der Nomenklatur der handelnden Personen selbst gab es von Anbeginn eine Spannung zwischen der Schule der Montagnards oder Konventanhänger und der der Girondisten oder amerikanischen Richtung.190 Später wird die Spaltung beschrieben als zwischen rein politischen Demokraten oder Republikanern und Sozialdemokraten oder Sozialrepublikanern; Anhängern einer „bürgerlichen Republik“ und Jüngern einer „Volksrepublik“. Allmählich wird die Untergrundbetätigung auf die radikalen Elemente reduziert, bis – wenn wir den Berichten glauben können, die hauptsächlich aus Polizeiquellen stammen – am Vorabend von 1848 die Geheimbünde sich ausschließlich aus Arbeitern rekrutieren und streng kommunistisch sind. Der Zankapfel war die soziale Frage, die untrennbar mit dem Problem der diktatorisch - terroristischen Zentralisation oder demokratischen Zentralisation verbunden wurde. In einem Brief aus dem Süden, der bereits im Oktober 1832 geschrieben wurde, klagt Démosthène Ollivier über die Vielfalt der Tendenzen innerhalb der Gesellschaft : „In einer Ecke findet man Heloten, die absolute Gleichheit predigen, in einer anderen Ecke sieht man plötzlich Spartaner, die Lykurg wie-

189 190

Perreux, Au temps des sociétés secrètes, S. 55–60, 232, 255; Hodde, Histoire des sociétés secrètes, S. 118 f. Vgl. Perreux, Au temps des sociétés secrètes, S. 43–48.

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der auf leben lassen möchten, ander wärts Hermaphroditen, die Italien und Frankreich verbinden“191 ( Anspielung auf Buonarroti und seine Anhänger ). In seinem Austrittsbrief aus der Association de la presse sagt François Corcelle : „Ich kann die Prinzipien des Zentralkomitees nicht länger hinnehmen [...]. Das Komitee ist gänzlich aus Männern zusammengesetzt, die ich achte, und aus Freunden, die ich ehre, doch wir weichen in einer Anzahl von Punkten voneinander ab, die wichtig genug sind, um mich zu veranlassen, mich in individuelle Unabhängigkeit zurückzuziehen. So erklären es die meisten Mitglieder als eine Staatsmaxime, dass Fragen, die sich auf die Form der Regierung beziehen, in gewissen Fällen durch eine den individuellen Rechten scharf entgegengesetzte Diktatur gelöst werden können. Ich selbst glaube, dass individuelle Rechte wichtiger sind als alle die Regierungsform betreffenden Fragen. Sie haben entschieden, dass sie unsere Fonds für die Veröffentlichung von Schriften ver wenden können, die eine unklare Revision des Eigentums fordern [...], jedoch ich glaube, dass diese Dinge in den Bereich der Wissenschaft gehören und dass es ein betrüblicher Irrtum ist, sie in einer Weise zu behandeln, die viele Menschen beunruhigen wird.“192 Es war ein Meilenstein, als die Société des Droits de l’ Homme öffentlich Robespierres Entwurf der Verkündung der Menschenrechte von 1793 annahm mit seiner Definition des Eigentums als einer sozialen Übereinkunft und nicht eines angeborenen Menschenrechts, und mit seinen Forderungen betreffend das Recht auf Arbeit und öffentliche Unterstützung – einer Erklärung, die nicht „la meilleure possible“, doch „la meilleure connue“ und geeignet sei, als eine „Manifestation der Übereinstimmung und Einheit“ zu dienen und „demokratisches Denken klarer zu charakterisieren“.193 Das Exposé der Société des Droits de l’ Homme sieht ein Finanzsystem voraus, das „das, was wir unter Staatseinkünften verstehen, durch soziales Kapital ersetzt [...] das Staatsbudget nicht mehr Schuldner, sondern Gläubiger [...] Kredite nicht mehr bestimmten Einzelpersonen zur Verfügung stellt [...], sondern der sozialen Gemeinschaft zugunsten der Einzelnen“.194 Mit anderen Worten, der Staat wird als Vermittler sozialer Sicherheit und Verbesserung angesehen, und nicht lediglich als ein unparteiischer Schiedsrichter.

191 192 193

194

Ebd., S. 261 ( Fußnote ). Ebd., S. 262 ( Fußnote ). Vgl. Perreux, Au temps des sociétés secrètes, S. 263; Blanc, Histoire de dix ans (1830–1840), Band 4, S. 111–122; Gisquet, Mémoires, Band 3, S. 194; Festy, Le Mouvement ouvrier (1830–1834), S. 218 f.; Dolléans, Histoire du mouvement ouvrier, S. 80. Gisquet, Mémoires, Band 3, S. 190–195, Zitat : 192; Festy, Le Mouvement ouvrier (1830–1834), S. 219.

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Der Unterschied zwischen einer Republik und einer Monarchie sei der, dass die eine „jedem Einzelnen die Möglichkeit sichern will, dass er die körperlichen und sittlichen Eigenschaften, die er von der Natur erhalten hat, frei entwickeln kann“195, während die andere „darauf aus ist, unser Dasein in den durch die Zufälligkeit oder Niedertracht unserer Gesellschaftsordnung gesetzten Grenzen zu halten und zu beschränken“.196 Vokabular und Phraseologie des Sozialismus werden auf den Stil der Jakobiner aufgepfropft : Das Ideal der Assoziation wird dem egoistischen Individualismus gegenübergestellt; die Neuverteilung der Güter und Genüsse mit der Ausbeutung der vielen durch einige wenige konfrontiert.197 Sogar der führende Exponent der amerikanischen Schule des Republikanismus, Carrel, der sich oft veranlasst sah, das Wort „sozial“ aus Entwürfen zu streichen, fand es notwendig, die Identität des Ziels bei den Vätern und Söhnen zu betonen – es bestehe im gleichen Wunsch nach „einer gleichmäßigeren Verteilung des Vermögens, dem entschiedensten Sieg des Prinzips der politischen Gleichheit, der sittlichen Erneuerung von reich und arm, Sozialreform als Zweck, politische Reform als Mittel“.198 Ein ordre du jour der Société des Droits de l’ Homme stellte fest, dass die Vereinigung zwar viel für die Freiheit getan habe, jedoch fast nichts für die Brüderlichkeit. Die Unterstützung, die notleidenden Brüdern gewährt werde, sei eine Beleidigung der Menschenwürde.199 Der Zentralausschuss „schlägt vor, heute bei uns den Plan der sozialen Organisation zu ver wirklichen, den die Republik für alle Völker ver wirklichen wird“.200 Es handelte sich um den Plan einer berufsmäßigen Organisation für gegenseitige Hilfe. Die Vereinigung organisierte besondere Abteilungen von tabletiers und Steinmetzen ( Section „Fleurus“), von Verkäufern ( Section „La liberté de la presse“), von Schneidern ( Section „Lebas“), von Schustern ( Section „Paix aux chaumières“), von Uhrmachern, von Fabrikanten und Kauf leuten usw.201 Die Volksgesellschaften planten Untersuchungen über die Arbeitsbedingungen, und streikende Arbeiter erhielten beträchtliche Unterstützung. Der Polizeikommandant Gisquet geht so weit, der Commission de propagande, die von der Société des Droits de l’ Homme eingesetzt wurde, um unter den Arbeitern zu wirken, die Verantwortung für die Streikwelle des Jahres 1833

195 196 197 198 199 200 201

Perreux, Au temps des sociétés secrètes, S. 255. Ebd., S. 255 f. Vgl. Festy, Le Mouvement ouvrier (1830–1834), S. 219; Dolléans, Histoire du mouvement ouvrier, S. 77 f. Perreux, Au temps des sociétés secrètes, S. 269. Vgl. ebd., S. 281. Ebd. Vgl. ebd., S. 282; Dolléans, Histoire du mouvement ouvrier, S. 79.

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zuzuschreiben.202 Nach Angaben von Polizeiquellen war eine zentrale Körperschaft organisiert worden, die aus führenden Mitgliedern der Société des Droits de l’ Homme und aus Vertretern der verschiedenen Arbeiter vereinigungen bestand.203 Voyer d’ Argenson soll gesagt haben, es sei an der Zeit aufzuhören, zu den Arbeitern von Politik zu reden. Man solle ihre materiellen Interessen unterstützen und einen Generalstreik organisieren.204 Und in der Tat propagierten die der Vereinigung nahestehenden Arbeiterpamphletisten, der Schuhmacher Efrahem und der Schneider Grignon, die Idee einer Association des ouvriers de tous les corps d’ état zum Kampf um kürzere Arbeitszeit, höhere Löhne und bessere Bedingungen, bis „eine Volksregierung, die die größte Armut auf Kosten des größten Überflusses lindern [...] und eine weise Organisation der Arbeit errichten wird“, aufgestellt würde.205 Ein anderes Schriftstück, das von einem anderen Polizeischriftsteller, Girod de l’ Ain, zitiert wird, erklärt : „Es ist einer republikanischen Regierung vorbehalten, die Übel zu lindern und zu heilen, die erzeugt werden durch die zum Vorteil einer kleinen Zahl gegen die ausgebeuteten Massen errichteten Institutionen und erlassenen Gesetze.“206 Die Behauptungen der Polizei über die Initiative der Société des Droits de l’ Homme bei der Organisation der Streikwelle mögen mehr der Absicht gedient haben, den Eifer und die Geschicklichkeit der Polizei zu beweisen, als eine authentische Darstellung der Ereignisse zu geben. Es gibt indessen unbestreitbare Beweise von politischer Agitation, nachdem die Arbeiter in Paris und Lyon die Arbeit eingestellt hatten. Die Idee einer Verbindung des politischen Kampfes mit einem Generalstreik erscheint ganz klar in Marc Dufraisses Broschüre L’ Association des travailleurs. „Wenn das Volk die volle Überzeugung gewonnen hat“ – schreibt der junge Führer der Société des Droits de l’Homme –, „dass es eine Verbesserung nicht anders erreichen wird als durch die Ausübung seiner Souveränität, dann werden eines Tages, und es wird ein schöner Tag sein, alle Proletarier einen Streik proklamieren, um die Wiederherstellung ihrer Rechte als Menschen und Bürger zu verlangen.“207

202 203 204 205 206 207

Vgl. Gisquet, Mémoires, Band 3, S. 166–175; Perreux, Au temps des sociétés secrètes, S. 294 f.; Dolléans, Histoire du mouvement ouvrier, S. 88–93. Vgl. Festy, Le Mouvement ouvrier (1830–1834), S. 219 f., Dolléans, Histoire du mouvement ouvrier, S. 89. Vgl. Dolléans, Histoire du mouvement ouvrier, S. 90; Perreux, Au temps des sociétés secrètes, S. 295 f. Dolléans, Histoire du mouvement ouvrier, S. 83; Perreux, Au temps des sociétés secrètes, S. 298; Festy, Le Mouvement ouvrier (1830–1834), S. 221–226. Dolléans, Histoire du mouvement ouvrier, S. 90. Dufraisse, zit. in Festy, Le Mouvement ouvrier (1830–1834), S. 223.

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2. Auf dem Weg zu totalitärem Kommunismus Die radikalen sozialen Tendenzen traten noch stärker her vor bei dem Sprössling der Société des Droits de l’ Homme, den Légions révolutionnaires, der ersten wirklichen Untergrundorganisation der Julimonarchie. Sie begann 1834 in den Gefängnissen, in denen Buonarrotis Geschichte der Verschwörung des Babeuf gierig gelesen wurde. Die Gefangenen entwickelten eine Art patriotischen Revolutionskult – religion d’ égalité. Den Höhepunkt des Kults bildete das Abendgebet. Die Trikolore wurde um den Hof herumgetragen und dann in der Mitte der versammelten Gefangenen aufgestellt. Patriotische Hymnen und revolutionäre Lieder wie die Parisienne und die Marseillaise, „edel, begeisternd, erhaben“, gestalteten diesen Anlass zu „einer Art Fest, bei dem die Hoffnung den Altar schmückt; ein Kult, bei dem jeder Einzelne seinen Körper als Opfer darbringt“.208 Die Gruppe wurde von extremen Montagnards wie Chilmann, Vignerte, Napoléon Lebon, Berrier - Fontaine, Delente und anderen begonnen, als sie kurze Urlaubsfristen vom Gefängnis genossen.209 Gisquet sagt, an der Spitze der Organisation stand eine Körperschaft von fünf Kommissaren. Jeder von diesen wählte fünf quinturions, und jeder von diesen wiederum fünf décurions. Von den 125 décurions sollte jeder zehn sectionnaires rekrutieren, von denen jeder für zwanzig éclaireurs verantwortlich sein sollte. Auf diese Weise wäre eine Gesamtzahl von 25 000 Mann erreicht worden.210 Natürlich kam es niemals so weit. Die Mitglieder versammelten sich alle vierzehn Tage nur an öffentlichen Plätzen, und dann dauerte die Parade nicht länger als eine Viertelstunde, wobei die Führer so taten, als ob sie zufällig an angeblichen Passanten entlangschlenderten. Es sollte keine schriftlichen Aufzeichnungen oder Mitteilungen geben. Die Aufnahmezeremonie hatte Ähnlichkeit mit den Riten der Carbonari. Dem Neuling wurden die Augen verbunden. Nachdem er einen Eid auf absolute Geheimhaltung geleistet hatte, musste der neue Rekrut einen Dialog anhören über Demokratie und die Pflicht jedes Mitglieds, Verräter zu töten, wenn er den Befehl dazu bekäme.211 Dann hatte er eine Prüfung abzulegen über die Menschenrechte und das Prinzip des Königsmords und bekam den Befehl, sich in die Nationalgarde aufnehmen zu lassen und einen Decknamen anzunehmen. Ein Fragebogen über sein Vermögen war von ihm innerhalb von acht Tagen zu beantworten. Dessen Bedeutung erhellt ein charakteristischer Tages208 209 210 211

Perreux, Au temps des sociétés secrètes, S. 313 f. Vgl. ebd., S. 357. Vgl. Gisquet, Mémoires, Band 4, S. 198. Vgl. Hodde, Histoire des sociétés secrètes, S. 191.

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befehl : „Nicht mehr zu ver wenden sind von jetzt ab Müßiggänger, die sich hinter der Maske von Arbeitern verbergen, um uns ihre für unsere Interessen so verhängnisvolle Richtung aufzuzwingen. [...] Als wahre Organe des revolutionären Volkes sagen wir endlich : Es gibt keine Hoffnung außerhalb des Proletariats ! [...] Mitbürger, ihr habt diese Wahrheiten auch gefühlt. Nur haben wir es als unsere Pflicht betrachtet, sie in die Praxis umzusetzen. Wir haben die Vereinigung der Arbeiter gepredigt. [...] Légions révolutionnaires, [...] ihr bildet nicht nur einen Königsmörderbund, sondern vor allem den Vernichtungstrupp, mit dem wir nach dem Sieg die geheimen Intrigen der neuen Ausbeuter, die bestimmt auftauchen werden, vereiteln werden.“212 Den Führern der Légions révolutionnaires verursachte das Fehlen demokratischer Prozeduren in ihren Reihen, wie etwa Wahlen, ein unbehagliches Gefühl, und sie erklärten apologetisch, „da eine tyrannische Regierung und eine prostituierte Kammer uns verhindern, euch unsere Vorschläge zur Bewilligung zu unterbreiten, werden wir uns bemühen, sie durch die Energie zu verdienen, mit der wir die gemeinsamen Interessen verteidigen werden“.213 Die Légions révolutionnaires hatten nur ganz kurzen Bestand, denn die Polizei bemächtigte sich ihrer recht bald. Aber aus ihnen erwuchs die bedeutendere Société des Familles mit Blanqui, Barbès und Martin Bernard als Gründer und Führer.214 Die anderen Führer, denen wir zum Teil 1848 begegnen werden, Hubin de Guer, Dubosc, Beaufour, Raisant, Nettré, Troncin, Lebeuf, Dussoubs, Lisbonne, Guignot, Lamieussens, Seigneurgens, Schirmann, Spirat werden von dem Polizeispitzel de la Hodde als Angehörige des Mittelstands, Studenten, Angestellte, Rentner usw. beschrieben. Die Vereinigung erreichte die Zahl von 1 200 Mitgliedern.215 Ihre Grundeinheit war ein Trupp von 8– 12 Männern – eine Familie. Nur deren Anführer kannten die Namen der Mitglieder. Kameraden untereinander kannten sich gegenseitig nur unter angenommenen Namen ( oft Namen von Ministern und Regierungspolitikern ). Es gab keine regelmäßigen Versammlungen, keine allgemeinen Paraden und keine schriftlichen Aufzeichnungen. Die Anführer besuchten die Mitglieder einzeln.216 Das soziale Programm war stark betont : Emanzipation des Proletariats, Gleichheit, Befreiung des Volkes und der Menschheit durch die Ver wirklichung des Rechtes auf Leben, freie Erziehung, Anteilnahme an der Regie212 213 214 215 216

Gisquet, Mémoires, Band 4, S. 195 f.; Perreux, Au temps des sociétés secrètes, S. 360. Gisquet, Mémoires, Band 4, S. 196 f. Vgl. Hodde, Histoire des sociétés secrètes, S. 199; Gisquet, Mémoires, Band 4, S. 177, 194; Perreux, Au temps des sociétés secrètes, S. 361. Vgl. Hodde, Histoire des sociétés secrètes, S. 199; Gisquet, Mémoires, Band 4, S. 181 f.; Dolléans, Histoire du mouvement ouvrier, S. 174 f. Vgl. Perreux, Au temps des sociétés secrètes, S. 361; Gisquet, Mémoires, Band 4, S. 188; Hodde, Histoire des sociétés secrètes, S. 205 f.

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rung. Aber es wurde auch starker Nachdruck gelegt auf die Pflichten der Ergebenheit, Nüchternheit, des Muts und der Brüderlichkeit. Die „soziale Revolution“ sollte durch einen gewaltsamen Umsturz herbeigeführt werden, und daher war jedes Mitglied verpflichtet, sich Waffen zu beschaffen. Obwohl es ein Putschprogramm war, wurde die Notwendigkeit aktiver und beständiger Propaganda stark unterstrichen. Die Vereinigung machte große und nicht ganz erfolglose Anstrengungen, in die von der schüchternen Außenpolitik der Regierung sehr enttäuschte Armee einzudringen, um für den Tag der Erhebung ein Netz militärischer Einheiten in Bereitschaft zu haben. Die Armeeobrigkeiten andererseits pflegten infizierte Einheiten bei Entdeckung schnellstens nach Afrika zu versetzen oder eine Umgruppierung vorzunehmen.217 Die Aufnahmezeremonie war ganz besonders feierlich. Sie wurde von einem Dreierkollegium, bestehend aus einem Vorsitzenden, einem Beisitzer und einem Paten, geleitet. Unter den vielen Fragen, die der Neuling zu beantworten hatte, lautete eine, ob eine politische oder eine soziale Revolution herbeigeführt werden sollte.218 „Später, wenn die Stunde geschlagen hat, werden wir zu den Waffen greifen, um eine Regierung zu vernichten, die ein Verräter des Vaterlands ist. [...] Überlege gut ! Es ist ein gefährliches Unternehmen : Unsere Feinde sind mächtig; sie haben ein Heer, Schätze, die Unterstützung fremder Könige; sie regieren durch Terror. Wir armen Proletarier haben nichts als unseren Mut und unser unveräußerliches Recht.“219 Nach der Entdeckung der Verschwörung zerfiel die Société des Familles in die Société des Saisons und die gewalttätigen Phalanges démocratiques.220 Die Société des Saisons setzte sich aus „Wochen“ zusammen, bestehend aus sechs Mann mit einem Anführer, der „Sonntag“ genannt wurde. Vier „Wochen“ stellten einen „Monat“ dar und bildeten zusammen mit ihrem Anführer, genannt „Juli“, eine Gruppe von 29 Personen. Drei „Monate“ bildeten eine „Saison“ und wurden von einem „Frühling“ genannten Anführer befehligt. Vier „Saisons“ stellten eine Armee dar, die von einem Revolutionsagenten befehligt wurde. Vier Agenten bildeten ein Komitee.221 Die neue Vereinigung legte Wert auf häufige Zusammenkünfte der Einheiten aller Schichten. Sie wurden in Weinstuben abgehalten, da Privatwohnun217 218 219 220 221

Vgl. Perreux, Au temps des sociétés secrètes, S. 361–363; Dolléans, Histoire du mouvement ouvrier, S. 174 f. Vgl. Hodde, Histoire des sociétés secrètes, S. 200 f.; Gisquet, Mémoires, Band 4, S. 183–187. Ebd., S. 202; Gisquet, Mémoires, Band 4, S. 186. Vgl. Hodde, Histoire des sociétés sécrètes, S. 206; Dolléans, Histoire du mouvement ouvrier, S. 174. Vgl. Hodde, Histoire des sociétés secrètes, S. 217.

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gen zu klein und öffentliche Plätze zu gefährlich waren.222 Die Form der Aufnahme in die Société des Saisons lässt auf weitgehenden Radikalismus schließen. Auf die Frage nach dem König antwortet der Novize, Könige seien für die menschliche Gesellschaft so schädlich wie Tiger für andere Tiere. Unter Aristokratie versteht die Vereinigung nicht die Aristokratie der Geburt, die 1830 vernichtet wurde, sondern die Aristokratie der Reichen, die „ebenso zerstörend“ sei wie die Erstere und wie sie liquidiert werden müsse.223 Regierung durch das Volk bedeutet, dass diejenigen, die ihre sozialen Verpflichtungen nicht erfüllen, nicht zum Volk gerechnet werden. „Sie sind im sozialen Körper, was Krebs für den menschlichen Körper ist. Die erste Bedingung für eine Wiedergesundung ist die Ausrottung der Krebsgeschwulst.“224 Unmittelbar nach der Revolution wird der Sozialkörper noch an Gangrän leiden. „Es werden heldenhafte Heilmittel nötig sein“, und eine Zeit lang wird man eine Revolutionsregierung brauchen, um das Volk in die Lage zu versetzen, seine Selbstver waltungsrechte auszuüben.225 „Ein Krieg bis auf den Tod zwischen euch, die ihr unverschämten Müßiggang genießt, und uns, die seit so langem leiden. Die Zeit ist nah, in der das Volk mit Waffen in den Händen die Rückerstattung seiner Güter verlangen wird. Was der Reiche besitzt, ist zumeist eine Frucht des Raubs.“ – „L’ Homme libre“.226 Bezüglich der Société des Saisons macht de la Hodde die aufschlussreiche Bemerkung, dass früher die Rekrutierung von Mitgliedern für die Société des Familles aus den „schlechten Schichten der Bourgeoisie“ erfolgt sei, während sie von jetzt ab „ausschließlich aus den niedrigsten Schichten des Volkes“ vorgenommen werde.227 Es wurden von Zeit zu Zeit Generalparaden der Armee unter dem Befehl der Vereinigung abgehalten. Die Einheiten versammelten sich auf der Straße als zufällige Passanten mit ihren Befehlshabern an den Straßenecken. Der Oberbefehlshaber hielt an den Straßenecken an, um den Rapport entgegenzunehmen. Um Polizeidurchsuchungen und Beschlagnahme von Waffen zu vermeiden, sollten die Waffen erst kurz vor einer angesetzten Erhebung verteilt werden.228 Doch die Regel wurde nicht befolgt, und die Polizei beschlagnahmte 1838 beträchtliche Mengen von Waffen, die von Barbès und Dubosc vom Jour-

222 223 224 225 226 227 228

Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 223 f. Ebd., S. 224. Vgl. ebd. Ebd., S. 230. A. d. Hg. : „L’ Homme libre“ war eine Zeitung. Ebd., S. 217 ( Zitat ) sowie S. 185, 198, 329. Vgl. ebd., S. 218 f.

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nal du Peuple bezahlt worden waren.229 Im März 1839 betrug die Mitgliederzahl etwa 1200, von denen zwei Drittel als waffenfähig gelten konnten. Am 12. Mai 1839 erfolgte der Blanqui - Barbès - Putsch an einem helllichten Sonntag mit dem Ziel, als Erstes das Hôtel de Ville zu besetzen. Paris war völlig überrascht, doch fiel es den Regierungstruppen nicht schwer, die Rebellen zu zerstreuen und ihre Führer gefangen zu nehmen, während die Menschenmengen auf ihrem Sonntagsspaziergang zuschauten.230 Die Phalanges démocratiques predigten ewigen Antagonismus zwischen den beiden Typen der Demokratie. Das Organ der Phalanges démocratiques, der Moniteur républicain, nennt die Vereinigten Staaten eine „lächerliche Republik, Aristokratie der Geizigen“, während England abgelehnt wird als „ignoble pépinière, de marchands de gibier, de bourreau qui ne se contente pas de faire gémir ses prolétaires sous le triple joug de la noblesse, de la prétraille et des agioteurs et qui veut écraser ses frères du Canada“.231 Der Königsmord wird zum Recht eines Menschen erklärt, der Gerechtigkeit nicht anders als durch seine eigenen Hände erlangen kann. Es wird strenge Disziplin zur Pflicht gemacht in der heiligen Aufgabe, „bis zum Tode, ohne Unterlass, mit allen Mitteln die vollständige Errichtung der Republik anzustreben“ und Gefängnis, Kanonen und Schafott zu trotzen.232 Um 1840 tauchen Splittergruppen auf, die einen deutlich und bewusst kommunistischen Charakter tragen. Ein nennenswerter Zeitpunkt in diesem Zusammenhang war das 1840 in Belleville gehaltene kommunistische Bankett als Gegenstück zu den Banketten der reformistischen Opposition.233 Aus der Société des Saisons erwächst die Société dissidente, eine streitbare Körperschaft, die mit der unfähigen Führerschaft von Dourille, dem Nachfolger von Blanqui, unzufrieden war und die absichtlich inaktive Politik eines anderen Führers, des Polizeispitzels de la Hodde, nicht ertrug. Mit großer Mühe verhinderte der Letztere den Ausbruch einer für 1847 von der Société dissidente geplanten Erhebung.234 Eine andere Gruppe, die Travailleurs égalitaires, proklamiert in ihrer Profession de foi de la nouvelle direction das Prinzip absoluter Gleichheit, verspricht gleichzeitig die vollste Befriedigung aller moralischen, körperlichen und geistigen Bedürfnisse und verlangt die Mitarbeit jedes Einzelnen am gemeinsamen Werk nach Maßgabe seiner Fähigkeiten. Das Programm sieht für die ers-

229 230 231 232 233 234

Vgl. ebd., S. 231 f. Vgl. ebd., S. 239–250; Blanc, Histoire de dix ans (1830–1840), Band 5, S. 410–417. Tchernoff, Le Parti républicain, S. 384 f. Ebd., S. 384. Vgl. Hodde, Histoire des sociétés secrètes, S. 267–276, 373 f. Vgl. ebd., S. 277–283, 401–404; Crémieux, La Révolution de février, S. 81.

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te Zeit nach der Revolution eine Diktatur des Volkes vor, um die Sitten ( mœurs) zu formen und den Weg zu ebnen, der zur vollen Anwendung der verkündeten Prinzipien führt.235 Wir hören von einer Société montagnarde, deren Führer 1848 aktiv werden, wie Boivin, der Lederarbeiter, Dutertre, ein Porzellanarbeiter, Louis Gueret, ein Schreiner, Rozier, ein Friseur und bekannter kommunistischer Redner, Albert, der zukünftige Minister in der Provisorischen Regierung von 1848, der auch in der Société dissidente eine führende Rolle spielte.236 Es gibt auch Hinweise auf einen Bund von Communistes matérialistes unmittelbar vor 1848.237 Einige der wichtigeren Persönlichkeiten in der Provisorischen Februarregierung oder ihr nahestehend unterhielten mit diesen Gruppen zu Anfang der vierziger Jahre enge Beziehungen. So versuchte 1842 Flocon, der Herausgeber der Zeitung Réforme, mit dem Marx und Engels in Verbindung standen, die Tätigkeit der verschiedenen Vereinigungen zu koordinieren. De la Hodde bemerkt charakteristischer weise, in der Versammlung, die zu diesem Zweck einberufen wurde, hätten die Abgeordneten, die aus den freien Berufen kamen, „das dargestellt, was man als bürgerliche Demokratie bezeichnen kann, während die Volksdemokratie durch Dourille ( von der Société des Saisons ) vertreten war“.238 Caussidière, der zweideutige Direktor der Pariser republikanischen Polizei von 1848, war mit den „Saisons“ eng verbunden und brachte Grandménil, Leoutre und Leroux, die ebenfalls Journalisten waren, mit.239 Es war eine ungemütliche Gemeinschaft, wie wir aus einer Warnung erfahren, die die Travailleurs égalitaires an ihre Mitglieder erließen, sie mögen sich fernhalten von den „prétendus démocrates“, die nicht den Wunsch haben, die „Grundlagen der Gesellschaft“ anzurühren und „nicht mehr wollen als eine politische Reform“.240 In dem berühmten Taschereau - Dokument macht Blanqui ( wenn er dessen Verfasser ist ) die Unterscheidung zwischen Männern in Blusen, das heißt Arbeitern, die kämpfen werden, und Männern in Röcken, die in Zeitungen schreiben und sich am Kampf nicht beteiligen werden, sondern warten, bis der Sieg errungen ist, um dann als Führer aufzutreten.241

235 236 237 238 239 240 241

Vgl. Tchernoff, Le Parti républicain, S. 391 f.; Hodde, Histoire des sociétés secrètes, S. 285–288. Vgl. Hodde, Histoire des sociétés secrètes, S. 254 f. Vgl. Crémieux, La Révolution de février, S. 82; Thureau - Dangin, Histoire de la Monarchie de Juillet, Band 6, S. 109–111. Hodde, Histoire des sociétés secrètes, S. 315. Vgl. ebd., S. 357–360, 368. Tchernoff, Le Parti républicain, S. 393. Vgl. Taschereau ( Hg.), Revue Rétrospective, März 1848, Nr. 1, S. 6.

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Deutsche Flüchtlinge in Paris, die erst Mitglieder im Bund der Geächteten und später im Bund der Gerechten waren, unterhielten eine enge Verbindung mit der Société des Saisons, und einige von ihnen beteiligten sich an dem missglückten Putsch von Blanqui und Barbès. Wir finden unter ihnen den ehemaligen Göttinger Privatdozenten Wilhelm Schuster, Hermann Ewerbeck, Arzt aus Danzig, Karl Schapper, ehemaliger Student aus Gießen, Heinrich Bauer, Schuhmacher, den berühmten utopischen Kommunisten und Schneider Wilhelm Weitling, Verfasser des Katechismus Die Menschheit, wie sie ist und wie sie sein sollte. Die gewöhnlichen Mitglieder der Gerechten waren meist Schneider und Schreiner. Es gibt eine stark betonte Verschiebung von radikalem republikanischem Nationalismus zu revolutionärem sozialistischem Internationalismus in der Entwicklung vom ersten zum zweiten Bund. Dies war der Erkenntnis zuzuschreiben, dass keine Revolution gelingen würde, die nicht Teil einer universalen Erhebung ist. Schapper gehört zu den Gründern der Demokratischen Freunde aller Nationen, und im gleichen Jahr, 1845, beteiligen er und Moll sich an der Organisation der internationalen Gesellschaft der Brüderlichen Demokraten. Aus diesen Kreisen deutscher Flüchtlinge, die später aus Paris nach London und Brüssel ausgewiesen wurden, erging 1847 die Aufforderung an Dr. Karl Marx und seinen Mitarbeiter Friedrich Engels, eine autoritative Darlegung der Politik der kommunistischen revolutionären demokratischen Partei abzufassen. Dies taten sie in der als Kommunistisches Manifest bekannt gewordenen Broschüre.242

3. Der Kampf um die Parole „Recht auf Arbeit“ Ein guter Teil der Uneinigkeit zwischen Extremisten und Gemäßigten drehte sich um die Idee des droit au travail. Das „Recht auf Arbeit“ scheint in seiner Bedeutung zu variieren vom Recht des Arbeiters auf den vollen Ertrag seiner Arbeit unter Beseitigung des Mehr werts, den der Kapitalist sich aneignet, und des Lohnsystems überhaupt, bis zu dem Anspruch auf einen angemessenen Lohn und Sozialfürsorge im Falle der Not. Die allgemeinste und mildeste Definition war : „Jeder hat die Pflicht, für die Gesellschaft zu arbeiten, und die Gesellschaft schuldet ihm dafür [...] die volle Befriedigung seiner materiellen und geistigen Bedürfnisse.“243 „Solange nicht durch eine Reform des Wirtschaftssystems eine gerechtere Verteilung des Arbeitsertrags erfolgt, werden die dem Anschein nach noch so liberalen Einrichtungen verfälscht und nur dazu 242 243

Vgl. Grünberg, Londoner Kommunistische Zeitschrift, S. 253–255, 258 f., 261–265, 266 ff. Cuvillier, Un Journal d’ ouvriers, S. 137.

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dienen, die Kette, die uns an das Kapital bindet, noch zu verstärken“244 – sagt das Atelier im Januar 1845. Darum verbindet ihr Programm die beiden Postulate als untrennbar – allgemeines Wahlrecht, um das Prinzip der Volkssouveränität zu ver wirklichen, und „industrielle Assoziation“, um eine gerechtere Verteilung des Arbeitsertrags durchzuführen. Im Jahre 1841 ver urteilt die Zeitung nachdrücklich Gewalt und Plünderung, „solange die friedlichen Mittel nicht erschöpft sind“.245 Im Jahre 1846 fragt sie sich, ob Reformmaßnahmen noch eine Aussicht haben, ihr Ziel ohne eine „heftige soziale Erschütterung“ zu erreichen, und kommt zu dem Schluss, man solle sich nicht zu viele Illusionen machen in Bezug auf die Möglichkeit einer friedlichen Lösung.246 Die Streikwelle von 1840, die zusammenfiel mit dem Erscheinen der Kommunisten auf dem Bankett von Belleville als gesonderte Partei, veranlasste die bürgerliche Presse, sich die Frage vorzulegen, „ob die neue Phase der Revolution, die gerade anfängt, [...], zunächst politisch, nicht versucht, eine soziale Revolution zu werden“247 ( Gazette de France ). Es gab einen starken Widerhall auf Roziers Rede auf dem Bankett von Belleville, in der er „die ruhmreiche Fahne der communauté sociale“ entfaltete und verkündete, „politische Reform ist nichts als ein abscheulicher Betrug, wenn sie isoliert wird von sozialer Reform, weil sie die alte Gesellschaft beibehält und mit ihr die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen; [...] denn wenn die Ausgebeuteten versuchen, ihre politischen Rechte auszuüben, werfen die argwöhnischen und grausamen Ausbeuter sie auf die Straße [...] ausschließlich politische Reformer, das heißt Demokraten ohne System“.248 Eine Petition von Pariser Arbeitern an die Kammer Mitte Oktober 1840 verlangt allgemeines Wahlrecht als Mittel zur „Befreiung der Arbeiter, gerechte Verteilung des Arbeitsertrags, mit einem Wort, die Austilgung des Proletariats“.249 Die Ausdrücke droit au travail und organisation du travail wurden auch von Republikanern wie Arago in seinem berühmten Antrag von 1840 in der Abgeordnetenkammer gebraucht und von Männern wie dem Bankier Goudchaux, der 1848 zu einem der erbittertsten Antisozialisten wurde.250 Was ihnen vor-

244 245 246 247 248 249 250

Ebd., S. 135. Dieselbe Idee findet sich in den Ausgaben vom Oktober 1840, S. 13, und vom Oktober 1845, S. 199, vgl. Cuvillier, Un Journal d’ ouvriers, S. 135. Ebd., S. 23. Vgl. ebd., S. 29 ( Fußnote 5). Festy, Le Mouvement ouvrier (1840), S. 337. Ebd., S. 227, 343. Ebd., S. 343. Vgl. ebd., S. 227.

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schwebte, war die vage Hoffnung, der Ausbeutung durch Einführung und Förderung von Gewerkschaften und möglicher weise Arbeiterkooperativen ein Ende zu machen. Außerdem waren sie, wie der National erklärte, der Ansicht, die ganze Frage müsse der einzig rechtmäßigen und zuständigen Autorität, einem in freier und allgemeiner Wahl gewählten Parlament, überlassen werden, das das Problem „nach seiner Einsicht und den Bedürfnissen der Zeit“ lösen sollte.251 Thoré, der Vertreter des linken Flügels, interpretierte ihren Standpunkt im Journal du Peuple vom 6. September 1840 dahingehend, dass sie nicht eine „organisation de la société tout entière“ ins Auge fassten.252 Für sie bedeutete die Organisation der Arbeit, „die gegenwärtigen Arbeiter [...] zu assoziieren, [...] ( jedoch ) [...] die gegenwärtigen Bedingungen von Eigentum und Kapital beizubehalten – was darauf hinausläuft, einer minder wertigen Kaste Bestand zu verleihen oder die alten Zünfte und Korporationen wieder ins Leben zu rufen. Es bedeutet, die Arbeiter auf die eine Seite stellen und die Produktionsmittel auf die andere.“253 Und so sehen wir, dass die Spaltung zwischen girondistisch - amerikanischen Republikanern und Montagnard - Republikanern, politischen Reformern und Sozialrevolutionären, bürgerlicher Demokratie und Volksdemokratie, sich auch auf eine Spaltung in zwei Auffassungen von der Organisation der Arbeit ausdehnte. Viele erschreckte bürgerliche Liberale und auch Linksradikale waren ebenso wie Tocqueville davon überzeugt, dass nicht das allgemeine Wahlrecht, sondern der Angriff auf das Eigentum durch die Massen das wahre Problem sei. Sie waren zu dem Glauben verleitet worden, dass die Arbeiterklasse als Ganzes für die Idee einer gewaltsamen diktatorischen kommunistischen Revolution gewonnen worden sei. So sagt der Liberale Duvergier de Hauranne im Jahre 1841 : „Wenn es vor einigen Jahren Aufstände gab, war es im Namen der Republik; heute finden Aufstände im Namen einer Gütergemeinschaft statt und begegnen mit dem Kriegsruf gegen den Reichtum einem größeren Widerhall als der Kriegsruf gegen das Königtum.“254 Thoré stellt ein Jahr vorher fest, „die plebejischen Demokraten, jene zahlreiche Sekte von Kommunisten und Gleichmachern“, sei die Partei, „der fast alle Arbeiter in Paris, Lyon, Rouen usw. angehören, ja die ganze Masse von Leuten weit und breit, die in der Politik aktiv sind, und in einer beinah aus-

251 252

253 254

Ebd., S. 343. Thoré, zit. in ebd., S. 345. A. d. Hg. : Eigentlich ist von „Reorganisation der Gesellschaft“ die Rede : „La plupart de nos confrères politiques n’ entendent point par organisation du travail la réorganisation de la société tout entière.“ Ebd. Hauranne, zit. in Revue des Deux Mondes, Band 28, 1. November 1841, S. 463 f.

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schließlichen Weise [...]. Die plebejische Partei der demokratischen Armee wird von der einen Idee einer Interessengemeinschaft bewegt.“255 Diese Behauptungen erwiesen sich als stark übertrieben, aber da es keine demokratischen Wahlen gab, um die wahre Stärke der Parteien zu prüfen, war das Gespenst des Umsturzes umso unheimlicher.

255

Mitard, Origines du radicalisme, S. 70. Dolléans, Histoire du mouvement ouvrier, S. 76, zitiert Pierre Leroux : „La vraie République, c’ est le socialisme. Vouloir faire triompher la république en France sans le socialisme, c’ est absurde.“ Der „Courrier Français“ vom 7. September 1840 schrieb : „On a remarqué que les ouvriers qui faisaient grève et qui arrachaient les autres à leur travail étaient précisément les plus occupés et les mieux rétribués.“ Siehe Festy, Le Mouvement ouvrier (1840), S. 338.

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Fünf ter Teil 1848: Feu er pro be und Zusam men bruch

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La révolution de Février [...] rien n’était plus nouveau dans nos annales [...] le peuple resté à part [...] en dehors de la bourgeoisie et contre elle [...]. Il était à croire qu’elle remuerait tout le reste de l’Europe. Cette fois, il ne s’agissait pas seulement de faire triompher un parti; on aspirait à fonder une science sociale, une philosophie, je pourrais presque dire une religion propre à être apprise et suivie par tous les hommes. Tocqueville

Hegel bemerkt irgendwo, dass alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen : das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce. Caussidière für Danton, Louis Blanc für Robespierre, die Montagne von 1848–1851 für die Montagne von 1793–1795, der Neffe für den Onkel. Karl Marx

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I. Vom Auf ruhr zur Revo lu ti on 1. Ein geplantes oder zufälliges Ereignis ? Achtzehnhundertachtundvierzig – wie leicht und allgemein war der Sieg der Revolution, und wie bald darauf, innerhalb von wenigen Monaten, zeigte sich ihr vollständiges Versagen in allen Ländern. Das Revolutionsgeschehen in seiner Universalität, das so oft als unvermeidbar und nah bevorstehend prophezeit worden war, musste sich einer Generation, die mit den großartigen Geschichtsphilosophien aufgewachsen war, fraglos wie eine Bestätigung der Vision darstellen, die in der Geschichte die Entfaltung eines universalen Systems von deterministischer Logik sah. Umso ver wirrender muss daher dieser Generation der totale Zusammenbruch der Revolutionswelle erschienen sein, als ob es lediglich ein böser Traum, ein Unfall gewesen wäre. Dass nicht alles wieder so wurde wie vorher, das wollten die Verfechter der Revolution nicht zugeben.1 So viele Stimmen beschworen das Gespenst der Revolution vor 1848 herauf, manche bebend vor Hoffnung, andere in einem Ton der Drohung und wieder andere schreckgebannt. Und doch war keiner auf sie vorbereitet, als sie unversehens da war. Die Schriftsteller des rechten Flügels, die nach Jahren auf die Ereignisse zurückblickten, fanden kaum Worte, um ihre Verachtung für den ganzen Zwischenfall und ihr Erstaunen darüber auszudrücken, dass ein so absurdes, ungerechtfertigtes und zielloses Geschehen sich überhaupt ereignen konnte. 1

In diesem Teil wurden Berichte von solchen Autoren bevorzugt, die bei den Ereignissen von 1848 aktiv waren oder sie aus der Nähe beobachteten : Blanc, Histoire de la Révolution de 1848; ders., Pages d’histoire; Camp, Souvenirs de l’année 1848; Caussidière, Mémoires; Circourt, Souvenirs; Falloux, Mémoires d’un royaliste; Garnier Pagès, Histoire de la Révolution; Lamartine, Histoire de la Révolution; Normanby, A Year of Revolution; Stern ( Pseudonym der Comtesse Marie d’Agoult ), Histoire de la Révolution; Tocqueville, Recollections. Folgende neuere Werke wurden benutzt : Bastid, Doctrines; ders., L’Avènement; Gorce, Histoire de la Seconde République française; Guillemin, La Tragédie de quarante - huit; Renard, La République de 1848. Die als „Collection de Centenaire de la Révolution de 1848“ von den Presses Universitaires de France veröffentlichten kleinen Bändchen wurden benutzt; sie enthalten Monographien über führende Männer ( Lamartine von Guillemin; Blanqui von Molinier; Louis Blanc von Vidalenc; Ledru - Rollin von Schnerb usw.) und wichtige Aspekte ( Le Suffrage universel von Bastid; Les journées de Février von Bruhat; La Littérature ouvrière von Duveau usw.). Größere monographische Untersuchungen über Persönlichkeiten : Calman, Ledru - Rollin; Chérest, La Vie et les œuvres de M. Marie; Quentin - Bauchart, Lamartine : Homme politique; ders., La Crise sociale.

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In seinen Souvenirs de 1848 sagt Maxime du Camp : „Diese Revolution war für mich eine vollkommene Überraschung, und ich war vor allem verblüfft über ihre Unsinnigkeit [...]. In geschichtlicher Perspektive betrachtet, erregt sie mein Mitleid. Aus nächster Nähe, so wie ich sie damals sah, brachte sie mich zum Lachen, weil ich sie grotesk fand.“2 Aus der Entfernung, vielleicht unter der Einwirkung der Bonapartistischen Diktatur, erschien die Julimonarchie späteren Schriftstellern als ein Regime, das zur Rebellion keinen Anlass gab. Für Augustin Thierry war die bürgerliche konstitutionelle Monarchie ein natürliches Glied in der Kette der französischen historischen Kontinuität, die in neuerer Zeit ihre Meilensteine in den Jahren 1789, 1814 und 1830 hatte – „das Bündnis zwischen der nationalen Tradition und dem Prinzip der Freiheit“; ein Höhepunkt – „la fin providentielle du travail des siècles écoulés depuis le XIIe“.3 Die Katastrophe von 1848 verfälschte dieses organische Wachstum.4 Im Jahre 1862 ist de Carné ärgerlich über Daniel Stern und Garnier - Pagès, weil sie der Revolution so viele Bände widmeten und sich bemühten, durch eine Suche nach tiefen, aber nicht vorhandenen Gründen „légitimer l’enfant de la force et du hasard“.5 „Un misérable enfantillage“, „ein jämmerliches Diner, das keiner sich hätte die Mühe machen sollen, zu verbieten oder von einer Bedingung abhängig zu machen, es sei denn der, dass es den öffentlichen Verkehr nicht stört“ – klagt Renan in der „Revue des Deux Mondes“ vom Juli 1859, in der er erklärt, er befinde sich vor dem „Abgrund, den jene Revolution geöffnet hat, und den Tiefen, die noch keiner zu messen imstande ist“.6 Es gibt keine Antwort auf die Frage, wieso ein halbes Dutzend Handwerker oder ein paar Schurken oder ein losgegangener Schuss aus dem Gewehr eines Soldaten genügen konnten, zwölfhundert Jahren Monarchie ein Ende zu setzen und „die Frucht so vielen edlen Strebens zu vernichten“.7 In einsichtsvollerem Ton sagt Comte de Falloux in seinen Mémoires d’un royaliste, die Februarrevolution sei ein Ereignis gewesen, das „in keinem Verhältnis zu seinen Ursachen“8 stand. Wie lassen sich die unzähligen Prophezeiungen vor 1848 angesichts dieser leidenschaftlichen Abschwörungen erklären ? In „La Presse“ vom 11. Juli 1847 schreibt Madame de Girardin händeringend : „Oh ! Que c’est ennuyeux ! Enco2 3 4 5 6 7 8

Camp, Souvenirs de l’année 1848, S. 9. Vgl. auch ebd., S. 7 f., 12 ff. Thierry, zit. in Monin, Le Pressentiment social, S. 296. Monin war die Hauptquelle in diesem Abschnitt. Vgl. Monin, Le Pressentiment social, S. 295–297. M. de Carné, zit. in ebd., S. 296 f. Renan, zit. in ebd., S. 296; Revue des Deux Mondes, Juli 1859, S. 204. Renan, ebd. Falloux, Mémoires d’un royaliste, Band 1, S. 253.

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Vom Aufruhr zur Revolution

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re des révolutions ! Depuis quinze jours on n’entend que des gémissements politiques, des prédictions sinistres; déjà les voix lugubres prononcent les mots fatals, les phrases d’usage, formules consacrées, présage des jours orageux : – L’horizon s’obscurcit ! – Le danger est imminent ! – Une crise inévitable ! – Une fête sur un volcan ! – Nous sommes à la veille de grands événements ! – Tout cela ne peut finir que par une révolution. [...] – Nous sommes en 1830 ! [...]. – Nous sommes en 1790. [...] – Peut - être faudra - t - il un 31 mai pour renverser le 29 octobre. – Eh ! Cela vaudrait mieux qu’un 10 août pour renverser le 9 août.“9 Doudan schreibt an Prince Albert de Broglie, „furchtsame Leute mit scharfen Ohren sagen, [...] an einem dieser Tage werden wir in einer Revolution aufwachen“.10 „Private Kalamitäten [...] werden für düstere Vorboten einer schrecklichen Revolution gehalten.“11 Ein Geheimagent hörte Thiers am 20. Januar 1848 sagen : „Das Land geht mit Riesenschritten einer Katastrophe entgegen, die entweder vor dem Tod des Königs ausbrechen wird, wenn der Fürst lange lebt, oder irgendwann nach seinem Tod.“12 Er sieht einen Bürgerkrieg kommen, eine Revision der Charte, vielleicht große Veränderungen an der Spitze. Nachdem die Menschen angstvoll an die drohende Gefahr eines Unheils glaubten, begannen sie fast, es herbeizuwünschen, es sozusagen heraufzubeschwören. So kommt Lamartine immer wieder auf das gleiche Motiv zurück : „Je persiste dans cette idée : une tempête ou rien !“13 „Dieses Land ist tot“ – schreibt Lamartine am 7. Juli 1845 – „nur eine Krise kann es wiederbeleben. Als ehrenhafter Mann fürchte ich sie; als Philosoph wünsche ich sie herbei.“14 In seinem biblisch - prophetischen Stil ruft Lamennais anlässlich der Ministerkrise von 1846 aus : „J’aime qui va vite, et pour l’intérêt de la France je ne trouve rien de mieux à leur dire que ce que Jésus - Christ disait à Judas : Quod facis, fac citius.“15 Woher kam dieses apokalyptische Gefühl ? Welche Gründe geben sie dafür an ? Frankreich stöhnte nicht unter einer blutrünstigen Tyrannei. Auch war es nicht ein Land, in dem Millionen Menschen vor Hunger starben, wie Irland. Kein Schatten einer fremden Invasion bedrohte sein schönes Gebiet. Die Übel der industriellen Revolution waren weder so weit verbreitet, noch riefen sie eine so gewaltige und leidenschaftliche Bewegung wie den Chartismus in Britannien her vor. Louis - Philippe war sicher kein König, der große Begeisterung aus9 10 11 12 13 14 15

Madame de Girardin, zit. in ebd., S. 312 f. Doudan, zit. in ebd., S. 315 ( Fußnote ). Ebd. Thiers, zit. in Taschereau ( Hg.), Revue Rétrospective 3 (1848), S. 39. Lamartine, zit. in Monin, Le Pressentiment social, S. 309 ( Fußnote ). Lamartine, zit. in Circourt, Souvenirs, S. XXXIV. Lamennais, zit. in Monin, Le Pressentiment social, S. 309 f. ( Fußnote ).

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löste, und seine Regierung weder sehr ehrlich noch besonders fähig, doch war sie keineswegs eine unerträgliche Despotie. Die Antworten unserer Zeugen verdienen analysiert zu werden. Es herrschte vor allem ein allgemeines, unbestimmtes Gefühl des Unbehagens. Wir kennen Lamartines berühmte Klage, oder richtiger Drohung, dass Frankreich gelangweilt sei. In ähnlichem Sinn beweint Molé seine Zeit : „Notre civilisation est bien malade, et rien ne m’étonnerait moins qu’un bon cataclysme qui mettrait fin à tout cela.“16 Guizot zitiert Louis - Philippes Seufzer : „Quelle confusion ! Quel gâchis ! Une machine toujours près de se détraquer ! Dans quel triste temps nous avons été destinés à vivre !“17 Je nach der Einstellung des betreffenden Beobachters werden verschiedene Gründe genannt für das Unbehagen, das die französische Gesellschaft unterminierte. Der Royalist Falloux, einer der für die Junitragödie direkt Verantwortlichen und Befür worter der berühmten Erziehungsgesetze, ist sich vollkommen klar darüber : Die Wurzel des Übels liegt in der ursprünglichen Rebellion gegen die gottgegebene Ordnung einer bestehenden rechtmäßigen Autorität und in der daraus folgenden Erhebung der revolutionären Gewalt zum Prinzip. Wie konnte das Juliregime, das selbst ein Produkt rebellischer Gewalt war, Respekt erwarten ? „L’exemple du droit méconnu, du respect oublié, de la violence soudainement érigée en principe, sont autant de portes ouvertes au désordre moral d’abord, et bientôt à l’anarchie. Ces portes - là, une fois ouvertes avec l’intention de les refermer, restent longtemps entrebâillées, et au moment où l’on a cessé d’y veiller, une surprise se présente et passe.“18 Trotz völlig verschiedener Wertmaßstäbe äußert Daniel Stern dieselben Ansichten. Negativ ausgedrückt, ist das revolutionäre Ferment der achtzehnhundertvierziger Jahre ein Teil der philosophischen revolutionären Umwälzung, „die in den oberen Schichten der Gesellschaft begann und von den Überzeugungen, auf denen die Autorität des Gottesgnadentums in einem katholischen und monarchischen Staat beruhte, eine nach der anderen erschütterte“.19 Ins Positive übertragen, offenbart sich hier jene instinktive, unklare, jedoch unwiderstehliche Strömung, die seit 1789 die Massen getrieben hat, die Arena des politischen Lebens zu betreten und die alte hierarchische Ordnung durch ein demokratisches System zu ersetzen, das auf freiem und gleichem Einverständnis beruhte, mit anderen Worten auf Vernunft, allgemeinem Wahlrecht und Assoziation, anstatt auf Gottesgnadentum und Hierarchie. 16 17 18 19

Molé, zit. in Thureau - Dangin, Histoire de la Monarchie de Juillet, Band 7, S. 97. Monin, Le Pressentiment social, S. 311. Falloux, Mémoires d’un royaliste, Band 1, S. 254. Vgl. auch ebd., S. 259. Stern, Histoire de la Révolution, Band 1, S. III.

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Wie wir wissen, verzweifelte Tocqueville daran, dass Frankreich nach all den Enttäuschungen je eine solche terra firma erreichen werde.20 Léon Faucher teilt seine Stimmung : In Briefen vom 29. Juli 1847 an Mrs. Grote und Henry Reeve beweint er das Schicksal derjenigen, die wie er konfrontiert sind mit der Unmöglichkeit einer Wiederherstellung der festen, alten autoritären Ordnung, mit der Korruption des Regimes der Mitte und der ansteigenden Welle des Kommunismus. „Révolution. [...] Le présent et l’avenir sont également sombres. [...] Corruption politique [...], morale [...]. On se réveille bien près de l’abîme. Encore deux ans de ce régime et c’en est fait de l’ordre autant que de la liberté. Le communisme monte et s’étend dans les rangs inférieurs comme la faiblesse et l’immoralité politique dans les rangs supérieurs. Les bons citoyens se sentent partagés entre les nécessités de l’ordre et le profond mépris que le gouvernement leur inspire.“21 Den Gemäßigten wird es am schlechtesten ergehen, und sie werden am Ende mit beiden Seiten entzweit sein, mit der Rechten und mit der Linken. Sie fürchten sich vor der Anarchie und dem terroristischen Despotismus der Roten Revolution und werden niedergedrückt von einem fast fatalistischen Glauben an ihre Unvermeidbarkeit. Doch können sie sich deshalb nicht in die Arme der Rechten stürzen. Sie gehören der Revolution an, die ebenso ihre Mutter wie die Mutter der Roten ist. In der Debatte über schweizerische Angelegenheiten Anfang 1848 macht Thiers das folgende Geständnis : „Ich bin gewiss kein Radikaler, doch gehöre ich zur Partei der Revolution in Europa. Ich möchte die Revolution in den Händen der Gemäßigten sehen; doch wenn sie in die Hände von Männern gelangt, die nicht gemäßigt sind, werde ich niemals aus diesem Grund die Sache der Revolution aufgeben.“22 1870/71 wird Thiers dieses Gelübde nicht halten, und auch kaum in den Februartagen von 1848. Auf seine Weise hatte Falloux nicht unrecht, wenn er behauptete, die Mühe derjenigen, die die Glocken der Revolution wirklich läuten, würde vergeblich sein ohne die Helfershelfer unter den Gemäßigten ( von ihm persönlicher Ambitionen beschuldigt ), die anarchische Leidenschaften aufrühren und das Werk des Umsturzes in seinen Anfängen achtbar erscheinen lassen. Nicht die tyrannischen Missbräuche der bürgerlichen Monarchie, sondern ihre armselige Schwäche und elendiglich korrupten Praktiken sind die Ursache der verächtlichen Verzweif lung unserer Schriftsteller. Dem Regime fehlte die Legitimität sowohl des Gottesgnadenkönigtums als auch der im allgemeinen 20 21 22

Vgl. Monin, Le Pressentiment social, S. 314. Ebd., S. 314 f. Thiers, zit. in Stern, Histoire de la Révolution, Band 1, S. 63. Vgl. auch Garnier - Pagès, Histoire de la Révolution, Band 1, S. 151.

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Wahlrecht ver wirklichten Volkssouveränität. Es wurde nicht nur ständig durch die Provokation sowohl der Legitimisten als auch der demokratischen Republikaner in die Verteidigung gedrängt. Es konnte nicht selbstverständlich hingenommen und philosophisch akzeptiert werden als eine Regierung, die mehr oder weniger die laufenden Geschäfte des Landes führt : Der Bruch in der historischen Kontinuität machte es einerseits den Menschen unmöglich, Dinge ohne Überlegung einfach hinzunehmen, weil sie eben da sind, und andererseits veranlasste er sie dazu, nach dem Absoluten zu streben. Ein Regime mit einem zweifelhaften Herrschaftsanspruch muss entweder verblüffende Prestigegewinne in der internationalen Arena und theatralische Wirkungen und dramatische Leistungen daheim aufzuweisen haben oder eine Klientel von „vested interests“ schaffen. Louis - Philippe fürchtete internationale Ver wicklungen, weil sie das Ungetüm der Revolution aufwecken könnten. Seinem eigenen Temperament sowie dem seiner bürgerlichen Anhängerschaft entsprach die Politik von panem et circenses und großen öffentlichen Schaustellungen nicht. So wurde – mit den Worten des Herzogs von Orléans – „Frankreich nichts als eine Farm oder ein Geschäft“ und erlitt demütigende Niederlagen in der internationalen Politik. Trotz aller Erwartungen, Hoffnungen, Befürchtungen war jeder überrascht, als die Revolution da war, und niemand war bereit. Keiner machte die Revolution. So erscheint der republikanische Minister Marie durchaus aufrichtig, wenn er sagt, durch seine Verbindungen hätte er irgendwelche Hinweise dafür erhalten müssen, dass das Ereignis vorbereitet werde, aber es sei keinerlei Andeutung davon zu finden. „Des désirs, des vœux, des espérances peut - être, rien de plus.“23 Derselbe Tocqueville, der am 27. Januar 184824 die vielzitierte Prophezeiung von der drohenden Gefahr der Revolution machte, gesteht in seinen Erinnerungen und in Briefen an Nassau Senior, dass der Ausbruch der Revolution uner wartet früh erfolgt sei. Er sagt, jahrelang hätten Minister und Opposition sich gegenseitig beschuldigt, sie schürten die Revolution. Infolge der häufigen Wiederholung hätten sie aufgehört zu glauben, was sie sagten, bis die Ereignisse ihnen nur allzu Recht gaben.25 Von Marie zitiert sein Biograph Chérest den Ausspruch, er sei einer Sache völlig gewiss : Die Revolution führte das Pariser Volk und wurde nicht von ihm geführt.26

23 24 25 26

Chérest, La Vie et les œuvres de M. Marie, S. 81. Vgl. auch den Abschnitt zu 1848 in Leroy, Histoire des idées sociales en France, Band 3, S. 33–48. Vgl. Tocqueville, Recollections, S. 12–16. A. d. Hg. : Tocqueville hielt seine Rede am 29. Januar 1848 ( siehe Tocqueville, Recollections, S. 12). Vgl. Tocqueville, Recollections, S. 15 f.; ders., Œuvres complètes, Band 6, S. 133 ff. Vgl. Chérest, La Vie et les œuvres de M. Marie, S. 87 f.

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Die Zeit der Unruhen und Barrikaden war um 1840 vorüber. Der Fehlschlag des Blanqui - Barbès - Putsches im Jahre 1839 scheint die Geheimbünde gelähmt zu haben; seit damals führten sie – stark vermindert an Zahl – ein ziemlich untätiges Dasein und waren von Agents provocateurs und Spionen durchsetzt. Die Regierung erhielt in den Wahlen von 1846 eine große Mehrheit, allerdings waren die meisten ihrer Anhänger Staatsbeamte. Hungerrevolten in dem schlechten Erntejahr 1847 hinterließen einen ernsten Eindruck, Skandale in hohen Kreisen erschütterten das Ansehen der Regierung, die Bankettkampagne verursachte einige Aufregung, doch erst die späteren Ereignisse konnten diesen Dingen den Charakter von Revolutionssymptomen verleihen. Die Menschen jener Zeit waren nicht geneigt, eine Revolution auf einen oder mehrere individuelle und identifizierbare Urheber oder auf ein einzelnes Ereignis zurückzuführen. Ihre Idee von der Revolution erscheint als ein wichtiger Faktor im Spiel der Kräfte am Vorabend von 1848. In seinem Prologue d’une révolution vergleicht Louis Ménard die Revolutionen mit den großen Kataklysmen in der physikalischen Welt. Die Ruhe vor 1848 gleiche der Stille der Natur vor einem Sturm. „De même que dans les mythologies de l’Inde, avant de créer un monde, l’esprit s’incarne et se recueille pendant de longues années, pour évoquer, à force d’austérités, de méditations et de prières, le rêve divin, miroir du monde à venir; ainsi, pendant le long sommeil de la démocratie, les théories sociales apparurent au peuple comme le rêve d’une société nouvelle.“27 Eugène Pelletan, einer der Begeisterten von 1848, schrieb bereits im Februar 1842 in der „Revue indépendante“, Revolutionen seien nicht das Werk eines oder mehrerer Menschen. Sie überraschen und erstaunen fast ausnahmslos sowohl diejenigen, die sie machen, als auch die, die ihnen unterliegen. „Elles se préparent on ne sait dans quelles profondeurs mystérieuses, elles éclatent on ne sait à quelle heure. Elles s’élaborent vaguement, sourdement, dans les esprits et dans les choses. Ce qui aujourd’hui n’est qu’une espérance indéterminée, sera demain une révolution. C’est une vaste conjuration tacite où une époque entière se trouve impliquée.“28 Die ersten Verschwörer sind die Könige selbst, getrieben von irgendeinem geheimnisvollen Fatalismus, davongetragen von einer Woge. Revolutionen sind wie Stürme, die in der Luft liegen. Ein Windstoß wird sie an den äußersten Enden des Horizontes zusammenballen.29 Dieser Revolutionsmystizismus, die fatalistische Überzeugung von der Unvermeidbarkeit der Revolution, die unpersönliche schicksalhafte Größe, die 27 28 29

Ménard, Prologue d’une révolution, S. 4. Vgl. auch ebd., S. 5. Pelletan, zit. in Monin, Le Pressentiment social, S. 308. Vgl. ebd., S. 308 f.

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ihr zugeschrieben wird, wurden von den umfangreichen Geschichtswerken über die Französische Revolution, die in den Jahren vor 1848 erschienen waren, genährt. Beide Ansichten waren gerechtfertigt : Die Revolution von 1848 war geplant, und dennoch war sie ein Zufall. Es bestand eine Geisteshaltung, fast eine Religion, die eine Art dauernder Prädisposition und Bereitschaft ausbildete. Ein zufälliges Ereignis, das in das vorausbestimmte, von der Großen Revolution festgelegte Schema zu passen schien, genügte, um die Getreuen in einen Spasmus von revolutionärer Selbsterfüllung hineinzutreiben und diejenigen, die von der Revolution gestürzt werden sollten, bis zur Lähmung zu über wältigen.30 Tocqueville drückt dies in seinen Souvenirs wie folgt aus : „Elles [ gemeint sind die Revolutionen, A. d. Hg.] naissent spontanément d’une maladie générale des esprits amenée tout à coup à l’état de crise par une circonstance fortuite que personne n’a prévue.“31 „La révolution de Février, comme tous les autres grands événements de ce genre, naquit de causes générales fécondées, si l’on peut parler ainsi, par des accidents; et il serait aussi superficiel de la faire découler nécessairement des premières, que de l’attribuer uniquement aux seconds.“32 Dass die Revolution von 1848 späteren Schriftstellern so unerklärlich, grotesk und gänzlich unberechtigt erschien, beruhte, glaube ich, auf der Tatsache, dass sie nicht mehr imstande waren, den revolutionären Messianismus der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts zu begreifen. Außer für den extremen linken Flügel hatte er im Jahre 1848 seine Faszination eingebüßt. Das Gespenst hatte zu spuken aufgehört.

2. Ein Bankett und ungewollte Ver wicklungen Zeitgenossen und Historiker stimmen darin überein, dass die Revolution von 1848 nicht das Resultat eines wohler wogenen Komplotts war. Sie „brach aus“ und riss alle und jeden mit. Dieser romantische Anthropomorphismus soll andeuten, dass Menschen sich unwissentlich in Situationen begaben, aus denen es keinen Ausweg gab, und dass sie mitgerissen wurden von triebhaftem Geschehen, dem sie sich nicht widersetzen konnten.33

30 31 32 33

Vgl. Guillemin, La Tragédie de quarante - huit, S. 15 f.; Tudesq, La Crise de 1847 ( besonders zu Aspekten der Krise ). Tocqueville, Souvenirs, S. 48; ders., Recollections, S. 36. Tocqueville, Souvenirs, S. 89. Die Hauptquelle zu diesem Abschnitt war Crémieux, La Révolution de Février, eine erschöpfende Untersuchung von 535 Seiten, die der Geschichte von vier Tagen gewidmet ist. Außerdem : Bruhat, Les Journées de février 1848.

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Den Getreuen der Revolution, Mitgliedern der Geheimbünde,34 Sozialisten, die eine totale soziale Wandlung erträumten, Jakobinern der verschiedenen Schattierungen, gebührt besondere Aufmerksamkeit für ihren Anteil an den Ereignissen. Als Treuhänder der Revolutionsidee hatten sie auf den Tag der Erfüllung geharrt und waren von seinem vorbestimmten Eintreffen überzeugt. In welchem Ausmaß waren sie Anstifter und Katalysatoren und in welchem waren sie, gleich den anderen, Marionetten einer höheren unpersönlichen Macht ? Wir beabsichtigen nicht, über die Ereignisse, die Louis - Philippe stürzten und die Zweite Republik zur Herrschaft brachten, im Einzelnen zu berichten. Wir möchten uns nur über die Gegebenheiten der Situation klar werden und versuchen, so weit wie möglich zu erfassen, welche Rolle jeder einzelne Faktor spielte – aus vorbestimmter Notwendigkeit, freiem menschlichem Entschluss und purem Zufall. Wie bekannt, ging die Initiative zu dem schicksalhaften Bankett, das niemals stattfand, weder von den offiziellen Oppositionsparteien noch von der revolutionären Untergrundbewegung aus. Um das Ende des Jahres 1847 hatte sich die Schwungkraft der Bankettbewegung bereits verausgabt. Nach dem Bankett von Château - Rouge im Juli gab es eine entschiedene Abkühlung; die Abgeordneten der Opposition fürchteten, eine außerparlamentarische Plattform zu schaffen, die ihr parlamentarisches Auftreten in den Schatten stellen könnte, und es bestand außerdem eine Rivalität zwischen Gemäßigten und Extremisten, die Guizots Herz erfreute und die Bewegung als Ganzes in ihrem Ansehen schädigte.35 Die Initiative zu dem Bankett im XII. Arrondissement ging von einer Gruppe von Offizieren der Nationalgarde dieses Arrondissements aus. Wir kennen die Geschichte aus der Broschüre, die das aktivste Mitglied der Gruppe, Capitaine Roinville, Holzhändler und lauer Republikaner, etwas später darüber veröffentlichte. Obwohl die vierzig Republikaner im Ausschuss in der Überzahl waren gegenüber den sechzehn „Dynastikern“ und vier Legitimisten, herrschte allgemeine Übereinstimmung darüber, dass das Bankett lediglich gegen die Korruption in der Regierung und die Verschwendung von öffentlichen Mitteln protestieren und dass es „dans la légalité voulue par les lois“36 geleitet würde. Da das Bankett „réformiste“37 sein sollte und die Veranstalter natürlicher -

34

35 36 37

Über die Rolle der Geheimbünde siehe außer den bereits zitierten Schriften von Hodde, Lucas, Caussidière, Chenu und Bouton : Chenu, Les Montagnards de 1848; Bouton, La Patrie en danger. Vgl. Stern, Histoire de la Révolution de 1848, Band 1, S. 12–29. Roinville, zit. in Crémieux, La Révolution de Février, S. 48. Vgl. ebd., S. 46–48. Ebd., S. 48.

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weise wollten, dass es Widerhall fände, beschlossen sie, irgendeine bekannte politische Persönlichkeit solle den Vorsitz übernehmen. Sie wandten sich an Arago, der sich aus Gesundheits - und Altersgründen entschuldigte. Ein weniger bekannter Abgeordneter, Boissel, von der Partei Odilon Barrots, willigte ein unter der Bedingung, dass alles gesetzlich zugehen werde und er die Toaste vorher zu Gesicht bekäme. In impulsiver Geschäftigkeit oder aus Angst vor einem widrigen Missverständnis ging Roinville aus eigener Initiative auf die Polizeipräfektur und ersuchte um Genehmigung des Banketts. Sie wurde versagt. Roinvilles Kollegen waren ärgerlich über seine unautorisierte Handlung und weigerten sich, das Verbot des Präfekten zu akzeptieren.38 Die Angelegenheit wurde zu einer prinzipiellen Frage, in erster Linie über das Recht zur Abhaltung von Banketten und in zweiter über die Versammlungs- und Assoziationsfreiheit. Etwa siebzig Bankette hatten stattgefunden, ohne dass um Genehmigung dafür nachgesucht worden war und ohne dass die Regierung irgendwelche Schritte unternommen hätte, sie zu verhindern oder die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Die „Cour de Cassation“ hatte 1831 und 1834 entschieden, dass „réunions accidentelles“ gesetzlich seien und keiner Genehmigung bedürften. Der Ausschuss des XII. Arrondissements stellte sich auf den Standpunkt, Roinville habe nicht um Genehmigung nachgesucht, sondern lediglich die Behörde über Zeitpunkt und Ort des geplanten Banketts informiert. Es war die stillschweigende Voraussetzung, dass er keinen Anlass gehabt habe, um Genehmigung nachzusuchen. Das Bankett sollte am 19. Januar stattfinden.39 Aus einer rein lokalen Angelegenheit war die Frage nunmehr im Begriff, zu einem grundsätzlichen Konflikt zwischen Regierung und Opposition zu werden, und zwar vorerst in der parlamentarischen Arena. In jenen Tagen fand die Debatte über die Ansprache des Königs statt. Der König sprach von dem Vertrauen, das ihm „au milieu de l’agitation que fomentent des passions ennemies ou aveugles“ von der Überzeugung eingegeben wurde, „que nous possédons dans la monarchie constitutionnelle, dans l’union des grands pouvoirs de l’Etat, les moyens assurés de surmonter tous les obstacles“.40 Heftige Worte wurden gewechselt in der Frage der Freiheit zur Abhaltung von Banketten. Als der „garde des sceaux“ sehr schnippisch erklärte, wenn auch frühere Bankette geduldet worden seien, habe die Regierung doch alles Recht, sie nach Wunsch zu verbieten, da alles, was nicht ausdrücklich erlaubt, 38 39 40

Vgl. ebd., S. 50 f. Vgl. ebd., S. 50–54. Vgl. auch Garnier - Pagès, Histoire de la Révolution, Band 1, S. 117 ff. Garnier - Pagès, Histoire de la Révolution, Band 1, S. 133.

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verboten sei, forderte er damit geradezu die Entgegnung heraus : „Auch zu atmen ?“41 – und die Antwort von Odilon Barrot, sogar ein Polignac und Peyronnet hätten niemals eine solche Sprache geführt, wie sie sich jetzt ein Mitglied desjenigen Regimes erlaube, das als Ergebnis einer Revolution zur Verteidigung der Rede - und Versammlungsfreiheit an die Macht gelangte.42 Es blieb Ledru - Rollin überlassen, mit einer „vaste association pour le refus de l’impôt“43 wie 1829 zu drohen, und Lamartine, die Regierung daran zu erinnern, dass eine andere Regierung einmal versuchte, einen Versammlungssaal zu schließen, den die Nation jedoch wieder öffnete – la salle du „Jeu de Paume“.44 Der von Sallandrouze eingebrachte Antrag auf Wahlreform wurde mit einer Stimmenmehrheit von 228 zu 189 abgelehnt (12. Januar 1848) und Guizot sagte in seiner Zusammenfassung, die Regierung werde eine Reform in Betracht ziehen, wenn die Zeit dafür reif sei. Ständige Meinungsverschiedenheiten zeigten jedoch, dass die Zeit noch nicht gekommen war. Die Abstimmung über das Misstrauensvotum in der Bankettfrage brachte 228 Stimmen gegen 185 für den Antrag. Marrasts Idee, die Abgeordneten der Opposition sollten zum Zeichen des Protestes zurücktreten und so eine allgemeine Neuwahl erzwingen, oder die Oppositionspresse sollte zumindest aufhören, Berichte über die Verhandlungen in der Kammer zu veröffentlichen, fand keine Unterstützung. Es würde falsch sein, wenn die Abgeordneten ihr Amt niederlegten.45 Damit, dass die offizielle Oppositionsleitung die Bankettfrage aufgriff, machte sie sie zu einer wichtigeren und gleichzeitig weniger bedrohlichen Angelegenheit. Da sie eine Demonstration gegen die Willkürherrschaft sein sollte, war es wichtig, die Regierung dadurch ins Unrecht zu setzen, dass man Ordnung und strenge Legalität bewahrte, damit die Regierung mit ihrer Haltung des Vorbeugens und Verbietens nicht Recht behalte. Wie der „National“ vom 17. Februar es ausdrückte : „La population tout entière comprendra qu’une manifestation pour le droit et contre l’arbitraire manquerait son but si elle ne restait pas paisible et régulière.“46 Der neue Ausschuss, der aus Abgeordneten, Zeitungsredakteuren, Delegierten des „Comité central pour les élec41 42 43 44 45 46

Ebd., S. 163. Vgl. ebd., S. 163–167. Stern, Histoire de la Révolution, Band 1, S. 77. Vgl. auch ebd., S. 78 f. Vgl. ebd., S. 80; Garnier - Pagès, Histoire de la Révolution, Band 1, S. 166 : Quentin - Bauchart, Lamartine : Homme politique, S. 134. Vgl. Stern, Histoire de la Révolution, Band 1, S. 80–82; Chérest, La Vie et les œuvres de M. Marie, S. 75 ff.; Garnier - Pagès, Histoire de la Révolution, Band 1, S. 174–179. Crémieux, La Révolution de Février, S. 59. A. d. Hg. : Laut dieser Quelle handelt es sich um „Le National“ vom 20. Februar. Vgl. auch Stern, Histoire de la Révolution, S. 92, Fußnote.

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tions“ und nur drei Mitgliedern des XII. Arrondissements bestand, erhöhte den Eintrittspreis, beschränkte die Teilnahme auf Wahlberechtigte, beschloss im Voraus eine Marschordnung, verbot öffentliche Rufe während des Marsches und verlegte, um keinerlei möglichen Anlass zur Besorgnis zu geben, das Bankett aus dem dichtbevölkerten Viertel nach den Champs - Elysées, wo keine Barrikaden aufgestellt werden konnten und freie Bewegungsmöglichkeit für berittene Kavallerie bestand. Zur Vermeidung zu großer Menschenmengen wurde die Kundgebung vom Sonntag auf einen Wochentag verlegt. Schließlich kam die Opposition zu einer Vereinbarung mit der Regierung : Die Demonstranten werden sich an der Madeleine versammeln und von dort aus unter Begleitung von unbewaffneter Nationalgarde und Studenten nach den ChampsElysées marschieren. Am Saaleingang wird ein Polizeikommissar die Versammlung als ungesetzlich erklären. Seine Warnung wird nicht beachtet werden. Odilon Barrot wird einen einzigen Toast „auf Reform und Versammlungsrecht“ ausbringen. Der Polizeioffizier wird die Versammlung auffordern, auseinander zu gehen. Das wird unter Protest geschehen. Die Regierung wird dann einen Prozess gegen die Veranstalter beginnen, und das Gericht wird eine prinzipielle Entscheidung erlassen. Ein Unterausschuss ermächtigte am 20. Februar Marrast, eine Resolution für die zwei Tage später abzuhaltende Versammlung zu verfassen.47 Paris schaute dem Kampf zu und wurde unruhig. Im „Théâtre historique“ spielte man gerade Alexandre Dumas’ Stück Le Chevalier de la Maison - Rouge, das durchsetzt war von dem „chœur des Girondins“ mit seinen revolutionären Akzenten. Abends konnte man auf den Straßen patriotische Lieder hören. Antiklerikale machten sich lustig über den Prozess eines Priesters, der wegen Vergewaltigung angeklagt war.48 Polizeiberichte, Lord Normanby und Capitaine Brô in ihren Tagebüchern wiederholen die gleichen Worte : „allgemeine Unruhe“, „die Geschäfte scheinen unterbrochen“, „tausende von übertriebenen Gerüchten“.49 „Ich würde mich nicht wundern“, schreibt Brô, „wenn all dies außerordentlich ernst würde und den Charakter von bloßen Unruhen überschritte.“50 Obwohl die Arbeiter voller Eifer die Proklamationen lasen, hatten sie doch nicht ganz das Gefühl, dass die Sache sie betraf. Eine am 19.–21. Februar geschriebene und am 21. oder 22. veröffentlichte Broschüre Evénements actuels. Révolution des députés flétris spricht verächtlich von den Stürmen in der

47 48 49 50

Vgl. Bruhat, Les Journées de février 1848, S. 19–21; Stern, Histoire de la Révolution, Band 1, S. 87–89; Quentin - Bauchart, Lamartine : Homme politique, S. 135 ff. Vgl. Stern, Historie de la Révolution, Band 1, S. 86. Vgl. Normanby, A Year of Revolution, Band 1, S. 71 ff. Crémieux, La Révolution de Février, S. 89 f.

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Presse, von den falschen Alarmen, die mit leeren Reden enden. „Les temps ne sont pas mûrs, et les bastilles de M. Thiers et du National regorgent de boulets [...]. Le peuple est calme. Il a froid, il a faim, mais il traîne sa misère en silence. Son jour n’est pas venu.“51 Marrast bereitete – wie er übernommen hatte – das Manifest mit dem Programm der Demonstration vor und ging damit zu Odilon Barrot, um es ihm zu zeigen. Dieser war gerade im Begriff, sich zu Tisch zu setzen, und gab, ohne das Schriftstück zu lesen, seine Einwilligung, wobei er lächelnd sagte : „Aber fügt nichts hinzu, was die Opposition kompromittieren könnte.“52 Wie sich später herausstellte, kompromittierte das Schriftstück die Opposition ganz gehörig. Der Ton war derart, dass Guizot behaupten konnte, die Veranstalter hätten dadurch, dass sie sich anmaßten, der Nationalgarde Befehle zu geben, eine Regierung neben der gesetzmäßigen Regierung aufgestellt. Beunruhigt durch die Wendung der Ereignisse, veröffentlichten die gemäßigten Mitglieder des Veranstaltungsausschusses eine Erklärung, es bestünde keinerlei Absicht, die Regierungsgewalt zu usurpieren oder die Nationalgarde aufzurufen. Die Opposition berief sich auf das Versammlungsrecht, die Regierung auf ihr Recht des Verbotes von „attroupements“. Die Behörden wiederholten in aller Form und Bestimmtheit ihr Verbot der Demonstration. Was sollten die Abgeordneten der Opposition tun ? Man hielt am 21. Februar, einen Tag vor dem geplanten Bankett, um 9 Uhr abends eine Versammlung ab. Eine große Mehrheit war dafür, die Demonstration aufzugeben. Odilon Barrot argumentierte, es würde feige sein, die Demonstration abzuhalten. Die Abgeordneten, die selbst durch parlamentarische Immunität geschützt seien, würden hilf lose Menschen der Gefahr und der Verhaftung aussetzen. Hierauf erwiderte Marrast, wenn sie, die Gemäßigten, sich zurückzögen, würden sie das Feld den Extremisten überlassen, und daraus könnte möglicher weise ein Bürgerkrieg entstehen. Odilon Barrots Vorschlag war, die Demonstration abzusagen und gleichzeitig in der Kammer die Regierung anzuklagen, sie habe konstitutionelle Freiheiten verletzt.53 „Nous sommes placés [...] entre la honte et le péril“54 – war Lamartines Kommentar. Wusste Marrast, was er tat ? Ließ er sich einfach von seiner Feder hinreißen? Oder trieb ihn seine hämische Natur, die „dynastiques“ in Schwierigkeiten zu bringen ? D’Alton - Shée, einer der aktivsten und radikalsten Politiker, 51 52 53

54

Ebd., S. 87. Garnier - Pagès, Histoire de la Révolution, Band 1, S. 204. Vgl. Crémieux, La Révolution de Février, S. 61–65; Stern, Histoire de la Révolution, Band 1, S. 92–98; Garnier - Pagès, Histoire de la Révolution, Band 1, S. 188 ff., 207 ff.; Chérest, La Vie et les œuvres de M. Marie, S. 75 ff. Stern, Histoire de la Révolution, Band 1, S. 98; Quentin - Bauchart, Lamartine : Homme politique, S. 136.

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die mit der Affäre zu tun hatten, behauptet, Marrast sei darauf aus gewesen, den mit der Regierung geschlossenen Kompromiss zu zerstören. Er nimmt an, es habe ein Einvernehmen bestanden zwischen Marrast und Ledru- Rollin, der vorher von den Gemäßigten aus der Affäre herausgedrängt worden war. LedruRollin sollte die Nationalgarde, die Studenten und Arbeiter mitreißen, und Marrasts Entwurf war in Bezug auf die Rolle dieser Kräfte in der Demonstration absichtlich unbestimmt. „Marrast résumait en deux mots notre pensée: une grande fête révolutionnaire ou une révolution.“55 Garnier - Pagès berichtet, dass Pagnerre von einigen radikalen Abgeordneten auf die Frage, was geschehen würde, falls ihnen die Dinge aus der Hand glitten, die Antwort erhielt, die Absicht sei, das Gesetz zu befolgen, doch wenn sie durch „force supérieure“ die Gewalt über die Situation verlören, so würde die Regierung dafür die Verantwortung tragen.56 Marie erinnerte sich, dass in einer der geheimen Zusammenkünfte von Oppositionspolitikern kurz vor den Februarereignissen eine Kandidatenliste für ein Kabinett diskutiert wurde. Als er fragte, ob eine Revolution geplant würde, wurde die Absicht verneint, doch es wurde hinzugefügt, man könne nie wissen, was geschehen werde. Das Aufstellen von Ministerlisten ist jedoch ein weitverbreiteter Zeitvertreib und braucht nicht ernst genommen zu werden.57 Es würde ebenso falsch sein, wollte man Marrast den wohler wogenen Entschluss zuschreiben, eine Revolution zu provozieren. Er war wie jeder andere zu jener Zeit tief erfüllt von dem Mythos der Revolution; man tanzte gleichsam ein Menuett mit der Vision der Revolution, man beschwor sie herauf und zog sich schnell zurück, halb wünschte man sie, halb überließ man sie dem Schicksal, dem Willen der Geschichte. Auf alle Fälle beschlossen die offiziellen Veranstalter mit einer Stimmenmehrheit von 80 zu 17, die für den nächsten Tag angesetzte Demonstration rückgängig zu machen.58 Die Frage war jetzt, ob die Geführten den Beschluss ihrer Führer, nichts zu tun, akzeptieren würden. Es bestand die Gefahr, dass die Menschen überrumpelt würden von den Ereignissen, die sie selbst in Bewegung gesetzt hatten, ohne jedoch zu wollen, dass sie voll in Schwung kommen würden. Nachdem beide Seiten sich zurückgezogen hatten, sowohl die lokalen Veranstalter des Banketts vom XII. Arrondissement als auch die offizielle Opposition, die den lokalen Leuten die Sache aus der Hand genommen hatte, hielten die radikalen Führer am 21. Februar um 7 Uhr abends auf Anregung des Redakteurs Flocon in den Redaktionsräumen der „Réforme“ ein Konklave ab. 55 56 57 58

D’Alton - Shée, zit. in Crémieux, La Révolution de Février, S. 62. Vgl. Garnier - Pagès, Histoire de la Révolution, Band 1, S. 182. Vgl. Chérest, La Vie et les œuvres de M. Marie, S. 81–83. Vgl. Crémieux, La Révolution de Février, S. 65.

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Die Versammlung repräsentierte in ihrer Zusammensetzung die diversen Schattierungen von der Legalität zur Illegalität und Untergrundverschwörung, und von der radikalen Demokratie in ihrer Entwicklung zum Sozialismus. Flocon selbst hatte, wie wir bereits wissen, enge Verbindungen zu Geheimbünden. D’Alton - Shée, ein „pair de France“, Arago, Baume und Ledru - Rollin, Linke in jakobinischer Tradition, wurden flankiert von dem antiklerikalen republikanischen Historiker Edgar Quinet und dem Sozialisten Louis Blanc. Dann waren dort die führenden Untergrundverschwörer wie Caussidière, Lagrange, Albert, Rey und der Agent Provocateur und Leiter der „Société des saisons“, de la Hodde.59 Alle Beobachter, d’Alton - Shée, Edgar Quinet und de la Hodde, der behauptet, ein stenographisches Sitzungsprotokoll gemacht zu haben, sind sich einig über die Haltung von Louis Blanc und Ledru - Rollin, die in den folgenden Monaten solche prominente Rolle spielen sollten. Louis Blanc wurde beredsam und eindringlich, als er von der Gefahr sprach, die dem Volke drohte, wenn beschlossen würde, die Demonstration abzuhalten. Falls ein solcher Beschluss gefasst wird, dann wird er – so gibt de la Hodde seine Worte wieder – sich in seine Wohnung zurückziehen, sein Haupt mit Sack und Asche bedecken und weinen „sur la ruine de la démocratie“.60 Ledru - Rollin erinnerte das Konklave daran, dass die historischen „journées“ der Großen Revolution immer mit großer Sorgfalt vorbereitet worden waren. Diesmal seien keine Vorbereitungen getroffen worden. Der Regierung standen beträchtliche Kräfte zur Verfügung. Es sei ein großes Massaker des Volkes zu befürchten. Man könne nichts anderes tun, als auf eine günstigere Gelegenheit zu warten, die eines Tages kommen werde, da das Regime von Tag zu Tag schwächer werde. D’Alton - Shée war dafür zu handeln. Ihm war es gleichgültig, ob die dynastische Opposition kollaborierte oder auf ein Komplott zur Provokation der Republikaner sann. Er wusste, dass Lamartine, Courtais, d’Harcourt und andere Abgeordnete marschieren würden.61 Vielleicht beabsichtigte de la Hodde, die Versammelten zu einem Entschluss zu zwingen – er mag auch darauf vertraut haben, dass die Entscheidung negativ sein würde, wenn die Frage offen und unzweideutig formuliert würde –, als er Caussidière geradeheraus fragte, ob die Mitglieder der Geheimbünde den Befehl erhalten sollten, am folgenden Tag zu marschieren. Die Antworten waren weder sehr bestimmt noch sehr offen. Die radikale Partei, erklärte Caussidière, habe sich zu nichts verpflichtet und könne daher nicht

59 60 61

Vgl. ebd., S. 85 f.; Hodde, Histoire des sociétés secrètes, S. 420, 422–425. Hodde, Histoire des sociétés secrètes, S. 425; Crémieux, La Révolution de Février, S. 86. Vgl. Crémieux, La Révolution de Février, S. 86; Hodde, Histoire des sociétés secrètes, S. 424–430; Garnier - Pagès, Histoire de la Révolution, Band 1, S. 242 ff.

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beschuldigt werden, das Volk im letzten Augenblick im Stich gelassen zu haben. Die Massen seien frei zu handeln, wie sie wollten. Und da es den Anschein habe, als seien sie bereit, auf die Straße zu gehen, könne dies eine Gelegenheit zu einer Kraftprobe sein. Lagrange meinte, die Radikalen sollten nicht versuchen, einen Aufstand zu provozieren, doch falls das Volk spontan einen solchen begänne, gäbe es keinen anderen Weg, als den Kampf zu unterstützen. Albert und Baume schlossen sich dieser Ansicht an. Nachdem man jahrelang die Massen zum revolutionären Kampf erzogen hatte, könnten die Führer nicht gut am Tage der Schlacht abseits stehen. Nichtsdestoweniger fasste die Mehrheit den Beschluss, keine Initiative zu ergreifen, und am nächsten Morgen drang Flocon in die Massen, der Regierung keine Gelegenheit zu einem blutigen Erfolg zu bieten, sondern lieber die Hohlheit der dynastischen Opposition aufzudecken.62 Man kann daher sagen, dass auch die radikale Führerschaft sich zurückzog. Sie wollte sich nicht an die Spitze stellen, denn der Rat, sich fernzuhalten, konnte schwerlich als Ermunterung aufgefasst werden, auch wenn er den Vorbehalt enthielt, dass die Führer den Massen folgen würden, falls diese die Führung übernähmen.63

3. Revolutionäre Initiative und katalytische Revolutionshandlung Wer waren die „Massen“, das „Volk“ ? Eine amorphe Masse oder identifizierbare Gruppen ? In unserem Fall waren da natürlich die Einheiten der Nationalgarde, die auf lokaler Basis rekrutiert waren. Dann waren da die Mitglieder der hochdisziplinierten und gut organisierten Geheimbünde und die Mitglieder der sozialistischen und kommunistischen Gruppen. Man konnte kaum von Mitgliedern organisierter politischer Parteien im heutigen Sinn oder von Gewerkschaftsmitgliedern sprechen. Die Studentenschaft jedoch war beinahe eine scharfumrissene Gruppe, und obwohl es ein Anachronismus wäre, von

62

63

Vgl. Garnier - Pagès, Histoire de la Révolution, Band 1, S. 244 f.; Crémieux, La Révolution de Février, S. 86 f.; Caussidière, Mémoires, Band 1, S. 33 ff.; Ménard, Prologue d’une révolution, S. 3–10. Crémieux, La Révolution de Février, S. 91, fasst die Lage am 21. Februar abends wie folgt zusammen : „Les députés et les chefs politiques se retiraient du conflit presque unanimement; [...]; les sociétés secrètes, défiantes, appréhendaient les périls d’une émeute; les socialistes et les ouvriers, prêts à la résistance, étaient décidés à marcher au gré des circonstances; le pouvoir, doutant de la réalité du danger, certain d’ailleurs du succès, négligeait les plus légères précautions. Dans tous les partis et dans tous les groupes, le mot d’ordre pour le lendemain était le même : attendre les événements.“ Ähnlich sagt Garnier - Pagès, Histoire de la Révolution, Band 1, S. 248 : „La démocratie ardente ayant renoncé à toute prise d’armes.“

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Massen von marschierenden Fabrikarbeitern zu sprechen, sei festgestellt, dass der Zusammenhalt der Bewohner eines „quartier“ sicherlich stärker war als er heute ist, und in den 1840er Jahren wurden Meister, Geselle und Lehrling leichter in einen Straßentumult hineingezogen als heute. Abgesehen von der Suggestivkraft, dem Nachahmungstrieb und der ansteckenden Wirkung der allgemeinen Erregung, die zu allen Zeiten wirksam sind, wurden in jener speziellen Situation die revolutionäre Tradition und das Andenken an die „journées“ und die Barrikaden der Revolution von alten Kämpfern und begeisterter Jugend lebendig gehalten und mit Ruhm umwoben.64 Der Begriff eines systematisch geplanten, in allen Einzelheiten im Voraus berechneten Komplotts, das in voller Absicht durchgeführt wird, ist nicht weniger romantisch und irreführend als die Vorstellung von einer Masse, die spontan wie eine Elementargewalt handelt. Eher zutreffend sind vielleicht bildliche Vergleiche wie etwa das Öffnen der Schleusen im entscheidenden Augenblick, das Läutenlassen der Glocken, das Anstecken der Zündschnur, das Auslösen des ersten Anstoßes, der die Massen von allen Hemmungen befreit und sie fortreißt. Das kann anonym und sogar zufällig geschehen, ohne dass dem Täter völlig klar wird, was er getan hat und was die Folgen sein können. Die Handlung mag bewusst nur von ganz wenigen in allernächster Nähe bemerkt werden. Die Woge wird von selbst weiterrollen. In dieser Beziehung fiel den revolutionären Aktivisten eine Rolle zu, die in keinem Verhältnis stand zu ihrer Zahl, und zwar nicht als Führer eines überlegten Komplotts, sondern eher als Katalysatoren im geeigneten Augenblick und am rechten Ort. Es ist ziemlich unerheblich, in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass die Aktivisten eine winzige Minorität in der Bevölkerung darstellten, oder dass die Revolution von ihnen weder angezettelt noch gemacht wurde. Bemerkenswert ist, dass die Rolle des Propellers und Katalysators bei einigen entscheidenden Anlässen nicht von alten Kämpfern der Verschwörung und des Gewaltstreichs gespielt worden zu sein scheint, sondern von Mitgliedern pazifistischer sozialistischer und kommunistischer Gruppen, die Gewaltanwendung prinzipiell ablehnten; zum Beispiel Fourieristen und Anhängern von Cabet. Das deutet darauf hin, dass der Wunsch, die erwartete totale soziale Wandlung mit friedlichen Mitteln durchgeführt zu sehen, im Augenblick einer „Weltenänderung“ keine Bedeutung mehr hatte. Die vage Erwartung verstärkte sich zu ungeheurer Entschlossenheit : Man musste einer Welt, die ohnehin zum Untergang verurteilt war, den letzten Stoß versetzen und der aus den Geburtswehen aufsteigenden neuen Epoche eine helfende Hand entgegenstrecken. 64

Es war mir leider nicht möglich, Rudés Buch über „The Crowd in the French Revolution“ zu benutzen. Seine Ansichten sind mir jedoch aus seinen Aufsätzen sowie aus privaten Unterhaltungen bekannt.

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So war es eine Studentengruppe mit dem Redakteur der „Quartier - Latin“ Zeitung „L’Avant - Garde“ an ihrer Spitze, die den Ausschlag gab, als bei einer Zusammenkunft im „Siècle“ darüber beraten wurde, ob die Nationalgarde am nächsten Tag dem „Appell“ der Regierung Folge leisten sollte. Einige waren der Ansicht, ihre Anwesenheit würde nach Unterstützung des Regimes aussehen; während andere fürchteten, durch Fernbleiben würde das Feld den Regierungstreuen überlassen werden.65 Trotz des Einspruchs führender Abgeordneter, unter ihnen Garnier - Pagès, Duvergier de Hauranne, Carnot, Drouyn de Lhuys, Boulay de la Meurthe, und der Warnung, das Volk würde in eine Falle gehen, wenn die Demonstration stattfände, wurde der Beschluss gefasst, am nächsten Tag bewaffnet zur Unterstützung der Volksdemonstration zusammenzutreffen. Nachdem die offiziellen Veranstalter das Bankett aufgegeben hatten, wollte die „L’Avant - Garde“ zeigen, dass sie besser seien als die Alten. In der Nacht vom 21. zum 22. Februar begann das Fieber, um sich zu greifen.66 Und tatsächlich waren an der Spitze der ersten Demonstrantenkolonnen, die sich am nächsten Tag um 11 Uhr vormittags vom Pantheon aus zur Madeleine in Bewegung setzten, Watripon und Bosselet mit ihren Studentenkameraden, glühende Revolutionäre wie Wilfred de Fonvielle und Debock, alte Praktiker der geheimen Untergrundarbeit wie Chenu, der in Wirklichkeit ein Agent Provocateur war, und der Fourierist Philippe Faure.67 Letzterer erzählt in seinem Tagebuch von dem Zusammentreffen der Kolonne mit den Soldaten an der Concorde - Brücke. „Die Spitze der Kolonne hält. Jourdain [...] Debock, de Fonvielle, ein junger Mathematiklehrer und ich. Wir kommen an die Spitze vor dem Pont de la Concorde, wo uns einige zwanzig Infanteristen der ‚gardes municipaux‘ den Zutritt ver wehren [...]. Es war ein entscheidender Augenblick. Hinter uns war Zaudern. [...] Wir rückten vor. Die Bajonette waren auf unserer Brust. Wir gehen weiter. ‚Kameraden, Ihr werdet nicht auf Brüder losgehen? Wir sind friedlich, das könnt Ihr sehen; aber wenn Ihr schießt, seid Ihr verloren; Ihr seid nicht stark genug, lasst uns passieren.‘ Und während ich spreche, drehe ich das Bajonett um; Fonvielle springt hinter den Soldaten; etwa ein Dutzend von uns folgen; die municipaux drehen sich um und gehen auf uns los; Debock packt ein Bajonett, das im Begriff ist, seinen Oberschenkel zu durchbohren. [...] Zur selben Zeit eilt die Menge uns zu Hilfe und die Brücke wird genommen.“68

65 66 67 68

Vgl. Crémieux, La Révolution de Février, S. 77–79. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 87, 93, 95; Bruhat, Les Journées de février 1848, S. 24 f.; Garnier - Pagès, Histoire de la Révolution, Band 1, S. 254 ff. Faure, Journal d’un combattant, S. 134.

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Über die Geisteshaltung von pazifistischen Sozialisten, die zu glühenden Revolutionären geworden waren, gibt nichts besser Aufschluss als der Dialog zwischen Pierre Leroux und Philippe Faure im Verlauf der Diskussion auf einer Fourieristenversammlung ( am 15. Februar ), die über die Haltung beriet, welche die Sekte gegenüber dem heraufziehenden politischen Sturm einnehmen sollte. Wie Faure berichtet, riet Leroux, der direkt von seiner Arbeit in der Phalange von Boussac ( Creuse ) kam, entschieden zur Zurückhaltung. Pierre Leroux war gegen jede Teilnahme an der Bewegung. Es war eine Angelegenheit der Bourgeois. Ja, wenn die Veranstalter wüssten, dass die Sozialisten bereit sind, ihnen zu folgen, würden sie sofort zurücktreten. Außerdem würden die Bourgeois in dem Augenblick, in dem ihnen klar würde, dass die Sozialisten mitmachen, die Massen aufsitzen lassen. „Ne faites rien avec de pareils alliés.“69 Man bereite eine Bartholomäusnacht für das Volk vor. Schließlich seien die Fourieristen „Männer einer Idee“, „Diener einer Doktrin“ und nicht Männer der Gewalt.70 Die Anwendung von Gewalt könne nur in der äußersten Not gerechtfertigt werden. „Ne compromettez pas l’avenir pour vouloir trop tôt le rendre présent.“71 Faure war hingegen leidenschaftlich für Aktion. In einem solchen Augenblick der Krise untätig zu bleiben, bedeute, der Willkür nachzugeben, zum Komplizen der Ungerechtigkeit zu werden. Wie kann eine Doktrin propagiert werden, wenn es keine Versammlungsfreiheit gibt ? Dieses Recht war keine Klassenfrage. Es war ein Prüfstein des Fortschritts und seine Verteidigung ein kategorischer Imperativ, denn alle anderen Freiheiten waren mit ihm verknüpft. „Es wird nie einen günstigeren Augenblick geben. Die konser vative Partei ist in Ver wirrung [...]. Si nous savons agir à temps, nous disposerons de tout, nous entraînerons tout le monde.“72 Ein paar Nächte später, in der fieberhaften Erregung der Nacht vom 21. zum 22. Februar, schrieb Faure sein Testament : „Ich werde für die Freiheit kämpfen und nicht für eine Partei. Ich erwarte nichts von Menschen oder von Parteien. Ich setze meine ganze Hoffnung in das Wirken der Vorsehung, in eine religiöse Wandlung, die eine Regeneration der Gesellschaft herbeiführen 69 70 71

72

Ebd., S. 107; Crémieux, La Révolution de Février, S. 84. Faure, Journal d’un combattant, S. 105, 108; Crémieux, La Révolution de Février, S. 84. Faure, Journal d’un combattant, S. 108 f.; Crémieux, La Révolution de Février, S. 84. Crémieux, La Révolution de Février, S. 83, hebt die Wirkung des Angriffs der kommunistischen Arbeitergruppe unter Simard und Charrassin auf die im Rückzug befindliche Kolonne von Gen. Bedeau am 24. hervor; und Stern, Histoire de la Révolution, Band 1, S. 235, nennt unter Lamartines Gefährten bei dem Marsch zum „Hôtel de Ville“ zwei Redakteure der fourieristischen „Démocratie pacifique“ : Laverdant et Cantagrel. Faure, Journal d’un combattant, S. 111; Crémieux, La Révolution de Février, S. 84.

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wird ! Das Recht ist angegriffen. [...] Vergib mir, Göttlicher Jesus, wenn wir Jünger des ewigen Evangeliums nicht wie Du das Martyrium dem Kampf vorzuziehen wissen.“73 „Wir werden niedergemetzelt werden. Das wird vielleicht das Volk aufwecken.“74 Zwar mag prima facie der Eifer der friedlichen Sozialisten merkwürdig erscheinen im Vergleich zu der abwartenden Haltung der Geheimbünde, doch sei daran erinnert, dass sie von den Behörden als völlig harmlose Theoretiker betrachtet wurden und daher nicht so mit Spionen durchsetzt waren wie die Untergrundgruppen. Sogar am Abend des 22. Februar, nach einem ganzen Tag von Unruhen, gelang es de la Hodde und Chenu noch, gegen Caussidières Widerstand, die in den Galerien des Palais - Royal versammelten Führer der Geheimbünde dazu zu bewegen, weitere Entwicklungen abzuwarten.75

4. Absicht und Zufall Die Bilanz des ersten Tages der Unruhen, des 22. Februar, war für die Regierung nicht besorgniserregend. Es gab keine Toten unter den Truppen. Fünf oder sechs Zivilisten waren getötet und einige ver wundet worden. Es hatte den ganzen Tag lang geregnet. Keinerlei Anzeichen sprachen für eine geplante Aktion und einheitliche Führung. Die Demonstranten, die in das Gelände der „Chambre des députés“ eingedrungen waren, nachdem sie den „Pont de la Concorde“ überquert hatten, wurden von den Dragonern aus den Baracken des „Quai d’Orsay“ mit Leichtigkeit entfernt. Es geschah in guter Laune, und die Demonstranten riefen : „Vivent les dragons !“ Die unbeliebte „garde municipale“ wurde dann eingesetzt, um den Mob über die Brücke zurückzudrängen, und dabei wurden eine alte Frau und ein Arbeiter tödlich ver wundet. Zu späterer Stunde erfolgten einige Plünderungen von Waffendepots, und der Mob riss einige Eisengitter nieder. Ein Versuch mit halbem Herzen, eine umgestürzte Kutsche als Barrikade am Rivoli zu benutzen, wurde bald aufgegeben. Gegen Abend schien im Zentrum der Stadt alles ruhig. Doch es herrschte das Gefühl, dass die Revolte jetzt auf die Vorstädte übergreifen könnte. Indessen bestand für die Regierung kein Grund, die Ereignisse des Tages für mehr zu halten als eine Ausschreitung. Das war die Ansicht aller Beteiligten.76 An jenem Morgen diskutierte die „Chambre des députés“ die Geschäfte der Banque de Bordeaux, und als Odilon Barrot inter venierte, um einen Antrag 73 74 75 76

Faure, Journal d’un combattant, S. 131; Crémieux, La Révolution de Février, S. 94. Faure, Journal d’un combattant, S. 133; Crémieux, La Révolution de Février, S. 94. Vgl. Hodde, Histoire des sociétés secrètes, S. 439; Chenu, Les Conspirateurs, S. 72. Vgl. Crémieux, La Révolution de Février S. 118 f.; Bruhat, Les Journées de février 1848, S. 23–28. Vgl. Stern, Histoire de la Révolution, Band 1, S. 108–115.

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gegen die Regierung in der Bankettfrage einzubringen, vertagte der Vorsitzende dies auf Donnerstag, wobei Guizot verächtlich zuschaute. Auch die „Chambre des pairs“ weigerte sich am nächsten Tag, ihre Debatte über Zwangshypotheken und Fragen der Zwangsenteignung in den Kolonien durch d’Alton Shées dringende Interpellation über die Lage in der Hauptstadt unterbrechen zu lassen.77 Der König war, ebenso wie die Führer der Regierung und der Armee, am Ende des ersten Aufstandstags in seinem Vertrauen noch unerschüttert. Infolgedessen ergriff die Regierung keine planvollen Maßnahmen. Als schließlich entschieden wurde, energisch einzugreifen, war es nicht mehr möglich, aus den isolierten Einheiten der Armee eine wirksame Maschinerie, die unter einem zentralen Plan operiert, zu machen, noch die demoralisierten Soldaten anzufeuern. Garnier - Pagès und andere gut informierte Beobachter können sich das Fehlen jeder Voraussicht, die Schwäche des Zupackens, ja beinahe die Gelähmtheit in der Führung der Regierungskräfte nicht erklären. Im Hauptquartier der Nationalgarde zum Beispiel war das eine „Bataillon de ser vice“ machtlos, den Mob zu vertreiben oder die Leute daran zu verhindern, unter den Fenstern der Tuilerien „Vive la Réforme !“ zu schreien und zu versuchen, in der Nachbarschaft Barrikaden zu errichten.78 Louis - Philippe hatte dem Präfekten der Seine, Rambuteau, Vor würfe gemacht, weil er versuchte, ihm Angst einzujagen. Dem Minister des Inneren sagte er, die Pariser würden nie im Winter eine Revolution machen. Nachdem die Demonstration abgesagt war, hatte er nur Verachtung für die „feigen Schwätzer“, und am nächsten Tag war er noch immer sicher, dass alles bald vorüber sein würde, sobald der Mob sich ausgetobt hätte.79 General Sébastiani wollte nicht nach der Stimmung in der Armee fragen. Seine Offiziere blieben still, als er scherzend bemerkte, die Armee dürfe ebenso wenig wie die Frau des Cäsaren je einem Verdacht ausgesetzt werden.80 Wie soll man solche Zuversicht bei Männern, deren Gemüter niemals frei von Revolutionserinnerungen waren, nach dem schnellen und totalen Zusammenbruch, der so bald danach erfolgte, erklären ? Es scheint, die Sorglosigkeit war im Grunde ein Reflex der Selbstverteidigung gegen die tiefe und alles durchdringende innere Angst vor der Revolution, oder genauer gegen den Glauben an ihren fatalistischen Charakter. Gab man die Realität einer revolutionären Situation erst einmal zu, dann würde zwangsläufig Panik herrschen. Daher 77 78 79 80

Vgl. Garnier - Pagès, Histoire de la Révolution, Band 1, S. 269 ff., 323, 328; Crémieux, La Révolution de Février, S. 107 f. Vgl. Garnier - Pagès, Histoire de la Révolution, Band 1, S. 214 f., 273 ff. Vgl. ebd., S. 215. Vgl. ebd., S. 216–218. Vgl. zu diesem und den beiden vorangegangenen Abschnitten auch Tocqueville, Recollections, S. 28–36.

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die Weigerung, die Drohung ernst zu nehmen. Sobald die Gefahr real erschien, begannen alle Verteidigungen zu zerbröckeln, und der totale Zusammenbruch erfolgte in kürzester Zeit. Und wir werden sehen, wie in entscheidenden Augenblicken die Erinnerungen an Revolutionsdaten und ihre Folgen unwiderstehlich immer wieder auftauchten. Der Schlüssel zu der Situation lag in den Händen der Nationalgarde. Ihre Aktion oder Inaktion war letzten Endes entscheidend. Die Nationalgarde als Institution war, wie bereits früher festgestellt, ein Symbol der Zweideutigkeiten und Inkonsequenzen des Julisystems : ein Regierungswerkzeug gegen Ausschreitungen und gleichzeitig ein Schutz der Gesellschaft gegen irgendwelche tyrannischen Pläne der Regierung, die die Aufgabe der Unterdrückung von sozialen Revolten den besitzenden Klassen überließ, um die Befürchtungen zu mildern, die die Unterdrückung von Volksaufständen durch die Regierung wachrufen könnte. Es war ein unbehagliches Bündnis, aus dem leicht ein Konflikt entstehen konnte. Die Nationalgarde forderte geradezu zum Einschmuggeln extrem revolutionärer Aktivisten heraus. Das Regime konnte sich niemals auf die Nationalgarde verlassen, und es ist kein Wunder, dass Louis - Philippe in den zehn Jahren vor 1848 nicht eine einzige Parade dieser Truppe abhielt. Er fürchtete unliebsame Demonstrationen. Im Februar 1848 war die Pariser Nationalgarde ein sehr unsicherer Faktor. Als es schien, als ob die Veranstalter der Demonstration die Nationalgarde als Teil der Bürgerschaft einberufen wollten, um gegen die Regierung zu demonstrieren, erließ General Jacqueminot ein Verbot für ihre Mitglieder, sich in Einheiten oder einzeln, mit oder ohne Waffen zu versammeln, es sei denn auf Regierungsbefehl. Kurz danach beschloss die Regierung selbst, die Nationalgarde aufzurufen, zum Teil zweifellos, um ihre Mitglieder daran zu hindern, mit dem Volk zu demonstrieren. Nur die Legionen von ein oder zwei besonders konser vativen Arrondissements gehorchten bereitwillig dem Regierungsbefehl. Die meisten Einheiten waren sehr zaudernd, und die Linkselemente blieben in den meisten Fällen zunächst fern. Diejenigen, die den Regierungsappell befolgten, taten es mehr, um ihren Gefühlen gegen die Regierung Ausdruck zu verleihen, als um die Armee gegen das Volk zu unterstützen.81 Schon am ersten Tag der Revolution beteiligten sich die 600 Mann, die von den 800 der II. Legion dem Aufruf der „mairie“ gefolgt waren, an den Rufen „Vive la Réforme !“, fraternisierten mit dem Mob und teilten ihre Waffen mit dem Volk. Am nächsten Morgen war es ganz klar, dass die Nationalgarde als Ganzes das Volk gegen Angriffe der „armée de ligne“ und der „garde municipale“ verteidigen würde. Sie würde in einer Revolution keine Initiative ergrei81

Vgl. Crémieux, La Révolution de Février, S. 120–123; Garnier - Pagès, Histoire de la Révolution, Band 1, S. 302, 305 ff.; Bruhat, Les Journées de février 1848, S. 28–34.

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fen. Sie würde versuchen, der Regierung ihre Gefühle zu zeigen, und würde sie handeln lassen.82 Auf Anraten von Crémieux nahmen die Offiziere der Nationalgarde des IV. Arrondissements eine Resolution an, dass sie nur marschieren würden, um die öffentliche Sicherheit aufrechtzuerhalten, erklärten dabei aber ausdrücklich, dass sie nicht die Absicht hätten, sich zu „Verteidigern eines korrumpierenden und korrupten Ministeriums“, dessen Politik und Tendenzen sie verabscheuten, zu machen. Sie verlangten, dass die Regierung sofort abgesetzt und unter Anklage gestellt werde.83 Eine derartige Einstellung konnte sie nicht zu wirksamen Unterdrückern von Volksaufständen im Namen der Regierung machen. Gewisse Quellen ( de la Hodde ), die jedoch nicht über jeden Verdacht erhaben sind, behaupten, die Einheiten der Nationalgarde seien durchsetzt gewesen mit Emissären der Geheimbünde in falschen Uniformen, und die entscheidende III. Legion habe unter besonders starkem Einfluss von Verschwörern gestanden, da einige ihrer Offiziere enge Beziehungen zu den sozialistischen Gruppen und Untergrundgruppen gehabt hätten ( Victor Bouton ).84 Die Haltung der Nationalgarde musste zwangsläufig den berühmten Plan von Gérard zur Bekämpfung von Unruhen unbrauchbar machen, da es keine befestigten Stützpunkte der Rebellen gab, die man durch einen konzentrierten massiven Angriff hätte nehmen können. Die Armee war jetzt in isolierte Einheiten zersplittert. Die von der Nationalgarde eingenommene Haltung rüttelte Louis - Philippe auf und brachte ihn dazu, Guizot zu entlassen. Das war der Augenblick, in dem der Aufstand sich hätte totlaufen können, ohne zu einer Revolution zu werden. Es ist die Ansicht geäußert worden, es sei ein Kapitalfehler gewesen, nach der Entlassung Guizots nicht die regulären Truppen zurückzuziehen und die 82

83 84

Vgl. Garnier - Pagès, Histoire de la Révolution, Band 1, S. 305 ff.; Bruhat, Les Journées de février 1848, S. 28–34. Siehe auch Tocqueville, Recollections, S. 40 f. : „Diese Barrikaden wurden sehr geschickt von wenigen Männern errichtet, die sehr fleißig arbeiteten : nicht wie schuldbewusste Menschen, die Angst haben, ertappt zu werden, sondern wie gute Arbeiter, denen daran liegt, ihren Auftrag gut und flink auszuführen. Die Leute schauten ihnen ruhig zu, ohne Ablehnung auszudrücken oder Hilfe anzubieten. Ich konnte keine Anzeichen von jener allgemeinen Erregung entdecken, die ich 1830 miterlebte und die mich damals die ganze Stadt mit einem riesigen siedenden Kessel vergleichen ließ. Diesmal stürzte das Volk nicht die Regierung; es ließ sie fallen.“ Vgl. Garnier - Pagès, Histoire de la Révolution, Band 1, S. 307 f.; Bruhat, Les Journées de février 1848, S. 31. Vgl. Hodde, Histoire des sociétés secrètes, S. 441 ff.; Bouton, La Patrie en danger, S. 9–11, bezeichnet die Berufe einiger unter den Verschwörern als „limonadier“, „traiteur“, „tailleur“, „doreur“, „tapissier“. Vgl. außerdem Crémieux, La Révolution de Février, S. 122 f., 125 f.; Thureau - Dangin, Histoire de la Monarchie de Juillet, Band 7, S. 400.

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Nationalgarde mit der Aufgabe zu betrauen, den Frieden wieder herzustellen. Und noch sicherer erscheint es, dass die Nationalgarde zur Wiederherstellung der Ordnung mit der Armee zusammengearbeitet hätte, wenn nicht die tragische Schießerei an den Capucines gewesen wäre.85 Der Zwischenfall an den Capucines erschien, mit den Worten Lamartines, als „ein 20. Juni für morgen; [...] übermorgen werden wir einen 10. August haben“.86 Man kann sich auf den Standpunkt stellen, die Entlassung Guizots sei nicht genug gewesen, um die Aufständischen zu befriedigen, und das Murren der extremen Elemente gegen eine so baldige Einstellung des Kampfes, noch dazu bei einem so unzulänglichen Ergebnis, habe eine Weiterführung des Kampfes gewiss gemacht. Wie dem auch sei, der verhängnisvolle Schuss vor dem Auswärtigen Amt, der von einem Soldaten zur Verteidigung eines von einem fackeltragenden Demonstranten bedrohten Offiziers abgegeben wurde, oder – wie man munkelte – von dem Verschwörer Lagrange absichtlich gefeuert wurde oder aber versehentlich losging, und die darauf folgende Niedermetzelung der unwiderstehlich vor wärtsdrängenden Menge lösten eine unberechenbare Kette aus. „On massacre le peuple“, das Volk, das in eine Falle gelockt worden war. Die Konzession des Königs war eine List. Das Volk muss Herr sein und sich weigern, mit weniger als voller Macht und voller Gerechtigkeit vorliebzunehmen. Der Leichenzug durch die Nacht in einer fackeltragenden Prozession entzündet das Feuer von neuem und sendet Männer auf die Barrikaden. So versammeln sich Studenten in der Redaktion von „L’Avant - Garde“ und hören Lagrange an, der sie zu verzweifeltem Kampf drängt. „On comprit qu’il s’agissait pour la démocratie de vaincre ou de mourir“, berichtete später „La Lanterne du Quartier Latin“.87 Ohne Führung und ohne einen Gesamtplan dringen Gruppen von Männern in Waffendepots und Baracken ein, eignen sich Waffen an, reißen Straßenpflaster auf, fällen Bäume, werfen Kutschen um und bauen Barrikaden.88 Die Ernennung von Maréchal Bugeaud, dem Sachverständigen zur Nieder werfung von Aufständen, war dazu angetan, die Wirkung aufzuheben, die die Berufung von Odilon Barrot und Thiers durch den König gehabt hatte, nachdem es Molé nicht gelungen war, eine Regierung zu bilden. Doch Bugeaud 85 86 87 88

Vgl. Crémieux, La Révolution de Février, S. 144 f., 155 f., 163, 168, 206 f.; Stern, Histoire de la Révolution, Band 1, S. 117–126. Lamartine, zit. in Stern, Histoire de la Révolution, Band 1, S. 224. La Lanterne du Quartier Latin, zit. in Crémieux, La Révolution de Février, S. 204. Vgl. auch Ménard, Prologue d’une révolution, S. 17 f. Vgl. Crémieux, La Révolution de Février, S. 185–199, 208; Bruhat, Les Journées de février 1848, S. 35–42; Garnier - Pagès, Histoire de la Révolution, Band 1, S. 361 ff.; Thureau - Dangin, Histoire de la Monarchie de Juillet, Band 7, S. 432 ff.; Normanby, A Year of Revolution, Band 1, S. 87 ff.

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bringt nicht mehr genügend Entschlusskraft auf, um den dringenden Bitten von Bürgern, die Offensive abzublasen, zu widerstehen. Es setzt ein rapider Zerfall der Armee ein. Ganze Einheiten ziehen ab und werden von der Nationalgarde vor dem Volkszorn geschützt. Einzelne Soldaten liefern ihre Waffen aus, oder sie werden ihnen abgenommen. Politische Führer gehen von Barrikade zu Barrikade und flehen die Aufständischen an, das Feuer einzustellen.89 Ein Triumphgefühl erfasst die Jünger der Revolution und findet seinen Ausdruck in dem Aufruf, die Tuilerien zu stürmen und die Revolution durch die Ausrufung einer Republik zu vollenden. Man würde sich nicht mehr mit der Auf lösung der Kammer und der Entlassung von Maréchal Bugeaud begnügen. Proudhon, der vorher skeptisch gewesen war, greift eine Andeutung von Flocon auf und entwirft das wirkungsvolle Plakat von einem Satz : „Louis - Philippe nous fait assassiner comme Charles X; qu’il aille rejoindre Charles X.“90 Andere Plakate rufen das Volk auf, sich nicht von „endormeurs“ täuschen zu lassen wie 1789, 1792 und 1830. Es ist charakteristisch, dass das Fourieristische Organ „Démocratie pacifique“ das erste revolutionäre Programm formuliert, das weit über das hinausgeht, was am Tag vorher von Ledru - Rollin, d’Alton - Shée und Louis Blanc gefordert worden war, nämlich allgemeine Amnestie, volle Versammlungsfreiheit, Wahlreform und die Gewährung von ausschließlichen Vollmachten an eine demokratisierte Nationalgarde in der Hauptstadt.91 Das neue Programm verlangt die Auf lösung der Kammer und die Einberufung der Urversammlungen nach dem Prinzip, dass jedes Mitglied der demokratischen Nationalgarde sowohl das aktive als auch das passive Wahlrecht besitze. Jeder Abgeordnete sollte Bezahlung erhalten. Zwar sollte das Eigentum geachtet werden, doch sollte das Recht auf Arbeit auf der Basis eines brüderlichen Zusammenschlusses von Industrieführern und Arbeitern garantiert werden. Eine heilige Allianz der Völker sollte den Krieg für immer abschaffen. Frankreich sollte sich zum Beschützer aller unterdrückten Nationalitäten proklamieren, mit dem Ziel, ihre volle Unabhängigkeit herbeizuführen : „Fraternité universelle ! ! !“92 Eine andere Version des verhängnisvollen Schusses am Boulevard des Capucines ereignet sich am Palais - Royal, als die Führer der Menschenmenge auf dem Weg zu den Tuilerien – unter ihnen die Verschwörer Flocon, Baume, de la Hodde, Albert, Pilhes, Caussidière, Chenu, Lagrange – versuchen, den Trup-

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Vgl. Stern, Histoire de la Révolution, Band 1, S. 151–162; Normanby, A Year of Revolution, Band 1, S. 87 ff.; Ménard, Prologue d’une révolution, S. 17 f. Proudhon, zit. in Crémieux, La Révolution de Février, S. 287; Stern, Histoire de la Révolution, Band 1, S. 162; Dolléans / Puech, Proudhon, S. 28. Vgl. Crémieux, La Révolution de Février, S. 288. Ebd.

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pen Waffen zu entwinden.93 Die Erregung des Volkes war jetzt auf ihrem Höhepunkt. Es war zu spät für den König, sich besiegt und bereit zu erklären, alle Forderungen des Volkes zu gewähren. Louis - Philippe war außerstande, gemäß dem Vorschlag von Thiers nach St. Cloud zu gehen, um dort 60 000 Mann zu sammeln und mit ihnen Paris anzugreifen. Das bedeutete Flucht, und damit wurde das Gespenst von Varenne heraufbeschworen. Der König geht hinaus, um seine Truppen zu inspizieren. Der Empfang ist derart, dass er es aufgibt, ohne die Zeremonie zu beenden. Armeechefs, Führer des Regimes, Abgeordnete, Vertraute versammeln sich im Arbeitszimmer des Königs zum Ableben der Monarchie. Es ist wieder genau wie am 10. August. Die Etikette wird nicht einmal mehr zum Schein aufrechterhalten, die Fassade zerbröckelt, die königlichen Damen, in Tränen aufgelöst, schluchzen in schrillen Tönen.94 „Die Welle steigt, die Welle steigt“,95 wiederholt Thiers. Crémieux befür wortet größere Konzessionen. Es ist noch einige Hoffnung. Der König gibt in allem nach : Thiers soll Premierminister sein, Bugeaud durch Maréchal Gérard ersetzt werden. Général Lamoricière berichtet, dass diese Konzessionen schon nicht mehr genügen. Das Volk verlangt mehr. Wenn es Abdankung ist, wonach sie schreien, die werden sie nie bekommen. Nur zusammen mit dem Leben des Königs.96 Beim Ertönen von Schüssen einen Augenblick später verkündet der König : „J’abdique.“97 Er wird gedrängt, die Abdankung zugunsten des kleinen Comte de Paris in seiner eigenen Handschrift niederzuschreiben – „Plus vite!“98 Im benachbarten Château d’Eau ist ein Kampf im Gange unter der Leitung von Führern der Geheimbünde – Grandménil, Jeanty - Sarre, Pilhes, Lagrange, Albert, Lacolouge, Fayolle, Caussanel, Tisserandot. Général Lamoricière und Maréchal Gérard kommen dorthin mit dem Dokument der Abdankung des Königs. Es ist zu spät. Die Aufständischen wollen eine Republik, keine Regentschaft. Ein Bericht sagt, Lagrange habe dem Maréchal das Papier abgenommen und sei damit verschwunden, so dass der Mob nichts von der Abdankung wusste. Die Plünderung des Palais - Royal erfolgte bald darauf.99

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Vgl. ebd., S. 299 f. Vgl. ebd., S. 307–310; Garnier - Pagès, Histoire de la Révolution, Band 2, S. 110–112. Crémieux, La Révolution de Février, S. 310. Ebd., S. 310–313. Crémieux, La Révolution de Février, S. 313. Vgl. auch ebd., S. 314. Vgl. ebd., S. 316. Zur Abdankung des Königs vgl. auch Bruhat, Les Journées de février 1848, S. 43–52; Stern, Histoire de la Révolution, Band 1, S. 170–173; Garnier - Pagès, Histoire de la Révolution, Band 2, S. 134 ff., 152 ff. Vgl. Stern, Histoire de la Révolution, Band 1, S. 173–179; Garnier - Pagès, Histoire de la Révolution, Band 2, S. 182 ff.

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5. Gewalt als revolutionäre Legitimität Die revolutionäre Doktrin lehrte, dass alle Macht an das Volk zurückfällt, wenn die bestehende Ordnung durch die spontane Erhebung des Volkes gegen tyrannische Unterdrückung gestürzt wird. Das Volk selbst nimmt die Dinge in die Hand und übt seine souveränen Rechte direkt aus, nicht durch irgendwelche Vertreter, und ohne dass irgendjemand seine Handlungen diktiert oder kontrolliert. Wer ist in der Ver wirrung und dem Chaos der Revolution das Volk ? Letzten Endes diejenige Macht, die wirksamer als die anderen Prätendenten ihren Anspruch darauf, das Volk zu sein, zur Geltung zu bringen vermag. Was ermöglicht es ihr, sich die Rolle des Volkes anzumaßen ? Die einleuchtende Antwort ist : zahlenmäßige Überlegenheit und bessere Bewaffnung; genauer gesagt, diese zur rechten Zeit am rechten Ort bereitzuhaben. Letzteres setzt einen hohen Grad von bewusster Planung voraus, mit anderen Worten ein wohldurchdachtes Komplott. Wo ausdrückliche Vorbereitung nicht stattfinden konnte, werden wohl Glück und Zufall die Ereignisse entscheiden. Jedoch in dem zufälligen Aufeinanderprallen von widerstreitenden Kräften, in dem keiner seine Ansprüche auf irgendein Gesetz zurückführen kann und alle sich auf Abstraktionen wie den Volkswillen, das nationale Interesse oder überlegene Tugend berufen, werden sogar die Behauptung der Macht und das ihr Erliegen vielleicht nicht weniger durch Imponderabilien – wie Selbstsicherheit oder ihr Fehlen, Stärke der Persönlichkeit, festes oder unsicheres Zupacken – als durch den tatsächlichen Besitz der Macht bestimmt. Glaube und Überzeugung spielen dabei eine große Rolle. Die Partei, die unter solchen Umständen schließlich die Oberhand behält, bleibt immer ver wundbar und den Angriffen von noch radikaleren revolutionären Elementen ausgesetzt, die im Namen der gleichen Prinzipien handeln, die die Revolutionsregierung selbst an die Macht gebracht haben : des Rechtes des Volkes auf Widerstand gegen Unterdrückung und auf Durchsetzung derjenigen Souveränität, die über jeder Regierung steht. Wer wird die Entscheidung treffen zwischen den Rebellen von gestern, die heute die Regierung sind, und den Rebellen von heute, die gestern von ihren erfolgreicheren Verbündeten übergangen wurden ? Eine ordnungsgemäße Volksabstimmung basierend auf dem allgemeinen Wahlrecht – wird man sagen. Wenn es jedoch Kräfte gibt, die von der Annahme ausgehen, wegen der Unreife des Volkes oder wegen vorhandener hemmender und fälschender Einflüsse sei es möglich, dass der zum Ausdruck gebrachte Volkswille nicht der wirkliche Volkswille ist, dann werden die protestierenden Kräfte, die sich für die Treuhänder des eigentlichen Volkswillens halten, sich berechtigt fühlen, die revolutionäre Doktrin gegen die aus einer allgemeinen Wahl her vorgegangene Regierung anzuwenden. Da ihr Anspruch völlig abstrakt ist, ist er in

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Wahrheit ein Anspruch auf das Recht, Gewalt anzuwenden – diesmal, zumindest dem Anschein nach, gegen das Prinzip des allgemeinen Wahlrechtes. Ein hohes Maß von messianisch - totalitärer Überzeugung ist notwendig, um die Hemmungen zum Schweigen zu bringen, die der Gedanke einer Auf lehnung gegen eine Volkswahl erzeugen muss. Als General Gourgaud, der entsetzt war über das Eindringen des Mobs in die Kammer, versuchte, die Aufständischen aufzuhalten mit dem Hinweis auf den geheiligten Charakter des Ortes, erwiderte ihm der Jäger Cochet, seine, des Rebellen, Vorfahren hätten diese Türen zwanzigmal vorher durchschritten. Das Volk könne noch einmal in diese „Kammer der Korrupten“100 einbrechen. Capitaine Dunoyer springt mit wehender Flagge und gezücktem Schwert auf die Tribüne und donnert : „Es gibt hier keine andere Autorität mehr als die der Nationalgarde, [...], repräsentiert von den vierzigtausend Mann, die dieses Gebäude umgeben.“101 Ledru - Rollin fordert „eine provisorische Regierung, die nicht von der Kammer, sondern vom Volke ernannt wird“.102 Als nach Lamartines tönender Tirade über die schreckliche Majestät des Schicksals, das die Großen demütigt und die Niederen erhebt, aller Hoffnung auf eine Regentschaft ein Ende gesetzt ist und die unglückliche Prinzessin Hélène, tränenüberströmt, mit dem kleinen Comte de Paris aus der „Chambre des députés“ hinausgeleitet wird, erfolgt die Abstimmung der Abgeordneten über die Ministerliste der neuen Provisorischen Regierung natürlich nicht ordnungsgemäß, sondern wird von Zurufen, Pfeifen, Waffengerassel und Händeklatschen seitens der Eindringlinge in die Kammer und ihre Galerien begleitet.103 Es bestand kein wirklich entscheidender Grund dafür, warum der Wille des in Revolution befindlichen Volkes von der Nationalversammlung aus verkündet werden sollte. Tatsächlich gab es einen Ort, der einen stärkeren traditionsgemäßen Anspruch darauf hatte, und das war das „Hôtel de Ville“, der Sitz der glorreichen Kommune in der Großen Revolution. Jemand hatte inzwischen auch bereits einen Versuch gemacht, sich im „Hôtel de Ville“ als Haupt der Revolutionären Volksregierung einzusetzen. Capitaine Jourdan von der

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Stern, Histoire de la Révolution, Band 1, S. 220. Vgl. ebd., S. 221. Ebd., S. 223. Vgl. zum Vorfall insgesamt ebd., S. 219–223. Regnault, Histoire du Gouvernement Provisoire, S. 56, behauptet, das Eindringen in die Kammer sei im Voraus zwischen Ledru - Rollin und Caussidière im Auftrag der Geheimbünde ausgemacht worden. Regnault war Ledru - Rollins Kabinettschef im Innenministerium. Vgl. Lamartine, Histoire de la Révolution, Band 1, S. 149 ff.; Quentin - Bauchart, Lamartine : Homme politique, S. 145 ff.

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VIII. Legion der Nationalgarde, „fabricant de vignettes pour les confiseurs“,104 begab sich um 12 :30 Uhr mit zwei Offizieren der Legion, drei Studenten der „École polytechnique“ und einem anderen Studenten, Wilfred de Fonvielle, von der „Place de la Bastille“ zum „Hôtel de Ville“. Obwohl das Gebäude noch von Truppen umgeben war, gelang es dem findigen Hauptmann, hineinzukommen und sich als Überbringer einer offiziellen Botschaft von höchster Wichtigkeit zum Präfekten, Monsieur de Rambuteau, führen zu lassen. Diesem verkündete er, die königlichen Truppen hätten überall ihre Stellungen verlassen und die Autorität des Königs sei zusammengebrochen; daher sei es die Pflicht des Präfekten, den Platz zu räumen. Trotz der Proteste einiger Mitglieder des „Conseil Général de la Seine“ über diese Unverschämtheit – mit welchem Recht ? –, gab der Präfekt sofort auf. Er wollte jedoch seinen Untergebenen keinen Befehl erteilen. Wenn Capitaine Jourdan jetzt der Herr ist, soll er sich selbst Gehorsam verschaffen. Und er geht. Monsieur de Rambuteau muss auch an die Tage der Kommune gedacht haben. Jourdan verkündete, er sei bereit, die Befugnisse der Provisorischen Revolutionsregierung zu übernehmen. Als die wenigen Ratsmitglieder, die zufällig anwesend sind, gegen dieses Vorgehen protestieren, macht Flotard den Vorschlag, unverzüglich eine Versammlung des „Conseil Municipal“ einzuberufen, um die Ver waltung der Hauptstadt zu übernehmen. Etwa ein Dutzend Ratsmitglieder versammelten sich, umgeben von einigen hundert bewaffneten Revolutionären. Jourdan machte den Versuch, den Vorsitz zu übernehmen, wurde jedoch gezwungen, ihn an Dr. Thierry abzutreten. Delestre, der im XII. Arrondissement sehr aktiv gewesen war, schlug vor, man möge eine Revolutionskommune proklamieren. Die Nachricht über die Proklamation einer Provisorischen Regierung in der Kammer lag noch nicht vor. Es folgte ein langer Wortstreit, und inzwischen begab sich ein besonderer Unterausschuss in einen Nebenraum, um die Proklamation an das Volk abzufassen. Während die Debatte um den vorgeschlagenen Schritt noch heiß hin - und hertobte, traf völlig außer Atem eine parlamentarische Delegation, bestehend aus Garnier - Pagès, de Beaumont und Malleville, ein und überbrachte die Nachricht, dass Louis-Philippe eine Regentschaft proklamiert habe. Es erhoben sich wilde Proteste gegen „corrompeurs“ und „endormeurs“, und Rufe gegen Regentschaft und Königtum wurden laut. Als de Beaumont ungeschickter weise erwähnte, er habe an jenem Morgen die Ehre gehabt, Seiner Majestät aufzuwarten, trat ein Mann aus dem Volke vor, ein typischer „quarante - huitard“, mit langem rotem Bart und einer großen Glatze, Gewehr und Munitionsgürtel quer über die Brust geworfen, und verlangte mit Donnerstimme die Todesstrafe für Louis - Philippe. Das souveräne Volk konnte nur Verachtung fühlen für die Anmaßung, mit der der gestürzte 104

Stern, Histoire de la Révolution, Band 1, S. 243.

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Tyrann über die Regierung Frankreichs verfügen wollte. Um den revolutionären Eifer zu dämpfen, machte der Vorsitzende Thierry der Versammlung eilends den Vorschlag, für die Abschaffung der Todesstrafe für alle Verbrechen im neuen Frankreich zu stimmen. Es sollte keine Revolutionskommune und keinen Wohlfahrtsausschuss geben. Die alte „mairie“ wurde wieder eröffnet und Garnier - Pagès als „maire“ eingesetzt.105 In all der schrecklichen Ver wirrung, während neue Wogen von Menschen sich gegen diejenigen wälzten, die ihnen vorangegangen waren, und improvisierte öffentliche Versammlungen in Korridoren und Amtsräumen stattfanden, hielten Lamartine und die Provisorische Regierung, flankiert von Arbeitern, ihren zeremoniösen Einzug. Die Regierung versuchte, sich in dem Raum, in den sie schließlich gelangte, zu verbarrikadieren, doch ihre selbsternannten Wächter wollten sie nicht allein beraten lassen. Bald danach trug eine neue Menschenmenge auf ihren Schultern Louis Blanc und Albert herein, die von der „Réforme“ als Minister designiert worden waren, die aber vom „National“ und den Königsmachern in der „Assemblée“ nicht anerkannt wurden. Die fackelerleuchtete Prozession wurde von Lagrange empfangen, der sich zum Gouverneur des „Hôtel de Ville“ proklamiert hatte. Nachdem die designierten Minister gewaltsam in den Regierungsraum eingedrungen waren, wurden sie von den Mitgliedern der Provisorischen Regierung eiskalt empfangen : „Que vient - il faire ici ?“106 Als Louis Blanc sich an den ehr würdigen Dupont de l’Eure und an Arago wendet – „Nun, lasst uns beraten.“ –, antwortet Arago : „Nicht bevor Sie den Raum verlassen haben.“107 Diejenigen, die Louis Blanc ernannt hatten, waren nicht dasselbe tugendhafte Volk, das Arago und seine Freunde als Provisorische Regierung proklamiert hatte. Schließlich wurden Louis Blanc, Albert und Flocon als Staatssekretäre kooptiert.108 Eine Revolution hat zwei Phasen : die Erhebung gegen die Tyrannei und die Einsetzung einer neuen Regierung. Man kann sagen, während auf die erste das Prinzip „Sauve qui peut“ zutrifft, erfordert die zweite theoretisch die freie Handlung des einzig rechtmäßigen Souveräns, des Volkes, an den Wahlurnen. Irgendeine Regierung muss jedoch, wenn auch nur provisorisch, die Lücke ausfüllen, die durch das Abtreten des alten Systems entstanden ist. Als Hauptspre105

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Vgl. Stern, Histoire de la Révolution, Band 1, S. 242–244; Crémieux, La Révolution de Février, S. 275 ff., 419–435; Garnier - Pagès, Histoire de la Révolution, Band 2, S. 93 ff., 171 ff. Quentin - Bauchart, Lamartine : Homme politique, S. 165. Ebd. Vgl. zum gesamten Absatz Crémieux, La Révolution de Février, S. 451 ff.; Garnier Pagès, Histoire de la Révolution, Band 2, S. 287 f.; Stern, Histoire de la Révolution, Band 1, S. 249–256; Quentin - Bauchart, Lamartine : Homme politique, S. 153 ff., 159–161; Bruhat, Les Journées de février 1848, S. 60–66.

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cher der neuen Regierung verkündet Lamartine, „die Republik ist provisorisch von dem Volk von Paris angenommen“,109 ohne dass das Volk von Paris beabsichtigt, seine Meinung an die Stelle des Willens aller Bürger Frankreichs zu setzen. Diese werden bald in Urversammlungen besonders aufgerufen werden, um über die endgültige Form der Regierung zu entscheiden. Die revolutionären Aktivisten drängten voller Ungestüm auf sofortige Ausrufung der Republik. Eine neue Kolonne von Demonstranten aus dem „Quartier Latin“ mit dem Studenten Lavarenne an der Spitze stürmte das „Hôtel de Ville“, um die Provisorische Regierung zu zwingen, die Republik auszurufen. Lagrange versuchte grollend, jedoch ohne Erfolg, die Eindringlinge aufzuhalten, ebenso wie Arago und Lamartine versucht hatten, Louis Blanc und Albert draußen zu halten.110 Die revolutionären Extremisten betrachteten die Republik als ein absolutes Ziel, das außerhalb jeder Diskussion stand und nicht Angelegenheit einer Abstimmung war. Ihre Errichtung zum Gegenstand der Debatte und Abstimmung zu machen, bedeutete, die absolute Gültigkeit dieses Ziels anzuzweifeln. Als Lamartine herauskam, um eine Rede an das Volk zu halten, wurde er mit den Rufen empfangen : „Ruft die Republik aus“, „mit welchem Recht macht Ihr Euch zur Regierung ?“111 Denn in der Tat, wenn ihr nicht genug Überzeugung in euch tragt, eine Republik auszurufen, mit welchem Recht habt ihr dann eine Revolution gemacht und eine provisorische Regierung aufgestellt ? Ihr seid ja noch Royalisten, noch von königlicher Legitimität besessen. „Ihr fragt mich, mit welchem Recht wir die Regierung des Volkes ergriffen haben“, ruft Lamartine aus. „Ich will es Euch sagen. Mit dem Recht des Blutes, das fließt, des Feuers, das unsere Häuser verzehrt, der Nation ohne Oberhaupt, des Volkes ohne Führer, ohne Weisung und morgen vielleicht ohne Brot! Mit dem Recht derjenigen, die die größte Hingabe und den größten Mut zeigen ! Mit dem Recht derjenigen, die sich im Interesse des Vaterlandes nicht fürchten, sich selbst dem Verdacht, ihren Kopf dem Schafott des Königs zu seiner Rache auszusetzen ! Dieses Recht haben wir in unserem Gewissen gefunden, in den Gefahren, die wir auf uns nahmen, in der Stimme des Volkes, die uns rief. Schließlich habt Ihr alle das gleiche Recht, Euch dem Gemeinwohl zu weihen. Kommt und beteiligt Euch, Ihr seid die Herren, doch verlängert nicht den ‚scrutin terrible‘, das ist unmöglich in all dem Blut und Feuer.“112 Die Menge fuhr fort, lärmend nach einer sofortigen Republik zu verlangen. Woraufhin Lamartine ihnen einen Vortrag darüber hielt, was die Republik 109 110 111 112

Garnier - Pagès, Histoire de la Révolution, Band 2, S. 290. Vgl. auch ebd., S. 290 ff. Vgl. Crémieux, La Révolution de Février, S. 456–458. Ebd., S. 458. Crémieux, La Révolution de Février, S. 459; Lamartine, Histoire de la Révolution, Band 1, S. 301 f.

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bedeutet : „Sie ist die Regierung der Vernunft [...], der Gerechtigkeit.“113 Fühlten sie sich reif genug, eine Regierung zu haben, die nur aus ihrer Vernunft entsprang ? Fühlten sie sich tugendhaft genug und gerecht genug, großmütig genug, ihren Feinden gegenüber nicht rachsüchtig zu sein ? Sie fühlten wirklich all das. Lamartine versicherte ihnen, in diesem Fall würden sie ihre Republik bekommen.114 Nur dürfe sie nicht im Dunkel der Nacht, in Ver wirrung und Empörung, geraubt werden. Paris kann nur erklären, was es bevorzugt, es kann die ruhmreiche Initiative ergreifen, doch es muss den 36 Millionen anderer Bürger das Recht lassen, die Pariser Entscheidung zu ratifizieren oder zu ver werfen – „dans le suffrage universel, première vérité et seule base de toute république nationale“.115 Der Kampf dauerte lang, der Lärm verschlang die Stimmen der Sprecher, und neue Menschenmengen drängten sich ständig heran. Bis plötzlich eine riesige Inschrift von einigen Demonstranten quer über die Straße gespannt wurde : „La République une et indivisible est proclamée en France.“116 Das half Ledru - Rollin, seine Kollegen zu bestimmen, die Republik „klar, fest und sofort“117 auszurufen, vorbehaltlich der Ratifikation durch das Volk. Die Provisorische Regierung hielt sich, blieb aber in den ersten Tagen nicht ganz der alleinige Herr. Die Extremisten, die sich in der „Salle St. Jean“ versammelt hatten, stellten eine Körperschaft auf, die sie „Volksdelegierte“ nannten und die aus je einem Vertreter für jedes „arrondissement“ und je zweien für jede „banlieue“ bestand. Diese Vertreter sollten in Permanenz versammelt sein und im Namen des Volkes über die Regierungsberatungen wachen. Der Vorstand, dessen Vorsitz der Kaufmann Drevet „père“ führte, umfasste drei Schriftsteller, zwei Apotheker, einen Studenten, einen Künstler, einen Arzt, einen Arbeitsinspektor, einen Mechanikermeister, einen Fabrikanten und andere Personen ähnlicher Berufe. Die Regierung weigerte sich, die „Volksdelegierten“ anzuerkennen. Sie fuhren trotzdem einige Tage lang mit ihren Sitzungen fort und verschwanden dann.118 Die Führer der Geheimbünde, Caussidière, Sobrier, Cahaigne und der Agent Provocateur Chenu, begaben sich inzwischen zum Polizeihauptquartier, 113 114 115 116 117 118

Crémieux, La Révolution de Février, S. 459; Lamartine, Histoire de la Révolution, Band 1, S. 303 f. Vgl. Crémieux, La Révolution de Février, S. 459; Lamartine, Histoire de la Révolution, Band 1, S. 304 f. Crémieux, La Révolution de Février, S. 460; Lamartine, Histoire de la Révolution, Band 1, S. 306. Crémieux, La Révolution de Février, S. 464. Vgl. auch ebd., S. 460–463. Ebd. Vgl. Crémieux, La Révolution de Février, S. 461 f.; Stern, Histoire de la Révolution, Band 2, S. 16.

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um eine revolutionäre Volkspolizei anstelle der offiziellen Polizeimacht einzusetzen. Die neue Polizei sollte Arbeiterhemden tragen. In einer auf eigene Faust veröffentlichten Proklamation erklärte Caussidière : „Um über die Ausführung der von der Provisorischen Regierung zu treffenden Maßnahmen zu wachen, hat der Volkswille auch die Bürger Caussidière und Sobrier zu seinen Vertretern in der Polizei bestimmt.“119

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Vgl. Crémieux, La Révolution de Février, S. 427. Vgl. auch ebd., S. 425–427; Bruhat, Les Journées de février 1848, S. 63 f.

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II. Die miss glück te Revo lu ti on – eine Kari ka tur der Gro ßen Revo lu ti on 1. Nichts ist so trügerisch wie der Erfolg Was Chesterton über Glaubensbekenntnisse und Ideologien sagte, darf vielleicht auf Revolutionen angewandt werden – „nothing fails like success“. Vom Gesichtspunkt der Anhänger der totalen Revolution war es ein Unglück, dass das königliche Regime sich sofort und vollständig ergab und das Prinzip der Volkssouveränität offenbar allgemein akzeptiert wurde. Eine totale Revolution braucht unerbittlichen Widerstand, verräterische Komplotte mit einem nationalen Feind, konterrevolutionäre Aufstände, kurz : einen Ausnahmezustand, um ihr Programm voll ausführen zu können. Solange der Sieg der Februarrevolution noch frisch war, erhob sich nicht eine Stimme gegen das allgemeine Wahlrecht als die einzige Basis für konstitutionelle Legitimität und konstitutionelle Freiheiten und Garantien. Alle Parteien wetteiferten miteinander in begeisterten Treuebekenntnissen zu den demokratischen Prinzipien. Wie wir sehen werden, waren vage Parolen der Sozialreform in allen Parteiprogrammen enthalten, und sie wurden im Prinzip von jedem Sprecher vorgetragen. Angesichts solcher Einmütigkeit war das einzig Erforderliche die Abhaltung einer allgemeinen Wahl – zum ersten Mal in der Geschichte die Ver wirklichung des Prinzips der allgemeinen, gleichen und geheimen Wahl –, und zwar so bald wie möglich. Die Volkssouveränität, eine in ihrem Rechtsanspruch ebenso unerschütterliche Basis wie das Gottesgnadentum in den Augen seiner Anhänger, sollte an die Stelle des Julisystems mit seiner betrügerischen Anmaßung und seinem prinzipienlosen Opportunismus treten. Doch die demokratische Form war nicht alles; Sozialreform war der glühende Wunsch der wahren Revolutionäre. Vom orthodox - demokratischen Standpunkt aus konnte die Sozialreform nur als eine Funktion oder Emanation der Volkssouveränität angesehen werden. Sie konnte weder kommen, bevor nicht das Volk demokratisch gesprochen hatte, noch konnte sie unabhängig durchgeführt werden, gleichsam auf einer getrennten und besonderen Ebene, die sich von der einer frei erreichten demokratischen Entscheidung des Volkes unterschied. Doch es bestand auch eine andere Tradition. Für deren Anhänger war die Große Französische Revolution nichts anderes als eine Lektion im Klassenkampf und in der Notwendigkeit einer terroristischen Diktatur. Das Ächzen und Zähneknirschen und sogar die grimmigen moralischen Antinomien, die das Schauspiel der sich gegenseitig zerfleischenden Führer der Revo-

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Die missglückte Revolution – eine Karikatur der Großen Revolution

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lution aufdeckte, wurden von ihnen als ein integraler Teil des Dramas der Revolution hingestellt – so unergründlich und Ehrfurcht einflößend in seinem Aufschwung, wie es schrecklich war in seinem Verfall. Die Anhänger dieser Tradition hatten ihr Leben der Idee der Revolution und ihrer aktiven Vorbereitung geweiht. Zu Beginn der Revolution von 1848 gedachten die Menschen voller Ehrfurcht der tragischen Ereignisse von 1793, doch beglückwünschten sie sich, dass sie ihnen erspart blieben. Und in der Tat schien für sie Anfang 1848 auch wirklich keine Notwendigkeit zu bestehen. Es war kein Hof mehr da, der mit fremden Monarchen intrigiert hätte. Die Priester weihten die „Freiheitsbäume“, anstatt die Bauern zu einer neuen Vendée aufzureizen. Es gab keine Emigration und kein Koblenz, und ehemalige Würdenträger akzeptierten entweder bescheiden ihre Entlassung oder leisteten bereitwillig den Treueid auf die Republik.120 Ein alter Verschwörer und Aufrührer wie Raspail, der sich in beinahe paranoischer Weise dem Misstrauen und Groll hingab, konnte am 12. März in seiner Zeitung mit dem erschreckenden Titel „Ami du Peuple“ schreiben : „Den Terror von 1793 heute, im Jahre 1848 ! Er hat keinen Sinn mehr; er würde nur noch grässliche Tollheit sein, ein Drama, wie Nero es sich ausdenken könnte, Rom in Brand gesetzt als Neuauf lage des Brands von Troja. Terror gegen wen? Wahrlich gegen uns selbst, da wir alle gleich denken. Der Priester, der 1793 errötete, wenn er gestand, dass er geschworen hatte, leistet er nicht heute mit beiden Händen auf dem Herzen den Eid auf die Republik ? Diese Republik, deren Programm im Evangelium steht, im ersten Kapitel der Apostelgeschichte ! Die Republik, die allein den Traum der Apokalypse ver wirklichen und das Tausendjährige Reich auf Erden bringen kann, indem sie die wunderbare Bruderschaft erneuert, die sich unter den Jüngern zu Füßen des Kreuzes Christi, des erhabensten Republikaners in der Geschichte, gebildet hatte. Wer hat jenes Goldene Zeitalter des Christentums ausgelöscht, wenn nicht das Königtum mit seiner Teilung in Klassen und Stände ? [...] Christentum – das ist Freiheit in Gott; Monarchie – das ist die Sklaverei des Heidentums. Durch die Republik hat somit das Christentum gesiegt. Der Adel, der wie wir im Schmelztiegel des Leidens geläutert wurde, hat auf den Bergen des Exils verstanden, was wir auf dem Stroh der Gefängnisse begriffen, wie lieblich die Luft der Freiheit im eigenen Vaterland ist, wie sehr die Sonne Frankreichs das Herz erwärmt und es dazu bewegt, das eigene Land, das Heimatland, zu lieben, sogar wenn es eine Stiefmutter ist ! Wie viel mehr Adel und Größe liegt in dem Titel eines französischen Bürgers, verglichen mit dem Titel eines ausländischen Barons; [...] sich in die Reihen der Bürger und Soldaten einordnen ! [...] Lasst den Fremdling 120

Vgl. Garnier - Pagès, Histoire de la Révolution, Band 3, S. 119–150; Band 4, S. 140–186.

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kommen und unser Familienfest stören ! Und Koblenz und Valmy werden sich vereinen wie gute Franzosen, um ihn zu empfangen. Vierzehn Tage lang habe ich jetzt überall Franzosen gesehen und nirgends Feinde. Lasst eine Guillotine inmitten eines Volkes von Brüdern ihr Werk verrichten, wenn ihr es wagt ! Man wird euch nach Bicètre ( Irrenhaus ) bringen, wie es am letzten Karnevalstag üblich ist.“121 Es war diese Stimmung, die einem Spion und Agent Provocateur wie de la Hodde das Leben rettete. Das geheime Tribunal, bestehend aus Führern von Geheimbünden, die er jahrelang betrogen hatte, bot ihm die Wahl, sich zu erschießen oder Gift zu nehmen, und ließ ihn dann auf Alberts flehentliches Bitten hin unbestraft entkommen.122 Noch Ende März wurde ein konser vatives Blatt wie das „Journal des Débats“ ganz lyrisch ob des „unerhörten Schauspiels“, das je ein Land oder eine Zeit geboten hätte – die Sanftmut, die „eine Gesellschaft von 35 Millionen [...] livrée à elle - même“ bewiesen habe, ihr eigener Herr und doch so zivilisiert, so menschlich !123

2. Die lähmende Wirkung des Revolutionsmythos Lasst das Volk sprechen, das Volk – in seiner Gesamtheit; und was immer sein Spruch sein mag, ob weise oder töricht, es ist die Stimme Gottes, die Stimme der Vernunft und der Gerechtigkeit ! Doch gab es einige beunruhigende Fragen. Sollten alle die gleiche Stimme haben – diejenigen, die noch gestern das Volk in Knechtschaft hielten, sich durch seine Plackerei bereicherten, Gewalt und List gebrauchten, um den Selbstausdruck des Volkes zu verhindern, und diejenigen, die seit Jahren von der Republik träumten, für sie auf den Barrikaden kämpften, ihrethalben die besten Jahre ihres Lebens hinter Schloss und Riegel zubrachten ? Und soll man einem Volk, das Generationen hindurch von Komplizen und Vertretern der Ausbeuter niedergehalten wurde und das noch gehemmt ist durch das Prestige von Standespersonen, genügend Reife und Selbstsicherheit zutrauen, um frei zu sprechen ? Wird es überhaupt wagen, von

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122 123

Duveau, Raspail, S. 37 f.; Stern, Histoire de la Révolution, Band 2, S. 164 f. ( Fußnote ). Siehe auch Falloux, Mémoires d’un royaliste, Band 1, S. 288 f.; Garnier - Pagès, Histoire de la Révolution, Band 3, S. 34, Odilon Barrot an Garnier - Pagès am 24. Februar : „Nul d’entre nous ne se soucie de suivre les errements des émigrés ni même les exemples des Girondins. [...] Anathème à qui allume la guerre civile.“ Vgl. Stern, Histoire de la Révolution, Band 2, S. 181 ff.; Garnier - Pagès, Histoire de la Révolution, Band 3, S. 305 f. Stern, Histoire de la Révolution, Band 2, S. 175 ( Fußnote ).

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seinen Freiheiten und Rechten vollen Gebrauch zu machen ? Es war nur natürlich, dass die Glaubenseiferer die Führung derjenigen übernehmen wollten, die sie für ungenügend erleuchtet hielten. Unter den gewöhnlichen Umständen eines freien und wohlgeordneten Regimes ist es üblich, dass Einzelpersonen und Gruppen, Journalisten und Politiker, Parteien und Organisationen öffentlich den Anspruch geltend machen, ihre Mitbürger zu belehren. Die Revolutionstradition hingegen postuliert eine ausschließliche Wahrheit, das Recht auf bewaffneten Widerstand gegen Unterdrückung und das Prinzip der absoluten Überlegenheit direkter Volksaktion über jede bestehende repräsentative Körperschaft. So lag es nahe, dass jede derartige Gruppe von Führern des Volkes leicht in den Verdacht geriet, dass sie zu gewaltsamen Mitteln der Usurpation greifen würde. Alle erinnerten sich an die Große Revolution, an ihre Klubs, die jakobinische Gesellschaft, die historischen Tage, die direkte Volksaktion – von einer Avantgarde der revolutionären Elite geleitet – auf dem Höhepunkt einer Krise und vor allem an die Diktatur des Wohlfahrtsausschusses und die Repräsentanten „en mission“. Die Getreuen der Revolution waren durch den Respekt vor dem Prinzip des allgemeinen Wahlrechtes und durch die allgemeine versöhnliche Atmosphäre zu sehr gehemmt, um zu Gewaltmaßnahmen zu greifen. Doch die von den extremen Elementen heraufbeschworenen Erinnerungen an die Große Revolution und die von ihnen im Munde geführte revolutionäre Rhetorik waren dazu angetan, die ängstlichen Gemüter zu erschrecken und den übelwollenden Gegnern Munition zu liefern. Als Produkt einer revolutionären Erhebung und ohne die Verfügung über eine zuverlässige Wehrmacht war die Provisorische Regierung äußerst ver wundbar und konnte leicht einem anderen Volksaufstand zum Opfer fallen, der sich der gleichen Schlachtrufe bediente, wie die Menge sie rief, die sie an die Macht gebracht hatte. Infolgedessen musste die Provisorische Regierung alles daran setzen, um die bedingungslose Unterstützung einer Wehrmacht zu sichern; und sie musste auch mit allen möglichen Mitteln versuchen, die bewaffneten Kohorten von revolutionären Aktivisten, die sich jeden Augenblick gegen sie wenden konnten, in ihrer Einigkeit zu unterminieren und ihre Kräfte zu zersetzen. Da sie mit den Erinnerungen an den Großen Wohlfahrtsausschuss aufgewachsen waren, spielten dieses und jenes Mitglied der Regierung immer wieder mit dem Gedanken, sich mit Hilfe des Volkes zum wirklichen Führer des revolutionären Volkes zu machen, zum diktatorischen Verteidiger der revolutionären Errungenschaften gegen Anarchie oder Konterrevolution. Sie versuchten, unter den revolutionären Aktivisten eine persönliche Klientel für sich aufzubauen. In einer interessanten Randbemerkung stellt Daniel Stern Betrachtungen darüber an, dass von den entscheidenden Gestal-

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ten des Februarregimes eine nach der anderen sich die Gelegenheit zur Ergreifung der diktatorischen Macht entgehen ließ, als ob sie „von einer okkulten Gewalt gelähmt“124 gewesen seien. Lamartine wurde unablässig von bürgerlichen und konser vativen Elementen umworben, die ihm nahelegten, sich zum diktatorischen Hüter von Gesetz und Ordnung zu machen. Die jakobinischen Elemente im Ministerium des Innern und in den Polizeiämtern, insbesondere Caussidière, der George Sand, Barbès, Jules Favre, Carteret und andere ins Vertrauen gezogen hatte, drangen in Ledru - Rollin, den sie wie für die Rolle eines Danton geschaffen hielten, sich an die Spitze eines Wohlfahrtsausschusses zu stellen. Viele hegten die Erwartung, dass Ledru - Rollin anlässlich der Demonstration vom 16. April zur Diktatur gelangen würde. Stattdessen protestierte er leidenschaftlich gegen die Usurpation seines Namens durch die Faktionen. Er wolle lieber sterben als „ihrer schrecklichen Tyrannei erliegen“ und seine Kollegen verraten. Louis Blanc hätte am 28. Februar die diktatorische Macht an sich reißen können, als 12 000 Mann für ein Ministerium des Fortschritts zur „Abschaffung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen“ und zur Einführung einer „Organisation der Arbeit“ demonstrierten.125 Es bot sich ihm dann eine weitere Gelegenheit am 17. März. Sogar Blanqui, der der Schrecken aller Bürgerlichen war, ließ seine Chance ungenutzt verstreichen, als er unmittelbar nach der Ausrufung der Provisorischen Regierung aus dem Gefängnis in Paris eintraf und die Provisorische Regierung im „Hôtel de Ville“ schwer bedroht war durch den Flaggenstreit126 – die rote Fahne, mit den Worten Louis Blancs : „emblème de l’ardente charité“, Symbol des „mystère suprême de l’amour divin“,127 und daher die wahre Farbe der siegreichen Rebellion des Volkes, die eine neue Ära in der Geschichte einleitete; oder die Trikolore, die zwar von der Julimonarchie profaniert worden war, doch – mit Lamartines Worten – die Flagge war, unter der die siegreichen Armeen des revolutionären Frankreich dessen Ideale in die entferntesten Winkel Europas trugen.128 Daniel Stern ( richtiger Name : Marie d’Argoult ) fügt hinzu, dass General Cavaignac nach der Unterdrückung des Juniaufstandes seine unbegrenzten Vollmachten aufgegeben habe, sei ein Beispiel äußerster Entsagung. Sie weist dann auf den Präsidenten Louis- Napoleon Bonaparte hin, der der Versuchung widerstand, sich zum Tyrannen zu machen. ( Sie schrieb im Jahre 1850.) Ihrer Ansicht nach war diese Ehrfurcht vor demokratischer Prozedur und die Fähigkeit, der Verlockung durch die höchste Macht zu widerstehen, zurückzuführen 124 125 126 127 128

Stern, Histoire de la Révolution, Band 2, S. 47. Ebd., S. 46. Zum Flaggenstreit vgl. ebd., S. 18–22; Garnier - Pagès, Histoire de la Révolution, Band 3, S. 57–61, 88 ff. Stern, Histoire de la Révolution, Band 2, S. 19 ( Fußnote ). Garnier - Pagès, Histoire de la Révolution, Band 3, S. 59.

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auf den „Genius des neunzehnten Jahrhunderts“, der die zynische Usurpation diktatorischer Macht durch einen Einzelnen nicht duldete und jede Versuchung, sie zu ergreifen, im Keim erstickte.129 Die Erinnerung an die Französische Revolution bildete einen Anreiz, es den glorreichen Vorfahren gleichzutun, aber sie hatte auch eine lähmende Wirkung auf die Tatkraft der Menschen. Die Hypnose der Erinnerung raubte ihnen die Spontaneität. Der fast krankhafte Drang, frühere Situationen zu wiederholen, die stillschweigende Überzeugung, dass es dem klassischen Beispiel der Revolution nachzueifern galt, dass eine deterministische Logik sich durchsetzen müsste, brachte die handelnden Personen von 1848 dazu, dauernd zurückzuschauen und sich an den Vätern zu messen. Anstatt von Urkräften zum Handeln getrieben zu werden, überlegten sie. Sie verloren die Selbstsicherheit eines untrüglichen Instinkts. Und so kam es, dass, wie Marx es ausdrückte, jede Phase der Februarrevolution und jeder ihrer Führer zur Karikatur von Vorbildern der Jahre 1789–1793 wurde. Es gab einerseits die rechtmäßige, wenn auch provisorische Revolutionsregierung, die ihre Pflicht der Aufrechterhaltung von Gesetz und Ordnung und der Verhütung von Eingriffen in das normale Funktionieren einer zivilisierten Gesellschaft erfüllte. Andererseits gab es Gruppen von Männern, die entschlossen waren, ihren exklusiven Ideen zum Sieg zu verhelfen und die Versuche von Gegnern zurückzuschlagen, die den Fortschritt aufhalten und den Rädern der Geschichte Bremsen anlegen wollten. Die Trennungslinien waren ziemlich verschwommen, wofür ein oder zwei Beispiele angeführt seien. Wie wir sahen, setzte sich Caussidière zum Polizeipräfekten ein. Mehr als drei Wochen lang war seine Stellung der Provisorischen Regierung gegenüber recht zweideutig. Er verdankte seine Einsetzung niemand anderem als sich selbst, seiner revolutionären Vergangenheit und seinem Eifer. Sollte er die Polizeimacht der Republikanischen Regierung sein und ihren Anordnungen als ein Untergebener gehorchen, oder war er da als eine Emanation des Volkswillens und als Wächter der Rechte und Interessen des Volkes, falls nötig sogar gegen die Regierung ? Bald nachdem die Kämpfe vorbei waren, wurde Bethemont von Garnier - Pagès in seiner Eigenschaft als „maire“ zu Caussidière gesandt mit der Anweisung, die Barrikaden, die er um sein Hauptquartier herum errichtet hatte, zu entfernen, da sie den öffentlichen Verkehr störten. Caussidière behandelte den Regierungsabgesandten, wie er es gewohnt war, mit Spott und Forschheit und schickte ihn unverrichteter Dinge zurück. Die konser vativen Elemente in der Regierung erschraken und hielten voller Besorgnis geheime Sitzungen ab, in denen sie erwogen, eine neue Regierung aufzustellen mit Lamartine, den man darüber gar nicht zu Rate gezogen hatte, als einzigem 129

Vgl. ebd. S. 47.

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Oberhaupt, um mit Caussidière und seinen Prätorianern fertig zu werden. Jedoch bis zum 17. März hatte Ledru - Rollin seine Kollegen dazu gebracht, dass sie Caussidière offiziell anerkannten.130 Dieser behielt dennoch eine besondere bewaffnete Truppe von etwa 2 700 Mann, die „Gardes du Peuple“ oder „Montagnards“, die einen Tagessold von Fr 2,25 erhielten und blaue Blusen, einen roten Gürtel und eine rote Krawatte trugen. Sie nannten ihren Anführer „Soleil de la République“. Caussidières exaltierter Freund Sobrier etablierte sich mit vierhundert bewaffneten Mann in einer Art umgewandelter Festung in der Rue de Rivoli, direkt im Zentrum des wohlhabenden Viertels von Paris und in der Nähe der Abgeordnetenkammer und der Regierungsämter. Sobrier hatte die Gewehre und Munition für seine Leute durch Caussidière auf ausdrückliche Anordnung des Kriegsministeriums erhalten. 16, Rue de Rivoli wurde zu einer Art Hauptquartier der Berufsrevolutionäre wie Huber, Cahaigne und anderer. Es wurde dort viel von der Notwendigkeit gesprochen, „d’en finir avec les bourgeois“.131 Kandidatenlisten für Wohlfahrtsausschüsse wurden aufgestellt und abgeändert. Es wimmelte dort natürlich von privaten Spitzeln und Detektiven der verschiedenen Regierungsmitglieder. Im großen Ganzen gesehen, war es nicht sehr ernst, doch der Anschein war wirklich beunruhigend.132 Diese halb privaten Armeen traten für Radikale wie Ledru - Rollin, Flocon, Raspail, Albert ein ( Caussidière konnte Louis Blanc nicht leiden und hasste Blanqui; Sobrier stand bei Lamartine in Gunst ). Hingegen stellten die Gemäßigten – Marrast, Marie, Recurt, Buchez und Adam – die „garde mobile“ auf, eine aus Lumpenproletariat bestehende Truppe, die die ehemalige „garde municipale“ ersetzen sollte und als eine Art Sturmtruppe gegen die Linke beabsichtigt war.133 Die Nationalgarde wuchs von 56 751 auf 190 299 Mann. Sie wurde somit zu einer vor wiegend aus Arbeitern zusammengesetzten Truppe, deren Offiziere von der Mannschaft gewählt wurden. Sie erregte natürlicher weise bei allen Parteien größte Besorgnis. Die Klubisten pflegten an die zur Wahl aufgestellten Offizierskandidaten die ominöse Frage zu richten, ob sie mit dem Volk marschieren würden, falls die Nationalversammlung sich gegen die Massen stellen 130

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133

Vgl. Stern, Histoire de la Révolution, Band 2, S. 148–150; Caussidière, Mémoires, Band 1, S. 75 f., 110–115. Zu Caussidière vgl. außerdem Bouton, Profils révolutionnaires, S. 40 f.; Chenu, Les Montagnards de 1848, Réponse à Caussidière, S. 5–7. Stern, Histoire de la Révolution, Band 2, S. 152. Vgl. ebd., S. 150–152; Garnier - Pagès, Histoire de la Révolution, Band 3, S. 65–67, 110–114; Caussidière, Mémoires, Band 1, S. 81 f., 99 f.; Ménard, Prologue d’une révolution, S. 41 f. Vgl. Garnier - Pagès, Histoire de la Révolution, Band 3, S. 301–303; Band 4, 82 f.; Ménard, Prologue d’une révolution, S. 41 f.

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sollte. Die Führer der Rechten in der Provisorischen Regierung bemühten sich ihrerseits, die Offiziere zu gewinnen. Wie wir sehen werden, betrachtete Marie in seiner Eigenschaft als Arbeitsminister die „Ateliers nationaux“ für den Fall eines Zusammenstoßes mit den revolutionären Aktivisten als eine potentielle prätorianische Garde, und er drang den Direktor der Werkstätten, Thomas, nicht mit Geld zu sparen und eine militärartige Disziplin zu unterhalten. Nach einigem Anfangserfolg erwies sich dies als Bumerang. Doch an erster Stelle waren es die Klubs, in denen der tiefe Zwiespalt zwischen konstitutioneller Rechtmäßigkeit und dem Vorrang des ausschließlichen Revolutionsziels, wie es in einer revolutionären Avantgarde verkörpert ist, her vortrat.134

3. Totalitäre Demokratie und allgemeines Wahlrecht Sobald die Schießereien aufhörten, entstanden mit einem Mal – wie Pilze nach dem Regen – Hunderte von Klubs und Volksgesellschaften, und mit ihnen brach eine Flut von gesprochenen Worten, Zeitungen, Broschüren, Flugblättern, an die Wände geschriebenen Kampfrufen, Liedern und Gedichten, Emblemen und Karikaturen los. Es ist oft behauptet worden, der wichtigste Punkt, um den in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts gekämpft wurde, sei vielleicht die Ausdrucksfreiheit in ihren verschiedenen Formen gewesen. Eine romantische Generation, und ganz besonders die Intelligenz, trat auf den Plan; und da politischer Einfluss ihr noch versagt blieb, verlangte sie mehr als nach allem anderen nach der Möglichkeit des Selbstausdrucks. Diejenigen, die leidenschaftlich darum kämpften, das Recht des freien Ausdrucks zu sichern, und diejenigen, die es hartnäckig ver weigerten, waren im Grunde geeint in ihrer Überschätzung der Wirksamkeit der freien Rede. Ihr romantisches Temperament machte es ihnen unmöglich, die entscheidende Stärke des Interessenkonflikts zu begreifen. Daher setzten die Ersteren ihr ganzes Vertrauen in die Macht des überzeugenden Arguments, während die Letzteren die schädliche Wirkung der demagogischen Aufhetzung fürchteten. Im 134

Vgl. Tocqueville, Recollections, S. 111 f. : „Es hat gewisslich bösartigere Revolutionäre gegeben als die von 1848, doch ich zweifle, ob es jemals dümmere gab; sie wussten weder, wie sie das allgemeine Wahlrecht ausnützen, noch wie sie ohne es fertig werden sollten. Hätten sie die Wahlen sofort nach dem 24. Februar abgehalten, als die oberen Klassen noch benommen waren von dem Schlag, den sie gerade erhalten hatten, und das Volk eher erstaunt als unzufrieden war, dann hätten sie vielleicht eine ‚Assemblée‘ nach ihrem Geschmack bekommen; hätten sie, andererseits, kühn eine Diktatur errichtet, dann hätten sie sie vielleicht eine Zeit lang halten können. Aber sie vertrauten sich der Nation an und taten zur gleichen Zeit alles, was am meisten geeignet war, diese gegen sich aufzubringen.“

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Einklang mit der Tradition der Großen Revolution waren die Klubs nicht lediglich Diskussionsgruppen, sondern Wachtposten und mehr als das : Sie waren die direkte französische Demokratie, der Souverän, der in Permanenz tagte, Befehle gab und seine Werkzeuge – die Gouverneure und Administratoren des Landes – über wachte.135 Die alten Mitglieder der Geheimbünde waren natürlich die Ersten, die sich in den Klubs durchsetzten. Nach so langer Unterdrückung waren sie jetzt frei. Als Märtyrer der Revolution wollten sie jetzt die Republik nach ihrer Vorstellung formen. So veröffentlicht am 26. Februar der Redakteur des „Courrier français“, Xavier - Durrien, den Aufruf der „Société républicaine centrale“, wie der in der Nacht vorher improvisierte Blanqui - Klub sich nannte, an „alle Männer von Intelligenz und Ergebenheit, die durch den siebzehnjährigen Kampf gegen die Tyrannei geweiht worden waren, die politischen Gefangenen, Denker, Gelehrten, Schriftsteller der demokratischen Presse ohne Unterschied der Nuance“,136 in die Vereinigung einzutreten. Die Rivalität zwischen Blanqui und Barbès, den beiden her vorstechendsten Aufstandsführern, hat die gesamte Aufmerksamkeit der Zeitgenossen und der Nachwelt auf die „Société républicaine centrale“ und den „Club de la Revolution“ von Barbès gelenkt. Dennoch darf man darüber nicht die Hunderte von anderen Klubs aus dem Auge verlieren. Es ist eine Tatsache, dass jeder Revolutionsapostel und jede sozialistische Sekte ihre eigene Gesellschaft hatten. Raspail hatte eine Gefolgschaft von einigen sechstausend „Amis du Peuple“, Cabet konnte eine noch größere Zahl in der rue St. Honoré versammeln. Die Fourieristen mit Considérant, Cantagrel, Laverdant und Hennequin hatten ihren eigenen Klub. Das Quartier Latin hielt den „Club de la Sorbonne“ und den „Club du 2 Mars“. Die Zeitung des rechten Flügels, „National“, war durch das „Comité central des élections“ vertreten, dem Recurt vorstand. Im gegebenen Moment entstand der unglückselige „Club central des Ateliers nationaux“. Der sehr gewalttätige „Club des droits et des devoirs de l’homme“ stand unter dem Einfluss von Grandménil, Caussidière und seines offiziellen Vorsitzenden Villain, die Ledru - Rollins Kandidatur für eine Diktatur propagierten. Schließlich ergriffen Longepied und Sobrier die Initiative zur Gründung des „Club des Clubs“, der sich aus je drei Abgeordneten von jedem Klub zusammensetzte und die Plattform und den Exekutivausschuss für die ganze Pariser revolutionäre Avantgarde, den besten Ausschnitt aus der französischen direk135

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Für die Klubs, insbesondere die von Blanqui und Barbès, benutzte ich ausgiebig die ausgezeichnete Monographie von Wassermann, Les Clubs de Barbès et de Blanqui. Andere wichtige Quellen sind : Lucas, Les Clubs et les Clubistes; Bouton, Profils révolutionnaires. Siehe auch Stern, Histoire de la Révolution, Band 2, S. 158–163, 165–170; Garnier - Pagès, Histoire de la Révolution, Band 3, S. 291 ff.; Band 4, 83–94. Stern, Histoire de la Révolution, Band 2, S. 158.

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ten Demokratie abgeben sollte; sein Organ „Commune de Paris“ predigte eine extreme Form von sozialistischer totalitärer Demokratie in alter jakobinischer Sprache.137 Zwar bestand der Kern jedes einzelnen dieser Klubs aus berufsmäßigen Verschwörern und Revolutionären und recht häufig auch aus Provokateuren; doch ihre Anhänger, oder sagen wir lieber Besucher, setzten sich aus Männern verschiedenster sozialer Herkunft und keineswegs nur, oder auch hauptsächlich, aus Arbeitern zusammen. Unter denen, die dem Aufruf zum Eintritt in den Blanqui - Klub Folge geleistet haben sollen, finden wir – in Toussenels Bericht – bekannte Namen wie Baudelaire, Wallon, den Philosophen Ch. Renouvier, Sainte - Beuve, Lecomte de Lisle, den sozialistischen Nationalökonomen Vidal, Ménard und andere.138 Unter den Mitgliedern des Blanqui - Klubs und denen, die nach den Taschereau - Enthüllungen die Proklamation zur Verteidigung des Verschwörers unterzeichneten, finden wir Journalisten, Schriftsteller wie zum Beispiel Pierre Lachambaudie, Schüler von Enfantin und beliebter Fabeldichter, der ein ehemaliger Eisenbahnangestellter war; Alphonse Esquiros, Dichter und Verfasser des kommunistischen Evangile du Peuple, Dézamy, Laviron, „licencié en droit“ und vielsagend als „président de la Commission des hommes de lettres sans emploi“ bezeichnet, dann „président du Club des hommes de lettres“; Männer der freien Berufe wie Dr. Lacambre, ehemaliges Mitglied der „Société des Saisons“; Rechtsanwälte wie Fulgence Gérard, Verfasser der Histoire de Mont St. Michel comme prison de l’Etat und Histoire démocratique de la Révolution du Février; Armee - und Flottenoffiziere wie den aristokratischen Leutnant zur See de Flotte und Pujol, „chasseur d’Afrique“, der bald darauf in den Junitagen berühmt wurde; Staatsbeamte wie Routier de Bulemont, Oberbuchhalter der Polizeipräfektur; schließlich diejenigen, die Arbeiter genannt werden können, wie der Koch Flotte, ein alter Anhänger von Blanqui, den er auch oft bewirtet hatte, die beiden Famberteaux, der Vater, ein Pförtner, und der Sohn, Schuhmacher, der besser bekannte kommunistische Schuhmacher Savary, einige Uhrmacher, Schneider, ein Bäcker – alles alte Verschwörer.139 137

138 139

Vgl. Stern, Histoire de la Révolution, Band 2, S. 158–163, 165–170; Garnier - Pagès, Histoire de la Révolution, Band 3, S. 291 ff.; 83–94; Duveau, Raspail, S. 42; Molinier, Blanqui. Lucas, Les Clubs et les Clubistes, S. 114, berichtet über eine Inter vention des „citoyen Marx“ in der Versammlung der „Société des droits de l’homme et du citoyen“ vom 4. März : „Je suis révolutionnaire; je veux marcher à l’ombre du grand Robespierre ! Eh bien ! Voici ce que vous dirait ce vertueux citoyen, s’il était encore de ce monde : Lorsqu’un vaisseau trop plein est surpris en mer par une violente tempête, on jette par - dessus le bord une partie de l’équipage, afin de sauver le reste.“ Vgl. Wassermann, Les Clubs de Barbès et de Blanqui, S. 8 f. Vgl. ebd., S. 9–11; Lucas, Les Clubs et les Clubistes, S. 208–222.

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Unter die ursprünglichen Mitglieder des Barbès - Klubs sind einige sehr bekannte Namen der politischen Welt zu zählen, wie zum Beispiel Emmanuel und Étienne Arago, alte Republikaner; der Jakobiner und spätere Communard Delescluze; sozialistische Republikaner wie die Brüder Marc und Numa Dufraisse; der erprobte radikale Prediger des Klassenkampfs in der „Société des droits de l’homme“, Bonnias; Proudhon; Pierre Leroux; der Weber von Lyon und alte Barrikadenkämpfer Greppo; Journalisten wie Ribeyrolles und Dupoty; Männer der freien Berufe wie der Jurist und Kunstkritiker Thoré; alte Aktivisten wie Cahaigne, der Händler Blanchi, Lechallier, Versicherungsbeamter, der alte Verschwörer Chilmann, der Nationalökonom Lambert.140 Der Blanqui - Klub soll zu seiner besten Zeit 3 000 Mitglieder gehabt haben, auf seinem Tiefpunkt 500, normaler weise 1 000. Sein Rivale, der Barbès - Klub, scheint eine erheblich größere Mitgliederzahl gehabt zu haben.141 „J’arrive le 24 ( Februar ), tout éperdu de la joie du triomphe. Quel accueil glacial ! On dirait un spectre qui s’est dressé tout à coup devant les nouveaux maîtres“,142 schrieb Blanqui, zutiefst gedemütigt und unglücklich, als Antwort auf die schrecklichen Taschereau - Enthüllungen über seinen Verrat an Barbès, seinem Genossen und Mitangeklagten nach dem Putsch von 1839. Die Revolution, für die er Komplotte geschmiedet, auf den Barrikaden gekämpft und jahrelang im Gefängnis zugebracht hatte, war ihm von anderen gestohlen worden. Anstatt ihn als Märtyrer zu begrüßen, konnten die neuen Herren im „Hôtel de Ville“ sich kaum des Ausrufs enthalten : Warum ist er noch am Leben ? Sogar Caussidière zuckte nur mit den Achseln, als Blanqui ihn aufsuchte.143 Für den Hohepriester von Gewaltstreich und erbarmungslosem Klassenkampf war es ein sicheres Zeichen für das Misslingen der Revolution, dass es der Linken nicht gelungen war, die rote Fahne in der neuen Republik zur Annahme zu bringen. Es war wieder genau wie 1830. Heute das Symbol, morgen das Prinzip, bald danach wird es die Realität sein – sagte er zu seinen zwei Begleitern nach seinem Besuch im „Hôtel de Ville“. Er sah die Dinge – auf seine eigene Weise – klarer als wahrscheinlich irgendein anderer in jenen Tagen. Eine totale Revolution machen, das war eine Frage des höchsten, unerschütterlichen Selbstvertrauens oder – wie Danton es nannte – der Ver wegen-

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Vgl. Wassermann, Les Clubs de Barbès et de Blanqui, S. 18 ff.; Lucas, Les Clubs et les Clubistes, S. 223–232. Vgl. auch ebd., S. 41–45 ( zu den Ateliers ), S. 56–68 ( zum „Club des Clubs“); Stern, Histoire de la Révolution, Band 2, S. 158–160, 162 ( zu den Clubs von Barbès und Blanqui ). Vgl. Wassermann, Les Clubs de Barbès et de Blanqui, S. 25. Wassermann, Les Clubs de Barbès et de Blanqui, S. 44 ( Fußnote ). Vgl. Molinier, Blanqui, S. 34 f.; Stern, Histoire de la Révolution, Band 2, S. 27.

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heit.144 „Vorsicht [...], das heißt Angst. Mit welchem Recht kann man Vertrauen ( von anderen ) verlangen, wenn man sich vor seinen eigenen Prinzipien fürchtet ?“145 „Revolutionen brauchen Männer, die an sie glauben; an ihrem Sieg zu zweifeln, ist bereits Verrat an ihnen. [...] Wenn euch ( Logik und Ver wegenheit) fehlen, werden eure Feinde sie für euch haben [...] in direktem Verhältnis zu eurer Furchtsamkeit.“146 Blanqui glaubte zutiefst daran, dass der erste Schritt geeignet sei, den Ausgang zwischen einer egalitären Republik und bürgerlichem Konstitutionalismus zu entscheiden. Es war entweder – oder. Tertium non datur.147 „Heute seid ihr die Herren, die alleinigen Herren der Situation; in acht Tagen wird die ( jetzt ) getroffene Entscheidung unwiderruf lich sein, ob ihr euch für das Volk aussprecht oder gegen es. Wenn ihr für das Volk seid, seid es furchtlos; beweist, dass die Republik eine wohlwollende Regierungsform ist, indem ihr sofort das Volk glücklich macht. Gewährt ihm alle seine Rechte, sichert seine Existenz. Wenn ihr nicht diesen Weg beschreitet und euch von ihm entfernt, stürzt ihr euch in einen Abgrund.“148 Als jedoch der Vorsitzende seines Klubs, Crousse, an jenem Abend mit Donnerstimme verkündete, man müsse sofort, mitten in der Nacht, die Macht ergreifen, solange die Woge der revolutionären Begeisterung noch stark sei, da Zögern jetzt bedeutete, dass man die Republik auf immer verlieren würde – da sprach Blanqui das entscheidende Wort gegen einen sofortigen Putsch. Frankreich sei noch nicht vorbereitet für eine revolutionäre Republik. Die Revolution, die stattgefunden hatte, sei nichts als eine „freudige Überraschung“.149 Der Versuch einer terroristischen Republik würde die Provinzen und die Bourgeoisie erschrecken und sie veranlassen, den flüchtigen König zurückzurufen. Die Männer im „Hôtel de Ville“ seien zu schwach, um sich lange zu halten. „Wir haben das Volk und die Klubs erobert; dort werden wir das Volk ‚révolutionnairement‘ organisieren, wie die Jakobiner es einst taten. Wenn wir noch ein paar Tage länger warten können, wird die Revolution uns gehören !“150 Die von Dieben in der Nacht gewonnene Macht wird nicht von Dauer sein. Andere werden versuchen, sie uns mit denselben Mitteln wegzunehmen. „Ce qu’il nous faut, à nous, c’est le peuple immense, les faubourgs insurgés, un nouveau 10 août. Nous aurons au moins le prestige de la force révolutionnaire.“151 144 145 146 147 148 149 150 151

Vgl. Molinier, Blanqui, S. 35 f.; Wassermann, Les Clubs de Barbès et de Blanqui, S. 45 Wassermann, Les Clubs de Barbès et de Blanqui, S. 45. Ebd., S. 46. Vgl. auch Molinier, Blanqui, S. 34, 37. Vgl. zu Blanqui Bouton, Profils, S. 133–145; Stern, Histoire de la Révolution, Band 2, S. 26–29. Wassermann, Les Clubs de Barbès et de Blanqui, S. 46. Vgl. ebd., S. 48 f.; Lucas, Les Clubs et les Clubistes, S. 213 f. Wassermann, Les Clubs de Barbès et de Blanqui, S. 49. Ebd., S. 49 f.; Lucas, Les Clubs et les Clubistes, S. 214.

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Hatte auch Blanqui die Ner ven verloren ? War seine Vorstellung von der Revolution so exaltiert, dass sie in der Realität unerreichbar wurde und ihm dadurch jede konkrete Revolution als noch nicht richtig erschien ? Oder konnte die richtige Revolution nur von ihm und seinen Anhängern – den einzigen wahren Revolutionären – herbeigeführt werden ? Hattet ihr eine Revolution ohne Revolution erwartet ? – war für gewöhnlich die Antwort der Hohepriester der Revolution, etwa Robespierres, wenn die empfindlicheren ( und besiegten ) Feinde protestierten gegen Gewaltakte und Zwang seitens des Volkes, gegen den 10. August, die Septembergemetzel, die Vertreibung der Girondisten, Mai bis Juni 1793. Wer wird der Welle des Volkszorns sagen : Bis hierher könnt ihr gehen und nicht weiter ? Legalität ? War die Erstürmung der Bastille legal ? Und wenn nicht, dann war die ganze Revolution von Anfang bis Ende illegal. „On ne fait pas de procès aux révolutions.“152 Revolution bedeutet nicht nur das Abschütteln eines Jochs. Sie bedeutet, ein neues Prinzip zur Herrschaft bringen, die Ersetzung der Verlierenden durch die Gewinnenden. Ein revolutionärer Wettkampf ist nicht ein Kampf des Verstandes, ein Wettbewerb in Dialektik oder Rhetorik. Er ist ein Kampf der Interessen, ein Klassenkampf. Empört zu sein über den Egoismus einer privilegierten Klasse, die sich weigert nachzugeben und dem Diktat von Vernunft und Gerechtigkeit zu gehorchen, ist eine naive Reaktion. Keine Klasse und kein Individuum wird sich bereitwillig auslöschen, außer wenn keine andere Wahl bleibt. Sie treten nur dann ab, wenn sie eingeschüchtert oder durch Gewalt gezwungen werden. Mit anderen Worten, eine besiegte Klasse muss liquidiert werden, denn die revolutionären Errungenschaften werden nie sicher sein, solange ihre Gegner frei sind, um gegen sie zu intrigieren und Komplotte zu schmieden. Das war eine der Lehren, die die Treuhänder der Revolution aus der Großen Revolution gezogen zu haben glaubten. Konkret ausgedrückt, war das brennende Problem nach dem Sieg der Revolution die Frage des von der Julimonarchie ererbten administrativen Personals: Ver waltung, Offizierskorps, Polizei, Gerichtsdienst. Umso mehr als, wie bereits früher erwähnt, die bisherige Bürokratie niemals eine unabhängige Beamtenschaft war und auch nicht als solche beabsichtigt gewesen war. Sie war umgeben von einer Atmosphäre der Misswirtschaft. Sie war offen als ein Werkzeug des Regimes gehandhabt worden und nicht lediglich als eine politische Administration. Hohe Staatsbeamte saßen auf den Regierungsbänken in der „Chambre des députés“. Präfekten leiteten die Wahlen.153 Wie konnten sie über Nacht eingefleischte Überzeugungen und Gewohnheiten abschütteln ? Sie wegen loyaler Unter werfung unter die neue Ordnung 152 153

Zitat nicht nachweisbar. Vgl. Bouton, Patrie en danger, S. 63.

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zu loben, konnte als ein umgekehrtes Kompliment erscheinen : Es lief darauf hinaus, ihnen zu sagen, sie seien ohne Rückgrat. Außerdem war ihre Vergangenheit mit den Interessen einer Klasse verbunden. Sie repräsentierten eine bestimmte Einstellung. Ein revolutionäres Regime erforderte dynamischen Elan, Glauben und begeisterte Entschlossenheit. Wie konnte die Zivilver waltung eines Klassenregimes, die gewohnt war, die große Mehrheit der Bevölkerung als politisch rechtlos zu behandeln und als machtlos, Beamte zur Verantwortung zu ziehen, sich plötzlich in die Beamtenschaft eines Volkes ver wandeln, das volle politische Souveränität genoss und seinen Exekutivbeamten gegenüber auf der Hut und anspruchsvoll war ? Mit anderen Worten, die alte Garde zu belassen, bedeutete, Saboteure des neuen Regimes in Vertrauensstellungen, an Posten von entscheidender Bedeutung zu halten. Es war ganz natürlich, dass die Getreuen der Revolution, wie etwa Blanqui, in der Stunde des Sieges einerseits die Abschaffung jeder Spur von Beschränkung der Freiheit des Selbstausdrucks des Volkes verlangten ( vor allem bei der Presse, dem Postversand, der Stempelsteuer, der Kaution und natürlich dem Versammlungsrecht ) und andererseits eine Säuberung von Magistraten und Richterschaft, die Entlassung der 225 Pro - Guizot - Abgeordneten, der „pairs de France“, Präfekten und anderer Beamter. Sogar der viel mildere Carnot, der Erziehungsminister war, verlangte „des hommes nouveux“.154 „Il faut qu’elle renouvelle les hommes. On change d’outil quand on change d’ouvrage.“155 Als Ergebnis von örtlichen Aufständen und durch die Zentralregierung vorgenommenen Entlassungen blieb keiner der früheren Präfekten auf seinem Platz, und nur zwölf Unterpräfekten blieben im Amt. Der Innenminister Ledru- Rollin bestellte an ihrer Statt revolutionäre „commissaires“, in gewissen Fällen mehrere für dasselbe Departement, insbesondere Calvados und Yonne, und ihnen übergeordnet vierundzwanzig „commissaires généraux“.156 Sollten diese nichts anderes sein als Ersatz für die entlassenen Beamten, damit die Regierungsgeschäfte ordnungsgemäß ohne Unterbrechung weitergeführt werden konnten, oder sollten sie eine diktatorische und dynamische Rolle spielen, etwa wie die Repräsentanten en mission, die Kommissare des Konvents und der Wohlfahrtsausschuss ? Der Widerspruch zwischen demokratischer konstitutioneller Gewissenhaftigkeit und den Revolutionserinnerungen ließ die Dinge in einem sehr zweideutigen Zustand. In seinem Rundschreiben vom 8. März verurteilte Ledru - Rollin die Taten des alten korrupten Systems – „avait

154 155 156

Bulletins de la République, S. XIV. Ebd. Vgl. Cobban, Administrative pressure, S. 136. Vgl. auch ebd., S. 137.

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infecté de sa corruption tous les rouages de l’administration“.157 Die Provisorische Regierung wird nicht die Usurpatoren der Volkssouveränität nachahmen, „die die Wähler korrumpierten und das Gewissen des Landes kauften“.158 Der Minister wies die Kommissare an, sich jeder Untersuchung über frühere Meinungen und vergangene Taten zu enthalten, damit „nicht der geringste Anschlag auf die Unabhängigkeit der Wähler und die Freiheit der Wahl“159 in den bevorstehenden Wahlen unternommen wird. Gleichzeitig bestand Ledru - Rollin darauf, dass selbstverständlich „diejenigen, die die Anweisungen ( des alten korrumpierenden Regimes ) befolgten, nicht dem Volke dienen können“. Er befahl daher den Kommissaren, neue Männer, „sympathiques et résolus“, an die Spitze eines jeden Arrondissements und jeder Munizipalität zu stellen. „Ne leur ménagez pas les instructions, animez leur zèle.“160 „Les fonctions politiques [...] ne peuvent être confiées qu’à des républicains éprouvés.“161 „En un mot, tous hommes de la veille et pas du lendemain.“162 Ein sehr starker Nachdruck wird auf die Aufgabe der neuen Beamten gelegt – „ils tiennent dans leur mains les destinées de la France“ –, die Wahl einer Nationalversammlung zu sichern, die „fähig ist, die Arbeit des Volkes zu verstehen und auszuführen“ – ein Punkt, auf den wir bald zurückkommen werden.163 Als Antwort auf den Proteststurm, der sich gegen diese Anweisungen erhob, erfolgte die Erklärung vom 12. März, die den revolutionären Charakter der Kommissare in höchst herausfordernden Ausdrücken noch einmal betont : „Quels sont vos pouvoirs ? Ils sont illimités. Agents d’une autorité révolutionnaire, vous êtes révolutionnaire aussi.“164 Die siegreiche Volksrevolution hat den Kommissaren das Mandat übertragen, ihr Werk zu verkünden und zu befestigen. Mit der Vollmacht des souveränen Volkes betraut, haben die Kommissare „nur ihr Gewissen zu befragen“ („ne relevez que de votre conscience“) und so zu handeln, wie die Umstände es „pour le salut public“165 erfordern. Im Kontext einer revolutionären Veränderung war die Frage des Militärs von überragender Bedeutung. Abgesehen von dem autoritären Geist, der 157 158 159 160 161 162 163 164 165

Stern, Histoire de la Révolution, Band 2, S. 212. Vgl. auch Calman, Ledru - Rollin and the Second Republic, S. 64 ff. Cobban, Administrative pressure, S. 136. Ebd. Stern, Histoire de la Révolution, Band 2, S. 212. Cobban, Administrative pressure, S. 136. Stern, Histoire de la Révolution, Band 2, S. 212. Ebd. Cobban, Administrative pressure, S. 137; Stern, Histoire de la Révolution, Band 2, S. 213. Vgl. auch Garnier - Pagès, Histoire de la Révolution, Band 3, S. 309–316, 320 f. Stern, Histoire de la Révolution, Band 2, S. 213. Vgl. auch Garnier - Pagès, Histoire de la Révolution, Band 3, S. 321; Band 4, S. 234–240.

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jedem Offizierskorps eigen ist, fühlte sich die damalige Armee tief gedemütigt durch die unrühmliche Niederlage, die ihr der Mob und die verachtete Nationalgarde in den Februartagen bereitet hatten. Sie empfanden mit Recht, dass sie keine Gelegenheit gehabt hatten, sich zu beweisen. Ein ver worrenes und schwaches Oberkommando und eine entsetzliche Angst vor Blutvergießen zwangen sie, passiv zuzuschauen und sich in ohnmächtiger Verzweif lung zurückzuziehen, als ihre Kameraden niedergemetzelt wurden, weil sie Befehle ausgeführt und ihre Ehre verteidigt hatten. Ihre leidenschaftlichen Rachegefühle und heftige Wut werden viel dazu beitragen, die fürchterlichen Junitage zu kolorieren. Diejenigen Revolutionäre, deren Denken unablässig von Problemen der Klassenkampfstrategie beherrscht wurde, verlangten von Anfang an nicht nur eine Säuberung der Armee, sondern die Bewaffnung aller Arbeiter, insbesondere der Arbeitslosen ( auch aus sozialer Zweckmäßigkeit ).166 Im Jahre 1851 schreibt Blanqui die Lehren der Februarrevolution in dieser Beziehung nieder. Weder die Einbeziehung aller tauglichen Männer in die Nationalgarde, zusammen mit dem allgemeinen Wahlrecht, noch das System der Offiziersernennung auf Grund von Volkswahlen erwiesen sich als ausreichend, um eine Revolutionsarmee der Arbeiterklasse zu sichern. In Zukunft, sagt Blanqui, darf nicht ein einziges Gewehr in Bourgeoishänden gelassen werden, wenn die Revolution ausbricht.167 Alle Arbeiter werden bewaffnet werden. „Les armes et l’organisation, voilà l’instrument décisif du progrès [...] l’avènement du socialisme [...]. Qui a du fer, a du pain.“168 Andernfalls gibt es zuerst Verbrüderungsfeiern und mit Weihwasser besprengte Freiheitsbäume, doch am Ende – Erschießungen. Es wurde ein schwacher und verschämter Versuch unternommen, Unteroffiziere, die zuverlässige Klubmitglieder waren, teils als Abgesandte der patriotischen Gesellschaften, teils als geheime Regierungsvertreter ( von der Administration bezahlt, mit geheimen Dokumenten der Bevollmächtigung und Einführung ) in die Regimenter zu delegieren, um über die politischen Meinungen von Offizieren und Mannschaften, die Beziehungen zwischen ihnen und insbesondere über „chefs suspects dont l’influence était redoutée pour les élections“169 zu berichten. Dies wurde jedoch nach einigen Tagen wieder aufgegeben.

166 167 168 169

Vgl. Wassermann, Les Clubs de Barbès et de Blanqui, S. 55 f. Vgl. ebd., S. 56 ( Fußnote ). Wassermann, Les Clubs de Barbès et de Blanqui, S. 56 ( Fußnote ). Vgl. auch Dommanget, Les Idées politiques, S. 335–338. Cobban, Administrative pressure, S. 138. Vgl. auch Stern, Histoire de la Révolution, Band 2, S. 168 f.

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Auf Grund eines Übereinkommens zwischen Ledru - Rollin und dem „Club des Clubs“ wurden ein paar hundert gute revolutionäre Aktivisten – bezahlt aus geheimen Regierungsmitteln – in die Provinzen geschickt mit der Aufgabe, die Massen zu erleuchten, die Stimmung zu heben und die Reaktionäre zu über wachen, kurz gesagt, um „gute Wahlen“ vorzubereiten.170 Diese schwachen Versuche, die revolutionären diktatorischen Kräfte zu aktivieren, waren armselige Karikaturen der dramatischen großen Tage von 1793/94. Die wesentliche Bedingung fehlte : die Bedingung der äußersten Not, „la patrie en danger“. Die Repräsentanten en mission konnten rücksichtslos und grausam sein. Es wurden von ihnen ungewöhnlicher Mut und Entschlusskraft gefordert. Sie mögen machthungrig und blutrünstig gewesen sein, doch niemand konnte ihnen vor werfen, sie hätten nach leichten Posten und Sinekuren getrachtet. Im Jahre 1848, als das Land Frieden von außen und innen genoss, scheinbar einmütig war in Bezug auf alles Wesentliche, wo auf der einen Seite die Provokation fehlte und auf der anderen die tiefe trotzige Überzeugung, da mussten diese Versuche, dem normalen Rahmen des politischen Lebens übereifrige Kommissare aufzupfropfen, den Anschein von versteckter Intrige und niedriger Misswirtschaft erwecken.171 Die allgemeinen Wahlen zur Verfassunggebenden Nationalversammlung waren der wirkliche Prüfstein. Oberflächlich betrachtet, war zum ersten Mal in der Geschichte ein ganzes Volk, jeder erwachsene Mann in ihm, im Begriffe, frei seine Meinung auszudrücken auf der Basis des Prinzips „ein Mann, eine Stimme“. Eine größere Erfüllung des demokratischen Ideals konnte man sich nicht vorstellen. Das Gespenst, vor dem die Reaktionäre sich am meisten fürchteten, war im Begriff, zu Fleisch und Blut zu werden : Regierung durch das Gewicht der Zahl, Herrschaft des eigentumslosen, unwissenden, wankelmütigen, gierigen Pöbels, wobei der Despotismus hinter den Kulissen wartet. Es stellte sich heraus, dass die extremen Demokraten die Ersten waren, die von der Aussicht der bevorstehenden Wahl erschüttert und wirklich beunruhigt wurden, während alle Schattierungen der Rechten auf eine möglichst baldige Wahl drückten. Es war keine Rede davon, die „ci - devant“ ihres Wahlrechtes zu berauben. Sie waren in jedem Fall eine kleine Minderheit. Es herrschte die Befürchtung, dass die große Mehrheit, die Massen, die bisher kein Wahlrecht besaßen, nicht für die Freiheit stimmen würden. Schließlich waren nicht die Äußerlichkeiten der Wahl das Wichtige, sondern die Sicherung der revolutionären Errungenschaften. Die oberste Aufgabe war, die Massen so vorzubereiten, dass sie von ihrem Wahlrecht den richtigen Gebrauch machen würden. Dazu mussten sie 170 171

Vgl. Cobban, Administrative pressure, S. 138. Stern, Histoire de la Révolution, Band 2, S. 168 f.

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dem traumatischen Einfluss der besitzenden und herrschenden Klassen entzogen und von den Vorurteilen befreit werden, wie die Kirche und ihre eigene Ängstlichkeit und Unwissenheit sie verbreiteten.172 Die Initiative zu der ersten Petition für eine Verschiebung der Wahlen scheint Anfang März von Blanqui ausgegangen zu sein.173 „Sofortige Wahlen zur Nationalversammlung sind eine Gefahr für die Republik.“174 Fünfzig Jahre lang war die Presse durch fiskalische Gesetze geknebelt und die elementare Erziehung ein Monopol der Konterrevolutionäre und Feinde der Republik. Die Notabeln der besiegten Klassen werden von der Landbevölkerung voller Ehrfurcht behandelt; dagegen sind ihr die republikanischen Führer fast unbekannt. Feindliche Einflüsse werden die freie Wahl verfälschen. „Die Nation, die als eine riesige ‚Assemblée‘ zu betrachten ist, wird ihre Stimme abgeben unter dem beherrschenden Einfluss einer Meinung ohne Widersacher.“175 Der Schrei der Feinde der Republik, der eingefleischten Gegner des Stimmrechtes des Volkes, nach sofortigen Wahlen war eine List, dazu bestimmt, die Freiheit in der Wiege zu ersticken. „Une immense comédie se joue devant la France. [...] Eine Abstimmung morgen wird eine Überraschung bringen. Nur eine genügend hinausgeschobene Wahl wird frei sein.“176 Nachdem Lamartine die Petition vom 7. März mit der Begründung abgewiesen hatte, die Regierung wolle den Zustand der provisorischen Diktatur nicht über die unbedingt notwendige Zeit hinaus fortsetzen, protestierte eine heftigere Petition gegen den Gedanken, dass „Unterdrücker in die Lage versetzt werden, den Gewinn aus ihrem Verbrechen einzuheimsen“.177 „C’est un sacrilège de faire mentir à leur propre salut dix millions d’hommes, d’arracher à leur inexpérience la sanction de leur esclavage. [...] Le Peuple ne sait pas; il faut qu’il sache. Ce n’est pas l’œuvre d’un jour ni d’un mois.“178 Dank ihrer seit langem bestehenden Organisation wird die royalistische Partei sicherlich die Wahlen gewinnen. Das Ergebnis wird ein Bürgerkrieg sein. Denn Paris, das Herz und Hirn Frankreichs, wird eine antirepublikanische Wahl nicht akzeptieren.179 Was war daher zu tun ? Ein systematischer Erziehungsfeldzug musste durch besondere Abgesandte in die Provinzen unternommen und lange Zeit 172 173 174 175 176 177 178 179

Vgl. Wassermann, Les Clubs de Barbès et de Blanqui, S. 59. Vgl. ebd.; Molinier, Blanqui, S. 38–41. Wassermann, Les Clubs de Barbès et de Blanqui, S. 60. Ebd. Ebd. Siehe auch Molinier, Blanqui, S. 38 f. Wassermann, Les Clubs de Barbès et de Blanqui, S. 63. Siehe auch ebd., S. 61–66; Garnier - Pagès, Histoire de la Révolution, Band 3, S. 333–335, 340–342. Wassermann, Les Clubs de Barbès et de Blanqui, S. 63. Siehe auch Molinier, Blanqui, S. 38; Garnier - Pagès, Histoire de la Révolution, Band 3, S. 334. Vgl. Wassermann, Les Clubs de Barbès et de Blanqui, S. 63.

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hindurch aufrechterhalten werden, bis das Volk genügend erleuchtet sein würde. Außerdem muss „une administration ferme et active“ diesen Feldzug energisch betreiben, um das wahre demokratische Ziel zu erfüllen, „l’homogénéité républicaine de la future Assemblée nationale, homogénéité qui peut seule assurer à ses travaux des résultats bienfaisants“.180 Homogenität war das Ziel, nicht das formale Prinzip einer freien Wahl. Ledru - Rollins Sekretär Delvau setzte sich in ähnlicher Weise für eine Verschiebung ein. „Die Wahlen verschieben bedeutet, der Republik zu erlauben, tiefere Wurzeln zu schlagen; es bedeutet, allen zu ermöglichen, sie zu verstehen. Es bedeutet, ihr durch eine Nationalversammlung, die sich ausschließlich aus Republikanern zusammensetzt, zu einer soliden Grundlage zu verhelfen.“181 Das „Comite révolutionnaire pour les élections générales“ trat mit dem großartigen Einfall her vor, alle Pariser Wähler zur selben Stunde und am gleichen Platz zu versammeln, damit sie ihrer Bürgerpflicht gleichzeitig und zusammen wie ein Mann genügen – „couper court à toutes les volées réactionnaires et de nature à assurer la sincérité intégrale des élections“.182 Eine andere Idee jakobinischer Natur wurde von dem pazifistischen Sozialisten Pierre Leroux vorgetragen. Er war von Berry nach Paris zurückgekommen, erschreckt von der Gleichgültigkeit der Leute gegenüber der demokratischen, gar nicht zu reden von der sozialen, Republik. Er schlug Ledru - Rollin, Louis Blanc, George Sand und anderen vor, das Wahlgesetz aufzuheben und einen aus den Führern des Sozialismus und Radikalismus bestehenden Staatsrat zu bilden, der ein neues, auf der Idee von Saint - Just basierendes Wahlgesetz annehmen sollte : Alle Wahlberechtigten stimmen über alle Kandidaten ab. Die 900 Kandidaten, die die höchste Stimmenzahl erhalten, bilden die Nationalversammlung.183 Sollte einer frei gewählten „Assemblée“ das Recht zugestanden werden, die Republik abzuschaffen ? Ein solches Recht kann nicht zugestanden werden – war die Ansicht eines engen Freundes von Ledru - Rollin und Mitglieds seines Departements. Ein Volk kann ebenso wenig die Republik ver werfen wie ein Individuum seine persönliche Freiheit aufgeben kann.184 Es ist höchst instruktiv, in den vom Innenministerium zwischen dem 13. März und 6. Mai 1848 veröffentlichten „Bulletins de la République“ die Meinungsbildung zu verfolgen. Nummer 4, 19. März 1848, stellte fest, da alle ohne Ausnahme das Wahlrecht haben würden, „à dater de cette loi il n’y a plus de prolétaire en Fran180 181 182 183 184

Ebd., S. 71 ( Fußnote ). Cobban, Administrative pressure, S. 152. Vgl. auch ebd., S. 153 f. Ebd., S. 154. Vgl. Garnier - Pagès, Histoire de la Révolution, Band 3, S. 337. Vgl. Stern, Histoire de la Révolution, Band 2, S. 332. Vgl. Garnier - Pagès, Histoire de la Révolution, Band 5, S. 175 ff.

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ce“.185 Die Provisorische Regierung – geht es weiter – wird sich nicht zu den Praktiken der usurpierenden und korrupten Regierungen, die das Gewissen eines Landes kaufen, erniedrigen. Sie wird sich darauf beschränken, den feindseligen Einfluss der alten Administration „qui a per verti et dénaturé l’élection“,186 zu neutralisieren. Hierfür wird es genügen, die vollkommene Freiheit der Wahl zu sichern. „Schaut nicht, welchen Namen diejenigen, die ihr für eure Feinde haltet, auf den Wahlzettel schreiben. Seid im Voraus gewiss, dass sie den einzigen Namen schreiben, der sie retten kann, das heißt den eines fähigen und ehrlichen Republikaners.“187 Das Vertrauen wird gestärkt: „Il vous renverra la République.“188 Was für Feinde der Republik auch übrig geblieben sein mögen, sie waren jetzt machtlos. Klugheit und eigenes Interesse werden sie daran hindern, die friedliche Begründung der neuen Ordnung zu stören, die in jedem Fall alle Minoritätenrechte sichert. Die Nummern 5 und 8 preisen die unter allen herrschende „unanimité du sentiment de l’ordre“,189 die ordnungsgemäße Prozeduren sichern. Es ist kein Platz mehr für Groll. „Le temps de la plainte est passé; celui de la vengeance ne viendra plus jamais.“190 Denn die Herrschaft des Gesetzes ist befestigt. Rache und Beschwerden sind das Los der Unterdrückten. „Vous êtes libres !“191 Und Selbstvertrauen flößt Ruhe ein. Da die Regierung keine Komplotte zu fürchten hat, kann sie es sich leisten, großmütig zu sein und dabei gleichzeitig fest. Die Nation ist die Herrin ihres eigenen Geschicks und wird alle Kräfte auf eine soziale Erneuerung ver wenden. Doch schleichen sich einige Zweifel ein. Es gibt eine Sache, die das Land verderben kann – „la division“. Wenn es Leute gibt, die zweifelhafte Personen wählen, anstatt sich ohne „arrière - pensée“ um die Republik zu scharen, dann können Spaltungen in der neuen „Assemblée“ Anarchie und Bürgerkrieg zur Folge haben. Um ein solches Unglück zu verhüten, ist es wichtig, dass die „Assemblée“ sich aus Elementen zusammensetzt, die vollkommen demokratisch fühlen. „Repoussez donc les tièdes, les indifférents, les fauteurs d’intrigue.“192 Nur gute glühende Republikaner von gestern sollten gewählt werden. Bulletin Nr. 10 ist besorgt : Sicherlich kann ein ganzes Volk sich irren. Doch kann man sich weigern, den Spruch des Volkes zu akzeptieren ? Man könnte sich ebenso gut weigern, einer Krankheit nachzugeben oder der Müdigkeit und 185 186 187 188 189 190 191 192

Bulletins de la République, Nr. 4, 19. März 1848, S. 22. Ebd., S. 23. Ebd. Ebd. Ebd., Nr. 5, 21. März 1848, S. 26. Ebd., Nr. 8, 28. März 1848, S. 40. Ebd. Ebd., S. 46.

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dem Schlafbedürfnis. Zugegeben, ein Volk, das erst jetzt das Wahlrecht erhielt, mag nicht in der Lage sein, die volle Reichweite einer freien Wahl zu erfassen, doch besteht keine Berechtigung, es seines Wahlrechtes zu berauben und es dafür zu bestrafen, dass es aus Lässigkeit oder Übertreibung einen falschen Gebrauch von seinem Recht machen könnte.193 „Il est des heures dans la vie des peuples où ce serait un crime social que de profiter de l’erreur des majorités pour les tromper et les immoler.“194 Auch Raspail schrieb im „Ami du Peuple“ vom April 1848 : „Ihr habt das Prinzip angenommen, so müsst ihr die Konsequenzen auf euch nehmen; eine Niederlage wird nur Verzögerung bedeuten.“195 Ähnlich bestand Louis Blanc darauf, dass ein so heiliges Prinzip wie das allgemeine Wahlrecht nicht nach einem Augenblickskriterium beurteilt werden dürfe. Schon allein die Anerkennung des Prinzips sei von ungeheurer Bedeutung. Er gab seiner Überzeugung Ausdruck, dass Paris die Wirkungen einer nachteiligen Wahl in den Provinzen neutralisieren würde.196 Das Bulletin vom 1. April setzt sein Vertrauen in den unvermeidlichen Gang des Fortschritts und in den gesunden Verstand des Volkes, die de facto beide auf dasselbe hinausliefen. „La vérité est avec le grand nombre aujourd’hui.“197 Die Massen haben Herzensgröße, Heldentum und Hellsichtigkeit bewiesen, wohingegen mürrische Individuen, „apôtres de l’individualisme“,198 sich sterilem Skeptizismus und Intrigen ergaben. Keiner von ihnen wäre bereit, für die Überzeugung, dass der Aufstand des Volkes auf den Straßen und Barrikaden von Übel seien, in den Tod zu gehen. „Das Volk wird immer in der Mehrheit sein, und die Zeit, in der die Mehrheit zum Irrtum verurteilt war, ist für immer vorbei. [...] Es wird von dem Gesetz des Fortschritts unwiderstehlich auf den Weg getrieben, auf den die Wahrheit es zieht.“199 Wer kann angesichts der Bewegung, die ganz Europa mit sich reißt, daran zweifeln, dass die Stimme der Mehrheit „in diesem Augenblick der Geschichte die Stimme der Wahrheit“200 ist ? Die grundlegenden Gesetze der Republik bringen den Tag herbei, an dem es im Rat der Menschen weder Mehrheiten noch Minderheiten geben wird. Die Wahrheit wird nicht eine einzige abweichende Stimme finden.

193 194 195 196 197 198 199 200

Vgl. ebd., Nr. 10, 1. April 1848, S. 50 f. Ebd., S. 52. Stern, Histoire de la Révolution, Band 2, S. 358. Vgl. Cahen, Louis Blanc, S. 374. Vgl. auch Blanc, Pages d’histoire, Kapitel V. Bulletins de la République, Nr. 10, 1. April 1848, S. 53. Ebd. Ebd. Ebd.

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Als das Wahldatum näher kam, wurden die Bulletins besorgter um den Ausgang. Am 8. April erklärt Bulletin Nr. 13 wieder, die Zukunft des Landes hänge vom Ausgang der Wahlen ab. Eine aufrichtig republikanische Mehrheit werde eine glorreiche Ära des Wohlstandes, Friedens und Fortschritts eröffnen. Eine reaktionäre Mehrheit werde das Land zu bitterem Zwist verurteilen. Es sei daher die Pflicht aller Wähler, ehrliche, mutige Männer in die „Assemblée“ zu entsenden, die bereit seien, für die Sache des Volkes ihr Leben zu geben.201 Sollte die Regierung versuchen, die Wahlen zu beeinflussen oder sich darauf beschränken, ihre Ordnungsgemäßheit zu über wachen ? Die Antwort lautete, die Regierung würde Absetzung verdienen und sogar die Schuld des Verrats auf sich laden, wenn sie ihre Rolle lediglich darauf beschränken wollte, das Verfahren zu registrieren und die Stimmen zu zählen. Sie muss bestrebt sein, das Volk aufzuklären und der volksfeindlichen Intrige entgegenzuwirken. Würde das nicht Nachahmung des alten Regimes bedeuten ? „Loin de là. Ils dominaient par la corruption et le mensonge, nous voulons faire triompher la vérité; ils caressaient l’égoïsme, nous faisons appel aux sentiments généreux; ils étouffaient l’indépendance, nous lui rendons un libre essor; ils achetaient les consciences, nous les affranchissons.“202 Man musste jetzt mit Würde und Festigkeit sprechen und die Verleumdung zerstören, dass die Republik Raub, Plünderung und Mord bedeute. Können die Republikaner indessen zugeben, dass Männer ohne Glauben und Vision die Flagge der Republik beleidigen ? Sollen sie erlauben, dass Männer, die erst gestern die Republik angriffen und besudelten, zu Organisatoren der republikanischen Verfassung werden ? Sogar wenn einige jetzt aufrichtig bekehrt sind, würden sie sicher besser daran tun, sich nicht unverschämt an die Spitze zu drängen. Ihre Überzeugung kann schwerlich fest genug sein, um sie davor zu bewahren, in einer Zeit der Krise und des Zweifels wieder in ihre alten Vorurteile und Gewohnheiten zu verfallen. Es bestand eine wohlbegründete Befürchtung, dass die Bevölkerung der Provinzen lokale Notabeln als die einzigen Männer von Ruf und Erziehung, die ihr bekannt waren, wählen würde. Ein Rundschreiben des Erziehungsministeriums wies mit Nachdruck darauf hin, dass es besser sei, einen einfachen, braven, gutherzigen Bauern mit gesundem Menschenverstand zu wählen, als einen reichen und gebildeten Notabeln, der den wahren Interessen der Bauern-

201 202

Vgl. ebd., Nr. 13, 8. April 1848, S. 58 ff. Ebd., S. 59. Vgl. auch Garnier - Pagès, Histoire de la Révolution, Band 5, S. 189–191.

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schaft blind und unfreundlich gegenüberstand.203 „Des hommes nouveaux, voilà ce que réclame la France !“204 Das Bulletin Nr. 16 vom 15. April schlägt einen heftigen Ton an. Eine schlechte Wahl, das Ergebnis von achtzehn Jahren bösem Einfluss, mit anderen Worten ein Sieg, den die selbstsüchtigen Kasten von einem ver wirrten und unreifen Volk erpressten, wird die Pariser Massen zwingen, die Barrikaden noch einmal zu bemannen und seinen Unwillen gegen „eine falsche nationale Repräsentation“205 zu zeigen. „Paris se regarde, avec raison, comme le mandataire de toute la population du territoire national; Paris est le poste avancé de l’armée qui combat par l’idée républicaine, [...] le rendez - vous [...] de toutes les volontés généreuses, de toutes les forces morales de la France.“206 „Si l’anarchie travaille au loin, si les influences sociales per vertissent le jugement ou trahissent le vœu des masses dispersées et trompées par l’éloignement, le peuple de Paris se croit et se déclare solidaire des intérêts de toute la nation.“207 Die Verfasserin dieses aufreizenden Artikels, George Sand, hielt sich versteckt, als die Wogen der Reaktion an Wucht zunahmen. Wie Professor Cobban nachgewiesen hat, gab es in Wirklichkeit kaum irgendeine wirksame Einmischung der Regierung in den Ablauf der Wahlen. Die demokratischen Führer waren, unbeschadet ihrer Erklärungen, gelähmt durch Hemmungen, die einer späteren Generation absurd erscheinen.208 So schärfte Louis Blanc in einer Rede vom 28. März vor der „Assemblée“ im Luxembourg seinen Freunden ein, dafür zu sorgen, dass der Wille des Volkes bei den Wahlen um jeden Preis siegen würde, und forderte sie auf, durch das Los eine Kommission zur Vorbereitung einer Kandidatenliste von 34 Namen zu bestimmen.209 Als er durch Zurufe unterbrochen wurde, er möge die Liste selbst vorbereiten, erwiderte Louis Blanc, als ein Mitglied der Regierung könne er nicht den Anschein erwecken, als ob er dem Volke seinen Willen aufzwinge. Er sagte allerdings weiter, die Liste, über die das Luxembourg - Büro entscheiden würde, solle nirgendwo sonst zum Gegenstand der Diskussion gemacht werden : „Qu’on signe donc, qu’on ne discute pas !“210 Es ist erwäh203 204 205 206 207 208 209 210

Vgl. Garnier - Pagès, Histoire de la Révolution, Band 5, S. 83. Bulletins de la République, S. XIV. Siehe auch Stern, Histoire de la Révolution, Band 2, S. 360. Bulletins de la République, Nr. 16, 15. April 1848, S. 68. Ebd., S. 69. Ebd. Vgl. Cobban, Administrative pressure, S. 158. Vgl. Cahen, Louis Blanc, S. 372. Vgl. auch Stern, Histoire de la Révolution, Band 2, S. 365–369. Cahen, Louis Blanc, S. 373.

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nenswert, dass dies die einzige Rede Louis Blancs war, die nicht im amtlichen Regierungsorgan veröffentlicht wurde. Sie wurde in Kurzschrift aufbewahrt und zu einem späteren Zeitpunkt der „Commission d’enquête du 15. IV“ vorgelegt. Die Auswahl der Kandidaten und die Aufstellung von Parteilisten durch Wahlkommissionen erschien – wie Professor Cobban bemerkt – als eine Usurpation der Macht, die rechtlich dem Volke zustand.211 Die Klerikalen, mit der Organisation der Kirche im Hintergrund, empfanden natürlich keine derartigen Skrupel. Das „Comité électoral de la liberté religieuse“, gegründet im Jahre 1846, war jedoch vorsichtig genug, nicht mit Kandidatenlisten zu erscheinen, die ausschließlich aus seinen eigenen Reihen zusammengesetzt waren. Die verschiedenen Einflüsse auf die Wählerschaft scheinen sich gegenseitig aufgehoben zu haben. Die neue und teilweise aus Analphabeten bestehende Wählerschaft unterlag an vielen Orten dem Einfluss der örtlichen Notabeln, wie etwa der alten orléanistischen „maires“, und der Überredung seitens Bischof und Pfarrer. Es gab jedoch Orte, in denen die „maires“ sich an die Kommissare wandten und um Richtlinien bezüglich der Wahlen baten. Allzu entschiedene Anweisungen der Kommissare pflegten heftigen Protest seitens der Rechten im Namen der Volkssouveränität in einer Ortschaft her vorzurufen, doch der allzu offenkundige Eifer der Geistlichkeit entzündete die Wut ihrer Gegner in einer anderen Ortschaft. Professor Cobban hat nicht mehr als sechs Beschwerden über vorsätzliche Einmischung in die Wahlen oder Fälschung von Wahlergebnissen gefunden, und nur ein Fall schien die Administration zu betreffen. Er fand überhaupt keine Beweise für Korruption.212 Die Wahlbeteiligung betrug 84 Prozent, und die Notabeln waren die Sieger. Die Parteizusammensetzung der neuen Kammer war : 100 Legitimisten, 200 ehemalige Orléanisten, 500 gemäßigte Republikaner der verschiedenen Schattierungen und 100 demokratische und soziale Republikaner. Nicht einer der Kandidaten des „Arbeitsparlaments“ im Luxembourg war gewählt worden. Louis Blanc und Albert kamen gerade noch auf der Regierungsliste durch. Ein paar Arbeiter außer dem unvermeidlichen Albert waren gewählt : Agricol Perdiguier, ein alter aktivistischer Gewerkschaftler und Journalist, jedoch Antikommunist, Corbon und Peupin – Anhänger des christlichen Sozialismus, wie Buchez ihn predigte. Raspail, Cabet, Sobrier, Pierre Leroux, Barbès, Savary hatten in Paris alle eine Niederlage erlitten. Barbès errang seinen Sitz in einer Provinzwahl. Lamartine erhielt 259 800 Stimmen, Lamennais nur 104 871, Louis Blanc 120 140, Ledru - Rollin 131 587.213 211 212 213

Vgl. Cobban, Administrative pressure, S. 144. Vgl. ebd., S. 158. Vgl. ebd., S. 158 f.; Stern, Histoire de la Révolution, Band 2, S. 369, 446.

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Tocqueville wies mit einer guten Portion Schadenfreude darauf hin, dass diese Kammer unendlich mehr Besitzende enthielt als irgendeine „Assemblée“, die auf Grund des Wahlzensus gewählt worden war. „L’Assemblée très chrétienne“,214 meinte George Sand.

4. Die misslungenen „journées“ Mit der Wahl der Nationalversammlung hatte Frankreich die provisorische Revolutionsphase beendet. Es besaß eine verfassungsmäßige Regierung, die auf dem allerheiligsten Prinzip der Legalität basierte – dem frei zum Ausdruck gebrachten Willen des ganzen Volkes. Die Zusammensetzung der Kammer war ein Beweis gegen jede Tendenz zur sozialen Demokratie. Würden die von der absoluten Gültigkeit einer sozialen Republik Überzeugten ihren höheren Anspruch durchsetzen, mit anderen Worten, Gewalt gegen die formale Demokratie gebrauchen ? Im Laufe von zehn Wochen – von den Februartagen bis zum 4. Mai, dem Datum des Zusammentritts der Nationalversammlung – erlebte Paris vier „journées“ : 28. Februar, 16. März, 17. März und 16. April. Der erste Tag war eine Demonstration zugunsten eines Fortschrittsministeriums und des Rechtes auf Arbeit; der zweite eine Demonstration der Eliteeinheiten der Nationalgarde, die aus wohlhabenden Elementen zusammengesetzt waren, gegen ihre im Zusammenhang mit der Demokratisierungspolitik bevorstehende Auf lösung. Er endete mit einer Demütigung für die Demonstranten. Obwohl sie den General Courtais misshandelten, „nieder mit den Kommunisten“ schrien und die Equipage von Ledru - Rollin und Arago anzugreifen versuchten ( Letzterer schrie die Angreifer empört an : „Verrückte, ihr vergesst, dass Foulon hier an dieser Stelle getötet wurde !“ – vor dem Sturm auf die Bastille215), zwangen die drohende Haltung der Ansammlungen von Zivilisten und die Festigkeit der Regierung die „grenadiers“ und „voltigeurs“, sich aufzulösen und nach Hause zu gehen.216 Am nächsten Tag, dem 17. März, antwortete die Linke mit einer Gegendemonstration. Ihr erklärtes Ziel war, die Provisorische Regierung der Unterstützung der Massen gegen die Privilegien zu versichern : „Le peuple est appelé aujourd’hui à donner la haute direction morale et sociale. Il est de son devoir

214 215 216

Sand, Souvenirs de 1848, S. 100. Ménard, Prologue d’une révolution, S. 65; Stern, Histoire de la Révolution, Band 2, S. 217. Vgl. Ménard, Prologue d’une révolution, S. 65; Stern, Histoire de la Révolution, Band 2, S. 216 ff.; Garnier - Pagès, Histoire de la Révolution, Band 3, S. 351 ff., 359 ff.

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de rappeler fraternellement à l’ordre ces hommes égarés.“217 Es gab konkretere Ziele – die Forderung, dass die Truppen aus der Hauptstadt ferngehalten, die Offizierswahlen der reformierten Nationalgarde und vor allem die Wahlen zur Nationalversammlung verschoben würden. Cabet war für die Verschiebung der allgemeinen Wahlen bis zum 31. Mai ( zur Nationalgarde bis zum 5. April), während Blanqui auf einer unbegrenzten Verschiebung bestand. Cabet drang auf der Versammlung der Veranstalter mit seiner Auffassung durch. Sollte es eine Demonstration zur Unterstützung der Regierung werden oder ein Versuch, sie zu zwingen ? Hatten die Veranstalter im Sinn, einen gewaltsamen Putsch zu versuchen ?218 Ein Mitglied der Provisorischen Regierung war unter den Organisatoren der Demonstration : Louis Blanc. Doch als loyales Mitglied der Regierung weigerte er sich, mit Blanqui, den er verabscheute, zu sprechen; Lamartine hingegen, der glaubte, sein Charme könne jeden entwaffnen, hatte keinerlei Bedenken, Blanqui zu einem späteren Zeitpunkt zu empfangen und ihm ganz nebenbei einen Konsulatsposten in einem fernen Land anzubieten. Zur gleichen Zeit bearbeitete Lamartine Cabet und den ritterlichen und nachgiebigen Sobrier, um sie zu veranlassen, einen mäßigenden Einfluss auf die Demonstranten auszuüben.219 Es war eine gefährliche Kraftprobe für das Regime. Die Regierung hatte kein Militär zu ihrer Verfügung. Die Nationalgarde aufzurufen, war undenkbar – das konnte zum Bürgerkrieg führen, und es war erst so kurze Zeit her, seit die Nationalgarde selbst eine Revolution gemacht hatte. Es gab eine sehr mittelmäßige und sehr unsichere Truppe von 3 000 Freiwilligen unter Colonel Rey zur Bewachung des „Hôtel de Ville“, das noch immer der Sitz der Provisorischen Regierung war. Man hatte das Gefühl, Blanqui sei zu allem fähig und plane einen Putsch, doch alles hänge von Louis Blanc ab. Dieser wurde von widerspruchsvollen Impulsen zerrissen. Der Reiz, als Retter der Regierung zu handeln, erwies sich als am stärksten. Louis Blanc sprach für die Regierung, als die fünfzig Mann starke Delegation von dem ganzen Kabinett empfangen wurde : Sicherlich sei es nicht ihr Wunsch, eine Regierung des Volkes so einzuschüchtern, dass sie Drohungen nachgab.220 Ledru - Rollin beruhigte die Depu217

218 219 220

Stern, Histoire de la Révolution, Band 2, S. 221. Zum 17. März insgesamt vgl. Lamartine, Histoire de la Révolution, Band 2, S. 204–226; Garnier - Pagès, Histoire de la Révolution, Band 3, S. 374 ff. Vgl. Angrand, Etienne Cabet, S. 44; Wassermann, Les Clubs de Barbès et de Blanqui, S. 70–72. Vgl. Guillemin, La Tragédie de quarante - huit, S. 126–139, 175 f.; Wassermann, Les Clubs de Barbès et de Blanqui, S. 70–75; Guillemin, Lamartine en 1848, S. 35–37. Vgl. Ménard, Prologue d’une révolution, S. 68–71, bes. S. 69; Blanc, Histoire de la Révolution de 1848, Band 1, S. 310 ff.

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tation mit der Zusicherung, er hole den Rat der Kommissare in der Provinz ein über das bestmögliche Datum für die allgemeinen Wahlen. Die Vertreter der Korporationen begannen bald nachzugeben. Doch die Klubisten murrten, sie würden sich nicht mit Worten zufrieden geben. Sie wollten dem Volk eine klare Antwort bringen. Sobrier griff ein und sagte, es bestehe nicht die Absicht, die Minister zu tyrannisieren. Man habe volles Vertrauen in die Regierung.221 „Nicht in jeden“, murmelte ein Blanquist, der Lamartine anstarrte.222 „Bedenkt,“ – lautete die Entgegnung – „dass der 18. Brumaire des Volkes ungewollt zu einem 18. Brumaire des Despotismus werden kann.“223 Es dürfe in einem freien Regime auch nicht eine Spur von einer tatsächlichen oder potentiellen Feindschaft zwischen dem Volk und seinem Heer geben, und dafür sollten keine Garantien verlangt werden. Beim Hinausgehen warf der Blanqui - Anhänger Flotte einen wütenden Blick auf Louis Blanc : „Also auch du bist ein Verräter.“224 Wer gewann die „journée“ ? Vom Standpunkt der Demonstranten aus war sie ein Fehlschlag. Doch sie war eine schreckliche Warnung für die Regierung und die besitzenden Klassen. Am nächsten Tag veröffentlichte die Regierung eine Erklärung, in der sie „dem Volk von Paris dankte“ für die „großartige“ Demonstration und die Billigung, die „200 000 wie eine Armee organisierte und mit Ruhe und Kraft marschierende Bürger“ der Regierung ausdrückten.225 „Quels hommes, quels partis“ – fragte die Erklärung – „seraient assez insensés désormais pour espérer faire prévaloir des idées à jamais ruinées en présence d’une telle force ?“226 Das „Bulletin de la République“ war gedankenlos genug zu erklären, die Demonstration habe das Recht des Volkes auf die Ausübung der direkten Demokratie geltend gemacht – „L’exercice direct, [...], incessant de sa souveraineté.“227 – wie 1792/93. Émile Thomas bezeichnete die Wirkung des 17. März als „terrible“; Garnier - Pagès als „fatal“;228 CuvillierFleury sagte, Paris habe gezittert beim Anblick „dieser entschlossenen, schweigenden Horden, die nicht mehr brauchten als einen Anstoß, um kampf los die

221 222 223 224 225

226 227 228

Vgl. ebd.; Stern, Histoire de la Révolution, Band 2, S. 216, 221, 225–228; Garnier Pagès, Histoire de la Révolution, Band 3, S. 382 f. Stern, Histoire de la Révolution, Band 2, S. 228. Garnier - Pagès, Histoire de la Révolution, Band 3, S. 387; Stern, Histoire de la Révolution, Band 2, S. 229. Guillemin, La Tragédie de quarante - huit, S. 138. Vgl. auch ebd., S. 136 f. Garnier - Pagès, Histoire de la Révolution, Band 3, S. 393. Vgl. außerdem Camp, Souvenirs de l’année 1848, S. 137 ff.; Normanby, A Year of Revolution, Band 1, S. 238 ff., 246; Lamartine, Histoire de la Révolution, Band 2, S. 225 f. Guillemin, La Tragédie de quarante - huit, S. 139. Bulletins de la République, Nr. 5, 21. März 1848, S. 26. Guillemin, La Tragédie de quarante - huit, S. 140.

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Grundfesten der Gesellschaft umzustoßen“.229 Wir leben auf einem Vulkan – sagte Lamartine immer wieder in Briefen an Ver wandte und in Unterhaltungen mit dem britischen Botschafter.230 Die Regierung machte einige Konzessionen. Die Offizierswahlen zur Nationalgarde wurden auf den 5. April verschoben, die allgemeinen Wahlen auf den Ostertag, 23. April. Wir sprechen an anderer Stelle von den sozialökonomischen Konzessionen. Die Regierung wohnte in voller Stärke einer Sitzung des Arbeitsparlamentes im Luxembourg bei, und Arago hielt eine beinah sozialistische Rede. Marie versicherte den Arbeitern der „Ateliers nationaux“ begeistert auf einer großen Parade, die Republik gehöre für immer ihnen; sie sei ihrer würdig und umgekehrt.231 Die „journée“ vom 16. April kennzeichnete eine Umkehr in der Revolutionsflut.232 Sie erwies sich als eine große „journée des dupes“. Angeblich sollte es eine Demonstration der Arbeiterklasse für die Wahl von Offizieren aus der Arbeiterklasse zur Nationalgarde sein. Sie war eine Konzession an Louis Blanc, nachdem die zuvor abgehaltenen Wahlen nicht eine einzige Ernennung, mit Ausnahme von Barbès, in den niederen Rängen gebracht hatten – was wirklich ein schlechtes Zeichen war. Eine symbolische Kollekte für die Republik sollte an Ort und Stelle unternommen werden. Mit wehenden Bannern sollten die Arbeiterkorporationen vom Champ - de - Mars zum „Hôtel de Ville“ marschieren, um der Provisorischen Regierung ihren Beifall auszudrücken. Die Demonstration trug keine konkreten Forderungen vor. Nur Losungen für die der Regierung zu überreichende Denkschrift waren von Louis Blanc formuliert worden : „Das Volk will eine demokratische Republik; das Volk fordert die Abschaffung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen; das Volk verlangt die Organisation der Arbeit durch Assoziation. Lang lebe die Republik ! Lang lebe die Provisorische Regierung !“233 Die Initiative kam von Louis Blanc und der „Commission du Luxembourg“ und sollte dem Volk nochmals eine Gelegenheit geben zu sagen : „Je suis là.“234 Oberflächlich besehen eine unschuldige Angelegenheit. Doch eine unheilvolle Atmosphäre von Geheimnis und Komplott hüllte das Ereignis zu seiner 229 230 231 232

233 234

Ebd. Vgl. ebd., S. 141. Vgl. insgesamt ebd., S. 140–144. Vgl. Cahen, Louis Blanc, S. 369; Guillemin, La Tragédie de quarante - huit, S. 143; Stern, Histoire de la Révolution, Band 2, S. 352. Zum 16. April siehe Garnier - Pagès, Histoire de la Révolution, Band 4, S. 308–326, 342–347, 350–356; Stern, Histoire de la Révolution, Band 2, S. 333–343; Angrand, Etienne Cabet, S. 53 ff.; Guillemin, La Tragédie de quarante - huit, S. 156, 176 ff.; Caussidière, Mémoires, Band 2, S. 17 ff. Guillemin, La Tragédie de quarante - huit, S. 168. Blanc, zit. in Guillemin, La Tragédie de quarante - huit, S. 168.

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Zeit ein und hat es seither umgeben. Es gibt viele Versionen dessen, was beabsichtigt war : Blanqui sei entschlossen gewesen, einen Putsch auszuführen; es sei eine royalistische Intrige gewesen; ein Wohlfahrtsausschuss und eine jakobinische Diktatur mit Ledru - Rollin an der Spitze seien vorbereitet worden; es sei eine Falle gewesen, die dem Volk von Lamartine, Marrast und General Changarnier gestellt wurde, damit es sich kompromittiere und seine Ohnmacht gegenüber der bürgerlichen Nationalgarde offenbare. Suzanne Wassermann neigt der Auffassung zu, Blanqui habe irgendeinen verzweifelten Plan im Sinn gehabt. Seine Stimmung war in der Tat verzweifelt. Am 31. März war das berühmte Taschereaudokument in der neuen Zeitschrift „Revue Rétrospective“ erschienen, die begründet worden war, um alte Geheimnisse aufzudecken.235 Nur die getreuesten Anhänger Blanquis blieben unerschüttert von den Enthüllungen, ganz zu Schweigen von der Freude seiner zahllosen Feinde auf allen Seiten, für die der alte Verschwörer ein Symbol alles dessen bedeutete, was unheilvoll, verkehrt und unerbittlich fanatisch war. Die ganze Linke war betroffen über das Ausmaß an genauen Einzelheiten und Indizienbeweisen, die das Dokument der Polizei über die revolutionäre Untergrundbewegung und vor allem über Barbès’ Betätigung um 1839 gegeben hatte. Nur jemand, der mitten in der Bewegung stand, konnte all das gewusst haben. Es ist nicht unsere Aufgabe, die Arbeit des besonderen Untersuchungsausschusses weiterzuverfolgen, der von den Linksgruppen eingesetzt wurde, nachdem Blanqui sein Schweigen in der Angelegenheit mit einer leidenschaftlichen Ableugnung brach. Inzwischen ist sogar ein Bewunderer wie Dommanget dahin gekommen, an die Authentizität des Dokumentes zu glauben. Ein Historiker in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts ist geneigt, milder über den Zusammenbruch eines einsamen vergessenen Gefangenen zu urteilen, der von Krankheit geplagt, von Alpdrücken heimgesucht und von einem Gefühl nicht wiedergutzumachenden Versagens erdrückt wurde.236 Wie dem auch sein möge, die Veröffentlichung des Dokumentes zu jenem Zeitpunkt war der schlimmste Dolchstoß in den Rücken, der sich denken ließ. Sie spaltete das Lager der revolutionären Aktivisten in zwei Teile – es gab keine Möglichkeit einer Zusammenarbeit mehr zwischen den beiden führenden Kämpfergestalten, Blanqui und Barbès. Letzterer, der Bayard der Revolution, ritterlich und von edelmütiger und vertrauensvoller Veranlagung, leicht empfänglich für einen Appell an seine Ehre und Freundschaft, erlag eine Zeit lang den Schmeicheleien der Provisorischen Regierung. 235

236

Vgl. Taschereau ( Hg.), Revue Rétrospective, 31. März 1848, S. 3–10; Wassermann, Les Clubs de Barbès et de Blanqui, S. 109 ff., 122; Molinier, Blanqui, S. 42 f.; Jeanjean, Barbès, Band 1, S. 159 ff. Vgl. Dommanget, Un drame politique en 1848; Molinier, Blanqui, S. 43.

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Ledru - Rollin erwies sich am Vorabend des 16. April und an dem Tag selbst als Schlüsselfigur. Er war ein Jakobiner, nach dem Vorbild Dantons gegossen, überströmend von Gefühl, beredsam, theatralisch, von riesigem Körperbau, doch im Grunde hatte er einen schwachen Willen und keine feste Überzeugung. Es schmeichelte ihm und lockte ihn, als der starke Mann der Vorsehung zu erscheinen, als Vollstrecker des Willens der Geschichte, der die Revolution durch Entfaltung rücksichtsloser Entschlossenheit zu einem logischen Abschluss bringt. Doch im entscheidenden Augenblick war er imstande, sich zurückzuziehen, weil Zweifel und Ängste ihn bedrückten. Er verabscheute Blanqui und hatte keine Sympathie für Louis Blanc als sozialistischen Doktrinär und Rivalen um den Beifall des Volkes. In seinem Gefolge im Ministerium des Inneren waren Männer von jakobinischem Temperament wie Jules Favre, Regnault, Carteret, Portalis, deren vage Pläne darauf hinausliefen, die Provisorische Regierung durch einen Wohlfahrtsausschuss mit Ledru - Rollin an der Spitze zu ersetzen. Barbès und Caussidière waren in das Geheimnis eingeweiht.237 Zur gleichen Zeit wandte Lamartine seine ganze Überredungskunst und seinen persönlichen Charme auf, um Ledru - Rollin mit einem Gefühl der Sendung zu durchdringen, damit er sich als Verteidiger seiner Kollegen dem Ansturm der Anarchie entgegenstemme. Das Bulletin seines Ministeriums hatte gerade, ohne sein Wissen, die furchtbaren aufreizenden Worte gegen eine etwaige „schlechte Wahl“ bei den bevorstehenden allgemeinen Wahlen veröffentlicht.238 Seine Gereiztheit ver wandelte sich in Wut, als seine Freunde ihm die Kandidatenliste des geplanten Wohlfahrtsausschusses zeigten, in der er sich mit einigen ihm nicht zusagenden Kollegen zusammen aufgeführt fand. In den Morgenstunden des 16. April, als Lamartine, angstvoll nach einer schlaf losen Nacht, sich fertig machte, um zum „Hôtel de Ville“ zu gehen, stürzte Ledru Rollin in einem Zustand höchster Erregung in sein Zimmer und schrie, alles sei verloren. 100 000 Mann marschierten unter Führung von Blanqui und den Rädelsführern vom Luxembourg in Richtung auf das „Hôtel de Ville“. „Les factieux usurpent mon nom, je les renie.“239 Er werde mit seinen Kollegen stehen und fallen. Er sei kein Verräter. Ungefähr um 10 Uhr morgens versammelten sich die Demonstranten, zum größten Teil unbewaffnet, auf dem Champ - de - Mars. Es gab einige bemerkenswerte Abwesenheiten – zum Beispiel fehlten Cabet und Raspail, während

237 238 239

Vgl. Garnier - Pagès, Histoire de la Révolution, Band 4, S. 344 f., 350–356; Wassermann, Les Clubs de Barbès et de Blanqui, S. 125. Vgl. Bulletins de la République, Nr. 18, 20. April 1848, S. 72 f.; Stern, Histoire de la Révolution, Band 2, S. 342 f. Stern, Histoire de la Révolution, Band 2, S. 335 f.

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einige tausend Arbeiter der Nationalwerkstätten sich auf Anregung von Caussidière am Hippodrom versammelten und eher als Verteidiger der Regierung denn als Demonstranten gegen sie aufzutreten schienen. Die über wiegende Mehrheit der Arbeiter der Ateliers war zu jener Stunde im Park Monceau versammelt, um die Verlesung der Statuten anzuhören.240 Die Regierung erließ das Sammelsignal, und sehr bald waren etwa 50 000 Mann Nationalgarde in voller Bewaffnung um das „Hôtel de Ville“ versammelt, so dass die Demonstranten, als sie am „Hôtel de Ville“ anlangten, sich in der Minderheit und nach allen Seiten hin von feindseligen Reihen wohlbewaffneter Männer umgeben fanden. Unter den Befehlshabern der bewaffneten Truppen, die zur Verteidigung der Regierung versammelt waren, befand sich auch Colonel Armand Barbès. Einer kleinen Abordnung der Demonstranten wurde ein enger Durchgang gewährt. Sie wurden nicht von Mitgliedern der Regierung empfangen, sondern von dem Abgeordneten Adam, der von Recurt und Buchez flankiert war. Er nahm von ihnen die Geldsumme an – „offrande“ –, die die Arbeiter auf dem Champ - de - Mars für die Republik gesammelt hatten, wollte aber keine Klagen anhören.241 In den Reihen der Nationalgarde ertönten die Rufe : „Nieder mit den Kommunisten“, „Tod für Cabet“, „Tod für Blanqui“.242 Ohnmächtig und gedemütigt zerstreuten sich die Demonstranten. Die Zeiten hatten sich geändert. Die Provisorische Regierung – das ist wahr – erließ eine erneute Dankadresse an das Volk für sein großartiges Benehmen und seinen Respekt vor der Regierung. Das Bulletin spöttelte über die Agitation gegen die Kommunisten, „eine kleine Zahl von Sektierern“, die eine „phantastische Einführung einer unmöglichen Gleichheit des Besitzes“ predigten, „verirrte Geister“.243 Die Regierung gewährte einige neue Konzessionen in Bezug auf Verbrauchssteuern zugunsten der Armen und führte einige neue Steuern auf Kosten der Wohlhabenden ein. Es war jedoch nicht zu bestreiten, dass der 16. April die Rache der Bürgerlichen für den 17. März war, dass nunmehr „l’ordre public avait son armée“,244 die nicht nur aus der Nationalgarde bestand, sondern auch aus vielen proletarischen Feinden des Kommunismus. Barbès erkannte bald seinen Irrtum. Er war von den Reaktionären 240 241

242 243 244

Vgl. ebd., S. 333–335; Angrand, Etienne Cabet, S. 54 f.; Thomas, Histoire des Ateliers nationaux, S. 199 ff. Vgl. Wassermann, Les Clubs de Barbès et de Blanqui, S. 129; Angrand, Etienne Cabet, S. 54 f. Vgl. zu diesem und den vorhergehenden Abschnitten auch Guillemin, La Tragédie de quarante - huit, S. 169–187. Stern, Histoire de la Révolution, Band 2, S. 338; Wassermann, Les Clubs de Barbès et de Blanqui, S. 135. Bulletins de la République, Nr. 18, 20. April 1848, S. 73. Guillemin, La Tragédie de quarante - huit, S. 192.

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hinters Licht geführt worden und hatte sich einem eingebildeten Komplott von Barbaren widersetzt : „Ce que n’a pas fait une poignée d’ambitieux, la réaction l’a tenté et trop bien accompli.“245 In seinen Memoiren fasste Odilon Barrot die Bedeutung des 16. April in den Worten zusammen : „Die Reaktion der Ordnung, die ( an jenem Tage ) begann, war ebenso unwiderstehlich wie die Reaktion der Menschlichkeit auf ( die Ereignisse des ) Thermidor.“246 Fünf Regimenter des regulären Heeres rückten am 20. April in die Hauptstadt ein, und drei Tage später besiegelte ein großes Verbrüderungsfest zwischen dem Volk und seiner Armee die Tatsache der absoluten Identität der beiden – „la plus belle journée de l’histoire“, „élan de solidarité sans bornes, besoin d’aimer et d’embrasser l’humanité tout entière“, „un million d’âmes, oubliant toute rancune, toute différence d’intérêt“ – so beschrieb es die überschwängliche George Sand.247 Die „Schlappe des 16. April“ ertränkte – mit den Worten Proudhons – die Hoffnungen des Proletariats „sous le roulement des tambours du capital et du privilège“.248 Sie bewies den Massen, dass sie kein Vertrauen zur Regierung haben konnten. Die Ergebnisse der allgemeinen Wahlen belebten von neuem und in einer schärferen Form das Dilemma der Getreuen der Revolution, die von einer feindseligen oder gleichgültigen Majorität behindert wurden. Im Blanqui - Klub wurde schon am Abend des 16. April die Frage aufgeworfen, ob nicht die Zeit gekommen sei, die Untergrundbewegung wieder auf leben zu lassen und die reaktionäre Gewalttätigkeit mit den Methoden der Geheimbünde zu beantworten.249 „Que la guerre civile devait inévitablement éclater et que le sang répandu retomberait sur la garde nationale“,250 sagte Blanqui. Rouen wurde zum Schauplatz eines Massakers von Volksdemonstranten, die auf die Nachrichten von einem Wahlsieg der Bürgerlichen auf die Straßen hinausgegangen waren. Es gab eine heftige Reaktion auf diese Ereignisse unter den Pariser Klubs, und der Barbès - Klub ging so weit, von der Regierung zu ver245

246 247

248 249 250

Wassermann, Les Clubs de Barbès et de Blanqui, S. 134; Garnier - Pagès, Histoire de la Révolution, Band 5, S. 14. Vgl. auch Stern, Histoire de la Révolution, Band 2, S. 338 ff. Barrot, Mémoires, Band 2, S. 135. Sand, zit. in Guillemin, La Tragédie de quarante - huit, S. 203. Vgl. auch Garnier Pagès, Histoire de la Révolution, Band 5, S. 42–56; Leroy, Histoire des idées sociales en France, Band 3, Kapitel 2, S. 49 ff. Proudhon, zit. in Guillemin, La Tragédie de quarante - huit, S. 195. Garnier - Pagès, Histoire de la Révolution, Band 5, S. 13 ff.; Wassermann, Les Clubs de Barbès et de Blanqui, S. 132 f. Blanqui, zit. in Wassermann, Les Clubs de Barbès et de Blanqui, S. 145.

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langen, dass sie die Industriearbeiter in den großen Städten zum Schutz gegen mörderische Angriffe bewaffne. Die Arbeiter der „Ateliers“ erklärten sich andererseits bereit, der Regierung bei der Nieder werfung der Anarchisten von Rouen zu helfen.251 Barbès gab seine Unterschrift zu dem aufreizenden Plakat der „Société des droits de l’homme“, das auch von Huber, Villain, Napoléon Dubon und Chipron unterzeichnet war und in dem gesagt wurde, mit dem Beginn der sozialen Revolution seien die alten von den privilegierten Klassen zur Sicherung ihrer Privilegien und Macht erlassenen Gesetze nicht mehr verbindlich für die sozialen Parias, die gewaltige Mehrheit der Nation, deren Stimme die Stimme Gottes sei. Den Ausbeutern von gestern wurde Gnade versprochen. Doch wenn sie in ihrem blinden Egoismus beharrten, würden sie am Tage des Gerichts feststellen, dass die Avantgarde des Volkes ihnen nicht Gnade, sondern Gerechtigkeit widerfahren lässt.252 Die Plakate von Extremistengruppen bedrohten die Nationalversammlung mit sofortiger Auf lösung, falls sie sich als treulos gegenüber dem Volke bewiese – „chasserait cette fausse représentation nationale“.253 Die Pariser Arbeiter werden sich auf dem Marsfeld versammeln, dort durch Akklamation eine Verfassung annehmen und sich dann geschlossen zur Nationalversammlung begeben und sie zwingen, die Verfassung auf der Stelle anzunehmen.254 Der Barbès - Klub forderte die Provisorische Regierung auf, diktatorische Befugnisse auszuüben, bis die „Assemblée“ bewiesen habe, ob sie das Vertrauen der wahren Republikaner verdiene.255 Cabet und Leroux drangen in die Regierung, einen ständigen Ausschuss von radikalen sozial-republikanischen Führern zu kooptieren als Gegengewicht zur Nationalversammlung und als Zeichen dafür, dass es ihr ernst sei mit einer baldigen totalen sozialen Umgestaltung. „L’Assemblée Constituante n’est autre chose qu’un atelier national. Là sont des ouvriers chargés par le peuple de travailler pour son compte. Le jour où ces ouvriers n’accomplissent pas leur devoir à l’égard du maître, celui - ci peut les chasser de l’atelier et les remplacer par de plus fidèles ser viteurs. Songez - y, soidisant Représentants du Peuple, le Maître a l’œil sur vous“256 – so sprach man im Blanqui - Klub. 251 252 253 254 255 256

Vgl. ebd., S. 145–149. Vgl. auch Garnier - Pagès, Histoire de la Révolution, Band 5, S. 324–328. Vgl. Wassermann, Les Clubs de Barbès et de Blanqui, S. 149 f.; Garnier - Pagès, Histoire de la Révolution, Band 5, S. 324–328. Stern, Histoire de la Révolution, Band 3, S. 9. Vgl. ebd. Vgl. Wassermann, Les Clubs de Barbès et de Blanqui, S. 157. Wassermann, Les Clubs de Barbès et de Blanqui, S. 162; Assemblée Nationale ( Hg.), Rapport de la commission d’enquête, Band 2, S. 114 f.

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In gewissem Sinn war die „journée“ vom 15. Mai die Ausführung der im Bulletin des Innenministeriums vom 15. April enthaltenen Drohung.257 Die „Roten, erdrückt von dem Gewicht des Sieges ihres eigenen Prinzips“,258 des allgemeinen Wahlrechts, gingen zu der treulosen Nationalversammlung, um ihr eine Lehre zu erteilen, wie man den Willen des Volkes respektiert. Der 15. Mai wiederholt das Muster früherer „journées“.259 Als erstes die gleiche Zweideutigkeit : Lag hier ein vorbedachter Versuch zu einem Putsch vor oder eine Provokation seitens der Regierung ? Es gibt genügend Beweismaterial dafür, dass einige der handelnden Personen ihre Eisen zu gleicher Zeit in verschiedenen Feuern hatten, teils aus Opportunismus und teils wegen der allgemeinen Unschlüssigkeit. Barbès, Louis Blanc, Caussidière, Ledru - Rollin hatten Visionen von einer revolutionären Diktatur, während Marrast, Buchez und Marie nicht abgeneigt waren, die Linke in ein verhängnisvolles Abenteuer hineinzulocken. Männer wie Lamartine mögen gehofft haben, beides zu erreichen : die Rechte zu schrecken und die Linke zu kompromittieren. Mit wenigen Ausnahmen – zum Beispiel von Blanqui, Raspail und Cabet – waren die Klubmitglieder selbst bestrebt, mehrere Intrigen zur gleichen Zeit zu unterhalten. Huber, der Initiator und Hauptdarsteller der „journée“ vom 15. Mai, war eine höchst zweideutige Gestalt. Im Jahre 1836 war er zu fünf Jahren Gefängnis ver urteilt worden. Er bekam eine Strafmilderung zugebilligt und ging 1837 nach London. Dann war er an verschiedenen Verschwörungen beteiligt, stand jedoch auch stark im Verdacht, Kontakt mit der Polizei zu unterhalten. Er war unter den Ver wundeten der Februartage. Während der Provisorischen Regierung stand er in Verbindung mit Ministern, und vor dem 15. Mai hoffte er auf eine Staatsanstellung als „intendant du domaine du Raincy“, nachdem er bei den Wahlen nicht durchgekommen war. Huber und Sobrier unterzeichneten die Proklamation, die im Namen des „Club centralisateur“, des Erben des „Club des Clubs“, zur Demonstration aufrief. Huber wurde kurz nach dem 15. Mai verhaftet, jedoch bald wieder freigelassen und, im Gegensatz zu den anderen führenden Demonstranten, nie vor Gericht gestellt.260 Wie bei früheren Gelegenheiten waren die Führer der revolutionären Linken von schwerster Unschlüssigkeit befallen. Barbès befürchtete einen Putsch durch Blanqui. Cabet weigerte sich teilzunehmen. Blanqui selbst prophezeite 257 258 259

260

Vgl. Bulletins de la République, Nr. 16, 15. April 1848, S. 68–70. Tocqueville, Recollections, S. 114 f. Vgl. zum 15. Mai Tocqueville, Recollections, S. 133–148; Guillemin, La Tragédie de quarante - huit, S. 231–257; Stern, Histoire de la Révolution, Band 3, S. 30 ff.; Lamartine, Histoire de la Révolution, Band 2, S. 421–447; Lucas, Les Clubs et les Clubistes, S. 56–68, 208–222, 223–232. Vgl. zu Huber Bouton, Profils révolutionnaires, S. 117 f.; Assemblée Nationale ( Hg.), Rapport de la commission d’enquête, Band 2, S. 110 f.

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Unheil und riet zu friedlichen Methoden. Raspail wollte nicht mehr tun, als die Resolution über Polen abfassen. Beide wünschten und versuchten, im Laufe der Demonstration im Hintergrund zu bleiben, doch beide wurden unwiderstehlich hineingefegt. Am Morgen des 15. Mai wurde Raspail durch Huber vom Schluss des Zuges, wo er mit seinen Anhängern war, nach vorne gerufen. Huber behauptete, er habe den von Raspail verfassten Resolutionsentwurf verloren. Als die Menge vor dem Palais Bourbon zögerte, konnte Blanqui nicht an sich halten, sprang Voraus mit dem Ruf „en avant“ und riss die Massen mit sich.261 Der Gegenstand der Demonstration war Polen : die Entsendung einer französischen Armee, um den Polen zu helfen, ihre Freiheit wiederzugewinnen. In der „Assemblée“ sollte am 15. Mai eine Debatte über Polen stattfinden.262 Es ist nicht unsere Aufgabe, die Begebenheiten in der „Assemblée“ zu beschreiben, nachdem der Mob in den Saal eingedrungen war.263 Die „Assemblée“ hatte einige Zeit vorher den Grundsatz angenommen, dass Petitionen von draußen untersagt seien – die Erinnerung an 1792/93 war noch frisch. Die Demonstranten kamen, um das Recht zu fordern, das ihnen genommen worden war. Trotz fürchterlicher Hitze und größter Ver wirrung blieben die Mitglieder der „Assemblée“ auf ihren Sitzen. Diejenigen, die sich, abgesehen von ihrer Mitgliedschaft im Parlament, als die Sprecher der Massen betrachteten, wie Lamartine und Louis Blanc, versuchten vergeblich, der Demonstranten Herr zu werden. In theatralischer Pose mit gekreuzten Armen versuchte Lamartine, den Eingang zur „salle des pas perdus“ zu versperren : „Vous ne passerez pas.“264 Hierauf fragte ihn Laviron, mit welchem Recht er, ein Phrasendrescher, versuchte, das Volk, das seiner Phrasen müde sei, daran zu hindern, der „Assemblée“ seinen Willen zu bedeuten. Lamartine gab bald verzweifelt auf; sein Charme hatte ihn diesmal im Stich gelassen. Louis Blanc wurde von der Menge auf den Schultern getragen – Held oder Gefangener des Volkes ? Er bemühte sich zu sprechen; er wollte das Volk beruhigen, doch einige seiner Sätze konnten mit Leichtigkeit in Rufe der Aufhetzung verkehrt werden. Er fiel in Ohnmacht. Raspail wurde von Buchez auf die Tribüne gerufen. Rufe aus der „Assemblée“ protestierten dagegen, dass ein Außenstehender im Parlament sprach. Seine Stimme wurde in Lärm ertränkt. Alle paar Minuten bra-

261 262 263 264

Stern, Histoire de la Révolution, Band 3, S. 28. Vgl. Wassermann, Les Clubs de Barbès et de Blanqui, S. 171. Vgl. dazu Ménard, Prologue d’une révolution, S. 99–125; Normanby, A Year of Revolution, Band 1, S. 388–400. Stern, Histoire de la Révolution, Band 3, S. 32; Lamartine, Histoire de la Révolution, Band 2, S. 425.

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chen neue Wellen von Demonstranten herein. Die Atmosphäre wurde unerträglich.265 Auf Verlangen der Menge sprach Blanqui. Er forderte die unverzügliche Entsendung einer Armee nach Polen, um die Grenzen von 1772 wiederherzustellen, und ging dann sofort dazu über, mit Stentorstimme über die Massaker von Rouen, das Elend der Arbeiter und die Notwendigkeit einer sozialen Revolution zu sprechen.266 Barbès wird von revolutionärer Ekstase hingerissen. Als Mitglied der „Assemblée“ beglückwünscht er das Volk, dass es – wie 1793 – das geheiligte Petitionsrecht wiedererobert habe. Die Demonstration sollte vor der „Assemblée“ vorbeimarschieren und ihre Ehrenbezeugung empfangen. Barbès wird im Triumphzug getragen. Auch er wird ohnmächtig. Als er wieder aufwacht, nimmt er seine Rede in einem noch exaltierteren Ton wieder auf. Er fordert, dass sofort eine Armee nach Polen entsandt werde. Die Sache jeder unterdrückten Nation ist die Sache Frankreichs. Dann verlangt er die Bewilligung von einer Milliarde Franken, die den Reichen zugunsten der Armen abgenommen werden sollen. Die „Assemblée“ sollte sofort verfügen, dass die Truppen die Hauptstadt räumen, andernfalls würden sie zu Verrätern erklärt werden.267 In diesem Augenblick ertönt das Signal, das die Nationalgarde zum Sammeln ruft. Das Volk ist verraten und in eine Falle gegangen. Mit gezückten Schwertern versuchen die Klubisten, den Präsidenten Buchez zu zwingen, den Befehl zu widerrufen. Nach einiger Weigerung gibt er nach, wohl wissend, dass die Nationalgarde ohnehin in wenigen Minuten eintreffen wird.268 Zur gleichen Zeit rückt Huber, eben gerade aus einem Ohnmachtsanfall aufgewacht, zur Tribüne vor mit einer schwarzen Fahne, auf der eine rote Kappe sitzt, und mit gezogenem Schwert. Mit Donnerstimme verkündet er, dass er die Nationalversammlung auf löst im Namen des Volkes, das von seinen Vertretern betrogen worden ist. Alle sind bestürzt, nicht zuletzt die Führer der Manifestation selbst. Die Sitzung wird aufgehoben. Die Mitglieder der „Assemblée“ erheben sich von ihren Sitzen. Ein Teil der Demonstranten geht auseinander. Die Entschlosseneren gehen mit Barbès und Albert an ihrer Spitze weiter zum „Hôtel de Ville“. Huber verschwindet. Blanqui schleicht davon. Louis Blanc und Raspail ( nach einer Ohnmacht, auch er ) entkommen unter Schwierigkeiten, nachdem sie zuerst von Extremisten gezwungen wur-

265 266 267 268

Vgl. Ménard, Prologue d’une révolution, S. 104–106; Stern, Histoire de la Révolution, Band 3, S. 32–35. Vgl. Stern, Histoire de la Révolution, Band 3, S. 35 f. Vgl. Ménard, Prologue d’une révolution, S. 107–111; Stern, Histoire de la Révolution, Band 3, S. 37 f. Vgl. Stern, Histoire de la Révolution, Band 3, S. 38 f.

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den, zum „Hôtel de Ville“ mitzugehen. Pierre Leroux macht sich aus dem Staub. Laviron geht, um die Polizeipräfektur zu übernehmen, und Sobrier das Innenministerium.269 Bei ihrer Ankunft am „Hôtel de Ville“ überzeugt Barbès den ver wirrten Platzkommandanten, Colonel Rey, ein alter Kamerad von ihm, dass es wieder genau wie am 24. Februar ist, und nicht lediglich ein Aufruhr. Die „Assemblée“ ist aufgelöst : „Laisse - moi sauver la France.“270 Barbès übernimmt den Oberbefehl, zeichnet ein Dekret der Auf lösung der „Assemblée“, erklärt das Tragen der Uniformen der Nationalgarde für ungesetzlich und erlässt ein Ultimatum an Russland und Preußen, die polnische Unabhängigkeit wiederherzustellen. „Le peuple ayant dissous l’Assemblée nationale, il ne reste plus d’autres pouvoirs que celui du peuple lui - même“271 – dessen Spitze er, Barbès, ist. Mitten in der Abfassung des vierten Dekrets dringt ein Offizier der Nationalgarde herein und fragt Barbès, was er hier mache. Auf die Antwort, er sei als Mitglied der neuen Provisorischen Regierung da, erwidert der Offizier, er sei gekommen, um ihn im Namen der alten Regierung zu verhaften. Im Laufe des Abends und in den nächsten paar Tagen nimmt die Polizei die anderen führenden Klubisten fest und setzt sie hinter Schloss und Riegel.272 Proudhon fasst die Ereignisse des 15. Mai wie folgt zusammen : „Une masse confuse apporte une pétition à l’Assemblée : souvenir de 1793. Les chefs du mouvement s’emparent de la tribune et proposent un décret : souvenir de prairial. L’émeute se retire et ses auteurs sont jetés en prison : souvenir de thermidor. Cette manifestation inintelligente, impuissante, liberticide et ridicule ne fut, du commencement jusqu’à la fin, qu’une pastiche des grandes journées de la Convention.“273

269 270 271 272 273

Vgl. Stern, Histoire de la Révolution, Band 3, S. 39–48. Ebd., S. 49; Wassermann, Les Clubs de Barbès et de Blanqui, S. 182 f. Wassermann, Les Clubs de Barbès et de Blanqui, S. 183. Vgl. ebd., S. 184, Stern, Histoire de la Révolution, Band 3, S. 49–52. Vgl. auch Assemblée Nationale ( Hg.), Rapport de la commission d’enquête, Band 2, S. 110 f. Proudhon, zit. in Stern, Histoire de la Révolution, Band 3, S. 57. Vgl. auch Tocqueville, Recollections, S. 138 : „Dann sah ich, wie ein Mann auf der Tribüne erschien, den ich seitdem nie wieder gesehen habe; allein der Gedanke an ihn hat mich stets mit Grausen und Abscheu erfüllt. Er war bleich und abgezehrt, hatte weiße Lippen, einen kränklichen, bösen und abstoßenden Ausdruck, eine schmutzige Blässe, die Erscheinung eines moderigen Leichnams; er trug keine sichtbare Wäsche; ein sonderbarer schwarzer Gehrock schloss sich eng um seine mageren, welken Glieder; er schien sein Leben in einer Kloake zugebracht zu haben und gerade erst aus ihr herausgekommen zu sein. Man sagte mir, das sei Blanqui.“

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III. Die ver hin der te sozia le Revo lu ti on 1. Zweideutige Haltungen Die Spaltung in Bejaher der demokratischen Legalität und in Verfechter des Primats des Revolutionsziels hatte 1848 ihr Gegenstück in der Unterscheidung zwischen „République démocratique“ und „République démocratique et sociale“.274 Es scheint unter der Pariser Arbeiterschaft die sehr weit verbreitete axiomatische Annahme geherrscht zu haben, dass die Revolution ohne die Lösung der sozialen Frage nicht vollständig wäre. Die soziale Frage erschien ihr als ein Problem, das man sofort durch positive Maßnahmen lösen müsste. Bis jetzt war seine Lösung durch den schlechten Willen von ausbeuterischen egoistischen Interessen versperrt gewesen. Doch nun war die Herrschaft der Privilegien abgeschafft. Demokratie und Republik bedeuteten Gerechtigkeit für das Volk, andernfalls waren sie Lug und Trug. Die nichtsozialistischen radikalen Demokraten und auch viele Liberale wurden, wie bereits früher erwähnt, von der Erkenntnis getrieben, dass die Armut das Zentralproblem des Zeitalters sei. Sie waren jedoch nicht bereit, sozialistische Schlussfolgerungen zu akzeptieren. Allerdings besaßen sie auch nicht die Überzeugungsstärke, die sozialen Ansprüche der Arbeiter abzuweisen. Unter diesen Umständen pflegten sie so weit nachzugeben, dass sie mit halbem Herzen zu halben Maßnahmen griffen. Gerieten sie dadurch in die Enge, so ärgerten sie sich über sich selbst und wurden gereizt gegen die Arbeiter. Die schwierige Lage stählte sie nicht zu entschiedener Tat in der einen oder anderen Richtung, sondern brachte sie dazu, sich treiben zu lassen und am Ende der entschlosseneren Haltung der Rechten nachzugeben. Die Arbeiter ver wünschten sie dann wegen ihres Verrats, und die Rechte spöttelte über Lamartine : „L’incendiaire qui s’est fait pompier.“275 Dasselbe Schema wiederholte sich bei verschiedenen konkreten Anlässen. Kaum waren die Straßenkämpfe vorüber, als ein junger Arbeiter namens Marche sich eine Minute lang aus der totalen Anonymität heraushob und zum Symbol wurde : Er erschien an der Spitze einer stark bewaffneten Abordnung vor der Provisorischen Regierung im „Hôtel de Ville“ mit der entschiedenen 274

275

Die Hauptquellen für dieses Kapitel sind : Thomas, Histoire des Ateliers nationaux; Procès - verbaux; Blanc, La Révolution de Février au Luxembourg; Cahen, Louis Blanc; Quentin - Bauchart, La Crise sociale de 1848; McKay, The National Workshops; Schmidt, Des Ateliers nationaux. Guillemin, La Tragédie de quarante - huit, S. 224.

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Forderung, das Recht auf Arbeit, „le droit au travail“, auf der Stelle zu proklamieren. Lamartine antwortete im Namen der Minister, die blass und mit zusammengepressten Lippen zuhörten, sogar wenn man ihn vor eine Gewehrmündung stellte, würde er nicht ein Dekret unterzeichnen, das er nicht verstehen, geschweige denn ausführen könne. Für ihn sei dies entweder ein leeres Schlagwort und Trugbild oder ein Plan, der dazu angetan sei, sowohl die Freiheit der Besitzenden als auch das Interesse der Arbeiter an ihrer Arbeit zu vernichten – kurzum, alle freien Beziehungen zu ersticken.276 Und doch nahmen er und die anderen Minister die Formel an, die Louis Blanc, Ledru - Rollin und Flocon in einer Ecke, in die sie sich zur Beratung zurückgezogen hatten, ausarbeiteten. Hiernach verpflichtete sich die Provisorische Regierung, den Unterhalt jedes Arbeiters durch Arbeitsbeschaffung zu garantieren; sie ermutigte Arbeiterassoziationen mit dem Ziel, die Arbeiter in den Genuss des „bénéfice légitime de leur travail“ zu bringen; und sie versprach den Arbeitern die Million Franken der Zivilliste.277 Zugegeben, die Worte „droit au travail“ und „organisation du travail“ sind in dem Dekret nicht enthalten. Doch wer konnte es den Arbeitern verübeln, wenn sie unterstellten, dass das Dekret genau das bedeutete ? Als am Abend des 28. Februar eine Arbeiterabordnung die Errichtung eines Fortschrittsministeriums für Louis Blanc forderte, war die erste Reaktion Ablehnung. Doch als Louis Blanc und Albert mit Rücktritt drohten, machte Garnier - Pagès den Vorschlag eines Arbeitsparlamentes : Vertreter von Arbeitern, Arbeitgebern, Nationalökonomen und Sozialphilosophen sollten Pläne für eine soziale Besserung ausarbeiten, in der Tat einen Plan für die Lösung der sozialen Frage vorbereiten. Louis Blanc war von zwei Visionen hin - und hergerissen : der eines Seminars, das vor hungrigen Arbeitern über Hunger abgehalten wird, um sie mit leeren Worten in den Schlaf zu lullen, und der einer öffentlichen Plattform im Palais Luxembourg, dem Sitz der abgeschafften „Chambre des pairs“, von der aus man der Welt Sozialismus predigen konnte – fast eine zweite Kammer, ein Parlament des Sozialismus, eine Parallele und Ergänzung zu dem politischen Parlament, das im Palais Bourbon tagte. In gewissem Sinne würde Letzteres die Anregungen des Ersteren ausführen. Auf Zureden seiner Kollegen nahm Louis Blanc den Vorsitz der „Commission du Luxembourg“ an, während der hochangesehene Arago sich zusammen mit

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277

Vgl. Garnier - Pagès, Histoire de la Révolution, Band 3, S. 47 ff.; Lamartine, Histoire de la Révolution, Band 1, S. 439 ff.; Quentin - Bauchart, La Crise sociale de 1848, S. 162 ff.; McKay, The National Workshops, S. 9 ff.; Schmidt, Des Ateliers nationaux, S. 9–13; Le Moniteur Universel, 25., 26., 27. Februar. Garnier - Pagès, Histoire de la Révolution, Band 3, S. 52; Schmidt, Des Ateliers nationaux, S. 11.

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dem Arbeiter Albert als Vizepräsident anbot. Wird es eine Realität, ein Wahn oder ein Gespenst sein ?278 Der Fall der „Ateliers nationaux“ war durch seine Zweideutigkeit besonders ernst und tragisch.279 Die Provisorische Regierung hatte sich verpflichtet, Arbeit für die Bedürftigen zu beschaffen, und der „Moniteur“ vom 27. Februar veröffentlichte den Regierungsbeschluss über die sofortige Gründung von „Ateliers nationaux“.280 Man ließ unklar, was diese sein sollten : eine zeitweilige Maßnahme zur Unterstützung der Arbeitslosen oder der erste Schritt zur Erfüllung des Prinzips des „droit au travail“. Charakteristisch war, dass man Louis Blanc und seine Institution mit Entschiedenheit von dem Plan fernhielt und Marie, einen überzeugten Antisozialisten, mit seiner Ausführung beauftragte. Zuerst glaubte man, dass für nicht mehr als zehntausend Arbeitslose zu sorgen wäre und diese bei schweren Erdarbeiten eingesetzt werden könnten. Die Regierung wurde bald mit einer Flut von über hunderttausend Mann bedroht, die die „mairies“ der Arrondissements wegen Zulassungskarten stürmten und Terror und Ver wirrung verbreiteten. Das Ausmaß der Bestürzung der Regierung wird – wie McKay ausführt – deutlich an der unverzüglichen Annahme des Angebots, das Émile Thomas, ein unbekannter 26 - jähriger junger Mann, ein „angehender junger Staatsmann“ machte, indem er sich erbot, die „Ateliers“ in halb militärischer, saint - simonistischer Weise zu organisieren und sich der ungebärdigen Armee von 100 000 Mann anzunehmen.281 Wie sah es nun in der Wirklichkeit mit diesen Plänen aus ? Die „Commission du Luxembourg“ bestand aus je drei Delegierten für jede Arbeiterkorporation, insgesamt etwa 450, und aus 230 Arbeitgebern, die 77 Zweige der Beschäftigung repräsentierten, wovon übrigens sehr wenige zur Schwerindustrie gehörten. Vidal, Pecqueur und andere sozialistische Nationalökonomen nahmen an den Beratungen teil. Die Arbeit der Institution war geteilt zwischen einem kleineren Ausschuss, der ständig beriet, und einer Generalversamm-

278

279 280 281

Vgl. Stern, Histoire de la Révolution, Band 2, S. 43; Cahen, Louis Blanc, S. 189; Garnier - Pagès, Histoire de la Révolution, Band 3, S. 160–172; Schmidt, Des Ateliers nationaux, S. 12 f.; Blanc, La Révolution de Février au Luxembourg ( Texte ); Chérest, La Vie et les œuvres de M. Marie, S. 177 ff.; McKay, The National Workshops, S. 14–19. Vgl. Thomas, Histoire des Ateliers nationaux, S. 19 ff., 27 ff., 35 ff. Vgl. Garnier - Pagès, Histoire de la Révolution, Band 3, S. 96. Vgl. McKay, The National Workshops, S. 14; Garnier - Pagès, Histoire de la Révolution, Band 3, S. 268 ff.; Chérest, La Vie et les œuvres de M. Marie, S. 191. Vgl. zu diesem und den vorangegangenen Abschnitten auch Quentin - Bauchart, La Crise sociale de 1848, S. 232–249. A. d. Hg. : Vgl. auch Thomas, Histoire des Ateliers nationaux, S. 55.

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lung, die zusammentrat, um Berichte zu hören, zu diskutieren und Beschlüsse zu fassen.282 Welches waren der Charakter und das Ausmaß ihrer sozialistischen Forderungen, wenn wir von einigen praktischen Maßnahmen absehen, die in der Abschaffung der Unterkontrakte, der Verkürzung der Arbeitszeit in Paris von elf auf zehn Stunden und in der Provinz von zwölf auf elf Stunden, der Schlichtung einiger Arbeitsstreitigkeiten und der Verhinderung einiger Streiks resultierten ? Louis Blanc war den größten Teil der Zeit auf der Tribüne, und zwar meist so lange, dass wir in den stenographischen Berichten häufig von Erschöpfungsanfällen, von Zuständen der Sprachlosigkeit und rührenden Zeichen der Besorgtheit seitens seiner Zuhörerschaft lesen. Wir brauchen uns daher nicht über das Ausmaß zu wundern, in dem sich seine Ansichten in den Verhandlungen widerspiegeln.283 Die Freiheit wird beschrieben als die Macht des Menschen, alle seine Möglichkeiten frei zu ver wirklichen und volle Befriedigung seiner Bedürfnisse zu erlangen. „De chacun, selon ses facultés. [...] À chacun selon ses besoins“284 – so ver vollständigt das Prinzip der Gleichheit das Ideal der Freiheit. Keine höhere Entlohnung wird für größere Fähigkeit oder Leistung gewährt. Wo es Ungleichheit gibt, so wird nachdrücklich festgestellt, dort bedeutet Individualismus nicht Freiheit, sondern Kampf und Zwietracht. Vereinigung erscheint als der Weg zur Freiheit. „La question se réduit ainsi pour nous à voir comment l’association sera organisée de manière à satisfaire tous les intérêts.“285 Die Aufgabe ist, Brüderlichkeit auf den Thron zu setzen, die die Gleichheit – das Fehlen von Eifersucht, Neid und Rivalität – ver wirklichen und dadurch Freiheit ermöglichen würde. Es ist Pflicht und Aufgabe des Staates, als „tuteur de la société, le protecteur de tous ceux qui souffrent“286 zu handeln. Keinerlei Gewaltanwendung war vorgesehen. Das Werk der Sozialreform stellte man sich vor wie einen ins Wasser geworfenen Stein, der immer größere Kreise zieht. Es sollte keine erzwungene oder direkte Enteignung geben. Der Staat oder von ihm unterstützte Korporationen würden allmählich den Produktionsapparat übernehmen und sowohl die kapitalistische Unternehmung mit ihrem Gewinn als auch das alte Lohnsystem abschaffen. Überschüsse wurden von den Löhnen einbehal-

282 283 284 285 286

Vgl. Cahen, Louis Blanc, S. 190–194; McKay, The National Workshops, S. 14–19. Vgl. Blanc, La Révolution du Février au Luxembourg, S. 14–25, 26–37, 60–78 ( Blancs Reden vom 10. März, 17. März, 3. April ), 78–156 ( Exposé général, 26. April ). Cahen, Louis Blanc, S. 199. Ebd. Ebd.

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ten und teils als Kapital für Neuinvestitionen, teils für Unterstützungen, öffentliche Arbeiten und gemeinnützige Betriebe verwendet werden.287 Die sozialistischen Pläne der „Commission du Luxembourg“ wiesen keine starken Klassenkampfakzente auf; dafür erscheinen diese in umso heftigerer Form in den Äußerungen der Klubs. „Die Republik bedeutet die Emanzipation der Arbeiter, das Ende der Herrschaft der Ausbeutung. Sie bedeutet die Erreichung einer neuen Ordnung, die die Arbeit von der Tyrannei des Kapitals befreien wird. [...] Es gibt keine Freiheit, wo kein Brot ist. Es gibt keine Gleichheit, wenn Überfluss an der Seite des Elends zur Schau getragen wird“288 – sagt ein Aufruf des Blanqui - Klubs. Der fourieristische Antisemit Toussenel sah „nur einen Unterdrücker in der Welt – das Kapital“.289 Alle Gesetze und Lehren der Vergangenheit waren dazu bestimmt, der Klassenausbeutung als Deckmantel zu dienen, „de droit divin cette tyrannie“.290 Sie lehrten gottlose Theorien, die Welt sei ein Jammertal, eine ewige Prüfung, Gott verteile seine Gnade in ungleicher Weise, Geduld und Verzicht seien die Tugenden der Armen. Das Kapital sabotiert jetzt die Revolution, indem es absichtlich Kredite zurückhält, die Produktion unterbricht, Arbeiter entlässt, Gold aus dem Lande schickt – „capital alarmé, le capital improductif et parasite“.291 Indem die Gesellschaft „droit au travail“ garantiert, hat sie die Rolle der „Providence sociale“ übernommen. Der Staat ist somit „l’association de tous les intérêts“292 geworden. Es ist seine Pflicht, das Monopol von Schwerindustrie, Bankwesen, Verkehr, Versicherung, Kolonialhandel in seine Hand zu übernehmen. „Das ist die einzige Rettung. Ein späteres Gesetz wird die Frage der Entschädigung regeln.“293 Wir haben schon früher auf das aufreizende Manifest der „Société des droits de l’homme“ hingewiesen. Es übernahm die Deklaration von Robespierre und verpflichtete sich, „alle sozialen Konsequenzen“ aus der Revolution – „la révolution sociale qui commence“ – zu ziehen.294 Die früheren Parias sind 287 288 289 290 291 292 293 294

Vgl. ebd., S. 198–201. Vgl. auch Garnier - Pagès, Histoire de la Révolution, Band 5, S. 149 ff. Wassermann, Les Clubs de Barbès et de Blanqui, S. 84. Toussenel, zit. in ebd., S. 96. Ebd., S. 97. Ebd. Ebd., S. 98. Ebd. Wassermann, Les Clubs de Barbès et de Blanqui, S. 149 f.; Lucas, Les Clubs et les Clubistes, S. 110. Proudhon schreibt im „Représentant du peuple“ vom 30. April über die „mystification du suffrage universel“ : „Tant que la révolution économique ne sera pas accomplie [bleibt die Demokratie] une mécanique agencée par les possédants pour conser ver leurs privilèges“, zit. in Guillemin, La Tragédie de quarante - huit, S. 100. Vgl. auch Dolléans / Puech, Proudhon, S. 36 ff.

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stark an Zahl, und die Sache der Revolution ist die Sache der Gerechtigkeit – „votre voix et votre volonté sont la voix et la volonté de Dieu“.295 Es genügt, dass sie ihren Willen kundtun, um die Erfüllung ihrer Wünsche zu erlangen. Zu den privilegierten Ausbeutern sagt es : „Die alte Form der Gesellschaft ist verschwunden, die Herrschaft von Privileg und Ausbeutung ist vorbei; falls vom Gesichtspunkt des alten Gesellschaftssystems eure Privilegien in gesetzlicher Weise erworben wurden, macht von ihnen ( jetzt ) keinen Gebrauch, denn diese Gesetze waren euer Werk. Die unermessliche Mehrheit eurer Brüder ist ihnen fremd geblieben und hat infolgedessen jetzt keine Verpflichtung, sie zu achten. Schließt euch uns an, denn ihr braucht die Vergebung derjenigen, die ihr zu lange zu Opfern gemacht habt. Wenn ihr jetzt trotz des Versprechens der Gnade fortfahrt, euch zu isolieren und das alte Gesellschaftssystem zu verteidigen, dann werdet ihr am Tag des Kampfes unsere Abteilungen organisiert in der Avantgarde finden, und dann werden eure Brüder euch nicht mehr Gnade, sondern Gerechtigkeit widerfahren lassen.“296 Ob sie nun von der allgemeinen Atmosphäre erfasst wurden oder vor Angst zitterten und das Raubtier zu zähmen wünschten, die Sprecher der besitzenden Klassen wetteiferten am Anfang miteinander in ihren Beteuerungen der Teilnahme an der Lösung des sozialen Problems – der wahren Aufgabe der Revolution. „Ja, Frankreich wird sein ruhmreiches Geschick friedlich erfüllen“, rief Falloux aus, dem es beschieden war, zum Hauptkatalysator in der Auslösung der Junimassaker zu werden, „indem es zur gleichen Zeit die Rechte Gottes und die Rechte des Menschen proklamiert, die Freiheit der Kirche, der Familie und des Gewissens und eine weise Organisation der Arbeit, die die Beziehungen zwischen Arbeitern und Arbeitgebern in gerechter Weise ordnet.“297 Die hochangesehene „Revue des Deux Mondes“ vom 15. März 1848 begrüßte den feierlichen Augenblick der Einmütigkeit eines Volkes, das entschlossen war, allen 35 Millionen Franzosen endlich die Segnungen der Zivilisation, von denen die meisten bis jetzt ausgeschlossen gewesen waren, zugänglich zu machen.298 Leon Faucher, einer der führenden Gegner des Sozialismus, forderte den Staat auf, durch eine Reform des öffentlichen Kredits und höhere Besteuerung der oberen Klassen die Produktionsmittel der größten Zahl zur Verfügung zu stellen. Es stimmte ihn lyrisch, dass ein Arbei-

295 296 297 298

Lucas, Les Clubs et les Clubistes, S. 111. Ebd. Falloux, Mémoires d’un royaliste, Band 1, S. 296. Vgl. auch ebd., S. 289; Guillemin, La Tragédie de quarante - huit, S. 83. Vgl. Guillemin, La Tragédie de quarante - huit, S. 87.

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ter der Regierung großzügig und geduldig „drei Monate der Armut“ angeboten hatte, um das soziale Problem in Angriff zu nehmen.299 De Monchy wünschte, „alle sozialen Konsequenzen“ aus der Revolution zu ziehen, um die sozialen Ideen, die geeignet waren, „das alte Europa zu regenerieren“,300 auf den Thron zu heben. „Es ist an der Zeit, mit der letzten noch übrig gebliebenen Knechtschaft, der Knechtschaft der Armut, aufzuräumen“ – schrie der Bonapartist de Persigny. Rouher verlangte progressive Besteuerung, Organisation der Arbeit, „tout enfin pour et par le peuple“.301 Der Klerus predigte über die heilige Gleichheit, die im Evangelium proklamiert ist. Der große katholische Redner Montalembert gab dem Recht der Völker seinen Segen. Der Arbeiter wurde zu einem erhabenen Wesen von unvergleichlicher Reinheit, vor dem die anderen in die Knie sinken und den Hut abnehmen sollten.302 Lamartine betrachtete es als seine Aufgabe, „das schreckliche Missverständnis aufzuheben, das in den letzten Jahren zwischen den verschiedenen Klassen von Bürgern geherrscht hat und das uns daran hindert, uns als ein Volk anzuerkennen, uns gegenseitig zu lieben und zu umarmen“.303

2. Starre Wirklichkeit Die gehobene Stimmung der ersten Tage begann bald, einem Unbehagen zu weichen. Die erhabenen Visionen wurden zu Karikaturen entstellt. Die Stimmung wurde verbittert und boshaft. Die revolutionäre Unruhe in Frankreich und die Welle von Revolutionen, die bald durch Europa fegte, hatten eine lähmende Wirkung auf die französische Wirtschaft, insbesondere auf die lebenswichtige Luxusindustrie von Paris. Fabriken stellten die Arbeit ein; Werkstätten setzten die Zahl ihrer Beschäftigten herab; Banken wurden gestürmt und viele geschlossen; das Kapital wurde unruhig und zog sich zurück oder floss über die Grenze. Die Regierungseinkünfte fielen stark, doch die Ausgaben stiegen, insbesondere für soziale Unterstützungen und die Unterhaltung der Nationalwerkstätten in Paris und in den größeren städtischen Zentren, während Verbrauchssteuern – wie auf Salz und Getränke – abgeschafft oder stark gesenkt wurden, um den ärmeren Elementen zu helfen. Hinzu kam die intensive und

299 300 301 302 303

Vgl. Stern, Histoire de la Révolution, Band 2, S. 355; Schmidt, Des Ateliers nationaux, S. 12. Vgl. auch Guillemin, La Tragédie de quarante - huit, S. 92 ( Fußnote ). Stern, Histoire de la Révolution, Band 2, S. 355 f. Ebd., S. 356. Vgl. ebd., S. 355. Lamartine, zit. in Guillemin, La Tragédie de quarante - huit, S. 42.

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oft heftig drohende Agitation gegen die reichen Ausbeuter und ihre Vorrechte, so dass niemand dafür garantieren konnte, dass nicht irgendwann eine zweite Februarkatastrophe hereinbrechen und diesmal in einer roten Republik und allgemeiner Plünderung enden würde.304 Frankreichs finanzielle Situation zu Beginn der Februarrevolution war durchaus nicht vertrauener weckend. Der Kartoffelmangel und die Missernten der vergangenen Jahre einerseits und die fieberhafte Spekulation, insbesondere in Eisenbahnpapieren, andererseits hatten die Kräfte Frankreichs stark angespannt. Der Budgetausschuss der Kammer hatte unmittelbar vor dem Ausbruch der Februarereignisse berechnet, dass es mindestens etwa elf Jahre dauern würde, bis Frankreich einen ausgeglichenen Staatshaushalt erreichen würde, und dies nur unter der Bedingung von Frieden nach außen, gesunden Budgets, einer drastischen Herabsetzung der öffentlichen Arbeiten und Vermeidung aller außerordentlichen Ausgaben.305 Die Kommission, die zur Untersuchung des Finanzgebarens der Provisorischen Regierung eingesetzt wurde, bezifferte die schwebende Schuld am 24. Februar 1848 auf 960 Millionen plus 170 Millionen, die für dringende öffentliche Arbeiten bestimmt waren. Die Provisorische Regierung sollte etwa 140 Millionen monatlich verausgaben. Am Ende ihrer kurzen Lebensdauer überstiegen ihre Ausgaben die Einnahmen um mehr als 183 Millionen.306 Eine revolutionäre Regierung, die erklärt, das Eigentum zu achten, und der daran liegt zu beweisen, dass sie ein lebensfähiges und tüchtiges Regime darstellt, ist natürlich darauf bedacht, die Angst vor dem Bankrott zu zerstreuen und sich als zahlungsfähig zu erweisen. Um böse Gerüchte zu widerlegen und Vertrauen für das Regime zu erwerben, veranlasste der Finanzminister Goudchaux seine Kollegen, einer verfrühten Zinszahlung auf Regierungsschuldbriefe am 6. März, anstatt am Fälligkeitsdatum vom 22. März, zuzustimmen. Der jähzornige antisozialistische Minister, der sich heftig gegen den Einschluss von Louis Blanc und Ledru - Rollin in die Regierung gewehrt hatte aus Angst, dass dadurch die Geschäftswelt erschreckt würde, dankte wütend ab, als seine Kollegen beschlossen, einige indirekte Steuern zu streichen.307 Das Wirtschaftsbarometer zeigte heftige Abwärtsbewegungen. Als die Börse am 7. März wieder geöffnet wurde, nachdem sie am 23. Februar geschlossen 304

305 306 307

Vgl. Stern, Histoire de la Révolution, Band 2, S. 107–123, Garnier - Pagès, Histoire de la Révolution, Band 3, S. 183 ff.; Gorce, Histoire de la Seconde République française, Band 1, S. 170 ff.; Labrousse ( Hg.), Aspects de la crise, insbesondere Panoramas de la crise, S. III–XXIV. Vgl. Stern, Histoire de la Révolution, Band 2, S. 107. Vgl. ebd., S. 107 f.; Le Moniteur Universel, 26. April 1849, S. 1550–1551; Garnier Pagès, Histoire de la Révolution, Band 3, S. 200–202 ff. Vgl. Stern, Histoire de la Révolution, Band 2, S. 110–114.

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worden war, fielen die fünfprozentigen Schuldverschreibungen von 116 auf 75 und die dreiprozentigen von 73 auf 47. Der Barbestand im Schatzamt und in der „Banque de France“ fiel im Laufe von nicht mehr als einer Woche von 107 Millionen ( plus 56 Millionen ziemlich unsicherer Wertpapiere ) auf 34 Millionen.308 Was sollte die Regierung in einer so verzweifelten Lage tun ? Am 9. März demonstrierten einige tausend Arbeitgeber und forderten dringend von der Regierung, dass sie ihnen zu Hilfe komme. Andernfalls würden sie schließen und ihre Arbeiter auf die Straße setzen müssen. Die Provisorische Regierung hatte sich verpflichtet, für Arbeit oder den Lebensunterhalt aller Bedürftigen zu sorgen. Verschiedene Auswege und Notbehelfe wurden versucht. Da eine Staatsanleihe, die die Juliregierung am 8. August 1847 aufgelegt hatte, nicht voll gezeichnet war, beschloss die Provisorische Regierung, die restlichen 100 Millionen als Nationalanleihe aufzulegen. Sie erzielte den jämmerlichen Betrag von 441 000 Franken. Die Regierung verpfändete die Kronjuwelen, die Staatsländereien und die Staatswaldungen.309 Es gab wachsende und höchst dringliche Staatsausgaben – die Nationalwerkstätten, das Heer, die Beamtenschaft, soziale Unterstützung. Gleichzeitig musste der Geschäftsapparat wieder in Gang gesetzt werden durch Einflößung von Vertrauen und Zur verfügungstellung von Krediten und Garantien. Um das erste Problem zu lösen, griff die Provisorische Regierung zu dem drastischen Mittel, eine zeitweilige neue Steuer von 45 Centimes zusätzlich zu den vier bestehenden Steuern aufzuerlegen. Sie betraf zumeist den Landbesitz, und die französische Bauernschaft wurde aufgebracht über eine Revolutionsregierung, die sie schröpfte, um lärmende Nichtstuer in der Hauptstadt zu unterhalten – der nächste Schritt würde womöglich Konfiskation sein. Um den Kredit wieder zu beleben, schuf die Regierung dann eine Anzahl von Diskontbanken in der Provinz und stellte für diesen Zweck 11 Millionen Franken zur Verfügung. Sie errichtete auch ein Netz von öffentlichen Lagerhäusern, in denen Industrielle als Garantie für die ihnen von den neuen Kreditinstituten gewährten Anleihen ihre Erzeugnisse deponieren konnten. Es war jedoch Zeit erforderlich, damit diese Maßnahmen sich auswirken konnten.310 Unter diesen Umständen kann man sich leicht vorstellen, welche Verlegenheit und gar Verzweif lung sozialistische Forderungen denen verursachten, die für die Führung der täglichen Geschäfte verantwortlich waren und die letzten 308 309 310

Vgl. ebd., S. 113, 115, 120; Guillemin, La Tragédie de quarante - huit, S. 104; GarnierPagès, Histoire de la Révolution, Band 4, S. 2–5. Vgl. Stern, Histoire de la Révolution, Band 2, S. 118. A. d. Hg. : Die Angaben, die Stern zur Staatsanleihe macht, weichen von denen Talmons ab. Vgl. Stern, Histoire de la Révolution, Band 2, S. 117, 122 ff.; Garnier - Pagès, Histoire de la Révolution, Band 4, S. 51–55.

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Endes nicht in anderen Begriffen denken konnten als in denen von Angebot und Nachfrage, freiem Wettbewerb, kurz – des Marktmechanismus; daran konnte kein Mitgefühl für Armut und soziale Übel etwas ändern. Sie betrachteten die sozialistischen Theorien als philanthropische Sentimentalität oder als utopisches Gefasel, als unwissende Verschrobenheit oder neidische Habgier. Das Land musste unter so großen Schwierigkeiten von Tag zu Tag in Betrieb gehalten werden, und dann wurden sie noch mit diesem lärmenden und gefährlichen Unfug belästigt ! Die Tatsache, dass die Provisorische Regierung schließlich Verpflichtungen sozialistischer Art auf sich genommen hatte, machte die Sache nicht besser. Wie bereits erwähnt, waren die Minister mit ohnmächtiger Wut gegen sich selbst erfüllt, dass sie in einem Augenblick der Schwäche so schnell und gedankenlos nachgegeben hatten. Der Anblick derjenigen, denen die Versprechungen gemacht worden waren, erinnerte sie an ihre Sünden und Irrtümer und war schwerlich dazu angetan, in ihnen freundliche Gefühle wachzurufen. In diesem Kontext von Vor wand, Schein und Gereiztheit degenerierten die sozialistischen Institutionen zu Karikaturen. Millionen Worte wurden im „Palais Luxembourg“ völlig nutzlos verschwendet. Kein einziger der Vorschläge wurde je in der Nationalversammlung zur Diskussion gestellt. Es war unvermeidlich, dass das Arbeitsparlament sich bald als Vertreter der unbeachteten Arbeiterklasse betrachtete. Louis Blanc und Albert legten ihr Amt unmittelbar vor der Eröffnung der Nationalversammlung nieder. Die letzte Sitzung des Arbeitsparlamentes wurde am 13. Mai abgehalten, doch das „Comité des délégués du Luxembourg“ setzte seine politische Aktivität auch nach diesem Datum fort.311 Die gänzlich politisierte Luxembourg - Kommission wurde in den Augen der Regierung zu einer gefährlichen und unheilvollen Drohung. Erst wenige Wochen vorher, am 19. März, konnte Louis Blanc noch die Sitzung jenes Tages als den größten Tag in der Geschichte proklamieren : Arago war gekommen, um im Namen der Regierung eine höchst schmeichelhafte Rede vor dem Arbeitsparlament zu halten. Endlich Klassenversöhnung ! „Nous avons résolu dans notre pays un problème qui semblait insoluble, [...] marcher de front l’ordre et la liberté.“312 War die Luxembourg -Kommission ein Unfug, so stellten die „Ateliers nationaux“ ein wahres Minenfeld dar. Dort war, mitten im revolutionären Paris, eine untätige Armee von mehr als 100 000 Mann, die in halbmilitärischen Formationen zusammengehalten wurden, eingeteilt in Trupps, Brigaden, Leutnantschaften und Kompanien, mit gewählten Führern an der Spitze. Es gab niemals mehr Arbeit als für 10 000 Mann. Kein Wunder, dass sogar diejenigen, 311 312

Vgl. Cahen, Louis Blanc, S. 460–464. Ebd., S. 369.

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die Arbeit hatten, versuchten, sie zu strecken, damit sie länger dauerte. Diese sehr zahlreichen, aus den Luxusgewerben kommenden Männer, Juweliere, Schneider, Möbeltischler, gaben sich keinen Illusionen darüber hin, dass das, was sie taten, nutzlos war und sie verhüllte Almosen oder Lösegelder erhielten. Es wurde nichts aus den Plänen, diese Arbeitsarmee mit Eisenbahnbauten oder Bewässerungsarbeiten zu beschäftigen, entweder aus Mangel an Mitteln oder weil man fürchtete, der Einrichtung den Anschein von Dauer zu verleihen. Die Pariser Ingenieure wollten nicht kooperieren, weil sie die ganze Institution und ihren jugendlichen Direktor verachteten. Zuerst spielten Mitglieder der Regierung mit der Idee, sich auf die Arbeiter der Nationalwerkstätten als eine potentielle prätorianische Garde zu stützen. Thomas war ein leidenschaftlicher Antisozialist und ver wandte viel Zeit auf Standreden über den schädlichen Charakter der verrückten Doktrinen, wie die Leute im Luxembourg sie predigten. Er brachte es fertig, seine Leute aus den die Regierung bedrohenden Demonstrationen herauszuhalten und sie sogar zu veranlassen, sich im Laufe der „journées“ auf die Seite der Nationalgarde zu stellen.313 Thomas berichtet in seinem Buch über eine Unterhaltung, die er am 23. März mit Marie hatte und in deren Verlauf der Minister ihn drängte, nicht mit Geld zu sparen und nicht zu fürchten, dass er eine zu große Zahl von Bewerbern aufnehme. „Vielleicht ist der Tag nicht sehr fern, an dem wir sie auf die Straße werden rufen müssen.“314 Am 23. März hielt derselbe Marie eine Ansprache an die Vertreter der „Ateliers“, versicherte sie der Sorge der Regierung und drückte den Wunsch aus, dass sie sowohl in der „Assemblée“ als auch in der Nationalgarde richtig vertreten sein sollten.315 Die Regierung ermunterte in der Tat die Männer der „Ateliers“ zum Eintritt in die Nationalgarde, die auf beinah 200 000 Mann angeschwollen war und, wie ander weitig erwähnt, über eine Mehrheit aus der Arbeiterklasse verfügte. Ateliermitglieder wurden auch bei den allgemeinen Wahlen zur Wahlpropaganda ver wendet. In beiden Fällen erhielten sie eine zusätzliche Zahlung von 2 Franken täglich ( je Arbeitstag; für einen Tag ohne Arbeit wurden 1,50 Franken gezahlt und nach dem 17. März 1 Franken ), Nahrungsbeihilfe und freie Arzneien.316 Ende März und Anfang April gab es auch einen Versuch, die „Ateliers“ in einen politischen Klub zur Unterstützung der Provisorischen Regierung zu ver wandeln, um der Betätigung der Luxembourg - Kommission und der Klubs ent313

314 315 316

Vgl. Thomas, Histoire des Ateliers nationaux, S. 140 ff.; Schmidt, Des Ateliers nationaux, S. 14–17, 20–25; McKay, The National Workshops, S. 20–23; Chérest, La Vie et les œuvres de M. Marie, S. 195–206, 213 ff., 232 ff. Thomas, Histoire des Ateliers nationaux, S. 147 ( Zitat ), 158; Schmidt, Des Ateliers nationaux, S. 23 ( Zitat ), 24. Vgl. Thomas, Histoire des Ateliers nationaux, S. 154–156; Schmidt, Des Ateliers nationaux, S. 23 f. Vgl. Schmidt, Des Ateliers nationaux, S. 16 f.

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gegenzuwirken. Es wurde eine „Réunion centrale des Ateliers nationaux“, bestehend aus 400 Abgeordneten, aufgestellt, die „sich mit den Interessen der unbeschäftigten Arbeiter befassen“ sollte.317 Jeder Bourgeois, der am 17. März die schweigenden, entschlossenen Arbeiter in geordneten Reihen zum „Hôtel de Ville“ marschieren gesehen hatte, musste sich voller Schaudern an die Armee der „Ateliers nationaux“ erinnern. Wir kennen aus Tocquevilles Memoiren die das Blut zum Erstarren bringende Beschreibung : Wie ein Terror die besitzenden Klassen erfasste, der vielleicht größer war als die Angst, von der die zerfallende Gesellschaft des Römischen Reiches beim Herannahen der Vandalen ergriffen wurde.318 Und doch konnte genau einen Monat später ( am 16. April ) eine Demonstration der Arbeiterklasse straf los gedemütigt und ihre Führer mit unehrerbietigen Ausdrücken beschimpft werden, während Zehntausende von bewaffneten Nationalgarden, und unter ihnen eine große Anzahl aus den „Ateliers“, ihre Reihen mit wilder Verachtung für die Demonstranten schlossen. Und dann kamen die allgemeinen Wahlen mit der vernichtenden Niederlage der Anhänger der „République sociale“. Nachdem die Bourgeoisie sich von ihrer tödlichen Angst erholt hatte, wurde sie angriffslustig und trotzig und bis zur Tollkühnheit entschlossen, den Alpdruck zu zerstören und seine Rückkehr zu verhindern. Die unanfechtbare Legitimität der Nationalversammlung gab ihr den Mut, eine Kraftprobe zu erzwingen. Das Bewusstsein der völligen Nutzlosigkeit von solchen Scheineinrichtungen wie Luxembourg und „Ateliers“ gab den Männern der Ateliers und des Luxembourg das Gefühl, betrogen und verraten worden zu sein, und veranlasste sie, sich zusammenzuschließen. Das war in den Augen der besitzenden Klassen ein Grund mehr und ein höchst dringender dazu, um ein Ende zu machen mit der ständigen Drohung der Rebellion, dem andauernden Streik von 100 000 Nichtstuern, die sich von einer Gesellschaft unterhalten ließen, deren Vernichtung sie eines Tages herbeizuführen bestrebt waren. In jenen Tagen erlangten die Worte „Kommunismus“ und „Kommunisten“ im Munde ihrer Verleumder jenen Sinn des Inbegriffs aller Schrecknisse, Schlechtigkeit und Verderbtheit, ebenso wie die Worte „Faschismus“, „Imperialismus“, „Judentum“, „Papsttum“ zu ihrer Zeit. Sogar ein so kultivierter und gewandter Schriftsteller wie Tocqueville brachte es fertig, den Pförtner seines Hauses als „socialiste de naissance“ zu charakterisieren, der seine Zeit entweder im Wirtshaus oder mit dem Verprügeln seiner Frau zubringe.319 George 317 318 319

Vgl. Garnier - Pagès, Histoire de la Révolution, Band 4, S. 121–123; Thomas, Histoire des Ateliers nationaux, S. 156 f.; Lucas, Les Clubs et les Clubistes, S. 41 f. Vgl. Tocqueville, Recollections, S. 79 f. Tocqueville, Recollections, S. 184. Vgl. auch Guillemin, La Tragédie de quarante - huit, S. 162, 285.

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Sand schreibt in ihren Memoiren von 1848 : „In Paris ist man aufrührerisch, wenn man Sozialist ist; in der Provinz wird man zum Kommunisten, sobald man Republikaner ist; und wenn einer zufällig ein republikanischer Sozialist ist, dann trinkt er Menschenblut, tötet kleine Kinder, schlägt seine Frau, ist ein Bankrotteur, ein Trinker, ein Dieb.“320 „La Revue des Deux Mondes“ meinte, „socialisme, c’est la barbarie“.321 Die Barbaren wurden am 16. April besiegt. Ein Couplet, das an jenem Abend geboren wurde, enthielt die beiden Zeilen. „Le communisme, est le rêve des fous [...]. Frappons - le donc; qu’il tombe sous nos coups !“322 Mit vernunftgemäßen und weniger vernunftgemäßen Argumenten gegen den Sozialismus wurde ein Teil der Diskussion von vor 1848 fortgeführt : Der Sozialismus tötet die Initiative und daher die gesellschaftliche Energie; er ist dazu angetan, die menschlichen Beziehungen erstarren zu lassen; er handelt der Vorsehung zuwider und leugnet die Erfahrung von zwanzig Jahrhunderten; Armut wird nicht durch die bestehende Gesellschaftsordnung verursacht, sondern durch zu viele Kinder und durch die schlechten Gewohnheiten der Arbeiter, die ihr Geld leichtsinnig für Trinken und wertlose Dinge ausgeben; zu viel Mitgefühl mit den Arbeitern macht diese anspruchsvoll und rebellisch, statt dass sie geduldig und ergeben sind; eine gebildete Schicht von Armen ist eine soziale Bedrohung; jeder Versuch der Regierung, in den Ablauf der Wirtschaft einzugreifen, und alle Nationalisierungsmaßnahmen bedeuten schleichenden Sozialismus; jede Ermutigung zur Revolution öffnet Tür und Tor für den Kommunismus, der früher oder später hereinbricht. Jetzt gab es greifbare Zielscheiben. Die „Commission du Luxembourg“ stellte man als die „états généraux“ des Kommunismus hin.323 Die „Ateliers nationaux“ hatten gezeigt, dass das Recht auf Arbeit in Wirklichkeit das Recht bedeutete, auf Kosten der Gesellschaft zu faulenzen. Die Arbeiter waren zu einer Besatzungsarmee geworden, zu einer neuen herrschenden Klasse mit einem monopolistischen Anspruch auf ausschließliche Anerkennung und bevorrechtigte Behandlung.324 Die schlechtangebrachte Sentimentalität weichherziger Menschenfreunde hatte unberechenbares Übel angerichtet : „Die Lage der Arbeiter unbilliges Leiden zu nennen, zu verlangen, dass ihnen die rechtmäßige Frucht ihrer Arbeit garantiert werde, war bereits gleichbedeutend damit, fälschlich zu sagen, sie würden ausgebeutet, und stellte eine Aufwiegelung dar.“325 Solch gedankenloses Gerede machte die Arbeiter zur Beute von bösartigen selbstsüchtigen Agi320 321 322 323 324 325

Sand, Souvenirs de 1848, S. 126; Guillemin, La Tragédie de quarante - huit, S. 285. Guillemin, La Tragédie de quarante - huit, S. 196. Ebd., S. 192. Vgl. Guillemin, La Tragédie de quarante - huit, S. 120. Vgl. auch ebd., S. 281 ff. Vgl. Camp, Souvenirs de l’année 1848, S. 229; Circourt, Souvenirs, S. 43. Guillemin, La Tragédie de quarante - huit, S. 299.

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tatoren, die ihre wahren Unterdrücker sind. „Une grève permanente et organisée à 170 000 francs par jour, soit 45 millions par an“326 – rief Falloux in der „Assemblée“ am 29. Mai aus, als von den „Ateliers nationaux“ die Rede war. Léon Faucher forderte nicht nur die Abschaffung der „Ateliers“, sondern aller derjenigen Gesetze, Verordnungen und Prinzipien, die einen Anschlag auf das Eigentum bedeuteten und Ver wirrung und Angst unter den Leuten säten.327

3. Ein Sklavenaufstand Die Eröffnung der Nationalversammlung wurde als ein Zeichen dafür angesehen, dass ebenso, wie in der politischen Sphäre die provisorische Revolutionsphase einer verfassungsmäßigen Normalität Platz gemacht hatte, nunmehr in der sozialökonomischen Sphäre die Bedingungen für eine Rückkehr zum normalen Leben geschaffen worden waren. Die „Ateliers“, ein vorübergehender Notbehelf, sollten daher verschwinden und ihre Insassen zum freien Markt und zur Armee zurückkehren.328 Die herrschenden Kreise wollten den Gedanken, es läge eine prinzipielle Verpflichtung vor, gar nicht Wurzeln schlagen lassen. Die sozialen Fälle würden in der gewohnten Weise individuell behandelt werden. Es sei im höchsten Grade demoralisierend, um nicht zu sagen politisch höchst gefährlich, über 100 000 Mann auf öffentliche Kosten ihre Zeit vergeuden zu lassen und dem freien Markt Arbeitskräfte vorzuenthalten, die andernfalls der Antrieb von Not und Hunger verfügbar machen würde. Das Unbehagen und die Angst der ansässigen Bevölkerung beim Anblick der „Ateliers“ sei ein Faktor, der die Rückkehr zu normalen Bedingungen hindere. So lauteten die Argumente des Arbeitsministers Trélat vor der „Assemblée“ am 17. Mai.329 Wie sollten die Legionen der „Ateliers nationaux“ entlassen werden ? Es gab nicht nur eine Verpflichtung ihnen gegenüber, sondern auch die beunruhigende Aussicht, dass die Männer Widerstand leisten würden, es sei denn, es würde in angemessener Weise für sie gesorgt. Solche Fürsorge könnte jedoch wieder zu sehr nach einer Anerkennung des Prinzips des Rechtes auf Arbeit 326 327

328

329

Falloux, zit. in ebd., S. 301. McKay, The National Workshops, S. 130; Guillemin, La Tragédie de quarante - huit, S. 308. Vgl. zum gesamten Absatz Revue des Deux Mondes, 1. April, 15. April, 1. Juni, 15. Juni 1848. Vgl. zu diesem Abschnitt : Procès - verbaux, S. 3 f., 6 f., 12–14, 16–18, 20, 27 f., 35–38, 42, 51–58; Falloux, Mémoires d’un royaliste, Band 1, S. 328–340; McKay, The National Workshops, Kapitel 5, S. 80–135 ( zur Auflösung der Ateliers ); Guillemin, La Tragédie de quarante - huit, S. 288–313; Schmidt, Des Ateliers nationaux, S. 27–35; Gorce, Histoire de la Seconde République française, Band 1, Kapitel VI, Kapitel VII. Vgl. Schmidt, Des Ateliers nationaux, S. 27; McKay, The National Workshops, S. 89.

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aussehen, was um jeden Preis vermieden werden müsse, da dies wieder auf Sozialismus und „République sociale“ hinauslaufen würde. Das scheint der Grund gewesen zu sein für das Verschwinden des Berichtes der von der Regierung am 17. Mai eingesetzten außerparlamentarischen Sachverständigenkommission, den McKay wiederentdeckte.330 Die Empfehlungen dieser Kommission, für die entlassenen Männer geeignete Vorsorge zu treffen in Form von öffentlichen Arbeiten, Anleihen an die Industrie, Unterstützung für Kranke und Alte, und der merkwürdige Vorschlag, in der Hauptstadt ein Volkskolosseum zu errichten, um die „Majestät des Volkes“ und die „Würde der Arbeit“ zu ehren – ein Plan, der erheblich nach jakobinischen Tugendtempeln roch – schienen das Prinzip des „droit au travail“ in sich zu schließen.331 Jedenfalls, woher sollte das Geld für alle diese Pläne kommen ? Trélat nahm den Bericht als Grundlage für seine Anweisungen an Thomas ( vom 24. Mai ) über die notwendigen ersten Schritte für die Auf lösung der Ateliers; ein Zensus der Mitglieder der Werkstätten sollte durchgeführt werden.332 Diejenigen, die nicht länger als sechs Monate ( später in 90 Tage abgeändert ) in Paris ansässig waren, sollten in die Provinzen geschickt werden, Stückarbeit sollte sofort eingeführt werden, die Aufnahme neuer Mitglieder sofort aufhören, öffentliche Arbeiten sollten in den Provinzen begonnen, Männer in die Privatindustrie geleitet werden. Später wurde die Klausel über die Rekrutierung von jungen Männern in die Armee hinzugefügt.333 Der junge Leiter der „Ateliers“ war inzwischen zu einer ernsten Belastung geworden. Obwohl er der Regierung treu gedient hatte, fühlte er sich natürlich zutiefst verantwortlich für die Institution, die er aufgebaut hatte, und für die Männer unter seiner Obhut. Dazu kam auch die Eitelkeit eines jungen, ehrgeizigen Menschen, der zum Oberhaupt einer Armee geworden war und jetzt mit geringer Achtung behandelt wurde. Mitte Mai begannen die Minister, ihn zu meiden, und zwar so weit, dass ihm über die Auf lösungspläne nichts anvertraut und ihm vor der Demonstration vom 15. Mai keinerlei Anordnungen zugesandt wurden, obwohl die Haltung der Ateliersarbeiter selbst wichtig sein musste. Infolgedessen unternahm Thomas bis zum Tag der Demonstration überhaupt nichts, und auch dann nur mit halbem Herzen. Er besaß noch genug Loyalität der Regierung gegenüber und genügend Einfluss auf die Arbeiter, um zu verhindern, dass Banner der „Ateliers“ in der Kammer selbst erschienen. Bald danach beschloss die Regierung, Thomas sofort zu entlassen.

330 331 332 333

Vgl. McKay, The National Workshops, S. 83–89. Vgl. ebd., S. 86–88. Vgl. ebd., S. 89 f. Vgl. McKay, The National Workshops, S. 86. Vgl. auch ausführlich Thomas, Histoire des Ateliers nationaux, S. 199 ff., 242 ff., 247, 257 ff., 270–273, 278.

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1848: Feuerprobe und Zusammenbruch

Er würde sich sicherlich einer Auf lösung widersetzen und vielleicht seine Leute zu bewaffnetem Widerstand um sich scharen. Am 26. Mai fand die dramatische Begegnung zwischen Trélat und Thomas statt, in deren Verlauf dem jungen Mann erklärt wurde – nach Art und Weise der „lettres de cachet“334, wie Thomas es ausdrückte –, er müsse sofort zurücktreten. Als er sich weigerte, wurde er einfach entführt und nach Bordeaux verschickt.335 „Warum hörte ich nicht auf Louis Blanc ?“, rief Thomas aus. „Ich hatte eine Armee von 100 000 Mann unter mir.“336 Am nächsten Tag wurde Trélat von den Ateliersarbeitern sehr übel empfangen, als er einen Besuch im Park Monceau, dem Hauptquartier der Institution, machte. Die Arbeiter nahmen eine sehr drohende Haltung an. Sie hatten Waffen und würden die Regierung stürzen, wenn sie wagte, die „Ateliers“ aufzulösen. Am Nachmittag musste Trélat seine Ansprache an den Klub der Delegierten der „Ateliers“ abbrechen und durch eine Hintertür entfliehen, um sein Leben zu retten.337 Zwischen dem Klub der Ateliers, dem Luxembourg und den anderen Klubs wurde eine enge Zusammenarbeit hergestellt. Vier ihrer Kandidaten waren unter den elf Abgeordneten, die am 4. Juni in einer Pariser Ersatzwahl zur „Assemblée“ gewählt wurden : Pierre Leroux, Proudhon, Lagrange und Caussidière, obwohl nur etwa 250 000 von fast 415 000 Wahlberechtigten ihr Wahlrecht ausübten. Eine gemeinsame Proklamation der Klubs erklärte einige Tage danach, es sei „für Frankreich keine andere Regierungsform möglich als eine République démocratique et sociale“.338 Dann wurde ein Plan für ein Massenbankett zu 25 „centimes“ lanciert ( nachher bis zum 14. Juli verschoben ). Es war nicht nötig, daran zu erinnern, dass die Februarrevolution mit einem verhinderten Bankett begonnen hatte.339 Die Regierung und eine große Mehrheit im Parlament waren sich einig darüber, dass die „Ateliers nationaux“ um jeden Preis aufgelöst werden mussten. Die Exekutivkommission, Lamartine und Ledru - Rollin an erster Stelle, aber sogar Marie und in gewissem Ausmaß Garnier - Pagès und der Arbeitsminister Trélat, wurden jedoch von den Komplikationen des Problems bedrückt, teils aus Gewissensgründen, teils aus Angst vor den Folgen. Die Mehrheit in der „Assemblée“ wurde immer ungeduldiger, und Männer wie Falloux, der Haupturheber der Junitage, Goudchaux, Léon Faucher und andere Sprecher der Rechten und der Mitte gerieten außer sich vor Ungeduld, die Angelegen334 335 336 337 338 339

Thomas, Histoire des Ateliers nationaux, S. 315. Vgl. ebd., S. 284–292. Vgl. auch McKay, The National Workshops, S. 93–95. Thomas, Histoire des Ateliers nationaux, S. 322. Vgl. ebd., S. 304–306. McKay, The National Workshops, S. 104. Vgl. auch ebd., S. 101–103. Vgl. McKay, The National Workshops, S. 126 f.; Guillemin, La Tragédie de quarantehuit, S. 333.

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heit beendet zu sehen. Man ist überrascht von der Schwäche und Wirkungslosigkeit von Abgeordneten der Arbeiterklasse, Mitgliedern des Arbeitsausschusses der „Assemblée“, wie etwa Agricol Perdiguier, Peupin, Corbon, Martinez, Julien, und von Sozialisten wie Considérant ( der auch Mitglied des DreiMann - Unterausschusses für die „Ateliers“ war, zusammen mit Falloux und Beslay ) und Pascal Duprat. Sie wurden so leicht von dem Royalisten Falloux beherrscht. Erst im allerletzten Augenblick, als schon Barrikaden die Straßen der Hauptstadt bedeckten, gewann der Widerstand der Abgeordneten des linken Flügels wieder einige Leidenschaft und Würde. Es war keine entschlossene Bemühung mehr, sondern ein verzweifelter Protest.340 Doch wenn die Arbeiter sich mit Gewalt widersetzen – was dann ? Ein so überzeugter Gegner des Sozialismus und des „droit au travail“ wie Marie warnte den Arbeitsausschuss am 27. Mai : „Ist euch Agitation auf den Straßen lieber, ein Aufstand nach dem anderen ? Es ist unmöglich, die Ateliers aufzulösen und zu verkünden, dass die Ateliers, die gestern bestanden, heute nicht mehr sind und die dort beschäftigten 115 000 Mann mittellos und ohne Unterstützung über Paris verstreut werden sollen.“341 Es sei Zeit nötig, damit die Wirtschaft sich erhole und imstande sei, die Arbeitslosen zu absorbieren.342 „Die Zeit ist nicht für uns, sondern gegen uns“,343 schrie Falloux. Die Einschreibungen gingen weiter, und der Vulkan wurde mit jedem Tag bedrohlicher. Er beschuldigte das Ministerium, es sabotiere absichtlich die Auf lösungspläne, um eine Drohung gegenüber der Nationalversammlung in der Hand zu haben. Die Regierung hatte genug bewaffnete Truppen, um mit ihrer moralischen Kraft die Legionen der „Ateliers“ in Furcht zu versetzen. Das Gesetz war auf ihrer Seite.344 Goudchaux, der mit seiner nachdrücklichen Forderung einer sofortigen Auf lösung die Kammer in Aufruhr versetzte, sagte zu einem späteren Zeitpunkt, er habe früh die Überzeugung gewonnen, dass keine Auf lösung ohne Blutvergießen möglich sei. Er sei sicher gewesen, dass umso weniger Blut vergossen würde, je eher sie erfolgte.345 Der am 7. Juni in den „Ateliers nationaux“ durchgeführte Zensus, dessen Ergebnisse am 10. veröffentlicht wurden, zeigte, dass statt 119 000 nur 103 500 Mann ordnungsgemäß eingetragen waren.346 340 341 342 343 344 345 346

Vgl. ebd., S. 105–111. Ebd., S. 112. Vgl. ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 112 f. Vgl. Guillemin, La Tragédie de quarante - huit, S. 286, 307; McKay, The National Workshops, S. 127 f. Vgl. McKay, The National Workshops, S. 119.

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Die Regierung hatte sich zur Auf lösung verpflichtet, doch sie ging langsam voran in der Vorbereitung der Kredite für öffentliche Arbeiten in den Provinzen, Anleihen an die Industrie und Fonds für die Fahrgelder und Zuschüsse an die Arbeiter, die wegen Wohnungsmangels aus Paris fortgeschickt werden sollten. Falloux beschloss, die Sache wieder vor die „Assemblée“ zu bringen, wo er nach dreitägiger Beratung am 19. Juni die Ernennung eines besonderen Ausschusses von 15 Mann durchsetzte, für die er der Berichterstatter war.347 Fieberhafte Diskussion folgte in der „Assemblée“. Es gab kaum eine Stimme gegen die Auf lösung. Allein und wie aus einer Betäubung aufwachend, erhoben Corbon, der Herausgeber von „L’Atelier“, Considerant, der Führer der fourieristischen Schule, und Caussidière am 23. Juni ihre Stimmen in ohnmächtiger Verzweif lung und sprachen von „droit qu’a tout homme de vivre en travaillant“, einschließlich die „malheureux égarés“ („des assassins“ – erwiderten Hunderte Stimmen ), die durch Hunger zum Selbstmord getrieben wurden.348 Die „Assemblée“ war in wildem Aufruhr und wollte nicht zuhören, ebenso wie sie Victor Hugos frühere Warnung, keinen Sklavenaufstand heraufzubeschwören, nicht anhören wollte. Es war ein Sklavenaufstand und wurde von Tocqueville, Stern und anderen Zeitgenossen als solcher erkannt.349 Es ist auffallend, dass kein sozialistischer Theoretiker, kein Intellektueller, keine namhafte Persönlichkeit auf der Seite der Arbeiter kämpfte. In der Tat stellten sich – wie Daniel Stern betont – Studenten, die 1830, 1848 und in allen anderen politischen Unruhen in der ersten Hälfte des Jahrhunderts unweigerlich gegen die Regierung kämpften, diesmal gegen die Aufständischen.350 Einige potentielle Führer saßen seit dem 15. Mai hinter Schloss und Riegel. Es ist darauf hingewiesen worden, dass der Aufstand das Werk völlig anonymer Menschen war. Er hatte keine Embleme, keinen Schlachtruf. Männer und Frauen kämpften in bitterer, hoffnungsloser Verzweif lung. Die Revolte begann auf einer Versammlung der Ateliers - und Klubführer im Faubourg St. Marceau am Abend des 21. Juni. Am nächsten Morgen begaben sich Demonstranten vom Panthéon zum Petit - Luxembourg, dem Sitz der Exekutivkommission. An ihrer Spitze ist Pujol, ein Blanquist und wirksamer Volksredner nach Art der Evangelisten, Feuer und Schwefel sprühend.351 Er 347 348 349 350 351

Vgl. Guillemin, La Tragédie de quarante - huit, S. 307. Vgl. ebd., S. 307–313. Vgl. auch Schmidt, Des Ateliers nationaux, S. 31–33. Vgl. ebd., S. 33 f. Vgl. Stern, Histoire de la Révolution, Band 3, S. 185, 196. Vgl. zum gesamten Absatz Stern, Histoire de la Révolution, Band 3, S. 150–156; Schmidt, Des Ateliers nationaux, S. 38–41; Tocqueville, Recollections, Kapitel IX und X, S. 160–197.

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war der Verfasser einer Persiflage von Lamennais’ Paroles d’un croyant, die bezeichnender weise La Prophétie des jours sanglants benannt war. Pujol führt die Abordnung zu Marie. Als Pujol mit der Vorgeschichte der Februarrevolution beginnt, unterbricht ihn Marie mit dem Ersuchen, seine Zeit nicht zu vergeuden. Darauf antwortet Pujol, die Zeit eines Ministers gehöre dem Volk. Marie erinnert ihn drohend daran, dass er an der Demonstration vom 15. Mai teilgenommen habe, worauf Pujol erwidert, „da er ( sein Leben ) der Verteidigung der Freiheit des Volkes geweiht habe“,352 werde er nicht zurückweichen. Als Marie sich weigert, weiter mit einem Mann zu sprechen, der gegen die Nationalversammlung aufstand, rufen Pujol und seine Anhänger aus, es werde kein anderer sprechen als Pujol. Marie sei ein Mitglied der Exekutivgewalt, doch er – Pujol – sei der Delegierte des Volkes. Pujol fährt fort und sagt, das Volk habe die Februarrevolution gemacht, um „sich für immer von der Knechtschaft zu befreien“.353 Jetzt sehen sie, dass sie schändlich getäuscht wurden. Sie seien bereit, ihr Leben für ihre Freiheit zu geben. Marie : „Je vous comprends. Eh bien ! Écoutez ceci : si les ouvriers ne veulent pas partir pour la province, nous les y contraindrons par la force; par la force, entendez - vous ? !“354 „Jetzt sehen wir“ – antwortet Pujol – „dass der Exekutivausschuss niemals wirklich l’organisation du travail gewollt hat.“355 Bei der Rückkehr von dem Inter view befiehlt Pujol seinen Anhängern, vor der „Colonne de Juillet“ – Bastille niederzuknien, ihr Haupt zu entblößen und einen Eid auf das Andenken der Märtyrer der Freiheit zu leisten.356

352 353 354 355 356

Pujol, zit. in Stern, Histoire de la Révolution, Band 3, S. 152. Vgl. auch Chérest, La Vie et les œuvres de M. Marie, S. 217. Stern, Histoire de la Révolution, Band 3, S. 153. Ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 158.

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IV. Der Fehl schlag der inter na tio na len Revo lu ti on 1. Die internationale Revolution und der Blitzableiter Gegen die Anschuldigung, zu engen Kontakt mit den revolutionären Extremisten unterhalten zu haben, verteidigte sich Lamartine damit, er habe in der Tat in ständiger Verbindung mit den Brandstiftern gestanden, jedoch nur in der Weise, in der ein Blitzableiter mit dem Gewitter in Berührung kommt.357 Einen wichtigen Teil dieser Mission erfüllte Lamartine als Außenminister in der Provisorischen Regierung der Republik. Unmittelbar nach dem Sieg der Revolution schien alles auf unabwendbaren Krieg hinzudeuten, den entweder die monarchische Internationale beginnen würde, um die Revolutionsseuche, die sich über ganz Europa zu verbreiten drohte, zu unterdrücken, oder die neue Revolutionsregierung, angetrieben von Proselyteneifer sowie auch von nationalistischer Empfindlichkeit und der Begierde nach Ruhm.358 Lamartine war entschlossen, der Heiligen Allianz oder England keinen Vor wand zu bieten, und ebenso entschieden wollte er einen Krieg zum Zwecke revolutionärer Propaganda vermeiden. Er war zutiefst davon überzeugt, dass in beiden Fällen – einem Koalitionskrieg gegen Frankreich oder einem von der Revolution lancierten Angriffskrieg – Frankreich weitergetrieben würde zu einer terroristischen Diktatur, mit einer sozialen Revolution als Folge.359 „Die größte Gefahr für die Republik“, schreibt Lamartine in seiner Geschichte der Revolution von 1848, „war die Angst vor einer Koalition gegen sie. Angst ist grausam.“360 Mit dem Aufschrei gegen Verrat und der Errichtung von Schafotten pflastert sie den Weg zur Diktatur und händigt die Regierung den extremen Parteien aus. „Lamartine fürchtete vor allem jenes panische Ent-

357 358

359

360

Vgl. Guillemin, La Tragédie de quarante - huit, S. 29. Die Hauptquellen, auf denen dieses Kapitel beruht, sind : Pouthas ( Hg.), Documents diplomatiques; Lamartine, Histoire de la Révolution; Wigard ( Hg.), Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen Konstituierenden Nationalversammlung, Band 2; Circourt, Souvenirs; Quentin - Bauchart, Lamartine et la politique étrangère; Valentin, Geschichte der deutschen Revolution; Namier, 1848; Tersen, Le Gouvernement Provisoire. Vgl. Lamartine, Histoire de la Révolution, Band 2, S. 11–13, 22 f.; Normanby, A Year of Revolution, Band 1, S. 132–138; Garnier - Pagès, Histoire de la Révolution, Band 3, S. 98 ff., 225. Lamartine, Histoire de la Révolution, Band 2, S. 276.

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setzen vor Koalitionen, das Frankreich ergreifen und es zu Erschütterungen und Blutvergießen treiben könnte.“361 Er war sich andererseits darüber im Klaren, dass ein Angriffskrieg seitens Frankreichs „ein extremer und verzweifelter Krieg“ sein würde, der „Anstrengungen und Hilfsmittel, so extrem und verzweifelt wie der Krieg selbst“,362 notwendig machen würde. „Nur eine Regierung, die selbst auch extrem ist“, die nicht zurückschreckt vor „rücksichtsloser Besteuerung, Blutvergießen, Zwangsanleihen und Papiergeld, Proskriptionen, Revolutionstribunalen und Schafotten“,363 könnte zu solchen Mitteln greifen. Lamartines berühmtes Manifest an Europa vom 4. März ist nicht weniger darauf abgestellt, propagandistischen Argumenten zuvorzukommen, als Europa zu beruhigen.364 Die Französische Republik bedarf nicht der Anerkennung, um zu bestehen, da sie ebenso auf Naturrecht wie auf nationalem Recht begründet ist. Sie wünscht dennoch, „als eine reguläre Macht“ in die Familie der Nationen einzutreten und nicht als ein destruktives Phänomen für die „europäische Ordnung“.365 Zwischen dem Anspruch auf ausschließliche Gültigkeit des republikanischen Systems und dem Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Regierungsformen anderer Länder steht die geschickte Formulierung, dass „die verschiedenen Regierungsformen Ausdruck von verschiedenen Reifegraden im Genius der Nationen sind“.366 Verschiedenheiten in der Regierung als verschiedene Grade „geistiger, moralischer und materieller Entwicklung unter den Nationen“367 sind legitim, wenn auch eines Tages die Demokratie zwangsläufig alle anderen Formen verdrängen wird. „Es ist lediglich eine Frage der Zeit.“368 Koexistenz wird so mit der Doktrin der historischen Unvermeidbarkeit in Übereinstimmung gebracht und durch sie gerechtfertigt. Ohne den Proselytismus von 1792 zu verurteilen, stellt Lamartine ihn als gänzlich unpassend für die viel fortgeschrittenere Generation von 1848 hin. In der früheren Revolution entwickelte sich ein Bürgerkrieg zum internationalen Konflikt, weil die enteigneten privilegierten Klassen entschlossen waren, die Monarchie und Aristokratie mit Gewalt wiedereinzusetzen. Zur gleichen Zeit wollte der Mittelstand als der wahre Sieger sich alle Macht aneignen und 361 362 363 364 365 366 367 368

Ebd. Ebd., S. 24. Ebd. Das Manifest findet sich in ebd., S. 34–41; Garnier - Pagès, Histoire de la Révolution, Band 3, S. 226–235. Vgl. außerdem Tersen, Le Gouvernement Provisoire, S. 31–36. Lamartine, Histoire de la Révolution, Band 2, S. 35. Ebd. Ebd. Ebd.

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beschloss daher, die Aufmerksamkeit der Massen auf auswärtige Kriege abzulenken. Doch 1848 sind alle Klassen geeint. „Es gibt keine gesonderten und ungleichen Klassen. Die Freiheit hat ihnen allen das Wahlrecht gegeben. Die Gleichheit vor dem Gesetz hat alle auf eine Stufe gestellt. [...] Es gibt nicht einen einzigen Bürger in Frankreich, ganz gleich, welcher Richtung er angehört, der sich nicht zu dem Prinzip bekennt, dass sein Land vor jeder anderen Überlegung kommt, [ durch diese Einigkeit wird Frankreich ] unver wundbar gegenüber Invasionsversuchen und - drohungen.“369 Was die edle Pflicht betraf, das Evangelium der Rechte von Menschen und Völkern zu verbreiten, so war dies 1792 etwas Neues, das nur einigen ganz Wenigen bekannt war. In den Augen des Ancien Régime erschienen diese Begriffe als Ungeheuerlichkeit und Schimäre, die mit allen Mitteln unterdrückt werden mussten. 1848 sind diese Ideen den Monarchen und Völkern so vertraut, dass ihnen der Republikanismus, der öffentliche Freiheit in ihrer vollkommensten Form bedeutet, bei den reiferen Nationen zu etwas Gewohntem werden wird. „Sie werden erkennen, dass es eine konser vative Freiheit gibt.“370 Obwohl das republikanische Frankreich keine Notwendigkeit sieht, einen Krieg zu beginnen, um die republikanische Demokratie zu verbreiten, wird es günstig für Frankreich sein, falls Krieg gegen es erklärt wird, weil das eine Gelegenheit sein würde, sich zusätzlichen Ruhm zu erwerben. Sollte Frankreich jedoch einen Krieg beginnen, so würde es, wie ihm wohlbekannt war, dadurch, dass es als traditioneller, unverbesserlicher Angreifer erscheinen würde, sich das Wohlwollen der Nationen verscherzen.371 Erkannte Frankreich das System von 1815 an ? Theoretisch waren die Wiener Verträge nicht mehr gültig; doch praktisch würde Frankreich ihre territorialen Abmachungen nicht verletzen, in der Hoffnung, dass die Klugheit und der gesunde Menschenverstand aller Beteiligten schließlich positive Neuabmachungen herbeiführen werden. Frankreich würde keinen Propagandakrieg beginnen, sondern auf den Einfluss seines Beispiels vertrauen. Sollten seine Nachbarn und alten Verbündeten, die schweizerische und die italienische Nation, durch bewaffnete Inter vention in ihren Bestrebungen gestört werden, dann „würde sich die Französische Republik für berechtigt halten, die Waffen zu ergreifen zur Verteidigung dieser rechtmäßigen Bewegungen“372 für die nationale Einheit und Unabhängigkeit.

369 370 371 372

Ebd., S. 36. Ebd., S. 38. Vgl. ebd., S. 39. Ebd., S. 40.

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Es war in dem sehr langen und sorgfältigen Dokument nicht ein Wort zu lesen über die polnische Frage, die ein Prüfstein war vom Gesichtspunkt der internationalen revolutionären Solidarität, und auch nicht über die Heilige Allianz. In seinen Anweisungen an den neuernannten Botschafter in Berlin, den Legitimisten Circourt, trägt Lamartine diesem auf, dem König von Preußen klarzumachen, dass die Zerstörung der Französischen Republik durch monarchische Inter vention bedeuten würde, dass „die Gesellschaftsordnung vernichtet wird, weil es darüber hinaus nichts gibt als die Elemente von Krieg und Chaos“.373 Die konser vative Republik sei eine Garantie gegen soziale Revolution und angriffslustigen revolutionären Proselytismus. Diese Ansicht wurde von den konterrevolutionären Monarchen, vor allem von Zar Nikolaus I., akzeptiert. Kaum hatten die monarchischen Regierungen die Zeit gehabt, die in Lamartines Manifest enthaltenen Versicherungen aufzunehmen, als eine unwiderstehliche Welle von Volksrevolutionen mit blitzartiger Geschwindigkeit über ganz Deutschland, Österreich und Italien dahinfegte. Lamartines Prophezeiung schien sich triumphierend zu bestätigen : Krieg war nicht länger nötig, um Freiheit von den Despoten zu gewinnen. Durch sein leuchtendes Beispiel hatte Frankreich seine Mission erfolgreicher und ruhmreicher erfüllt als es mit einem proselytenmachenden Krieg geschehen wäre, bei dem es das Odium des Angreifers auf sich geladen hätte.374 Während die Flut der Revolution in ganz Europa anstieg, beachtete man kaum die Tatsache, dass die neuen Regierungen in Deutschland und Österreich von derselben Art waren, die die Februarrevolution in Frankreich gestürzt hatte. Mehr als das. Inmitten der ekstatischen Feierlichkeiten, in denen Könige revolutionäre Farben anlegten und Salute auf die toten Helden der Barrikaden ausbrachten, wurden keinerlei Schritte unternommen, um die Volkssouveränität in eine unwiderruf liche Realität zu ver wandeln und Sabotage und ein Wiederauf leben der alten Kräfte unmöglich zu machen. Heer und Bürokratie wurden intakt in den Händen der Fürsten belassen ( mit verantwortlichen Ministern an ihrer Seite ). Die Leichtigkeit und Eile, mit der die alten Regimes nachgaben, waren Schuld daran, dass die Revolutionen aufhörten, bevor die republikanische Demokratie erreicht war, ebenso wie in Frankreich das Fehlen erbitterten Widerstandes die soziale Republik um ihre Aussichten brachte. Die Extremisten rechts und links sahen klar, dass nur ein internationaler Krieg die Revolution wieder in Schwung bringen könnte, während internatio373 374

Quentin - Bauchart, Lamartine et la politique étrangère, S. 127; Circourt, Souvenirs, S. 80. Vgl. Taylor, The Struggle for the Mastery of Europe, S. 4 ff.; Namier, 1848, S. 7 ff.

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naler Friede die Basis für einen Kompromiss zwischen dem aufständischen Liberalismus und den alten Kräften abgab. Im Kontext von 1848 bedeutete Krieg den Angriff eines geeinten Frankreich und Deutschland gegen Russland zugunsten von Polen. Ein solcher Krieg wäre imstande, die Macht der Fürstenhäuser, deren Schicksal so eng mit der monarchischen Allianz verknüpft war, hinwegzufegen, möglicher weise Deutschland zu einer „République une et indivisible“ zu machen und vor allem – das war die wesentliche Bedingung des endgültigen Erfolgs jeder Revolution in Europa – den zaristischen Despotismus unschädlich zu machen, indem er ihn zerstörte oder auf das jenseitige Ufer des Dnjepr trieb. Eine radikale deutsche Revolution musste zwangsläufig einen Krieg gegen Russland beginnen oder Russland dazu bringen, einen konterrevolutionären Kreuzzug zu unternehmen.375 Die Auswirkungen solcher Entwicklungen waren dem französischen Auswärtigen Amt klar. Der französische Botschafter in Berlin war entschlossen, die Radikalisierung der deutschen Revolution um jeden Preis zu verhindern. Circourt berichtete mit tiefer Genugtuung, welche überschwänglichen Dankesäußerungen er von König Friedrich Wilhelm IV. erntete für die entscheidende Rolle, die er bei der „Erhaltung der grundlegenden Institutionen der preußischen Monarchie“376 spielte. In den Tagen der Barrikaden wäre der Vertreter der Französischen Republik in der Lage gewesen, „eine fast grenzenlose, [...] unwiderstehliche Macht auf die öffentliche Stimmung“377 in der preußischen Hauptstadt auszuüben. Stattdessen hielt er sich die Revolutionäre verächtlich vom Hals und weigerte sich, Zuschriften von ihnen zu bestätigen oder Abordnungen zu empfangen. Der Botschafter erklärte, dass er damit die Anordnungen seines Vorgesetzten befolge, der „weder glaubte noch wünschte, dass die verschiedenen Nationen im ersten Sprung und ohne entsprechende Vorbereitung zu Republiken würden“.378 Eine preußische Republik hätte ganz Mitteleuropa in Brand gesetzt, die polnische Frage wieder aufgerollt, den Zaren zur Inter vention provoziert und, als Konsequenz, die Extremisten in Paris zu neuer Leidenschaft und grenzenloser Kühnheit aufgerüttelt.379

375 376 377 378 379

Vgl. ebd. Circourt, Souvenirs, S. 184; Quentin - Bauchart, Lamartine et la politique étrangère, S. 134 f. Circourt, Souvenirs, S. 184. A. d. Hg. : Zitat nicht nachweisbar, vgl. aber Circourt, Souvenirs, S. 184; Quentin Bauchart, Lamartine et la politique étrangère, S. 135. Vgl. Quentin - Bauchart, Lamartine et la politique étrangère, S. 135. Vgl. auch ebd., S. 31–33.

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2. „Das Blut der Franzosen gehört Frankreich“ Die polnische Frage erwies sich in der französischen Innenpolitik in den ersten Monaten der Republik als ein mit Sprengstoff geladenes Problem. Sie diente in gewissem Sinne als Barometer des Revolutionsklimas während dieser Periode. Während das Fehlen jeder Erwähnung Polens in Lamartines Manifest in ironischem Kontrast stand zu dem jährlichen Gelübde zugunsten eines freien und unabhängigen Polen, das die französische Kammer während achtzehn Jahren unter Louis - Philippe abgelegt hatte, bildete die Agitation für einen Kreuzzug zur Wiederherstellung Polens eine schwere Verlegenheit oder gar Gefahr für die Provisorische Regierung der Republik. Für die Sache Polens traten die 15 000–20 000 politischen Flüchtlinge aus allen Ländern Europas, die in Paris lebten, sowie alle Klubs ein. Ein Sprecher einer polnischen Delegation ging einmal so weit, Lamartine zu drohen, die Polen würden die Provisorische Regierung zu Fall bringen, falls sie Waffenhilfe ver weigerte. Das war keine ganz leere Drohung für eine Regierung, die durch Aufstand ins Leben gerufen worden war und keine bewaffneten Truppen zu ihrem Schutz besaß.380 Das Martyrium Polens bedrückte das Gewissen der Franzosen verschiedener Parteien. Die Polen hatten bis zum bitteren Ende auf Seiten des napoleonischen Frankreich gefochten, und ihre Treue gegenüber Frankreich machte ihr Unglück zu einem ständigen Vor wurf für dieses. Die radikale Zeitung „Réforme“ gelobte in den ersten Wochen der Republik, diesmal würde Frankreich die blutgetränkte Flagge Polens – „qui est la nôtre“ – nicht sinken lassen. Frankreich würde stolz sein, sie auf dem geheiligten Boden Polens wieder aufzupflanzen, „die alte Schuld zu bezahlen, [...] den Verrat früherer französischer Regierungen zu sühnen“.381 Eine Zeit lang konnte Lamartine behaupten, die Sache Polens gehe einer Lösung entgegen, ohne dass Frankreich irgendeine Initiative zu ergreifen brauche. In den ersten Tagen der Berliner Revolution versprach die preußische Regierung den Polen eine nationale Reorganisation der Provinz Posen mit Nationalfarben und gesonderten Heereseinheiten. Das österreichische Imperium fiel auseinander, und Galizien erhielt volle Autonomie zugesichert. Die Polen sahen Posen als den Kristallisationskern und Brückenkopf ihres befreiten Vaterlandes an und setzten große Hoffnungen auf einen bevorstehenden bewaffneten Aufstand in Russisch - Polen sowie auf französisch - deutsche Hilfe gegen Russland. Lamartines Aufgabe wurde es, diese großen Erwartungen her380 381

Vgl. Garnier - Pagès, Histoire de la Révolution, Band 4, S. 250–289, bes. S. 255 f.; Lamartine, Histoire de la Révolution, Band 2, S. 257–259. Quentin - Bauchart, Lamartine et la politique étrangère, S. 150 f.

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abzustimmen als Teil seiner Bemühung, die universalistische Schneide der Februarrevolution stumpf zu machen und gleichzeitig ihre Temperatur daheim herunterzusetzen – zwei voneinander untrennbare Ziele.382 In einer Anweisung an die französischen Gesandten an den Höfen der Heiligen Allianz drängt der französische Außenminister seine Bevollmächtigten, „offen“ ( Preußen gegenüber ), „stolz“ ( Österreich gegenüber ) und „ohne Furcht“ ( Russland gegenüber ) zu erklären, dass „ein usurpiertes, unterdrücktes Polen, ohne richtigen nationalen Status, ohne bürgerliche, religiöse Unabhängigkeit“383 das Haupthindernis sei für eine Freundschaft zwischen Frankreich und den Teilungsmächten. Doch Lamartine verlangte nicht wirklich eine Wiederherstellung Polens. Er sprach von „la cause d’un rétablissement d’une nationalité polonaise, dans des proportions à débattre avec les trois cours successivement“.384 Er fordert die Teilungsmächte auf : „Restituez, émancipez, organisez, de concert avec la Pologne elle - même, de concert avec toutes les puissances intéressées au droit et à la justice, solidaires même et garantes des traités de 1815, une Pologne qui ait sa vie propre et son droit personnel dans le monde.“385 Worauf es hinausläuft, ist ein Ersuchen an die Mächte, die von den Monarchen auf dem Wiener Kongress gegebenen Versprechen zu achten und den Polen ihrer entsprechenden Gebiete die Aufrechterhaltung ihrer nationalen Identität zu erleichtern. Zu diesem Zweck bietet Lamartine „son concours diplomatique“ an und bedeutet gleichzeitig, dass in dem Fall, in dem eine der beteiligten Mächte bereit sei, den Gedanken an „une indépendance de la Pologne“ aufzunehmen, sie auf Frankreichs „concours actif pour le jour et pour l’heure où les événements lui permettront raisonnablement, et avec des combinaisons sensées préparées d’avance“386 zählen könne. Das war ein Fingerzeig für Preußen. Frankreich selbst würde keinerlei Initiative entfalten. Die Hoffnung auf französische Waffenhilfe an Polen wurde beschränkt auf die Genehmigung an in Frankreich lebende Polen, sich unbewaffnet, mit preußischer Einwilligung, nach Posen zu begeben, in der vagen Hoffnung, dass sie sich dort möglicher weise dem Kampf um ein freies Polen anschließen könnten.387

382

383 384 385 386 387

Vgl. Tersen, Le Gouvernement Provisoire, S. 37–54 ( über die verschiedenen traurigen Versuche, Befreiungslegionen zu organisieren und nationale Befreiungsbewegungen ins Leben zu rufen ). Quentin - Bauchart, Lamartine et la politique étrangère, S. 309. Ebd., S. 308 f. Ebd., S. 309. Ebd. Vgl. ebd., S. 308–311; Garnier - Pagès, Histoire de la Révolution, Band 4, S. 256–260; Lamartine, Histoire de la Révolution, Band 2, 259–266.

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Es fügte sich, dass die Frustrationen der französischen Linken gerade zu der Zeit ihren Höhepunkt erreichten, als wütende völkische und gesellschaftliche Kämpfe zwischen Deutschen und Polen in Posen die polnischen Hoffnungen vernichteten. Wir haben bereits in einem früheren Kapitel beschrieben, wie Blanqui während der Demonstration vom 15. Mai den Ruf nach einem Krieg zugunsten Polens mit der Forderung einer Organisation der Arbeit verband und wie Barbès in seiner Eigenschaft als „Minister“ der „Neuen Provisorischen Regierung“ ein Ultimatum an die Mächte der Heiligen Allianz und eine Verfügung zur Auferlegung einer Zwangsanleihe von einer Milliarde unterzeichnete. Die Ausschreitungen und das Versagen der Klubs am 15. Mai trugen dazu bei, die Sache Polens in Frankreich zu diskreditieren und zu begraben. Das Begräbnis erfolgte am 23. Mai, als die französische Kammer auf Wolowskis Antrag über Polen zurückkam, dessen Diskussion eine Woche vorher so brüsk unterbrochen worden war. Es wurde Lamartine leicht, auf den Schmerzensschrei um Polen zu antworten, der von dem nicht sehr einflussreichen naturalisierten polnischen Franzosen ausgestoßen wurde; er wagte nicht mehr zu erbitten als die Ausübung eines moralischen Drucks auf die deutschen Demokraten, um der Betätigung russischer Agenten und böswilliger preußischer Beamter entgegenzuwirken.388 „Hätten wir“, fragte Lamartine, „wie manche uns erst vor wenigen Tagen wahnsinniger weise drängten, alle anderen Beziehungen Frankreichs vergessen sollen um der alleinigen Beziehung ( zu den Polen ) willen, die, ich gebe es zu, die heiligste, weil die unglücklichste ist, aber auch die entfernteste und von einigen Gesichtspunkten aus die unmöglichste ? Hätten wir unsere eigenen Grenzen vergessen sollen ? [...] Unsere eigenen inneren Schwierigkeiten ? [...] Die Millionen von Arbeitern, deren Arbeitslosigkeit sie dem Elend und Hunger ausgeliefert hätte, um an nichts anderes als an die polnische Nation zu denken und eine französische Armee über den Rhein zu senden ?“389 Eine Armee von 120 000 bis 200 000 Mann, nachdem Frankreich nach der Revolution nur 88 000 Mann zu seiner Verfügung hatte ? Und wie steht es mit der Reaktion der Deutschen auf einen solchen Durchmarsch durch ihr Gebiet, mit all den latenten Erinnerungen an Napoleonische Eroberung, an die französische Theorie von den natürlichen Grenzen ( zum Beispiel des Rheins ), gar nicht zu reden von der riesigen russischen Armee, die darauf wartet, die Franzosen an der Weichsel zu treffen ?390 In einer früheren Entgegnung an die Polen hatte Lamartine gesagt : „Wir lieben Polen, wir lieben Italien, wir lieben alle unter388 389 390

Vgl. Quentin - Bauchart, Lamartine et la politique étrangère, S. 331 ff. Ebd., S. 332. Vgl. ebd., S. 322 f.

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drückten Völker, aber wir lieben Frankreich vor allen anderen.“391 Das Blut der Franzosen gehörte Frankreich allein. Wie in grausamem Spott schloss Lamartine seine Rede am 23. Mai mit einer feierlichen Tirade, die als „Trost für Polen“392 beabsichtigt war. In der Vergangenheit, in der Ära brutaler Regierungen, gehörte der Sieg den großen Bataillonen. Doch jetzt, im Zeitalter der Völker, war das nicht länger wahr. „La victoire est du côté de la justice, du côté de la faiblesse, du côté du droit imprescriptible des nations.“393 Dieses Recht mag eine Zeit lang ruhen. „Es wird niemals sterben !“ ( Beifall ).394 Diesem Verzicht auf internationale revolutionäre Solidarität im Namen des unterdrückten Polen folgten bald die Junitage. Die blutige Niederlage der sozialen Revolution in Paris hatte gewaltige Auswirkungen in ganz Europa. Dasselbe Frankreich, das im Februar die Kette von Revolutionen auslöste, hatte jetzt einer europäischen Reaktion den Weg gezeigt.

3. Dar winistischer Nationalismus und universale Revolution Mit seinem Argument, die Vertreter des souveränen deutschen Volkes stünden der polnischen Nation feindseliger gegenüber als die monarchischen Unterzeichner der Verträge von 1815, kennzeichnete Janiszewski, der polnische Abgeordnete im Frankfurter Parlament, den Tiefpunkt der Enttäuschung der Männer von 1848.395 Nur wenige Monate früher schrieb ein so gemäßigter Republikaner wie Garnier - Pagès in dithyrambischem Stil : „Die Stunde der Freiheit und Unabhängigkeit wird für alle Völker Europas schlagen, sogar für die Völker Russlands, deren Tag der Befreiung ebenfalls im Buche Gottes verzeichnet ist. [...] An diesem gesegneten und heiligen Tag werden Polen und Russland wie zwei Brüder daherkommen, um ihren Platz in der friedlichen und mächtigen Föderation aller Nationen Europas einzunehmen. [...] Es wird keine Kriege geben über Fragen von Teilung, Beherrschung, Nationalität und Einfluss ! Nicht mehr Schwache und Starke, Unterdrückte und Unterdrücker ! Jedes Land, unabhängig im Genuss seiner Freiheiten und in der Gestaltung seines eigenen Lebens, wird sich schleunigst der Freiheit und dem Leben aller anschlie391 392 393 394 395

Lamartine, Histoire de la Révolution, Band 2, S. 262 f. Quentin - Bauchart, Lamartine et la politique étrangère, S. 333. Ebd., S. 334. Ebd. Vgl. Wigard ( Hg.), Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen Konstituierenden Nationalversammlung, Band 2, S. 1163–1169. Zur Polendebatte vgl. auch Valentin, Geschichte der deutschen Revolution, Band 2, S. 125–128. Vgl. außerdem zu diesem Abschnitt Namier, 1848, S. 83 ff.

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ßen. [...] Nicht Herren und Gebieter werden über Krieg und Frieden entscheiden, es werden nicht Milliarden unverantwortlich vergeudet werden und keine Ströme von Blut mehr fließen. Die Vertreter der Völker, Richter der gemeinsamen Geschicke, werden sich frei dem allgemeinen Gesetz unter werfen, das für alle gleich sein wird. Die ‚Vereinigten Staaten‘ von Europa [...]. Die Herrschaft des Friedens, der Ordnung und der Harmonie wird begründet werden. Wir gehen ihr mit mächtigen Schritten entgegen.“396 Frohlockend über die Nachricht, dass die revolutionäre Volksmenge in Berlin befreite polnische Gefangene auf ihren Schultern trug und dass „Deutschland spontan seine polnischen Provinzen befreit, ihre Befreiung billigt und ihnen Hilfe verspricht“, spöttelt der „National“ : „Ihr sogenannten Staatsmänner, [...] was sagt ihr nun ?“397 zu der Großherzigkeit freier Völker – lächerliche alte Männer mit geringem Vertrauen und engen Herzen. Doch Janiszewski betonte in seiner schmerzerfüllten Rede ein paar Monate später eine sehr bezeichnende Wahrheit. Auf dem Wiener Kongress weigerten sich die Mächte der Heiligen Allianz, ein unabhängiges Polen wiederherzustellen, doch gleichzeitig verpflichteten sie sich, die Rechte und Interessen der Polen in ihren entsprechenden Territorien zu respektieren. Die Könige von Gottes Gnaden wurden nicht von dem Wunsche getrieben, einer nationalen Gruppe Überlegenheit über eine andere zu sichern oder eine nationale Kultur durch eine andere aufsaugen zu lassen. Sie betrachteten die Polen als ein zusätzliches Volk unter ihrer Herrschaft. Die Habsburger steuerten gerne Geld bei zu den kulturellen Zwecken und Institutionen der Tschechen und anderer slawischer Völker. Zwischen 1815 und 1830 genoss Russisch - Polen ( KongressPolen ) ein sehr weites Maß an Autonomie, mit seinem eigenen Landtag, einer polnischen nationalen Armee, einer ausschließlich polnischen Bürokratie. In dieser Beziehung lebten die Polen unter einem weit liberaleren Regime als die russischen Untertanen der Romanows. Wenig planmäßige Germanisierung wurde von den preußischen Behörden in der Zeit vor 1848 im Großherzogtum Posen praktiziert. Der Mangel an nationaler und politischer Freiheit, dem die Polen unter der Herrschaft fremder Dynastien ausgesetzt waren, wurde in gewissem Maße dadurch gemildert, dass die dominierenden Völker nicht mehr politische Rechte genossen als sie. Darum hegten sie auch den Glauben, dass ebenso wie die Knechtschaft aller Nationalitäten ihre Befreiung unteilbar sein würde.

396 397

Garnier - Pagès, Histoire de la Révolution, Band 7, S. 176; Quentin - Bauchart, Lamartine et la politique étrangère, S. 26. National, zit. in Quentin - Bauchart, Lamartine et la politique étrangère, S. 150. A. d. Hg. : Im französischen Original heißt es etwas weniger scharf : „Que dites - vous [...], hommes d’Etat ?“, also : „Was sagen Sie, Staatsmänner ?“

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Die ursprünglich befreiende Idee von der Nation war um 1848 zu einem derart reichhaltigen Begriff und intensiven Erlebnis geworden, dass sie nicht mehr jene Reziprozität zuließ, die das Resultat sein sollte, wenn jede Nation das Recht jedes anderen Volkes auf Volkssouveränität und Kultivierung seiner Sprache und Volksgebräuche anerkennt. Die Nation nahm die Bedeutung einer kollektiven historischen Persönlichkeit an, die zusammengesetzt war aus allen Manifestationen des nationalen Genius in der Vergangenheit, den Bedingungen ihres gegenwärtigen Wachstums und dem Wirkungsbereich, der zur Ver wirklichung ihrer gesamten zukünftigen Möglichkeiten notwendig war. Dieser Begriff, den die sogenannten geschichtlichen Nationen sich zu eigen gemacht hatten, stand im Widerspruch zu den Bestrebungen derjenigen Völker, die gerade erst aus dem Stadium des Stammes herauswuchsen und daher nur embryonale Nationen waren, und auch zu den Träumen derjenigen Nationalitäten, die schon seit langem die Attribute einer lebendigen und selbstbewussten Nation eingebüßt hatten und daher sozusagen Fossilien waren, die versuchten, zum Leben zurückzukehren. Die „geschichtslosen“ Völker waren seit Jahrhunderten nichts anderes als Objekte gewesen, an denen die beherrschenden Völker ihre Vitalität und Fähigkeiten übten. Ihre Bestrebungen, zu ausgewachsenen, freien und gesonderten Nationen zu werden, bedrohten die geschichtlichen Völker mit territorialer Zerstückelung, Beeinträchtigung ihres Erbes, Schwächung ihrer Sicherheit und Auslöschung so vieler Momente ihrer geschichtlichen Tätigkeit und Errungenschaften. Das Geschrei der Kroaten, Slowaken und Rumänen, die Ansprüche der Ruthenen, die Geltendmachung einer besonderen Nationalität durch die Tschechen wurden von den Ungarn, Polen und Deutschen mit Lehren aus dem Westen beantwortet : mit der Verschmelzung von Bretonen und Provenzalen und anderer Stämme zu der großen unteilbaren französischen Nation und mit der Selbstverständlichkeit, mit der die Schotten und Waliser die englische Sprache annahmen und sich einem gemeinsamen Schicksal, dem Großbritanniens, unter warfen. Solche Argumente von den gebildeten Schichten der emanzipierten geschichtlichen Nationen schien den erwachenden gebildeten Schichten der geschichtslosen Nationen eine viel schwerere Bedrohung zu sein als die althergebrachte Feudalherrschaft von magyarischen oder polnischen Edelleuten über slowakische oder ruthenische Leibeigene. Als dieser latente Konflikt erst einmal zutage trat, nahmen die Beziehungen zwischen den erwachten Nationalitäten der beiden kontrastierenden Typen die Spannung einer Kriegsatmosphäre an. Von da ab überschatteten strategische Erwägungen alle Prinzipien der Reziprozität, und ein schroffer Dar winismus wurde als höchste Sanktion angerufen. „Soll eine halbe Million Deutscher“ – rief der Abgeordnete Jordan in seiner viel zitierten Rede in der deutschen Konstituierenden Nationalversamm-

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lung zu Frankfurt am Main während einer Debatte über die polnische Frage (24. Juli 1848) aus – „unter deutscher Regierung, unter deutschen Beamten leben und zum großen deutschen Vaterlande gehören, oder sollen sie in der sekundären Rolle naturalisierter Ausländer in die Untertänigkeit einer anderen Nationalität unter worfen belassen werden, einer Nationalität, die nicht so viel humanen Inhalt hat, als im Deutschtum gegeben, und hinausgestoßen werden in die Fremde ? – Wer die letztere Frage mit Ja beantwortet; wer da sagt, wir sollen die deutschen Bewohner von Posen den Polen hingeben und unter polnische Regierung stellen, den halte ich mindestens für einen unbewussten Volksverräter.“398 Zum Problem der Teilung der Provinz in ein deutsches und ein polnisches Gebiet führt Jordan das Argument der „eigenen Sicherheit Deutschlands“399 gegen das streng demographische Prinzip ins Feld. Nicht nur kann die Festung Posen nicht aufgegeben werden, gleichgültig welche gefühlsmäßigen oder anderen Ansprüche die Polen auf die alte Hauptstadt der Provinz erheben, sondern auch das Straßennetz, das diese Festung sichert, darf nicht preisgegeben werden, obwohl die Straßen durch unbestritten polnisches Gebiet laufen. Welchen Wert hat eine Festung ohne entsprechende Deckung und ohne Bewegungsfreiheit ? „Es wäre eine unverantwortliche Leichtfertigkeit, ja eine Pflichtvergessenheit gegen Deutschland gewesen“,400 anders zu handeln. „Es ist hohe Zeit für uns, endlich einmal zu erwachen aus jener träumerischen Selbstvergessenheit, in der wir schwärmten für alle möglichen Nationalitäten, während wir selbst in schmachvoller Unfreiheit darniederlagen [...], zu erwachen zu einem gesunden Volksegoismus [...], welcher die Wohlfahrt und Ehre des Vaterlandes in allen Fragen obenan stellt.“401 Und wie steht es mit den Rechten ? „Denn, aufrichtig gesagt,“ – erwidert Jordan – „mir kommen die Satzungen des prinzipiellen Rechts nirgends erbärmlicher vor, als wo sie sich anmaßen, das Schicksal der Nation zu bestimmen. Mit ihrer Hilfe den Völkern ihre Bahnen vorzeichnen, das heißt, Spinngewebe ausspannen, um darin Adler zu fangen. Nein, ich gebe es ohne Winkelzüge zu: Unser Recht ist kein anderes als das Recht des Stärkeren, das Recht der Eroberung.“402 Die Unter werfung der Slawen durch die Deutschen erfolgte durch die Pflugschar, schwere Arbeit und überlegene Geschicklichkeit. Sie wurde nicht durch das Schwert vollbracht; wohingegen im Westen die Deutschen die Besiegten waren. Außerdem sei die Überlegenheit des deutschen Stammes 398 399 400 401 402

Jordan, zit. in Wigard ( Hg.), Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen Konstituierenden Nationalversammlung, Band 2, S. 1143. Ebd. Ebd., S. 1144. Ebd., S. 1145. Ebd., S. 1146.

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über die meist slawischen Stämme „vielleicht mit alleiniger Ausnahme des russischen“ eine „naturhistorische Tatsache“,403 die keine kosmopolitische Theorie ändern könne. „Das Recht der Geschichte [...] kennt nur Naturgesetze, und eins derselben sagt, dass ein Volkstum durch seine bloße Existenz noch kein Recht hat auf politische Selbstständigkeit, sondern erst durch die Kraft, sich als Staat unter anderen zu behaupten.“404 Polen sei in dieser Beziehung nicht von den Teilungsmächten getötet worden, sondern an den Folgen seiner inneren Anarchie gestorben, bevor das Erbe geteilt wurde. Die drei despotischen Königtümer seien die unbewussten Werkzeuge der Revolution gewesen : Da ein polnischer Dritter Stand fehlte, nahmen sie die Aufgabe auf sich, einen uneingeschränkten Feudalismus zu zerbrechen – die Losung „paix aux chaumières, guerre aux châteaux“ sei durch die teilenden Könige ver wirklicht worden.405 Dieser neu entdeckte Realismus und dieses neue Verständnis für den Vorrang der Tatsachen, mit anderen Worten der Macht, in den Beziehungen zwischen den Nationen, standen in bemerkenswertem Gegensatz zu der Verständnislosigkeit der Liberalen gegenüber diesen Faktoren in Bezug auf die königliche Macht zu Beginn der Revolution. Die Liberalen waren in dem Glauben an einen Rechtsstaat aufgewachsen, dessen Funktion lediglich darin bestand, ein Gefüge von Garantien gegen den ungesetzlichen Missbrauch der Macht zu bieten, nicht aber positive Aufgaben zu übernehmen. Er sollte weder einer privilegierten Feudal - und Militäraristokratie als Erbe dienen, noch sich als Werkzeug für die Verbesserung des Loses der Armen betätigen. Die Laissez - faire - Anhänger maßen dem Besitz der Macht wenig Bedeutung bei und legten allen Nachdruck auf die Verhütung der willkürlichen Ausübung der Macht. Dies sollte durch ein System von gegenseitigen Abmachungen und durch die Trennung der Gewalten erreicht werden – lieber durch Vereinbarung mit dem König als dadurch, dass man ihm die Macht entzog. Kurz, den Liberalen fehlte die intuitive Gewissheit der extremen Rechten und der extremen Linken, dass Machtpositionen niemals freiwillig aufgegeben werden und daher die Machtergreifung die einzige Garantie von Rechten ist. Da es zuerst schien, als ob die „Kräfte von gestern“ die Vereinbarung mit dem liberalen Konstitutionalismus akzeptierten, sah der Druck von der Linken her für das Bürgertum noch beängstigender aus. Deren anarchische Gewalt und Rohheit entsetzten die Freunde zivilisierten Verfahrens, während der soziale Radikalismus der Extremisten die Eigentumsstruktur in Deutschland zu bedrohen schien. Verglichen mit den Auswüchsen der Roten Revolu403 404 405

Ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 1147.

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tion, begann „ordnungsgemäßer“ militärischer Zwang den erschreckten Liberalen als ein Werkzeug der Zivilisation zu erscheinen. Sie übersahen die Tatsache, dass das Werkzeug in den Händen von Kräften belassen worden war, die die Liberalen nicht weniger hassten und verachteten als die Roten und die nur auf eine Gelegenheit warteten, um sich für die ihnen von den Liberalen zugefügte Demütigung zu rächen und eine Rückkehr zu inszenieren. Einerseits trieb die Angst vor einer sozialen Revolution die Liberalen in die Arme der reaktionären Kräfte, doch andererseits war die von ihnen eingenommene kämpferisch - nationalistische Haltung dazu angetan, die innere Schwäche der konstitutionellen all - deutschen Struktur aufzuzeigen und ihre Wortführer zu Geiseln von Königen und Armeen zu machen. Dafür war SchleswigHolstein ein schlagender Beweis. Die Deutsche Nationalversammlung beschloss, den deutschen Bewohnern der beiden Provinzen – die sich im Namen des Nationalitätenprinzips gegen ihre Einverleibung in das Königreich Dänemark wehrten – den Anschluss an das deutsche Vaterland zu ermöglichen. Um dem Selbstbestimmungsrecht des Volkes zum Sieg über Feudalansprüche und dynastischen Zwang zu verhelfen, ersuchte das Frankfurter Parlament der Deutschen Nation, das keine bewaffnete Truppe zu seiner Verfügung hatte, den König von Preußen, seine Truppen gegen Dänemark zu entsenden. Der preußische König war höchst abgeneigt, als Werkzeug einer konstitutionellen Versammlung zu dienen, um die Rechte eines Königskollegen zu verletzen, und er gab gern dem internationalen Druck nach und schloss einen Waffenstillstand mit Dänemark, ohne das Frankfurter Parlament zu fragen. Kämpferischer Nationalismus und antidynastische Gefühle gelangten in Frankfurt zu neuen Höhepunkten der Erregung. Volksaufstände brachen aus, die das Parlament bedrohten und tatsächlich in Mord und Plünderung ausarteten. Da sie keine andere Wahl hatten, riefen die erschrockenen Vertreter der Volkssouveränität die königlichen Truppen zu Hilfe, um den Volksausbruch zu unterdrücken. Der übermäßige Nationalismus, der sich des Argumentes der überlegenen Kraft bediente, untergrub die liberalen Bestrebungen und machte die Liberalen zur leichten Beute für die Militaristen. Unter diesen Umständen erlag nicht nur der liberale Konstitutionalismus, sondern auch sein derzeitiger Zwillingsbruder – der Gedanke der deutschen nationalen Einheit – dem feudal - dynastischen Partikularismus, teilweise tatsächlich infolge von übermäßigem Pangermanismus. Das Jahr 1848 wurde zum Zeugen einer paradoxen Umgruppierung von Positionen in Mitteleuropa. Die „progressiven demokratischen“ Völker, besorgt um die Erhaltung des historischen Erbes der Nation als eines geheiligten anvertrauten Gutes, beriefen sich auf die Fakten der Natur und erklärten sich gleichzeitig zu Anhängern der europäischen Revolution. Die embryonalen oder lang

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unterdrückten Völker hingegen, denen es um eine Gelegenheit ging, sich zu vollgültigen Nationen zu entwickeln, suchten Sicherheit vor dem dynamischen demokratischen Nationalismus der geschichtlichen Völker in einem Bündnis mit der supranationalen konterrevolutionären Habsburgerdynastie. Das Frankfurter Vorparlament lud mit Selbstverständlichkeit die Tschechen ein, Abgeordnete zum all - deutschen Parlament zu schicken. Das Königreich Böhmen und Mähren, auf drei Seiten von Deutschen umgeben, war jahrhundertelang ein Teil des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation gewesen, und der König von Böhmen war der erste Kurfürst. Palackys stolze Antwort, er sei nicht Deutscher, sondern Tscheche, war ein Schock für die Deutschen. Und der Ausspruch des tschechischen Historikers, wenn Österreich nicht existiert hätte, hätte es geschaffen werden müssen, erschien den Anhängern des Nationalitätenprinzips als reine Per version. Doch mit der Verbohrtheit, die oft die intuitive Überzeugung eines glühenden Nationalismus begleitet, übersahen die Deutschen, dass ihr Anspruch auf Einschluss aller deutschsprachigen Bevölkerungen, ob sie nun in den baltischen Staaten oder in der Schweiz lebten ( vom Elsass ganz zu schweigen ), in das deutsche Vaterland gemäß dem geheiligten Prinzip nationalsprachlicher Selbstbestimmung, ihnen das Recht nahm zu verlangen, dass Territorien, die früher von den Deutschen beherrscht wurden, jetzt aber von anderen Völkern bewohnt waren, auch im Reich festgehalten werden sollten, weil das für den deutschen Selbstausdruck notwendig sei. Es kam ihnen nicht in den Sinn, dass sie den betreffenden Volksgruppen das Recht der Selbstbestimmung ver weigerten. Die europäischen Revolutionäre verherrlichten die Ungarn als die revolutionäre Nation par excellence. Niemandem lag daran, die Aufmerksamkeit auf den extremen Feudalismus in der ungarischen gesellschaftlichen Struktur zu lenken, wenn eine so tapfere Nation in einem verzweifelten Kampf gegen die Unterdrücker von Völkern und Hüter der schwärzesten Reaktion begriffen war; und Kossuth war wirklich ein Radikaler. Doch die von Kossuth geführten Ungarn widersetzten sich nicht lediglich den Habsburgern, sondern sie kämpften um ein großes geschichtliches Ungarn. Für sie war ihr Kampf nicht ein Eroberungskrieg, sondern ein Kampf, um als Nation zu überleben. Als kleines, abseits lebendes Volk, ohne Bruder unter den europäischen Nationen, mit einer einzigartigen Sprache und Tradition, in einem slawischen Ozean, der von einer gewaltigen slawischen Macht beschützt wurde, musste Ungarn groß sein, wenn es überhaupt bestehen wollte. Von ähnlicher Art war der Konflikt zwischen den Polen und den Russen (einschließlich der russischen Revolutionäre ) wegen der Grenzen eines wiederhergestellten Polen. Die Polen versteiften sich darauf, dass jede Konzession in Bezug auf die Grenzen von 1772 eine Anerkennung der Gültigkeit der Teilung in sich schließen würde. Die Russen argumentierten, die meisten der öst-

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lichen Gebiete des alten Polen seien von Weißrussen, Ukrainern und Litauern bewohnt, und die Polen bildeten nur eine dünne Schicht von Adligen und Gebildeten. Die Polen erwiderten, der großrussische demographische Anspruch auf diese Territorien sei nicht viel stärker als der polnische. Was für die demokratischen Russen viel mehr ins Gewicht fiel, war die Tatsache, dass ein östlich der Grenzen von 1772 gedrängtes Russland bedeuten würde, dass Russland aus Europa vertrieben und zu einem Teil zu Asien geworden wäre. Zur Verteidigung gegen den aggressiven Magyarismus, der behauptete, „Slawen sind keine Menschen“, und den streitbaren Germanismus, der alle zu verschlingen drohte, ließen die slawischen Bauernvölker ( deren wichtigste Beschwerde durch die Abschaffung der feudalen „cor vée“ erhört worden war und die an politischer Macht nicht interessiert waren ) die österreichischen Armeen von Windischgrätz, Radetzky und Jelačić anschwellen und halfen der alten Monarchie, die Revolution in ihren sämtlichen Gebieten zu unterdrücken. Das siegreiche Österreich von Schwarzenberg setzte dem Traum von einem Großdeutschland ein Ende : Es würde sich weder auf lösen noch zulassen, dass seine deutschen Gegenden einem geeinten Deutschland einverleibt würden. Es war stark und lebensfähig genug, um Friedrich Wilhelm IV. in Olmütz zu zwingen, alle Pläne einer Vereinigung der deutschen Fürsten unter Preußen aufzugeben, nachdem der preußische König – teils im Blick auf Wien – die Annahme der ( kleinen ) deutschen Kaiserkrone ver weigerte, die ihm das Frankfurter Parlament, das heißt, die deutsche Nation, angeboten hatte. Somit trugen die Slawen nicht wenig zu dem traurigen Fehlschlag der deutschen Einheit im Jahre 1848 und zu dem Zusammenbruch der liberal - demokratischen Revolution bei. In allen oben erwähnten Fällen erwies sich die nationale Einzigartigkeit als äußerst mächtiger Gegner der internationalen Revolution und ging als Sieger über sie her vor.406

406

Vgl. Droz, Les Révolutions allemandes; Kann, The Multinational Empire; Pouthas, Démocraties et capitalisme; Mommsen, Größe und Versagen des deutschen Bürgertums; Stadelmann, Soziale und politische Geschichte der Revolution von 1848; Namier, Vanished Supremacies, S. 21–53.

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I. Die Bona par tis ti sche Dik ta tur 1. Eine Karikatur des politischen Messianismus Marx war nicht der Einzige, der das Frankreich von 1848 als eine Karikatur der Großen Revolution ansah und Louis - Napoleon Bonaparte als Karikatur des ersten Napoleon. Es ist jedoch wenig Notiz davon genommen worden, dass die zweite Version des Bonapartismus auch eine Art Parodie auf die Hochflut des politischen Messianismus darstellte.1 „Die moderne Diktatur“, schreibt Sir Lewis Namier mit Bezug auf Napoleon III., „ersteht auf den Ruinen eines ererbten sozialen und politischen Gefüges, in der Trostlosigkeit erschütterter Loyalitäten – sie ist das verzweifelte Abschwenken von Gemeinschaften, deren Haltetaue losgerissen sind. Enttäuschte, desillusionierte Menschen, entwurzelt und in ihrem Gleichgewicht gestört, angetrieben von halb unbewussten Ängsten und Ausbrüchen von Leidenschaften, suchen fieberhaft nach einem neuen Sammelpunkt und nach neuen Bindungen. Ihre ins Leere projizierten Träume und Sehnsüchte konzentrieren sich auf irgendeine Figur. Es ist die Monolatrie der politischen Wüste. Je pathologischer die Situation, desto unwichtiger ist der innere Wert des Idols. Seine Füße mögen aus Ton sein und sein Gesicht von ausdrucksloser Leere : die Raserei der Anbeter verleiht ihm Bedeutung und Macht.“2 Enttäuschung und Erbitterung waren zweifellos der Anlass für die fünfeinhalb Millionen Franzosen, die Louis - Napoleon Bonaparte zum Präsidenten der Republik wählten. Für alle seine Gegner zusammen wurden weniger als zwei Millionen Stimmen abgegeben, von denen Lamartine, im Februar und März 1848 der Liebling der Nation, nur 17 000 erhielt, und der sozialistisch republikanische Kandidat Raspail 36 000. Wenn das Verlangen nach einem starken Mann und Retter der einzige Beweggrund gewesen wäre, hätte General Cavaignac bessere Aussichten haben sollen als der erfolgreiche Kandidat. Er hatte in den Junitagen die „Gesellschaftsordnung“ gerettet. Er war von einer Strenge und einem Ernst, die so weit gehen konnten, dass sie beleidigend wirkten, stand im Ruf höchster Integrität, und zu seinem unbefleckten Republikanismus gesellte sich der Ruhm eines Vaters, der Mitglied des Konventes, und eines Bruders, der ein republikanischer Held und Märtyrer gewesen war. Hatte er nicht sofort nach Erfüllung der Aufgabe, für die ihm die unbegrenzte Macht

1 2

Vgl. Guérard, Napoléon III, S. 57 ff., erkennt den messianischen Hintergrund; Zeldin, The Political System of Napoleon III., nimmt einen zu militärischen Standpunkt ein. Namier, Vanished Supremacies, S. 54.

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Epilog

verliehen worden war, seine diktatorischen Vollmachten an die Nationalversammlung zurückgegeben ? Und Cavaignacs Treuebekenntnis zur Republik zu Beginn der Wahlkampagne konnte nur wenige unbewegt gelassen haben. „Wir sind unversöhnliche Feinde derer, die erklären, die Republik sei etwas Schlechtes und Unzulängliches, und die nichts unversucht lassen, um sie zu stürzen [...]. In diesem Kampf setzen wir alles ein ( livrer tout ), unsere Verantwortung, unseren Frieden, sogar unser Glück [...]. Jeder, der die Republik nicht will, ist unser Feind, notre ennemi sans retour.“3 So aufrichtig diese Worte waren, sie verrieten ein schlechtes Gewissen. Cavaignac verfiel in einen provozierenden Ton gegen die antirepublikanische Rechte, als er Vollmachten verlangte für die Beibehaltung des Belagerungszustandes. Der Besieger und Unterdrücker der roten Revolution hasste die Männer, die die Umstände ihm als Verbündete aufgezwungen hatten. Außerdem war er, wie er Lord Normanby zugab, überzeugt, die Mehrheit des französischen Volkes lehne die Republik ab. Daher die Reizbarkeit des Generals, seine seltsame Unschlüssigkeit und ver wunderliche Weigerung, die ungeheure in seinen Händen befindliche Macht zur Förderung seiner Kandidatur auszunutzen oder gar ernstlich eine Wahlkampagne zu führen. Im Vergleich zu General Cavaignac hatte Louis - Napoleon, abgesehen von seinem Namen, nichts Positives aufzuweisen. Sogar der Name hätte gegen ihn benutzt werden können. Seine Erscheinung, seine Vergangenheit und sein Benehmen waren erbärmlich unnapoleonisch, und das offizielle Frankreich, die Regierung und das Parlament, behandelten ihn mit verächtlicher Feindseligkeit. Der Gesetzesvorschlag über die Nichtwählbarkeit von Mitgliedern früherer regierender Häuser zur Präsidentschaft der Republik wurde von seinem Antragsteller in der Nationalversammlung zurückgezogen, nachdem Louis - Napoleon eine armselige gestotterte Protestrede vorgebracht hatte. Letzterer habe damit bewiesen, dass der Gesetzesvorschlag überflüssig sei, bemerkte der Antragsteller. Auch hatte der Prätendent, mit Ausnahme einiger Abenteurer, die bereit waren, auf ihn zu setzen, keine Partei hinter sich, die eine Massenanhängerschaft organisiert hätte, noch verfügte er über finanzielle Mittel. Man kann wohl sagen, er habe seine gesamten Mängel in Vorteile ver wandelt. Seine glanzlose Erscheinung, die schwerlidrigen Augen, das bewegungslose Gesicht „eines melancholischen Papageis“, sein stark deutscher Akzent, die Schwerfälligkeit der Rede und das damit verbundene ängstliche Bemühen, sich so wenig wie möglich zu enthüllen, wurden zum Ausdruck königlicher Schweigsamkeit und Zurückhaltung, hinter denen sich unergründete Tiefen zu verbergen schienen. Nach den törichten fehlgeschlagenen Putschen in Straßburg und Boulogne, der Gefangenschaft in Hamm und den anfänglichen Wei3

Gorce, Histoire de la Seconde république française, Band 1, S. 428 ( Zitat ), 464–468.

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gerungen der republikanischen Behörden, ihm die Rückkehr nach Frankreich zu gestatten, um seinen Sitz im Parlament einzunehmen, konnte Louis - Napoleon sich als Märtyrer hinstellen, als Überbringer einer großen Botschaft, die von machthungrigen Männern gefürchtet und vereitelt wurde. Wenig passend zu dem monomanischen Glauben an seine Bestimmung sind die recht unmajestätischen Mittel zur Gewinnung von Zeit und die unheroischen Intrigen, zu denen er greift. Das Symbol der Herrlichkeit erobert nicht den Thron im Sturm durch kühne Taten oder auch nur durch feurige Reden, sondern verlässt sich auf kleine Bildchen, Medaillons und Flugblätter, die es zur Macht tragen sollen.4 Der Name Napoleon war natürlich Millionen wert, denn die anderen Namen waren draußen im Land fast alle gleichermaßen unbekannt. Für wen sonst könnte man stimmen, soll ein alter Bauer ausgerufen haben, wenn einem in Moskau die Nase erfroren war ? Indessen gab es andere Bonapartes, die weder versuchten noch von irgendjemandem nötigt wurden, sich um die höchste Macht zu bewerben, sondern die zufrieden waren, als unauffällige Republikaner in der Assemblée zu sitzen. Louis - Napoleons hartnäckiger Glaube an seine Bestimmung und die über wältigende Antwort von Millionen Franzosen leitete sich nicht von der napoleonischen Legende allein her. Sie stellten einen Teil, und eine weitgehend per vertierte und krankhafte Manifestation des politischen Messianismus ihres Zeitalters dar. Wir haben im Verlauf dieser Untersuchung wiederholt gesehen, wie leicht die Vision einer einzigen und unteilbaren Geschichte – obzwar in unvermeidliche Phasen geteilt, von denen jede ihre eigene Mission erfüllt – in den Augen ihrer Anhänger einen Mann des Schicksals zum Brennpunkt macht. Der Erwählte wird die Verkörperung des Zeitalters, die Inkarnation seiner Wesenheit, der Vollstrecker des Plans, den die Geschichte für diese Generation bereitgehalten hatte. In seinen Idées napoléoniennes fasst Louis - Napoleon die Mission seines Onkels in den folgenden charakteristischen Worten zusammen : „Ohne das Konsulat und das Empire wäre die Revolution nichts als ein mächtiges Drama gewesen, das ruhmreiche Erinnerungen, aber wenig Spuren hinterlässt [...]. Napoleon [...] begründete in Frankreich und verbreitete über ganz Europa die wichtigsten Errungenschaften aus der großen Krise von 1789; nach seinen eigenen Worten ‚läuterte er die Revolution, festigte Throne und veredelte die Nationen‘. [...] Er trennte Wahrheiten [...] von Leidenschaften [...], verhalf der Autorität zur Anerkennung [...], errichtete [...] Institutionen, die den Menschen 4

Vgl. Guérard, Napoléon III, S. 91; Simpson, The Rise of Louis Napoleon, S. 275, 279 f., 283, 286 f., 292.

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in seinen eigenen Augen hoben, gab Nationen das Bewusstsein ihrer eigenen Stärke. Der Kaiser mag sehr wohl als der Messias moderner Ideen gelten, und zwar nicht [...] wegen seiner Anwendung von Prinzipien in aller Feinheit ihrer Theorie, sondern eher, weil er den Genius der Regeneration leitete, ihn mit dem Volksgefühl identifizierte und ihn kühn dem erwünschten Ziel entgegenführte.“5 In seiner Freiheit von doktrinärer Starrheit, in seinem schöpferischen Eingehen auf verschieden gelagerte Umstände wirkte Napoleon als eine saintsimonistische loi vivante, die unbeirrt alle Kräfte einem bestimmten Ziel entgegenführt. Ebenso wie die großen Baumeister dauerhafter Bauwerke wusste Napoleon sehr wohl den konstruktiven Faktor in den neuen Kräften für die soliden traditionellen Fundamente zu nützen. In einem demokratischen Zeitalter, in dem die Mehrheiten sich verschoben, konnte eine derartige Aufgabe nur von einem Einzelnen ausgeführt werden. „Eine Aristokratie“, sagt Louis - Napoleon, „erfordert kein Oberhaupt, doch im eigentlichen Wesen der Demokratie liegt es, sich in einem Einzelnen zu personifizieren [...], um das Fehlen von Bestimmtheit und Nachfolge auszugleichen“6 – Elemente, die in der Vergangenheit in einer erblichen Aristokratie verkörpert waren und durch sie garantiert wurden. „Die bevormundende und demokratische Macht des plebejischen Helden [...], der der wahre Vertreter unserer Revolution war“ ( Napoleon I.), wurde zwar erblich – was sie nach Louis - Napoleons Ansicht natürlich auch sollte –, doch leitete sie sich nicht von Gottesgnadentum, Abstammung oder althergebrachter Überlieferung her, sondern „von dem demokratischen Geist der Nation“.7 Sie wurde – in Volksbefragungen – wiederholt durch beinah einstimmige Akklamation des Volkes erneuert. Als er im Sommer 1850 das ganze Land bereiste, um die Provinzen gegen das unfreundliche Paris und die widerspenstige Nationalversammlung zu gewinnen, verkündete der Prinz - Präsident bei einem Besuch in Lyon : „Ich muss euch offen sagen, wer ich bin und was ich will. Ich bin kein Parteimann: Ich vertrete jene beiden großen Manifestationen des nationalen Willens, die 1804 und 1848 die großen Prinzipien der Französischen Revolution durch Ordnung retten wollten. Ich gehöre dem Land, ganz gleich, was es von mir verlangen mag. [...] Die Wahl von sechs Millionen führt den Willen des Volkes aus und verrät ihn nicht. [...] Falls verbrecherische Ansprüche erneut aufflackern, werde ich sie durch Wiederanwendung des Prinzips der nationalen Souveräni-

5 6 7

Bonaparte, Des idées napoléoniennes, S. 16 f. ( Zitat ). Ebd., S. 21 ( Fußnote ), 22. Ebd., S. 22; Napoléon III, Œuvres, Band 1, S. 5.

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tät unschädlich machen, denn keiner hat ein besseres Recht darauf, als sein Vertreter zu handeln, als ich.“8 Das Geschrei dieser Partei oder jener Faktion sind nicht Ausdruck des nationalen Willens, sondern Auswüchse des schlechteren Selbsts des Volkes – her vorgerufen von eigennützigen Beweggründen oder vorübergehenden Verirrungen. Denn das bessere Selbst sogar derjenigen, die bei einer bestimmten Wahl für diese Faktion oder jene Clique stimmen, weiß sich im feierlichen Moment einer großen nationalen Befragung – des Plebiszits – zu den Höhen des einzigen wahren nationalen Willens zu erheben. Selbst wenn die cäsarische Regierung der autoritären Demokratie im Widerspruch zu den Wünschen der Wortführer von Parteien und der verschiedenen Kräfte der Nation zu stehen scheint, so erfüllt sie doch in Wirklichkeit die tiefsten Wünsche und befriedigt die lebenswichtigsten Interessen der Nation. In nichtige parlamentarische Auseinandersetzungen und unfruchtbare Streitereien ver wickelt, unfähig, eine klare Entscheidung zu treffen, sehnen sich die Menschen in ihrem tiefsten Inneren danach – wie Napoleon I. und später Bismarck glaubten –, vor ein fait accompli gestellt, ohne Wahl gelassen zu werden. „Es ist die Pflicht einer jeden Regierung“, schreibt Louis - Napoleon, „falschen Ideen entgegenzutreten und die wahren zu lenken, indem sie sich kühn an ihre Spitze stellt; eine Regierung, die sich treiben lässt, anstatt zu führen, beschleunigt ihren Untergang und gefährdet die Gesellschaft, die sie beschützen soll. Der Kaiser machte sich zum wahren Vertreter der wahren Ideen seines Zeitalters und gelangte dadurch so leicht zu mächtig beherrschendem Einfluss.“9 Unter den Umständen einer revolutionären Umwälzung und eines Zusammenbruchs von Institutionen und Brauch, wie 1799 und 1848, bestehe wahre Freiheit nicht darin, den erbitterten Leidenschaften und zentrifugalen Trieben freien Lauf zu lassen, sondern in der Wiederherstellung der Ordnung und der Achtung von Gesetz und Moral; dies sei die erste Bedingung für ein geordnetes und freies Leben und der erste Schritt zu einer zweckdienlichen Organisation der Gesellschaft, die sowohl wirksamen Selbstausdruck als auch harmonische Anpassung aller sozialen Elemente sichern würde.10 Eine „autoritäre Demokratie“ umfasse die Gesamtheit der Interessen, Tendenzen, Bedürfnisse und Gepflogenheiten, ohne sich mit irgendeiner bestimmten Idee zu identifizieren. Louis - Napoleon trat als Verteidiger und Wiederhersteller der auf dem Eigentum basierenden Ordnung auf im Gegensatz 8 9 10

Guérard, Napoléon III, S. 127 f. Bonaparte, Des idées napoléoniennes, S. 25. Vgl. ebd., S. 27.

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zu der Anarchie der von Millionen Bauern und Bürgerlichen so bitter gehassten und gefürchteten partageux; zu gleicher Zeit verfasste er eine Broschüre Ausrottung der Armut, in der er das Programm aufstellte : „Keine Not mehr für die Kranken oder diejenigen, die durch Alter gezwungen sind, von der Arbeit auszuruhen.“11 Er genoss den Glorienschein von Napoleons kriegerischem Ruhm und ver warf die nationale Schmach von 1815; doch das Reich Napoleons III. war ein Reich „des Friedens“. Das bonapartistische System spielte in Rom die Rolle des Henkers der Revolution, und gleichzeitig setzte es sich auch für das Nationalitätenprinzip ein. Das Regime war autoritär, es bediente sich einer Geheimpolizei, übte Gewalttat und Umsturz, dabei proklamierte es jedoch das allgemeine Wahlrecht als heilig. Die Religion wurde gefördert, aber es bestand eine Leidenschaft für Planung, Technologie, riesige öffentliche Arbeiten und rastlose Experimente. „Notabeln“ hatten großen Einfluss, doch das Prinzip der carrière ouverte aux talents stand hoch in Geltung. In der Praxis trug die cäsarische Demokratie oder plebiszitäre Diktatur den Charakter einer beständigen Suche nach Sensationen, sei es in Form von auswärtigen Abenteuern, panem et circenses oder monumentalen öffentlichen Gebäuden und Plätzen, oder sogar von Sozialgesetzgebung, alle dazu bestimmt, die Phantasie zu erregen und Beifall zu gewinnen oder die Habgier von selbstsüchtigen Interessen und ehrgeizigen Komplizen zu befriedigen.

2. Demokratischer Selbstmord und diktatorische Gewalttätigkeit Für die plebiszitäre Diktatur oder autoritäre Demokratie Bonapartes wurde der Boden ebenso sehr durch das Versagen des französischen Parlamentarismus und die antiparlamentarische Stimmung der französischen Massen bereitet wie durch den napoleonischen Mythos. Sie wurde gleichzeitig indirekt von dem politischen Messianismus und den durch die sozialen Spannungen erzeugten Frustrationen unterhalten. Es gab nicht nur keine Übereinstimmung über grundlegende Dinge zwischen den Parteien innerhalb und außerhalb der Assemblée, sondern die Institution des Parlaments als solche war weit davon entfernt, in irgendeiner Weise als letzte Instanz akzeptiert zu werden. Die Legitimisten ordneten das Gottesgnadentum dem Mandat des Volkes über. Die Orléanisten waren gegen das allgemeine Wahlrecht der „gemeinen Menge“. Die radikalen Republikaner maßen der Revolution höhere Geltung zu als einer parlamentarischen Abstimmung oder sogar einer Wahl. Es war sinnlos, von Parteien, die jederzeit zu 11

Guérard, Napoléon III, S. 128. A. d. Hg. : Vgl. auch Bonaparte, Extinction du paupérisme, S. 29.

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gegenseitiger Vernichtung durch außerparlamentarische Mittel bereit waren, unbedingte Loyalität gegenüber dem parlamentarischen Verfahren sowie das dazugehörige fair play und die Bereitschaft, auch eine Niederlage hinzunehmen, zu erwarten. Der Anblick einer von großer Unaufrichtigkeit zersetzten und von tiefem Hass zerrissenen Assemblée, deren Prestige nicht ausreichte, um Aufrührer einzuschüchtern, und die zu deren Unterdrückung einem General diktatorische Macht verleihen musste, war schwerlich geeignet, den französischen Massen Vertrauen in das parlamentarische System einzuflößen. Und Franzosen waren von jeher geneigt, über ihre Abgeordneten das Schlechteste zu glauben und dementsprechend bei den nächsten Wahlen zu handeln. Die Väter der Verfassung von 1848 waren sich wohl bewusst, dass die Zukunft des parlamentarischen Regimes abhing von der Art der Präsidentenwahl und der Teilung der Gewalten zwischen dem Präsidenten und der einen in allgemeiner Wahl gewählten Kammer, für die sie eintraten. Jedem war klar, dass der Präsident, wenn er ebenfalls direkt vom Volk gewählt würde, geltend machen könnte, er hätte einen Auftrag von größerer demokratischer Gültigkeit als die Abgeordneten der Assemblée. Es war auch allgemein bekannt, dass jemand hinter den Kulissen wartete, um die Gelegenheit aufs Beste zu nützen. An Beobachtern, die auf die der Republik drohenden Gefahren hinwiesen, fehlte es nicht; sie flehten die Assemblée an, für die Präsidentenwahl ein anderes Verfahren zu bestimmen, am liebsten eine Wahl durch das Parlament selbst. Die Warnungen nützten nichts. Die Rechte wollte eine Volkswahl, weil sie voller Hoffnung war, dass cet excellent jeune homme12 ( von vierzig Jahren ), Louis - Napoleon, dem sie schließlich ihre widerstrebende und verächtliche Unterstützung gab, nur ein Lückenbüßer sein würde für einen zukünftigen König (aus dem Hause Bourbon oder Orléans ? – das war eine nicht zu unterschätzende Hürde ). Die Linke wollte die Assemblée ärgern, und manche ihrer Abgeordneten hätten gern einen Volkstribun gehabt, der die reaktionären Abgeordneten durch „richtige“ Demokraten ersetzen würde.13 Die gemäßigten Republikaner kämpften allein gegen das plebiszitäre Verfahren bei der Präsidentenwahl. Jedoch den Sieg trug der demokratische Perfektionismus von Lamartine, dem Abgeordneten der „Wählerschaft des Ideals“, davon. Er war es, der mit seiner verzweifelnd leidenschaftlichen Rede zugunsten einer Volkswahl das Grab der demokratischen Republik grub. „Obwohl die 12 13

A. d. Hg. : Diese Beschreibung Louis Napoleons stammt von Odilon Barrot. Siehe Falloux, Mémoires d’un royaliste, Band 1, S. 414. Simpson, The Rise of Louis Napoleon, S. 297–299; Gorce, Histoire de la Seconde république française, S. 446–450.

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Gefahren einer Republik meine Gefahren sind“, rief Lamartine am 9. Oktober aus, „zögere ich nicht, mich für dasjenige Verfahren einzusetzen, das euch das gefährlichste scheint – die Wahl durch das Volk ! [...] Ich weiß, dass die Gefahr groß ist, dass es Momente der Verirrung bei den Mengen gibt; dass es Namen gibt, die die Massen mitreißen [...]. Ja, sogar wenn das Volk den wählt, von dem ich in meiner Voraussicht [...] befürchte, dass es ihn wählen wird : alea jacta est! Lasst Gott und das Volk sprechen. [...] Lasst uns die Vorsehung anrufen und zu ihr beten, sie möge das Volk erleuchten, und beugen wir uns ihren Dekreten. Und wenn das Volk irrt; wenn es sich verblenden lässt von dem Glanz seines eigenen Ruhmes; wenn es vor seiner Souveränität zurückweicht, nachdem es den ersten Schritt getan hat; wenn es seine Sicherheit, seine Würde, seine Freiheit aufgeben will, um sie in die Hände einer Erinnerung an ein Kaiserreich zu legen; wenn es sagt : bringt mich zu der alten Monarchie zurück; wenn es uns und sich selbst desavouiert, nun, schlimm genug für das Volk : nicht uns, sondern dem Volk wird es an Ausdauer und Mut gefehlt haben. [...] Was auch immer geschehen mag, vor der Geschichte wird es etwas Schönes sein, die Republik versucht zu haben, [...] diejenige, die wir proklamiert, erdacht, entworfen haben.“14 Das war eine großartige Manifestation von pereat mundus, fiat justitia und eine herrliche Verteidigung des Prinzips : Lasst das Volk sprechen und lasst seinen Willen geschehen, selbst wenn es sich durch seine Abstimmung in eine Diktatur hineinbringt. Die Beschlüsse der Assemblée über die Beziehung zwischen dem Präsidenten und ihr waren so merkwürdig und undurchführbar, dass man den Eindruck erhält, die Gesetzgeber hätten entweder nicht gewollt, dass sie durchgeführt werden oder – trotz entgegengesetzter Tendenzen – sich nicht gegen die Verlockung wehren können, die unbedingte Vormachtstellung des Parlaments um jeden Preis zu sichern. Die Verfassung von 1848 gab dem Präsidenten keine Vollmacht, die Assemblée aufzulösen oder auch nur zu vertagen. Auch konnte die Kammer sich nicht selbst auf lösen. Ebenso wenig konnte sie den Präsidenten absetzen, außer wenn er wegen bestimmter Vergehen angeschuldigt war. Die Minister waren dem Präsidenten unterstellt, wurden von ihm ernannt und entlassen. Kurz, es gab keine Vorkehrung zur Lösung eines Konflikts zwischen dem Präsidenten und dem Parlament. Ohne die Möglichkeit von Auf lösung und Neuwahlen konnte eine ausweglose Situation entweder durch eine revolutionäre Anrufung des Himmels über wunden werden, nachdem die Assemblée vorher den Präsidenten zum Verbrecher erklärt hatte, oder durch Ausführung eines 14

Gorce, Histoire de la Seconde république française, S. 451–453; Simpson, The Rise of Louis Napoleon, S. 299.

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Gewaltstreiches seitens des Präsidenten mit Hilfe der ihm zur Verfügung stehenden bewaffneten Truppen. Bei den im Lande vorherrschenden stark antiparlamentarischen Gefühlen hätte der Präsident kein Bonaparte zu sein brauchen, um zu verkünden, dass er, der von der über wiegenden Majorität des Volkes gewählt worden war, den Volkswillen besser repräsentiere als alle Parteien oder Faktionen in der Kammer, die nur von einem Teil der Wählerschaft gewählt wurden und Parteiziele verfolgten. Die Abgeordneten der abgelaufenen Assemblée konnten wiedergewählt werden. Dem Präsidenten jedoch war eine erneute Kandidatur automatisch versagt. Ebenso waren alle seine Ver wandten bis zum sechsten Grade – aus einleuchtenden Gründen – disqualifiziert. Außerdem machte die Verfassung von 1848 in einem Übermaß von Vorsicht eine verfassungsmäßige Revision praktisch unmöglich. Keine Assemblée konnte in den ersten zwei Jahren ihres dreijährigen Bestehens eine Verfassungsrevision zur Diskussion stellen. Im dritten Jahr ( in dem, wie Simpson bemerkt, ein Parlament normaler weise aufhört, für die Wählerschaft repräsentativ zu sein ) musste die revidierte Verfassung dreimal eine Mehrheit von vier zu eins in zwei Abständen von je einem Monat erhalten, wobei Stimmenthaltungen als negative Stimmen zählten. Wenn die neue Verfassung bei einer der drei Abstimmungen nicht die notwendige über wältigende Mehrheit erzielte oder der Assemblée die Zeit fehlte, die Revision zu beenden, war alles vergeblich, da die Angelegenheit von der neuen Kammer wenigstens zwei Jahre lang nicht behandelt werden konnte.15 Diese Sachlage musste jedem Präsidenten ein Gefühl der Frustration geben. Für einen Bonaparte mit seinem Glauben an seine Bestimmung und seiner Überzeugung, dass er die wirkliche Verkörperung des Volkswillens darstelle, waren sie geradezu eine Aufforderung, einen Putsch zu versuchen, da alle legalen Wege versperrt waren. Die im Jahre 1849 als Nachfolgerin der Verfassunggebenden Versammlung gewählte Kammer sollte bis 1852 bestehen, und die Amtszeit des 1848 gewählten Präsidenten sollte auch im selben Jahr ablaufen. Die Menschen dachten mit tiefer Angst an das Jahr 1852, da alles wieder in den Schmelztiegel geworfen würde. Die Assemblée von 1849 enthielt eine absolute royalistische Majorität und eine starke Vertretung von radikalem Republikanismus. Die gemäßigten Republikaner waren so gut wie ausgeschaltet, und die Bonapartisten, die ihre Wahlkampagne zusammen mit den Legitimisten und Orléanisten geführt hatten, schnitten bei den Wahlen schlecht ab – wodurch die Inkongruenz zwischen der fast einmütigen Abstimmung für den Parteiführer in den Volksabstimmun15

Vgl. Simpson, Louis Napoleon and the Recovery of France, S. 18–22.

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gen und der Unbeliebtheit und Wirkungslosigkeit seiner Partei ( in merkwürdigem Gegensatz zu den Massendiktaturen des folgenden Jahrhunderts ) unterstrichen wurde. Es gab nur noch wenige, die die bestehende republikanische verfassungsgemäße Legalität verteidigten. Die Royalisten schauten nach einer Gelegenheit für eine Veränderung aus, und von der Linken wurde angenommen, sie bereite ihre Rache vor. Um ihr zuvorzukommen, entzog die Mehrheit des rechten Flügels – unter dem Eindruck des Erfolgs von Eugène Sue bei einer Ersatzwahl – durch einen Federstrich allen „unstabilen Elementen“ das Wahlrecht : das bezog sich auf etwa drei Millionen aus den acht oder neun Millionen Wählern. Diese Verletzung der heiligen Errungenschaften von 1848 und des Grundprinzips der Volkssouveränität wurde von der Linken als Ermächtigung zur Revolution ausgelegt. Doch es zeigte sich, dass sie für Napoleon nützlicher war als für die Revolutionäre. Während die Assemblée geflissentlich die Petitionen und Abstimmungen in den Provinzen, die eine Revision der Verfassung und die Anerkennung des Rechts des Präsidenten auf eine zweite Amtsperiode verlangten, beiseiteschob, griff Louis - Napoleon das Problem des allgemeinen Wahlrechts gegen seine Verletzer in der Nationalversammlung auf. Er konnte zur gleichen Zeit die besitzenden Klassen mit dem roten Gespenst schrecken, das vor kurzem sein Haupt erhoben hatte in dem von Ledru - Rollin geführten Aufstand gegen die Unterdrückung der Römischen Republik durch die französische Armee, was eine Verletzung der Verfassung darstellte, die Frankreich untersagte, in die Freiheiten einer freien Nation einzugreifen.16 Louis Bonapartes Putsch vom Dezember 1851 war von keinerlei Barrikadenromantik umgeben. Er wurde in der Tradition der Carbonariverschwörungen geplant und ausgeführt, nur dass es diesmal nicht ein Häuf lein von Verschwörern war, das sich gegen eine Regierung mit einer Armee verschwor, sondern eine militaristische Regierung, die gegen verfassungsmäßigen Parlamentarismus komplottierte : Vornahme von Verhaftungen mitten in der Nacht (1. Dezember ), während ein Bankett im Präsidentenpalast abgehalten wurde; Plakatierung von Proklamationen in den frühen Morgenstunden, nachdem der Text stückchenweise von verschiedenen Setzern gesetzt worden war, damit sie seinen vollen Inhalt nicht kennen; Besetzung aller strategischen Punkte gleichzeitig durch Berufssoldaten; und die Nationalgarde entdeckte am nächsten Morgen, dass ihre gesamten Trommeln zerschnitten waren und ihr Pulver angefeuchtet.17 „Ich zähle auf euch“, proklamierte das Manifest des Prinz - Präsidenten an die Soldaten, „dass ihr das Gesetz nicht verletzt, sondern dem obersten Gesetz 16 17

Vgl. Guérard, Napoléon III., S. 125 ff. Ebd., S. 131–134.

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des Landes, der Souveränität der Nation, deren rechtmäßiger Vertreter ich bin, Achtung verschafft. Die Assemblée hat versucht, die Autorität zu schwächen, die ich von der ganzen Nation empfangen habe : sie existiert nicht mehr. [...] Soldaten, eure Geschichte ist die meine.“18 „Ich habe ( die Assemblée ) aufgelöst : Ich rufe das Volk ( den einzigen Souverän, den ich in Frankreich anerkenne ) an, zwischen ihr und mir zu richten.“19 Es folgten gänzlich unprovozierte und unnötige „Fusilladen“ am 4. Dezember gegen eine Bevölkerung, die keinen Widerstand leistete, bei denen offiziell 600 Tote gezählt wurden. Das nachfolgende Plebiszit billigte den Putsch mit einer über wältigenden Mehrheit von 7 481 000 gegen 647 000 Stimmen.20

18 19 20

Simpson, Louis Napoleon and the Recovery of France, S. 133. Ebd., S. 134. Vgl. Guérard, Napoléon III., S. 138 f.

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II. Natio na lis ti sche und libe ra le Reori en tie rung 1. Die Auf lösung der universalen Bündnisse von Völkern und Königen Dass es den Revolutionen von 1848 nicht gelang, zu einer internationalen Revolution zu werden – ein Misserfolg, der das Schicksal aller Revolutionen jenes Jahres besiegelte –, war höchst bedeutsam für die Zukunft der europäischen Gemeinschaft der Nationen und ihrer inneren Systeme. Das Gespenst der Revolution wich zurück, das Bündnis der Völker erwies sich als Phantom, und die geeinte Front von Nationalisten, Demokraten, Sozialisten und Liberalen brach in den allerersten Tagen der Revolutionswelle zusammen. Nachdem der abstrakte doktrinäre Universalismus der Revolution sich als eine Täuschung herausgestellt hatte, bestand auch keine Notwendigkeit mehr für den ebenso abstrakten doktrinären Universalismus der Konterrevolution – die Solidarität der Könige von Gottes Gnaden. Monarchische Pietät, Erwägungen einer internationalen konterrevolutionären Strategie und die Angst, ein schlechtes Beispiel zu geben, behinderten einen Friedrich Wilhelm IV. in seiner Aktion gegen den König von Dänemark und waren mit ein Anlass für ihn, die ihm von einem Volksparlament angebotene Kaiserkrone zurückzuweisen, da dieses nach seiner Ansicht nicht die Instanz war, die sie vergeben konnte. Nur die gottgesalbten königlichen Brüder, die anderen Fürsten, hatten das Recht, diese Krone zu vergeben. Vom streng monarchischen Gesichtspunkt aus hätte sie an den habsburgischen Erben, den Ältesten unter den deutschen Fürsten, fallen sollen. Und Friedrich Wilhelm IV. erklärte sich bereit, dem habsburgischen Kaiser aufs Ross zu helfen. Bismarck, der preußische Junker und getreue Diener seines Königs, goss 1848 seinen Spott aus über den „deutschen Schwindel“ – die Einheit der deutschen Nation. Nicht sehr viel später wies derselbe Bismarck voller Entschiedenheit Gerlachs Haltung zurück, der unbeirrt darauf bestand, alle nationalen und lokalen Interessen müssten der obersten Aufgabe der Bekämpfung der Revolution und der Erhaltung der unteilbaren gottgewollten autoritären Ordnung in Europa untergeordnet werden. Bismarck sah in Gerlach einen Don Quichotte. Der zukünftige Einiger Deutschlands war in der Zwischenzeit zu dem Glauben gelangt, die Stimme Gottes spreche durch die Verkettung von Tatsachen und Umständen hic et nunc. Da die Angst vor einer internationalen Revolution, die eine internationale Front der Könige forderte, nicht mehr bestand, waren die Monarchen frei, ihre

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Nationalistische und liberale Reorientierung

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egoistischen Interessen zu verfolgen. Nachdem sich gezeigt hatte, dass der Nationalismus nicht der Verbündete, sondern der Feind der Revolution war, gab es keinen Grund mehr gegen ihn, und alle Gründe sprachen für eine Verbindung mit dem Nationalismus. Es war so viel weiser und leichter für einen König, als ein wesentliches Element in der nationalen Tradition, ja als ihre Verkörperung und ihr Sprecher zu erscheinen, denn als ihr Feind. Die gefühlsgebundenen Energien, die den Kanälen der Revolution zugeflossen waren, konnten jetzt mit Erfolg in den Kult des nationalen Mythos und in nationale Selbstver wirklichung umgeleitet werden. Nur wenige Jahre nach dem Frühling der Nationen sah der Krimkrieg Zar Nikolaus I., den Gendarmen des europäischen Königsbündnisses, an gebrochenem Herzen sterben, als der Henker der französischen Republik eine Koalition gegen ihn anführte; der österreichische Kaiser, den der Zar 1849 gerettet hatte, hetzte zu dem Bündnis gegen Russland auf; und der König von Preußen schaute passiv zu. Im Jahre 1859 kämpfte Napoleon III. im Namen der italienischen Nation gegen Österreich. Man kann sagen, dass der Nationalismus in gewissem Sinne geläutert aus diesen Entwicklungen her vorging. Durch das Abwerfen aller universalistischen Verbindungen und internationalen Treuverpflichtungen – sowohl revolutionären als auch konterrevolutionären Charakters – wurde die Nation wirklich zu einem Gesetz in sich; ihre ausschließliche raison d’état leitete sich von den Erfordernissen ihrer einzigartigen Situation und Tradition her – dem höchsten kategorischen Imperativ. Außerdem ver wies der Begriff der einen und unteilbaren Nation alle Klassenunterschiede und jede internationale Klassensolidarität weit in den Hintergrund.

2. Das Zurückweichen des Gespenstes der Revolution und der Fortschritt des nationalen Liberalismus Nicht nur Metternich sah Ende Februar 1848 den Kommunismus aus Paris kommen, sondern sogar ein guter rheinischer Liberaler und Wirtschaftler der Manchesterschule wie Mevissen und viele andere empfanden ihn angesichts der anfänglichen Ausbrüche von Volksaufständen in Deutschland und der proletarischen Demonstrationen in seinen Industriezentren als drohende Gefahr. Ähnlich hatten in Britannien die besitzenden Klassen sich lange den Forderungen der Chartisten nach dem allgemeinen Wahlrecht widersetzt, da sie in ihm ein Vorspiel sahen zu sozialer Revolution, Plünderung und Pöbelherrschaft. Der jämmerliche Zusammenbruch des Chartismus zu Kennington Common im April 1848, die konser vative Mehrheit, die sich aus den ersten freien, allgemeinen Wahlen in der Geschichte ergab, die Junitage in Paris, und etwas später die Akklamation des Volkes für einen bonapartistischen Diktator öffne-

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Epilog

ten manchem verängstigten Bürgerlichen und verzweifelnden Konser vativen die Augen darüber, dass er sich vor einem Gespenst gefürchtet hatte. Das allgemeine Wahlrecht, bei dem Millionen Bauern einen so großen Prozentsatz der neuen Wählerschaft darstellten, konnte leicht zu einem Verbündeten des Konser vativismus gemacht werden. Es entstand ein neuer Typ von reaktionärem Führer. An die Stelle des quietistischen schicksalbeschwerten Typs, der in alles Alte verliebt war und Veränderungen scheute, traten dynamische, herausfordernde und einfallsreiche Führer wie Schwarzenberg, Bach und Bismarck, unerbittlich, aber auch elastisch und anpassungsfähig, bereit zur Anwendung von Gewalt, doch ebenso wohl zum Eingehen eines Bündnisses mit einer Klasse, um eine andere in Schranken zu halten. Befreit von der Angst vor der Revolution einerseits und von seinen früheren Hemmungen gegenüber den – jetzt mehr zu Entgegenkommen bereiten – monarchischen Regimes andererseits, entwickelte das liberale Bürgertum größeres Selbstvertrauen und auch mehr Großzügigkeit. Der Wohlstand nahm zu. Das kalifornische Gold wirkte als gutes Schmiermittel. Die früheren Spannungen und Belastungen der industriellen Revolution wichen größerer Ungezwungenheit und Stabilität, und die rücksichtslose Konkurrenz wurde in den sechziger Jahren fast überall durch Freihandel ersetzt. Einige der schlimmsten Missstände der industriellen Revolution wurden durch den Sieg des gigantischen Prozesses selbst zunehmend gebessert. Nachdem die Arbeiter nicht mehr als Soldaten der internationalen Revolution gefürchtet wurden, konnte man ihnen das Wahlrecht zubilligen und ihnen Hilfe und Schutz gewähren, die sie von dem revolutionären Messianismus abbringen würden. Das Proletariat war nun nicht mehr ausgestoßen und wurde zum integralen Bestandteil der Nation. Die Schrecken der Pariser Kommune waren trotz der Faszination, die sie während einiger Jahre ausübten, bald vergessen, und Bismarcks Sozialistenverfolgung – eine milde Angelegenheit im Vergleich zu dem, was in der Zukunft bevorstand – erwies sich als lediglich eine Episode. Bei weitem wichtiger war die Tatsache, dass der preußisch - französische Krieg von 1870 einen Abgrund von tödlichem Hass zwischen den beiden größten und führenden Nationen auf dem Kontinent schuf, den zu überkommen sich 1914 die erhoffte internationale Solidarität des Proletariats als viel zu schwach erwies. Die Identifizierung von nationalen Interessen und Interessen der Arbeiterklasse wurde weitgehend durch den Imperialismus gefördert. Imperialistische Erwerbungen wurden als Mittel zur Hebung des Lebensstandards der Massen gepriesen, abgesehen davon, dass sie eine Abflussmöglichkeit für nationale Energien boten. Gefühle, die vorher Revolten genährt hatten, konnten jetzt in Hass des nationalen Feindes und Stolz über die Taten von imperialistischen Erforschern und Erbauern von Kolonialreichen abgewandelt werden. Doch die ungeteilte Herrschaft von bürgerlichen Interessen – im Bündnis mit exklusivem Nationalismus – konnte sich nicht sehr lange halten.

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Nationalistische und liberale Reorientierung

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Es mag eine Zeit lang geschienen haben, als ob mit der absoluten wirtschaftlichen Kontrolle der Produktionsmittel in den Händen des Bürgertums die dem Proletariat gewährten politischen Konzessionen und die staatliche Unterstützung eher die Bedeutung von Sicherheitsventilen in einer bürgerlichen Gesellschaft hatten, als von Stufen zu voller politischer und sozialer Demokratie. Und doch vermochte, eher als vorauszusehen war, eine Verbindung zwischen liberalen Demokraten und empirischen Sozialisten die politische Waffe des allgemeinen Wahlrechts in ein Werkzeug weitgehender demokratischer und sozialer Reform zu ver wandeln.

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III. Mar xis ti sche Reori en tie rung 1. Der Plan für eine proletarische Revolution und Diktatur Diese Möglichkeit suchte Karl Marx in seiner Ansprache der Zentralbehörde an den Bund vom März 1850 vor wegzunehmen; es werden darin die Lehren aus den Ereignissen von 1848/49 gezogen und Anweisungen für den zukünftigen Kampf der Kommunistischen Partei gegeben. Mit Hinblick auf Deutschland definiert Marx das Ergebnis der Revolution als den Sieg der liberal - aristokratischen Verbindung über die „demokratische Partei“. Wie ist diese zusammengesetzt ? Aus „den fortgeschrittensten Teilen der großen Bourgeoisie“, „den demokratisch - konstitutionellen Kleinbürgern“, „den republikanischen Kleinbürgern, [...] die sich jetzt rot und sozialdemokratisch nennen, weil sie den frommen Wunsch hegen, den Druck des großen Kapitals auf das kleine, des großen Bourgeois auf den Kleinbürger abzuschaffen [...], in Frankreich ( nennen sich ) die republikanischen Kleinbürger Sozialisten“.21 Die demokratischen Kleinbürger, „weit entfernt, für die revolutionären Proletarier die ganze Gesellschaft umwälzen zu wollen, erstreben eine Änderung der gesellschaftlichen Zustände, wodurch ihnen die bestehende Gesellschaft möglichst erträglich und bequem gemacht wird“.22 Alles, was sie wollen, ist, nach Marx, progressive Besteuerung, billiger Staatskredit, volle Mobilisierung des Bodens, Beschränkung der Macht des Großkapitals sowohl durch diese Maßnahmen als auch durch eine Reform der Erbschaftsgesetze, Gesetze gegen Wucher, Nationalisierung oder Munizipalisierung der gemeinnützigen Betriebe und vieler Industrieunternehmungen. Dieses Programm behält das Bestehen der Lohnarbeiterklasse bei, wenn auch höhere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen und „eine gesicherte Existenz“, teils durch Staats - und Gemeindever waltung, teils durch Wohlfahrtsinstitutionen für sie vorgesehen werden; „kurz“, schließt Marx, „sie hoffen die Arbeiter durch mehr oder minder versteckte Almosen zu bestechen und ihre revolutionäre Kraft durch momentane Erträglichmachung ihrer Lage zu brechen“.23 In dieser Beziehung ist die demokratische Partei „den Arbeitern weit gefährlicher als die frühere liberale“.24 Hier haben wir ein Schulbeispiel für das, was wir romantischen Chiliasmus nennen können. Die kommunistische Revolution und eine kommunistische 21 22 23 24

Burns ( Hg.), Handbook of Marxism, S. 62 f. Ebd., S. 63; vgl. Mehring, Karl Marx, S. 202. Burns ( Hg.), Handbook of Marxism, S. 64. Ebd., S. 62.

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Marxistische Reorientierung

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Gesellschaft sind so absolute Ziele, dass Marx sich nicht einmal die Mühe nimmt zu beweisen, dass die von seinen Gegnern angestrebte Sozialdemokratie unzureichend ist für das Glück der Arbeiter oder eine zu prekäre und unhaltbare Errungenschaft wegen der stets vorhandenen konterrevolutionären Gefahr und fortgesetzten Sabotage durch die Überreste des Kapitalismus. Es kommt ihm auch nicht in den Sinn, seinen endgültigen Plan auf etwaige Fehler und Schwächen hin zu untersuchen. „Es kann sich für uns nicht um Veränderung des Privateigentums handeln, sondern nur um seine Vernichtung; nicht um Vertuschung der Klassengegensätze, sondern um Aufhebung der Klassen; nicht um Verbesserung der bestehenden Gesellschaft, sondern um Gründung einer neuen.“25 Diese Analyse erlegt der proletarischen Partei eine klare und unnachgiebige Strategie auf. Ebenso wie die Revolution von 1848 nicht ohne eine Allianz zwischen den bürgerlichen Liberalen und den Demokraten stattfinden konnte (wobei die Letzteren schließlich von den Ersteren verraten wurden ), so muss die „neue Revolution, ( die ) bevorsteht“, zuerst das gemeinsame Bestreben des Kleinbürgertums und der Arbeiterpartei sein. Es besteht kein Zweifel, dass die Demokraten sich ihren proletarischen Verbündeten gegenüber so verhalten werden wie die Liberalen 1848 gegenüber den Demokraten. Daher muss „die Arbeiterpartei möglichst organisiert, möglichst einstimmig und möglichst selbstständig auftreten“.26 Aus tiefem Misstrauen gegen ihre demokratischen Verbündeten und aus einer unerschütterlichen Entschlossenheit, die Revolution zu ihrem vorbestimmten Endstadium zu bringen, müssen die Kommunisten eine Strategie und Taktik annehmen, die zuerst äußerst skrupellos und opportunistisch erscheinen mögen, die aber ihre absolute Rechtfertigung von der absoluten Gültigkeit des Ziels herleiten. Während sie in der Öffentlichkeit als Mitglieder einer vereinten Front mit den Demokraten erscheinen, müssen die Arbeiter, vor allem der Bund, dahin wirken, „neben den offiziellen Demokraten eine selbstständige geheime und öffentliche Organisation der Arbeiterpartei herzustellen“,27 mit Zellen überall, um eine gesonderte und unabhängige Politik beizubehalten. Sie sind dazu bestimmt, die demokratischen Verbündeten auf diese Weise zu behindern und aufzureiben, damit „die Herrschaft der bürgerlichen Demokraten von vornherein den Keim des Unterganges in sich trägt und ihre spätere Verdrängung durch die Herrschaft des Proletariats bedeutend erleichtert wird“.28 Wenn die Demokraten unschlüssig und zaudernd sind, müssen die Kommunisten unbarmherzig und dynamisch sein. 25 26 27 28

Ebd., S. 64. Burns ( Hg.), Handbook of Marxism, S. 61; vgl. Mehring, Karl Marx, S. 203. Mayer, Friedrich Engels, Band 1, S. 364. Burns ( Hg.), Handbook of Marxism, S. 66; vgl. Mehring, Karl Marx, S. 203.

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Epilog

Wenn die Kleinbürger denken, der Kampf sei bereits gewonnen, und die Arbeiter aufrufen, zur Arbeit und Ordnung zurückzukehren, dann müssen die Proletarier dafür sorgen, dass die revolutionäre Erregung nicht unmittelbar nach dem Sieg abklingt. Sie sollten die Massen antreiben, Exzesse zu begehen und Rache zu nehmen an verhassten Einzelpersonen und Gebäuden.29 Die Kommunisten sollten bei jeder Gelegenheit versuchen, das Programm der Demokraten zu überbieten, um sie zu zwingen, Versprechungen zu machen, die sie nicht halten können, und sie dadurch zu kompromittieren : Wenn die Demokraten damit einverstanden sind, Feudalgüter an die Bauern abzugeben, dann sollten die Kommunisten verlangen, dass „das konfiszierte Feudaleigentum Staatsgut bleibt und zu Arbeiterkolonien ver wendet wird, die das assoziierte Landproletariat mit allen Vorteilen des großen Ackerbaus bearbeitet [...] ( nach dem ) Prinzip des gemeinsamen Eigentums“.30 Die Demokraten werden den Staat dezentralisieren wollen, doch der Kommunismus muss nach demokratischem Zentralismus streben, „wie in Frankreich 1793“.31 Die Kommunisten müssen die demokratische Reform des Eigentums ( wie den Ankauf von Eisenbahnen und Fabriken ) in direkte Angriffe auf das Eigentum ver wandeln; die progressive Besteuerung in eine „Steuer, deren Sätze so rasch steigen, dass das große Kapital dabei zugrunde geht“;32 die Regulierung der Staatsschuld in Staatsbankrott. Um die „Revolution in Permanenz“ zu erhalten, sind zwei Maßnahmen höchst wichtig : „neben den neuen offiziellen Regierungen [...] eigene revolutionäre Arbeiterregierungen“ mit örtlichen Zweigstellen aufzustellen; und das ganze Proletariat „mit Flinten, Büchsen, Geschützen und Munition [...] sofort“ zu bewaffnen, „selbstständig als proletarische Garde mit selbstgewählten Chefs und eigenem selbstgewählten Generalstab“.33 „Die Waffen und Munition dürfen unter keinem Vor wand aus den Händen gegeben, jeder Entwaffnungsversuch muss nötigenfalls mit Gewalt vereitelt werden.“34

2. Globale Revolutionsstrategie und Nationalismus Zu Beginn der Revolution von 1848 teilen Marx und Engels, wenn auch ( wie gewöhnlich ) in schärferen Ausdrücken, die Gefühle eines Robert Blum und Ruge, die in der „Polendebatte“ in Frankfurt Ende Juni 1848 gefühlvoll von 29 30 31 32 33 34

Vgl. Mehring, Karl Marx, S. 203. Burns ( Hg.), Handbook of Marxism, S. 69; vgl. Mehring, Karl Marx, S. 203. Burns ( Hg.), Handbook of Marxism, S. 70. Ebd. Ebd., S. 67; Mayer, Friedrich Engels, Band 1, S. 365. Burns ( Hg.), Handbook of Mar xism, S. 67.

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Marxistische Reorientierung

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der heiligen Pflicht der befreiten deutschen Nation sprachen, denjenigen Nationen, denen Unrecht geschehen war, bei der Wiedererlangung ihrer Rechte zu helfen. Engels rief die deutsche Nation auf, Sühne zu tun für die Sünde, als williges oder passives Werkzeug bei der Eroberung und Unter werfung der slawischen Länder, Italiens und sogar Nordamerikas ( die hessischen Söldner ) gedient zu haben. Die Neue Rheinische Zeitung bespöttelte die Behauptung der deutschen Nationalisten, sie hätten Kultur nach Polen getragen und seine Ödländer fruchtbar gemacht. Die Hoffnung auf ein revolutionäres Bündnis zwischen einem demokratischen Deutschland und einem Polen in den Geburtswehen einer sozialen und nationalen Revolution veranlasste Engels, für ein großes und mächtiges Polen einzutreten, das sich im Westen bis zur Nordsee erstreckt.35 In dem flammenden Artikel über die Unterdrückung der Prager Aufstände durch Prinz Windischgrätz wurden sogar die anfänglichen Schwierigkeiten mit den Tschechen der deutschen Intransigenz und Dummheit und den hinterhältigen Intrigen reaktionärer Agenten zugeschrieben, die die Tschechen den Russen in die Arme treiben wollten, um sie in dem bevorstehenden Krieg zwischen Deutschland und Russland zu vernichten.36 Dieser Ton änderte sich bald, als es Marx und Engels klar wurde, dass die verschiedenen Nationalitäten sich nicht nur nicht vereint gegen die Reaktion gestellt hatten, sondern dass die Dänen sich gegen den Einschluss Schleswig - Holsteins in ein geeintes Deutschland gewehrt und slawische Soldaten an der Spitze der Konterrevolution auf allen Schlachtfeldern des österreichischen Kaiserreichs gekämpft hatten. Sobald ihre Ziele mit den Zielen und der globalen Strategie der Revolution in Konflikt gerieten, wurden die nach Unabhängigkeit strebenden Nationalitäten zu Werkzeugen der Konterrevolution oder zu noch Schlimmerem.37 Die globale Strategie der Revolution konnte nicht auf die Erfordernisse des Augenblicks begrenzt werden, da sie von Kräften geformt wurde, die weit in die Geschichte zurückreichten. Wenn die Geschichte in ihrer Gesamtheit als Vorbereitung auf die Revolution angesehen wird, sollte die ländliche Einfachheit und Unter werfung der Südslawen nicht Mitleid und Anteilnahme erwecken, sondern lediglich Verachtung als Rückständigkeit und reaktionärer Obskurantismus, während die Dynamik und Tüchtigkeit der fortgeschrittenen 35

36 37

Vgl. Marx / Engels, Die Polendebatte in Frankfurt, S. 319–363 ( besonders die Artikel vom 9. und 20. August ); Mayer, Friedrich Engels, Band 1, S. 308 f. A. d. Hg. : 1. Engels spricht von einem „großen Küstenstrich“ an „der Ostsee“, nicht an der Nordsee. 2. An dieser Stelle und im Folgenden werden statt der MEGA ( Marx - Engels - Gesamtausgabe) die deutschsprachigen „Marx / Engels – Werke“ zitiert, da diese dem deutschen Leser eher zugänglich sind. Vgl. Marx / Engels, Der Prager Aufstand. Vgl. Marx / Engels, Der demokratische Panslawismus.

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Epilog

erobernden Industrienationen, wie der Deutschen, als wichtiger Beitrag für die Herbeiführung der universalen Revolution angesehen werden sollte. Nach dem Engels’schen Artikel in der Neuen Rheinischen Zeitung vom September 1848 sind die Dänen „ein Volk, das in der unbeschränktesten kommerziellen, industriellen, politischen und literarischen Abhängigkeit von Deutschland steht“.38 Die wirkliche Hauptstadt Dänemarks ist nicht Kopenhagen, sondern Hamburg, die dänische Literatur „ein matter Abklatsch der deutschen“.39 Deutschland wird aufgefordert, mit demselben guten Recht Schleswig zu nehmen, mit dem die Franzosen Flandern, Elsass und Lothringen genommen haben „und Belgien früher oder später nehmen werden, [...] mit dem Recht der Zivilisation gegen die Barbarei, des Fortschritts gegen die Stabilität“.40 In ähnlicher Weise sieht Engels die stetigen, ausdauernden Bemühungen der Deutschen seit den Tagen Karls des Großen um die Eroberung und Kolonisation Osteuropas als gleichbedeutend an mit einem Hineintragen der Zivilisation in diese Gebiete. „Der Krieg, den wir in Schleswig - Holstein führen, ist also ein wirklicher Revolutionskrieg.“41 Denn wer steht auf der Seite Dänemarks ? Russland, England und die preußische Regierung, die drei führenden konterrevolutionären Mächte, die auch am meisten die deutsche Einheit fürchten.42 Engels fordert einen Krieg Deutschlands, im Bündnis mit Polen und dem aufständischen Italien, der „das Vaterland in Gefahr“ bringt, gegen die konterrevolutionären Mächte, einen Krieg, der „den Sieg Deutschlands von dem Sieg der Demokratie abhängig macht“.43 Unter den in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts herrschenden Umständen, als die oberste Aufgabe der Revolution ein Krieg gegen das zaristische Russland war, repräsentierten das feudale Ungarn und Polen ( die selbstverständlich einen sozialen Wandel durchmachen müssten ) den revolutionären Fortschritt, während die Bauernmassen von Kroatien und Slowakien Kräfte der schwärzesten Reaktion waren. Und der Weltkrieg, der dann ausbräche, würde „alle diese kleinen stierköpfigen Nationen“44 bis auf ihre Namen beseitigen und nicht nur reaktionäre Klassen und Dynastien, sondern auch ganze reaktionäre Völker vom Erdboden vertilgen. Und auch das wäre ein Fortschritt.45 Es ist interessant festzustellen, dass Engels einige Jahre später seine 38 39 40 41 42 43 44 45

Marx / Engels, Der dänisch - preußische Waffenstillstand, S. 394. Ebd. Ebd., S. 395. Ebd., S. 396. Ebd. Ebd., S. 397. Marx / Engels, Der magyarische Kampf, S. 176; Mayer, Engels, Band 1, S. 329. Marx / Engels, Der magyarische Kampf, S. 176; Mayer, Engels, Band 1, S. 329; Marx / Engels, The Russian Menace to Europe, S. 67.

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Marxistische Reorientierung

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Ansichten über Polen drastisch revidierte, als die Polen in Russisch - Polen sich nicht gegen den Zaren erhoben und keine soziale Revolution durchführten.46 Verglichen mit einer Nation, deren einziger wirklich aktiver Sektor die Schlachta war ( und daher, trotz aller patriotischen und revolutionären Proklamationen, außerstande, eine Armee von mehr als 30 000 aufzubringen ), schien Russland, wenn seine Bauern erst einmal zur Tat aufgerüttelt wären, ein viel wichtigerer potentieller Aktivposten für die Weltrevolution als das unfähige Polen.47

46 47

Mayer, Friedrich Engels, Band 2, S. 44 f. Zusätzliche Quellen : Bloom, The World of Nations; Marx, The Eighteenth Brumaire of Louis Bonaparte; ders., The Class Struggles in France; Cornu, Karl Marx et la révolution de 1848.

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Schluss fol ge run gen

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„Blickt man über den ganzen Umfang der sozialistischen und kommunistischen Literatur und über die Masse der Arbeit, die sich daran anschließt, und vergleicht man die unendlich geringen Resultate der letzten Zeit mit denen der früheren, so lässt sich kaum verkennen, dass Sozialismus und Kommunismus ihre theoretische Laufbahn erfüllt haben [...]. Man hat nicht unrecht mehr, den Sozialismus und Kommunismus in der Theorie als ein abgeschlossenes Ganze[ s ] zu betrachten [...], die Zeit, in welcher sich jener theoretisch vorbereitet hat, scheint in der Tat als abgeschlossen gelten zu müssen.“1 Diese Sätze aus Lorenz von Steins Vor wort zur zweiten Auf lage seines Buches Der Socialismus und Communismus des heutigen Frankreichs wurden 1847 geschrieben ( fünf Jahre nach dem ersten Erscheinen des Werkes ), als das Kommunistische Manifest noch nicht veröffentlicht war, noch niemand von dem Werk Das Kapital träumte und Karl Marx’ Nationalökonomie und Philosophie, der umfassendste Kanon des Mar xismus von vor 1848, erst im Manuskript vorlag und noch auf sehr lange Zeit hinaus unveröffentlicht bleiben sollte. Was kommenden Generationen als kaum begonnen erschien, stellte sich einem Zeitgenossen offenbar so dar, als ob es seine Laufbahn bereits beendet und seinen Schwung verloren hätte. Ein Jahrhundert später erscheint es angemessen, von Steins Zusammenfassung als Korrektiv gegen die Ansichten der dazwischenliegenden Generationen anzuführen. Es ist nicht länger angängig, Marx so zu betrachten, als bezeichne er das plötzliche Auftauchen einer neuen Gattung, der des wissenschaftlichen Sozialismus, im Vergleich zu dem die Theorien aller früheren Sozialisten Erfindungen von Scharlatanen und Alchimisten waren. Es genügt auch nicht, die utopischen Anfänge von Marx anzuerkennen, jedoch ihre Bedeutsamkeit für den reifen „wissenschaftlichen“ Marx aus der Zeit nach 1848 zu verneinen. Im Gegensatz zu der Behauptung, der spätere Marx habe jede Anrufung abstrakter Gerechtigkeitsprinzipien vermieden und die Unvermeidbarkeit einer schließlichen Erlösung einzig mit Hilfe einer streng wissenschaftlichen Analyse bewiesen, sieht die vorliegende Untersuchung im messianischen Drang das treibende Moment für Marx. Der „wissenschaftliche“ Beweis wurde benötigt, um dem leidenschaftlichen Wunsch Substanz zu verleihen. In dieser Beziehung erhält der Mar xismus, wie alle anderen sozialistischen und kommunistischen Theorien der gleichen Zeit, seine wahre geschichtliche Bedeutung erst, wenn man ihn als Teil einer größeren und

1

Stein, Der Socialismus und Communismus des heutigen Frankreichs, Vorrede, S. XII. A. d. Hg.: Die zweite Auflage des Buches erschien erst 1848, die Vorrede jedoch wurde im September 1847 verfasst.

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Schlussfolgerungen

umfassenderen Ideenbewegung, man könnte sogar sagen einer Religion – nämlich des politischen Messianismus – sieht. Der Antrieb für jedweden Propheten des politischen Messianismus rührte nicht von der Entdeckung der durch die industrielle Revolution geschaffenen sozialen Probleme her, sondern von dem Bedürfnis, die Antinomie von individuellem Selbstausdruck und sozialer Kohäsion, und in einem noch weiteren Sinn das Problem von Mensch und Natur zu lösen. Die beginnende industrielle Revolution gab dem Impuls, der von der Philosophie der Aufklärung und den großen Epen der Revolution und Napoleons aufgerührt worden war, neuen und mächtigen Auftrieb. Erst im Laufe ihres Forschens erkannten einige der messianischen Schriftsteller, dass das Elend des Proletariats der empörendste Ausdruck eines allgemeinen Missstandes war, und sie formulierten den Glauben, dass die industrielle Revolution, trotz der Ver wirrung und Übelstände, die sie im Augenblick her vorzurufen schien, die Elemente einer vorbestimmten Harmonie in sich trug. Jeder einzelne der messianischen Denker drückte feierlich die Überzeugung aus, seine Botschaft sei dazu bestimmt, den christlichen Glauben zu ersetzen, das von der Religion erzeugte Schlechte wiedergutzumachen ( oder, wie einige glaubten, das Versprechen zu erfüllen, das die Religion gegeben, aber unerfüllt gelassen hatte ) und gleichsam die Geschichte ins richtige Geleise zu bringen. Die Propheten betrachteten es als ihre Sendung, die Einheit des Lebens, die – wie sie behaupteten – durch die christlichen Lehren vom Sündenfall und von der ewigen Feindschaft zwischen Geist und Materie entzweigebrochen worden sei, wiederherzustellen. Aus Selbstverachtung sei der Mensch dahin gelangt, sich für unfähig zu halten, jemals durch eigenes Bemühen seine Erlösung herbeizuführen. Verstrickt in Widersprüche zwischen den Forderungen des Geistes und dem Verlangen der Sinne sah er in der Geschichte nichts als eine Kette eitler Versuche, dem Schicksal zu entrinnen. Weit davon entfernt, Selbstver wirklichung innerhalb eines harmonischen sozialen Rahmens anzustreben, kam der Mensch zu der Überzeugung, bei seinem von Natur widerspenstigen Wesen brauche er eine überlegene Autorität, die seine natürlichen Triebe in Schach halte, da Freiheit unvereinbar sei mit sozialer Kohäsion. Die messianischen Denker behaupteten triumphierend, sie hätten die umwälzende Entdeckung gemacht, dass die soziale Integration von dem Grad des individuellen Selbstausdrucks abhänge und die menschliche Freiheit kommensurabel sei mit dem Fortschritt der sozialen Kohäsion. Denn individuelle Frustration sei die Wurzel allen sozialen Übels und soziale Zusammenhanglosigkeit der Grund für mangelnde persönliche Anpassung. Von der Annahme ausgehend, dass die Geschichte ein ständiges Wachsen der sozialen Integration vom einsamen Jägersmann zur weit vorgeschrittenen industriellen Organisation darstelle, wurde für unsere Autoren die Geschichte des Menschen der

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Schlussfolgerungen

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Bericht seines Fortschritts auf dem Wege zur Erlösung. Sie glaubten außerdem, dass die Bedingungen für eine vollständige Harmonisierung aller Elemente des sozialen Gefüges vor ihren Augen heranreiften. Sie hielten es für ihre Sendung, ihren Mitmenschen die Leben spendende Erkenntnis zu vermitteln, dass sie die Triebkräfte innerhalb einer fortschreitenden und zielstrebigen Einheit in Zeit und Raum darstellten. Von dem in der industriellen Revolution siegreich ver wirklichten wissenschaftlichen Prinzip erhofften die messianischen Sozialisten eine Lösung des Widerspruchs zwischen Selbstver wirklichung und sozialer Kohäsion, Freiheit und Vernunft, Mensch und Natur. Es dämmerte ihnen, dass die Industrie, obzwar eine Schöpfung menschlicher Spontaneität, dazu angetan sei, zum Gesetzgeber und Gestalter des Menschen zu werden. Ihre objektiven Determinierungen schienen dazu ausersehen, die Hauptstützen des menschlichen rationalen Wollens zu werden, und eine wissenschaftliche Arbeitsteilung würde sicherlich jeden Menschen in den Stand setzen, die in ihm schlummernden Möglichkeiten voll zu ver wirklichen und gleichzeitig dem kollektiven Einsatz das größte Maß von Kohäsion und Wirksamkeit zu verleihen. Die Institution des Privateigentums erschien als das Haupthindernis sowohl für die Selbstver wirklichung des Menschen als auch für die zweckmäßige Koordination aller Aktiva : Sie war die Verkörperung von Willkür, Zufall und Laune; ein Werkzeug irrationaler und selbstsüchtiger Ausbeutung; statt einer Erweiterung unserer Persönlichkeit zu dienen, tyrannisierte sie sowohl die von unersättlicher Gier getriebenen Besitzenden als auch die Besitzlosen, deren Leben durch Not verkümmerte und durch Verknechtung entfremdet wurde. Sie war eine Quelle unendlicher Ungerechtigkeit und führte zu unberechenbarer Vergeudung. Die Abschaffung des Privateigentums oder zum mindesten irgendeine Form von Gemeinschaftseigentum wurde daher als das Diktat des in der industriellen Revolution verkörperten wissenschaftlichen Prinzips, ja als sein unweigerliches Ergebnis, proklamiert. Die Aneignung aller Dinge durch alle Menschen war die Vorbedingung für jene vollkommene Arbeitsteilung, die als eine Garantie sowohl für den individuellen Selbstausdruck als auch für die Kohäsion des sozialen Gefüges in seiner Totalität angesehen wurde. Es schien Karl Marx klar, dass die industrielle Revolution die totale Konzentration aller Aktiva in wenigen monopolistischen Händen erforderlich machte. Wenn dies geschehen wäre, würde eine schrumpfende Minorität von Monopolisten sich von immer wiederkehrenden Überproduktionskrisen über wältigt und von Kohorten erwachter Proletarier bedrängt finden. Dieser zweifache Prozess würde zwangsläufig – davon war Karl Marx zutiefst überzeugt – durch eine fast automatische Ver wandlung der Selbstentfremdung in eine Wiederaneignung des menschlichen Wesens zur völligen Befreiung des Menschen führen. Die

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Schlussfolgerungen

erlösende Befreiung war natürlich keineswegs eine unvermeidliche Folge der Mobilisierung aller Mittel. Sie war ein inständiger Wunsch, von messianischer Hoffnung motiviert und von der Annahme abgeleitet, Rationalität und Freiheit müssten irgendwie identisch sein. In diesem Punkt war Marx’ Erwartung einer automatischen Befreiung paradoxer weise utopischer als die Lehren Saint- Simons und seiner Schule oder sogar Fouriers. Diese sahen, dass eine gut organisierte, auf Gemeinschaftseigentum basierende Arbeitsteilung an sich noch keine Garantie bietet für die Lösung der Spannungen zwischen Individuum und Gesellschaft, Freiheit und Pflicht, und keine Gewähr gegen die Tyrannei von Vorgesetzten oder das unsoziale Verhalten von am kollektivistischen Einsatz Beteiligten. Daher ihr Wunsch nach einer neuen Art von Religion oder einer „wissenschaftlichen“ Berechnung der Leidenschaften. Das Erlösungsschema des politischen Messianismus verschmolz leicht mit der Überlieferung der totalitären Demokratie, die ein Vermächtnis der Französischen Revolution war. Die Postulate waren die gleichen und die letzten Folgerungen nicht unähnlich, wenn auch die Beweisführung verschieden war. Die totalitären Demokraten versuchten das Dilemma von Freiheit und Gleichheit, individuellen Rechten und sozialer Kohäsion zu lösen durch die Vision einer vorbestimmten Selbstidentifizierung aller mit dem Allgemeinen Willen, den man sich als etwas Objektives und gleichzeitig als den wahren Willen, das bessere Selbst jedes Einzelnen vorstellte. Im Grunde waren sowohl die Determinationen des Hegel’schen Weltgeistes im gegebenen Zeitpunkt als auch die Erfordernis des kollektiven industriellen Einsatzes ein anderer Name für den Allgemeinen Willen, der einmütige Zustimmung auslöst. Für die totalitären Demokraten wurde der Zustand vorbestimmter Einmütigkeit provisorisch durch die Diktatur der erleuchteten Avantgarde dargestellt, die den Willen des Volkes kennt, bevor das Volk selbst sich seiner wahren Wünsche voll bewusst wird. In ähnlicher Weise enthielten die scharfen, exklusiven, jedoch gleichzeitig viel umfassenderen Dogmen des politischen Messianismus eine autoritative Formulierung der kategorischen Imperative der Geschichte an jeder Wende durch den Mund derer, denen die außergewöhnliche Begabung zuteil geworden war, die Zeichen der Zeit zu verstehen. Die französischen Kommunisten vor 1848, Erben des Jakobinismus und der Babeuf - Schule, waren bei politisch - ethischen Kategorien, die auf der Vernunft basierten, stehen geblieben. Freiheit – so erklärten sie übereinstimmend – sei bedeutungslos ohne Gleichheit, und Gleichheit unhaltbar ohne eine Gemeinschaft von Gütern und Gefühlen. Ebenso, fuhren sie fort, bringe das Recht zu leben das Recht auf Arbeit und sozialen Schutz mit sich, doch nur eine Regierungsform mit öffentlichem Eigentum sei imstande, dem Einzelnen Sicherheit zu bieten. Beide Gedankengänge führten zum Kommunismus. Diese waren jedoch nur fromme Wünsche und Schreie nach Gerechtigkeit, wie

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ihnen entgegnet wurde. Kein Wunder, dass sie die Lehren des messianischen Sozialismus als Beweis dafür begrüßten, dass ihre Forderungen nicht nur Wunschträume waren, sondern sich unvermeidlich erfüllen müssen. Die Widersprüche der bestehenden Gesellschaft erschienen daher umso empörender. Sie schienen nicht das Ergebnis von Unwissenheit und Dummheit zu sein, sondern die Frucht einer absichtlichen, per vertierten und egoistischen Bemühung von Unterdrückern, den Gang des Fortschritts aufzuhalten. Nachdem die Technologie gezeigt hatte, dass das Universum unendlich ist und Dinge sowohl wie Genüsse in Menge unbegrenzt sind, gab es keine Rechtfertigung für die alte reaktionäre Ansicht, die unentrinnbare natürliche Begrenzung des Weltalls mache es notwendig, dass die Vielen dienen, um die Wenigen in den Stand zu setzen, sich in Muße der Pflege kultureller Werte zu widmen. Der Zehnte, den die reichen und untüchtigen Müßiggänger den Geschäftigen für die Benutzung der Produktionsmittel auferlegen; die Armut inmitten der Fülle; das Elend derjenigen, die die Schaffer allen Reichtums sind; die Anarchie des Laissez - faire – alle diese Phänomene schienen nicht lediglich der Gerechtigkeit Gewalt anzutun, sondern auch die Wissenschaft und die historische Unvermeidbarkeit zu leugnen und daher von vornherein unhaltbar zu sein. Die Theorien des politischen Messianismus wurden von losen Gemeinschaften von Gläubigen vertreten. Sie wurden politisch wirksam, als sie zu einigen wenigen massiven und beflügelten Schlagworten wie „Assoziation“, „Organisation der Arbeit“, „Recht auf Arbeit“, „Klassenkampf“ destilliert und von der Spitze des revolutionären Aktivismus, den totalitären Demokraten der politischen Untergrundbewegung der Jahre vor 1848, absorbiert wurden. Diese betrachteten sich als Treuhänder der am 9. Thermidor nur zeitweise unterbrochenen Revolution, der im Voraus bestimmt sei, zu voller Erfüllung zu gelangen. Als ein Streben nach einem durch eine universale Revolution herbeigeführten vollständigen Wandel ist der politische Messianismus eine Manifestation der Dichotomie, die sich durch die ganze europäische Geschichte zieht : die fortwährende Spannung, hin und wieder in einen scharfen Konflikt ausbrechend, zwischen einem abstrakten, universalistischen, Anhänger werbenden Glauben und dem eigensinnigen Widerstand von Kräften, die keine andere Berechtigung zu haben scheinen als die, dass sie eben da sind. Der ganze Kampf zwischen dem politischen Messianismus und den objektiven Hindernissen einerseits, und die Rivalität zwischen ihm und den anderen Ideologien, wie denen der Rechten, des Liberalismus in seinen verschiedenen Schattierungen ( einschließlich der liberalen Demokratie ) und des Nationalismus andererseits, lassen sich als der Konflikt zwischen Einheit und Vielfalt darstellen. Eine tiefe Sehnsucht nach dem Einen ist sowohl der Linken als auch der Rechten eigen. Während diese von einem Gefühl absoluter Abhängigkeit nie-

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dergedrückt wird, erlebt jene das Eine als Ansporn und Ziel. Die Doktrin von der Erbsünde, die die Grundlage ist für die Unterscheidung zwischen dem Bereich der Natur und dem Reich der Gnade, lässt die Rechte Raum finden für alle Verschiedenheiten und Abarten innerhalb des göttlichen Plans. Die messianische Linke kann nicht rasten, ohne nach einem neuen Himmel und einer neuen Erde zu begehren. Alles muss anders werden. Der liberale Glaube entstand ursprünglich aus denselben abstrakten Begriffen des Menschen per se und der Menschenrechte wie der politische Messianismus. Er entdeckte bald den Widerspruch zwischen der ihrem Wesen nach egalitären Idee der Menschenrechte und den Ansprüchen der konkreten Individualität auf Erhaltung und Durchsetzung ihrer Eigenart. Der Liberalismus sah sich zu konser vativen Haltungen und sogar unterdrückenden Maßnahmen gegen die gleichmacherischen Bestrebungen der messianischen Demokratie genötigt. Die glühenden Demokraten beschuldigten die Liberalen des Verrats: Erst hatten sie sich an die Macht bringen lassen von einer Ideologie, die Monopole jeder Art negiert und für das Individuum das Recht fordert, sich durch unbehinderte eigene Anstrengung zu erfüllen, und dann den Kampf aufgenommen für eine Fortdauer der Erblichkeit von Reichtum und Elend. Nach den Worten der sozialistischen Kritiker waren sie entschlossen, den Feudalismus wiederherzustellen, nur um eine Stufe tiefer. Da ihnen jeder religiöse Glaube an eine gottgewollte Ordnung der Ungleichheit fehlte, waren ihre Verteidigung des Privilegs und ihre Weigerung, die Benachteiligten zu ihrem Recht kommen zu lassen, empörender als die Unterdrückungspolitik des Feudalismus, besonders da sie sich scheinheilig auf den geweihten Namen der Freiheit beriefen und Parlamentarismus zur Schau trugen. Es ist leicht, mit der messianischen Linken zu fühlen und über die liberale Apologie des Eigentums zu spötteln. Doch wir stehen hier vor einem wirklichen Problem, das uns noch immer nicht loslässt und noch immer ungelöst ist. Wenn Mannigfaltigkeit das Salz der Freiheit ist und Selbstausdruck durch Unabhängigkeit bedingt wird, dann erfolgt bei der gleichen Abhängigkeit besitzloser Menschen von dem Staat, dem alles gehört, zwangsläufig eine dauernde Hemmung der beiden schönsten Manifestationen der Freiheit – des spontanen Abenteuers und des individuellen Experiments. Tiefer gesehen war es die offensichtliche Unbekümmertheit um die letzten Dinge und die pragmatische Einstellung, die die messianische Linke ( und auch die Rechte ) am meisten am bürgerlichen Liberalismus abstieß. Er erschien den Suchern nach dem Absoluten selbstgefällig und egoistisch. Die europäische Revolution von 1848, die zuerst in vollstem Ausmaß die Prophezeiungen des Messianismus zu rechtfertigen schien, erwies die uner wartete Vitalität der Kräfte der Tradition und der Mannigfaltigkeit : die Tiefe der irrationalen Verknüpfung mit alten Symbolen nicht weniger als die Macht

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verschanzter Interessen. Die von Panik befallene Rechte und die zuversichtliche Linke hatten sich gleichermaßen geirrt. Um den Widerstand der verschiedenen konser vativen Kräfte hinwegzufegen, brauchte die streitbare Minorität von totalitären Demokraten die Bedingungen einer katastrophalen Krise, wie etwa einen ideologischen Krieg, der gleichzeitig ein verzweifelter Kampf um nationales Überleben ist und im Falle des Gelingens zu einem Kreuzzug der Idee wird. Ohne dass durch einen Krieg alles in Fluss und in höchste Gefahr geriet, konnte die erforderliche terroristische Diktatur nicht errichtet und kein Vernichtungskrieg gegen die als nationale Verräter gebrandmarkten Gegner proklamiert werden. Als der Friede ungestört blieb, offenbarte sich das so lang gefürchtete oder ersehnte allgemeine Wahlrecht nicht als eine von einem Volk mit einem einzigen unteilbaren Willen erhobene Stimme für die soziale Revolution, sondern als eine Bejahung konser vativer Mannigfaltigkeit. Das besiegelte die Spaltung zwischen den beiden Erscheinungsformen der Demokratie für immer. Die Unterscheidung zwischen den beiden Formen der Demokratie – der politischen und der sozialen, der girondistischen und der montagnardischen, der amerikanischen und der französischen, der bürgerlichen und der Volksdemokratie, der Voltaire’schen Version und der Rousseau’schen Abart – war bereits vor 1848 geläufig. Die Unterdrückung durch die Regierung und ein enger Wahlzensus ließen die ganze demokratische Bewegung als eine exklusive ecclesia militans erscheinen, die von radikalen Fanatikern beherrscht wurde. Die gemäßigteren Elemente wurden als ängstlichere und schwächere Brüder betrachtet, die von den Entschlosseneren unerbittlich hinweggefegt oder in eine radikale oder diktatorische Gleichmacherei hineingejagt werden würden. Der Duke of Wellington verlieh einem Gemeinplatz des Zeitalters Ausdruck, als er in der Debatte über die „Reform Bill“ sagte : „Es ist noch niemals eine Demokratie in irgendeinem Teil der Welt errichtet worden, die nicht sofort einen Krieg gegen das Eigentum erklärt hätte“, und „eine unerbittliche Demokratie“ ( wozu jede Demokratie zwangsläufig werden würde ) sei dazu bestimmt, „das Elend einer Revolution und danach [...] einen Militärdespotismus“ zu entfesseln. Die liberalen Demokraten in der französischen Revolution von 1848 betrachteten den Urteilsspruch einer freien Wahl als endgültig und wollten gegen ein solches Urteil keinen Einspruch an den kategorischen Imperativ der messianischen Revolution zulassen; und als die Arbeiter sich im Protest erhoben gegen die Verletzung der von ihnen den Liberalen abgerungenen Versprechungen – nämlich die von diesen selbst seit Jahren gebrauchten Schlagwörter und Klischees zu ver wirklichen –, da vereinigten sich die Liberalen mit den Konser vativen von gestern zur blutigen Nieder werfung der Arbeiter.

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Die Abspaltung der liberalen Demokraten führte in der Ansprache von Marx an den Kommunistenbund im März 1850 zur endgültigen Vollziehung der Verbindung des politischen Messianismus mit den Techniken der totalitären Demokratie. Die utopischen Sekten verschwanden nach 1848, und sowohl die Anarchisten Proudhon’scher Prägung als auch die Erben des radikalen Jakobinismus, wie etwa die Blanquisten, verschmolzen schließlich mit den Mar xisten oder arbeiteten eng mit ihnen zusammen. Obwohl die mar xistische Theorie im Westen zu voller Blüte gelangte und Massenparteien zur Entstehung brachte, war es der Bewegung nicht beschieden, dort an die Herrschaft zu gelangen. Sollten wir daher den Schluss ziehen, der politische Messianismus habe im Westen im Jahre 1848 seine Stoßkraft verausgabt ? Dieser Ansicht wird oft entgegengehalten, dass die meisten Forderungen des politischen Messianismus früher oder später ihren Weg in die Gesetzbücher der meisten Länder gefunden haben. Es ist jedoch unbestreitbar, dass diese Reformen nicht in einer Atmosphäre messianischer Erfüllung, in der die Armen aufstehen und die Erde zu ihrem Erbe machen, und nicht als Teil von ihr eingeleitet wurden. Sie erfolgten nach und nach als zynische und unwillig zugestandene Konzessionen und geschäftsmäßige Kompromisse oder als empirische Verbesserungen und Erweiterungen bestehender Institutionen. Sie waren nicht die Frucht einer siegreichen Revolution, sondern ein Mittel, um die Revolution zu zähmen. Sie wurden weniger aus Angst, als vielmehr aus einem Gefühl des Selbstvertrauens heraus zugestanden. Es war nicht so sehr ein Nachgeben der Bourgeoisie, sondern sie hielt es für klug und geraten, denen die Tore etwas weiter zu öffnen, die in ihren Augen die Neulingsprüfung der Achtbarkeit bestanden hatten. Als das Gespenst der Weltrevolution und mit ihm die panische Angst vor dem allgemeinen Wahlrecht als einem Werkzeug sozialer Umwälzung zurückwich, konnten viele der alten liberalen Traditionen Europas ihr evolutionäres Wachstum wieder aufnehmen. Damals kam die Zeit für die Demokratie, sich mit dem Liberalismus zu vereinigen. Der Fortschritt der Industrialisierung, die Über windung der vielen anfänglichen Missstände der industriellen Revolution, die Verbreitung einer liberaleren Atmosphäre und Sozialgesetzgebung und die Ver wandlung des Gewerkschaftswesens aus einer Waffe der Verschwörung und Sabotage in einen integralen Bestandteil des sozialen Lebens und der früher nicht stimmberechtigten Proletarier in gleiche Partner an der Wahlurne brachte die Reihe an die sozialdemokratische Arbeiterschaft, mit dem breiten Strom der historischen Kontinuität zu verschmelzen. Demokratie hörte im Westen auf, den Sinn eines Aufstandes der Benachteiligten und eines Schlachtrufs von Gleichmachern zu haben; und sie begann, die allen Interessen und Richtungen gewährte Gelegenheit zu bedeuten, sich durch Debatte und auf der Basis gegenseitiger Anerkennung durchzusetzen.

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Die Erben der älteren radikaleren Tradition empfingen neue Inspiration aus dem Sieg ihres unver wässerten Glaubens im Osten. Der wirkliche Sieger des politischen Messianismus war weder die konser vative Rechte noch der Liberalismus, weder der Kapitalismus noch die Demokratie, sondern der Nationalismus, der in den frühen Tagen eines gemeinsamen Kampfes gegen den einen Feind, den dynastischen Absolutismus, ein integraler Teil des politischen Messianismus zu sein schien. Die Entwicklung der messianischen Bewegung wurde abgebremst, als aus ihr nicht das wurde, was Burke eine internationale „Doktrin in Waffen“ genannt hatte, umso mehr, als der scharfe Konflikt zwischen den Nationalitäten Mitteleuropas im Jahre 1848 die Vision einer geeinten Front der Völker Lügen strafte. Der politische Messianismus hörte auf, eine Drohung darzustellen, als es ihm nicht gelang, den Charakter einer ökumenischen Kirche anzunehmen, deren Gläubige in den verschiedenen Ländern der Anregung einer Zentrale Folge leisten, und den einer Revolutionsarmee, die von einem obersten Kriegsrat Befehle empfängt. Die Entwicklung des Nationalismus aus einer universalistischen Ideologie zu dem Dogma des absoluten Vorrangs des Imperativs nationalen Überlebens und nationaler Größe unterstreicht noch einmal den Sieg der traditionellen Mannigfaltigkeit über die Tendenz zu universaler Erneuerung und abstrakter Einheit. Die große Stärke des Nationalismus lag jedoch darin, dass er einen Ersatz bieten konnte für die messianische universalistische Lösung des Dilemmas von individuellem Selbstausdruck und sozialer Kohäsion. Anders als der traditionsgebundene und klassenbeherrschte reaktionäre und von Panik erfasste Konser vativismus der alten Rechten war der Nationalismus darauf aus, einen Auslass für die dynamische Natur des modernen Menschen zu gewähren. Er machte aus der Nation gleichzeitig einen Mittelpunkt der Loyalität und einen Rahmen von konkreterer und greifbarerer Art als die Wolkenkuckucksheime des Weltproletariats oder der befreiten Menschheit. Die nationale Verbrüderung macht Klassenunterschiede unwichtig. Wir alle erfüllen uns in der Nation. Die ursprüngliche Ideologie des politischen Messianismus wanderte ostwärts und verbreitete sich, fern von ihrem Heimatland, als der Glaube fremder und ferner Völker. Sie teilte so das Schicksal anderer großer Religionen, des Christentums und des Buddhismus, die von den Völkern ihrer Begründer nicht angenommen wurden, jedoch außerhalb ihrer Geburtsländer die Herrschaft über riesige Kontinente gewannen. In den selbstgenügsamen souveränen Nationalstaaten entwickelte sich ein Zerrbild des Messianismus – die Massenbewegungen der Rechten. Wenn auch der Nationalismus den politischen Messianismus als universalistische Bewegung abbremste, so setzte er doch den messianischen Sehnsüchten der europäischen Völker kein Ende. Er erstickte vielmehr das, was im Mes-

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sianismus edel war, und lenkte die Erlösungsimpulse in die Kanäle einer per versen Neurose, die in Krisenmomenten in mörderischen Wahnsinn ausbrechen sollte. In seiner besten ursprünglichen Gestalt war der Messianismus ein vitaler Aspekt der jüdisch - christlichen Tradition, Zeuge der Tiefe und Intensität ihres Gewissens. Er war ein extremer Ausdruck jener zwanghaften Auseinandersetzung der westlichen Welt mit dem Problem der Legitimität der Macht, jenes unwiderstehlichen Bedürfnisses, ihre Gedanken und Handlungen an den Kriterien eines Ideals zu messen, jenes Drangs, sich vor einem höheren Tribunal zu rechtfertigen und zu versuchen, das Ideal der Gerechtigkeit auf Erden zu ver wirklichen. Es ist bezeichnend für die tragische Ambivalenz, die allen europäischen Werten anhaftet, dass aus dem angstvollen Ringen mit dem Mysterium des Bösen, aus dem Protest gegen Unterdrückung jeder Art und aus der Sehnsucht nach Hingabe an ein Absolutes eine so ungeheure selbstgerechte Hybris und unmenschliche Gefühllosigkeit entsteht. Die Vision von der Einheit der Geschichte und universaler Eintracht am Ende der Tage muss, wenn sie in einer ecclesia militans verkörpert ist, immer irgendwie degenerieren zu einem System von machiavellistischer List und unendlicher Kasuistik. Dann werden die taktischen Entscheidungen oder gar die reine eigenwillige Kaprice des Tyrannen als die Artikulation geschichtlicher Zwangsläufigkeit hingestellt, der alle sich zu beugen haben, sei es als getreue Soldaten oder als dem Untergang geweihte Feinde. Andererseits weicht, wenn das Versprechen universaler Erneuerung ersetzt wird durch das des Glücks oder der Größe für den Volksstamm, der Traum der Gerechtigkeit einer Gier nach Befriedigung von Gelüsten oder nach Befreiung von morbider Neurose. Der Messianismus wird aus einer Religion zu einer Krankheit. In der städtischen Zivilisation wird es schwierig, zwischen individuellem Unbehagen und sozialer Neurose, zwischen der Haltlosigkeit, Vereinsamung und den Frustrationen, von denen der Mensch persönlich betroffen ist, einerseits, und den Folgen des Verlusts der religiösen Gewissheit und der Auf lösung des festen Rahmens von Tradition, Gewohnheiten und Gebräuchen andererseits, zu unterscheiden. Dem Niedergang des Gefühls der Dauerhaftigkeit, sicherlich auch ein Ergebnis des Versagens von Regierungsordnungen und Ideologien, steht die Behauptung des modernen Menschen gegenüber, er sei mit dem Recht auf Glücklichsein geboren, und der Sinn des Lebens sei nicht Dienen, sondern Wunschbefriedigung. Das Leben, so wie es jetzt in dieser Welt gelebt wird, beginnt, als etwas Provisorisches zu erscheinen, als ein Schatten nur des Wirklichen, eine Vorbereitung auf irgendeinen wahren Anfang. Doch es gibt keine Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod, um dem Menschen

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Halt zu geben in seiner Not. Wenn die Wirklichkeit nicht länger als natürlich und selbstverständlich akzeptiert wird, nimmt das Leben den Charakter einer endlosen Serie von Möglichkeiten an mit der daraus folgenden neurotischen Unfähigkeit, eine Wahl zu treffen, da eine Entscheidung zugunsten einer Möglichkeit notwendiger weise alle anderen Wege versperrt. Und so wartet der Mensch auf Erlösung oder richtiger einen Erlöser, „von welchem ihm Hilfe kommt“, er sucht fieberhaft und betet, der Erretter möge ihm die Last der Verantwortung und die Qual der Wahl abnehmen und ihn ins Glück einführen oder ihm wenigstens eine Zeit lang die Illusion geben, in hoher Spannung ein sinnvolles Leben zu führen. Aufgespeicherte Frustrationen werden an einem vermeintlichen Urheber allen Übels ausgelassen. Der entartete Messianismus brachte es auf diese Weise zuwege, die nationalistische Wut und den sozialen Groll auf dasselbe Ziel zu konzentrieren : die Juden, in denen sich, so wurde behauptet, beide Kennzeichen verbanden – das des nationalen Feindes und das des kosmopolitischen Ausbeuters. Ironischer weise fanden sich so die beiden Stränge des Messianismus von vor 1848, Sozialismus und Nationalismus, wieder verbunden. Auch ein gewisser Pseudouniversalismus wurde wieder lebendig durch die manichäische Gegenüberstellung der beiden Rassen, der arischen und der jüdischen, als Verkörperungen der beiden widersprechenden Prinzipien, die durch alle Zeiten hindurch in einem Kampf auf Leben und Tod miteinander ringen. Die mysteriöse Einzigartigkeit der nordischen Rasse trat an die Stelle des Absoluten im politischen Messianismus – als Idee, die sich am Ende der Tage durchsetzen wird. Mit dem Weiter wandern des politischen Messianismus von Europa nach dem asiatischen Osten auf dem Wege über Europäisch - Russland tauchen einige Fragen von sehr weittragender Bedeutung auf. Wir haben versucht zu beweisen, dass der säkulare Messianismus an die Möglichkeit glaubt, auf zwei Probleme gleichzeitig eine Antwort zu geben – die Notwendigkeit zentralisierter Organisation und das Postulat der Freiheit. Die orientalischen Völker und in weitem Maße auch Russland nahmen in der Vergangenheit keinen Anteil an der europäischen Auseinandersetzung mit dem Problem der Legitimität der Macht und der Rechte und Freiheit des Menschen. Mögen die Übertreibungen in den Gemeinplätzen der klassischen politischen Theorien des Westens über den ewigen und unvermeidlichen Despotismus im Osten noch so groß sein, aus irgendeinem Grund scheinen die östlichen Völker die Macht als ein natürliches amoralisches Phänomen betrachtet zu haben, als eine Schickung des Himmels, gelegentlich wohlwollend, oft zerstörerisch, in jedem Fall etwas, das hingenommen werden muss. Der Mensch wurde weder als ein politisches Geschöpf, noch als Mitglied einer ecclesia militans betrachtet, sondern als ein Wesen, das unmittelbar mit dem Zeitlosen und Unendlichen verbunden ist. Das erklärt vielleicht das Fehlen von Selbstver waltungskörpern oder Ansätzen

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zu freiwilliger Kooperation. Die alten Regierungssysteme Russlands und Chinas wurden beim Ansturm des politischen Messianismus so vollständig hinweggefegt, weil es nicht – wie im Westen – autonome Ansatzpunkte sozialen Bestrebens von genügender Vitalität gab, die den Zusammenbruch des despotischen Regierungsgefüges unter den Stößen eines katastrophalen Sturms hätten überleben können. Es erhebt sich die Frage, ob infolge des Fehlens einer aktiven prophetischen Tradition in der politischen Geschichte der östlichen Nationen die Übernahme des politischen Messianismus nicht bei dem organisatorischen Aspekt aufhören und das sittliche Postulat auslassen kann. In diesem Fall mögen die messianischen Revolutionen einfach auf riesige industrielle Revolutionen beschränkt werden, die gewisslich zahllosen Millionen zutiefst unterdrückter Völker helfen werden, schließlich ein gewisses Maß von Menschentum zu erlangen, jedoch unter allzu schrecklichen Kosten. Die in ungeheuer überstürztem Tempo aufgebauten Machtmaschinen können zu einem Mittel werden, um die nationale oder volkliche Eigenart durchzusetzen gegen eine Zivilisation, die nicht nur sehr fremd ist, sondern auch durch ihre dynamische Selbstbewusstheit in der Vergangenheit viel Kränkung und Demütigung verursacht hat. Traditionelle Mannigfaltigkeit mag daher wieder um ihre Überlegenheit über das Postulat der rationalen Einheit bekräftigen, und in einer Weise, die einstweilen unsere Vorstellungskraft übersteigt. Die Geschichte der letzten hundert Jahre hat die messianische Erwartung, dass das Leben des Menschen und die Entwicklung der Gesellschaft durch wissenschaftliche Rationalität beherrscht werden würden, nicht erfüllt. Ähnlich unwirklich hat sich die Gleichung von rationaler Organisation und menschlicher Freiheit erwiesen. Um es anders auszudrücken : dem schwachen Menschen ist die qualvolle Last, zwischen Alternativen zu wählen, nicht durch das Wirken der Totalität abgenommen worden. Höchstens unterstreichen die Eroberungen der wissenschaftlichen Rationalität ständig die ambivalente Natur der Welt der Dinge und weigern sich hartnäckig, beinahe höhnisch, für den Menschen die Entscheidung zu treffen, welcher Ver wendung sie zuzuführen seien. Mehr noch, während der Mensch unfähig ist, mit der Unermesslichkeit und Schwierigkeit der von der Wissenschaft entwickelten Gedankengänge Schritt zu halten, wird die Wahl, vor die er gestellt ist, eingeengt zu den schicksalhaftesten Alternativen, letztlich zu der Entscheidung über Sein oder Nichtsein. Je umfassender der die Totalität beherrschende Determinismus, desto weniger kann sich der Mensch seiner sittlichen Autonomie entziehen. Im Kontext der modernen Technologie nimmt der politische Messianismus wahrhaft apokalyptische Dimensionen an. Zum ersten Mal in der Geschichte hat ein Messias die Mittel zu seiner Verfügung, durch die totale Zerstörung der Heerscharen des Satans gleichsam in einem einzigen Sprung den Übergang

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aus der Welt der Dunkelheit in das Reich des Lichts zu bewerkstelligen. Wenn er der tiefen Überzeugung ist, dass die Kräfte des Bösen nur auf eine Gelegenheit warten, um die Kinder Gottes zu vernichten, und wenn er unerschütterlich glaubt, die Geschichte habe ohnehin ein Verdammungsurteil über sie verhängt, wie soll er dann der Versuchung widerstehen, dem gebieterischen Ruf der Geschichte nach entscheidender Tat den Gehorsam versagen ? Die Theorie hat lebendige menschliche Einzelwesen zu wesenlosen abstrakten Kräften, Völkern oder Klassen, Bewegungen oder Nationen zusammengeworfen, während die technologischen Werkzeuge es den Begehern von Massenmorden ermöglichen, ihr Werk von wenigen Komplizen in einer Entfernung von Tausenden von Kilometern verrichten zu lassen, ohne dass sie selbst ihre Opfer im Augenblick der Todesqual zu Gesicht bekommen. Denn das ist das andere Paradox des Sieges der wissenschaftlichen Rationalität und des Wachsens von kollektiven Systemen, dass die letzten Entscheidungen unausweichlich von einzelnen Individuen getroffen werden müssen. Diese sind das Zentrum im Räder werk jener gewaltigen Maschinen, die zahllosen Millionen Befriedigungen und Genüsse verschaffen, von denen sie sich in der Vergangenheit nicht hätten träumen lassen. Doch sind jene Millionen von Einzelmenschen, obwohl augenscheinlich freie und gleiche Wähler, zum Verzweifeln machtlos, das Wirken jener Maschinen zu beeinflussen. Es liegt keine geringe Ironie in der Tatsache, dass das Streben nach wissenschaftlichem Positivismus der Ausgangspunkt wurde für die verblüffende Irrationalität, die sich in dem saint - simonistischen Traum von einer Mutter - Messias darstellte, einerseits, und für die persönliche Diktatur im modernen totalitär - demokratischen Staat andererseits. Um das Eine, das heißt die eine und unteilbare Vernunft, zur Herrschaft zu bringen, müssen alle die unzähligen verschiedenen Erscheinungsformen der Vernunft in eine einzige Inkarnation der Vernunft absorbiert und gepresst werden; von ihr wird angenommen, dass sie von einem untrüglichen intuitiven Verständnis für das Wirken der absoluten Totalität und ihrer höheren Dialektik geleitet wird. Schon allein die Vorstellung von einer pantheistischen Wissenschaft, die Gott, die Natur, den Menschen, die Geschichte und die Kunst in ein einziges systematisches Ganzes bringen würde, war von Anbeginn ein unwissenschaftliches Postulat. Dieses Streben nach einer Metawissenschaft wurde aus einem tiefen und dauernden seelischen Bedürfnis heraus geboren, das besondere Dringlichkeit erhielt durch die Umstände von gewaltsamem Umbruch und Wandel im beginnenden neunzehnten Jahrhundert ( etwas, nebenbei, was England erspart blieb, und damit auch politischer Messianismus ). Die Liebe zur Freiheit und das Sehnen nach Erlösung, die Sucht nach Herrschaft und das Verlangen nach Hingabe, der Drang nach Selbstausdruck und das Suchen nach Gerechtigkeit, der Wunsch, sich loszureißen und das Bedürf-

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nis, sich aneinanderzuschmiegen – diese bilden nicht weniger, sondern eher mehr als die sich verändernden materiellen Bedingungen den bleibenden Hintergrund unseres Daseins. Sicherlich haben die Ereignisse der letzten Dekaden genügt, um die bis vor kurzem fast unbestrittene Herrschaft des homo oeconomicus zu erschüttern. Es ist an der Zeit, dass das historische Denken eine neue Dimension erwirbt : die der Psychologie. Wir werden wieder auf das Problem des Menschen zurückver wiesen. Ist er ein rationales Wesen, zur Harmonie geboren ? Sind seine selbstzerstörerischen Impulse, seine unsozialen Triebe, seine aufreizende Teilnahmslosigkeit und Dumpfheit nur Überbleibsel alter Gebrechen, denen Heilung beschieden ist ? Sind die Verirrungen von Nationen, die Unmenschlichkeit von Menschenmassen und die offensichtliche Absurdität von so viel Kampf und Streit Auswüchse, die eines Tages verschwinden werden, um nicht wieder zu erscheinen ? Oder gehören sie zum Kern unseres Wesens und sind ein Teil der ewigen menschlichen Situation ? Während der Einsatz wahrhaft kosmisch wird, finden wir immer weniger Hilfe in dem Halt, den einst religiöse Überzeugungen und Tröstungen verliehen, und in der inneren Sicherheit, die früher der feste Rahmen von Überlieferung, Gewohnheiten und Gebräuchen gewährte. Die Aufgabe, frei zu sein, und die Pflicht, sich zu entscheiden, werden erdrückend, und der Mensch findet weniger Erleichterung in seiner einsamen Qual.

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Personenverzeichnis Seitenangaben mit Asteriskus beziehen sich auf Fußnoten.

Adam, Edmond 490, 514 Aguet, Jean - Pierre 412 Ain, Girod de l’ 191*, 438 Albert, Alexandre Martin 476 Alexander der Große 151 Alibaud, Louis 423 Alton - Shee, Edmond de Lignères comte d' 463, 465, 471, 475 Arago, Dominique François Jean 389, 433, 446, 460, 465, 480 f., 508, 511, 522, 530 Arago, Emmanuel 494 Arago, Étienne 494 Aristoteles 151, 172 Athanasius 113 Augustinus 113, 216, 274 Babeuf, François Noël 35, 38, 69, 101, 147, 187, 189, 206, 210, 211*, 363, 378*, 434, 439 Bach, Alexander Freiherr von 572 Bacon, Francis 339 Baggesen, Jens Immanuel 197 Bailly, Jean Sylvain 77 Balbi, Adriano 407 Ballanche, Pierre - Simon 338 f Balzac, Honoré de 389 Barbès, Armand 440, 442 f., 445, 488, 492, 494, 507, 511–514, 516 f., 519 f. Barère, Bertrand de 332, 407 Barrault, Émile 80, 134–136 Barrot, Odilon 433, 460–463, 470, 474, 515 Bastide, Jules 111 Baud, Henri 125

Baudelaire, Charles 493 Bauer, Bruno 234, 237 Bauer, Heinrich 445 Baume, Jaques 465 f., 475 Bazard, Armand 77 f., 82 f., 110– 112, 118–125, 127, 429 f. Bazard, Claire 81 f. Beaufour, Eustache Vincent 440 Beaumont, Jean Henri de 479 Bedeau, Marie Alphonse 469* Bentham, Jeremy 73 Béranger, Pierre - Jean de 425 Berkeley, George 198 Berlioz, Hector 77 Bernard, Martin 440 Bernhard von Clairvaux 81 Berrier - Fontaine, Camille - Louis 434, 439 Bertier de Sauvigny, Louis Bénigne François 399 Beslay, Charles Victor 537 Bethemont, Louis François 489 Bismarck, Otto von 563, 570, 572 Blaise, Félicité Robert de 269 Blanc, Louis 190, 419, 425, 431, 465, 475, 480 f., 488, 490, 502, 504, 506 f., 509–511, 513, 517–519, 522–524, 528, 530, 536 Blanqui, Adolphe 79 Blanqui, Louis Auguste, 173, 175 f., 181 f., 187, 189 f., 192, 233, 402, 440, 443–445, 488, 490, 492–496, 499, 501, 509 f., 512–515, 517–519, 547 Blum, Robert 576

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Boissel, Jean 460 Boivin, Lederarbeiter 444 Bonald, Louis Gabriel Ambroise de 259, 331, 338–340, 344–347, 349–353 Bonaparte, Louis - Napoleon (Napoleon III.) 488, 559–565, 568, 571 Bonaparte, Marie 381* Bonnias, Henri 494 Bosselet, Henri Antoine 468 Boulay de la Meurthe, Henri Georges 468 Bourbon, Charles Ferdinand de (Herzog von Berry ) 426, 431 Bouton, Victor 473 Brô, Capitaine 462 Broglie, Prince Albert de 453 Brutus, Marcus Iunius 190 Buchez, Philippe - Joseph - Benjamin 78, 119, 429, 490, 507, 514, 517–519 Bugeaud, Thomas - Robert 474–476 Bulemont, Routier de 493 Buonarroti, Filippo ( Philippe ) 78, 173, 187 f., 233, 434, 436, 439 Buret, Eugène 406, 410, 417 Burke, Edmund 92, 259, 338, 342 f., 345, 591 Byron, George Gordon ( genannt : Lord Byron ) 215, 295 Cabet, Étienne 174, 180 f., 184, 187, 425, 433, 492, 507, 509, 513 f., 516 f. Caesar, Gaius Iulius 151, 275, 287 Cahaigne, Joseph 482, 490, 494 Calvin, Johannes 113 Camp, Maxim du 452 Cantagrel, Félix 469*, 492

Carlyle, Thomas 32, 77, 218, 240, 251, 287 Carné, Louis de 452 Carnot, Lazare Hippolyte 36, 79, 110 f., 123 f., 468, 497 Carrel, Armand 79, 422, 424, 437 Carriol, Carbonaro 430 Carteret, Nicolas-Henri-Félix 488, 513 Cato der Jüngere (Uticensis), Marcus Porcius 275 Caussanel, Carbonaro 476 Caussidière, Louis Marc 444, 465, 470, 475, 478*, 482 f., 488–490, 492, 494, 513 f., 517, 536, 538 Cavaignac, Godefroy 111, 488, 559 f. Cavaignac, Louis - Eugène 428 Cazeaux, Pierre Euryale 79 Cerclet, Antoine 78 Changarnier, Nicolas - Anne Théodule 512 Charléty, Sebastien 120 Charrassin, Arbeiter 469* Charton, Édouard 80, 124 f. Chenu, Adolphe 468, 470, 475, 482 Chérest, Aimé 456 Chesterton, Gilbert Keith 484 Chevalier, Louis 387, 397 Chevalier, Michel 79, 105, 110 f., 127, 129, 134 Chilmann, Jacques - Robert Frédéric 439, 494 Chipron, Victor 516 Cieszkowski, August 236 Circourt, Adolphe de 543 f. Cobban, Alfred Bert Carter 79, 506 f. Cobden, Richard 79 Cochet, Jäger 478 Collot d’Herbois, Jean - Marie 332

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Personenverzeichnis

Comte, Auguste 76, 79, 91, 433 Condorcet, Marie Jean Antoine Nicolas Caritat de 73, 179 Considérant, Victor 147 f., 151–153, 157, 158*, 162, 170, 172, 314–316, 492, 537 f. Constant, Benjamin 79, 184, 355, 357–364, 372 Corbon, Claude - Anthim 507, 537 Corcelle, Francisque de 430 Corcelle, François 436 Courcelle - Seneuil, Jean Gustave 379 Courtais, Henri Aimable Gaspard de 465, 508 Cousin, Victor 410 Crémieux, Adolphe 473, 475 Crétet, Emmanuel 405 Cromwell, Oliver 332 Crousse, Charles-Joseph-Albert 495 Cuvillier - Fleury, Alfred - Auguste d’Harcourt 510 Danton, Georges 378*, 494, 513 Daumier, Honoré 429 David, Felicien 83 Debock, Louis 468 Delacroix, Eugène 425 Delente, François 439 Delescluze, Louis - Charles 494 Delestre, Jean-Baptiste 479 Delvau, Alfred 502 Descartes, René 48, 198, 339 Dézamy, Théodore 173, 177 f. 180–182, 184–186, 493 Doudan, Ximénès 453 Dourille, Henri 443 Drevet, Kaufmann 482 Drouyn de Lhuys, Edmond 468 Dubon, Napoléon 434

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Dubosc, Prosper-Richard 440, 442 Dufraisse, Marc 423, 434, 438, 494 Dufraisse, Numa 494 Dugied, Pierre 430 Dumas, Alexandre 462 Dunham, Arthur Louis 387, 397, 400*, 410 Dunoyer, Capitaine 478 Dupin, Charles 394, 401 Dupont de l’Eure, Jacques Charles 430, 480 Dupoty, Michel - Auguste 494 Duprat, Pascal 537 Durrien, Xavier 492 Dussoubs, Martial 440 Dutertre, Porzellanarbeiter 444 Duvergier de Hauranne, Prosper 447, 468 Duveyrier, Charles 80, 120, 127 Eduard III., König von England 404 Efrahem, Zael 416, 438 Eichthal, Gustave d’ 77, 79, 83, 85, 87 Elisabeth I., Königin von England 404 Enfantin, Prosper 77 f., 82 f., 85 f., 88, 98, 100, 105, 110, 118–128, 131–133, 136, 493 Engels, Friedrich 77, 159, 174, 240, 251, 317 f., 416*, 444 f., 576–578 Esquiros, Alphonse 493 Ewerbeck, Hermann 445 Falloux, Alfred de 452, 454 f., 526, 534, 536–538 Famberteaux ( Vater und Sohn ) 493

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Anhang

Faucher, Léon 455, 526, 534, 536 Faure, Philippe 468 f. Favre, Jules 488, 513 Fayolle, Carbonaro 476 Festy, Octave 412 Feuerbach, Ludwig 217*, 234, 249 Fichte, Johann Gottlieb 196 f., 199–226 Fieschi, Giuseppe 423, 428 Flaubert, Gustave 389 Flocon, Ferdinand 444, 464, 466, 475, 480, 490, 522 Flotard, Jaques Thomas 429, 479 Flotte, Benjamin 493, 510 Flotte, Paul de 493 Fonvielle, Wilfred de 468, 479 Foulon de Doué, Joseph François 508 Fourcroy, Antoine François Comte de 407 Fourier, Charles 38, 83, 121, 137–143, 146 f., 150 f., 153, 155, 157–159, 161 f., 165, 168, 171 f., 250, 314, 327, 586 Fournel, Cecile 122 Fournel, Henri 79, 81 Freud, Sigmund 381* Friedrich I. ( Barbarossa ) 276 Friedrich der Große, König von Preußen 346 Friedrich Wilhelm IV., König von Preußen 544, 555, 570 f. Galilei, Galileo 47 Gard, Noailles de 406 Garnier, Adolphe 79 Garnier - Pagès, Louis - Antoine 452, 464, 568, 471, 479 f., 489, 510, 522, 536, 548 Gasparin, Auguste de 408 Gay - Lussac, Joseph Louis 410

Gérard, Étienne Maurice 473, 476 Gérard, Fulgence 493 Gerlach, Ludwig Friedrich Leopold von 570 Girardin, Delphine de 376, 452 Gisquet, Henri Joseph 437, 439 Gladstone, William Ewart 214 Godwin, William 205, 214 Goethe, Johann Wolfgang von 295 Goudchaux, Michel 446, 528, 536 f. Gourgaud, Gaspard 478 Grandménil, Carbonaro 444, 476, 492 Gregor VII., Papst 113 Gregor XVI., Papst 265 Greppo, Jean Louis 494 Grignon, Schneider 438 Grote, Mrs. H. 455 Guer, Hubin de 440 Gueret, Louis 444 Guignot, Carbonaro 440 Guizot, François 261, 364–366, 368–372, 376, 391, 454, 459, 461, 463, 471, 473 f., 497 Halévy, Léon 77, 83 Haller, Karl Ludwig von 346 f. Harcourt, François Eugène Gabriel duc d’ 465 Heeren, Ludwig 273* Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 47, 79, 197, 213, 215, 221, 223, 226 f., 229–231, 233, 234, 236 f., 240, 245–247, 271 Heine, Heinrich 77, 174 Hélène, Prinzessin 478 Helvétius, Claude Adrian 73 Hennequin, Antoine-Louis-Marie 492

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Personenverzeichnis

Herder, Johann Gottfried 273* Herkules 278 Hess, Moses 206, 233, 236 f. Hoart, Artillerieoffizier 79 Hobbes, Thomas 140* Hodde, Lucien de la 440, 442– 444, 465, 470, 473, 475, 486 Holstein, Saint-Simonist 81 Huber, Aloysius 427*, 490, 516–519 Hubert, Jean-Louis 426 Hugo, Victor 538 Humboldt, Wilhelm von 355 f., 358, 362, 364, 372 Hume, David 198, 338 Innozenz III., Papst 113 Jacqueminot, Jean-François 472 Janiszewski, Johannes 548 f. Jeanty - Sarre, Carbonaro 476 Jelačić von Bužim, Joseph 555 Jesus von Nazareth 48, 77, 85, 97, 113, 120, 147, 184, 273, 281, 298, 307, 453 Johann II., König von Frankreich 404 Johannes der Täufer 298 Jordan, Sylvester 550 f. Joubert, Nicolas 110, 429 Jourdain, Capitaine 468, 478 f. Judas Ischariot 453 Julien, Abgeordneter der Französischen Nationalversammlung 1848 537 Kant, Immanuel 196–199, 202– 204, 206, 209, 216, 218*, 308 Karl X., König von Frankreich 110, 190, 361, 413, 421, 426, 475

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Karl der Große 37, 578 Kepler, Johannes 47, 151 Kersausie, Joachim-René Guillard de 434 Keynes, John Maynard 7 Koechlin, Jacques 430 Kopernikus, Nikolaus 47, 151 Kossuth, Lajos 554 Krasiński, Zygmunt 83, 300 Kuczynski, Jürgen 394 Laboulaye, Charles 398 Labrousse, Ernest 395, 419* Lacambre, Louis Antoine 493 Lachambaudie, Pierre 493 Lacolouge, Carbonaro 476 Lacordaire, Jean-Baptiste 80, 265 Lafayette, Marie Joseph Motier, Marquis de 110–112, 430 f. Lagrange, Carbonaro 465 f., 474–476, 480 f., 536 Lallemand, Nicolas 430 Lamarque, Jean-Maximilien 426 Lamartine, Alphonse Marie Louis de 29, 179, 375–378, 389, 425, 453 f., 462 f., 465, 469*, 474, 478, 480–482, 488–490, 501, 507, 509–513, 517 f., 521 f., 527, 536, 540 f., 543, 545–548, 559, 566 Lambert, Charles 79, 494 Lamennais, Hugues Félicité Robert de 179, 255 f., 258–270, 320, 453, 507, 539 Lamieussens, Eugène 440 Lamoricière, Louis 476 Laponneraye, Albert 173, 177, 179 f., 184, 188 Laurent, Charles 110 f. Lavarenne, Student 481 Laverdant, Fourierist 469*, 492

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Anhang

Laviron, Paul Émile 493, 518, 520 Law, John 390 Lebeuf, Carbonaro 440 Lebon, Napoléon 439, 516 Lechallier, Versicherungsbeamter 494 Lechevalier, Jules 79 f., 110, 125 Lechevallier, Maitre 433 Lecomte de Lisle, Charles Marie 493 Ledru - Rollin, Alexandre 178, 379 f., 462, 464 f., 475, 478, 482, 488, 490, 492, 497 f., 500, 502, 507–509, 512 f., 517, 522, 528, 536, 568 Leibniz, Gottfried Wilhelm 151, 260 Leoutre, Journalist 444 Leroux, Pierre 81, 124, 233, 408, 444, 469, 494, 502, 507, 516, 520, 536 Lessing, Gotthold Ephraim 85 Levasseur, Émile 400 Limpérani, Carbonaro 430 Lisbonne, Jacob Auguste 440 Liszt, Franz 77 Locke, John 47, 198, 240 Longepied, Amable 492 Louis - Philippe I., König von Frankreich 11, 127, 191*, 387, 397, 423, 427, 453 f., 456, 459, 471–473, 475 f., 479, 545 Louvel, Pierre Louis 431, 434 Ludwig XIV., König von Frankreich 163 Luther, Martin 52, 71, 113, 215 f. Mably, Gabriel Bonnot de 360* Machiavelli, Niccolò 213 Maistre, Joseph de 331, 333 f., 336, 339–341, 343–346, 348 f., 353 f.

Malebranche, Nicolas 260 Malleville, Léon de 479 Malthus, Thomas Robert 241 Manuel, Frank E. 35* Marat, Jean-Paul 434 Marche, Arbeiter 521 Marie, Alexandre-Pierre-Thomas Amable de Saint-Georges 456, 464, 490 f., 511, 517, 523, 531, 536 f., 539 Marrast, Armand 111, 461–464, 490, 512, 517 Martin, Alexandre, genannt Albert 444, 465 f., 475 f., 480 f., 486, 490, 507, 519, 523, 530 Martinez, Carbonaro 537 Marx, Karl 77, 83, 104, 173 f., 196, 229–234, 237 f., 244–248, 250–252, 271, 317 f., 325, 349, 381, 389, 444 f., 489, 559, 574–577, 583, 585 f., 590 Mayer, Gustav 251 Mazzini, Giuseppe 72, 233, 271, 287, 291–294, 296, 299, 301, 304, 309, 311 f., 316, 319–321, 323–328, 344 McKay, Donald Cope 523, 535 Ménard, Louis 457, 493 Metternich, Klemens Wenzel Nepomuk Lothar, Fürst von 571 Mevissen, Gustav von 571 Michelangelo Buonarroti 308 Michelet, Jules 36, 77, 179, 271, 273*, 275, 277–279, 281 f., 284–286, 296, 305 f., 308–311, 316, 319–321, 323–328, 398, 402, 425 Mickiewicz, Adam 299, 301 f., 306–309 Mill, John Stuart 256

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Personenverzeichnis

Mirabeau, Gabriel 113 Molé, Louis Mathieu 454, 474 Moll, Joseph Maximilian 445 Monchy, Jean de 527 Montalembert, Charles de 265, 527 Montesquieu, Charles Louis de 45, 47, 345, 360 Moreau de Jonnès, Alexandre 394 Morey, Pierre 423, 428 Morogues, Pierre-Marie-Sébastian Bisot, Baron de 401 f., 407 Moses 77, 85, 97, 120 Müller, Adam 341 Namier, Sir Lewis 559 Napoleon Bonaparte 40 f., 58, 65, 80, 133, 135, 151, 161, 307, 309, 357, 365, 388, 404–406, 408 f., 411, 418*, 559, 562–564 Nassau, William Senior 456 Necker, Jacques 407 Nero, römischer Kaiser 485 Nettré, Louis 440 Neufchâteau, François 405 Newton, Isaac 44, 47, 151, 203, 282 Nietzsche, Friedrich 218* Nikolaus I., Zar 543, 571 Normanby, Lord 462, 560 Novalis (Georg Philipp Friedrich Freiherr von Hardenberg) 259, 341 Odysseus 278 Ollivier, Démosthène 435 Orléans, Herzog von 456 Orpheus 77 Owen, Robert 154, 233 Pagnerre, Gustave-Félix 464

621

Palacký, František 554 Paris, Comte de 476, 478 Paulus von Tarsus 274, 307 Pecqueur, Constantin 523 Pelletan, Eugène 457 Pépin, Théodore 428 Perdiguier, Agricol 411, 507, 537 Pereira, Émile 39, 79, 83 f., 390 Pereira, Isaac 39, 79, 83 f., 390 Perier, Casimir 409, 427 Persigny, Victor de 527 Petrus, Apostel 307 Peupin, Henri Alexandre 507, 537 Peyronnet, Charles Ignace Comte de 461 Pilhes, Victor 475 f. Pillot, Jean - Jacques 173, 183 f., 186 Pitt, William 285 Platon 151, 172, 198, 213 Poincaré, Henri 381 Polignac, Jules de 424, 431, 461 Portalis, Auguste-Joseph-Melchior, Baron 513 Proudhon, Joseph 233, 325, 419, 475, 494, 515, 520, 536, 590 Pujol, Louis 493, 538 f. Pythagoras 151 Quinet, Edgar 273*, 465 Radetzky, Josef Wenzel 555 Raisant, Alexandre 440 Rambuteau, Claude - Philibert Barthelot de 471, 479 Raspail, François - Vincent 433, 485, 490, 492, 504, 507, 513, 517–519, 559 Recurt, Adrien 434, 490, 492, 514 Reeve, Henry 455 Regnault, Élias 478*, 513

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Anhang

Reinhold, Karl Leonhard 217 Renan, Ernest 452 Renaudet, Moïse 83 Renouvier, Charles - Bernard 493 Rességuier, Jules 120 Rey, Aristide 465 Rey, Colonel 509, 520 Reynaud, Jean 123, 125 Ribeyrolles, Charles 494 Ricardo, David 243 Richelieu, Arman - Jean du Plessis, Herzog von 163 Robespierre, Maximilien de 113, 206, 233, 283 f., 332, 378*, 434, 436, 496, 525 Rochefoucauld - Liancourt, François - Alexandre - Frédéric, Herzog von 404, 407 Rodrigues, Benjamin Olinde 36*, 39, 77 f., 79, 81, 83–86, 105, 118, 123–126 Rodrigues, Eugène 39, 83, 85 f. Roinville, Capitaine 459 f. Rond, Jean - Baptiste le, genannt d’Alembert 43 Rouher, Eugène 527 Rousseau, Jean - Jacques 113, 139 f., 178, 182, 201, 203, 211, 213, 230, 233, 349 f., 358 f., 366, 589 Royer - Collard, Pierre - Paul 261 Rozier, Carbonaro 444, 446 Ruffini, Eleanora 312 Ruge, Arnold 576 Saint - Hilaire, Aglaé, 123 Saint - Just, Louis Antoine de 502 Saint - Simon, Henri de ( Claude Henri de Rouvroy, Comte de ) 35–50, 53–56, 58 f., 62–77, 80, 83 f., 85 f., 89 f., 97 f., 101–104,

106 f., 108, 117 f., 120, 125 f., 131, 133, 215, 233, 271, 297, 313–315, 327 f., 381, 389, 586 Sainte - Beuve, Charles Augustin 493 Sala, Adolphe 411 Sallandrouze, Charles - Jean 461 Salvemini, Gaetano 311, 325 Sand, George 77, 306, 309, 488, 502, 506, 508, 515, 532 f. Sauzet, Jean-Pierre-Paul 409 Savary, Schuhmacher 493, 507 Say, Jean - Baptiste 243 Schapper, Karl 445 Schiller, Friedrich 295 Schirmann, Mitglied der „Familles“ 440 Schlegel, August Wilhelm 341 Schlegel, Friedrich 341 Schopenhauer, Arthur 218* Schuster, Wilhelm 445 Schwarzenberg, Felix Fürst zu 572 Sébastiani, Horace - François 426 Sée, Henri 391 f., 400*, 402 Seigneurgens, Zéphir-Zacharie 440 Shakespeare, William 295 Shelley, Percy Bysshe 296 Siegfried 276 Simard, Arbeiter 469* Simiand, François 400* Simpson, Frederick Arthur 567 Sismondi, Jean Charles Léonard Simonde de 410 Smith, Adam 73, 208, 313 Sobrier, Joseph 482 f., 490, 492, 507, 509 f., 517 Sokrates 48, 215 Sorel, Georges 396 Spinoza, Benedict de 198, 236

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Personenverzeichnis

Spirat, Mitglied der „Familles“ 440 Staël, Anne Louise Germaine de 39, 358 Stein, Lorenz von 583 Stendhal ( Beyle, Marie - Henri ) 79, 398 Stern, Daniel ( Argoult, Marie d’ ) 452, 454, 487 f., 538 Strauss, David Friedrich 234 Sue, Eugène 568 Talabot, Edmond 79 Taschereau, Jules 493 f. Tell, Wilhelm 280 Teste, Charles 111, 433 Thierry, Augustin 76, 281*, 452, 479 f. Thiers, Adolphe 396, 453, 455, 463, 474, 476 Thomas, Émile 491, 510, 523, 531, 535 f. Thoré, Théophile 174, 447, 494 Thureau - Dangin, Paul 423 Tisserandot, Carbonaro 476 Tocqueville, Alexis de 29, 32, 355 f., 364 f., 372–376, 380, 447, 455 f., 458, 508, 532, 538 Toussenel, Alphonse 493, 525 Towianski, Andrzej 306 Transon, Abel 79, 110, 125

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Trélat, Ulysse 534–536 Troncin, Henri 440 Vico, Giambattista 273*, 278 Vidal, François 493, 523 Viennet, Jean Ponce Guillaume 427 Vignerte, Jean - Jacques 434, 439 Vigny, Alfred de 77 Villain, Léopold 492, 516 Villèle, Jean - Baptiste Guillaume Joseph de 431 Villeneuve - Bargemont, Alban de 410 Villermé, Louis René 386, 399–401, 406–408, 410 Voltaire (François Marie Arouet) 113, 143, 178, 589 Voyer de Paulmy d’Argenson, Marc René Marie de 430, 433, 438 Wallon, Jean 493 Wassermann, Suzanne 512 Watripon, Antonio 468 Weitling, Wilhelm 445 Wellington, Arthur Wellesley 1st Duke of 589 Windischgrätz, Alfred Fürst zu 577 Wolowski, Louis François Michel Reymond 547

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