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German Pages 194 [196] Year 1996
BEIHEFTE ZUR ZEITSCHRIFT FÜR ROMANISCHE
PHILOLOGIE
BEGRÜNDET VON GUSTAV GRÖBER FORTGEFÜHRT VON WALTHER VON WARTBURG UND KURT BALDINGER HERAUSGEGEBEN VON MAX PFISTER
Band 273
DINA DE RENTIIS
Die Zeit der Nachfolge Zur Interdependenz von und im 12.-16. Jahrhundert
MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN 1996
D 188 FB Neuere Fremdsprachliche Philologien Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme [Zeitschrift für romanische Philologie / Beihefte] Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie. - Tübingen : Niemeyer. Frühere Schriftenreihe Reihe Beihefte zu: Zeitschrift für romanische Philologie NE: HST Bd. 273. De Rentiis, Dina: Die Zeit der Nachfolge. - 1996 De Rentiis, Dina: Die Zeit der Nachfolge : zur Interdependenz von „imitatio Christi" und „imitatio auctorum" im 12.-16. Jahrhundert / Dina De Rentiis. - Tübingen : Niemeyer, 1996 (Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie ; Bd. 273) ISBN 3-484-52273-9
ISSN 0084-5396
© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1996 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Allgäuer Zeitungsverlag GmbH, Kempten Einband: Heinr. Koch, Tübingen
Inhalt
Danksagung
IX
Abkürzungsverzeichnis
X
1. Einleitung
1
1.1. Grundlinien der romanistischen i'm/toi/o-Forschung (1932 bis 1992) . 1.1.1. Hermann Gmelins Geschichte der imitatio 1.1.2. Die romanistische/m/taf/o-Forschung der Nachkriegszeit 1.2. Allgemeine Vorbemerkungen über Gegenstand, Fragestellung und Zielsetzungen der Untersuchung
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2. «Sequela Christi», «imitatio Christi» und Nachahmung der Heiligen im 12. bis 16. Jahrhundert
33
2.1. Zur Bedeutung, Verbreitung und Wirkung der Nachfolge bzw. Nachahmung Christi und der Nachahmung der Heiligen im 12.-16. Jahrhundert 2.2. Strukturelle Charakteristika des Lebens- und Glaubensideals der imitatio Christi im 12.-16. Jahrhundert
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3. Bedeutung und Stellenwert der imitatio auctorum in der Grammatik, Rhetorik und Poetik des 12. und 13. Jahrhunderts
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3.1. Bedeutung und Stellenwert der sprachlichen bzw. textuellen imitatio in der grammatischen, rhetorischen und poetischen Ausbildung . . 3.1.1. Die imitatio im Elementarunterricht und in der höheren Schulbildung 3.1.2. Die imitatio im Artesstudium 3.1.2.1. «Super gigantum humeros»: imitatio in Chartres 3.1.2.2. «Hic sunt dictamina»: imitatio in Bologna 3.2. Die imitatio als Textproduktionsverfahren 3.3. Verwendung der Begriffe imitari und sequi in der Grammatik, Rhetorik und Poetik des 12./13. Jahrhunderts
52 52 59 61 65 68
4. Nachahmung Christi und imitatio auctorum im 14. bis 16. Jahrhundert
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4.1. «Sequere me»: imitatio in Dantes Commedia 4.1.1. Das Motiv der «Nachfolge/Nachahmung» in der Commedia . 4.1.1.1. Vergil als Vorbild und Vermittler, Dante als «Folgendere und «Nachfolger»
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V
4.2.
4.3.
4.4. 4.5.
4.1.1.2. Die Gestaltung der sequela Virgilii in der Commedia . . . 4.1.2. Dantes Verständnis der sequela!imitatio auctorum . . . . «Si vous vueil siwre»: imitatio im Chemin de long estude von Christine de Pizan 4.2.1. Das sequela-Μούν im Chemin de long estude 4.2.1.1. Aufbau des Werks und Stellenwert des sequela-Moiws . . . 4.2.1.2. Die Gestaltung der sequela Sibyllae 4.2.2. Christines sequela- und imitatio- Verständnis Ethische und rhetorische imitatio in Petrarcas De vita solitaria, De otio religiöse und in den Famiiiares 4.3.1. Zur Entstehung und Gestaltung des De vita solitaria, des De otio religiöse und der Famiiiares sowie zum Stellenwert der /m/to/i'o-Problematik 4.3.2. «Falsche» und «richtige» Nachahmung von ethischen Vorbildern in De vita solitaria und in De otio religiöse 4.3.2.1. Die dichotomische Trennung zwischen vita occupata und vita solitaria 4.3.2.2. Bedeutung und Stellenwert der ;>mta/;o-Thematik in De vita solitaria und in De otio religiöse 4.3.3. Imitatio auctorum und Nachahmung Ciceros in den Famiiiares 4.3.3.1. «Unicuique suum»: Die Wahl der Vorbilder 4.3.3.2. Affen und Götzen: Petrarcas Darstellung einer «falschen» sequela!imitatio auctorum 4.3.3.3. Bienen und Menschen: Petrarcas Darstellung einer «richtigen» sequela!imitatio auctorum Zwischenbilanz: Zur Interdependenz zwischen imitatio Christi und imitatio auctorum im 14.-16. Jahrhundert Ciceros «Nachfolgen): imitatio auctorum und imitatio ciceroniana im 15./16. Jahrhundert 4.5.1. Hintergrund, Grundtendenzen und Implikationen der «dispute ciceroniane» des 15./16. Jahrhunderts 4.5.2. Konsequenzen der Debatten um die imitatio auctorum und die imitatio ciceroniana
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5. Schluß
149
Literaturverzeichnis
159
VI
Sequere me et dimitte mortuos sepelire mortuos suos. Mt 8,22
per Toni
Danksagung
Der erste Dank geht an meine Doktormutter Frau Prof. Dr. Margarete Zimmermann für die Förderung, Betreuung und Unterstützung in allen Phasen des Promotionsverfahrens und für das Vertrauen, das sie meiner Arbeit entgegengebracht hat. Prof. Dr. Wendelin Knoch und Prof. Dr. Otto Gerhard Oexle bin ich für ihre theologieund kirchengeschichtlichen Hinweise und Anregungen sehr dankbar. Für die Mitwirkung am Promotionsverfahren bin ich Prof. Dr. Winfried Engler, Prof. Dr. Klaus W. Hempfer, Prof. Dr. Gerhard Regn und Dr. Marc Föcking zu Dank verpflichtet. Den Institutskollegen Dr. Angelica Rieger und Dr. Gerhard Poppenberg, die mir in vielen Gesprächen mit ihrem scharfen Verstand und ihrer fachlichen Kompetenz zur Seite gestanden haben, sowie Dr. Waltraud Weidenbusch und Dr. Ulrich Detges, die bei der Revisidn des Manuskripts mit kritischen Fragen und Anregungen geholfen haben, danke ich herzlich. Für die stets freundliche, kompetente und unbürokratische Unterstützung bei der Literaturbeschaffung danke ich schließlich den Mitarbeiterinnen der Romanistik-Bibliothek der FU Berlin, für die engagierte computertechnische Unterstützung Herrn Andreas Heinz. Vor allem aber danke ich meinem Ehemann Dr. Christoph De Rentiis, anima stans et non cadens an meiner Seite von der ersten Formulierung über den Tag der Disputation bis zur Freigabe der Druckfassung. Dresden, im Oktober 1995
Abkürzungsverzeichnis
Ceir Col Cor Dsp Eph Fam. FEW Gen Heb HThG Inf. Jo Lc LexMA LThK Mc Mt Par. Phil PL Ps Purg. RAC RGG Thess Tim TRE
X
Concise Encyclopaedia of the Italian Renaissance (A) Paulus: Ad Colossenses Paulus: Ad Corinthios Dictionnaire de spiritualite ascetique et mystique Paulus: Ad Ephesios Francesco Petrarca: Familiarium rerum libri Walter von Wartburg: Französisches Etymologisches Wörterbuch Genesis Paulus: Ad Hebraeos Handbuch theologischer Grundbegriffe Dante Alighieri: Inferno Johannes-Evangelium Lucas-Evangelium Lexikon des Mittelalters Lexikon für Theologie und Kirche Marcus-Evangelium Matthäus-Evangelium Dante Alighieri: Paradiso Paulus: Ad Philippenses Patrologia Latina Psalmen Dante Alighieri: Purgatorio Reallexikon für Antike und Christentum Religion in Geschichte und Gegenwart (Die) Paulus: Ad Thessalonicenses Paulus: Ad Timotheum Theologische Realenzyklopädie
1. Einleitung
G e g e n s t a n d dieser Untersuchung ist ein bis heute vernachlässigter, wesentlicher A s p e k t der Geschichte der imitatio in der Rhetorik u n d Poetik des 12. bis 16. Jahrhunderts 1 . N a c h einhelliger Meinung der romanistischen ww'faf/o-Forschung 2 von H e r m a n n G m e l i n 3 bis Jean Claude Carron 4 und Andreas Kablitz 5 wird der ww/tai/o-Begriff erst in der N a c h f o l g e Francesco Petrarcas 6 zu einer epochenbestimmenden Kategorie der humanistischen 7 Rhetorik und Poetik, deren Wichtigkeit von allen Autoren anerkannt und betont wird und deren Definition heftige Diskussionen unter den Gelehrten auslöst - m a n denke nur an die sogenannten «dispute ciceroniane» 8 , die im 15./16. Jahrhundert zwischen A n g e l o Poliziano und Paolo Cortesi, Pietro B e m b o u n d Gianfrancesco Pico, Erasmus von Rotterdam und Estienne Dolet entbrennen. Diese Entwicklung erreicht ihren Höhepunkt etwa Mitte des 16. Jahrhunderts 9 . 1
Zur Wahl des Zeitraums dieser Untersuchung cf. 1.2., Allgemeine Vorbemerkungen... 30sqq. Zur genauen Bestimmung des untersuchten im/Va/io-Begriffs cf. dort 24sq. 2 Unter «i'm/tafio-Forschung» ist hier die Gesamtheit der erschienenen Untersuchungen zum Begriff, zu den Theorien und zur Praxis der imitatio zu verstehen. 3 Cf. etwa Gmelin 1932, 98sq. Auf die Bedeutung von Gmelins unvollendet gebliebener Monographie über Das Prinzip der Imitatio in den romanischen Literaturen der Renaissance für die imiiaiio-Forschung wird im folgenden ausführlich eingegangen. 4 Cf. Carron 1988, 565-579. 5 Cf. Kablitz 1993. 6 Zu Petrarcas Rolle für die im/fa/io-Geschichte cf. etwa Gmelin 1932, 98; Ulivi 1959, 1 lsqq. und Fumaroli 1980, 78-81 sowie Kablitz 1986, 19. 7 Der Begriff Humanismus wird in dieser Einleitung allgemein verwendet, um den Renaissancehumanismus zu bezeichnen, also jene in Italien einsetzende Gelehrtenbewegung des 14.-16. Jahrhunderts, die sich vor allem die philologische und philosophische Restaurierung und Pflege antiken Kulturguts zum Ziel setzte (cf. Buck 1981, 12sq.). Ob und inwiefern diese Bewegung einheitlich sowie von Entwicklungen des 12./13. Jahrhunderts eindeutig zu unterscheiden ist, soll hier nicht prinzipiell diskutiert werden. Zum Problem der Definition von Humanismus und Renaissance cf. etwa die Bilanzziehung in Buck 1981 (mit Verweis auf alle wichtigen früheren Veröffentlichungen zu diesem Thema) sowie Buck 1969 und Histoire Litteraire 1989, 227-240. Cf. ferner Schnell 1981; Stilles 1981 und Trinkaus 1976 sowie den Anhang «Die mittelalterlichen Voraussetzungen des Renaissancehumanismus» in Kristeller 1964, 125-140. Weitere Literaturhinweise sowie eine zusammenfassende Darstellung befinden sich im Artikel «Renaissance» von Marica Mercalli in Sandkühler 1990, Bd. 4, col. 113-125. 8 9
Remigio Sabbadini spricht gar von «battaglie» (cf. etwa Sabbadini 1885, 32, 37, 46). Nach der Mitte des 16. Jahrhunderts, mit dem Triumph des Neoaristotelismus, verlagert sich der Schwerpunkt der im/tafio-Debatten auf das Problem der imitatio naturae (mimesis). Gar von einer «Ablösung» der imitatio auctorum durch die mimesis spricht 1
Die Gründe f ü r den außerordentlichen Erfolg der imitatio in der humanistischen Rhetorik u n d Poetik sind vielfältig 1 0 , so wie die Definitionen und Verwendungen des Begriffs j e nach konkreter, individueller Zielsetzung der Autoren stark variieren. D i e Geschichte der imitatio
ist im 15./16. Jahrhundert von theoretischen Aporien,
widersprüchlichen Aussagen und Bestrebungen geprägt 1 1 . Sie ist aber vor allem auch immer die Geschichte einer intensiven Auseinandersetzung mit den W e r k e n der klassisch-lateinischen Antike, an deren A n f a n g nach einhelliger M e i n u n g der Forschung die gegenüber der unmittelbaren Vergangenheit neuartige Rezeption 1 2 der klassisch-römischen u n d - in weit geringerem M a ß e - der klassisch-griechischen Literatur 1 3 liegt. G e m e i n s a m e G r u n d a n n a h m e der bis einschließlich 1992 erschienenen Untersuc h u n g e n über den Begriff u n d die Theorien der imitatio
im 14.-16. Jahrhundert ist,
daß die Humanisten diesen Begriff im Z u g e ihrer intensiven Rezeption der Werke etwa von Cicero, Seneca und, vor allem, Quintilian neu entdeckt, in die eigenen Theorien ü b e r n o m m e n und verändert h a b e n 1 4 . Die Frage nach der Bedeutung des ;m/tai:o-Begriffs wird daher hauptsächlich anhand einer vergleichenden Analyse von einschlägigen Textstellen aus humanistischen und klassisch-lateinischen Werken beantwortet 1 5 .
10
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14 15
Welslau (cf. Welslau 1976, insbesondere 14sq. und 141. Zur Relation zwischen mimesis und imitatio auctorum in der Spätrenaissance cf. femer Smith 1964/1965). Über die tiefgreifenden Änderungen, die von der «Wiederentdeckung» der Poetik des Aristoteles in der Dichtungstheorie des 16. Jahrhunderts bewirkt werden, über die Bedeutung des mimesis-Begriffs in den Poetiken des primo und secondo Cinquecento und über die gegenseitige Abgrenzung von Rhetorik und Poetik in dieser Zeit cf. Weinberg 1966 (eine resümierende Darstellung befindet sich auch in Regn 1987, insbesondere 387-389). Zur Überlieferung von Aristoteles' Poetik cf. femer etwa Ulivi 1959, 63. Als solche gelten etwa die veränderte Haltung gegenüber den Werken literarischer Vorbilder, der Wunsch der Humanisten, die eigenen lateinischen Werke durch Angleichung an den als unübertrefflich empfundenen Stil der gewählten Vorbilder zu vervollkommnen, und der Wunsch, die eigene Volkssprache durch neue Werke ähnlicher - oder größerer - Schönheit zu bereichem und zu verbessern. Cf. infra 1.1., Grundlinien der imitatio-Forschung. Traditionell verwendet die Renaissanceforschung den Begriff «Wiederentdeckung», um die stärkere Verbreitung, die philologische und (moral-)philosophische Aufarbeitung sowie allgemein die neue Rezeptionshaltung gegenüber den antiken Werken im Renaissancehumanismus (cf. supra die Anmerkung 7) zu bezeichnen. Cf. etwa Buck 1981. Zum benachbarten Begriff «Wiederbelebung» ist der locus classicus nach wie vor Voigt 1893. In dieser Untersuchung wird ein relativ extensiver Literaturbegriff verwendet, der neben fiktionalen auch theologische, philosophische, historiographische und naturwissenschaftliche Werke umfaßt. Dazu ausführlich hier infra, insbesondere 8sq., 10 und 12. Auf eine zusammenfassende Wiedergabe der einschlägigen Studien Uber die klassischlateinische imitatio-Lehre muß hier verzichtet werden. Ausführungen über die imitatioLehre und -Begrifflichkeit sind in allen wichtigen Darstellungen über die klassisch-lateinische Rhetorik und Poetik enthalten: Cf. neben dem Artikel von Kroll in Pauly , suppl. VII, col. 1039-1138 sowie Kroll 1924, insbesondere 146sq., Gröber 1902; Guillemin 1924; Clark 1957; Baldwin 1959a und 1959b (wichtig ist auch Baldwin 1959c); Fuhrmann 1960; Eisenhut 1974; Martin 1974; Williams 1978, 193-213; Ueding 1986. Zur imitatio in der Antike cf. femer Brink 1963, 211-212 (zu Horazens imitatio-Verständnis); 2
Diese Herangehensweise hat sich zwar als fruchtbar erwiesen, sie hat aber auch zu einer starken Einengung der Forschungsperspektive geführt. Insbesondere bewirkte sie, daß in der bisherigen Forschung ein sehr wichtiger Aspekt der Geschichte der imitatio
zwischen dem 14. und dem 16. Jahrhundert unbeachtet blieb: Die
Tatsache, daß das Lebens- und Glaubensideal der Nachfolge/Nachahmung Christi in der Zeit v o m 12. bis zum 16. Jahrhundert eine sehr hohe, historisch spezifische Bedeutung hatte, die nicht nur für die Religions- und die Theologiegeschichte, sondern auch für die Geschichte der Bedeutung und der Verwendung der Nachahmungsbegrifflichkeit - sowohl im Alltag als auch in speziellen Bereichen wie die Rhetorik und Poetik - von entscheidender Wichtigkeit ist 16 . Diese Lücke zu schließen, ist nun die zentrale Aufgabe der vorliegenden Untersuchung.
1.1. G r u n d l i n i e n der r o m a n i s t i s c h e n wj/Yafz'o-Forschung ( 1 9 3 2 b i s 1 9 9 2 ) 1 7 Hermann Gmelin eröffnete mit seiner 1932 erschienenen Monographie über Das Prinzip
der Imitatio
in den romanischen
Literaturen
der Renaissance
den Weg der
romanistischen /mj'taf/'o-Forschung18. Insbesondere im Zuge der nach Kriegsende einsetzenden intensiven Rezeption von Gmelins Untersuchung wurde die humanistische imitatio-Theorie
16
17
18
und -Praxis zu einem der wichtigsten Schwerpunkte der
Herzog-Hauser 1933; Löfstedt 1949 und Thill 1977 (zur Praxis der imitatio in der lateinischen Literatur); Martinazzoli 1958; Reiff 1959; Bellardi 1962, 187-208; Grube 1965; Kennedy 1972; Fantham 1978a und 1978b; Creative Imitation 1979; Amico 1984, 351— 392; Nardo 1984. Cf. ferner Fumaroli 1980, 47-69 (mit weiterführenden Literaturhinweisen. Cf. auch den Besprechungsaufsatz Zuber 1982, 49-64). Zur imitatio in der Zeit des Übergangs von der Spätantike zum frühen Mittelalter cf. Else 1958. Zur imitatio auctorum in der Geschichte der Rhetorik cf. die Dissertation McDonald 1987. Auf einen möglichen Zusammenhang zwischen der imitatio Christi und der imitatio auctorum weist zwischen 1932 und 1992 einzig Ferruccio Ulivi implizit hin: «Gli argomenti che intravediamo dietro il debole schermo dell'eclettismo umanistico di Giovanfrancesco Pico, e che alia fine si svelano in tutta la loro nudezza, sono che tutte le imitazioni non possono a meno di risolversi entro quella paolina: l'.» (Ulivi 1959, 34sq.) Er leitet diese Anmerkung aus Gilsons Ausführungen über Petrarca ab (cf. Gilson 1947, 720-740). Weder Gilson noch Ulivi gehen aber über diese Randbemerkungen hinaus. Auch in Charles Trinkaus' Monographie In Our Image and Likeness über die theologischen und philosophischen Grundlagen des Renaissancehumanismus wird die imitatio Christi nur einmal, bei der zusammenfassenden Wiedergabe von Aurelio Brandolinis Aufforderungen zur imitatio Christi im Dialogus de humanae vitae conditione et toleranda corporis aegritudine, erwähnt (Trinkaus 1970 I, 310sq. und 316sq.). Der folgende Forschungsbericht versteht sich nicht als erschöpfend, sondern dient der Herausarbeitung der für diese Untersuchung wichtigen Schwerpunkte, Methoden und Begriffe der romanistischen imiia/jo-Forschung. 1993/1994 erschienene, für die Fragestellung dieser Arbeit relevante Beiträge zur romanistischen i/m'fa/io-Forschung wurden vor der Drucklegung noch eingearbeitet. Vor Gmelins Veröffentlichung wurde der imitatio-Begriff in romanistischen Untersuchungen nur am Rande erwähnt bzw. - wie in Merkel 1921 - ohne jede Problematisierung als herkömmlicher Nachahmungsbegriff verwendet. Im Bereich der Klassischen Philologie etwa beschäftigte sich aber Guillemin bereits 1924 intensiv mit der imitatio (cf. Guillemin 1924). 3
Renaissanceforschung. Dies rührte vor allem daher, daß die WH'taf/o-Problematik wie Gmelins Arbeit deutlich zeigte - einen Zugang zu zentralen, diese Epoche betreffenden Fragestellungen bot. Die humanistische imitatio zu behandeln, bedeutete auch, den Umgang der Autoren mit ihren Vorbildern, mit ihrer eigenen sowie mit fremden Sprachen zu beleuchten, ihr Selbstverständnis ebenso zu untersuchen wie ihr Verständnis von geschichtlichen Entwicklungen im Bereich der Sprache und der Literatur, ihre Auffassungen von sprachlicher und literarischer Tradition und Innovation, ihre Art, Sprachen, Stile, Werke und Autoren zu betrachten und zu bewerten. Und es bedeutete schließlich, ihre literarische Praxis im geistesgeschichtlichen Kontext ihrer Zeit zu situieren: The theories of imitation help structure one's expectations as to the types of relations between text and model which one is likely to find, although they amount to a strong warning against the difficulties of discovering and analyzing these relations. 19
So wurde die imitatio in der Nachkriegszeit - und insbesondere im Zuge der Rezeption von Gmelins Untersuchung - zunehmend als ein Schlüssel zum Verständnis der humanistischen Geisteswelt betrachtet, denn [...] il principio d'autoritä ο d'imitazione ο della fama, che per Quintiliano interveniva solo parzialmente nella formazione dell'opera d'arte, per i teorici cinquecentisti rappresentö la necessaria essenza genetica della creazione letteraria e la indispensabile misura discriminante del giudizio estetico. 20
Indes wirkte Gmelin nicht nur als maßgeblicher (Mit-)Initiator einer intensiven Beschäftigung der wHtaf/o-Problematik innerhalb der romanistischen Humanismusund Renaissanceforschung, sondern er muß noch heute als rahmengebender Vertreter der romanistischen Forschung gelten. Zwar wurden seine Ergebnisse inzwischen vielfach ergänzt, erweitert und modifiziert, doch sind die von ihm formulierten Grundannahmen, Schwerpunkte und Fragestellungen bis heute richtungsweisend geblieben21. Insbesondere zu zwei wichtigen Schwerpunkten der wwi'taft'o-Forschung gab Gmelins Veröffentlichung den Anstoß. Zum einen wurde die von den Gelehrten des 15./16. Jahrhunderts vehement debattierte Frage der imitatio ciceroniana nach dem Krieg in Auseinandersetzung mit Gmelins Ausführungen über Pietro Bembo und Erasmus von Rotterdam in einer Reihe von Arbeiten zu Bembos Theorie und Praxis der imitatio behandelt22. Sie fand auch Erwähnung in nahezu allen zwischen 1932 und 1992 erschienenen Publikationen über die humanistische imitatio23. 19 Pigman 1980, 2. Hingewiesen sei ferner auf Pigman 1979. 20 Santangelo 1950, 11. 21 Cf. hierzu infra 1.1.2., Die romanistische imitatio-Forschung der Nachkriegszeit. Auch die Vernachlässigung Spaniens in vergleichenden Arbeiten liegt sicherlich zum Teil darin begründet, daß sich die imifa/io-Forschung mit und seit Gmelin auf den italienischen und französischen Sprachraum konzentriert hat. Diese Einschränkung aufzuheben, stellt eine dringende Aufgabe für Hispanisten dar. 22 Über Erasmus und Bembo cf. Gmelin 1932, 173-247. Zu Erasmus' humanistischer Position cf. insbesondere Avenement 1977 und die in Buck 1981, 31 erwähnte Literatur. Zu seiner Rhetorik-Konzeption cf. Chomarat 1981 und in jüngster Zeit Schoeck 1993. Zu Bembo cf. Elwert 1958; Noyer-Weidner 1968; Della Terza 1971; Kablitz 1993. Cf. ferner
4
Zum anderen rückten die Metaphern und Gleichnisse, durch die im Humanismus unterschiedliche wi/tai/o-Auffassungen zum Ausdruck gebracht wurden, nach Gmelins Arbeit in den Mittelpunkt des Interesses. Seine Ausführungen bildeten den Ausgangspunkt sowohl für den 1956 erschienenen, bis heute vielrezipierten Aufsatz Jürgen von Stackelbergs über Das Bienengleichnis24 als auch - implizit oder explizit - für alle nachfolgenden spezielleren und allgemeineren Arbeiten zu diesem wichtigen Aspekt der Geschichte der imitatio. Unter Gmelins Einfluß entwickelte sich seit Ende des zweiten Weltkriegs auch ein dritter Zweig der /mi'tafr'o-Forschung, dessen Gegenstand die Theorie und die Praxis der imitatio bei den Autoren der französischen Pliiade ist 25 . Im Mittelpunkt des Interesses stand die Frage nach der gegenseitigen Abgrenzung von traduction und imitation sowohl in der Theorie als auch in der Praxis der Plöiade-Autoren. Zwar hatte Henri Chamard 26 als erster die iw/toi/'o-Auffassungen der wichtigsten Pliiade-Vertreter und insbesondere den Streit zwischen Thomas Sebillet und Joachim Du Beilay über die «Übersetzung» (traduction21) und die «Nachahmung» Curtius 1948, 232; Ulivi 1959, insbesondere 37-61 sowie Pigman 1980, 20 und Dionisottis Einleitung zu Bembo: Prose della volgar· lingua. Gli Asolani. Rime, insbesondere 37 und 39sqq. 23 Daß die «dispute ciceroniane» eine wichtige Etappe der italienischen Literaturgeschichte sind, hat freilich nicht erst Gmelin deutlich gemacht. Die Untersuchung der Ciceronianischen Dispute hat spätestens seit Remigio Sabbadinis Storia del Ciceronianismo von 1885 eine eigene Tradition in der Italianistik, die sich mit derjenigen der imitatio-Yorschung vielfach überschneidet. Zur Geschichte des Ciceronianismus cf. neben Sabbadini 1885 (und auf dessen Grundlage) das Kapitel II, Essor et desastre de la premiere renaissance cicironienne in Fumaroli 1980, 77-115 sowie Fumaroli 1983, 253-273. Cf. ferner die Bemerkungen in Garin 1957, 105-118 sowie das Standardwerk Azibert 1969 und Rtlegg 1946. 24
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27
Cf. Stackelberg 1956. Auf diesen Aufsatz wird auch am Anfang des dritten Kapitels dieser Untersuchung, Seiten 47sqq., kurz eingegangen. Cf. neben den im folgenden erwähnten Publikationen insbesondere Noyer-Weidner 1958a und 1958b sowie Py 1984 über Ronsards Praxis der imitatio-, Noyer-Weidner 1968 über die Praxis der Nachahmung in der französischen Lyrik des 16. Jahrhunderts; Aebly 1942 und Schwaderer 1968 sowie Schwaderer 1971 zu Du Beilays Praxis der imitatio. Cf. ferner insbesondere Clements 1942; Dassonville 1965; Wiley 1966; Schwaderer 1968; Welslau 1976; Baimas 1979; Bauschatz 1979; Cave 1979, 35-77; Wells 1980; Baehr 1981; Py 1984; Rigolot 1987. Punktuelle Ausfiihrungen bzw. einzelne Bemerkungen über die j'mifafio-Problematik sind ferner in allen wichtigen Monographien über die Pldiade, in nahezu jeder Veröffentlichung über Du Beilay und in den meisten Publikationen über Ronsard enthalten. Cf. Chamard 1939/1940, Bd. 1: 188-193, 208, 212sq., 217; Bd. 2: 105sq.; Bd. 3: 157160. Der Begriff wurde von Estienne Dolet (cf. insbesondere De la Moniere de Bien Traduire d'une Langue en Aultre, in Weinberg 1950) und Joachim Du Beilay (cf. die Deffence et Illustration de la langue francoyse) erstmals im Schriftlichen verwendet. Frühere bzw. zeitgenössische Autoren wie etwa Thomas Sebillet sprachen von translation oder version. Zur Geschichte der literarischen Übersetzung unter besonderer Berücksichtigung Frankreichs cf. die nach wie vor nützliche, wenn auch methodisch und theoretisch problematische Studie von Rolf Kloepfer (Kloepfer 1967; Kloepfers Monographie war nach 1900 die erste umfassende Geschichte der literarischen Übersetzung). Zur Übersetzungsgeschichte cf. ferner etwa Kelly 1979. 5
(imitation)
rhetorischer und poetischer Vorbilder untersucht 2 8 . Die Leistung des
(Nestors der P16iade-Forschung> wurde aber in diesem Punkt nicht gebührend gewürdigt: D e n Bezugsrahmen f ü r die nachfolgenden Arbeiten über die Theorie u n d die Praxis der imitatio im Frankreich des 16. Jahrhunderts bildete einerseits Gmelins M o n o g r a p h i e 2 9 und andererseits die - linguistisch geprägte - m o d e r n e Übersetzungstheorie. Dieser zweifellos wichtige Z w e i g der im/toi/o-Forschung ist allerdings f ü r diese U n t e r s u c h u n g von geringem Interesse: Die Mehrheit der seit Kriegsende erschienen e n Arbeiten über die Beziehung zwischen traduction
und imitation
bei der P l i i a d e
konzentrierte sich auf die übersetzungsgeschichtlichen Aspekte des Problems 3 0 . So versuchten z.B. Rolf Kloepfer 3 1 , Jürgen von Stackelberg 3 2 , Yehudi Lindeman, Paul Chavy, L u c e Guillerm, Ηέΐέηβ Nai's und Glyn P. N o r t o n 3 3 in ihren Abhandlungen, die Übersetzungsauffassungen der Pliiade-Autoren zu definieren und zu klassifizier e n 3 4 bzw. zu bestimmen, ob und inwiefern diese Autoren zwischen traduction imitation
und
unterscheiden 3 5 .
G m e l i n s Einfluß war schließlich f ü r die zwei in der Nachkriegszeit erschienenen breiteren literarhistorischen Untersuchungen zur Theorie und Praxis der imitatio 14.-16. Jahrhundert entscheidend - f ü r Ferruccio Ulivis L'imitazione del Rinascimento 28 29
30
31 32
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37
nella
im
poetica
(1959) 3 6 u n d f ü r The Light in Troy (1982) von T h o m a s Greene 3 7 .
Cf. Chamard 1900, insbesondere 120-124. Im Unterschied zu Chamard entwarf Gmelin einen tragfähigen Bezugsrahmen, in den das Problem der imitatio bei der P16iade zu einer adäquaten Behandlung eingeordnet werden konnte. Trotzdem hätten Chamards Interpretationsvorschläge, die von Gmelin selbst aufgrund der Themenstellung nicht eingearbeitet wurden, größere Beachtung verdient. Als wichtige Ausnahmen seien hier Castor 1964 sowie insbesondere Kees Meerhofs argumentationsstrategische Untersuchung von Sebillets und Du Beilays Ausführungen über die traduction und die imitation erwähnt (cf. Meerhoff 1986, 105sqq.). Cf. Kloepfer 1967, wie supra in Anmerkung 27 erwähnt. Cf. Stackelberg 1966. Stackelbergs Aufsatz scheint durch Gmelins Äußerungen über die Nachahmung/Übersetzung bei Clöment Marot angeregt worden zu sein. Cf. hier 1.1.1., Hermann Gmelins Geschichte der imitatio. Cf. Guillerm 1980; Nais 1980; Lindeman 1981; Chavy 1981 sowie Norton 1974, 1975, 1981 und 1984. Hervorhebenswert ist die hervorragende, knappe Zusammenfassung in Brückner 1987, 222-235 sowie die Ausführungen in ibid., 236-262. Cf. auch Kretschmer 1975. Methodische Grundlage für diese Definitions- und Klassifikationsversuche war eine typologische Unterscheidung zwischen «wörtlicher», «treuer» und «freiere Obersetzung. Cf. Mounin 1965, insbesondere 31 und Kloepfer 1967, insbesondere 16. Im Mittelpunkt des Interesses stand vor allem Sebillets lapidare Aussage, die Übersetzung sei nichts anderes als imitation (cf. Art poetique franfois, 190) und Du Beilays scheinbar widersprüchliche Haltung zur traduction in der Deffence et Illustration de la Langue Francoyse. Ulivis Untersuchungszeitraum ist allerdings auf die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts in Italien beschränkt. Greene 1982 (cf. ferner die in Vorbereitung dieser Monographie entstandene Teilstudie über Petrarca Greene 1976, 201-224). Greenes Arbeit weist eine vergleichbare Breite, aber eine wesentlich geringere Stringenz auf als Gmelins Untersuchung. Cf. die Besprechung von Aldo Scaglione in Romance Philology, XXXVIII (1984-1985), 99-102 sowie McKinley 1983, 153-161. 6
Wie es bei eines Forschungszweigs häufig der Fall ist, geriet auch Das Prinzip der Imitatio in den romanischen Literaturen der Renaissance in der Nachkriegszeit zunehmend in die Rolle einer allgemein erwähnten, jedoch kaum mehr detailliert besprochenen oder reflektierten zentralen Referenzgröße der imitaft'o-Forschung. Deshalb erscheint es bei der hier folgenden Bilanz notwendig und gewinnbringend, die Argumentationsstruktur und die zentralen Aussagen von Gmelins Abhandlung explizierend nachzuvollziehen. Auf die Formulierung einer späten, aus heutiger Sicht ohnehin selbstverständlichen Kritik wird dabei verzichtet: Daß Gmelins Wissenschaftssprache, daß viele der von ihm verwendeten Beschreibungsund Denkkategorien romantischer Provenienz überholt sind, braucht nicht eigens ausgeführt zu werden. Interessant ist, welche seiner zentralen Grundannahmen, Fragestellungen und Ergebnisse als . Sowohl durch die ciceronianische als auch durch die petrarkistische Praxis würden die Modellwerke zu Thesauri, deren Elemente man einfach verwende, ohne daß diese Verwendung noch eine spezifische Bedeutung habe (cf. Lecercle 1984, insbesondere 48). 104 Cf. Ricci: De imitatione (1541) in Weinberg 1970-1974, Bd. 1, 4 1 5 ^ 5 0 . 105 Cf. Pigman 1980, 3. 106 Ibid., 25. 107 Cf. ibid., 3. 10 « Ibid. 109 «The transformative class includes apian, digestive, filial and simian metaphors. Bees illustrate not only transformative imitation, but non-transformative following, gathering or borrowing.» (Ibid.). Die doppelte Verwendung des Begriffs «transformative» beeinträchtigt hier die Nachvollziehbarkeit von Pigmans Argumentation.
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selbst das Ergebnis seiner Klassifizierung als unscharf und sieht diese Unscharfe im Gegenstand begründet, denn «[...] the boundaries between the types of imitation are fluid in some theorists, and in practice it is often difficult to distinguish precisely imitation from emulation or following.» 110 Gleichwohl glaubt er, durch seine Analyse der humanistischen /'mitaf/o-Begrifflichkeit und -Metaphorik ein geeignetes Beschreibungsinstrumentarium zu schaffen, um die vielfältigen Beziehungen zwischen den Werken der Nachahmer und den Werken ihrer Vorbilder zu analysieren. Pigmans Klassifizierungsmodell vermag diesen Anspruch in der Praxis nicht einzulösen, wie Kablitz bereits festgestellt hat 111 . Pigman analysiert die Begriffe und die Metaphern, durch die Autoren des 15./16. Jahrhunderts ihre Intentionen zum Ausdruck bringen, und versucht, diese Intentionen als Maßstab zu verwenden, um festzustellen, welche Beziehungen zwischen den Modellwerken und den Werken der Nachahmer zu erwarten sind 112 . Diese Vorgehensweise führt ihn dazu, eine zu starke Deckungsgleichheit zwischen Absicht und Verwirklichung zu postulieren und wie Kablitz zu Recht bemerkt - , «nur die intendierte Differenz auf die Ebene des Textes selbst [zu verschieben], ohne [...] eindeutige Markierungsformen angeben zu können.» 113 Für eine Untersuchung der imitatio-Praxis sowie für eine umfassende Geschichte der imitatio erscheint Pigmans Modell daher nicht geeignet. Geht es aber darum, die von den humanistischen wi/icrf/o-Theoretikern formulierten Absichten näher zu betrachten, so erweist sich seine Abhandlung als durchaus nützlich 114 . Auch Thomas Greene untersucht die humanistische imitatio als intertextuelles Phänomen. Im Unterschied zu Pigman behandelt er allerdings sowohl die Theorie d.h. insbesondere die Begrifflichkeit und die Metaphorik - als auch die Praxis der humanistischen Nachahmung. Greene versucht nicht, die unterschiedlichen imitatioFormen auf der Grundlage humanistischer Begriffsdefinitionen, Metaphern oder Stellungnahmen zu bestimmen, sondern bemüht sich, einen von diesen Positionen unabhängigen Erklärungszusammenhang zu entwickeln 115 , um das imitatio-Phänomen sowohl in systematischer als auch in historischer Hinsicht zu erfassen. Ferner verbindet Greene viel deutlicher als Pigman die Klassifizierung der unterschiedlichen /'mi'toi/o-Grundtypen mit einer zum Teil subjektiven, überzeitlich formulierten qualitativen Bewertung der dadurch hervorgebrachten Werke. Greene geht von der Grundannahme aus, daß die Humanisten mit und seit Petrarca erstmals das Bewußtsein der historischen Alterität vergangener Sprachen und Werke entwickelt hätten 116 und daß ihre komplexe imitatio-Theorie und -Praxis vielfältige Strategien zusammenfasse, dieser Alterität Rechnung zu tragen. Petrarca ist für Thomas Greene der Begründer einer «humanistischen Hermeneutik», die sich insbesondere durch ihr historisches (Selbst-)Bewußtsein von der Mittelalterlichen
HO Cf. ibid., Anm. 4. 111 Cf. Kablitz 1986, 34. 112 Cf. ibid. Ich folge hier der Kritik von Andreas Kablitz. " 3 Ibid. 114 Cf. allerdings im dritten Kapitel dieser Untersuchung die Anmerkung 6. 115 Dies hebt Kablitz in seiner kritischen Besprechung des Greeneschen Ansatzes hervor (cf. Kablitz 1985, 37sq.). 116 Cf. Greene 1982, insbesondere 82sqq. Cf. ferner Carron 1988, 568. 19
unterscheide. Auf dieser Basis sowie unter impliziter Verwendung einer Ähnlichkeits- bzw. Differenz-Skala schlägt Greene eine Teilung der imitatio in vier Grundtypen vor. Die einfachste («simplest») Form der imitatio sei die «reproduktive» bzw. «sakramentale» Nachahmung, bei der die Modelltexte als unveränderbare Heiligtümer behandelt würden 117 . Diese erste /m/firt/'o-Grundform sei nicht imstande, «ein breites Corpus gelungener Kunstwerke» hervorzubringen 118 , da sie de facto die historische Alterität der nachgeahmten Werke negiere. Die zweiteinfachste («very simple») Form sei die von den Humanisten contaminatio genannte «eklektische» imitatio, die in einem «Vermischen von heterogenen Anspielungen» aus vielen Werken bestehe 119 und die Modellwerke als Steinbruch verwende - ungeachtet ihrer historischen Dimension. Petrarca habe sie besonders intensiv praktiziert 120 . Doch habe er häufig auch die nächstkomplexere Form von Nachahmung verwendet, die «heuristische» imitatio'. «Heuristic imitations come to us advertising their derivation from the subtexts they carry with them, but having done that, they proceed to distance themselves from the subtexts and force us to recognize the poetic distance traversed.» 121 Durch «heuristische» imitatio gelinge dem Nachahmer eine Auseinandersetzung mit der historischen und literarischen Alterität der Modellwerke. Der Übergang von dieser dritten imitatio-'?aim zur vierten und komplexesten sei fließend: Bei der «dialektischen» imitatio führe die gleichzeitige Assimilation und Negation zu einer kritischen Aufhebung des Modelltextes/der Modelltexte im neuen Text 122 . Die «dialektische» imitatio erfülle die Ziele der humanistischen Hermeneutik am vollkommensten, da sie ein historisches Verständnis sowohl des «Haupttextes» als auch der darin aufgehobenen «Subtexte» voraussetze. In dieser Form der imitatio spiegele sich der konfliktuelle Kern des humanistischen Selbstverständnisses, d.h. der Zwiespalt zwischen «intuitions of intimacy and intuitions of separation, between the belief in transmission and a despair of transmission, between the denial of estrangement and the acceptance of estrangement, between reverence for the maiores and rebellion against them.» 123 Für Thomas Greene gestaltet sich das Grundproblem des Humanismus also als ein «intertextuelles Dilemma» 124 , und die vier Grundformen der imitatio stellen mehr oder weniger erfolgreiche Lösungsstrategien dieses Problems dar. Das von Greene unter Rückgriff auf die Intertextualitätsproblematik entworfene Erklärungsmodell bietet - ebenso wie dasjenige Pigmans - keinen ausreichenden historischen Bezugsrahmen, um das Aufkommen und die Entwicklung der humanistischen imitatio zu beleuchten. Thomas Greene sieht sich gezwungen, auf einen 117
Cf. Greene 1982, 38. «[...] this sacramental type of imitation [...] could not in itself produce a large body of successful poetry», ibid. Dies ist ein Beispiel für die überzeitlich-sentenzenhaft formulierten ästhetischen Urteile, mit denen Greenes wiifai/o-Klassifizierung durchsetzt ist. Cf. ibid., 39. 12 ° Ibid. 121 Ibid., 40. Hervorhebung im Original. Cf. ferner die ästhetische Bewertung in ibid., 42sq. 122 Cf. ibid., 43sqq. 123 Ibid., 45. Über diesen konfliktuellen Kern definiert Greene «den» Humanismus als eine trotz der auffälligen Vielfalt der Positionen einheitliche Bewegung (cf. ibid.). 124 Cf. etwa ibid., 38.
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diffusen Geniebegriff zurückzugreifen, um das Aufkommen der imitatio sowie der damit verbundenen «humanistischen Hermeneutik» zu erklären125. Das von Andreas Kablitz formulierte Fazit über die Untersuchungen der humanistischen imitatio als intertextuelles Phänomen erscheint also gerechtfertigt: [...] das als Konstante begriffene Phänomen der Intertextualität [...] erlaubt es nicht, historisch spezifische Bedingungen anzugeben, die die Aktualität der imitatio in Humanismus und Renaissance erklären. 126
In kritischem Rückblick auf wichtige Ergebnisse der italianistischen imitatio-Έοτschung sowie insbesondere auf die {Classifications- und Beschreibungsmodelle von George W. Pigman und Thomas Greene plädiert Andreas Kablitz dennoch für eine theoretisch reflektiertere - Verwendung des Intertextualitätsbegriffs bei der Untersuchung der humanistischen imitatio. In dem bereits erwähnten Aufsatz von 1985/1986 erläutert Kablitz, unter welchen Bedingungen sich der Intertextualitätsbegriff für eine «w/ta/fo-Forschung fruchtbar machen ließe, die der historischen Dimension des Phänomens gerecht würde. Als von jeder funktionalen Implikation abgelöstes, abstraktes Konzept der «Relation zwischen Texten» kann der Intertextualitätsbegriff laut Kablitz als «Oberbegriff zu Phänomenen wie , oder eben (Nachahmung)» verwendet werden, «die traditionell bereits Gegenstand philologischer Untersuchungen waren»127: Solchermaßen bietet der Begriff einen nicht unerheblichen Vorteil gegenüber traditioneller Terminologie. Denn (Intertextualität) bezeichnet das Prinzip selbst und nicht bereits eine spezifische Ausprägung desselben. In diesem Sinne verstanden, stellt es sich dar als eine heuristische Frage nach einer möglichen Bedeutungsdimension, deren Relevanz nur historisch spezifisch bestimmt werden kann. 1 2 8
Am Beispiel des Disputs um die imitatio zwischen Pietro Bembo und Gianfrancesco Pico versucht Kablitz, eine philosophiegeschichtliche Erklärung für die Funktion der humanistischen imitatio zu formulieren. Wie seine Vorgänger arbeitet er auf der Basis der von Gmelin formulierten Grundannahme: Er stellt fest, daß die imitatio mit und seit Petrarca ihren spezifischen Stellenwert und ihre spezifische, umstrittene
125
«Now considering [...] the massive hermeneutic unanimity of the Middle Ages, we may well ask how Petrarch could approach anything like blending of horizons with those masters whom he perceived no longer as authorities, auctoritates, but as fathers, brothers, friends. How in fact could Petrarch, for all his nascent historical consciousness, begin to apprehend classical texts with an ear and a sensibility remotely akin to the ancients'? How could he pursue the rebirth of a culture that he could not even praise in a prose style it might have aknowledged? [...] It may be that no unequivocal reply to these questions is possible; it may be that we are left with a mystery. If so, it would have to contain the special mystery of genius, and in his case the peculiarly intricate, even antithetical gifts of Petrarch.» (Ibid., 37). Cf. ferner: «Before the genius of a Dante, explanation must abdicate. Whatever the (causes) of the prehumanistic shift, the early years of Petrarch's life saw an incipient change in the uses to which men put the past [...]» (Ibid., 88). 126 Kablitz 1985, 38. 127 Kablitz 1986, 35. 12 » Ibid.
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Bedeutung erhält 129 . Wie seine Vorgänger nimmt er sich vor, die Positionen zweier wichtiger Vertreter widersprüchlicher Auffassungen näher zu untersuchen. Doch er setzt sich nicht zum Ziel, aus den aporetischen, widersprüchlichen Ausführungen Bembos und (insbesondere) Picos stimmige, schlüssige /wi'to/i'o-Definitionen herauszukristallisieren, um sie als Klassifizierungs- und Beschreibungsinstrumentarium zu verwenden, sondern er fragt nach den Gründen, weshalb sowohl Bembo als auch sein Streitpartner jenseits aller Meinungsverschiedenheiten um jeden Preis an dem im;toi;o-Prinzip festhalten. Auf der Grundlage von Hans Blumenbergs Thesen 130 über die Entwicklung der spätmittelalterlichen Philosophie und Theologie führt Kablitz den Erfolg der imitatio im Renaissancehumanismus auf eine im Spätmittelalter eintretende, tiefgreifende Krise der Begründungsinstanzen und Wertsysteme zurück 131 . Diese Krise habe entscheidende Auswirkungen auf die Bedeutung und auf die Funktion des wwita/io-Begriffs. In der klassisch-römischen Rhetorik, etwa bei Quintilian, ist die imitatio «nicht mehr als ein nützliches Instrument, das ein Arsenal von exempla, über deren Übernahme fallweise entschieden werden muß, bereitstellt.»132 Die begründende Instanz, um die Qualität eines gegebenen imitatio-Verfahrens zu ermessen, ist das Prinzip des aptum, d.h. der ziel-, kontext- und situationsspezifischen Angemessenheit dieses imitatio-Verfahrens. Der Renaissancehumanismus weist laut Kablitz einerseits dem aptum nicht die Rolle eines letztgültigen Kriteriums zu - so suche beispielsweise Gianfrancesco Pico eine Rückversicherung der imitatio in der platonischen Ideenlehre 133 und er akzeptiert andererseits auch keine Begründung der Angemessenheit von Textkonstitutionsverfahren auf der Ebene der Universalien 134 . Diese «Destruktion der Allgemeinbegriffe» als Garanten der «Konstitution von Ordnung», dieses «Fehlen einer begründenden - und d.h. auch begrenzenden - Norm» 135 habe zur Folge, daß sich die Funktion der imitatio radikal ändere. Die imitatio, selbst begründungsbedürftiges, intertextuelles Textkonstitutionsverfahren, werde zur «letztgültigen» Begründungsinstanz erhoben. Die Totalisierung des imitatio-Prinzips antwortet auf das Fehlen einer textbegründenden Norm, innerhalb derer der Nachahmungslehre erst eine Funktion zugeordnet würde. Stattdessen erweist sich der Bezug zum anderen Text selbst als eine begründende Instanz. 136
Dieser besondere Status, die besondere Funktion der imitatio erkläre den aporetischen Charakter der humanistischen imitatio-Lehre. Diese sei in ihrer Gesamtheit 129 130 131
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133 134 135 136
Cf. ibid., 19. Cf. ibid., 30sqq. Cf. hierzu infra die Anmerkung 139. Zum Spätmittelalter als Krisenzeit cf. neben Graus 1987 insbesondere den Beitrag von Margarete Zimmermann, in dem die wichtigsten neueren Erkenntnisse der Sozialgeschichte im Hinblick auf ihre Nützlichkeit für eine Betrachtung von literaturhistorischen Phänomenen kritisch reflektiert werden (Zimmermann 1991a, 207-219). Kablitz 1986, 26. Ober Bedeutung und Stellenwert der imitatio in der klassisch-römischen Rhetorik cf. hier supra die Anmerkung 15. Literatur über Picos neoplatonische Position wie supra in Anmerkung 96 angegeben. Cf. Kablitz 1986, 31 sq. Ibid., 30. Ibid., 32.
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[...] eine Bewältigungsstrategie, die der Textkonstitution angesichts des Problems, eine individuelle Norm zu etablieren, einen leitenden Bezugspunkt zu eröffnen sucht. Das Normendefizit wird in der Konventionalität zu beheben versucht. 137
Innerhalb des seit Gmelin für die wi/taf;o-Forschung feststehenden Untersuchungsrahmens hat Kablitz wohl das bisher überzeugendste methodische und begriffliche Instrumentarium entwickelt, um die Theorie und Praxis der humanistischen imitatio in ihrer ganzen Vielfalt und Widersprüchlichkeit vergleichend zu untersuchen. Sein Vorschlag, die imitatio konsequent - und ohne Rekurs auf α priori festgelegte funktionale Implikationen - als inter-textuelles138 Phänomen zu betrachten, hat gegenüber den früheren Klassifizierungs- und Beschreibungsmethoden vor allem einen entscheidenden Vorteil: Diese Herangehensweise erlaubt es, sowohl die von den /OTi/ai/'o-Theoretikern des 15./16. Jahrhunderts formulierten Intentionen als auch ihre literarische Praxis aus einer methodologisch wie theoretisch reflektierten, externen Perspektive zu untersuchen. Auch die Tatsache, daß Kablitz auf ein philosophie- und theologiegeschichtliches Erklärungsmodell rekurriert, um Bedeutung und Stellenwert der imitatio-Kategorie in der Rheorik und Poetik des 16. Jahrhunderts näher zu bestimmen, vermag prinzipiell zu überzeugen. Daß Blumenbergs Ansatz eine hinreichend tragfähige Grundlage für die modellhafte historische Kontextualisierung des imitatio-Phänomens bietet, erscheint allerdings - zumal angesichts der in jüngerer Zeit formulierten, grundsätzlichen Kritiken und Einwände - sehr fragwürdig 139 . Die folgende Darstellung wird bestätigen, daß die imitatio, die bekanntlich in der Rhetorik und Poetik des 15./16. Jahrhunderts einen, ja den zentralen Wert und Maßstab darstellt, in dieser Zeit in der Tat aufgrund ihres spezifischen Stellenwerts und ihrer spezifischen Bedeutung häufig als letztgültige Begründungsinstanz literarischen Tuns eingesetzt wird. Aber sie wird auch zeigen, daß die im 15./16. Jahrhundert deutlich sichtbar werdende Tendenz zur «Totalisierung des /m;ia/;o-Prinzips» weder ausschließlich noch primär als «Antwort» innerhalb der Rhetorik (und der Poetik) «auf das Fehlen einer begründenden Norm» vollzogen wird 140 . Hermann Gmelin und die Vertreter der nachkriegszeitlichen /m/taf/o-Forschung haben einzelne Aspekte der /w/'toii'o-Geschichte überzeugend herausgearbeitet. Das Potential des von ihneii erarbeiteten Beschreibungsinstrumentariums ist bei weitem noch nicht ausgeschöpft 141 . Hier geht es aber darum, einen Aspekt der komplexen Geschichte der imitatio zu untersuchen, der innerhalb dieses für die imitatio-¥oT137 138
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Ibid., 32sq. Der Trennstrich signalisiert hier die Differenz zwischen Kristevas Intertextualitätsbegriff und der von Kablitz vorgeschlagenen Kategorie der «Relation zwischen Texten». Cf. Hilbener 1985, insbesondere 16sqq. über Blumenberg 1966 mit Verweis unter anderem auf Ebelings kritische Anmerkungen. Daß der von Kablitz herausgearbeitete Aspekt eine wichtige Rolle gespielt hat, wird hier nicht bestritten. Doch sein Stellenwert im Gesamtzusammehang der Geschichte der imitatio auctorum wird durch die Ergebnisse dieser Untersuchung relativiert. Jean Claude Carrons Fazit, «The intertextual questioning of the theory and poetical practice of imitation [...] needs further study» (Carron 1988, 576), ist zweifellos zuzustimmen - allerdings mit der Präzisierung, daß erst eine Historisierung des Begriffs dieses «questioning» gewinnbringend macht.
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schung bis heute feststehenden raumzeitlichen und methodologischen Rahmens nicht angemessen behandelt werden kann. Um den Gegenstand, die Zielstellungen und die Verfahrensweisen der folgenden Darstellung präziser zu formulieren, ist es notwendig, einen Schritt außerhalb dieses Rahmens zu tun.
1.2. Allgemeine Vorbemerkungen über Gegenstand, Fragestellung und Zielsetzungen der Untersuchung Um die zentrale Fragestellung und den Gegenstand der Untersuchung näher zu bestimmen, sind hier zunächst zwei grundsätzliche Einschränkungen vorzunehmen. Gegenstand dieser Darstellung ist nicht die imitatio schlechthin, sondern, genauer, die imitatio auctorum - die Nachahmung von vorbildhaften Autoren und Werken beim Verfassen eigener Texte 142 . Weder auf den Begriff der imitatio naturae noch auf die außerordentlich vielfältigen Formen literarischer Praxis, die er bezeichnet und die zusammenfassend - unter Rückgriff auf einen von Piaton und Aristoteles (unterschiedlich) verwendeten Begriff - auch mimesis genannt werden, kann hier eingegangen werden 143 . Diese Einschränkung des Gegenstandsbereichs erscheint vertretbar, da im gewählten Untersuchungszeitraum sowohl der Begriff der imitatio auctorum als auch die Praxis, die er bezeichnet, relativ unabhängig vom Begriff und von der Praxis der imitatio naturae bestehen 144 . Ferner geht es hier nicht um eine globale Beschreibung und Beurteilung der Theorie und Praxis der imitatio auctorum im gewählten Untersuchungszeitraum. Diese zweite Einschränkung erscheint nicht nur vertretbar, sondern vielmehr geboten, denn die im Forschungsbericht nachgezeichnete Entwicklung der imitatio-Forschung seit 1932 zeigt deutlich, daß ein Versuch, die imitatio-Theotie und die imiiafio-Praxis der Autoren des 12.-16. Jahrhunderts anhand ein- und desselben Beschreibungsinstrumentariums gleichzeitig zu untersuchen, gegenwärtig mehr Nachteile als Vorteile hat 145 . Angestrebt wird hier eine historische Annäherung an das ;m/ta/i'o-Verständnis und an die /m/to//'o-Theorie(n) der Gelehrten des 12.-16. Jahrhunderts. Ob und inwiefern die hier formulierten Ergebnisse auch bei einer Betrach142
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Im Mittelpunkt stehen hier schriftliche Texte, auf mündliche Texte wird in Kapitel 3.1. am Rande eingegangen. Über Piatons und Aristoteles' mimesis-Begriff cf. Täte 1928, 16-23; Täte 1932, 161-169; Verdenius 1949 und insbesondere McKeon 1936, 1-35. Cf. ferner Pitcher 1966, 729 und Fuhrmann 1992, 85sqq. Zur mimesis in der antiken Dichtungstheorie cf. Koller 1954 und Sorböm 1966, 11-175. Zur mimesis in den romanischen Literaturen von Mittelalter und Neuzeit ist der locus classicus Auerbach 1929 und 1946. Erst ab Mitte des 16. Jahrhunderts scheint die gegenseitige Abhängigkeit der Reflexion über die imitatio auctorum und imitatio naturae bzw. mimesis von einer solchen Art zu werden, daß der Nutzen einer getrennten Untersuchung ernstlich fragwürdig wird. Cf. hier supra die Anmerkung 9. Cf. hier die Ausführungen in 1.1.2., Die imitatio-Forschung der Nachkriegszeit. Die Nachteile dieser Herangehensweise hat - wie dort erwähnt - insbesondere Kablitz herausgearbeitet. Über die Unzulänglichkeit des imitatio-Begriffs als Beschreibungskategorie für die Untersuchung literarischer Praxis cf. ferner Cioranescus Überlegungen in Cioranescu 1966,917-921.
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tung der literarischen Praxis dieser Gelehrten berücksichtigt werden können, wird eigens zu prüfen und zu entscheiden sein. Ausgangspunkt dieser Untersuchung sind zwei eng zusammenhängende Grundhypothesen: 1.) Das Lebens- und Glaubensideal der Nachfolge/Nachahmung Christi hat im 1 2 16. Jahrhundert eine sehr hohe, historisch spezifische Bedeutung, die nicht nur für die Religions- und die Theologiegeschichte, sondern auch für die Geschichte der Bedeutung und der Verwendung der Nachahmungsbegrifflichkeit - sowohl im Alltag als auch in speziellen Bereichen wie der Rhetorik und Poetik - von entscheidender Wichtigkeit ist. 2.) Die Nachfolge/Nachahmung religiös-ethischer Vorbilder und die Nachfolge/ Nachahmung rhetorisch-poetischer Vorbilder stehen im 12.-16. Jahrhundert nicht in einem einfachen Homonymie-Verhältnis zueinander. Vielmehr entsteht und besteht in dieser Zeit zwischen den Bedeutungs- und Verwendungsbedingungen der imita//o-Begrifflichkeit im rhetorisch-poetologischen und im religiös-ethischen Bereich 146 eine spezifische, komplexe Interdependenz, die berücksichtigt werden muß, um die imitatio auctorum als rhetorisch-poetologische Kategorie historisch angemessen zu erfassen 147 . Das zentrale Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, diese zwei Grundhypothesen unter Beweis zu stellen und ihr Erkenntnispotential für die Geschichte der imitatio auctorum als rhetorisch-poetologische Kategorie exemplarisch sichtbar zu machen. Die Fragestellung und Zielsetzung der Arbeit birgt drei grundsätzliche methodologische Probleme: Zuerst die Gewichtung und Verwendung theologie- und kirchenhistorischer Ergebnisse bzw. Ansätze; dann die Auswahl, Strukturierung und Auswertung des Quellencorpus; schließlich die Eingrenzung und die Gliederung des Untersuchungszeitraums. Eine umfassende, synthetische Darstellung der Bedeutung, Verbreitung und Wirkung der Nachahmung Christi und der Nachahmung der Heiligen im hier zu untersuchenden Zeitraum fehlt gegenwärtig. Dafür können vielfältige Gründe vermutet werden: Zum einen kann die Auswertung der Quellen für eine solche umfassende Geschichte der imitatio Christi im 12.-16. Jahrundert nicht als abgeschlossen betrachtet werden 148 ; zum anderen ist «die Geschichte der mittelalterlichen Frömmigkeit» - wie Duane Lapsanski 1974 resümierend feststellte - «weithin die Ge146
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Die Bezeichnung «religiös-ethischer Bereich» verweist hier in weitestem Sinne auf das Ensemble der religiösen und ethischen Werte und Vorstellungen, die im hier betrachteten Zeitraum nicht nur (in unterschiedlichen Formulierungs-, Auslegungs- und Verwendungsformen) spezialisierten und formalisierten Diskurstypen wie der Theologie und der Philosophie zugrundeliegen, sondern allgemein, im Alltag, den «fa^ons de sentir, de penser et d'agir» der Gelehrten und - bis zu einem gewissen Grad auch schichten- bzw. gruppenübergreifend - der Gläubigen. Cf. die hier folgenden Erläuterungen. Der rhetorisch-poetologische und der religiös-ethische sind selbstverständlich nicht die einzigen, sondern nur die für diese Untersuchung relevanten Verwendungsbereiche der Nachahmungsbegrifflichkeit im 12.-16. Jahrhundert. Dies gilt z.B. für die Predigt, die bei der Verbreitung, Formulierung und Wirkung der imitatio Christi eine zentrale Rolle spielt. Cf. hierzu Kapitel 2, insbesondere 35.
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schichte des Begriffs der Nachahmung Christi.» 149 Nicht nur innerhalb der christlichen Spiritualität150 - das heißt insbesondere: der christlichen Devotion, Askese und Kontemplation sondern auch im Alltagsleben der christlichen Laien aller Schichten kommt dem Lebens- und Glaubensideal der imitatio Christi in der Zeit vom 12. zum 16. Jahrhundert eine kaum überschätzbare Bedeutung zu. Die imitatio Christi und die ihr untergeordnete Nachahmung der Heiligen spielt eine zentrale Rolle in der Geschichte der sogenannten «großen Sekten» des 12. Jahrhunderts, sie ist eminent wichtig für die Konstituierung, Entwicklung und Wirkung der Bettelorden sowie bereits, in deren Vor- und Umfeld, für die Geschichte der Wanderpredigt, sie steht im Zentrum des Denkens und Wirkens von (kirchengeschichtlich und theologisch) epochalen Gestalten wie zum Beispiel Bernhard von Clairvaux und Franziskus von Assisi, sie spielt eine - gegenwärtig noch relativ unterbeleuchtete - wesentliche Rolle für die Scholastik, sie steht im Zentrum der hoch- und spätmittelalterlichen Mystik und bildet den konstituierenden Kern der devotio moderna. Es ist im Rahmen dieser Untersuchung weder möglich noch sinnvoll, die noch fehlende Synthesearbeit über die Geschichte der imitatio bzw. sequela Christi im 12.-16. Jahrhundert zu schreiben. Würde diese - auch nur annäherungsweise - umfassend, so würde sie das für die hier formulierte Fragestellung und Zielsetzung notwendige Maß bei weitem überschreiten müssen; würde sie sich aber auf eine ausschnitthafte, partielle theologie- und kirchen- bzw. religionshistorische Durchdringung des j'm/ta/io-Phänomens beschränken, so würde sie ebenfalls ihr Ziel verfehlen. Denn in der vorliegenden Arbeit geht es nicht darum zu zeigen, inwiefern im 12.-16. Jahrhundert eine Interdependenz zwischen einzelnen Aspekten bzw. Ausprägungen des Lebens- und Glaubensideals der Nachahmung Christi und dem Konzept der imitatio auctorum besteht, sondern - grundsätzlicher - die Fundamente zu legen und den Rahmen abzustecken für eine gegenüber dem gegenwärtigen status quaestionis erweiterte, historisierte Betrachtung der Bedeutungskonstitution und der Verwendungsbedingungen des Begriffs der imitatio auctorum in der Zeit zwischen dem 12. und dem 16. Jahrhundert. Hier wird nicht nach den intertextuellen Relationen zwischen einzelnen rhetorisch-poetologischen und theologischen bzw. devotionalen Werken des 12.-16. Jahrhunderts gefragt, in denen die Nachahmungskategorie eine wesentliche Rolle spielt, sondern es wird strukturell und modellhaft nach den wichtigsten Bedingungen gefragt, denen die diskursive Konstituierung und Verwendung der Nachahmungskategorie im 12.-16. Jahrhundert unterliegt, und zwar unter Konzentration, erstens, auf das rhetorisch-poetologischen Bereich und, zweitens, auf das auch und gerade in dieser Zeit absolut zentralen religiös-ethischen Bereich. Diese Perspektive präsentiert sich allerdings nicht als Alternative, sondern soll einen Beitrag zur Grundlegung einer historisierten intertextuellen Betrachtung des wm'taft'o-Phänomens leisten, deren Notwendigkeit außer Frage steht.
•49 Lapsanski 1974, 23. 150 «Spiritualität» meint hier - nach Petrocchi 1978, 5 - «[...] la conoscenza della via e l'attuazione dei mezzi che conducono alia perfezione [religiosa, D.R.] [...].» Zur Geschichte des Begriffs cf. etwa DS 14, col. 1142sqq. Cf. ferner Leclercq/Vandenbroucke/ Bouger 1961.
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Aus diesen Gründen wird hier darauf verzichtet, die wichtigen Phasen, Aspekte und Träger der Herausbildung, Etablierung und Wirkung des Lebens- und Glaubensideals der imitatio Christi im 12.-16. Jahrhundert in einer chronologisch-kausalen theologischen und kirchenhistorischen Synthese darzustellen. Eine solche mtißte zum Beispiel eine mögliche - und nach dem gegenwärtigen Forschungsstand sinnvoll erscheinende - Unterteilung in mindestens zwei Hauptphasen zumindest prüfen: eine erste Phase der Herausbildung und Verbreitung eines historisch spezifischen, in vielfältigen, teils konkurrierenden Ausprägungen formulierten und verwirklichten Lebens- und Glaubensideals der imitatio Christi im Kontext der kirchenund glaubensreformatorischen Bewegungen bzw. Bestrebungen des 12./13. Jahrhunderts und eine zweite, das 14.-16. Jahrhundert umfassende Phase der Etablierung, Entwicklung und weiteren Verbreitung bzw. wirkungsmäßigen Intensivierung dieses Lebens- und Glaubensideals 151 . Sie müßte femer zumindest die wichtigsten Formulierungs-, Konzeptualisierungs- und Verbreitungsformen der imitatio Christi hinsichtlich ihrer theologischen Differenziertheit, ihrer kirchengeschichtlichen Situierung, ihrer sozialen Einbettung und Wirkung systematisch wie historisch unterscheiden und einordnen sowie das zwischen ihnen herrschende komplexe Beziehungsgeflecht - wenigstens in Grundzügen - nachzeichnen 152 . Und sie müßte schließlich auf die Frage nach den möglichen Zusammenhängen zwischen der Entwicklung des imitatio-Christi-Begriffs im Rahmen der devotio moderna und der Herausbildung der renaissancehumanistischen imitatio-Konzepte eingehen 153 . 151
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Zu warnen wäre allerdings - nach dem gegenwärtigen Forschungsstand - vor einem einfachen Steigerungsmodell, das die Entwicklung von einer «geringerem Verbreitung und Wirkung des Ideals der imitatio Christi im 12./13. Jahrhundert zu einer «größeren, stärkeren) im 14.-16. Jahrhundert postuliert. Ohne die gebotene Vorsicht und Differenziertheit verwendet, würde ein solches Modell dazu verleiten, die Präsenz der imitatio Christi in der Spiritualität und im Alltagsleben der Laien des 12./13. Jahrhunderts unterzubewerten. Auf die Besonderheiten der imitatio Dei und der Nachahmung Mariens im hier zu betrachtenden Zeitraum wäre in diesem Zusammenhang auch einzugehen, zumal sie - wie eine Sichtung des gegenwärtigen Forschungsstandes vermuten läßt - wichtige Erkenntnisse über das mimeiis-Verständnis der Autoren des 12.-16. Jahrhunderts sowie über die Beziehung zwischen imitatio auctorum und imitatio naturae in dieser Zeit zu Tage fördern würde. Eine Revidierung der Grundthese von Welslau (cf. hier supra die Anmerkung 9) könnte sich daraus ergeben. Ein - durch interdisziplinäre Zusammenarbeit mit der Rhetorik- und Poetikgeschichte präzisierbarer - Zusammenhang zwischen dem für die devotio moderna charakteristischen «persönlichen Verständnis» der Nachfolge Christi und den «ersten Anzeichen des modernen Persönlichkeitsbewußtseins» wird zum Beispiel im Artikel «Nachfolge» des Handbuch Theologischer Grundbegriffe (cf. HThG 2, 210) vermutet. Cf. auch TRE VIII, 609sqq. Das methodologische Instrumentarium für eine solche interdisziplinäre Studie könnten das Modell von Berger-Luckmann (cf. Berger/Luckmann 1969), die Intertextualitätstheorie und die strukturelle Diskursanalyse bieten. Zu prüfen wäre ferner die Verwendung von Le Goffs imaginaire-Begriff und von Chartiers repräsentation-Begtiff als Beschreibungskategorien (zur methodologischen Einordnung und Diskussion dieser Begriffe cf. Le Goff 1985, insbesondere I-VIII; Chartier 1989, insbesondere lOsq. und den kritischen Oberblick in Oexle 1990, insbesondere 149-154. Zum methodologischen und fachgeschichtlichen Problembereich «nouvelle histoire» und Literaturwissenschaft cf. Jöckel 1984 und Jöckel 1986).
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Insbesondere auch diese letzte, für die Rhetorik- und Poetikgeschichte ebenso wie fur die Theologie und die Kirchengeschichte interessante Frage muß hier aus den bereits erwähnten Gründen ausgeklammert bleiben. Näher betrachtet wird im folgenden, in analytisch trennender Einschränkung, nur eine Seite der komplexen Interdependenzrelation zwischen ethisch-religiöser und rhetorisch-poetischer imitatio: Hauptziel der vorliegenden Untersuchung ist es zu zeigen, daß das Lebens- und Glaubensideal der imitatio Christi eine zentrale Rolle bei der Bedeutungskonstitution und den Verwendungsbedingungen der ™iiai;o-Begrifflichkeit in der Rhetorik und Poetik des 12.-16. Jahrhunderts spielt. Die komplementäre Seite der Problematik zu beleuchten, kann nicht Aufgabe einer romanistischen, philologischen Arbeit sein, sondern stellt ein dringendes Desiderat an die Theologie und an die Kirchengeschichte dar. Idealiter wäre die Analyse der Interdependenzrelationen zwischen imitatio Christi und imitatio auctorum allerdings wünschenswerter Gegenstand einer interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen (mindestens) der Literatur-, der Theologie-, der Kirchen- und der Philosophiegeschichte - eine Zusammenarbeit, für die die vorliegende Untersuchung, wiederum idealiter, einen ersten modellhaften Rahmen entwerfen und deren Erkenntnispotential sie exemplarisch sichtbar machen solli54.
Für die hier gewählte Fragestellung und Herangehensweise bieten - neben den gebräuchlichen theologischen und kirchengeschichtlichen Hilfsmitteln - die seit der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert formulierten, den aktuellen theologischen und kirchengeschichtlichen Konsens konstituierenden Studien zu einzelnen Aspekten und Komponenten der Geschichte der imitatio Christi eine hinreichend tragfähige Grundlage. Die aufmerksame Lektüre dieser in Zielsetzung und Methode teils sehr unterschiedlichen Studien, flankiert durch die Heranziehung ausgewählter exemplarischer Quellen, läßt eine Reihe langzeitlicher struktureller Charakteristika des Phänomens der imitatio Christi sichtbar werden, deren Betrachtung eine erste modellhafte Annäherung an die Bedeutungskonstitution und an die Verwendungsbedingungen des ww'taf/o-Begriffs als eminent wichtiger Kategorie der christlichen Theologie und Spiritualität sowie als zentrale Konstituente der «fafons de sentir, de penser et d'agir» der okzidentalen Christen in der Zeit zwischen dem 12. und dem 16. Jahrhundert ermöglicht. In bezug auf die Wahl und Verwendung der Beschreibungsbegrifflichkeit im zweiten Kapitel dieser Untersuchung besteht die wichtigste Konsequenz der gewählten strukturellen und modellhaften Herangehensweise darin, daß Kategorien wie zum Beispiel «12.-16. Jahrhundert», «Kleriker», «Laien» oder «Christen» verwendet werden, die im Rahmen einer chronologisch-kausalen historiographischen Darstellung unangemessen wären. Ebenso wie die gewählte Fragestellung und Zielsetzung ist auch das Quellencorpus der vorliegenden Arbeit gegenüber existierenden romanistischen Abhandlungen 154
In einer solchen Untersuchung wäre auch der zeitliche Rahmen zu erweitem und zu fragen, ob und inwiefern eine (historisch spezifische, durch Tradierung, Deutung und Umformung langzeitlich wirkende) Interdependenz zwischen imitatio Christi und imitatio auctorum in der sogenannten Spätantike feststellbar ist. Hierbei könnten aus Herzog 1987 wertvolle Anregungen bezogen werden.
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über die Geschichte der imitatio auctorum im 14.-16. Jahrhundert wesentlich erweitert. Um die Bedeutungskonstitution und die Verwendungsbedingungen der imitatio auctorum als rhetorisch-poetologische Kategorie historisch zu untersuchen, ist eine vergleichende Analyse der ab dem 14./15. Jahrhundert in theoretischen (rhetorischen und poetologischen) Texten formulierten Äußerungen zur i>w;to//o-Problematik zwar notwendig, aber nicht hinreichend. Insbesondere ist es nicht gegenstandsgerecht, die Frage nach eventuellen spezifischen Unterschieden zwischen «dem mittelalterlichen» und «dem renaissancehumanistischen» Verständnis der imitatio auctorum allein durch punktuelle Textvergleiche und durch unmittelbare Projizierung allgemeiner Epochenunterscheidungsmodelle auf die /'m/Vaii'o-Problematik zu beantworten. Das dritte Kapitel dieser Untersuchung, dessen Grundlage ein breites Corpus von Quellen zur Organisation, zu den Methoden und Inhalten der sprachlichen und textuellen Bildung sowie zur schriftstellerischen Praxis des 12./13. Jahrhunderts ist, soll zeigen, in welcher Weise und zu welchen Zwecken die Nachahmungsbegrifflichkeit - und insbesondere das Begriffspaar imitarUsequi - während des 12./13. Jahrhunderts im Bereich der grammatischen, rhetorischen und poetischen Ausbildung sowie im Bereich der Textproduktion verwendet wird, welche Bedeutung und welchen Stellenwert der imitatio-Begriff in diesen Bereichen hat. Bei der Auswertung dieser Quellen wird einerseits auf die wichtigen neueren Abhandlungen über die mittelalterliche Rhetorik und Poetik sowie andererseits auf die bildungsgeschichtlichen Darstellungen von Organisation, Inhalten und Methoden des grammatischen und rhetorischen Unterrichts im Hoch- und Spätmittelalter zurückgegriffen. Im Unterschied zum dritten Kapitel nimmt das vierte und letzte kein möglichst breites Textcorpus als Grundlage, sondern konzentriert sich auf die Analyse einer Gruppe repräsentativer, exemplarischer Quellen der Geschichte der imitatio auctorum im 14.-16. Jahrhundert. Diese Fokussierung ist vor allem deshalb vertretbar, weil die Verwendungen der /mitarto-Begrifflichkeit und die Reflexion über die imita/z'o-Problematik im 14.-16. Jahrhundert schon seit langer Zeit intensiv und extensiv erforscht werden und die im/to/i'o-Forschung für diesen Zeitraum bereits traditionell über eine breite Textbasis verfügt. Allerdings wird auch hier sowohl die Quellengrundlage der Darstellung als auch die gewählte Analysemethode gegenüber vorhandenen Abhandlungen über die Geschichte der imitatio auctorum erweitert. Insbesondere werden erstmals Dantes Commedia, Christine de Pizans Livre du Chemin de long estude, Petrarcas De vita solitaria und De otio religiöse als Quellen der /m/'/ario-Geschichte untersucht, und es wird gezeigt, daß durch die Betrachtung dieser Werke einige wichtige Ergebnisse über die Bedeutungskonstitution und die Verwendungsbedingungen der imitatio-Kategorie im 14.-16. Jahrhundert formuliert werden können. Analysiert wird bei der Betrachtung dieser Werke erstens die Verwendung der Nachahmungsbildlichkeit, zweitens die thematische und argumentative Einbettung und Verwendung der Nachahmungsbegrifflichkeit und drittens die (argumentativ kontextualisierte) Formulierung von theoretischen Äußerungen über die imitatio auctorum. Bei der Betrachtung der Nachahmungsbildlichkeit wird das Augenmerk nicht nur auf /mi/a/io-Metaphem bzw. -Vergleiche wie zum Beispiel das «Bienen-» oder das «Affengleichnis» gerichtet, sondern vor allem auch auf das
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sequela-Motiv, dessen zentrale Stellung als Mittel der Formulierung und Vermittlung von ww'tario-Auffassungen herausgearbeitet wird. Die äußere Eingrenzung und innere Gliederung des Untersuchungszeitraums haben rein operativen, analytischen Charakter. Der Terminus a quo der Analyse ergibt sich vor allem dadurch, daß das Lebens- und Glaubensideal der imitatio Christi ab dem 12. Jahrhundert eine historisch spezifische, epochale Bedeutung im christlichen Abendland gewinnt. Zwar wird die Herausbildung dieses Ideals durch Entwicklungen vorbereitet und durch Faktoren bedingt, die zeitlich teilweise weit vor dem 12. Jahrhundert zu situieren sind. Diese Entwicklungen und Faktoren in der Darstellung nachzuvollziehen, erschien jedoch für die hier verfolgten Ziele verzichtbar. Als Terminus ad quem der Untersuchung wurden die dreißiger/vierziger Jahre des 16. Jahrhunderts festgelegt. Zwar ist eine Berücksichtigung des Ideals der Nachahmung Christi und seiner vielfältigen Wechselwirkungen mit dem rhetorisch-poetologischen imitatio-Verständnis m.E. auch nach diesem Zeitpunkt notwendig, um Bedeutung und Stellenwert der imitatio für die romanischen Literaturen zu erfassen. Dennoch: Da sich gegen Mitte des 16. Jahrhunderts, insbesondere im Zusammenhang mit dem Triumph des Neoaristotelismus und den Auswirkungen der Reformation sowohl das rhetorisch-poetologische als auch das religiös-ethische Paradigma, in Bezug zu dem die imitatio-Fiage formuliert und debattiert wird, entscheidend ändert, erscheint die Wahl dieses Zeitpunkts als analytische Grenze der Untersuchung gerechtfertigt. Nach anfänglicher Übernahme des im 15./16. Jahrhundert traditionell gewordenen Verständnisses der Nachfolge Christi als Nachahmung von Christi Tugenden, Handlungen und Verhaltensweisen entwickelt Martin Luther die Ansicht, daß die Person, das Leben und - insbesondere - das Leiden Christi nicht nachzuahmendes Beispiel (exemplum) seien, sondern «Geschenk» (donum) Gottes, das als solches auf den Menschen und an dem Menschen eine Wirkung ausübe. Als Konsequenz dieser Entwicklung lehnt Luther den Begriff «Nachahmung» ab und spricht ausschließlich von einer «Nachfolge» Christi, die keine mimetischen Komponenten beinhaltet und sich vor allem als Gehorsam gegenüber dem Herren äußert 155 . Diese Entwicklung hat im 16./17. Jahrhundert entscheidende Auswirkungen auf das allgemeine imitatio- Verständnis, auf die hier nicht eingegangen werden kann. Die Unterteilung der Darstellung in zwei Bereiche - dem 12./13. und dem 1 4 16. Jahrhundert - ist lediglich als vorläufige Strukturierung zu begreifen. Sie wurzelt vor allem in der Tatsache, daß der gegenwärtige Stand der /'m/tafio-Forschung 155
Cf. Elze 1966, 127-151, insbesondere ISOsq. Luthers zunehmende Distanzierung vom herkömmlichen spätmittelalterlichen Verständnis der Nachahmung Christi sowie seine kritische Auseinandersetzung mit der Augustinischen Auffassung der Passion Christi werden von Martin Elze prägnant dargestellt. Cf. ferner TRE XXIII, 692sq. Luthers Position bleibt prägend für die evangelisch-lutherische Theologie. Die katholische Theologie unterscheidet heute zwischen einer Zeit der «Nachfolge» - d.h. der Zeit von Christi physischer Anwesenheit auf Erden - und einer Zeit der «Nachahmung» Christi, die nach seinem Tod und der Auferstehung beginnt (cf. «Imitation du Christ», DS 7.1, col. 1539). Ob und inwiefern das akolouthein der Evangelien bereits mimetische Komponenten enthält, wird vielfach diskutiert (cf. etwa die zusammenfassende Wiedergabe der wichtigsten traditionellen Grundpositionen in ibid., col. 1539 sowie - den gegenwärtigen Forschungsstand kritisch reflektierend - TRE XXIII, 678-685).
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wie weiter oben ausgeführt - noch einen unterschiedlichen Umgang mit den (bis heute praktisch unausgewerteten) Quellen des 12./13. und mit den (bereits traditionell vieluntersuchten) Quellen des 14.-16. Jahrhunderts notwendig macht, und spiegelt nicht eine Intention wider, die Geschichte der imitatio auctorum durch Setzung einer Epochengrenze zu gliedern. Denn Aufgabe dieser Darstellung ist es nicht, die wichtigen Phasen und Aspekte der Geschichte der imitatio auctorum im 1 2 16. Jahrhundert zu erfassen, sondern - wie bereits erwähnt - zu zeigen, daß diese Geschichte erst unter Berücksichtigung des - bis heute ignorierten 156 - komplexen Interdependenzverhältnisses geschrieben werden kann, das im 12.-16. Jahrhundert zwischen den Bedeutungs- und Verwendungsbedingungen der j/w'ta/j'o-Begrifflichkeit im rhetorisch-poetologischen und im ethisch-religiösen Bereich entsteht und besteht.
156 zwar widmen Roberto Antonelli und Corrado Bologna dem Einfluß der Bettelorden auf Kunst und Literatur zwei umfangreiche Untersuchungen (cf. Antonelli 1982 und Bologna 1982). Sie gehen darin jedoch nicht näher auf das Thema der Nachfolge Christi ein. Ebenso Petrocchi in seinem Beitrag «La religiosity» zur Letteratura ltaliana Einaudi (Petrocchi 1986). Zum Einfluß religiöser Ideale auf die bildende Kunst in der hier zu untersuchenden Zeit cf. zum Beispiel Settis 1979 und Toscano 1979. 31
2. «Sequela Christi», «imitatio Christi» und Nachahmung der Heiligen im 12. bis 16. Jahrhundert
2.1. Zur Bedeutung, Verbreitung und Wirkung der Nachfolge bzw. Nachahmung Christi und der Nachahmung der Heiligen im 12.-16. Jahrhundert Bereits ein flüchtiger Blick in einschlägige theologische und kirchengeschichtliche Nachschlagewerke macht deutlich, daß dem Lebens- und Glaubensideal der imitatio Christi im hier zu betrachtenden Zeitraum eine spezifische, sehr hohe Bedeutung zukommt. Mit dem 11./12. Jahrhundert bricht für die okzidentale Christenheit eine Zeit an, die im Zeichen der Devotion für den Menschen Christus und der Nachahmung seines Lebens - und seines Leidens - steht1. Die Nachahmung Christi und die von ihr unmittelbar abhängende Nachahmung der Heiligen als beispielhaften «imitatores Christi»2 steht im Mittelpunkt der religiösen Reform- und Erneuerungsbestrebungen, von denen der hier zu untersuchende Zeitraum wesentlich geprägt ist3. Insbesondere für die Zeit zwischen der ersten Hälfte des 12. und den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts gilt, daß die imitatio Christi «[...] durchgängig eine unerläßliche Forderung an jedes Christenleben» darstellt, deren «konkrete Gestalt [...] sich mit dem Kirchenverständnis, mit den Frömmigkeitsformen und mit der verschiedenen ständischen Beanspruchung [wandelt].»4 Bereits ein kurzer Verweis auf zentrale Ereignisse und Aspekte der Kirchenund Theologiegeschichte des 12.-16. Jahrhunderts genügt, um einen Eindruck der '
Grundlage der folgenden Darstellung sind neben dem Dictionnaire de spiritualite (DSp), der Theologischen Realenzyklopädie (TRE), dem Lexikon fiir Theologie und Kirche (LThK), dem Lexikon Die Religion in Geschichte und Gegenwart (RGQ), dem Reallexikon fiir Antike und Christentum (RAC), dem Handbuch theologischer Grundbegriffe (HThG) und dem Lexikon des Mittelalters (LexMA) sowie neben den in DSp und TRE erwähnten allgemeinen Darstellungen, auf deren Auflistung hier verzichtet sei, die jeweils in Anmerkung erwähnten speziellen Untersuchungen. 2 Als Weg, der die Gläubigen zur rechten imitatio Christi führt, erhält die imitatio imitatorum Christi ihre Bedeutung und ihren Wert. Zu den Heiligen als Vorbilder und Vermittler cf. in jüngster Zeit Tilliette 1991; Vauchez 1991 (wichtig hier insbesondere die Diskussion über das Problem des Zusammenhangs zwischen imitatio und gratia, auf die in dieser Arbeit nicht eingegangen werden kann) sowie TRE XXIII, 691. Cf. femer Trinkaus/Oberman 1974 sowie den grundlegenden Artikel von Peter Brown über die Bedeutung der Heiligen als Vorbilder in der Spätantike (Brown 1983). Zum Heiligenkult in den Laienständen cf. femer Gurjewitsch 1981 (in Anschluß an Guijewitsch 1972). 3 Cf. etwa Grundmann 1935 sowie hier infra die Anmerkungen 16 und 17. 4 TRE XXIII, 691.
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außerordentlichen Bedeutung, Verbreitung und Wirkung der imitatio Christi in dieser Zeit zu vermitteln. Als «theologischer Vater» - wiewohl freilich nicht als alleiniger Urheber - der «neuen Frömmigkeit»5, die sich im 12. und 13. Jahrhundert entwickelt und in deren Mittelpunkt insbesondere auch ein neues Verständnis der Nachfolge Christi steht, gilt Bernhard von Clairvaux. Der zentrale Leitsatz dieser neuen Frömmigkeit «durch den menschgewordenen Christus zu Gott»6 ist zwar [...] bei den Vätern, am eindrucksvollsten bei Augustinus vorgebildet,! 7 ! epochale Bedeutung erhält er erst mit Bernhard. Gott nicht mehr nur unerreichbar über dem Menschen, sondern im Menschen: das ist die Mitte der neuen Frömmigkeit, die mit dem Wirken der Bettelorden auch den Laienstand erfassen wird. 8
Die Nachahmung Christi, das Leben «in Christus», «mit Christus» und «für Christus», zu dem Kleriker und Laien, Männer und Frauen9 in der Zeit zwischen dem 12. und dem 16. Jahrhundert immer wieder aufgerufen und angehalten werden, soll 5
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Über die mit dem 12. Jahrhundert entstehende «neue Frömmigkeit», aus der sich im 14./15. Jahrhundert die devotio moderna entwickelt, cf. etwa DSp 3, col. 714sq.: «Ceuxci [les maitres de la devotio moderna, D.R.] allaient ainsi transmettre & l'äge moderne une idie de la devotio intirieure toute proche de celle qu'avaient ilaboröe aux 12e et 13e stecles les auteurs cisterciens, victorins et franciscains. On ne saurait assez souligner sur ce point le röle j o u i par ΓImitation de Jesus-Christ.» Zur devotio moderna cf. neben TRE VIII, 609-613 und LexMA 3, 928-930 etwa Klinkenberg 1974, 319-394 und Petrocchi 1978, 125-154. Ruh 1990, 234. Cf. hierzu die zusammenfassenden Ausführungen in TRE XXIII, 685-687: «Die explizite Verbindung der evangelischen Nachfolgeüberlieferungen mit dem Gedanken des Vorbildes Christi und der Konformität mit ihm ist im wesentlichen das Werk der alten Kirche» (ibid., 685 mit Verweis auf Schulz 1962, 13); «Auf der Grundlage des neutestamentlichen Nachfolgerufes und verschiedener Einzeltexte (z.B. Joh 8,12; Röm 13,14; I Kor 11,1; Phil 2,5; Eph 4,13; Kol 3,12; I Petr 2,21 u.a.) werden die Nachahmung des Lebens und der Eigenschaften Jesu und das Einswerden mit ihm eingefordert. Zum zentralen Thema wird die Nachfolge Christi mit jeweils unterschiedlicher Nuancierung erstmals bei Clemens von Alexandrien, Origenes und Cyprian von Carthago.» (TRE XXIII, 687). Auch Leclercq unterstreicht «le fait d'une ardente ρϊέΐέ en vers la personne humaine du Christ», wichtig «d£s l'antiquiti chritienne et chez les spirituels orientaux [...] en particulier [...] Origine» (Leclercq 1961, 299). Zur Bedeutung des Gedankens der Nachahmung/Nachfolge Christi sowie zur Verwendung des Begriffs «akolouthein» im Neuen Testament (insbesondere in Mc 1,17; 8,34; Mt 8,18sqq.; 9,9; 10,38; 16,24; Jo 1,43; 21,15-23; Lc 9,59-60; 14,27) sowie «akolouthein» und «mimeisthai» bei Paulus cf. TRE XXIII, 678-685 sowie DSp 7.1, col. 1548-1555. Ruh 1990, 234. Cf. ferner den Artikel «Ascfese» in DSp 1, col. 978, Longire 1975a, 69 sowie «Humaniti du Christ», DSp 7.1, 1053: «Pour les familiers de la spiritual^ mödiövale, une notion semble övidente et fondamentale: l'humanitd du Christ tient une place importante dans la contemplation, centrale dans beaucoup d'auteurs.» Cf. ferner Leclercq/Vandenbroucke/Bouger 1961. Über die Frauen und die Nachahmung Christi - eine in jüngster Zeit oft behandelte, ebenso umstrittene wie wichtige Problematik, auf die hier nicht eingegangen werden kann cf. vor allem Ruh 1993; ferner DSp 7.2, col. 1088-1090; Walker-Bynum 1987 sowie die kritischen Bemerkungen von Martina Wehrli-Johns (Wehrli-Johns 1991). 34
nicht nur im Kloster und in der Kirche praktiziert werden, sondern möglichst immer und überall 10 . Ihr Wirkungsbereich ist nicht nur die Askese und die Kontemplation, sondern erstreckt sich vor allem auch auf das Alltagsleben der Laien 1 Bereits mit dem 11./12. Jahrhundert - das heißt: lange bevor die imitatio Christi im 15. Jahrhundert zum Herzstück der devotio moderna und zum zentralen Thema des außerordentlich wirkungsmächtigen De imitatione Christi12 wird - entsteht und verbreitet sich ein vielfältiges Repertorium von Leitsätzen und anschaulichen Beispielen, das den okzidentalen Christen vertraut ist und ihr allgemeines Verständnis der Nachfolge bzw. Nachahmung Christi wesentlich bedingt 13 . Diese Verbreitung und Wirkung des Lebens- und Glaubensideals der imitatio Christi wird anerkannterweise vor allem durch die Predigt 14 und die seelsorgerische Arbeit erreicht. Sie entfaltet sich, wie Duane Lapsanski überzeugend darlegt, bereits im Vor- und Umfeld der Konstituierung der Bettelorden:
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Allerdings zeigt sich im 14. und 15. Jahrhundert eine starke Tendenz, die vita contemplativa und solitaria in der Abgeschiedenheit des Klosters oder in der Einsiedelei als beste bzw. gar als einzig wahre und richtige Form der Nachfolge Christi zu betrachten. Diese Tendenz, auf die im Zusammenhang mit Petrarcas Haltung gegenüber der imitatio zurückzukommen sein wird, führt jedoch nicht zu einer allgemeinen Einschränkung des Wirkungsbereichs des Lebens- und Glaubensideals der imitatio Christi. Cf. etwa DSp 7.2, col. 1562sqq. sowie Ruh 1990, 234. Cf. ferner den grundlegenden Aufsatz von Le Goff 1981, 87-128 sowie Manselli 1980a, 393. Verwiesen sei auch auf Heussi 1960, 220 und 225. Die Thomas a Kempis zugeschriebene, vermutlich 1441 vollendete Schrift De imitatione Christi war lange Zeit das verbreitetste Werk nach der Bibel. Weit mehr als 700 Handschriften sind aus dem 15./16. Jahrhundert überliefert (Cf. LexMA, 386). Die sehr knappe, aber treffende Charakterisierung des Dictionnaires des lettres frangaises sei hier wiedergegeben: «L'Imitation traduit les tendances fonciires de la Devotio moderna: contemplation de l'humaniti du Christ pour accdder ä celle de sa diviniti et ä l'union de l'äme ä Dieu, effusions affectives nombreuses.» (DLF 1964, Art. «Imitation de J6susChrist»). Cf. hierzu den Artikel «Les images de Jdsus-Christ», DSp 7.1, 1085-1088. Eine besonders gründliche Predigerausbildung erhielten die begabtesten jungen Franziskaner und Dominikaner aus ganz Europa in Paris (cf. D'Avray 1985, 132-134). Cf. ferner Le Goff 1981, 1 lOsq. Zur franziskanischen Predigt cf. insbesondere auch Manselli 1981. Eine umfassende Untersuchung über die Behandlung des Themas der Nachfolge Christi und der Nachahmung der Heiligen in der Predigt des hier zu behandelnden Zeitraums fehlt noch. Konsultiert wurden in Vorbereitung der vorliegenden Untersuchung neben DSp 12.2, col. 2063sq. und DSp 7.1, col. 1080-1084 Hefele 1912; Zawart 1927; Schneyer 1967 und 1969 (auf weitere Aufsätze von Schneyer über Teilaspekte der Predigtgeschichte wird in Schneyer 1969 hingewiesen); Zink 1969; Delcorno 1974 und 1975 (zur volkssprachlichen Predigt); Zerfass 1974; D'Avray 1976; D'Alatri 1976; Bataillon 1977; Delcorno 1977; Delcorno 1981, 235-276; Lesnick 1981; Rusconi 1981a und 1981b; Longdre 1983 und D'Avray 1985 sowie Nebe 1879, Cantini 1934 und Sweet 1953. Ferner cf. das Repertorium der lateinischen Sermones des Mittelalters flir die Zeit von 1150-1350 (Schneyer 1969-1990) und den Wegweiser zu lateinischen Predigtreihen des Mittelalters (Schneyer 1965). Zur Gelehrtenpredigt im Paris des 12./13. Jahrhunderts cf. neben Davy 1931 und Glorieux 1949 insbesondere Longire 1975a und 1975b (mit ausführlicher Behandlung der Nachahmung Christi) sowie B6riou 1987. Zu den im 1 2 16. Jahrhundert vielverwendeten Predigt- und Themensammlungen cf. insbesondere Bataillon 1981 und Schneyer 1969, 178-185. 35
[...] der Eindruck, den die Wanderprediger hinterließen, ist historisch bedeutsam. Ihre kompromißlose Nachahmung des armen Christus ergriff Herz und Geist der Gläubigen und beeinflußte mit größter Wahrscheinlichkeit auch das Ordensideal des Abälard und die Christusfrömmigkeit des Bernhard von Clairvaux. Wenn die Geschichte der mittelalterlichen Frömmigkeit weithin die Geschichte des Begriffs der Nachfolge Christi ist, deren glaubwürdigster Vertreter Franziskus von Assisi war, dann muß Robert von Arbrissel und seinen Gefährten das Verdienst zugesprochen werden, dieses Ideal eingeführt, ihm Gestalt gegeben und populär gemacht zu haben. 15 Die wichtigsten neuen Orden des frühen 13. Jahrhunderts, der Franziskaner- und der Dominikanerorden, entstehen und verbreiten sich im Zeichen einer erneuerten Nachfolge Christi. Neben Bernhard von Clairvaux gilt insbesondere Franziskus von Assisi 1 6 als jenes im 12./13. Jahrhundert entstehenden allgemeinen Verständnisses der Nachfolge Christi, dessen langzeitliche strukturelle Chrarakteristika im folgenden dargestellt werden sollen. Sowohl als Begründer eines Ideals der sequela Christi, dessen Erfolg insbesondere bei den Laien bekannt ist 17 , als auch als Objekt einer außerordentlich wirkungsträchtigen Legendenbildung 18 und eines wohl einzigartigen Heiligenkults hat Franziskus eine entscheidende Rolle in der Geschichte der Nachfolge Christi gespielt. Im Laufe des 13.-15. Jahrhunderts wird Franziskus zur symbolischen Schlüsselfigur eines Lebens- und Glaubensideals erhoben, in dessen Mittelpunkt die Nachfolge des «nackten» Jesu in Armut und Demut steht. Dieses Ideal ist freilich mit den Prinzipien und Vorstellungen des poverello d'Assisi sowie mit seinem Verständnis einer M/tai;'o-Verständnis der Autoren des 12./13. Jahrhunderts von einer Rezeption der klassisch-römischen imitatio-Lebiea abhängig? Hat diese Rezeption einen unmittelbaren, nachweislichen Einfluß auf Bedeutung und Stellenwert des /'mifaf/o-Begriffs14? 3.) Wodurch unterscheidet sich das allgemeine Verständnis der imitatio auctorum von Autoren des 12. und 13. Jahrhunderts vom //wta/z'o-Verständnis, das sich im 14. Jahrhundert - nach gegenwärtig vorherrschender Einschätzung: mit Petrarca herausbildet? Eine theoretische Reflexion oder Diskussion über die imitatio auctorum fehlt im 12./13. Jahrhundert. Die Gelehrten dieser Zeit erwähnen die imitatio selten und bemühen sich nicht, ihre spezifische Bedeutung innerhalb der Rhetorik zu problematisieren bzw. genau zu bestimmen. Der ra;ta//o-Begriff hat innerhalb ihrer rhetorischen und poetologischen Reflexion augenfällig nicht jene hervorgehobene Stellung, die er für die Autoren des 15./16. Jahrhunderts einnehmen wird. Daraus jedoch zu folgern, daß die imitatio auctorum innerhalb der Bildung des 12./13. Jahrhundert eine marginale Rolle spielen würde, ist grob verfehlt, wie die Analyse deutlich zeigen wird. Um Bedeutung und Stellenwert der imitatio auctorum in dieser Zeit - annäherungsweise - zu bestimmen, erscheint es notwendig, auf ein möglichst breites Corpus von Quellen zur Organisation, zu den Methoden und Inhalten der sprachlichen und textuellen Bildung sowie zur schriftstellerischen Praxis des 12./13. Jahrhunderts zurückzugreifen. Grundlage für die folgende Darstellung sind insbesondere die während dieser Zeit gebräuchlichen, gegenwärtig zugänglichen Grammatiken, artes rhetoricae, artes dictandi, artes notariae, artes praedicandi und artes versificandi bzw. poetriae15 sowie die wichtigsten Studienberichte von Gelehrten dieser Zeit 16 . Bei 13
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Unter «Textproduktion» wird in diesem Kapitel die Formulierung von mündlichen oder schriftlichen (lateinischen) Texten nach den in der grammatischen, rhetorischen und eventuell auch poetischen Ausbildung erlernten Normen verstanden. Eine Gesamtbetrachtung einerseits der Äußerungen der Kirchenväter zur Frage der imitatio sowie andererseits der Rezeption dieser Äußerungen im 12./13. Jahrhundert kann hier nicht geleistet werden. Eine erste Auswertung der Verwendungen von sequi und imitari anhand der patristischen lexikologischen Hilfsmittel ergab keine unerwarteten Ergebnisse. Zur Rezeption der patristischen Schriften in Mittelalter und Renaissance cf. etwa Stinger 1977. Ausgewertet wurden neben Manitius 1911-1931 und den Notices et extraits Thurot 1868, Haurdau 1890-1893 und Langlois 1891 die Quellensammlungen Keil 1855-1880; Halm
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der Auswertung dieser Quellen wurde zum einen auf die wichtigen neueren Abhandlungen über die mittelalterliche Rhetorik und Poetik17 sowie zum anderen auf die bildungsgeschichtlichen Darstellungen von Organisation, Inhalten und Methoden des grammatischen und rhetorischen Unterrichts im Hoch- und Spätmittelalter rekurriert18. Diese erweiterte Quellen- und Forschungsbasis stellt zwar noch keine
1863; Rockinger 1863/1864; Scheler 1867; Langlois 1890; Mari 1899; Langlois 1902 (Recueil d'arts de seconde rhetorique, zum Vergleich herangezogen); Haskins 1909; Faral 1924; Caplan 1933; Charland 1936; Huygens 1954; Dickey 1968; Quain 1986 sowie Thorndike 1971 und Maccagnolo 1980. Ferner Lerner 1974; Wertis 1979 und Camargo 1984. Bei der Auswertung von Faral 1924 wurden die Korrekturen und Ergänzungen Sedgwick 1927 und 1928 sowie die in Köhn 1986, 275, Anm. 206 erwähnten Neuausgaben bzw. kommentierten Übersetzungen, auf deren Auflistung hier verzichtet sei, gezielt berücksichtigt. Ausgewertet wurden ferner insbesondere die folgenden Quellen: Alanus ab Insulis: Summa de arte praedicandi; Anselm de Besäte: Rhetorimachia; Bonaventura: Ars concionandi; Bernardus Silvestris: Commentum super sex libros Virgilii; Boncompagno da Signa: Rhetorica novissima; Cornutus: Artis rhetoricae epitome; Eberhardus Bethuniensis: Graecismus; Giovanni del Virgilio: Ars dictaminis; Guido Faba: Summa dictaminis; Fierville 1886; Guibertus de Novigent: Liber quo ordine sermo fieri debeat; Guillaume d'Auvergne: De arte praedicandi-, Henricus de Hassia: De arte praedicandi; Joannis de Garlandia:.Poefria; Konrad von Hirsau: Dialogus super auctores; Ranieri da Perugia: Ars notaria; die rhetorischen Kommentare von Theodorich von Chartres; Tommaso da Capua: Summa artis dictaminis. Nach relevanten Verwendungen der Begriffe imitari und sequi wurde schließlich in den großen Enzyklopädien des Mittelalters gesucht. 16
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Ausgewertet wurden insbesondere Johannes von Salisbury: Metalogicon; Abaelard: Historia calamitatum und die Chronica majora von Mattheus Parisiensis. Erwähnt seien hier insbesondere Baldwin 1959b, Caplan 1970; Murphy 1974 und Klopsch 1980 (cf. femer McKeon 1942 sowie McKeon 1987; Dronke 1973; Gallick 1979; Fradborg 1982; Renoir 1966 (zur Beziehung zwischen «Originalität» und «Imitation» im Mittelalter). Weiterfuhrende Literaturhinweise in Klopsch 1980. Zur Frage der Definition sowie der gegenseitigen Abgrenzung von Grammatik, Rhetorik und Poetik innerhalb des Triviums cf. etwa neben Klopsch 1980, besonders 64-70, Dahan 1980, 175sqq. Ober Organisation, Inhalte und Methoden des grammatischen und rhetorischen Unterrichts im Hoch- und Spätmittelalter cf. vor allem Köhn 1986 - eine differenzierte, kritische Synthese der Darstellungen über die Bildungsgeschichte des Hoch- und Spätmittelalters, bei der auch eigene Thesen und Ergebnisse überzeugend dargelegt werden. Zur Bildungsgeschichte im Hoch- und Spätmittelalter wurden für diese Arbeit neben den in Kapitel 1, Anmerkung 15 aufgelisteten allgemeinen Darstellungen zur Geschichte der Rhetorik die folgenden Untersuchungen ausgewertet: Appuhn 1900; Rockinger 1861; De La Marche 1886; Clerval 1895; Gröber 1902; Paetow 1910; Grabmann 1911, 9-27; Lehmann 1914 und 1938; Poole 1920; Limmer 1928; Pirenne 1929; Haskins 1929, 3 6 71; Pari 1933; Liebeschütz 1935; Parent 1938 (mit einer Anthologie von Texten aus der Schule von Chartres); Lesne 1940; Sorbelli 1940; Di Fonzo 1944, 167-195; Curtius 1947, 1-26; Hunt 1948; Wühr 1950; Oediger 1953; Le Goff 1957; Norden 1958; Artes Liberales 1959 (darin vor allem Schalck 1959); Salmon 1962; Dolch 1965; Garin 1966; Glorieux 1968; Ghellinck 1939; Arts 1969 (darin insbesondere Delhaye 1969); Glauche 1970; Southern 1970, 61-85 und Southern 1982; Scuola 1971 (insbesondere Chätillon 1971 und Glauche 1971); Murphy 1974; Fryhoff/Julia 1975; Enseignement 1975; Berg 1977; Litra 1977; Manacorda 1978; Murphy 1978; Scuole 1978; Southern 1979; Olsen 1982-1989; Städtisches Bildungswesen 1983 (darin insbesondere Grubmüller 1983, Uber
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hinreichende Grundlage dar, um Bedeutung und Stellenwert der sprachlichen bzw. textuellen imitatio im 12./13. Jahrhundert erschöpfend oder gar abschließend zu beschreiben. Aber sie erlaubt einige wichtige Grundthesen und Ergebnisse zu formulieren, die nützlich sind, um jene komplexen historischen Entwicklungen zu erfassen, die im 14.-16. Jahrhundert zu einer Herausbildung des j'mitafio-Begriffs als zentraler Kategorie der Rhetorik und Poetik führen.
3.1.
Bedeutung und Stellenwert der sprachlichen bzw. textuellen imitatio in der grammatischen, rhetorischen und poetischen Ausbildung
3.1.1.
Die imitatio im Elementarunterricht und in der höheren Schulbildung
Im Rahmen der grammatischen, rhetorischen und poetischen Ausbildung des 12. und 13. Jahrhunderts ist der hauptsächliche Anwendungs- und Wirkungsbereich der imitatio allem Anschein nach die höhere Schulbildung und das Artesstudiumi 9 . Über eine Rolle der imitatio im Elementarunterricht können gegenwärtig wenige fundierte Aussagen formuliert werden. Im Elementarunterricht, bei dem kurze Texte - das Pater noster, das Credo, ausgewählte Psalmen und die sogenannten auctores minores20 - sowie mnemotechnisch aufgebaute Lehrbücher 21 gemeinsam laut gelesen, rezitiert und memoriert wurden, war das Hauptziel, korrektes (Vor-)Lesen und Formulieren kurzer, einfacher lateinischer Texte zu erlernen 22 . Die Grammatik-Ausbildung in der Grundstufe wurde von einem intensiven Gesangsunterricht begleitet, der die sprachmelodischen und mnemonischen Fähigkeiten der Schüler steigern sollte - die parvae scholae waren Singschulen 23 . Es ist anzunehmen, daß die Schüler in dieser frühesten Ausbildungsstufe nicht nur angehalten wurden, die grammatikalischen Normen und Regeln, die sie erlernten, zu befolgen, sondern auch die Aufforderung erhielten, etwa
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das Spätmittelalter, mit weiterführenden Literaturhinweisen); Camargo 1984; Huppert 1984 (Über das Schulwesen in der französischen Renaissance); Quadlbauer 1984 (zur Nachwirkung des Ciceronianischen Rednerideals); Schulen 1986 (darin insbesondere die Beiträge Johanek 1986, Köhn 1986 und Wendehorst 1986); Delhaye 1988. Als indirekt relevant erwiesen sich Tremblay 1988/1989 und Leclercq 1961. Nicht uninteressant, aber für die Ziele dieser Darstellung nicht relevant ist schließlich Passerini 1853. Über die Schulbildung vor dem 12. Jahrhundert cf. insbesondere Riehe 1979. Auf Cizek 1994 wurde bereits in Anmerkung 1 dieses Kapitels hingewiesen. Ich folge der von Rolf Köhn für das Hoch- und Spätmittelalter vorgeschlagenen Aufteilung in Elementarunterricht (von ca. sieben bis ca. zehn Jahren), höhere Schulbildung (von ca. zehn bis ca. fünfzehn Jahren) und Artesstudium (ab ca. fünfzehn Jahren), wobei «Studium» in weitestem Sinne die höchste Ausbildungsstufe bezeichnet. Die Grenzen zwischen den Ausbildungsstufen sind sehr fließend, die Unterteilung darf nicht verabsolutiert werden (cf. Köhn 1986, insbesondere 221-223 und 243). So zum Beispiel die Disticha Catonis (cf. ibid., 226sq.). Etwa die Ars minor des Donatus (cf. ibid., 226). Cf. ibid., 226sq. Cf. zum Beispiel auch Wendehorst 1986, 24sqq. Freilich spielten nicht nur Grammatik und Rhetorik, sondern auch die Logik und die Artes des Quadriviums in allen Ausbildungsstufen eine wichtige Rolle, auf die hier nicht eingegangen werden kann. Cf. Köhn 1986, 226.
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Aussprache und Betonung des Magisters möglichst exakt wiederzugeben und einfache Sätze bzw. kurze Texte nach dem Muster der memorierten Beispiele zu formulieren. Ob und inwiefern diese Aufforderungen auch unter Verwendung des imitai;o-Begriffs erfolgten, kann allerdings nicht nachgewiesen werden24. Als wichtiger Hinweis auf eine solche Verwendung des Begriffs beim Grammatikunterricht im Rahmen der höheren Schulbildung kann hingegen das Doctrinale des Alexander von Villa-Dei gelten (um 1200), das Grammatik-Lehrbuch, das bis zum 15. Jahrhundert «eine fast unbestrittene Herrschaft» in den westeuropäischen Schulen ausübte25. Am Schluß des Doctrinale unterstreicht der Autor: Nil reor assertum, quod non queat esse tenendum pluraque signavi que non debes imitari. 26
In den während des 12./13. Jahrhunderts gebräuchlichen, edierten Grammatiken bzw. Grammatik-Kommentaren wird der imitatio-Begnff sonst nur innerhalb von Beispielreihen verwendet27. Zwei dieser Beispiele sind insofern interessant, als sie auf die Geläufigkeit der Redewendungen «ich imitiere die Guten» («imitor bonos»)28 und «indem er andere imitiert, macht er Fortschritte» («imitando alios proficit»)29 hinweisen - freilich ohne Auskunft über die Bedeutung von imitari bzw. über Art und Frequenz einer Verwendung im Unterricht zu geben30.
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Um zumindest im Ansatz fundierte Vermutungen zu formulieren, müßte insbesondere festgestellt werden, erstens, ob und inwiefern das Latein bereits in der Grundstufe als Metasprache bzw. als Kommunikationssprache zwischen Schülern und Lehrer verwendet wurde, zweitens, ab wann imiter/imitare zum volkssprachlichen Gebrauchswortschatz gehört. Alexander von Villa-Dei, Doctrinale, Vorwort des Herausgebers, LXXXIIIsqq. Ibid., vv. 2640sq. Cf. auch Murphy 1974, 150. Lateinische Zitate, die relativ lang sind bzw. besondere Deutungsschwierigkeiten bergen, werden im folgenden ins Deutsche übersetzt. Von der Übersetzung kurzer und unproblematischer Passagen wird abgesehen. Cf. etwa « [...] per i litteram scribitur» ( 1» Cf. etwa Curtius 1948,460. I 2 0 Ob die Nachahmung, die von den Gelehrten des 12./13. Jahrhunderts durch die Begriffe sequi und imitari bezeichnet wird, aus heutiger Sicht als «wenig kreativ» oder «unselbständig» zu bezeichnen ist, braucht hier nicht diskutiert zu werden. Angestrebt wird hier keine Beurteilung der Praxis dieser Gelehrten auf der Grundlage heutiger ästhetischer Maßstäbe, sondern eine historische Annäherung an ihr Nachahmungsverständnis.
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zwischen dem ethischen und dem rhetorischen Verwendungsbereich der Nachahmungsbegrifflichkeit kann nicht postuliert werden, zwischen diesen Bereichen besteht vielmehr eine - in der methodischen und inhaltlichen Organisation der Bildung begründete - enge Interdependenz: Eine (rhetorisch) «richtige» imitatio auctorum muß im 12./13. Jahrhundert zugleich immer - und vor allem - auch eine (moralphilosophisch) «gute» imitatio auctorum sein 121 . Und eine moralphilosophisch «gute» imitatio auctorum ist nicht einfach eo ipso rhetorisch «richtig», sondern nur dann, wenn sie den im Rahmen der rhetorisch-poetischen Bildung formulierten und vermittelten grammatikalischen, syntaktischen, stilistischen und thematischen Anforderungen genügt. Bei der Formulierung, Vermittlung und theoretischen Reflexion dieser Anforderungen werden allerdings augenfällig andere Schwerpunkte gelegt als zum Beispiel im 15./16. Jahrhundert. So steht vor allem die Frage, ob eine maximale oder minimale textuelle Differenz zu den Vorlagen das imitatio-optimum darstelle, nicht im Mittelpunkt des Interesses. Eine möglichst starke Ähnlichkeit (bzw. Differenz) wird weder als prinzipiell wünschenswert noch als prinzipiell verdammungswürdig bezeichnet. Etwa der Rückgriff auf loci communes gehört in dieser Zeit in den Bereich der inventio und wird durch imitatio vollzogen. Diese imitatio gilt im Fall einer den Wortlaut nicht verändernden Übernahme weder als per se gelungen noch als per se tadelnswert. Die Beurteilung, ob und inwiefern eine angemessene Ähnlichkeit im Einzelfall erreicht sei, wird nach breitgefächertem subjektivem Ermessen getroffen. Maßstab sind die Schriften der auctores und die gelernten grammatikalischen und rhetorischen Normen. Die rhetorisch ungeschickte, unreflektierte Übernahme von Passagen aus fremden Werken wird als Diebstahl (furtum) und als depilatio getadelt. Die Zusammenstellung von geringfügig veränderten Passagen aus den Schriften der auctores wird als compilatio bezeichnet und bisweilen als uneigenständig getadelt 122 . Ob und inwiefern eine gelungene imitatio auctorum für die Gelehrten des 12./13. Jahrhunderts auch eine Identifikation mit dem Vorbild beinhaltet, ob für sie zu einem «richtigen» Nachfolgen/Nachahmen auch der Versuch gehört, eine (wie auch immer geartete) innere Übereinstimmung mit der Person bzw. mit dem Werk des Vorbilds zu erreichen, sich in Text und Autor «hineinzudenken» und «hineinzufühlen», kann anhand der betrachteten Quellen nicht festgestellt werden. Festzustellen ist, daß (in weitestem Sinne) identifikatorische, emotionale Aspekte der sprachlichen bzw. textuellen imitatio von keinem der hier betrachteten Autoren - direkt oder indirekt - thematisiert werden. Zu bedenken ist allerdings auch, daß im Kern 121
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Daß die «formulierungstechnische» sprachliche bzw. textuelle imitatio immer Hand in Hand mit einer ethischen Nachahmung gehen soll, belegt zum Beispiel Bernardus Silvestris: «Quoniam et poeta et philosophus perhibetur esse Virgilius [...] si quis vero haec omnia studeat imitari, maximam scribendi peritiam consequetur; maxima etiam exempla et exercitationes aggrediendi honesta et fugiendi illicita, per ea quae narrantur, habentur. Est itaque Iectorum genuina utilitas: una, scribendi peritia quae habentur ex imitatione; altera vero recte agendi prudentia quasi capitur exemplo et exortatione; verbi gratia, ex laborius Aeneae tolerantiae exemplum habemus, ex affectu eius in Anchisem et Ascanium, pietatis [...]» Bernardus Silvestris: Commentum super sex libros Virgilii, Prologus. Hervorhebung von mir. Zum compilatio-Begriff cf. etwa Parkes 1976.
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einer moralphilosophisch «guten» Nachahmung ethischer Vorbilder in dieser Zeit vor allem die Aneignung der von diesen Vorbildern bzw. durch sie verkörperten und vermittelten Werte und Haltungen steht - eine Tatsache, die angesichts der festgestellten Interdependenz von ethischer und rhetorischer Nachahmung in dem Maße von Bedeutung ist, in dem nicht-christliche auctores als Formulierungs- und Vermittlungsinstanzen ethischer Werte und Haltungen akzeptiert werden. Die Bedeutung und Verwendung der Nachahmungsbegrifflichkeit im Bereich der Rhetorik und Poetik des 12./13. Jahrhunderts wird weder durch eine einheitliche, verbindlich formulierte und ungebrochen akzeptierte Haltung gegenüber den Werken der auctores bestimmt, noch ist sie durch eine eindeutige Festlegung der Bedingungen, Ziele und Verfahrensweisen der imitatio auctorum charakterisiert. Es gibt gerade im 12./13. Jahrhundert ein breites Spektrum von Haltungen gegenüber den Werken der auctores, dessen extreme Pole diametral entgegengesetzt sind. Mit anderen Worten: Zeichnet sich das 14.-16. Jahrhundert durch eine immer undiskutierter akzeptierte, mit dem Stichwort «Verehrung» nicht unangemessen charakterisierte Haltung der Gelehrten gegenüber den klassisch-römischen (und klassischgriechischen) auctores aus, so ist das 12./13. Jahrhundert nicht durch eine «andere» Haltung, sondern durch eine extreme Pluralität von - teils konkurrierenden - Haltungen geprägt. Diese Pluralität - und das damit einhergehende Fehlen einer in den Grundlagen und im Ergebnis eindeutig festgelegten, dominierenden Bewertung der heidnischen auctores - ist von sehr hoher Bedeutung für die Geschichte der imitatio auctorum im 12.-16. Jahrhundert. Denn diese Geschichte besteht vor allem auch in einem Ringen um die Formulierung, Deutung, Umsetzung und Etablierung eines einheitlichen Paradigmas für die Bewertung der heidnischen auctores. Und der imitoi/o-Begriff wird nicht nur aufgrund seiner Stellung innerhalb der (allmählich wiederentdeckten) klassischrömischen Rhetorik, sondern vor allem auch aufgrund seiner Bedeutung und seines Stellenwerts im Alltag der okzidentalen Christen sowie im Bereich der Theologie, der (Moral-)Philosophie und der Rhetorik zur zentralen Kategorie, um dieses Bewertungsproblem zu lösen. Im Lauf des 14.-16. Jahrhunderts besteht das Ringen um die Formulierung und Ansetzung der Maßstäbe, nach denen die (Werke der) heidnischen (und christlichen) auctores einen Sinn und einen Wert erhalten sollen/können, zunehmend darin, erstens, die Bedeutungs- und Verwendungsbedingungen des imitatio-Begriffs festzulegen und, zweitens, die von diesem Begriff bezeichnete Praxis normativ zu definieren.
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4. Nachahmung Christi und imitatio auctorum im 14. bis 16. Jahrhundert
Bereits im Lauf des 12./13. Jahrhunderts, das heißt lange bevor der imitatio-Begriff zur wichtigsten Kategorie der humanistischen Rhetorik und Poetik wird, ändert sich das allgemeine Verständnis dessen, was es bedeutet, ein (ethisches) Vorbild «nachzuahmen», ihm zu «folgen», in entscheidendem Maße, und diese Änderung hat bereits ab der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert zunehmend auch im Bereich der Sprach- und Literaturtheorie sowie der literarischen Praxis sichtbare Konsequenzen. Bereits ab dieser Zeit tritt ein neues Verständnis der sprachlichen bzw. textuellen «Nachfolge/Nachahmung» von vorbildhaften Autoren und Werken graduell zutage1. Es zeichnet sich eine Tendenz ab, die imitatio auctorum nach dem Vorbild der religiös-ethischen Nachfolge/Nachahmung als einen sehr wichtigen, den ganzen Menschen einbeziehenden und transformierenden Prozeß zu betrachten, in dem und durch den das Werk und die Person sowohl des «Nachfolgers» als auch seines Vorbilds einen Sinn und einen Wert erhalten. Dies wird im folgenden durch eine Untersuchung der Verwendung des sequela-Motivs in Dantes Commedia und im Livre du Chemin de long estude von Christine de Pizan exemplarisch herausgearbeitet. Es wird gezeigt, daß die Gestaltung des sequela-Mol\\s in diesen Werken nicht exzeptionell, sondern im jeweils zeittypischen sequela-/imitatio-Verständnis fest verankert ist. Als Konsequenz dieser Entwicklung - sowie der im 14./15. Jahrhundert eintretenden quantitativen und qualitativen Änderungen der auc/oras-Rezeption - wird die /7w'ta//'o-Kategorie immer mehr zum Wert und Maßstab für die Beurteilung von Sprachen und Werken. Ein Prozeß der Spezialisierung und Theoretisierung vollzieht sich, in dessen Verlauf der Begriff zum rhetorischen und poetologischen Fach- und Schlagwort sowie zum Gegenstand einer kontroversen theoretischen Reflexion wird2. Es wird zunehmend versucht, zwischen unterschiedlichen Arten von Nach1
2
Ob sich dieses neue Verständnis tatsächlich erst etwa ab Anfang des 14. Jahrhunderts herausbildet oder schon früher, muß hier, wie bereits erwähnt, ungeklärt bleiben. Hier kann nur festgestellt und gezeigt werden, daß sich zwischen dem sequela-Zimitatio-Verständnis eines Johannes von Salisbury oder eines Boncompagno da Signa und etwa dem von Dante Alighieri Unterschiede feststellen lassen, und daß diese Unterschiede nicht einfach durch Dantes «Genie» erklärt werden können. In seinem Werk räumt Dante der sequela bzw. imitatio auctorum eine andere Bedeutung und einen anderen Stellenwert ein als die Autoren des 12. und 13. Jahrhunderts. Allein die quantitativen Unterschiede zwischen den Erwähnungen der imitatio in den zwischen Anfang des 14. und Mitte des 15. Jahrhunderts entstandenen und in den Ende des 15. bis Mitte des 16. Jahrhunderts verfaßten Schriften zur Rhetorik und Poetik (cf. Weinberg 1970-1974) sind auffällig. 75
ahmung zu differenzieren, und dies führt wiederum zu Bedeutungs- und Bezeichnungsverschiebungen innerhalb des Begriffsfelds der imitatio. Insbesondere die Äquivalenz von sequi und imitari schwächt sich ab. Die zwei Begriffe werden vielfach verwendet, um unterschiedliche Grundtypen von Nachahmung zu bezeichnen, die von den Autoren allerdings uneinheitlich definiert werden. Der Begriff aemulari, dessen klassisch-lateinische Hauptbedeutung 'Wetteifern' im 12./13. Jahrhundert nahezu verschwunden war, wird zunehmend wieder primär dazu verwendet, um ein certamen zwischen Nachahmer und Vorbild zu bezeichnen. Im Zuge dieser Entwicklung entsteht zwar insbesondere im frühen 16. Jahrhundert eine Tendenz zur bewußten theoretischen Differenzierung zwischen den (ethischen und rhetorischen) Bedingungen einer imitatio rhetorisch-poetischer Vorbilder und der «Nachfolge/Nachahmung» religiöser Vorbilder. Jedoch ergibt sich aus diesen Differenzierungsversuchen keine allgemein akzeptierte und befolgte scharfe Trennung zwischen der Nachahmung religiös-ethischer und rhetorisch-poetischer Vorbilder, wie durch eine Betrachtung der «dispute ciceroniane» des 15./16. Jahrhunderts exemplarisch zu zeigen sein wird3.
4.1. «Sequere me»: imitatio in Dantes Commedia Auf theoretischer Ebene unterscheiden sich Dantes Äußerungen über die Nachahmung von sprachlichen bzw. literarischen Vorbildern kaum von denjenigen der Autoren des 12./13. Jahrhunderts4. Der imitatio-Begriff hat als solcher auch bei ihm keine hervorgehobene Stellung: Wie bereits erwähnt, beschränkt sich Dante Alighieri im De vulgari eloquentia darauf, lapidar festzustellen, daß wir um so besser dichten, je «näher» wir die großen lateinischen Dichter nachahmen5. Im Unterschied zu seinen unmittelbaren Vorgängern und zu seinen Zeitgenossen hat Dante jedoch die «Nachfolge/Nachahmung» eines auctor zum zentralen Thema seines dichterischen Hauptwerks, der Commedia, erhoben. Ziel der folgenden Darstellung ist es, die poetologischen Dimensionen und Implikationen dieses Motivs und so die hohe Bedeutsamkeit der Commedia für die Geschichte der imitatio auctorum herauszuarbeiten. Im folgenden soll gezeigt werden, daß die Relation zwischen dem personaggioautore Dante und seinem Meister/Vorbild Vergil in der Commedia als eine Relation der sequela/imitatio eines ethischen und rhetorisch-poetischen Vorbilds durch einen christlichen Autor dargestellt wird6. Das Motiv der «Nachfolge/Nachahmung», dem 3
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Eine radikale Trennung zwischen der Nachahmung von ethisch-religiösen Vorbildern und der imitatio auctorum ist m.E. im 16. Jahrhundert nicht festzustellen. Vielmehr bleibt eine Berücksichtigung des religiösen Nachfolge-Ideals selbst zu Zeiten der Reformation und Gegenreformation wichtig für die Geschichte der imitatio. Cf. 3.2., Die imitatio als Textproduktionsverfahren. Cf. Dante: De vulgari eloquentia, 11,4,2, wie Kapitel 3, Anmerkung 115. Im Convivio und in der Epistola a Cangrande finden sich keine relevanten Erwähnungen der imitatio. Cf. Sheldon 1905; Rand/Campbell 1970. Dies sind selbstverständlich nicht die einzigen Bedeutungen und Funktionen des Motivs in der Commedia, doch sie sind, wie die Analyse zeigen wird, zentral.
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eine zentrale Bedeutung innerhalb von Dantes Commedia zukommt, ist viel mehr als ein antiker, aus dem sechsten Buch der Aeneis übernommener und zugleich auf die christliche Tradition der Jenseitsreise7 verweisender topos*. Durch die spezifische Verwendung dieses Motivs in der Commedia wird der personaggio-autore Dante nicht nur in eine bestehende schriftliche Tradition und Autorengenealogie eingereiht, sondern es wird zugleich poetice die Frage behandelt, aus welchen Gründen und unter welchen Bedingungen die «Nachfolge/Nachahmung» eines (heidnischen) Musterautors richtig und notwendig ist, um dichterische, philosophische und (vor allem) ethische Vollkommenheit zu erlangen. Die Analyse wird zeigen, daß die Gestaltung der sequela Virgilii in der Commedia insbesondere durch ein spezifisches, sehr komplexes Spannimgsverhältnis von Analogisierung und Differenzmarkierung zur imitatio Christi charakterisiert ist. Die sequela Virgilii wird in der Commedia erstens per comparationem an der imitatio Christi - d.h.: am letztgültigen Maßstab jeder Form von ethischer Nachahmung gemessen, zweitens per analogiam als spezifische, notwendige und gute Form von ethischer sequela!imitatio aufgewertet und drittens durch gezielte Differenzmarkierung als eine der Nachfolge/Nachahmung von christlichen Vorbildern eindeutig untergeordnete, spezifischen Einschränkungen, Voraussetzungen und Bedingungen unterworfene Form von imitatio bewertet.
4.1.1.
Das Motiv der «Nachfolge/Nachahmung» in der Commedia
Das Motiv 9 des personaggio-autore Dante 10 , der seinem Vorbild und Meister Vergil1 1 folgt, bildet bekanntlich die tragende Säule, den roten Faden von Inferno und
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Über die Reisen ins Jenseits unter Führung eines Engels bzw. eines Heiligen cf. etwa Dinzelbacher 1981 und die von Μ. P. Ciccarese herausgegebene Quellensammlung Visioni dell 'aldilä. Der Rilckbezug auf Aeneas und Paulus - und die Betonung der spezifischen Unterschiede zwischen Dantes Ich und diesen zwei Referenzgestalten (cf. Inf. II, 25sqq.) - ist freilich in dem und für den Gesamtzusammenhang der Commedia sehr wichtig. Verwendung des Motiv-Begriffs gemäß Frenzel 1966, 11-24, insbesondere 13. Zu Dante als personaggio-autore in der Commedia cf. insbesondere Contini 1957 und den Artikel von Enzo Girardi in Dante nella critica d'oggi, 343-355. Über Vergil in der Commedia cf. neben Hollander 1983 (insbesondere die «nota bibliografica» auf den Seiten 13-22) und die in Auerbach 1967 wiederabgedruckten Aufsätze Auerbachs zur Commedia die im Artikel «Virgilio» der Enciclopedia Dantesca verzeichneten und besprochenen Studien sowie die in Esposito 1990 unter den Suchbegriffen «Virgilio» und «Commedia, Guide» verzeichneten Werke. Zur Beziehung zwischen Dante und Vergil cf. insbesondere Vallone 1971b, 394-421. Zu Haupttendenzen und -ergebnissen der Dante-Forschung im allgemeinen und der Commecft'a-Forschung im besonderen cf. ferner die Berichte in Dante Studies, Studi Danteschi, Nuove letture dantesche und Deutsches Dante-Jahrbuch sowie insbesondere die vier Bände Esposito 1990 (über den Zeitrauml950-1970, mit Verweis auf weitere Forschungsberichte in Bd. 1, 5-18) und die zusammenfassenden kritischen Überblicke Güntert 1965, 445^162; Frattarolo 1970; Vallone 1971a, 531-554; Friedrich 1972, 3 2 45; Deila Terza 1975, 245-253; Meier 1976 (ein gelehrter Aufsatz zum Stand der Allegorie-Forschung); Scaglione 1980/1981, 32-46; Frattarolo 1984, 3-23; Marti 1986, 2 6 6 -
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Purgatorio. Dieses Motiv stellt laut wichtigen Kommentatoren aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts die Relation zwischen Dante und Vergil als eine der «Nachfolge/Nachahmung» dar 12 . Benvenuto da Imola, Francesco da Buti, dem Anonimo Fiorentino und den Autoren der Chiose Ambrosiane zufolge 13 wählt (der Autor) Dante im proemio (den Autor) Vergil als Vorbild und «folgt ihm»/«imitiert ihn» in seinem Werk. Benvenuto da Imola schreibt über die Verse 79-87 und 112113 von Inferno I: Ο degli altri poeti. An dieser Stelle richtet der Autor seine Bitte an Vergil und beschwört ihn, ihm zu helfen [...] Tu sei. An dieser Stelle [...] erläutert der Autor, weshalb Vergil dies tun soll. Um dies zu erläutern, sagt er: Mit Fug und Recht bitte ich Dich[, mir zu helfen], denn tu sei lo mio maestro, denn bekanntlich war Vergil der erste und wichtigste lateinische Autor, der die Laster und ihre Bestrafung dichterisch darstellte: deshalb folgt [Dante] zu Recht ihm mehr als jedem anderen. [...] Ond'io. An dieser Stelle erteilt Vergil dem Autor einen besonderen Rat, indem er schließt: Ond'iopenso e discerno [...] per lo tuo meglio, das heißt zu deinem Heil und deiner Errettung, che tu mi segua, denn dies ist der sicherste Weg, und Du wirst mir folgen durch die Nachahmung des Stils 14 [...] ed io sarö tua guida, denn ich habe als erster diese Materie der Laster behandelt. 15
Oer Anonimo Fiorentino schreibt über dieselben Verse: Ora qui piglia Dante per suo maestro e per umana ragione Virgilio [...]. Et perch6 Virgilio fa il libro suo dell'Eneida con stile poetico, e cosi intende d'ordinare il suo libro, perö [i.e.: perciö, D.R.] prese Virgilio, et piacquegli di fargli questo onore; [...] et veramente Virgilio avanzö ogni altro poeta [...] et gli altri che hanno scritto poi, perchi han-
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285; «Movimenti cultural! e indirizzi d'oggi» im zweiten Band von Vallone 1981, 10091041 sowie Vallone 1976. Unter den moderni hat insbesondere Mazzoni die Verse 83-87 des proemio als programmatischen Hinweis auf die Nachahmung Vergils gedeutet - allerdings ohne auf das Bild der sequela Virgilii in der Commedia und auf den historischen Hintergrund dieses Bildes oder des «Nachfolge»/«Nachahmungsbegriffs» einzugehen (cf. Mazzoni 1967, 123-125. Mazzoni verweist auf Bernardus Silvestris: Commentum super sex libros Virgilii). Cf. Benvenuto da Imola: Comentum, Bd. 1, 51; Francesco da Buti: Commento, Bd. 1, 3 6 45, 49-51, 128-131 und 312-313; Anonimo Fiorentino: Commento, Bd. 1, 18-19; Chiose ambrosiane, 7; Filippo Villani: Expositio, 167. Unter «imitatio styli» versteht Benvenuto keineswegs nur die Nachahmung von stilistischen Eigenschaften eines Textes. Am Ende einer Diskussion des Begriffs spezifiziert er, daß eben auch die materia Gegenstand der imitatio styli sei. Cf. Benvenuto da Imola: Comentum, 51 sq. «O degli altri poeti. Hic Autor facit suam petitionem Virgilio, et implorat ejus auxilium [...] Tu sei. Hic autor confirmat, ostendens rationem quare debet hoc facere; unde dicit: bene et digne peto, quia tu sei lo mio maestro, quia scilicet Virgilius primus apud Latinos descripsit poetice vicia, et viciorum supplicia: ideo merito plus sequitur eum, et principalius [...] Ond'io. Hic Virgilius dat suum speciale consilium autori, concludens: ond'io penso e discerno, idest decerno et concipio, per lo tuo meglio, idest pro salute et salvatione tua, che tu mi segua, quia ista est tutior via, et sequaris me imitatione styli. Unde dicit: ed io sard tua guida, quia ego prius pertractavi de ista materia viciorum.» Benvenuto da Imola: Comentum, Bd. 1, 51, Übersetzung von mir. Cf. auch den Kommentar zu Inf. IV, 99: «Ε Ί mio maestro sorrise di tanto, quia scilicet placuit sibi quod honorarent Dantem, qui tanto studio conabatur imitari ipsum Virgilium.» Benvenuto da Imola: Comentum, Bd. 1, 155, Hervorhebung und Übersetzung von mir.
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no seguito e imitato lo stile suo, et ingegnatosi di somigliarsi et accostarsi a quello quanto hanno potuto, vive per quello la fama loro, come s'i Ovidio, Lucano, Stazio et gli altri poeti [...]16 Und Filippo Villani erläutert: Tu se' lo mio maestro: ad licteram, quod fiiit Virgilii imitator; [...] nam in materia, in integumentis et eloquentie dignitate Maronem imitatus est. [...] Che tu mi segua. Aperte consulit Maro poete ut imitetur eum.17 Zwar wird die einfache Gleichstellung von agens und auctor, von personaggio und autore, die diesen Kommentaren zugrundeliegt, dem Bedeutungspotential von Dantes Werk nicht gerecht. Gleichwohl ist sie, historisch gesehen, nicht das Ergebnis einer - durchaus mit Recht vermutbaren - interpretatorischen Approximativität 18 der Kommentatoren, sondern deckt eine fundamentale, für Dantes Zeitgenossen unmittelbar wahrnehmbare Bedeutungsdimension des sequela-Motivs auf, die bei gegenwärtigen Deutungen des Werks berücksichtigt werden sollte. Daß «Dante» in der Commedia auf den Autor des Werks verweist und «Vergil» auf das wichtigste Vorbild dieses Autors, ist also ein dato testuale «di evidenza anche troppo elementare» 19 , dessen Formulierung zwar nicht bereits als Deutungsergebnis betrachtet werden darf, der jedoch eine berechtigte und angemessene Grundlage für die Annäherung an das Werk darstellt. Hier soll dieser dato testuale als Ausgangspunkt genommen werden, um eine bis heute vernachlässigte20, historisch bedeutsame Dimension des Werks sichtbar zu machen, die bei späteren Deutungen geprüft, ergänzt und vertieft werden soll. 4.1.1.1. Vergil als Vorbild und Vermittler, Dante als «Folgender» und «Nachfolger» Der personaggio-auctor Vergil hat innerhalb der Commedia den Status eines «maestro», «autore» und «guida», eines Meisters und Vorbilds 21 . Er hat diesen Status, weil er Autor eines Werks ist, an dem sich ganze Dichter- und Gelehrtengenerationen - und insbesondere der personaggio-autore-Dante selbst22 - orientiert und von 16
Anonimo Fiorentino: Commento, Bd. 1, 18-19. Filippo Villani: Expositio, 167. 18 Contini spricht von einer «difettiva dialettica di codesti lettori approssimativi [seil.: i commentatori del Trecento, D.R.]» (Contini 1957, 341). '9 Ibid. 20 Zwar hat Erich Auerbach - auch im Zusammenhang seiner Dante-Exegese - wiederholt auf die imitatio Christi verwiesen (cf. vor allem «Adam und Eva» in Mimesis und Auerbach 1929, 20sqq.). Doch hat er nicht - aufgrund der gewählten Perspektive - ihre Bedeutsamkeit für die Geschichte des imiiaiio-Begriffs, für die Entwicklung der sequelaBildlichkeit und für die Gestaltung von Dantes Werk herausgearbeitet. 21 Auf Vergils Status als maestro und guida wird in der Literatur häufig hingewiesen. Dieser Status wird jedoch in der Regel nicht innerhalb des se, rispuos'io, 69 Cf. zum Beispiel Purg. IV, 36-39 und X, 19sq. 70 Cf. Purg. I, 85-93. Vergils theologischer und moralphilosophischer Fehler besteht hier darin, daß er Cato nicht im Namen von Beatrices Liebe bittet, sondern im Namen Marzias, die, wie er selbst, dem Limbo angehört. 71 Cf. die entsprechenden Artikel in der Enciclopedia dantesca. 72 Die feine Ironie dieses Verweises auf die Früchte der universitären Ausbildung des frate ipocrita sei hier hervorgehoben. ? 3 Inf. XXIII, 138-148. 74 Signifikant ist auch Vergils Staunen in Inf. XXIII, 124-126: «Allor vid'io maravigliar Virgilio / sovra colui ch'era disteso in croce / tanto vilmente ne l'etterno essilio.» Eine Verwendung des «signum crucis» im Zusammenhang mit der Bestrafung Caifas kann Vergil aufgrund seiner Begrenztheit als «maestro» und «guida» nur mit Staunen wahrnehmen. Ihm kann sich der wahre Sinn dieser Erscheinung nicht erschließen.
87
imitatio Christi eingebunden und als spezifische, begrenzenden Bedingungen unterworfene, notwendige, aber nicht allein hinreichende Form von sequela!imitatio bewertet und eingeordnet. 4.1.1.2. Die Gestaltung der sequela Virgilii in der Commedia Nicht nur der Status, die Aufgaben, die Leistungen, die Fähigkeiten, die Tugenden und die Untugenden, die spezifischen Stärken und Schwächen des personaggio-autore-Dante und seines Vorbilds Vergil werden in der Commedia sehr anschaulich dargestellt: Auch die Relation zwischen den zwei Gestalten wird durch eine detailreiche Charakterisierung nachvollziehbar und nachempfindbar gemacht. Die sequela Virgilii wird in Dantes Werk als eine den inneren und äußeren Menschen involvierende und transformierende Relation zwischen Autoren geschildert, deren Kern im programmatischen Binom «lungo studio e [...] grande amore» enthalten ist. Vergil wird in der Commedia nicht nur als maestro, autore, duca/guida, literarisches Modell und Vermittler von Wissen geschildert, sondern auch als dolcissimo patre und fürsorglicher Beschützer des personaggio-autore-Omte'5. Immer wieder wird beschrieben, wie er Dante auf dem beschwerlichen Weg durch Hölle und Purgatorium nicht nur führt, sondern schiebt, trägt, antreibt, schilt und lockt. Es sei nur an die Episoden erinnert, in denen er Dante in die Arme nimmt, um eine gefährliche und schwierige Stelle zu überwinden76, an seine beschützende Umarmung auf Geriones Rücken77, an seine wiederkehrenden Ermahnungen, keine Angst zu haben, schneller zu gehen, sich nicht von unnützen Dingen aufhalten zu lassen. Die Vermittlung von naturwissenschaftlichem, philosophischem und ethischem Wissen weist in der Commedia stets eine starke affektive Komponente auf. In zahlreichen Episoden wird nicht nur geschildert, was der «Nachfolger» Dante und sein Vorbild/Meister tun, sehen, hören und sagen, sondern auch, welche Haltung sie zueinander haben und was sie füreinander empfinden. Gerade die Darstellung der affektiven Reaktionen von Meister und Schüler aufeinander ist dabei sehr detailreich. Sie beinhaltet nicht nur intellektuelle Bewunderung und Respekt, sondern bisweilen auch Zorn, Scham78, ironisch-leisen Spott79 und vor allem immer starke «Liebe», 75
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Manchmal ist Vergil «wie eine Mutten) zu Dante. Cf. etwa Inf. XXIII, 35-51: «Lo duca mio di subito mi prese, / come la madre ch'al romore έ desta / e vede presso a SÄ le flamme accese, / che prende il figlio e fugge e non s'arresta, / avendo piü di lui che di sfc cura, / tanto che solo una camicia vesta; / e giü dal collo della ripa dura / supin si diede alia pendente roccia, / [ . . . ] / portandosene me sovra Ί suo petto, / come suo figlio, non come compagno.» Cf. zum Beispiel Inf. XXIII, 37-51 (wie in vorstehender Anmerkung). Der moralphilosophische und theologische Wert des Tragens wird ferner z.B. in Inf. XIX, 34sqq. und XXXIV, 70-84 versinnbildlicht. Cf. Inf. XVII, 91-96: «Γ m'assettai in su quelle spallacce: / si volli dir, ma la voce non venne / com'io credetti: .» Allerdings cf. Par. XXXIII, 65sq. Chemin de long estude, 627-634. Die Sibylle leitet im übrigen die lange Rede, in der sie sich selbst als auctor und Vorbild vorstellt und Christine auffordert, ihr zu folgen, mit den Worten ein: «Et afln que tu
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Wie ihr italienisches Vorbild Dante Alighieri verwendet auch Christine de Pizan das sequela-Motiw, um den Wert und den Sinn des Werks eines Autors zu bestimmen und um seine Stellung als Meister und Vorbild festzuschreiben. Im Chemin de long estude stellt sie eine Genealogie der Autoren auf, die von der Sibylle zu Vergil und von Vergil zu Dante führt und markiert dann den eigenen Standpunkt in bezug auf die äußeren Glieder dieser Kette. Gegenüber Dante stellt sich Christine de Pizan als andersartig und gleichwertig dar. Sie betont, daß der Weg, den sie geht, auch sein Weg gewesen sei und unterstreicht zugleich die Unterschiede zwischen Dantes Reise und der eigenen 141 . Um aber den eigenen Wert deutlich zu machen, läßt sie sich von der Sibylle gleich im Laufe der ersten Begegnung langen Ruhm prophezeihen: Adont [Sebille, D.R.] me dist a son venir Fille, Dieux te vueille tenir En paix d'ame et de conscience Et en l'amour qu'as a science Ou ta condicion t'encline; Et ains que vie te decline, En ce t'iras tant deduisant Que ton nom sera reluisant Apres toy par longue memoire, [...] 142 Der Status des personnage-auteur-Christme als Autor wird somit von der Sibylle bereits am Anfang des Werks bestätigt. Die Gestaltung der sequela Sibyllae im Chemin de long estude unterscheidet sich von deijenigen der sequela Virgilii in der Commedia vor allem insofern, als die einzelnen Komponenten der Relation zwischen Meister/Vorbild und «Nachfolger» nicht ähnlich detailreich wie in Dantes Werk ausgemalt werden, sondern eher knapp angedeutet bleiben. Bei der umgestaltenden Verwendung des sequela-Motivs ist im Chemin de long estude eine starke Konzentration auf den Aspekt des Erwerbs, der Vermittlung und der Umsetzung von (Buch-)Wissen festzustellen. Christines Relation zur Sibylle ist vor allem die einer «antiken» zu einer «modernen» Wissensvermittlerin. Die sequela Sibyllae wird weniger als eine den ganzen inneren und äußeren Menschen umfassende Lebens- und Glaubenserfahrung dargestellt denn als Herzstück der estude, so wie Christines Weg im Chemin kein «Heilsweg», sondern ein «Lernweg» ist 143 .
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142 143
mieux m'ensui, / Vueil que tu saches qui je sui: [...]» (Ibid., 505sq. Hervorhebung von mir). Hier wird mit der mehrfachen Bedeutung des Satzes gespielt: 'damit Du mich besser verstehst', 'damit du mir besser (auf der Reise) folgst' und 'damit du mir besser folgst' (im Sinne von 'nachfolgen' = 'nachahmen'). Christine reist vor ihrer kata- und anabasis um die ganze Erde, sie betritt den Garten Eden nicht (cf. ibid., 1545-1568) und geht im Paradies nicht weiter als bis zum Fünften Himmel (cf. ibid., 2023-1044). Ibid., 489-497. Dies bedeutet freilich nicht, daß religiöse Aspekte im Chemin de long estude ausgeklammert oder in den Hintergrund gedrängt würden. 103
4.2.2.
Christines sequela- und imitatio- Verständnis144
Die Analyse der Verwendung des sequela-Motivs im Chemin de long estude erlaubt es, einige Rückschlüsse auf das Verständnis der sequela!imitatio auctorum von Christine de Pizan zu ziehen. Das sequela-Motiv ist im Chemin de long estude weit mehr als eine Anleihe aus der Commedia im besonderen und den literarischen Traumvisionen ihrer Zeit im allgemeinen. Christines Verwendung dieses Motivs zeigt deutlich, daß sie seine zentrale Bedeutung und Funktion in und für Dantes Commedia erkannt sowie für das eigene Werk genutzt hat. Die «Nachfolge/Nachahmung» eines (religiösen, philosophischen und dichterischen) Vorbilds/Meisters stellt auch für sie einen ebenso lebenswichtigen wie komplexen Prozeß dar, durch den die Person und das Leben eines Menschen im allgemeinen und eines Dichters im besonderen erst ihren Sinn und ihren Wert erhalten, und durch den Menschen (und Dichter) erst ihr Lebensziel erreichen. Wie - mutatis mutandis - bereits Dante in der Commedia stellt auch Christine im Chemin de long estude die sequela!imitatio eines «antiken» auctor durch einen «modernen» christlichen Dichter als Herzstück des literarischen Schaffensprozesses und der Autorenkonstitution dar. Wie ihr Vorgänger und Vorbild behandelt sie dieses komplexe Thema innerhalb eines tragenden theologischen und philosophischen Gesamtzusammenhangs. Anders als Dante hält sie aber die Versinnbildlichung dieses Gesamtzusammenhangs sehr knapp und konzentriert sich auf einen spezifischen Aspekt der ie^ue/a-Problematik: Im Mittelpunkt ihrer Verwendung des sequelaMotivs steht der Aspekt des Erwerbs, der Vermittlung und der Umsetzung von Buchwissen. Daß diese Fokussierung auf den Bereich des «Studiums» bei der Übernahme von Dantes sequela-Bild auf eine Loslösung Christines von «mittelalterlichen» Denkschemata zugunsten von «frühhumanistischen» Werten und Vorstellungen hinweise, soll hier nicht α priori verneint werden: solche allgemeinen Etikettierungen sind immer ebenso leicht anzugreifen wie zu verteidigen. Festzustellen ist in jedem Fall, daß Christine diese Eingrenzung auf den Bereich der estude augenscheinlich nicht auf der Grundlage einer für ihre Zeit auffällig unüblichen auctores-Rezeption und sichtlich nicht vor dem Hintergrund eines zeituntypischen sequela-Verständnisses vollzieht.
4.3. Ethische und rhetorische imitatio in Petrarcas De vita solitaria, De otio religioso und in den Famiiiares Im Unterschied zu den Autoren des 12./13. Jahrhunderts sowie zu seinem Vorgänger Dante Alighieri oder zu seiner - erheblich jüngeren - Zeitgenossin Christine de Pizan thematisiert und problematisiert Francesco Petrarca die Frage der imitatio auctorum in ausführlichen theoretischen Aussagen. Insbesondere in den Familial 4 4 Im folgenden bezeichnet «Christine» nicht mehr den moi-personnage-autevr de long estude, sondern die Autorin des Werks.
104
des Chemin
rium rerum libri145 äußert er sich wiederholt zu den Bedingungen, Zielen und Verfahrensweisen einer guten Nachahmung der heidnischen und christlichen auctores. Dabei steht - ebenfalls in auffallendem Unterschied zu seinen Vorgängern und Zeitgenossen - das Problem der Begründung, Erhaltung und Markierung einer spezifischen Differenz zwischen Vorbild und Nachahmer im Vordergrund. Eingehend behandelt Petrarca in seinen Äußerungen über die imitatio die Frage, worin die Ähnlichkeit zwischen Nachahmungsergebnis und nachgeahmtem Vorbild bestehen solle, welche Art und welcher Grad von Ähnlichkeit beim Imitieren anzustreben sei 146 . Gerade diese Betonung der für Betrachter und Interpreten des 20. Jahrhunderts sehr wichtigen Ähnlichkeits- bzw. Differenzfrage macht es besonders leicht, Petrarcas Aussagen aus heutiger Perspektive zu lesen sowie unmittelbar zu verstehen. Daß man bei der Nachahmung die eigene «Freiheit» behalten und sich nicht «servil» dem Vorbild unterwerfen 147 , sondern danach trachten soll, es zu übertreffen, daß man sich stets bemühen soll, die Ausdrucksweise des Vorbilds nicht unverändert zu übernehmen, sondern zu assimilieren und eigenständig zu transformieren: dies alles läßt sich mühelos vor dem Hintergrund des heute vorherrschenden Nachahmungsverständnisses nachvollziehen. Daß eine «gute und richtige» imitatio auctorum aber darin bestehen soll, sich ganz und gar einem als Verkörperung der absoluten Perfektion empfundenen und dargestellten Vorbild hinzugeben und die Ausdrucks-, Schreib- und Denkweise, ja das Lebensideal und die Lebensweise dieses Vorbilds möglichst umfassend und uneingeschränkt zu verinnerlichen, um selbst vollkommen zu werden, gehört keineswegs zu den gewohnten Vorstellungen heutiger Leser. Ganz anders verhält es sich zu Petrarcas Zeiten. Als der poeta laureatus seine Stellungnahmen zur Frage der imitatio formuliert, stellt die «Nachfolge/Nachahmung» von (christlichen) ethischen Vorbildern bereits seit mehr als einem Jahrhundert ein ebenso verbreitetes wie wichtiges Lebensideal dar, welches die Denk- und Handlungsweise der Christen charakterisiert und das gelehrte Verständnis des richtigen Umgangs mit den auctores zunehmend mit bestimmt. In seinen Äußerungen über die imitatio thematisiert und problematisiert Petrarca nicht nur eine zentrale Frage der rhetorischen techne, deren Tragweite ihm durch ausgedehnte und intensive Rezeption der auctores bewußt wird, sondern vor allem auch eines der wichtigsten Lebensideale seiner Zeit und seine Anwendbarkeit im Bereich der Rhetorik. 145
146
147
Ich verwende die vierbändige Edition von Vittorio Rossi, die Übersetzungen sind von mir. Eine auf dieser Edition basierende zweisprachige Ausgabe (Lat./ Ital.) wird von Ugo Dotti vorbereitet. Die ersten zwei Bücher sind bereits erschienen und werden hier ebenfalls herangezogen. Für bibliographische Hinweise zu den einzelnen Briefen cf. neben Fucilla 1982 in der ebenfalls auf Rossi basierenden zweisprachigen Ausgabe Martelli 1975 die Seiten 1292-1294 (Bibliographie bis 1948) und 1294-1321 (Anmerkungen) die italienische Übersetzung enthält übrigens grobe Fehler: Cf. etwa das sinnentstellende «intimi affanni» für «familiaribus curis» (I 1, 32), das irreführende «imitazione» für «similitude» (XXII 2, 20) oder das schlicht falsche «Io intendo seguire la via dei nostri padri, ma non ricalcare le orme altrui» für «Sum quem priorum semitam, sed non semper aliena vestigia sequi iuvet.» (XXII 2, 20. Hervorhebungen von mir). Die wichtigsten - und meistzitierten - Äußerungen befinden sich in den Briefen «de imitatione» (Fam. I 8), «de imitandi lege» (Fam. XXII 2) und im Brief XXIII 19 an Boccaccio. Diese Stellen werden weiter unten näher zu betrachten sein. So zum Beispiel Dotti über die Famiiiares in Dotti 1978, 133.
105
Um Petrarcas Äußerungen über die Frage der imitatio auctorum zu deuten sowie in den Gesamtzusammenhang einer Geschichte der humanistischen imitatio einzuordnen, wird heute - abgesehen von sehr problematischen Versuchen, ein Originalitäts- bzw. Kreativitätsdenken romantischer Provenienz auf den Autor des 14. Jahrhunderts zurückzuprojizieren 148 - insbesondere ein Erklärungsmodell angewendet, das Petrarcas Position in bezug auf die /m/to/io-Problematik folgendermaßen charakterisiert: [...] l'auteur du Canzoniere se montrfe] fort attentif ä priserver une juste mesure dans l'imitation des Anciens, n6cessaire pidagogie de l'humanilas, et ä sauver l'identitd personnelle et chr6tienne de l'imitateur.149 Petrarca als erster großer Vermittler zwischen der antiken und der christlichen Kultur: Dies ist das Deutungsschema, welches nicht nur allgemein für die Interpretation seines Werks, sondern insbesondere auch zur Einordnung seiner imitatio-Auffassung verwendet wird. Daß es ein produktives Schema ist, soll hier nicht prinzipiell bestritten werden, erlaubt es doch, der Selbstsituierung des Autors sowie unbestreitbaren Eigenarten seines Werks zumindest bis zu einem gewissen Grad gerecht zu werden. Diese Betrachtungsweise basiert allerdings auf der impliziten Annahme, daß die imitatio für Petrarca nicht nur eine rhetorisch-poetische, sondern vor allem auch eine zentrale ethische Frage darstellt. Wenn dem aber so ist, dann erscheint es historisch nicht angemessen, Petrarcas imitatio-Auffassung ohne Berücksichtigung seiner ausführlichen moralphilosophischen Behandlung der /ra/Ya/io-Problematik insbesondere in De vita solitaria und in De otio religioso zu beleuchten. Durch eine vergleichende Analyse des De vita solitaria, des De otio religioso und der Familiarium rerum libri wird im folgenden gezeigt 150 , daß für Petrarca die Frage der sequela bzw. imitatio auctorum eine zentrale ethische und rhetorisch-poetische Frage darstellt und daß er diese Frage - wie bereits betont - nicht nur vor dem Hintergrund einer zweifachen (heidnischen und christlichen) schriftlichen Tradition, sondern insbesondere auch vor dem Hintergrund des für seine Zeit typischen imitatio- bzw. sequela-Verständnisses thematisiert. Nimmt man an - und dazu geben die in dieser Untersuchung formulierten Thesen und Ergebnisse Anlaß - , daß dieses Verständnis zu dieser Zeit keineswegs homogen und auf eine einfache Formel reduzierbar, sondern vielfältig und in einem tiefgreifenden Wandel 151 begriffen ist, dann darf man auch annehmen, daß Petrarca nicht nur deshalb beginnt, die Frage 148 149
150 151
Cf. etwa die im Forschungsbericht besprochenen Ansätze. Fumaroli 1980, 78. Fumaroli zitiert als Beleg Fam. XXII 2, 20. In ähnlicher Weise zuvor Ulivi Uber dieselbe Passage: «La retorica έ veramente superata dallo spirito nuovo che infiamma queste parole; spirito nel cui possiamo intendere quel sentimento di realizzazione della propria personality qualunque essa sia, che & veramente la stigma cristiana del carattere del Petrarca; [...]» (Ulivi 1959, 13). Zu Petrarcas imifai/'o-Verständnis cf. ferner die gegen veraltete Vorwürfe mangelnder Originalität gerichteten Bemerkungen in Kessler 1978, 178sq. Die Kriterien der Textauswahl und die Vorgehensweise werden weiter unten erläutert. Gemeint ist der in dieser Untersuchung herausgearbeitete Wandel, welcher von der Betrachtung der imitatio auctorum als eines zum Schriftstellerhandwerk gehörenden technischen Verfahrens hin zu ihrer allgemeinen Anerkennung als Herzstück des literarischen Schaffensprozesses und der Autorenkonstitution führt. 106
der imitatio auctorum theoretisch zu reflektieren, weil er die Schriften der klassischrömischen Autoren wiederentdeckt bzw. ganz anders als seine «mittelalterlichen Vorgänger» versteht, sondern vor allem auch deshalb, weil ihm die Problemhaftigkeit dieser Frage für seine Zeit bewußt wird. Das Erklärungs- und Deutungsmodell, das hier vorgeschlagen wird, läßt sich mit anderen Worten so umschreiben: Zum einen rezipiert und reflektiert Petrarca die Äußerungen über die imitatio in den Werken der auctores mit großer Aufmerksamkeit, weil die imitatio bzw. sequela von ethischen und rhetorisch-poetischen Vorbildern für ihn - nicht anders als für seinen unmittelbaren Vorgänger Dante - eine besondere Bedeutung und einen besonderen Stellenwert hat, nämlich als ebenso wichtige wie komplexe, den ganzen Menschen involvierende und transformierende Tätigkeit, die der Person, den Gedanken und den Werken des «Nachfolgers» sowie denen des Vorbilds einen Sinn und einen Wert gibt; zum anderen wird ihm die Problemhaftigkeit dieser imitatio!sequela auctorum gerade auch - wiewohl nicht ausschließlich - durch die intensive Rezeption der auctores sowie im Zuge der gerade von ihm mit Nachdruck propagierten Valorisierung ihrer Schriften bewußt 152 . Die Zeit, in der Petrarca die Frage der imitatio auctorum theoretisch reflektiert, ist bereits von einer Tendenz geprägt, diese imitatio nicht mehr nur als ein geläufiges und gänzlich unproblematisches «formulierungstechnisches» Verfahren zu begreifen und darzustellen, sondern als eine sehr wichtige sinn- und wertgebende Tätigkeit, die das Herzstück des literarischen Schaffensprozesses und der Autorenkonstitution bildet, und über die sich die Haltung «modernen) Autoren gegenüber ihren Vorgängern und Vorbildern (neu) definiert. Und Petrarca ist der erste «maggiore» - und ein in seiner Zeit hochgeschätzter und einflußreicher Gelehrter 153 - , der zum einen diese Tendenz mit besonderer Konsequenz unterstützt und propagiert, zum anderen ihre Implikationen und Konsequenzen explizit problematisiert und theoretisch reflektiert - sowie teilweise neu formuliert. Sein Umgang mit der imitaί/'o-Problematik läßt sich dabei insgesamt nicht durch die Schlüsselwörter «Vermittlung» oder gar «Versöhnung» von christlichen und klassisch-römischen Werten und Begriffen charakterisieren, sondern erweist sich im Gegenteil - gerade im Vergleich zu Dantes sequela-OaisteXlung in der Commedia - als in hohem Maße polarisierend und differenzierend. Durch seine theoretische Reflexion der i'm/7a/io-Problematik trägt Petrarca einerseits dazu bei, die Frage der imitatio auctorum noch stärker in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken, andererseits leistet er einen sehr wichtigen frühen Beitrag zur Etablierung des theoretischen (begrifflichen und argumentativen) Rahmens, innerhalb dessen die zunehmend an Wichtigkeit gewinnende wm/arto-Problematik später reflektiert und diskutiert wird 154 .
152
153 154
Dieses Erklärungsmodell ermöglicht es - wie jedes andere - , einen Ausschnitt eines sehr komplexen, in seiner Ganzheit hier nicht erfaßbaren Zusammenhangs zu identifizieren und zu betrachten. Es soll die bestehenden Interpretationsansätze modifizierend ergänzen, nicht schlichtweg ersetzen. Cf. etwa Kristeller 1976, 261-281. Cf. ferner Gerosa 1966, 225-245. Daß Petrarcas Einfluß in dieser Hinsicht sich keineswegs als ungetrübte, lineare Überlieferung und Rezeption seiner Werke vollzieht, braucht kaum betont zu werden. Bereits ein flüchtiger Blick auf die Überlieferung und Rezeption der Familiarium rerum libri (cf. et107
Im folgenden soll gezeigt werden, 1.) daß Petrarcas Äußerungen über die imitatio auctorum im allgemeinen und über die Nachahmung Ciceros im besonderen nicht nur unter Rückbezug auf die Schriften der (heidnischen und christlichen) auctores formuliert sind, sondern insbesondere auch vor dem Hintergrund der Bedeutung, welche die imitatio von ethischen und rhetorisch-poetischen Vorbildern bereits im Laufe des 13./14. Jahrhunderts einnimmt. 2.) daß das Lebens- und Glaubensideal der imitatio Christi eine sehr wichtige Referenzgröße darstellt, in bezug zu der Petrarca die Problematik reflektiert. Dazu wird zunächst auf Petrarcas Behandlung des Themas der «Nachfolge» bzw. «Nachahmung» von ethischen Vorbildern 155 in De vita solitaria und in De otio religiöse eingegangen, anschließend auf seine Reflexion über die imitatio auctorum und über die Nachahmung von Ciceros Werken in den Familiarium rerum libri. Diese sind zwar nicht die einzigen Werke, in denen Petrarca sich zur ;>w/ta/io-Problematik äußert, ihre vergleichende Betrachtung erlaubt es aber, den begrifflichen, argumentativen und thematischen Rahmen repräsentativ herauszuarbeiten, innerhalb dessen er diese Problematik reflektiert und diskutiert. Bevor auf diese Werke eingegangen wird, ist es allerdings noch notwendig, einige grundsätzliche Bemerkungen über ihre Entstehung und Gestaltung sowie über den Stellenwert der imitatio-Problematik zu formulieren. Dabei ist vor allem auch auf die allgemeine, für jede Petrarca-Interpretation zentrale Frage nach dem Modus und nach den Funktionen von Petrarcas Selbstdarstellung einzugehen.
4.3.1.
Zur Entstehung und Gestaltung des De vita solitaria, des De otio religiöse und der Famiiiares sowie zum Stellenwert der wM/taf/o-Problematik
De vita solitaria156 wird 1346 begonnen und in den nachfolgenden Jahrzehnten mehrfach überarbeitet bzw. ergänzt. 1366 überreicht Petrarca dem Adressaten Philippe de Cabassole, Bischof von Cavaillon, ein Manuskript des Werks 157 , arbeitet jedoch weiter an dem Text und fügt noch 1371 den sogenannten «supplemento
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156
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wa Billanovich 1947, Kp. III: Da Padova all'Europa, 297sqq.) genügt, um einen solchen Trugschluß zu verhindern. Für eine sehr knappe, aber nicht undifferenzierte Beschreibung der (christlichen) Ethik im Hoch- und Spätmittelalter cf. den Artikel «Ethik» in LexMA 4, 54-56, in dem auf die wichtigsten allgemeinen Publikationen verwiesen wird, und den Artikel «Ethik» von Dinzelbacher im Sachwörterbuch der Mediävistik, ebenfalls mit nützlichen Literaturhinweisen. Zitiert wird aus der UTET-Ausgabe von 1975, welche die Martellotti-Edition reproduziert. Zusätzlich wird auf die von K. Enenkel herausgegebene und mit einem ideengeschichtlichen Kommentar versehene kritische Edition des ersten Buches zurückgegriffen (Enenkel 1990, cf. aber infra die Anmerkung 187). Zum De vita solitaria cf. neben Enenkel 1990 und der Einleitung von Martellotti zur Ausgabe von 1955 etwa Castelli 1969, 349-368 und Schalk 1975, 257-268 sowie Gerosa 1966. Wichtig ist femer Voci 1983. Weitere Literatur in Fucilla 1982, 214sq. Cf. etwa die erste Anmerkung zum dedikatorischen Vorwort in De vita solitaria, 262. 108
romualdiano» hinzu. Nicht ganz so lange währt die Arbeit an De otio religiöse158 die er 1347 aufnimmt und zehn Jahre später beendet. Zwischen De vita solitaria und De otio religiose besteht bekanntlich ein enger thematischer, argumentativer und begrifflicher Zusammenhang. Im Mittelpunkt beider Traktate steht die Frage nach der vita activa und contemplativa, eine ebenso traditionsreiche wie wichtige moralphilosophische Thematik, die Petrarca in seinem Werk häufig behandelt159 und die - wie die Moralphilosophie überhaupt - eine hohe Bedeutung filr seine Selbstsituierung hat. Die philosophia moralis und die poetica sind nach eigenem Bekunden die zwei Hauptaufgaben des Autors Petrarca. «Ad moralem praecipue philosophiam et ad poeticam prono»160, charakterisiert er sich selbst in Posteritati und wird auch von den Zeitgenossen, laut Kristeller, vor allem als Moralphilosoph verstanden161. Die programmatische moralphilosophische Selbstsituierung geht bei Petrarca mit einer ausführlichen, lebendig ausgestalteten narrativen Selbstdarstellung einher, bei der «Franciscus» das eigene (vergangene und gegenwärtige) Verhalten und die eigene Haltung gegenüber dem jeweils theoretisch erörterten Thema beschreibt und bewertet162. Als repräsentatives Beispiel sei hier der Schluß des De otio religiöse betrachtet 163 , in dem die fratres aufgefordert werden, eine vita contemplativa als Lebensform zu wählen, in deren Mittelpunkt vor allem die intensive lectio und meditatio der Heiligen Schriften steht. Diese Aufforderung wird begründet und veranschaulicht durch eine zweifache narrative Sequenz, in der Petrarcas argumentierendes/erzählendes Ich das eigene (frühere und gegenwärtige) Verhalten und die eigene (frühere und gegenwärtige) Haltung als exemplumx(A vorführt, um daraus zwei Lehren (eine ex negative, eine ex positive) zu gewinnen. 158
159
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163
164
Zitiert wird aus der auf der Rotondi-Edition basierenden UTET-Ausgabe von 1975. Dort ist auch die wichtigste Literatur bis 1975 zur Entstehungs- und Editionsgeschichte des De vita solitaria und des De otio religiöse verzeichnet (cf. Petrarca: Opere, Ed. UTET, 31 und 33sq. Cf. ferner die Bibliographie in Enenkel 1990, 635-654 und insbesondere die weiterführende Literatur zum otium-negotium- bzw. zum vita-activa-vita-contemplativaProblem ab Seite 649). Zum De otio religiöse und zu Petrarcas Ideal eines religiösen Lebens cf. (neben Enenkel 1990) Cochin 1903; Calcaterra 1942, 375-388; Heitmann 1958; Trinkaus 1964; Gerosa 1966; sowie insbesondere Voci 1983, 93-110. Weitere Literaturhinweise in Fucilla 1982, 215sq. Zum Beispiel in Buch IV der Invectiva contra medicum, in Buch I der Rerum memorandarum libri, im Secretum und in De remediis utriusque fortunae (cf. Enenkel 1990, XIX). Posteritati, 14. Cf. Kristeller 1976, 261-281. Zu Petrarca als Philosoph cf. insbesondere Kamp 1989. Daß diese Verknüpfung von moralphilosophischer Erörterung und narrativer Selbstdarstellung vor allem im Zeichen von Augustinus' Confessiones steht, braucht kaum betont zu werden. Zu Petrarca und Augustinus cf. etwa Iliescu 1962 und Gerosa 1966 (mit Behandlung des De vita solitaria und des De otio religiöse im neunten Kapitel, 137-155), weitere Untersuchungen sind in Fucilla 1982 erwähnt. Zur Bedeutung von Augustinus im Humanismus cf. hier infra die Anmerkung 261. De otio religiöse, 800sqq. Auf diesen passus wird im folgenden ausführlicher zurückzukommen sein. Diese zweiteilige Passage darf insofern als exemplum bezeichnet werden, als es sich um eine kurze, relativ autonome narrative Sequenz handelt, die einen moralischen Lehrsatz
109
Die Aufforderung, so viel Zeit wie möglich mit der intensiven Lektüre der scripturae sacrae zu verbringen, wird zuerst durch die folgende Aussage begründet: Denn von allen Schriften ist diese [die Heilige Schrift, D.R.] zweifellos die Königin. Mögen die Neider erblassen, die Überheblichen vor Zorn erröten und taube Ohren diese Wahrheit nicht hören: Immer wenn wir allgemein ut Ieronimus ait (unumquodque propositum principes suos: Romaiii principes imitentur Camillos, Fabritios, Regulos, Scipiones; phi124
D i e Bedingungen und Einschränkungen, die bei der imitatio
der heidnischen
aucto-
res beachtet werden müssen, sind in Petrarcas Darstellung durch eine genaue B e trachtung und Bewertung dieser auctores
festzulegen. Und diese Bewertung steht
durchaus nicht nur den christlichen auctoritates,
sondern auch dem christlichen
«Nachfolger» selbst zu, und zwar in dem Maße, in dem er über den «wahren» Maßstab verfügt, u m «gut und richtig» zu urteilen: Christus 2 2 0 . Dieser Aspekt der Urteilsfreiheit wird v o n Petrarcas io argomentativo tont. Ein zentraler Argumentationsstrang des De otio religiöse
sehr be-
besteht darin zu zei-
gen, daß jene, die ein klösterliches solitäres Leben wählen und dem Herrn in der vollkommensten W e i s e als imitatores
Christi «dienen», durch diese humilis
servitu-
de «frei» v o n der Sünde und v o m Irrtum werden. Zu dieser «Freiheit» fordert Petrarcas argumentierendes Ich die fratres in De otio religiöse
wiederholt auf:
[...] liber esto; quid vano terrore, quid humili Servitute deiceris? Respondebit primum ore mosaico, deinde autem per seipsam viva Veritas ut (Dominum tuum adores et illi soli servias> [...] 2 2 1 Komplementär dazu wird in De vita solitaria
eindringlich beschrieben, daß jene, die
( w i e z u m Beispiel die nachahmungssüchtigen occupati)
einem anderen, unvollkom-
m e n e n oder gar verwerflichen Vorbild uneingeschränkt und bedingungslos «nachfolgen», sich zu Sklaven des Irrtums und zu Dienern betrügerischer Anführer machen: Fallit eos [occupatos, D.R.] dux eorum, sive is philosophus, sive consultor quispiam, sive sua cuiusque spes opinioque insita. 2 2 2
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losophi pronant sibi Pithagoram, Socratem, Platonem, Aristotilem; poete emulentur Homerum, Virgilium, Menandrum, Terrentium; historici Tuchididem, Salustium, Herodotum, Livium; oratores Lisiam, Graccos, Demosthenem, Tullium et, ut ad nostra veniamus, epyscopi et presbiteri habeant in exemplum apostolos [...]. Nos autem habemus propositi nostri principes Paulum, Antonium, Iulianum, Hilarionem, Macharium et ut ad veritatem Scripturarum redeamus noster princeps Helias, noster Heliseus, nostri duces filii prophetarurm; equidem fratres, hi sunt vestri duces, qui Ieronimi duces erant.» Petrarca zitiert aus der Epistel LVIII, 5. «Dux» wurde explikativ mit (Anführer und Vorbild) übersetzt, da das deutsche Wort «Führen) ungeeignet ist, um die Bedeutung des von Petrarca mit Hieronymus' Worten verwendeten Begriffs wiederzugeben. De otio religiöse, 806: «Ita, inquam, absorti [sie] ut in comparationem petre, per quam Christus intelligi solere novimus, nil prorsus appareant, qui per se modo maximi videbantur.» Cf. Augustinus: Enarrationes in Psalmos, CXL, 19 (zu Vers 6), insbesondere: «Adiunge illos petrae, compara auetoritatem illorum auetoritati euangelicae, compare inflates crucifixo. Dicamus eis: Vos litteras uestras conscripsistis in cordibus superborum; ille [Christus, D.R.] crucem suam fixit in cordibus regum.» Zu Christus als «petra comparationis», also als Maßstab, an dem alles Menschliche zu messen ist, cf. ferner De otio religiose, 738: «Venienti [luxuriae, D.R.] igitur resistendum, occurrendum prineipiis et illud ante oculos habendum: (Beatus qui tenebit et allidet parvulos suos ad petram>, siquidem parvulos novos et modo natos cogitatus intelligimus, quos antequam crescant et nos superent et usu armati nos de rationis arce deiciant allidere monemur ad petram: (petra autem erat Christus).» Cf. ferner den Brief XVII 1 in den Famiiiares. De otio religiöse, 676. Cf. ferner ibid., 572 oder 749: «[...] corpus obediens, liberam animam habere, imo regnantem, sic enim Deo serviens dici debet.» De vita solitaria, 575. 125
Aus dieser Argumentation wird die Pflicht und das Recht abgeleitet, jedes Vorbild zuerst mit dem einzig richtigen und wahren Maßstab zu messen und zu beurteilen, und dann zu entscheiden, ob Uberhaupt, in welcher Weise und unter welchen Bedingungen es nachzuahmen sei. Im Kontext der Zeit betrachtet ist diese Position gewiß nicht überraschend. Sie hat jedoch innerhalb von Petrarcas Argumentation insofern interessante Implikationen und Konsequenzen, als sie die Grundlage filr eine spezifische, eigene moralphilosophische und rhetorisch-poetologische Bewertung der heidnischen auctores bildet. Dies zeigt sich durch eine Betrachtung des bereits kurz behandelten Schlusses des De otio religiöse, in dem alle zentralen Inhalte der Argumentation Petrarcas und seiner moralphilosophischen Position exemplarisch zusammengefaßt werden 223 . In der zweigliedrigen narrativen Schlußsequenz des De otio religiöse stellt Petrarcas argumentierendes Ich - darauf wurde bereits hingewiesen - zuerst dar, wie es als junger occupatus lebte: Unter der Anleitung von «schlechten» Lehrern (d.h.: von zeitgenössischen occupati), in grenzenloser, liebevoller Hingabe an falsche Vorbilder (d.h.: an die heidnischen auctores) und unter vollkommener Nichtbeachtung der Heiligen Schriften habe «Franciscus» seine jungen Jahre im Irrtum verbracht. Er habe den moralphilosophischen und rhetorisch-poetischen Wert der Heiligen Schriften absolut verkannt und sich weder in Sachen der Lebensweise danach gerichtet noch ihre «grauenvoll unkultivierte»224 Sprache als vorbildlich betrachtet. Erst als älterer Mensch sei er jenem Lehrer und Vorbild begegnet, unter dessen Leitung er - erst zögerlich, dann immer leidenschaftlicher - den richtigen Weg eingeschlagen habe: Augustinus. In der «Nachfolge» dieses Vorbilds habe er nach und nach alle anderen christlichen auctoritates kennen- und liebengelernt und unter ihrer Führung die wahren und richtigen Maßstäbe erworben, um den moralphilosophischen und rhetorisch-poetischen Wert der christlichen und heidnischen Schriften beurteilen zu können. Das Ergebnis dieser Bewertung faßt Petrarcas io argomentativo dann folgendermaßen zusammen: Die Heilige Schrift sei zwar den Werken der klassischen auctores in Sachen des ornatus unterlegen225, aber ihre glanzlose Schönheit sei dennoch größer, da sie auf der viva Veritas Christi beruhe 226 . Zur Untermauerung dieser These zieht er dann zwei auctoritates - eine biblische und eine heidnische - heran und führt exemplarisch vor, wie auf die Aussagen solcher auctoritates zurückzugreifen sei: Auf die heidnische mit modifizierenden Ergänzungen, auf die biblische dagegen ohne jegliche Einschränkung oder Veränderung, jedoch unter Rekurs auf eine autoritative christliche Deutungsinstanz (Augustinus). Zum einen sage Cicero, daß es keine vollkommene eloquentia ohne doctrina geben könne, und da die einzig wahre
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Cf. die in 4.3.1., Zur Entstehung und Gestaltung... bereits betrachtete Passage De otio religiose, 802sqq. Cf. De otio religiöse, 802. Dies ist von entscheidender Wichtigkeit für die Famiiiares. De otio religiose, 806: «[...] sive forsitan ornatus exigitur, et quamvis multa de hoc dici possunt, hec tarnen omnium summa est, quasdam forte superficietenus comptiores [quam scripturas sacras, D.R.], pulcriorem nullam.» Man beachte besonders das «quamvis multa de hoc dici possunt».
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doctrina die christliche sei, könne rhetorische Perfektion nur auf ihrer Grundlage erreicht werden 227 . Zum anderen stehe im Psalm 140 geschrieben, daß Christus der «wahre» Maßstab sei, an dem alles Menschliche gemessen werden müsse, und die Beredsamkeit der antiken Autoren zeige, an diesem Maßstab gemessen, ihre Grenzen 228 . So gipfelt das exemplum, in dem die Kemaussagen der Traktate De vita solitaria und De otio religiöse veranschaulicht werden, in einer moralphilosophischen und rhetorisch-poetischen Bewertung der christlichen und der heidnischen Schriften. Diese Bewertung bildet nicht zufällig den argumentativen (und narrativ-exemplarischen) Abschluß des De otio religiöse, sondern sie ist ein zentrales, vielleicht sogar das wichtigste Ergebnis der in diesem Traktat und in De vita solitaria formulierten moralphilosophischen Position. Diese Position wird nicht nur in Auseinandersetzung mit den christlichen und heidnischen auctoritates formuliert, sondern vor allem auch mit dem für Petrarcas Zeiten typischen Verständnis der imitatio Christi. Gegenüber diesem Verständnis weist sie vor allem einen entscheidenden qualitativen Unterschied auf: Nach der seit dem 12. Jahrhundert vorherrschenden Überzeugung erhalten das Leben, die opera und die operae des «Nachfolgers/Nachahmers» Christi in der und durch die imitatio Christi sowie durch die imitatio imitatorum Christi vor Gott einen Sinn und einen Wert. In Petrarcas Darstellung erlangt der «Nachfolger/Nachahmer» durch eine sequela! imitatio Christi, in deren Mittelpunkt vor allem auch die lectio steht, selbst die Fähigkeit (und die Befähigung), den wahren Wert der heidnischen und christlichen auctores sowie der Heiligen Schrift zu erkennen und für sich zu bestimmen, um sich fortan danach zu richten. Und das Erkennen des «wahren Wertes» der christlichen auctoritates und Vorbilder erfolgt laut Petrarcas Argumentation weder (wie bei Dante) als Schauung, noch (wie bei Christine de Pizan) durch Eingliederung in die Kette der translatio studii, sondern als theoretisch-argumentative moralphilosophische und rhetorisch-poetologische Betrachtung und Bewertung. Der «Nachfolgen) ist in Petrarcas Argumentation nicht nur ein Schauender und ein Erkennender, sondern vor allem auch selbst ein «frei Urteilenden) 229 . Dies bedeutet freilich nicht, daß etwa Gott durch den Menschen ersetzt oder das christliche Wertesystem subvertiert würde. Diese Position gründet vielmehr auf einem unerschütterlich festen theologisch-philosophischen Fundament: Christus, der «viva veritas», dem Menschensohn, dessen Leben, Worte und Taten nicht beurteilt werden können noch dürfen, sondern den Maßstab für die Bewertung alles Menschlichen darstellen. In De vita solitaria und in De otio religioso stützt sich Petrarcas Ich auf das zeitgenössisch vorherrschende Verständnis der imitatio Christi, um das von ihm formulierte Ideal der vita solitaria aufzuwerten: In Petrarcas Argumentation wird die vita
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Cf. ibid. Cf. ibid., 806. Petrarca übernimmt hier die explicatio des Augustinus. Um die Unterschiede zwischen den Positionen Dantes und Petrarcas in bezug auf die Bedeutung des Aspekts der Urteilsfreiheit flir die je^ue/a-Thematik herauszuarbeiten, wäre m.E. ein den theologischen Kontext der Zeit berücksichtigender eingehender Vergleich zwischen der Schlußsequenz des De otio religioso und Purg. XXVII, insbesondere 127sqq. sehr profitabel.
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solitaria zunächst valorisiert, indem sie als die - für die Gelehrten - in der Gegenwart einzig richtige Form von Nachahmung Christi dargestellt wird. Diese Nachahmung Christi, so wird dann spezifiziert, vollzieht sich insbesondere als ethische Nachahmung der auctores, als ethische imitatio auctorum. Diese auctores sind aber - auch dies wird wiederholt deutlich gemacht - nicht alle in gleicher Weise und in gleichem Maße vorbildhaft, sondern müssen nach ihrer Art und nach dem Grad ihrer Vollkommenheit bewertet und entsprechend imitiert werden. Der höchste, der absolute Maßstab, an dem sie zu messen sind, ist Christus. Dadurch, daß der solitarius sich in die «Nachfolge» der vorbildhaftesten christlichen solitarii (und insbesondere von auctores wie Augustinus, Hieronymus usw.) begibt, erkennt er dies und lernt, alles mit den «wahren» und «richtigen» Maßstäben zu messen. Diese Fähigkeit darf und muß er dann bei der «Nachahmimg» der auctores einsetzen. In dem Maße, in dem er über die «wahren» Maßstäbe verfügt, um menschliche Vorbilder zu bewerten, muß er diese ansetzen. Er muß bewerten, beurteilen und die Bedingungen festlegen, unter denen er einem jeden menschlichen Vorbild, einem jeden auctor «folgt». Daß Petrarca diese Position insbesondere auch vor dem Hintergrund der antiken und christlichen Ethik formuliert, darf nicht ignoriert werden. Ebensowenig darf aber verkannt werden, daß er damit auch eine in seiner Zeit und vor allem auch bei ihm selbst vorherrschende Tendenz reflektiert und problematisiert, nicht nur Christus, sondern auch andere menschliche auctoritates und Vorbilder als Träger und Vermittler einer idealen Wahrheit und Perfektion zu betrachten, der man sich durch die möglichst umfassende und uneingeschränkte «Nachfolge/Nachahmung» ihres Lebens, ihrer Tugenden, ihrer Denkweise, ihrer operae und opera annähern soll. 4.3.3.
Imitatio auctorum und Nachahmung Ciceros in den Famiiiares
Zur Frage der moralphilosophischen und rhetorisch-poetischen Bedingungen, unter denen die auctores gelesen, beurteilt und imitiert werden sollen, formuliert Petrarca in den Familiarium rerum libri detaillierte Stellungnahmen. Dabei prüft und entwirft er ein breites Spektrum von allgemeineren und spezifischeren Lösungsmöglichkeiten, die er ständig variiert, modifiziert, relativiert oder korrigiert. Wie bereits betont, besteht zwischen Petrarcas Umgang mit der imitatio-Problematik in den hier betrachteten moralphilosophischen Traktaten und in den Famiiiares keine einfache Beziehung, sondern ein äußerst komplexes Spannungsverhältnis, das in einer eigens diesem Thema gewidmeten Untersuchung herauszuarbeiten wäre. Aus diesen Gründen soll im folgenden - wie bereits erwähnt - nicht versucht werden, das von Petrarca in den Famiiiares formulierte imitatio-Verständnis global zu erfassen. Ziel der folgenden Darstellung ist es vielmehr, durch die Analyse von ausgewählten Textstellen zu zeigen, daß sich seine Reflexion über die imitatio auctorum vor dem Hintergrund der Traktate De vita solitaria und De otio religiöse besser verstehen läßt. Im Mittelpunkt dieser Reflexion stehen insbesondere zwei auctores: Vergil für die epische Dichtung und Cicero für die Prosa 230 . Vor allem Cicero wird innerhalb 230 Cf. insbesondere Fam. XXII 10. 128
der Famiiiares eine besondere Rolle als auctor und Vorbild eingeräumt 231 . Programmatisch ist in dieser Hinsicht die bereits zitierte, sehr bekannte Passage aus dem einleitenden Brief der Sammlung, in der Petrarcas argumentierendes Ich unterstreicht, es sei bei der Gestaltung seiner Sammlung eher dem Modell von Ciceros Briefen als dem von Senecas Ad Lucilium gefolgt 2 3 2 . Cicero ist zudem in den Familiar es geradezu omnipräsent. Selbst eine kursorische Durchsicht des Werks läßt deutlich erkennen, wie wenige Briefe keinen größeren oder kleineren Verweis auf den Arpinaten enthalten. Die zahlreichen in die Sammlung eingewebten Zitate, Anspielungen und Äußerungen über «Tullius» und seine Schriften bieten ein detailreiches Bild von Petrarcas Umgang mit Cicero als Vorbild und auctor. Zugleich wird die allgemeine Frage nach der richtigen Haltung gegenüber den heidnischen auctores insbesondere in den letzten Büchern der Sammlung häufig als Frage nach den Bedingungen, Verfahrensweisen und Zielen einer richtigen imitatio ciceroniana gestellt und beantwortet. Somit erhält Cicero in den Famiiiares in jeder Hinsicht eine zentrale exemplarische Bedeutung. Aus diesem Grund sollen im folgenden die Stellungnahmen zur Frage der imitatio ciceroniana mit besonderer Aufmerksamkeit betrachtet werden.
4.3.3.1. «Unicuique suum»: Die Wahl der Vorbilder Das auf der viva Veritas Christi gründende Recht und die Pflicht des christlichen «Nachfolgers/Nachahmers», jedes Vorbild (außer Christus) zu prüfen, zu bewerten und die Bedingungen festzulegen, unter denen es nachzuahmen sei, wird in den Famiiiares zum Grundprinzip der imitatio auctorum schlechthin erhoben: Ich folge dem von den Vorgängern gezeigten Pfad, aber es ist nicht immer gut für mich, in ihren Fußstapfen zu wandeln. Ich möchte - zur rechten Zeit - auf ihre Schriften nicht wie ein Dieb, sondern bittweise zurückgreifen. Wo es erlaubt ist, ziehe ich allerdings meine eigenen vor. Nicht die Gleichheit gefällt mir, sondern die Ähnlichkeit, und zwar eine nicht zu starke Ähnlichkeit, die das Licht des Nachahmers erstrahlen läßt, nicht seine Blindheit oder seine Armseligkeit zeigt. Ich möchte lieber einen Führer entbehren müssen, als gezwungen sein, einem Führer in allem zu folgen. Ich will keinen Führer, der mich bezwingt, sondern einen, der mir vorausläuft. Nicht nur einen Führer, sondern auch meine eigenen Augen, mein Urteil, meine Freiheit möchte ich. Man verbiete mir nicht, den Fuß dorthin zu setzen, wo ich will, von betretenen Gebieten auch mal zu lassen und mich in unbetretenes Land zu wagen. Man erlaube mir, wenn mir der Sinn danach steht, Abkürzungen zu nehmen, einen ebneren Weg zu wählen, mich zu beeilen, anzuhalten, Umwege zu machen und zurückzulaufen. 233
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Zur Rolle Ciceros im Werk Petrarcas und zu Petrarcas Stellung als «Vater» des humanistischen Ciceronianismus cf. etwa Sabbadini 1885, 5-12 (referiert werden hier auch die Urteile von Zeitgenossen und Nachfolgern über Petrarcas Stil) sowie Nolhac 1907 I, 213— 268; Gmelin 1932, 98-172 (wie im Forschungsbericht dieser Arbeit besprochen); Ulivi 1959, 11; Gerosa 1966, 278-316 und Fumaroli 1980, 78-81 (beide mit weiterführenden Literaturhinweisen. Weitere Literatur in Fucilla 1982). Cf. hier supra die Anmerkung 182. Fam. XXII 2, 20sq.: «Sum quem priorum semitam, sed non semper aliena vestigia sequi iuvet; sum qui aliorum scriptis non furtim sed precario uti velim in tempore, sed dum li129
Diese Position wird an vielen Stellen der Famiiiares sowohl affirmativ als auch ex negatione untermauert. Die Notwendigkeit einer umfassenden und uneingeschränkten imitatio Christi - sowie einer «Nachfolge/Nachahmung» der vorbildhaftesten imitatores Christi - wird insbesondere in den Briefen an den Bruder Gerardo, zugleich Adressat des De otio religioso, wiederholt hervorgehoben234. Ex negatione werden in detailreich ausgestalteten, exempelhaftigen narrativen Sequenzen die verheerenden Folgen einer maß- und grenzenlosen, umfassenden und uneingeschränkten «Nachfolge/Nachahmung» der Schreib-, Denk- und Lebensweise eines oder mehrerer (vor allem heidnischer) auctores geschildert. 4.3.3.2. Affen und Götzen: Petrarcas Darstellung einer «falschen» sequela!imitatio auctorum Noch deutlicher und ausführlicher als in De vita solitaria und in De otio religioso argumentiert Petrarcas Ich in den Famiiiares gegen eine als totale und totalisierende Hingabe gestaltete Art von «Nachfolge/Nachahmung» der heidnischen auctores, bei der das Vorbild als Verkörperung einer absoluten Perfektion betrachtet wird und deren Ziel es ist, sich möglichst umfassend und uneingeschränkt seine Denkweise anzueignen, seine Worte, Taten und virtutes nachzuerleben, nachzuempfinden und - in welcher Weise auch immer - nachzugestalten. In ausführlichen Passagen reflektiert Petrarcas argumentierendes Ich die Frage, was geschieht, wenn eine solche «Nachfolge/Nachahmung» gegenüber einem heid-
ceat, meis malim; sum quem similitude delectet, non identitas, et similitude ipsa quoque non nimia, in qua sequacis lux ingenii emineat, non cecitas non paupertas; sum qui satius rear duce caruisse quam cogi per omnia ducem sequi. Nolo ducem qui me vinciat sed procedat; sint cum duce oculi, sit iudicium, sit libertas; non prohibear ubi velim pedem ponere et preterire aliqua et inaccessa tentare; et breviorem sive ita fert animus, planiorem callem sequi et properare et subsistere et divertere liceat et reverti.» Im übrigen ist folgendes anzumerken: Genau das, was in dieser Passage als Bedingung für eine «gute und richtige» rhetorisch-poetische Nachahmung beschrieben wird - das heißt: «[...] von betretenen Gebieten auch mal zu lassen und [sich] [...] in unbetretenes Land zu wagen [...] Abkürzungen zu nehmen, einen ebneren Weg zu wählen, [sich] [...] zu beeilen, anzuhalten, Umwege zu machen und zurückzulaufen.» - genau das ist Petrarcas bei der Besteigung des Mont Ventoux (Fam. IV 1). Am Ventoux weigert sich «Franciscus», seinem Bruder Gerardo (dem Adressaten des De otio religioso) zu (folgen» und sucht eine anderen, (ebneren), besseren Weg. Das Ergebnis ist ein ständiges «rovinare in basso loco», das ihn fast um das Erreichen des (Gipfels) bringt. In diesem Zusammenhang - und unter Berücksichtigung der engen Verbindung von moralphilosophischer Reflexion und narrativer Selbstdarstellung in den Famiiiares sowie vor allem der Bedeutung der seque/a-Bildlichkeit - wäre auch die Besteigung des Mont Ventoux noch einmal zu lesen. Am Beispiel dieser Stelle könnte das sehr komplexe Spannungsverhältnis, das in Petrarcas Darstellungen zwischen ethischer und rhetorischer imitatio geschaffen wird, mit Gewinn vertiefend analysiert werden. 234 Man denke zum Beispiel an den Brief Fam. X 3, der zahlreiche thematische und argumentative Verweise auf das De otio religioso und insbesondere auf die sequela Christi bzw. auf die sequela sequacium Christi enthält (cf. Fam. X 3, 54—59 und De otio religioso, 802sqq.). Sehr wichtig ist auch der Brief XVII 1 an Gerardo, in dem Christus als optimus magister der vera philosophia und der vera lex dargestellt wird.
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nischen auctor - zum Beispiel Cicero, Vergil oder Aristoteles - konsequent praktiziert wird, und antwortet: Wenn diese Art von sequela!imitatio auf einen heidnischen auctor angewendet wird, dann führt sie nicht zur Perfektion, sondern im Gegenteil zu einer absoluten (rhetorisch-poetischen und ethischen) Verschmelzung mit dem unvollkommenen Vorbild, deren Folgen für den imitator in jeder Hinsicht verheerend sind. Um zu zeigen, daß eine solche imitatio zwangsläufig dazu fuhrt, ein schlechter Dichter, ein schlechter Christ und ein schlechter Mensch zu werden, argumentiert Petrarcas textuelles Ich zum Beispiel in Famiiiares XXIII 19: Wer Vergil so imitiert, daß keine Differenz zwischen dem, was er schreibt, und dem vom Vorbild Geschriebenen spürbar ist, werde zum Affen und nicht zum Dichter235. Die gleiche similitude wird in De vita solitaria verwendet, um die maß- und grenzenlos imitierenden occupati als «non verborum modo, sed rerum simias»236 von verwerflichen Vorbildern zu geißeln. Die Kraft dieser Aussage wird nicht klar, wenn man sie einfach nur als Verwendung eines Topos bezeichnet, welcher im 12.-14. Jahrhundert mal neutral, mal negativ verwendet wird237. Das Affengleichnis ist zwar ein Topos, doch einer, der im Kontext der hier zu betrachtenden Zeit und Argumentation auf den Kern der se^ue/a/im/tai/o-Problematik in sinnlich bildhafter Form zielt: Wer so «nachfolgt/imitiert», daß er «zum Affen wird», der verkehrt die wichtigste Bedeutung der «Nachfolge/Nachahmung» als sinn- und wertgebende Tätigkeit par excellence, durch die der ad imaginem Dei geschaffene Mensch seine Wesensbestimmung erst erfüllt, der Getaufte zum wahren Christ und der Schreiber zum wirklichen Dichter wird, ins gerade Gegenteil. Ein weiteres Beispiel: In Famiiiares XXIV 2 wird von einem Gesprächsabend unter befreundeten Gelehrten erzählt, bei dem Cicero das Hauptthema gewesen sei. Dabei habe man zunächst einen Lobgesang auf den auctor angestimmt. Da jedoch nichts Menschliches vollkommen ist, und es keinen Menschen gibt, an dem selbst der mildeste Kritiker nicht etwas auszusetzen fände, so geschah es, daß ich [Petrarca, D.R.] Cicero wie einen von mir über alles geliebten und verehrten Freund zwar in beinahe allem lobte und vor allem wegen seiner Beredsamkeit und seiner geistigen Fähigkeiten bewunderte, ihn aber auch ob seiner - mir aus vielen Indizien bekannten Charakterschwäche und Unbeständigkeit tadelte. 238
Diese neue, ungewöhnliche Art, über Cicero zu reden, habe alle Anwesenden überrascht. Um seine These zu untermauern, so der Bericht weiter, habe «Petrarca» seine Famiiiares (nota bene) und vor allem die fiktiven Briefe an die antiken Autoren hervorgeholt. Diese seien vorgelesen worden, und aus der Lektüre habe sich neuer Stoff für den freundschaftlichen Disput ergeben. Dabei hätten ihm einige der Anwesenden Recht gegeben und seine Ausführungen gelobt. Ein älterer Mann jedoch sei
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Fam. XXIII 19, 11-13. De vita solitaria, 364. Cf. etwa Curtius 1948, 21 lsq. Über eine Variante des Affentopos («ars simia naturae») cf. femer Dragonetti 1978, 149-160. Fam. XXIV 2, 4. 131
darüber in helle Aufregung geraten. Gegenargumente habe er nicht hervorbringen können, aber er sei jeder Kritik mit einem Aufschrei begegnet: Mit ausgestreckter Hand rief jener [der alte Mann, D.R.]: