Imitatio et tractatio: Die literarisch-theoretischen Grundlagen der Nachahmung in Antike und Mittelalter [Reprint 2011 ed.] 9783110948165, 9783484680074


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German Pages 390 [392] Year 1994

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Table of contents :
Einleitung
1. Vorhaben und Anlage der Arbeit
2. Der Stand der Forschung
I. Imitatio und tractatio
1. Koordinaten und Phasen des literarischen Umsetzungsprozesses
1.1. Die imitatio-Lehre und ihr Geltungsbereich
1.2. Die imitatio als tractatio: Die Umstände der Nachahmung
1.3. Die Erscheinungsebenen der tractatio
2. Die ästhetische Konstellation der literarischen Umsetzung
2.1. Klassik, Manierismus und Imitation
2.2. Zur dialektischen Beschaffenheit des tractatio-Vorgangs
2.3. Allgemeine Bestimmung der varia tractatio
2.4. Bruchstücke einer unklassischen Poetik
II. Antike und mittelalterliche Methoden und Techniken der varia tractatio
0. Allgemeine poetologische Voraussetzungen
1. Die transformationeilen Vorgänge der stofflich-formalen tractatio
1.1. Die adiectio und die detractio: Die Erweiterung und die Konzentration der Vorlage
1.2. Die immutatio und die transmutatio: Die 'Revolutionierung' der Vorlage von innen und außen
1.3. Schlußfolgerungen
2. Die Verfahrensweisen der gedanklich-affektischen tractatio
2.1. Die sophistischen Reversionsprinzipien und ihre Tragweite
2.2. Inventorische und elocutionelle Grundlagen der Reversion
2.3. Zur gedanklichen Reversion in der Historiographie
2.4. Der epideiktische Rahmen der gedanklich-affektischen tractatio
2.5. Ästhetische und didaktische Zweckmäßigkeit der Epideixis
2.6. Schlußfolgerungen
III. Die Didaktik der tractatio im Rahmen der Progymnasmata
1. Zu Eigenart und Standort der Progymnasmata
1.1. Die Beschreibung des Übungssystems
1.2. Die schulmäßige Grundlage der Schriftstellerei
1.3. Zur Entwicklungsgeschichte der Progymnasmata
1.4. Schlußfolgerungen
2. Stofflich-formale und gedanklich-affektische tractatio in den einzelnen Progymnasmata
2.1. Die Gnome und die Chrie
2.2. Die Fabula
2.3. Die Narratio
2.4. Die Ethopoiia
2.5. Die Ekphrasis
2.6. Das Enkomion und die Invektive
2.7. Die Synkrisis. Die Ausarbeitung des schulepideiktischen Vergleichs
2.8. Schlußfolgerungen
Allgemeine Schlußbetrachtung
Quellen und Literaturverzeichnis
1. Abkürzungen
2. Quellen
3. Sekundärliteratur
Register
1. Sachen, Begriffe, Termini
2. Personen und anonyme Werke
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Imitatio et tractatio: Die literarisch-theoretischen Grundlagen der Nachahmung in Antike und Mittelalter [Reprint 2011 ed.]
 9783110948165, 9783484680074

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RHETORIK-FORSCHUNGEN Herausgegeben von Joachim Dyck, Walter Jens und Gert Ueding Band?

Alexandru N. Cizek

Imitatio et tractatio Die literarisch-rhetorischen Grundlagen der Nachahmung in Antike und Mittelalter

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1994

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Cizek, Alexander: Imitatio et tractatio : die literarisch-rhetorischen Grundlagen der Nachahmung in Antike und Mittelalter / Alexandru N. Cizek. - Tübingen : Niemeyer, 1994 (Rhetorik-Forschungen; Bd. 7) Zugl.: Münster (Westfalen), Univ., Habil.-Schr., 1987 NE:GT ISBN 3-484-68007-5

ISSN 0939-6462

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1994 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Weihert-Druck GmbH, Dannstadt Einband: Heinr. Koch, Tübingen

Die ursprüngliche Fassung dieses Buches lag der Philosophischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster als Habilitationsarbeit vor. Ich widme es meinen Freunden, Kollegen und Studenten aus Münster, meinen Freunden und Kollegen aus Köln, Paris, Pau und Tübingen. Sie alle haben mir zu verschiedenen Zeitpunkten bei der Entstehung, Überarbeitung wie auch bei der Druckfertigung und Veröffentlichung dieser Arbeit einen unschätzbaren Beistand geleistet.

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

l

1. 2.

Vorhaben und Anlage der Arbeit Der Stand der Forschung

l 5

I.

Imitatiound tractatio

1. Koordinaten und Phasen des literarischen Umsetzungsprozesses 1.1. Die imitatio-Lehre und ihr Geltungsbereich 1.1.1. Diachronische Übersicht und zeitliche Abgrenzung 1.1.2. Definitorische Aspekte der imitatio 1.2. Die imitatio als tractatio: Die Umstände der Nachahmung 1.2.1. Quos imitemur: Die nachzuahmenden Autoren 1.2.2. Quid imitemur. Zur Beschaffenheit des Nachahmungsgegenstandes 1.2.3. Quomodo imitemur. Rezeptive und produktive Momente der exercitatio 1.2.3.1. Lectio und auditio 1.2.3.2. Die mehrstufige scriptio und der Vorgang der tractatio 1.3. Die Erscheinungsebenen der tractatio 1.3.1. Rhetorische und poetologische Allgemeinbestimmungen l .3.2. Stofflich-formale und gedanklich-affektische Aspekte l .3.3. Die tractatio als Schulübung: Die mehrstufige Ausarbeitung einer Grundform des Diskurses 1.3.4. Die tractatio in der Schriftstellerei. Schlußfolgerungen 2. Die ästhetische Konstellation der literarischen Umsetzung 2.1. Klassik, Manierismus und Imitation 2.1.1. Polarisierung und Zusammenspiel von Klassik und Manierismus 2.1.2. Schulklassische und schulmanieristische tractatio 2.2. Zur dialektischen Beschaffenheit des rrac/afzo-Vorgangs 2.2. l. Die Pole der ars und natura. Ihr Umfeld und Anwendungsgebiet 2.2.2. Das normative Prinzip: Oa&prepon - aptum 2.2.3. Das Prinzip der Freiheit: Die poikilia-varietas

11 11 11 13 17 20 22 32 37 41 44' 50 50 54 55 60 64 64 64 66 69 69 72 75

VII

2.3. Allgemeine Bestimmung der varia tractatio 2.3.1. Die 'unterbietende' varietas 2.3.2. Die 'normale' varietas 2.3.3. Die überbietende varietas 2.3.3.1. Der'emblematische1 Werktyp 2.3.3.2. Der 'zwitterhafte' Werktyp 2.3.3.3. Der 'proteische' Werktyp 2.4. Bruchstücke einer unklassischen Poetik 2.4.1. Zum unklassischen Stil in der Spätantike 2.4.2. Zum neuartigen Schulmanierismus des Mittelalters 2.4.4. Schlußfolgerungen

II.

Antike und mittelalterliche Methoden und Techniken der varia tractatio

0. Allgemeine poetologische Voraussetzungen 1. Die transformationellen Vorgänge der stofflich-formalen tractatio 1.1. Die adiectio und die detractio: Die Erweiterung und die Konzentration der Vorlage 1.1.1. Die Lehre von den acht Verfahren der dilatatio materiae 1.1.1.1. Die interpretatio: Die Lehre von der Synonymen-Häufung

1.1.1.2.

78 81 83 94 97 100 102 107 110 112 116

119 119 122 125 130 131

Die Periphrase: Die Lehre von der Umschreibung

131

Die descriptio: Die Lehre von der Beschreibung Die apostropha und die prosopopoeia: Die Lehre von zwei affektischen Mitteln der dilatatio 1.1.1.5. Die collatio: Die Lehre vom Vergleich 1.1.1.6. Die digressio: Die Lehre vom Exkurs 1.1.1.7. Die oppositio als Lehre von der antithetischen Ausdrucksweise l .1.2. Die Lehre von der stufenweisen Konzentration der Vorlage 1.2. Die immutatio und die transmutatio: Die 'Revolutionierung' der Vorlage von innen und außen l .2.2. Grammatische und inventorische Grundlagen der 'parahistorischen' Stoffvertauschung 1.2.3. Der Umstellungsvorgang und die Lehre vom ordo artificialis 1.3. Schlußfolgerungen

134

161 167 176

2. 2.1. 2.2. 2.3.

178 180 184 189

1.1.1.3. l. l. l .4.

VIII

Die Verfahrensweisen der gedanklich-affektischen tractatio Die sophistischen Reversionsprinzipien und ihre Tragweite Inventorische und elocutionelle Grundlagen der Reversion Zur gedanklichen Reversion in der Historiographie

136 141 143 147 148 156

2.4. Der epideiktische Rahmen der gedanklich-affektischen tractatio 2.4.1. Die 'ernste' und die 'spielerische' Epideiktik 2.4.2. Die Vertretbarkeitsrangstufen in der Epideiktik 2.4.3. Distorsionserscheinungen im 'ernsten' Personenlob 2.4.4. Reversionserscheinungen im Lob der humilia und paradoxa 2.4.5. Distorsionserscheinungen im personenbezogenen paignion 2.5. Ästhetische und didaktische Zweckmäßigkeit der Epideixis 2.6. Schlußfolgerungen

191 195 198 202 210 213 221 225

III. Die Didaktik der tractatio im Rahmen der Progymnasmata

227

1. 1.1. 1.2. 1.3.

228 228 236 241 241

Zu Eigenart und Standort der Progymnasmata Die Beschreibung des Übungssystems Die schulmäßige Grundlage der Schriftstellerei Zur Entwicklungsgeschichte der Progymnasmata 1.3.1. Hellenistisch-römische Antezedenzien l .3.2. Das Progymnasmata-System von der Frühkaiserzeit bis zum Mittelalter 1.3.3. Die Progymnasmata im lateinischen Mittelalter 1.4. Schlußfolgerungen 2. 2.1.

2.2.

2.3.

2.4.

2.5.

Stofflich-formale und gedanklich-affektische tractatio in den einzelnen Progymnasmata Die Gnome und die Chrie 2.1.1. Allgemeine Charakteristika 2.1.2. Ausdehnung und Raffung der Chrie DieFabula 2.2.1. Allgemeine Charakteristika 2.2.2. Ausdehnung, Raffung und Distorsion der Fabel DieNarratio 2.3.1. Allgemeine Charakteristika 2.3.2. Die Narratio probabilis und ihre spezifischen Umstände 2.3.3. Die Narratio aperta et brevis und ihre Ausarbeitung 2.3.4. Ausdehnung und Raffung des Stoffes in den Muster-Narrationes DieEthopoiia 2.4.1. Allgemeine Bestimmungen 2.4.2. Hauptarten gedanklich-affektischer Ausarbeitung in der Ethopoiia .... DieEkphrasis 2.5.1. Allgemeine Bestimmungen 2.5.2. Hauptformen gedanklich-affektischer Ausarbeitung in der Ekphrasis..

243 247 251

253 253 253 256 257 257 260 263 263 265 270 272 276 276 279 286 286 289

IX

2.6. Das Enkomion und die Invektive 2.6.1. Allgemeine Bestimmungen 2.6.2. Die Ausarbeitung vom Personenlob und -tadel 2.6.2.1. Zeitliche und stoffliche Koordinaten 2.6.2.2. Aufbautopoi und Techniken gedanklich-affektischer Distorsion 2.6.2.2.1. Die Herkunft 2.6.2.2.2. Die Geburt 2.6.2.2.3. Das Äußere 2.6.2.2.4. Die Erziehung 2.6.2.2.5. Die Lebensgewohnheiten 2.6.2.2.6. Die Taten 2.6.2.2.7. Der Tod 2.6.2.2.8. Die Zeit nach dem Tode 2.6.2.2.9. Der Vergleich 2.6.2.2.10. Der Epilog 2.7. Die Synkrisis. Die Ausarbeitung des schulepideiktischen Vergleichs 2.8. Schlußfolgerungen

294 294 296 297 300 301 302 303 304 305 307 311 312 313 314 315 318

Allgemeine Schlußbetrachtung

321

Quellen und Literaturverzeichnis

325

1. 2. 3.

325 325 334

Abkürzungen Quellen Sekundärliteratur

Register

355

1. 2.

355 370

Sachen, Begriffe, Termini Personen und anonyme Werke

Einleitung

l.

Vorhaben und Anlage der Arbeit

Die vorliegende, komparatistisch angelegte Arbeit hat eine unmittelbare Veranlassung in dem Versuch, eine Poetik der vielfältigen Bearbeitungen des Alexanderstoffes von der hellenistischen und römischen Zeit bis ins Spätmittelalter hinein zu erarbeiten. Bekanntlich haben Leben und Taten Alexanders des Großen epochenübergreifend den Gegenstand historischer Personenmonographien, biographischer Darstellungen, anekdotisch-exemplarischer Reflexion, dialogischer, epischer, deklamatorischer schließlich hagiographischer und volkstümlicher Werke abgegeben. In allen diesen Darstellungen wurden die historischen Gegebenheiten um Alexander, wie diese sich durch die nüchterne und mühsame Forschung des wissenschaftlich-methodisch arbeitenden Historikers von heute wiederherstellen lassen, auf vielfältige, kaum überschaubare Weise verändert, wobei selbst die gewagtesten Verzerrungen der Tatsachen ihren jeweils nachweisbaren Ausgangspunkt in den antiken historiographischen Berichten hatten. Bereits in verschiedene Abhandlungen eingegangene Untersuchungen von einigen dieser Aspekte, vornehmlich im Rahmen der spätantiken und mittelalterlichen sowohl griechischen als auch lateinischen Literatur, haben mich zu der Erkenntnis gebracht, daß selbst die so komplexe Umsetzung des Alexanderstoffes lediglich als ein spektakulärer Einzelfall innerhalb eines breiten Spektrums von ähnlich gearteten Erscheinungen zu betrachten ist. Gegenstand der literarischen Umsetzung waren seit der hellenistischen Zeit vornehmlich die mythischepischen und historischen Stoffe mit deren Ausarbeitung in der Gestalt mustergültiger, klassischer Werke. Seit der christlichen Spätantike gehören die Bibel und die damit verbundene Dichtung und Historiographie mit zu diesem mit dem poetologischen Terminus publica materies zu bezeichnenden Grundstock der Imitation. Daraus schöpften Generationen von Historikern, Epikern, Rednern, Moralisten und außerdem von bildenden Künstlern, indem sie alle anhand jeweils spezifischer kunstmäßiger Mittel und Techniken das bereits Vorbenutzte und Vorgestaltete auf mannigfache Weise nachahmten oder aber umgestalteten, auflösten und mit anderen Elementen kombinierten. Ein nicht immer leicht einzugrenzender, letzlich jedoch überschaubarer thematischer Grundstock hat also in der Antike und im Mittelalter die bevorzugte Thematik für das dichterische, historische und rednerische Schrifttum gebildet, das auf die Stoffindung unvergleichbar weniger Wert legte als die Neuzeit, da in der letzteren die renaissancehafte Auffassung einer creatio ex nihilo stufenweise in den Vordergrund getreten ist. Dieser

l

Nachahmungs- bzw. UmsetzungsVorgang hat außerdem die Art und Weise der Darstellung jeweiliger zeitgenössischer Gegenstände beeinflußt, deren Erkenntnis von dem assimilierten Traditionsgut geprägt wurde, sofern nicht dieses überhaupt eine solche Erkenntnis erst möglich machte. Die Biographen und Panegyriker, im Mittelalter die Chronisten und Hofdichter, sogar die Verfasser von Reisebeschreibungen schilderten aktuelle Ereignisse sub specie temporis acti, und zwar von bestimmten, dem Traditionsgut angehörenden gedanklichen und formellen Mustern ausgehend. Erstrebenswert erschien z.B. dem mittelalterlichen Historiker nicht die in unserem Sinne objektive Berichterstattung, sondern die gedankliche und auch die stilistische Zusammengehörigkeit mit seinen christlichen und heidnischen Mustern. Dem Dichter erschien auch nicht die schriftliche Erfassung des Individuellen, von ihm selbst Ersonnenen von Bedeutung, sondern die Nachahmung bzw. das Wetteifern mit den auctores. Das 'hie et nunc' sollte dargestellt werden durch die vertraute Art der Vermittlung der 'Bücherwelt', wobei man Wert darauf legte, das 'Neue alt' zu machen. Das umgekehrte Verfahren, das uns hier hauptsächlich beschäftigen wird, nämlich die Modalitäten, aus der publica materies jeweils Neues zu schöpfen, verlangte, sich in das Alte hineinzuversetzen und es in engerer oder freierer, getreuerer oder verzerrender Weise wiedergebend oder abwandelnd erneut ins Leben zu rufen. Der im folgenden unternommene Versuch einer Ermittlung und Systematisierung der theoretischen und praxisbezogenen Aspekte der imitatio anhand der wichtigsten einschlägigen Zeugnisse aus Antike und Mittelalter beruht auf einigen Grundvoraussetzungen, die zunächst stichwortartig zu erwähnen sind. Dazu gehört die während dieser Epoche bestehende Kontinuität ein und desselben literarischen Kulturtypus, dessen Grundlage in der hellenistischen Zeit im Rahmen der grammatisch-rhetorischen Schule entstand. Die bereits in der spätklassischen Zeit des Griechentums von den Sophisten, somit auch von Isokrates befürwortete und anschließend schriftstellerisch konkretisierte Konvergenz des rhetor mit dem poeta und mit dem historicus hat sich in den nachfolgenden Zeiten auf vielfache Weise fortentwickelt und differenziert. Aus dieser sich epochenübergreifend behauptenden Konvergenz hat sich die theoretische Grundlage einer überwiegend im Zeichen mannigfaltiger Imitation stehenden Dichtung und Historiographie herausentwickelt. Aus diesem Grund hat unsere Untersuchung ihre untere Zeitgrenze wie auch ihre konzepruelle Ausgangsbasis in Lehrmeinungen der Sophisten und des Isokrates. Diese stellten die Weichen für die hellenistische Rhetorenschule, in deren Rahmen die theoretische Formulierung und zugleich die Umsetzung einer spezifischen Pädagogik der Imitation in die schriftliche Praxis erfolgt ist, die auf stufenweises Einüben und Nachbilden der Vorlagen, schließlich auf das Wetteifern mit ihnen abzielte. Daraus ergibt sich ein wesentlicher Aspekt für die fließende Grenze, die zwischen Schule und Leben, zwischen schulliterarischer Übung und schriftstellerischer Praxis für die Öffentlichkeit besteht. Das Theoriegut ist den beiden Betätigungsgebieten gemeinsam. In der Diachronie der literarischen Produktion hat seit der hellenistischen Zeit die zunächst als private, dann als halboffizielle, schließlich als durchaus ökumenisch etablierte Institution

Schule ständig die Rolle des Vermittlers des vergangenen und des Zensors des zeitgenössischen Schrifttums gespielt. Mit der Aufnahme des griechischen Bildungssystems in Rom schon in der Jugendzeit Ciceros begann eine entscheidende Phase der geistigen und kulturellen Symbiose der beiden Völker, die für die europäische Nachwelt von größter Bedeutung wurde. Eine Rekonstruktion der wiifafio-Erscheinungen als Bestandteil der antiken Rhetorik- und Poetiklehre ist daher lediglich möglich durch Heranziehen und Vergleich sowohl der griechischen als auch der lateinischen überlieferten Zeugnisse. So lassen sich trotz bestehender Einzelunterschiede paarweise Gruppierungen griechischer und lateinischer Lehrstücke feststellen, die sich gegenseitig erhellen und ergänzen. In jeweils spezifischem Ausmaß sind vornehmlich in Zusammenhang zu bringen: Anaximenes, Aristoteles, Demetrios, Dionys von Halikarnassos einerseits, Cicero und der Auctor ad Herennium anderseits; dann Horaz und Lukian, Ps.Longinus und Plinius der Jüngere, Theon und Quintilian, die griechischen und lateinischen Progymnasmatiker und schließlich die griechischen und lateinischen Figurentraktate der Spätantike und des Frühmittelalters. Aus dieser im Laufe der Arbeit ausführlich zu erörternden Relationierung ergibt sich die unverminderte Bedeutung des griechischen Theoriegutes für eine vollständige Würdigung der mittelalterlichen Rhetorik und Dichtungslehre. Hiermit wird das hauptsächliche Vorhaben unserer Arbeit berührt, die die Kontinuität und die Fortbildung der imitatio -Theorie und -Technik als Bestandteil der allgemeinen Grammatik- und Rhetoriklehre von der klassischen Antike bis ins Spätmittelalter zum Thema hat. Ein Kennzeichen dieser Kontinuität besteht darin, daß die imitatio im Sinne einer komplexen Umsetzung des Modells im Laufe der Zeit immer bewußter und intensiver, wenn nicht ausschließlicher betrieben wurde. Diese zunehmende Bedeutung der imitatio steht im Vorfeld der im 12. und 13. Jahrhundert sich vornehmlich in den Traktaten des Matthäus von Vendöme und Galfredus von Vinsauf niedergeschlagenen poetologisch-rhetorischen Synthese, die in mancher Hinsicht einer Vervollkommnung der antiken /mtYario-Lehre gleichkommt. Hiermit rechtfertigt sich zugleich die obere Grenze unserer Untersuchung. Über diese Zeitgrenze hinaus werden die poetologischen Aussagen sporadisch. Die dazu zählende Lehre Dantes begreift neben den alten Kategorien bereits die Sprach- und Gedankenlizenz als modus poeticus und die Stofferfindung als modus flctivus mit ein. Diese Auffassung dürfte aus der damals rasch erfolgenden Verselbständigung der volkssprachlichen Literaturproduktion herrühren, die zugleich die Geister auf die aufwertende Rezeption der aristotelischen Poetik in der Renaissance vorbereitete. Das antik-mittelalterliche Theoriegut der literarischen Umsetzung wurde dabei teilweise übernommen und umfunktionalisiert; teilweise geriet es in Vergessenheit. Aus konzeptuellen und auch chronologischen Gründen wurde hier die volksspracnliche Poetologie nur vereinzelt mit berücksichtigt. Die vorliegende Arbeit wurde in drei Teilen konzipiert, die ebenso vielen konzentrischen Themenkreisen gleichkommen, wobei von allgemeineren und umfassenderen Bestimmungen

zu begrenzteren und konkreten Aspekten der imitatio fortgeschritten wird. Innerhalb des ersten Teils, der den gleichen Titel trägt wie die gesamte Arbeit, 'Imitatio und tractatio', behandelt das erste Kapitel"Koordinaten und Phasen des literarischen Umsetzungsprozesses" die Eigenart und den Standort der imitatio sowie die dazugehörigen Verwirklichungsstufen. Hierbei werden zunächst die rezeptiven Momente des Anhörens und Lesens als Voraussetzung für die produktiven mit den Modellen wetteifernden Arten der Nachahmung als Vorgang des Redens bzw. des Abfassens erörtert. Letzteres kann als bloße sprachlichstilistische Abwandlung der Vorlage, d.h. als deren Paraphrasierung oder als eine komplexere, sowohl den Ausdruck als auch die stofflich-formelle und die gedanklich affektische Eigenart der Vorlage betreffende Umsetzung auftreten. Die so aufgefaßte komplexere Art der schriftlichen imitatio wurde in Anlehnung an einen ursprünglich technisch-rhetorischen Begriff tractatio genannt und bildet den Gegenstand des zweiten Teils der Arbeit: "Antike und mittelalterliche Methoden und Techniken der varia tractatio". Das Determinativum varia beruht hier auf den Ergebnissen der im zweiten Kapitel des ersten Teils erfolgenden Abhandlung über "Die ästhetische Konstellation der literarischen Nachahmung." Ausgehend von der stilgeschichtlichen Polarisierung Klassik/Manierismus mit deren einschlägigen Koordinaten der 'Normativität' bzw. der 'Freiheit' des literarischen Schaffens, werden hier die unterschiedlichen Wertungen untersucht, die bestimmten Typen der Vorlagenabwandlung zuteil geworden sind. Dabei entspricht die 'normale' varietas einem positiven Werturteil seitens des Klassizismus, während die 'unterbietende' varietas bzw. die 'überbietende' varietas zwei Haupttypen der manieristischen Abwandlung bezeichnen, die durch das klassizistische Urteil verpönt wurden. Innerhalb des erwähnten zweiten Teils umfaßt das erste Kapitel "Die transformationeilen Vorgänge der stofflich-formalen tractatio" die Erörterung jener Techniken, die sich zur Abwandlung des Materials der literarischen Vorlage eignen, wobei die in der Grammatik- und Stillehre geltenden vier transformationeilen Vorgänge adiectio, detractio, immutatio und transmulatio den Verfahren der Ausdehnung, Raffung, Vertauschung und Umdisponierung der jeweiligen Vorlage entsprechen. Im zweiten Kapitel des zweiten Teils ("Die Verfahrensweisen der gedanklich-affektischen tractatio") werden die durch die epideiktische Lehre theoretisierten Modalitäten einer Verzerrung bzw. Reversion des vorgegebenen Gegenstandes erläutert. Dabei geht es hauptsächlich um Hervorhebung bzw. Herabsetzung des jeweiligen Gegenstandes, um Aktualisierung des Alten oder 'Archaisierung' des Neuen. In diesem Zusammenhang werden außerdem Stoffe der Gelegenheitsdichtung mit berücksichtigt, die seit der Nachklassik mit zur publica materies gehören. Im dritten Teil "Die Didaktik der tractatio im Rahmen der Progymnasmata" wird zunächst das in der Schule der Kaiserzeit benutzte System der Stil- und Kompositionsübungen nach Modellen (Progymnasmata) unterschiedlichen Inhaltes und Schwierigkeitsgrades erörtert, die als Propädeutik für die forensische bzw. für die schriftstellerische Tätigkeit dienten. Anschließend werden die im Rahmen der Aufsatzübungen literarischen Charakters einzu-

übenden Verfahren der stofflich-formalen und der gedanklich-affektischen tractatio ausgeführt. Bei der ständigen Berücksichtigung der Abhängigkeitsverhältnisse und Filiationen innerhalb der antiken und der mittelalterlichen Diachronie hat in dieser Arbeit die Systematik den Vorrang, wobei die Rekonstruktion des theoretischen Gebäudes der imitatio meistens von Komponenten auszugehen hat, die innerhalb der Rhetorik- und Dichtungslehre als membra disjecta vorliegen. Wie schon angedeutet, treten in der Ökonomie dieser Arbeit die drei Bestandteile als relativ selbständige Einheiten auf, die jeweils zwei strukturell zusammenhängende, inhaltlich jedoch unterschiedliche Hauptkapitel umfassen. Innerhalb dieser Dreiteilung bestehen folgende Korrespondenzen zwischen den sechs dazugehörigen Kapiteln: Bei der Berücksichtigung des allgemeinen Charakters der imitatio im ersten Teil wird anschließend den stofflich-formalen Aspekten der tractatio die meiste Beachtung geschenkt; die Ausführung dieser Aspekte erfolgt im ersten Kapitel des zweiten Teils und weiterhin im ersten und teilweise im zweiten Kapitel des dritten Teils. In gleicher Weise entspricht der Erörterung der ästhetischen Konstellation der imitatio im ersten Teil die Behandlung der gedanklichaffektischen Aspekte der tractatio im zweiten Kapitel des zweiten Teils, dann im zweiten Kapitel des dritten Teils. Hier werden Methoden und Techniken der varia tractatio im Rahmen zunächst der literarischen Anfangsübungen, dann in den anspruchsvolleren Exerzitien verfolgt. Im allgemeinen wird in dieser Arbeit angestrebt, die Erläuterung der Eigenart und der Tragweite der Nachahmungstheorie mit der Einsicht in deren historische Konkretionsformen in Antike und Mittelalter zu untermauern bzw. zu ergänzen, wobei die unternommene Schematisierung und Systematisierung mit der literaturgeschichtlichen Bewertung der jeweiligen Erscheinungsformen der Nachahmung verbunden bleiben soll.

2.

Der Stand der Forschung

Meines Wissens fehlt es bisher an einer systematischen Erörterung der Vielfalt von Komponenten und Entwicklungsformen der Imitation unter dem Blickwinkel der rhetorischen und poetologischen Theorie und mit speziellem Bezug auf den schulischen Rahmen. Nichtsdestoweniger erfuhren viele Einzelaspekte der imitatio eine eingehende nach unterschiedlichen Standpunkten erfolgende Analyse, deren Ergebnisse bei der Konzipierung und Durchführung dieser Arbeit von großer Bedeutung waren. Es kann vorläufig nur eine stichwortartige Auseinandersetzung mit den im Vorfeld unserer Untersuchung stehenden Studien geboten werden, da im Laufe der Darstellung auf solche Abhandlungen näher eingegangen wird. An erster Stelle zu erwähnen ist Heinrich Lausbergs Handbuch der literarischen Rhetorik, das ein anhand griechischer und lateinischer Quellen zusammengestelltes Instrumentarium

darstellt, das für die Bewältigung der literaturtheoretischen, insbesondere der poetologischen Aspekte des antiken Schrifttums und dessen europäischen Erbes unentbehrlich ist. Viele wichtige Elemente der begrifflichen Struktur der vorliegenden Arbeit gehen auf dieses grundlegende Werk zurück. Weitere wichtige theoretische Anhaltspunkte begegnen in den systematischen bzw. diachronischen Übersichten über Techniken und Methoden der antiken Rhetorik, die von Richard Volkmann, Josef Martin, George A. Kennedy, James J. Murphy stammen, wobei der letztgenannte in seiner Reihe The Art of Persuasion in Greece, The Art of Rhetoric in the Roman World und Greek Rhetoric under Christian Emperors zugleich die Vielfalt der historischen Entwicklung von der Antike bis zur Schwelle der Neuzeit verfolgt und damit die vorherrschenden ähnlichen Unternehmen von Octave Navarre, Friedrich Blass, Charles Sears Baldwin u.a. ergänzen, jedoch nicht völlig ersetzen kann. Aufschlußreich ist außerdem der Grundriß der Rhetorik: Geschichte, Technik, Methode von Gerd Ueding und Bernd Steinbrink, zumal die Verfasser eine gut dokumentierte historische Übersicht und eine ideenreiche Einführung in die rhetorische Systematik nacheinander bieten. Von beträchtlicher Bedeutung sind jene Abhandlungen, die entweder bestimmten literaturtheoretischen bzw. -ästhetischen Zusammenhängen in Antike und Mittelalter gewidmet sind oder aber solche Aspekte bei einzelnen Autoren in deren jeweiligem Umfeld erläutern. Dazu gehört an erster Stelle das Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter von Ernst Robert Curtius, Etudes d'esthetique medievale von Edgar De Bruyne, Die antike Theorie der Genera dicendi im lateinischen Mittelalter von Franz Quadlbauer, das auch für die Erforschung der imitatio-Aspektc zusammen mit anderen kleineren Schriften grundlegend ist, Literatursprache und Publikum des Erich Auerbach, Literary Criticism in Antiquity von J.W.H. Atkins, Geschichte als Topik von Peter v. Moos; unter den zahlreichen Monographien zu einzelnen Autoren seien vornehmlich erwähnt: Isidore de Seville et la culture classique dans l'Espagne visigothique von Jacques Fontaine, die Statius-Monographie von Hubert Cancik, Hildebert de Lavardin von v. Moos und die Lukian-Monographie von Jacques Bompaire, die unten nochmals zu erwähnen ist. In diesen Zusammenhang gehören außerdem die speziellen Studien zu den rhetorischen Komponenten der Historiographie, wie Die geschichtliche Literatur von Hermann Peter, Cicero und Historie von Karl Ernst Petzold, Die Erzählkunst des Titus Livius von Erich Burck, die Monographien von Gert Avenarius und Helene Homeyer zum Traktat Lukians über die Geschichtsschreibung. Unter den der Epideiktik gewidmeten Studien seien erwähnt: Georg Fraustadts Encomiorum historia, Vinzenz Buchheits Untersuchungen zum Genos epideiktikon und die immer noch unentbehrliche Studie von Theodor C. Burgess, Epideictic Literature. Bedeutend für die Erforschung des Zusammenspiels von ererbten poetologischen Grundlagen und neuen schöpferischen Erscheinungen in der volkssprachlichen Literaturpraxis des Mittelalters sind die Abhandlungen von Hans Robert Jauss, vor allem Altentat und Modernität, dann die Essais de poetique medievale von Paul Zumthor und Literaturtheorie im deutschen Mittelalter von Walter Haug.

Zur Erschließung des stilgeschichtlichen Umfeldes der Imitation sind vor allem jene diachronischen Untersuchungen wichtig, die es unternehmen, antike und mittelalterliche Erscheinungen in deren Zusammenhang zu erläutern: Die antike Kunstprosa Eduard Nordens, die Kapitel 'Klassik' und 'Manierismus' in ELLM von Curtius, die Studien Hugo Friedrichs zum Manierismus, die Studien von Christine Mohrmann zum Latein der Christen u.a. Auch sind hier die Beiträge zu erwähnen, die den Standort der imitatio in der antiken Poetologie anhand von Textinterpretationen erläutern, wie die Abhandlungen von Otto Immisch (Horazens Epistel über die Dichtkunst), von Wolf Steidle (Studien zur Ars poetica) und von Manfred Fuhrmann (Einführung in die antike Dichtungstheorie und in anderen kleinen Schriften). Die Problematik der imitatio in der Antike bildet meist den Gegenstand jener Abhandlungen, die sich mit den theoretischen Grundlagen der Nachahmung griechischer Autoren durch die Römer in der Zeit der Republik und der silbernen Latinität befassen. Hier sind zunächst zu erwähnen: Römertum und Humanismus von Hellfried Dahlmann, Studien zum Verständnis der römischen Literatur von Wilhelm Kroll und vor allem Imitatio, interpretatio, aemulatio von Arno Reiff. Der Letztgenannte brachte mit aller Konsequenz auf eine in vieler Hinsicht beispielhafte Weise eine Systematik der Nachahmungsformen zustande. Seine Untersuchung klammert aber zumeist die griechische Theorie aus, so daß man den Eindruck gewinnt, die imitatio sei eine durchaus spezifisch römische Erscheinung, die anhand einheimischer Kategorien und Maßstäbe vollständig erklärt werden könne. Auch wird dabei der Bezug der imitatio auf die Schule, die m.E. eine Schlüsselstellung einnimmt, außer acht gelassen. Ähnliches läßt sich teilweise für den sich an die Auffassung Reiffs anlehnenden theoretischen Teil der Monographie von Andr6e Thill, Alter ab illo: Recherches sur {'imitation dans la poesie personelle a l'epoque augusteenne, bemerken. Die Verfasserin bezieht sich jedoch in begrenztem Umfang auf die Schultheorie und- praxis der imitatio und leistet einen wertvollen Beitrag dazu. Zahlreich sind die Studien, die im Laufe der Zeit verschiedenen technisch-literarischen Aspekten der imitatio einzelner griechischer Autoren durch die Römer gewidmet wurden. Davon wurden in dieser Arbeit besonders berücksichtigt: Virgils epische Technik von Richard Heinze, Die Aeneis und Homer von Georg Nikolaus Knauer, Ciceros Nachahmung der attischen Redner von Alfons Weische; auch wurden die Beiträge in dem von David West und Tony Woodman herausgegebenen Sammelband Creative Imitation and Latin Literature nicht außer acht gelassen, wovon speziell Self-Imitation within a Generic Framework von Francis Cairns und From Polyphemus to Corydon von Jan M. Le M. Du Quesnay zu erwähnen sind. In allen diesen Abhandlungen werden theoretische Aspekte der imitatio vom rhetorischtechnischen Standpunkt aus mit berücksichtigt. Auf dem Gebiet der Gräzistik kommt der theoretische Teil in der umfangreichen Monographie Luden ecrivain von Bompaire einer vielfachen, sehr bedeutenden Ergänzung der Abhandlung Reiffs gleich. Die Auffassung Bompaires von 'imitation creative' weist über das von ihm ausschließlich in Betracht gezogene Gebiet der Literatur der Neusophistik

hinaus, zumal seine Untersuchung und Theoretisierung oft auf schulrhetorischen Kategorien beruhen. Allerdings verlangt sein auf die Bestimmungen Eduard Stemplingers (Das Plagiat in der griechischen Literatur) zurückgehender Begriff vom 'Gleichgültigkeitsprinzip1 bezüglich der stofflichen Nachahmung eine gewisse Revision: Zwischen den stofflichen und den formalen Aspekten der imitatio besteht eine zu enge Verflechtung, als daß man von der Eigenständigkeit der stofflichen Abwandlung reden könnte. Im Rahmen dieser Lukianmonographie konnten außerdem jene technischen Elemente der jm/7af/o-Theorie nicht mitberücksichtigt werden, die nur durch eine vergleichende Untersuchung antik- und mittellateinischer Quellen erhellt werden können. Sowohl Bompaire als auch Stemplinger - der übrigens unter den ersten war, die die Bedeutung des Isokrates für das Entstehen der Lehre von der imitatio hervorhoben - gehören zu den 'Kronzeugen' unserer Ermittlung. Dazu zählen außerdem jene Gelehrten, deren in den letzten zwei Dezennien veröffentlichte Studien eine breite sowohl konzeptuelle als auch technische Basis der imitatio in Betracht ziehen. So stellt Alain Michel die ästhetischen und pädagogischen Dimensionen der i'mitafio-Auffassung des Dionys von Halikarnassos in Zusammenhang mit den ciceronischen Bestimmungen (Imitation etpoetique). Elaine Fantham zieht außerdem die einschlägigen quintilianischen Auffassungen der imitatio in Betracht (Imitation and Evolution, Imitation and Decline). Die große Bedeutung Theons in diesem Zusammenhang wurde aber in allen diesen Abhandlungen übersehen. Donald Andrew Russell (De imitatione und vor allem Greek Declamation) analysiert den schulrhetorischen Hintergrund der imitatio, wobei er immer thematisch begrenzte Aspekte im Auge hat. Eine Ausführung der technischen Komponenten der exercitatio als Oberbegriff der tractatio bietet das Handbuch der literarischen Rhetorik anhand sowohl griechischer als auch lateinischer Quellen. Im gleichen Kontext hat Lausberg die Funktionalität der Progymnasmata anerkannt, deren allgemeine Bedeutung auch von Donald Le Men Clark, Rhetoric in Graeco-Roman Education, Kennedy, Greek Rhetoric under Christian Emperors, und vor allem Italo Lana, Quintiliano und / Progimnasmi di Teone, festgestellt worden ist. Das Fortwirken der Progymnasmata im lateinischen Mittelalter bleibt immer noch ein unerforschtes Gebiet, und im allgemeinen wird der literaturtheoretische Beitrag des progymnasmatischen Lehrgutes im hellenistisch-römischen Rahmen von der gegenwärtigen Forschung zu gering geschätzt. Die älteren an sich sehr ausführlichen Erläuterungen des Progymnasmata-Systems, wie die Artikel Willy Stegemanns in der Realencyclopädie ('Nicolaus', 'Theon', auch teilweise 'Polemon' und Onasimos'), außerdem die Monographie Georg Reicheis (Quaestiones progymnasmaticae) beschränken sich auf das rhetorischtechnische Gebiet. Die literarische Eigenart der progymnasmatischen Leistungen und darüber hinaus ihre Wirkung auf die byzantinische Literatur sind dagegen das Thema mehrerer in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts von Otmar Schissel v. Fieschenberg und seinen Schülern verfaßten Abhandlungen, die heute in Vergessenheit geraten zu sein scheinen. Die Untersuchung der theoretischen Aspekte der Imitation in der lateinischen Literatur des Mittelalters erfolgt meistens im Rahmen der poetologischen Studien. Das ist der Fall der

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Monographien Hennig Brinkmanns, Zu Wesen und Form mittellateinischer Dichtung, Edmond Farals, Les arts poetiques du XIIe et du XIIIe siede, William Rydings, Structure in Medieval Narrative, Paul Klopschs, Einführung in die Dichtungslehre des lateinischen Mittelalters, Paolo Bagnis, La costituzione della poesia, Ernest Gallos, The Poetria Nova and its Sources. Auch wurden hier zahlreiche, speziellen Problemen der Poetik gewidmete Aufsätze von: Quadlbauer, Douglas Kelly, Peter v. Moos, James Schulz, Franz Josef Worstbrock, Marjorie Curry Woods, Peter Stotz, Paul Gerhard Schmidt u.a herangezogen. Ergiebig sind außerdem die monographischen Studien bzw. die kommentierten Textausgaben einzelner Dichter oder Historiker, wie die Architrenius-Ausgabe Schmidts, Die Vita Heinrici IV. und Sallust von Johannes Schneider, die Untersuchungen des Walthariusliedes, der Trojaromane, der Alexandreis Walters von Chätillon. Auch sind hier solche mediävistischen Studien und Textkommentare wie Pseudoantike Literatur des Mittelalters von Paul Lehmann oder Die fünf Reden des Laurentius von Durham in der Ausgabe Udo Kindermanns zu erwähnen, die diejenigen Literaturprodukte erörtern, die der imitatio auctorum am meisten verpflichtet sind. Weniger aufschlußreich sind die Literaturübersichten des Max Manitius, Frederick J.E. Raby, Josef Szöverffy u.a. Ebenfalls ergiebig sind jene byzantinistischen Untersuchungen, die sowohl literaturhistorische als auch- wissenschaftliche, mit der imitatio der antiken Modelle verbundene Aspekte zur Sprache bringen. Hier sind zu erwähnen: Die profane Literatur der Byzantiner von Herbert Hunger wie auch dessen spezielle, den allgemeinen Aspekten der Umsetzung gewidmete Abhandlung Mimesis. Auf die rhetorischen Grundlagen gehen vornehmlich ein: Das literarische Schaffen der Byzantiner von Hans-Georg Beck, Studies in Byzantine Rhetoric von George L.Kustas, Art and Eloquence in Byzantium von Henry Maguire. In den meisten Betrachtungen, die innerhalb dieser Studien der mittelalterlichen Eigenart der imitatio gelten, werden jeweils in unterschiedlichem Ausmaß jene Elemente einer "Poetik der Bearbeitung" (Worstbrock) festgestellt, die die stofflich-formalen Aspekte der tractatio, insbesondere die Raffung und die Ausdehnung der Vorlage betreffen. Für die anderen Modalitäten der Stoff- und Formabwandlung, wie auch für die sich mit ihnen berührenden Verfahren der gedanklich-affektischen tractatio, wie wir sie anhand der antiken und mittelalterlichen Quellen rekonstituiert haben, finden sich nur indirekte Anhaltspunkte in der Sekundärliteratur, so daß sich unsere Untersuchung in diesen Punkten oft auf Neuland begab. Aufschlußreich waren hierbei vor allem die das traditionelle Gut der Figurenlehre fortbildenden Traktate von Dumarsais und Fontanier im 18.-19. Jahrhundert, das ornaiws-Kapitel in der Monographie Lausbergs und die gut dokumentierte und ideenreiche Monographie Metapher und tropische Rede von Ulrich Krewitt. Bei der Erläuterung der gedanklich-affektischen tractatio war es zuerst notwendig, Abstand zu nehmen von der m.E. viel zu engen Auffassung der Epideiktik als Kunst ausschließlich der Prunkrede, wie sie von Fraustadt, Buchheit, Chaim Perelmann u.a. dargestellte wurde, und den dialektischen Charakter dieses zwischen Dichtung, Historiographie und forensischer Beredsamkeit vermittelnden Genus hervorzuheben. In diesem

Zusammenhang waren wichtige Anhaltspunkte in der erwähnten Monographie von Burgess, außerdem in den Kapiteln Topik' und 'Poesie und Rhetorik' innerhalb des ELLM von Curtius und in der der Gattung Satire gewidmeten Monographie Kindermanns zu finden. Auch wurden hier die Arbeiten herangezogen, die sich mit den spielerisch-virtuosen und pädagogischen Aspekten zum einen in der Dialektik der Altsophisten, zum anderen in der der Frühscholastik befaßten, wie Sophistik und Rhetorik von Heinrich Gomperz, die Abschnitte 'Spiel und Dichtung' sowie 'Spielformen der Philosophie1 in Homo ludens von Johan Huizinga, die Erläuterungen des Entwicklungsganges der scholastischen Methode durch Martin Grabmanns Geschichte der scholastischen Methode und der Abschnitt 'Verba auctorum und das neue Denken in Alternativen' innerhalb der Monographie Geschichte als Topik von v. Moos.

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I.

Imitatio und tractatio

1.

Koordinaten und Phasen des literarischen Umsetzungsprozesses

1.1.

Die imitario-Lehre und ihr Geltungsbereich

In der Kontinuität der Literaturpraxis von der klassischen Antike ins Mittelalter hinein bestanden zwei Grundtendenzen fort, die zunächst mit der allmählichen Konsolidierung und Verbreitung des schulrhetorischen Kulturtyps, dann beim Schwund dieses Systems im Frühmittelalter mit dem Fortleben des einschlägigen Traditionsgutes im veränderten institutionellen Rahmen zusammenhingen. Es geht zuerst um die Annäherung unterschiedlicher Gattungen und Stile aneinander, die sich bestimmten in den Schulen gefertigten Mustern zunehmend anpaßten. Hierzu gehört die Herausbildung eines beschränkten thematischen Grundstocks, aus dem sowohl die schulische als auch die für die Öffentlichkeit gedachte literarische Produktion schöpften. Dieser vereinheitlichenden Tendenz tritt aber eine andere, auf sprachlich-stilistische und gedankliche Diversifizierung und Raffinesse innerhalb des vorgegebenen Spielraums hinauslaufende Strebung entgegen. Aus dem Zusammenspiel dieser zwei Tendenzen ergaben sich ständige vom jeweils bestimmenden Zeitgeist mitveranlaßte Variationen vorgegebener Muster und Themen.1 Bei dem Versuch, eine gemeinsame theoretische Grundlage dieser Erscheinungen festzustellen, bietet sich als wesentlicher Faktor die iwn'fafio-Theorie in der Vielfalt ihrer Konstituenten und Implikationen an, die im folgenden konzis darzulegen sind. Mit imitatio ist hier dem Grundgedanken zufolge nicht die sogenannte philosophische Mimesis als 'Nachahmung' der Natur wie der menschlichen Handlungen im aristotelischen Sinne gemeint.2 Vielmehr handelt es sich hier um Nachahmung vorgegebener, im Rahmen der griechisch-römischen Paideia geschaffener literarischer Modelle.3 Die imitatio weist hierbei eine rezeptiv-kontemplative Seite auf, die aus dem Verständnis und der Aneignung Dazu allgemein Marrou, Augusün, S. 49ff.; Curtius, ELLM, S. 77ff., 158ff.; Fontaine, Aspects, S. 20ff., 177ff.; Bompaiie, Lucien, S. lOOf.; Wilhelm Kroll, Studien, S. 202-225; Harald Hagendahl, Tertullian, S. 23f., 64ff. Im Rahmen der als Oberbegriff des literarischen Schrifttums aufgewerteten eloquentia bzw. omnis eloquentia (vgl. u.a. Cic. De or. I 118, III 22ff., Tac. Dial. 10,4) spielte die Epideiktik eine zunehmend wichtigere Rolle; vgl. dazu Hermog. Id. S. 386, 16-391,15. Vgl. Bompaire, S. 26-32; Helmut Flashar, Die klassische Theorie der Mimesis, S. 79-98; J.C. MC Keon, Literary Criticism, S. 19-33; Hermann Koller, Die Mimesis in der Antike, S. 15ff., 104ff. Vgl. Bompaire, S. 63,91; B.P. Reardon, Courants, S. 7. 11

literarischer Vergangenheit und derer Vorbilder besteht, und eine produktiv-schöpferische Seite, die mit dem Bestreben zusammenfallt, solche Vorbilder anhand des schriftlichen Mediums nachzuahmen, mit ihnen zu wetteifern, sie zu überbieten.4 Die letztere Seite setzt Vorschriften und Techniken voraus, die im Schulunterricht zunächst der grammaticus, dann der rhetor den Schülern beibringt.5 Hinzu tritt hier das Bestreben auf, das im Rahmen des Schulbetriebes Geleistete und mit den jeweiligen geistigen Zeitströmungen Zusammenhängende als Kunstprodukt von der Öffentlichkeit werten zu lassen.6 Hierbei läßt sich eine Vergleichsbeziehung a minore ad maius mit dem literarischen Schaffen anerkannter, kanonmäßiger Schriftsteller herausstellen; die gleiche i'm/taf/o-Doktrin liegt auch denjenigen Leistungen zugrunde, die der Schriftsteller außerhalb des Schulbetriebes für eine breitere oder engere Öffentlichkeit vorbringt. Die Dichtung der über die Schulzeit kaum hinausgewachsenen Wunderkinder Persius und Lucanus, im Mittelalter Walther von Speyer, Walahfrid Strabo, Jauffrd Rudel oder Walther von der Vogelweide genoß rasch eine kanonmäßige Anerkennung, da sie den literarischen Ansprüchen des jeweiligen Publikums offenbar bestens entsprachen.7 Das, was im antiken Schulbetrieb erklärterweise als Mittel zur Ausbildung des Redners dienen sollte, konstituierte gleichzeitig die Bildungsgrundlage eines jeden angehenden Schriftstellers.8 Hinzu kommt noch die literaturkritische Funktion der imitatio-Lehre, die die Ausbildung des ästhetischen Geschmacks des bereits erwachsenen Literaturliebhabers bzw. des virtuellen Künstlers in eine bestimmte Richtung bezweckt.9 Dies wäre freilich das Gegenstück zur Literaturaneignung durch Studium im Schulrahmen. Auf diese Weise ergänzen sich die Schulerziehung ( ) und die Beschäftigung ( € des Literaten im reifen Alter in der Eigenschaft des Schöpfers bzw. des Liebhabers der Literatur. Dieser anhand vornehmlich antiker Aspekte entworfene Geltungsbereich der imitatio hat aber eine epochenübergreifende Tragweite. Wie sich im Laufe dieser Abhandlung herausstellen wird, bleiben während des

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8 9

12

Vgl. Bompaire, S. 62: "La Mimesis est le fil d'Ariane qui permet d'expliquer la littdrature passee. C'est aussi le levain de la literature vivante." Dazu Fantham, Imitation and Decline, S. 103; vgl. auch unten, S. 44 ff. Vgl. dies., Imitation and Evolution, S. 1; Kennedy, The Art of Rhetoric, S. 347; Bompaire, S. 157f., mit Berufung auf Dionys, De «mir., fr. VI; De Thuc., 25; Quint., X,2,l. Zur Literarität der Aufsatzübungen vgl. Schissel von Fieschenberg, Severos von Alexandreia, S. 3; Ludwig Friedländer, Sittengeschichte, II, S. 212, 253f.; Kennedy, Greek Rhetoric, S. 54ff. Zu Lucan und Persius vgl. Quint. X,l ,90 und 94; Martial, Epigr. IV.29,7. Zu Walther von Speyer vgl. Peter Vossen, Der Libellus Scholasticus, S. 18, 30. Karl Strecker, Walthariuslied, S. 61f, erwähnt auch den Walthariusdichter und Walahfrid Strabo als Dichter, deren Frühwerk rasche Anerkennung fand; dazu auch Paul Salmon, Über den Beitrag des gramm. Unterrichts, S. 83; R.R. Bolgar, The Classical Heritage, S. 408. Den literarischen Ruhm Walthers bestätigen bereits Wolfram von Eschenbach (Parzival, 297, 22ff.r Willehalm, 286,16ff.) und Gottfried von Straßburg (Tristan, V. 4769). Zu Jauffte Rudel vgl. Zumthor, Histoire, S. 175, 187f. Vgl. Theon, Progymnasmata, S. 70,26-30. Die XVIII. Oratio Dions verfolgt ausdrücklich diesen Zweck, während die Poetik Horazens sowohl für den Vater Piso als auch für seine auszubildenden Söhne gemeint ist.

Mittelalters die theoretischen Grundzüge der auf imitatio beruhenden literarischen Produktion weiter bestehen. Die gegenseitige Konditionierung der Schule und der publikumsorientierten literarischen Produktion bestand unter veränderten Rahmenbedingungen weiter, wobei neue, zeitgemäße Aspekte teilweise das alte Konzept der imitatio bereicherten und ergänzten; teilweise entdeckte man das wieder, was beim relativen Kulturbruch zwischen den zwei Zeitaltern verlorengegangen war. Das letztere gilt nach allgemeiner Auffassung nur für die literarische Theorie und Praxis des lateinischen Mittelalters, da die byzantinische Schulkultur meistens ein ununterbrochenes im Zeichen des Konservatismus erfolgendes Fortleben der spätantiken Traditionen aufwies.

1.1.1.

Diachronische Übersicht und zeitliche Abgrenzung

Die Zusammengehörigkeit unterschiedlicher Seiten der imitatio spiegelt sich sowohl in verschiedenen, sporadisch auftretenden Stellungnahmen als auch in theoretischen Traktaten wider, die uns darüber weitgehend unterrichten. Aus programmatischen, in verschiedenen Schriften verstreuten Vorschriften, aus Mahnungen oder polemischen Wendungen des Isokrates läßt sich dessen große Bedeutung als des eigentlichen Grundgestalters der imitatioTheorie feststellen. Der Beitrag seiner sophistischen Vorläufer (wie Gorgias, Hippias), Mitstreiter oder Nebenbuhler (wie Alkidamas, Anaximenes, Polykrates) ist bisher nicht genug berücksichtigt worden.10 Die theoretischen Ansätze sind mit der Konstituierung der Epideiktik als einer zwischen Dichtung und Redekunst vermittelnden Gattung innig verbunden. Die aristotelische und anaximenische Lehre haben wichtige Leitgedanken und Kategorien zur Theorie dieser Gattung beigetragen. Die umfassende Kodifizierung der imitatio-Jheone, in der schon bemerkenswerte Interferenzen mit der philosophischen Mimesis-Doktrin vorliegen, erfolgte in dem uns bruchstückhaft erhaltenen De Imitatione des Dionys von Halikarnassos. Vieles läßt sich anhand seiner Epistula ad Pompeium Geminum und anhand der literaturkritischen, den attischen Rednern gewidmeten Schriften ergänzen. Daraus ergibt sich seine große Bedeutung als Theoretiker aber auch als Geschmacksrichter für eine Literaturpraxis, die zunehmend die klassischen Modelle befolgte.11 Eine ähnliche Beschaffenheit weisen auf: Philodemos als Dichtungstheoretiker (Über die Gedichte), Ps.-Longinus (Vom Erhabenen) und Demetrios (Vom Stil) als Stiltheoretiker, Horaz vornehmlich als Verfasser der Ars poetica, Dion Chrysostomos als improvisierender Theoretiker der Prosakunst (Oratio XVIII: Übung im öffentlichen Reden), Lukian als Theoretiker der Historiographie (Wie man Geschichte

11

Zu dieser Bedeutung des Isokrates vgl. Stemplinger, S. 121 und 127, wo auch wichtige Aspekte der Fortwirkung der isokrateischen imitatio-Lehie erwähnt werden. Vgl. außerdem J.W.H. Atkins, Literary Criticism, I, S. 127f.; Marrou, Gesch. d. Erz., S. 128; Bompaire, S. 60; Weische, Cicero, S. 135f., 165f. Vgl. Hermann Usener, in: Dionysii... lib. de imit. S. 24; 110f.; Ludwig Radermacher, Dionysios, Sp. 967f.; Kroll, Rhetorik, Sp. 1068; Bompaire, S. 26,60; Kennedy, The Art of Persuasion, S. 332f. 13

schreiben soll) und in der frühbyzantinischen Zeit Phoibammon als Verfasser einer apologetische Zwecke verfolgenden, essayistisch anmutenden De imitatione. Zwischen diesen Werken bestehen insofern wichtige Gemeinsamkeiten, als die meisten von ihnen ein ähnliches ästhetisches Denkmuster aufweisen, und Komplementaritäten, als sie unterschiedliche Gattungen zum Gegenstand haben.12 Die pädagogische Dimension, die bei diesen insofern mitwirkt, als sie alle, jeweils in unterschiedlichem Umfang, auch Techniken der Nachahmung vermitteln, tritt bei Theon und Quintilian in den Vordergrund, ohne daß die beiden den Zusammenhang mit der schriftstellerischen Praxis zu verdrängen brauchen. Schon früher aber war in der hellenistischen Zeit ein rhetorisch-technisches Gut entstanden, das beim Auctor ad Herennium und bei Cicero, hauptsächlich in De inventione, De optima genere und Orator in verschiedenen Kontexten verstreut vorliegt. Vor allem aber kommt Ciceros De Oratore in Frage, wo Erörterungen der imitatio von unschätzbarem Wert im Zusammenhang auftreten (II, 89-93). Die in den ciceronischen Schriften vorliegenden Anweisungen erfüllen außerdem eine Ersatzfunktion für die uns nicht mehr belegte hellenistische Schultheorie und vermitteln hiermit zwischen dem sophistisch-isokrateischen Gedankengut und der technischen imifafio-Lehre, die in der Schulteorie bereits der frühen Kaiserzeit innerhalb eines geschlossenen Systems integriert erscheint. Ist nun die Rolle und Bedeutung Quintilians unter anderem angesichts seiner umfassenden Betrachtungen über Wesen und Formen der Nachahmung (X, 2,1-28) hinreichend anerkannt, so ist die Bedeutung Theons und der von ihm abhängenden Verfasser von ProgymnasmataTraktaten sowie deren byzantinischer Kommentatoren bisher nur unvollständig oder einseitig beurteilt worden. Die Progymnasmata-Traktate bieten im Grunde ein einheitliches Corpus von Anweisungen für unterschiedliche Fertigkeiten und Techniken zum Erlernen des literarischen Verfassens im Rahmen feststehender Kompositions- und Stilübungen, die auf einem inventorischen und elocutionellen zum Schulgebrauch synthetisierten Grundstock beruhen. Die progymnasmatische Theorie, die dem westlichen Mittelalter durch die Vermittlung des Quintilian, Priscian, Julius Victor, Emporius und Isidor wohl bekannt war, hat vor allem auf die mittelalterliche Schulpraxis der Imitation, weniger aber auf die Konfiguration ihrer Theorie gewirkt. Diese hängt an erster Stelle mit der Entstehung einer als Synthese von antikem technisch-rhetorischem und literaturtheoretischem Lehrgut auftretenden Poetik zusammen. Dieser letzte Aspekt kommt zum Ausdruck zunächst in der Eigenart der karolingischen Scholia Vindobonensia zur Ars poetica Horazens, wo die für den Kern der späteren poetologischen i/nita//o-Lehre grundlegenden Quellen schon feststehen. Das sind neben der 12

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Vgl. dazu launisch, Horazens Epistel, S. 115-118; Georg Ammon, Quintilian, S. 238; Homeyer, Lukian, S. 86-81; Italo Lana, Quintiliano, S. 108, 151. Den Text des in seiner Bedeutung kaum erschlossenen Phoibammon hat zunächst August Brinkmann veröffentlicht und kommentiert (s. Phoibammon vor allem S. 117) und später Hugo Rabe in seinem Prolegomenon Sylloge wieder vorgelegt

Ars poetica die zwei 'ciceronischen' Rhetoriken, d.h. die des Auctor ad Herennium und De inventione. An zweiter Stelle kommen hier in Frage die Autoren-Kommentare der Spätantike wie die, die Aelius Donatus, Ti. Claudius Donatus, Servius den Vergilwerken widmeten. Das andere ciceronische wie auch das quintilianische Theoriegut gewannen erst im Laufe des 12. und 13. Jahrhunderts an Bedeutung. Die spätantiken Figuren-Traktate des Rutilius Lupus, Aquila Romanus, die rhetorisch-technischen Schriften des Fortunatianus, Ps.-Augustin, Martianus Capella, der Kommentar des Marius Victorinus zu De inventione waren die ganze Zeit bekannt, ohne jedoch so wichtig zu werden wie die 'ciceronischen' Rhetoriken. Die rhetorisch-technischen Schriften des Beda, Alkuin, Notker Labeo haben im Frühmittelalter keine bedeutende Neuerung hervorgebracht, zumal sie an die antike Tradition meistens eng anknüpften. Sporadische, jedoch für die Praxis der literarischen Imitation aufschlußreiche Angaben liegen in den Dichtungswerken eines Radbert von Corbie, Sedulius Scottus, Walther von Speyer vor. Die wichtigsten poetologischen Beiträge zur literarischen Umsetzung stammen aus unterschiedlichen zwischen dem 11. und dem 13. Jahrhundert entstandenen Schriften. Das sind erstens die gelegentlichen Stellungnahmen und Bemerkungen vor allem in Werkprologen und in Briefen verschiedener Autoren wie Marbod von Rennes, Arnulf von Lisieux, Hildebert von Lavardin, Alanus von Lilie, Johannes von Salisbury, Abälardus, dann in didaktischen Schriften, wie im Didascalicon Hugos von St. Victor und im Aeneis-Kommentar des Bernhard Silvestris. Die als Einleitung in die Werke antik-heidnischer und christlicher Autoren entstandenen anonymen oder aber Konrad von Hirsau, Bernhard von Utrecht zugeschriebenen accessus ad auctores enthalten wertvolles, aber unsystematisches Theoriegut der Imitation. Die größte Bedeutung weisen freilich die in der zweiten Hälfte des 12. und in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts verfaßten neuen Poetiken des Matthäus von Vendöme, Galfredus von Vinsauf, Gervasius von Melkley, Johannes von Garlandia, Eberhard des Deutschen auf. Sie leisteten nicht nur eine Umfunktionierung bzw. Ergänzung des Überlieferten, sondern davon ausgehend, brachten sie neues, auf die Literaturpraxis der Zeit bezogenes Theoriegut hervor. Schließlich sind die Dictamen-Traktate zu erwähnen, wie diejenigen von Galfredus von Vinsauf (oder von einem Homonymen), Guido Faba und Konrad von Mure, deren poetologische Elemente von den ihnen vorangegangenen Poetiken stammen.13 Im byzantinischen Kulturraum, auf den hier nur in begrenztem Ausmaß einzugehen ist, sind von großer Bedeutung die Kommentare unterschiedlichen Umfangs zu den Progymnasmata-Traktaten, wobei vor allem die des Johannes Sardianos im 10. Jahrhundert, 13

Es sei auf einige wichtige die Quellen der imirario-Lehre in Zusammenhang mit der Bestimmung der mittelalterlichen Poetik als einer teils grammatischen, teils rhetorischen Disziplin behandelnden Arbeiten hingewiesen: De Bruyne, I, S. 35-108, 216-243, II, S. 3-69; Baldwin, Medieval Rhetoric, S. 150-197; Curtius, ELLM, S. 71-89, 155-175; H. Brinkmann,, S. 29-81; Klopsen, Einführung, S. 64-82, 109-147; Quadlbauer, Die genera dicendi, S. 19-57, 63-149; Bagni, S. 23-32, 57-108; Krewitt, S. 260-443; A.J. Minnis, Medieval Theory of Authorship, S. 9-72; Haug, S. 10-15,25-73,75ff., 91f. 15

des Johannes Geometres und des Johannes Doxopater im 11. bzw. 12. Jahrhundert zu erwähnen sind. Hinzu kommen gelegentliche Beiträge anderer Autoren, wie Nikephoros Chrysoberges, Nikephoros Basilakes, Michael und Niketas Choniates, Johannes Tzetzes, deren schulliterarische Leistungen die progymnasmatische Lehre illustrieren und zugleich erweitern. Die lateinischen Poetiken des 12. und 13. Jahrhunderts und die zeitgenössischen byzantinischen Kommentare der Progymnasmata-Traktate bilden die obere Zeitgrenze in der vorliegenden Abhandlung. Die mittellateinischen Poetiken sind zugleich als Neusynthese und teilweise als Kulmination der zuerst von Isokrates und den Sophisten in ihren Grundzügen formulierten imitaf -Theorie anzusehen. Über die Zeitgrenze des Hochmittelalters hinaus fehlt es beim unverminderten Fortgang der weiterhin unter dem gleichen Bann der imitatio stehenden Dichtung an wichtigen, mit den früheren vergleichbaren theoretischen Leistungen auf diesem Gebiet. Erwähnenswertes brachten die rhetorischen bzw. poetologischen Beiträge beschränkten Umfangs zustande, die Brunetto Latini, Dante, später Benvenuto da Imola als Dantes Kommentator leisteten. Auf sie wirkte maßgebend die hochmittelalterliche PoetikLehre. Zwischen der griechischen spätklassisch-hellenistischen, dann der lateinischen literarischrhetorischen Theorie der Imitation einerseits und den Poetiken des Hochmittelalters andererseits, läßt sich eine vielfältige Kontinuität und Fortentwicklung feststellen, wobei die Progymnasmata, die rhetorisch-technischen Schriften, die Figuren-Traktate und die AutorenKommentare der Spätantike und des Frühmittelalters verbindende und zugleich bereichernde Zwischenstufen darstellen. Sowohl die klassisch-lateinischen Beiträge eines Cicero und eines Auctor ad Herennium als auch die der Theoretiker der Kaiserzeit und des Frühmittelalters lassen sich oft anhand ihrer jeweiligen griechischen Vorlagen oder Gegenstücke ergänzen, wobei Lücken, Unachtsamkeiten, zu knappe Formulierungen und Konfusionen meistens beseitigt bzw. vervollständigt werden können. In vielen Fällen geschieht auch das Umgekehrte, so daß man ohne Übertreibung von einer gegenseitigen Erhellung der griechischen und der lateinischen theoretischen Quellen in der Antike und im Frühmittelalter reden darf. Beim Ausbleiben aller unmittelbaren Einflüsse der klassisch-griechischen Theorie auf das lateinische Hochmittelalter begegnen wir bemerkenswerten Koinzidenzen unter anderem zwischen der Lehre des Isokrates und derjenigen des Galfredus von Vinsauf, wobei Horaz die Vermittlerrolle gespielt hat. Der unmittelbare Bezug auf die griechische Klassik kam erst zu Anfang des 13. Jahrhunderts und nur zögernd zustande, als die Anaximenes-Rhetorik, dann die Rhetorik und die Poetik des Aristoteles ins Lateinische übersetzt wurden.

16

1.1.2.

Definitorische Aspekte der imitatio

Die in der Altsophistik wurzelnde klassische Rhetoriklehre forderte als Voraussetzungen der Rednerausbildung zun chst eine g nstige Geistesveranlagung (φυσις-natura-ingenium), dann die Gegenwart der τεχνη-ars als Gesamtheit theoretischer und praktischer Regeln, deren Aneignung zur Gestaltung und Durchf hrung der Rede erforderlich sind, und schlie lich die ασκησις-exercitatio, die vorl ufig als praktische Handhabung der ars im Laufe eines mehrstufigen, zur Vervollkommnung des Redners f hrenden bungsprozesses zu definieren ist. W Diese drei Faktoren sind aber dar ber hinaus allgemeine Konstanten der literarischen Ausbildung, die sowohl in den Kontinuit ts- und Umbruchszeiten des Fr hmittelalters wie auch bei der Wiederankn pfung der P dagogik und Poetik des Hochmittelalters an die antike Tradition festzustellen sind. So begegnen wir dieser Trias in einem hnlichen Wortlaut unter anderem bei Hugo von St. Victor und bei Gervasius von Melkley.15 Wir treffen bezeichnenderweise schon in der schulrhetorischen Lehre des Sp thellenismus eine modifizierte Form dieser Trias, wobei anstelle der natura die imitatio auftritt.16 Diese wird vom Auctor ad Herennium wie folgt definiert: Imitatio est qua impellimur cum dilligenti ratione ut aliquorum similes in dicendo valeamus esse (1,2,3). In De oratore, II,89ff., weist 14

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16

Es w re zun chst Phaidon, 269D zu zitieren, wo Platon protagoreisches Gut auffuhrt, dann Herakleides von Pontos (bei Karl Barwick, Die Gliederung, S. 45, 58), dann Isokrates, Antidosis, 187, Adv. Sophistas, 14-8. Diogenes Laertios (Vitae et doctrinae V, 18) bezeugt die aristotelische bernahme dieser Trias. Dionys, De imit. I ft. II, S. 200. Cic. (De or. 11,232) bietet hierf r eine relative Entsprechung in der Trias: natura, Studium, exercitatio. De or. 1,114-159 behandelt die Substanz dieses Lehrgeb udes. An anderer Stelle, De or. 11,147-152, taucht bei Cic. acumen oder Ingenium als Synonym der natura, dann ratio anstelle der ars und diligentia anstelle der exercitatio auf. Seinerseits z hlt Dionys, De imit.. I fr. II, S. 200, drei Komponenten der αρίστη έ'ξις- als der besten rednerischen Bef higung: die gescheite Natur (φύσις δεξία), das genaue Wissen (μάθησι? ακριβής·) und die angestrengte bung (ασκησις επίπονος·). Quint., 111,5,1 redet vonfacultas orandi, die sich durch das Zusammenwirken von natura, ars, exercitatio erf llt. S. auch Cassiodorus, De artibus, Sp. 1157, der wie immer Quint, eng folgt. Es w re au erdem noch Tac. Dial. 33, zu erw hnen. Zu diesem Problem vgl. im allgemeinen Stemplinger, S. 121ff.; Harry Caplan, in: Ad C. Herennium, S. 7f. Anm. C, und Giorgio Calboli, in: Cornifici Rhetorica, S. 211 Anm. 1; Volkmann, Rhetorik, S. 30; Lausberg, §§ 3-8 und 1092; Fuhrmann, Lehrbuch, S. 43; Atkins, I, S. 128f.; A. Michel, Rh6t. et phil., S. 119ff; ders., in: Taciti, Dial. S. 105f. und Imitation, S. 1725; Anton Daniel Leeman, Het rhetorisch onderwijs, passim. Isidor, Etym. 11,1,3 bietet natura, doctrina, usus, wobei er den letzteren Terminus durch assiduitas erkl rt. Wir begegnen natura, exercitium, disciplina bei Hugo von St. Victor, Didascalicon 111,7, und Gervasius von Melkley, Ars poetica, S. 3, 25-4,7. Vgl. Jerome Taylor, The Didascalicon, S. 213, der die klassischen Vorlagen Hugos, darunter De or. und Quint., angibt. S. auch Faral, S. 328; De Bruyne, II, S. 17. Die gleiche Trias liegt implizite der P dagogik Bernhards von Chartres zugrunde, wie sie von Johannes von Salisbury, Metalogicon 1,24 dargelegt wird. Vgl. Auct. ad Her. 1,2,3: ars, imitatio, exercitatio, w hrend De inv. 1,1,2 ars, Studium, exercitatio angibt, wobei die imitatio beim Auct. ad Her. offensichtlich dem Studium beim jungen Cicero entspricht. Kroll, Studien, S. 147, f hrt diese Neuerung auf die Lehre des Hermagoras zur ck. Zu ihrer Bedeutung vgl. Barwick, Das Bildungsideal, S. 8f. Vgl. auch Kroll, Rhetorik, Sp. 1113. 17

Cicero, wie noch zu sehen ist, der mit dem Studium zusammenh ngenden imitatio (studio atque imitatione) die Bedeutung eines die natura vervollkommenden Faktors zu und macht daraus die Voraussetzung der exercitatio. Bei der Er rterung der Trias natura, ars, exercitatio betrachtet Quintilian die imitatio als einen Bestandteil der ars, wobei er sich von anderen anonymen Theoretikern abhebt, die darin den vierten Grundpfeiler (quartam partem) der Rednerausbildung sehen wollten.17 All dies l t zum einen auf die grundlegende Bedeutung, die der Imitation im schulrhetorischen Ausbildungskonzept schon von Anfang an beigemessen wurde, zum anderen auf die Schwierigkeiten schliessen, die man hatte, ihr einen genauen Platz zuzuweisen: Als Konkurrent der natura oder als Teil der ars oder wohl als selbst ndiger, den beiden gleichberechtigter und die exercitatio bestimmender Faktor tritt die imitatio als ein Schl sselbegriff sowohl der schulrhetorischen P dagogik als auch des literarischen Schaffens auf, indem ihr die Verschwisterung mit jedem der drei Faktoren der Trias natura, ars, exercitatio zugeschrieben wird. 18 Wir wollen versuchen, dies anhand der vielf ltigen Bestimmung der imitatio durch Dionys von Halikarnassos zu ergr nden, der darin mit den Auffassungen der anderen Theoretiker mehrfach bereinstimmt bzw. sich durch sie erg nzen l t. Er bedient sich dabei zweier Begriffe, die bald zusammenfallen, bald wieder auseinanderzugehen scheinen: μίμησις und ζήλος.19 Als solche haben sie eine ann hernde Entsprechung in den Begriffen μίμησις, ζήλωσις bzw. άποτυπωσις bei Ps.-Longinus 13,2,4. Dar ber hinaus sind die spezifisch lateinischen Begriffe imitatio und aemulatio hiermit ebenfalls in Zusammenhang zu bringen. Vorl ufig sind sie als zwei Aneignungsmodalit ten griechischer Muster durch r mische Autoren zu verstehen. In der Auffassung des Dionys l t sich die psychologische wie die sthetische Dimension der imitatio von dem p dagogischen Moment insofern schwerlich trennen, als der griechische Rhetor auf die quivalenz des 'imitatorischen' Vorgangs mit einem mehrstufigen Lernproze zu verweisen scheint: "Wir m ssen die Werke der Alten studieren, um uns von dort nicht nur Stoff f r unser Thema, sondern auch die F higkeit zur Nachbildung (ζήλος) ihrer Stileigent mlichkeiten zu verschaffen. Denn die Seele des Lesenden wird durch die andauernde Beobachtung in den Stand gesetzt, sich in einer hnlichen Schreibart auszudr cken. Aus der Nachahmung (μίμησις) geformter Rede geht hnlichkeit hervor; man eifert dem nach (ζήλος), was man bei einem jeden der alten Schriftsteller f r besonders gelungen h lt, und leitet so gleichsam ein aus zahlreichen Quellen gespeistes Wasser in seine Seele".20 17

Vgl. Quint. 111,5,1; dazu Immisch, S. 103. Lausberg, § 6, schlie t daraus, die imitatio sei als grundlegende Erg nzung der ars angesehen worden. S. auch Barwick, Die Gliederung, S. 44f., 58f. 18 Vgl. die von Barwick ebd., S. 45, gebotene Bestimmung der imitatio als "Studium musterg ltiger Vorbilder und deren Nachahmung". 19 Die Dialektik dieser zwei Komponenten der imitatio wird von Fuhrmann, Einf hrung, S. 170f. anhand der fragmentarisch erhaltenen De imitatione und der sie erg nzenden Passus aus den literarisch-kritischen Schriften des Dionys wie De Thucydide, De Lysia, De Dinarcho einleuchtend dargelegt. 20 De imit. II, fr. VI, S. 202,18ff. und S. 203,6-10 in der bersetzung Fuhrmanns, Einf hrung, S. 170 18

In der an anderer Stelle begegnenden Kontraststellung von μίμησις- und ζήλος- erscheint die erstere als ein passiv-rezeptives Moment, das die Ausgangsbasis f r den aktivisch auftretenden ζήλος- bildet, wobei die dialektische Komplementarit t dieser zwei Prozesse offensichtlich ist.21 Ζήλος verweist also auf ein dynamisches Moment, n mlich auf das Streben der Seele nach Selbsterh hung durch Nach- bzw. Wetteifern mit dem gegebenen Vorbild.22 Der bergang von der bung zum selbst ndigen Schaffen wird hier impliziert. Ps.-Longinus wertet dieses als F higkeit hinrei ender Begeisterung, ja Entr ckung durch das Vorbild (8,4; 13,2), was er als den "zweiten Weg zu den H hen" bezeichnet; das setze das wagemutige Geistesstreben des Nachahmers voraus, seine Leistung dem von ihm verehrten Meisterwerk anzugleichen.23 Seinerseits l t Theon auf eine n chterne Weise die erfolgreiche μίμησις· von der Einpr gung der sch nen Vorbilder in die Seele abh ngen (Prag. S. 61, 30f.). Mit anderen Worten erscheint die μίμησις·ah passiv-rezeptive Phase des geistigen Heran Wachsens, im Laufe dessen "die gerechte Natur" durch intensive Lehre zweckm ig modelliert wird. Hingegen wird der ζήλ ος· durch Nacheiferungsdrang und durch die angestrebte berbietung des Modells bestimmt.24 Dem Asianer Hegesias zufolge sollte das Verfehlen zu hoch angesetzter Ziele als ein edles Vergehen angesehen werden (Ps.-Longinus, III, 3). Die μίμησις· d rfte, wie weiter auszuf hren ist, mit der mehr oder weniger frei nachahmenden und der ζήλος- mit der emulativ-sch pferischen Schreibt tigkeit zusammenfallen. Ein gewisser Niederschlag dieses in den hellenistischen Kreisen vermutlich viel debattierten Problems scheint aus der Definition der imitatio beim Auctor ad Herennium hervorzugehen: imitatio est qua impellimur cum dilligenti ratione ut aliquorum similes in dicendo velimus esse (I,2,3).25 In seiner Abhandlung ber imitatio stellt Quintilian zun chst prinzipielle berlegungen zum Spannungsverh ltnis zwischen blo er Nachahmung und sch pferischem Wetteifer an 21

Die Nachahmung (μίμησις) ist eine T tigkeit, die das Muster mit Hilfe genauer Betrachtung abbildet; die Nacheiferung (ζήλος·) aber ist ein Streben in der Seele, die durch das, was ihr sch n erscheint, zu Bewunderung hingerissen wird". De imit. l fr. III, S. 200,22-5, in der bertragung Fuhrmanns, ebd. S. 171; dazu Kennedy, The Art of Rhetoric, S. 348; A. Michel, Imitation, S. 1725; Russell, De imitatione, S. lOf. 22 Vgl. Kroll, Rhetorik, Sp. 1115; Fuhrmann, ebd.; Kennedy, The Art of Rhetoric, S. 34; A. Michel, ebd. S. 1725f.; Fantham, Imitation and Evolution, S. 1; Flashar, S. 87. 23 Vgl. Immisch, S. 102; Fuhrmann, ebd., S. 177; Herbert Hunger, Mimesis, S. 17ff; Flashar, S. 89ff. 24 Die gerechte Natur lautet bei Dionys φύσις· β€ξία (De imit. I fr. II, S. 200); dazu Flashar, S. 87. Cic. in De inv. 1,1,2 formuliert es:facultas ab natura profecta. Die ars lautet sonst bei Dionys μάθησις ακριβής. Zu den zwei Str ngen der ars bei den Lateinern, der doctrina (Unterricht) und der disciplina (Gegenstand des Unterrichts) vgl. Lausberg, § 4, mit Berufung auf Quint. 11,14,5. Die Phase der nacheifernden exercitatio lautet bei Dionys auf vielsagende Weise άσκησις επίπονος. Im erw hnten Passus aus De inv. 1,1,2 erscheint neben ars, natura und exercitatio auf ungew hnliche Weise das Studium als vierter Faktor; dazu Hubbel, in: Cic., De inv., S. 4f. Anm. d. Das Studium d rfte hier das passiv-rezeptive Moment innerhalb der exercitatio bedeuten. S. unten S. 55ff. Zur Eigenart der μίμησις und des ζήλος als Grunderfordernisse der Paideia vgl. Atkins, II, S. 112f. ^ Im Syntagma diligenti ratione sind brigens die begrifflichen quivalenzen ars-ratio und exercitatiodiligentia aus De or. II,147ff. zu erkennen.

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und ergreift anschlie end Partei f r den letzteren, indem er pragmatische Argumente auffuhrt, die die dionysische Auffassung eigentlich erg nzen.26 Vor allem bei Ps.-Longinus gewinnt man den Eindruck, da bei der inneren Verflechtung der μίμησις-und des ζήλος-das Irrationale als das bindende Medium gedacht wird, kraft dessen sich die allm hliche Verkl rung des zun chst sein Vorbild blo reproduzierenden μιμητής in die Gestalt des inspirierten, sch pferisch wirkenden ζηλωτής· vollzieht. Eine solche sich jeder Analyse entziehende Komponente bedingt im allgemeinen das sch pferische Kunstwerk, bei dem Zugeh rigkeit zu einer bestimmten Schule bzw. Abh ngigkeit von einem bestimmten Muster erkennbar sind.27 Wie noch zu zeigen sein wird, ist die Nachahmung griechischer Muster durch die r mischen Autoren und dar ber hinaus die Nachahmung lateinischer und mittellateinischer, griechischer bzw. byzantinischer Werke durch die volkssprachlichen Autoren des Mittelalters und der Renaissance grunds tzlich von den gleichen Prinzipien und Strategien geleitet, wie sie in dem Schul- und Literaturbetrieb des nachklassischen Griechenland formuliert worden waren: Dort wurde die μίμησις· των αρχαίων zum Leitfaden literarischen Sch pfertums. Bei allen diesen verschiedenen Formen des Kulturtransfers treten bestimmte psychop dagogische Konstanten auf, die im Geistesleben der modernen Zeit mutatis mutandis wirksam sind.

1.2.

Die imitatio als tractatio: Die Umst nde der Nachamung

Die er rterten rhetorisch-literarischen, p dagogischen und sthetischen Aspekte der imitatio bildeten im erw hnten De imitatione des Dionys den Gegenstand einer ersten der allgemeinen Untersuchung dieses Vorgangs gewidmeten Abteilung, die'/f nepi της· μιμήσ€ως· ζήτησις· betitelt wurde. Die dazugeh rige Rechtfertigung der Nachahmung, etwa an imitandum, wurde viel sp ter von Phoibammon in seinem erw hnten Traktat in extenso ausgef hrt. 26

27

20

Vgl. X,2,l-28. Hier wird zun chst die grunds tzliche Beziehung der inventio zu imitatio festgestellt: Neque enim dubitari potest, quin artis pars magna contineatur imitatione. nam ut invenire primum fuit estque praecipuum, sie ea quae bene inventa sunt utile sequi (2,1). Unter den Argumenten f r eine wetteifernde imitatio f hrt er an: n/A// autem crescit sola imitatione... (2,9); eum vero nemo potest aequare, cuius vestigiis sibi utique insistendum putat...adde quod plerumque facilius est plus facere quam idem (2,10);... adde quod quidquid alien simile est, necesse est minus sit eo, quad imitatur (2,11); adde quod ea, quae in oratore maxima sunt, imitabilia non sunt, ingenium, inventio, vis, facilitas et quidquid arte non traditur (2,12). In seinen kritischen Schriften vertritt Dionys ebenfalls die Meinung, die Sch nheit und Vollendung des Vorbildes seien nicht durch Nachahmung zu erreichen (De Dinarcho, 7); dazu Kroll, Rhetorik, Sp. 1115. Diesen Aspekt mochte Dionys im ersten Buch seiner De imitatione ausgef hrt haben. Vgl. Ad Pomp. Gem. 3. Eine Apologie der Nachahmung liegt bei Phoibammon vor als Einleitung seines Kommentars zu Hermog. Id. Vgl. Rabe, Sylloge, S. 375ff. Da die Nachahmung der Griechen durch die R mer nicht als Einzelfall der imitatio anzusehen ist, hat seinerzeit schon Stemplinger, S. 121f., betont. S. auch Kroll, Rhetorik, Sp. 1113ff.; Russell, De imitatione, S. l, und ders., Criticism, S. 99, 142f.

Im dionysischen Traktat folgten darauf zwei weitere in getrennten Abteilungen diskutierte Hauptpunkte, die als Verwirklichungsprinzipien der Nachahmung anzusehen sind:nVas· ανδρός μιμεΐσθαι δ€ΐ -quos imitandum - und -πως δ€ΐ μιμ€ΐσθαι- quomodo imitandum. Das Wesentliche aus der ersten Abteilung ist uns durch umfangreiche Exzerpte bekannt, w hrend die Behandlung des Punktes quomodo imitandum im dionysischen Traktat uns viel unvollst ndliger bzw. indirekt bekannt ist.28 Eine derart wichtige Problematik wird uns aber anhand der sich auf die Rednernachahmung beziehenden Er rterungen Ciceros und Quintilians dokumentiert und zugleich um einen bedeutenden Punkt erweitert. Die lateinische Lehre stellt auf diese Weise mehr als ein Pendant zur dionysischen Lehre dar. Hierbei geht die Theorie Quintilians auf die ciceronische, die in dieser Hinsicht vollst ndiger ist, zur ck. Die Theoretisierung Ciceros (De or. 85-98), erfolgt nun im Zusammenhang mit dessen pers nlichen aus der praktischen Erfahrung erworbenen Vorstellungen, w hrend die u erungen Quintilians als Bestandteil seiner allgemeinen i/nitafi'o-Lehre auftreten (X,2,l27): Cic. De or. II.90: Ergo hoc sit primum in praeceptis meis, ut demonstremus, quem imitemur, atque ita, ut quae maxime excellent in eo...quem imitabitur, ea diligentissime persequatur; turn accedat exercitatio, qua ilium, quem delegerit, imitando effingat atque exprimat... Quint X,2,14: primum, quos imitemur: nam sunt plurimi, qui similitudinem pessimi cuiusque... concupierint: turn in ipsis, quos eligerimus, quid sit, ad quos nos efficiendum comparemus. Weiter gegen Ende des Absatzes: Imitatio...non sit tantum in verbis. illuc intendenda menj, quantum fuerit illis viris decoris in rebus atque personis quod consilium, quae dispositio...(27) Hierbei werden m.E. die zwei dionysischen Konzepte wie folgt vertieft und zugleich erg nzt: 1. Es stehen zun chst dem dionysischen quos imitandum zwei Umst nde oder Peristasen (laut grammatikalisch-rhetorischer Terminologie) des Ph nomens Imitation, und zwar persona (quem imitemur) und res (quid imitemur) gegen ber: a) quem bzw. quos imitemur beziehen sich wie bei Dionys auf die nachzuahmenden Autoren. b) quae excellent in eo...ea...persequatur bzw. quid sit ad quod nos...comparemus weisen auf den vorbildlichen Gegestand der Nachahmung. Was Cicero und im Anschlu an ihn Quintilian zun chst allgemein formulieren, wird vom letzteren kurz darauf im einzelnen Das dionysische Grundschema ist dem Brief Ad Pomp. Gem. 3, zu entnehmen, wo Dionys aus dem zweiten Buch seines De imitatione, und zwar aus der Abhandlung ber die Vorbilder der Nachahmung in extenso zitiert; dazu im allgemeinen Kennedy, The Art of Rhetoric, S. 346f. Zur Lehre Phoibammons vgl. A. Brinkrnann, S. 117. 21

dargelegt, indem er die wichtigsten Aspekte des nachzuahmenden Gegenstandes: verba, res, personae, consilia, dispositio anf hlt. 2. Das dionysische quomodo imitandum als modal-instrumentale Peristase der Imitation hat seine Entsprechung im ciceronischen Moment der exercitatio. Hierher geh ren die Realisierungswege und -phasen der Nachahmung.29 Das sind Hauptpunkte, deren ausf hrliche Untersuchung dazu beitragen wird, den Zentralbegriff der vorliegenden Arbeit zu ergr nden: die wichtigsten Aspekte der literarischrhetorischen tractatio als Hochstufe der imitatio.

l .2. l.

Quos imitemur: Die nachzuahmenden Autoren

Als erstes wird von den Theoretikern der imitatio die Frage quos imitemur, d.h. nach den Musterautoren der Dichtung, Philosophie, Historiographie und Rhetorik gestellt.30 Solche Vorbilder wurden einer allgemeinen Vorstellung zufolge, die sich nuancieren l t, zun chst in den Leistungen einer sthetisch idealisierten und daher als klassischer Epoche gew rdigten Entwicklungsphase der griechischen Literatur gesucht. Die Auswahl lesens- und nachahmenswerter Schriftsteller, schlug sich bekanntlich in dem von der alexandrinischen Philologie aufgestellten Kanon nieder und bildete die Voraussetzung einer klassizistisch gepr gten imitaft'o-Theorie, deren Kodifizierung im 1. Jahrhundert v. Chr. im Zusammenhang vor allem mit dem Werk des Dionys datiert wird.31 Bezeichnenderweise geht bei Quintilian die ausf hrliche literaturgeschichtliche Skizze (X,l,20-131) der allgemeinen Er rterung der Imitation voraus (X,2,l-2).32 Die Autoren-Erw hnung in den Progymnasmata-Traktaten setzt - vielleicht mit Ausnahme Theons - eine f r die mittlere und obere Stufe des Schulunterrichts beim grammaticus bzw. beim rhetor geeignete Auswahl voraus, w hrend die Autorenliste des Dionys in De imitatione 29

Der Satzteil bei Cic. De Or. 11,90: atque ita, ut quae maxime excellent in eo quern imitabimur, ea diligentissime persequatur, wird von manchen Herausgebern als Interpolation aus ebd. 11,92: deinde quem probarit, in eo, quae maxime excellent, ea diligentissime persequatur betrachtet Dazu Augustus S. Wilkins, in: Cic. De or. S. 272. Wir folgen hier aber der Lesart Piderits, in: Cic. De or. S.187, Anm. 22,90, der darin die Quelle von Quint. X.2,14: quid sit ad quod nos efficiendum comparemus sieht. Zur Bedeutung der ciceronischen Er rterung, vgl. A. Michel, Imitation, S. 1726: "Tout ce passage est celui o Ciceron doveloppe avec la plus grande precision les regies de l'imitation". Zur theoretischen Zusammengeh rigkeit der dionysischen Lehre mit dem quintilianischen Standpunkt vgl. Immisch, S. 103: "So entsteht innerhalb des grammatisch-rhetorischen Systems ein f rmliches Sondergebiet, das Kapitel uepi μιμήσεως, wie wir es aus Quint., X, kennen und wie es in Horazens Zeit Dionys' so betiteltes Werk darstellte, mit dem Grundschema an imitandum, quos imitandum, quomodo imitandum..." Von der dionysisch-ciceronischen Lehre aus geht offenbar die /mi'ra/i'o-Einteilung Scaligers in: quod imitemur (res et verba) quare imitemur, quo imitemur, quomodo imitemur (Poetice VII,l (Idea), S. 80.

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Vgl. Dionys, Ad Pomp. Gem. 3: τίνας άνδρες μιμεΐσθαι fei ποιητας, ιστοριογράφους, ρήτορας.

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Vgl. Kroll, Rhetorik, Sp. 1108, 1114; Barwick, Das Bildungsideal, S. 9; Kennedy, The Art of Rhetoric, S. 346; Flashar, S. 83f.; Marrou, Gesch. d. Erziehung, S. 296f. Dazu Fantham, Imitation and Decline, S. 103.

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22

(II, fr. II-VI, S. 204-214) und auch die erwähnte literaturgeschichtliche Skizze Quintilians, die auf Dionys oder auf einer den beiden gemeinsamen Quelle beruhen dürfte, einen anspruchsvolleren Charakter aufweisen. Die von den als Literaturkritikern tätigen Schulrhetoren aufgestellten Autorenlisten dienten eigentlich zur Fortbildung bzw. Geschmacksorientierung des ausgebildeten Publikums, wozu an erster Stelle die literarischen Dilettanten zählten.33 Eine solche Liste erstellte Dion (Oratio XVIII,7f.) für einen mit ihm befreundeten Literaturliebhaber. Ebenfalls höhere Ansprüche setzen die kritischen Kommentare des Ps.-Longinus, des Dionys selbst in De compositione verborum oder die literatur-kritischen Äußerungen des Hermogenes in De ideis (S. 395,8-17; 403,20ff.; 410,20-425,15) voraus.34 Es bestanden allerdings von Anfang an fließende Grenzen, von Fall zu Fall bedeutendere oder geringere Überschneidungen zwischen der Literaturauswahl der professionellen Kritiker und derjenigen, die beim Unterricht des grammaticus oder des Rhetors im Gebrauch war.35 In der Zusammenstellung eines solchen Klassikerkanons verweist in der Regel die Reihenfolge Dichter, Geschichtsschreiber, Redner auf das Prinzip des Fortschreitens des Studiums vom Leichteren zum Schwierigeren, was auf die jeweils entsprechenden Unterrichtsstufen des grammaticus und des Rhetors zu beziehen ist. Wie man Quintilian entnehmen kann, waren es bei den Griechen die Dichter Homer, Hesiod, Theokrit, Kallimachos, Alkaios u.a.; die Redner Demosthenes, Aischines, Hypereides, Lysias, Isokrates und Demetrios von Phaleron. Bei den Lateinern waren es die Dichter Vergil, Lukrez, Ennius, Ovid als Epiker und Elegiker, weniger als Tragiker, dann Valerius Flaccus, Lucanus, Horaz, Persius, Plautus, Terenz u.a.; die Historiker Sallustius, Titus Livius u.a.; die Redner: Cicero, Asinius Pollio, Caesar u.a.36 Die Philosophen werden von Dionys an die Historiker, von Quintilian aber an die Redner angereiht, wobei sie bekanntlich als Nahrung der geistigen Elite im Hochschulunterricht dienen sollten.37 Daran hat sich in der christlichen Spätantike im Grunde nichts geändert, wie uns die Autorenliste in Hieronyms Apologia contra Rufinum und vor allem die von demselben in der

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Die Aufzählung der von Theon erwähnten Autoren durch Julius Penndorf, Progymnasmata, S. 19f., weist auf eine sehr ausgiebige Selektion, die mit derjenigen des Quint, und Dionys durchaus vergleichbar ist Vgl. Fuhrmann, Einführung, S. 172f. In seinem Kap. 'Lektürekanon' (S. 108-115) erörtert Stemplinger solch wichtige, aber weniger bekannte Autoren-Aufstellungen, darunter diejenige des Dion in Oratio XVIII, des Hermog. in Id., des Proklos in dessen Chrestomathie, des Anekdoten Estense usw.; s. im allg. Bompaire, S. 86-92; Radermacher, Kanon, Sp. 1873f. Zur Charakteristik des Schulprogrammes der Lektüre vgl. die Ausführungen Marrous, Gesch. d. Erziehung, S. 237-240. Dazu Hermann Usener, in: Dionysi libri de im//., S. 130; Radermacher, ebd. Sp. 1874f., 1878; Fuhrmann, ebd. Vgl. die Reihenfolge bei Dionys, De imit. II, fr. H-V, S. 204-214, und Ad Pomp. Gem., 3ff.; QuinL 1,8,5-12, X,l,46-85, für die griechischen Autoren und 85-125 für die Lateiner. Dazu im allg. Radermacher, Zur siebenten Satire Juvenals, S. 529f.; Marrou, Gesch. d. Erziehung, ebd.; Flashar, S. 85; Fuhrmann, ebd., S. 172; Norden, II, S. 671f.; Curtius, ELLM, S. 436. Dazu Marrou, ebd., S. 305ff; ders., Ltoole, S. 132f. 23

Epistula 58,5,2 aufgestellte Reihenfolge nachahmenswerter Dichter (Homer, Vergil, Menandros, Terenz), Historiker (Thukydides, Sallustius, Herodot, Titus Livius), Redner (Lysias, die Gracchi, Demosthenes, Tullius) bezeugt. Dasselbe geht aus den Exempla elocutionum des Rhetors Messius gegen Ende des 4. Jahrhunderts n. Chr. hervor, der sich eine aus Vergil, Terenz, Sallust und Cicero bestehende quadriga als Stilmuster auswählte.38 Wie uns die in den Dichtungswerken des Frühmittelalters sporadisch auftretenden Autorenlisten unterrichten, die christliche Dichter wie Prudentius, Juvencus, Sedulius neben den Heiden Vergil, Horaz, Ovid und Lucanus bereits aufgenommen haben, läßt sich vor der Karolingerzeit das Fortbestehen des antiken Schulkanons explizit zwar nicht nachweisen, aber auch nicht verneinen.39 In der Nachfolgezeit begegnen wir, m.E. nicht durch reinen Zufall, der Reihenfolge: Dichter (Maro, Statius, Terentius), Satiriker (Juvenal, Persius), Historiker (Lucanus historiographus) im Schulprogramm Gerberts von Aurillac in Reims. Ähnliches läßt sich im Schulprogramm Walthers von Speyer feststellen.40 In den späteren Autoren-accessus vom 11. bis 13. Jahrhundert rücken die Historiker, zu denen Lucanus weiterhin zählt, und die Philosophen, nämlich Cicero und Boethius, in die Mitte der Autorenliste. So führt Konrad von Hirsau an: Cato, Aesopus, Avianus, Juvencus, Prosperus von Aquitanien, Theodulus, Arator, Prudentius, Tullius, Sallustius, Boethius, Lucanus, Horatius, Ovidius, Statius, Vergilius. Der Leitfaden ist diesmal offenbar das Prinzip des Fortschreitens von leichteren auctores minores wie Cato, Avianus, Theodulus, über die dichtenden Bibelparaphrasten zu den anspruchsvolleren Klassikern als auctores maiores. Die Reihenfolge schließt Vergil als Klassiker par excellence ab.41 Die nach Epochen eingeordnete Autorenliste im Registrum multorum auctorum Hugos von Trimberg (V. 30ff., S. 18ff.) bietet für die erste Zeitstufe der klassischen Antike die Reihenfolge: Vergil, Horaz, Ovidius, Sallustius, Tullius, was auf die antike in specie quintilianische Stufenfolge: Dichter, Historiker, Redner zurückführt. Wie in der Antike bleibt auch im Mittelalter das Studium der Dichter fortdauernd die erforderliche Vorstufe des Rhetorik- und Dialektikunterrichts innerhalb des triviums. Darüber hinaus stellte es die Grundlage des ethischen und theo-

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Dazu Marrou, ebd., S. 407,587; Günter Glauche, Schullektüre im Mittelalter, S. 3f.; Reiff, S. 121. Dazu Glauche, S. 5-10, mit Stellenangaben; Reinhard Herzog, Die Bibelepik, S. XXIIf.; Peter Godman, Poetry, S. 8f. Richerus von Reims, Hist. IH,46f., S. 102, zufolge galt in der Schule Gerberts von Aurillac die Reihenfolge Dichter, Satiriker, Historiker als Einführungsstufe für den Dialektikunterricht. An der Speyerer Domschule galten die Dichter ebenfalls als Vorstufe des Dialektikunterrichts, worauf das Rhetorikstudium folgte. Vgl. Walther von Speyer, Libellus scholasticus, V. 91-147; dazu Peter Vossen, S. 74ff., 90f., 117; Glauche, S. 62-83, der sich mit der Kanonbildung und Fluktuation am ausführlichsten befaßt. Vgl. bei ihm vor allem S. lOff., 23ff., 31ff., 37,59ff. Zum Schulprogramm Notkers des Deutschen in St. Gallen, wo die höchste Stufe durch die Lektüre der Philosophen vertreten war, vgl. Glauche, S. 84f. Im byzantinischen Osten wurden bekanntlich die antiken Verhältnisse beibehalten; dazu Robert Browning, Studies, S. 15f.; Norden, II, S. 690f. Vgl. Konrad von Hirsau, Dialogus ad auctores, §§ 328-1570; Accessus ad auctores, S. 12-54; dazu Curtius, ELLM, S. 59.

logischen Studiums dar.42 Es kann bei alledem kaum die Rede sein von einem feststehenden und herrschenden Literaturkanon, wie er den archaisierenden Autoren der Spätantike vorgeschwebt zu haben scheint. Auf dem Gebiete der Literaturkritik wurde der Kanonbegriff nur im relativen Sinne verwendet. Allerdings hatte schon der hellenistische Kanon der Grammatiker eine variable Aufstellung und Autorenzahl aufgewiesen.43 Es wäre nun zu erklären, in welchem Ausmaß der /m/tafio-Gedanke die Kanonbildung und -emeuerung bestimmte. In den attizistischen Kreisen des Späthellenismus entstand die Auffassung, daß nicht nur die Klassiker, sondern auch die archaischen Schriftsteller wie Archilochos, Stesichoros und selbst Homer im Grunde Imitatoren gewesen seien: So stellte Strabo Homer als Bearbeiter einer hypomnematischen Vorlage über den trojanischen Krieg hin.^Theon (S. 62,21-64,17) stellte unter dem Stichwort der Paraphrasierung die folgenden Dependenzen fest: Homer - Archilochos; Homer - Demosthenes; Thukydides - Theopompos; Lysias und Lykurgos - Demosthenes. Bekanntlich behauptete man andererseits, daß die großen attischen Redner Demosthenes, Hypereides, Aeschines, Lykurgos von Isokrates abhängen.45 In seiner literar-historischen Übersicht (De imit. II-fr.II-VI, S. 204-214) will Dionys die ^ /. ^/fAwais'-Beziehung von einer Generation zur anderen auf allen vier Literaturgebieten: Dichtung, Historiographie, Redekunst und Philosophie feststellen. Ein noch komplexerer Leitgedanke liegt den Vitae Sophistarum des Philostratos zugrunde. So hebt dieser bei den wichtigsten Vertretern der Neusophistik eine doppelte Abhängigkeitsbeziehung hervor: zum einen die entfernteren Vorbilder der klassischen Zeit: Gorgias, Isokrates, Lysias, Demosthenes usw., zum anderen die unmittelbaren Lehrmeister der neuen Sophisten. Die letzteren seien ihrerseits zum Vorbild für ihre jeweiligen Schüler und zugleich für deren spätere Nachahmer aus dem 4. Jahrhundert geworden, wie Eunapios, der Fortsetzer der philostratischen Vitae, konstatierte (S. 346, 358,468,516,520, 542). All dies hatte eine gewisse Relativierung des kanonischen Wertes der Klassiker zur Folge zugunsten der durch den Generationenwechsel veranlaßten Bewertung der jeweils neu auftretenden Autoren.46 Die Bedeutung der Kanonerneuerung impliziert Quintilian unmiß42

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Vgl. Konrad von Hirsau, §§ 1254-67; dazu Curtius, ELLM, S. 436; Edouard Jeauneau, Lectio philosophorum, S. 360ff.; Philippe Delhaye, L'enseignement, S. 77-80; Salmon, S. 77ff; Rolf Köhn, Schulbildung, S. 228ff.; Minnis, S. 15-40. Vgl. Radermacher, Kanon, Sp. 1876f; Flashar, S. 85. Vgl. Geographica 1,2,9; dazu Richard Heinze, Virgil, S. 248. Zu Archilochos, Stesichoros, Herodotos, Platon als Nachahmer Homers vgl. Ps.-Long. 13,1-4. Seinerseits stellt Dionys die Filiationen HerodotosXenophon und Thukydides-Philistos fest: De imit. II, fr. VI, S. 208f.; Ad Pomp. Gem. 4f., S. 242-244; De Demosthene, 41. S. auch Athenaios, Deipn. V,186e. Dazu Kroll, Studien, S. 147. Die Warnung Horazens: respicere exemplar vitae morumque iubebo (A. P. 317f.) darf nicht als Ablehnung der Klassiker, sondern als Ermahnung, das Angemessenheitsprinzip bei der kreativen imitatio gelten zu lassen. Dionys macht Demosthenes zum Nachahmer des Thukydides, des Lysias und Isaios; vgl. De camp. verb. 265; Ad Pomp. Gem. 3; De Demosthene, 8,33; De Isaeo, 19f. Ps.-Dionys, Techne rhetorike, S. 305f., macht Demosthenes zum Nachahmer Platons; Ps.-Long. bezieht Demosthenes auf Eupolis und Euripides auf Aeschylos (§§ 16,3 und 15,6). Vgl. Kroll, Rhetorik, Sp. 1114f., ders., Studien, S. 146f. Bompaire, S. 61f.; Lana, Quintiliano, S. 162ff.; Konrat Ziegler, Panegyrikos, Sp. 564f.; Rüssel, Criticism, S. 113. An der kanonischen Bedeutung der literarischen Erzieher Homer und Vergil war in der Kaiserzeit wie im

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verständlich (X,2,4-14). Sie gründete sich eigentlich auf die Austauschbarkeit der Positionen und Ränge in der Literaturgeschichte.47 Der Gedanke, die Nachahmenden von heute würden ihrerseits zu Mustern künftiger Generationen, taucht u.a. in dem so aufschlußreichen, vom antiken Geist der Paideia durchdrungenen Bericht des Johannes von Salisbury über die Methodik des Literaturunterrichtes in der Klasse des Bernhard von Chartres auf: faciebatque, M qui maiores imitabatur, fieret posteris imitandus (Metalogicon 1,24). Dieser Dialektik zufolge wäre die Literaturgeschichte als ein 'agonales Gemälde' aufzufassen,48 dem die Triebkraft der -aemulatio zugrundeliegt, wie sie von Dionys psychologisch und ästhetisch, von Quintilian anthropologisch und pädagogisch untermauert wurde. Die Gegentendenz zur Kanonisierung der Klassiker im l. Jahrhundert n. Chr. in Rom bestand darin, daß die eine manieristische Richtung vertretenden rhetorisierenden Dichter und Prosaisten sich als neue Literaturmodelie erfolgreich profilierten. Ansonsten hätten diese keine Chance gehabt, in einen normalerweise attizistisch geprägten Kanon aufgenommen zu werden.49 Es ließen sich anhand thematischer und stilistischer Verwandtschaften bzw. Abhängigkeiten die folgenden Filiationen innerhalb der manieristischen Literaturrichtung aufzeigen, die sich vom Späthellenismus bis ins Spätmittelalter hinein ständig behauptet hat. Catull, Ovidius, Lucanus, Statius folgten mehr oder weniger explizit alexandrinischen Dichtungsmodellen.50 Sie wurden ihrerseits zu Vorbildern für die spätantiken Dichter Claudian, Ausonius, Sidonius, Dracontius und darüber hinaus zu Schulautoren des Mittelalters. Persius und Juvenal waren Horaz-Manieristen, die außerdem von den Deklamationen stark geprägt Mittelalter und in der Renaissance bis in die Neuzeit hinein allerdings nicht zu rütteln. Das Studium und die Nachahmung der zwei großen Epiker gehörte über Epochen hinaus zum Grundstock der humanistischen Erziehung überhaupt. Vgl. Quint. 1,8,5: ...ideoque optime institutum est, ut ab Homero atque Vergilio lectio inciperet, quamquam ad intellegendas eorum virtutes firmiere iudicio opus est. Zur Rolle Homers als Erzieher vgl. Philodemos, Über die Gedichte, fr. I.XIV; Dion, Oratio XVIII.8; Athenaios VII,348e. Zur Rolle Vergils vgl. Augustin. Epist. ad Romanos Expositio (ML., Bd. 35, Sp. 2089); De civitate Dei 1,3; Macrobius, Saturn. V.lff.; Ti. Cl. Donatus, Interpret, virg., Prooemium 1,5; Konrad von Hirsau, §§ ISOOff; Bernhard Silvestris, Commentum, S. 1; dazu im allg. Kroll, Studien, ebd.; Rüssel, De imitatione, S. 2; Domenico Comparetti, Virgilio, Bd. l, S. 45-129; Hermann Lohmeyer, Vergil, S. 78ff., 83-100; Martin Schanz und Carl Hosius, Gesch. d. Rom. Lit., Ill, S. 98-112, die u.a. die von Polybios, dem Freigelassenen des Kaisers Claudius, verfaßte lateinische Paraphrase Homers und die griechische Paraphrase Vergils erwähnen (ebd., S. 101 und 506). 47 Diese Dialektik der imitatio kommt zum Ausdruck in der Übersicht, die Antonius bei Cic., De oral. II,94f. über den Generationen- und Stilwechsel innerhalb der griechischen Redekunst bietet. Hier lautet das Schlußwort: Quae si volemus usque ad hoc tempus persequi, intellegemus...sic semperfuisse aliquem, cuius se similis plerique esse vellent. 48 So Bompaire, S. 61. S. auch Rüssel, De imitatione, S. 6; Konrad Heldmann, Antike Theorien, S. 35f. 49 Vgl. die Vorbehalte bzw. die mehr oder weniger ablehnende Kritik, die Quint. (X,l, 88,90, 115-131) gegenüber dem 'modischen', den neuen Stil in allem Glanz vertretenden Ovid, Lucanus und Seneca äußert ^ Zur Bedeutung z.B. der kallimacheischen Dichtung für die römischen Dichter vgl. die Ausführungen Hans Herters, Kallimachos, S. 258-263, mit weiterer Bibliographie; Wendel Clausen, Catullus und Callimachus, S. 85-94; zu den weiteren Quellen Catulls vgl. Godo Lieberg, Puella divina, S. 48-66, 209-235; Jean Granarolo, L'oeuvre de Catulle, S. 109-156; zu den Modellen des Ovidius vgl. Godehard Galinsky, Ovids Metamorphoses, S. 1-14,48f.; L.P. Wilkinson, Ovid Recalled, S. 38ff., 94ff. 26

wurden. Sie fanden Beliebtheit in den Schulen und blieben auch während des Mittelalters Schulautoren. Der schillernd manieristisch auch Griechisch schreibende Claudian diente u.a. Nonnos, dem barocken Poeten der frühbyzantinischen Zeit par excellence, als Vorbild. Bezüglich des Stoffes griff dieser u.a. auf die hellenistische Dichtung eines Apollonius von Rhodos, Kallimachos, Parthenios, dann auf die Bassarika des sonst unbekannten Dionysios zurück. Der geistesverwandte Nachahmer des Nonnos an der Schwelle der modernen Zeit war kein geringerer als Gianbattista Marino.51 Unter den Prosaisten des l. Jahrhunderts n. Chr. standen Seneca, Curtius Rufus, Valerius Maximus, Plinius der Jüngere, später Apuleius und Tertullian am meisten im Bann der Deklamationen und vertraten in ihren Werken einen von der klassizistischen Kritik disqualifizierten neuen Stil. Sie wurden ihrerseits zu Modellen für spätantike Autoren wie Ammianus, Julius Valerius, Symmachus; vom letzteren und zugleich von Seneca und Plinius hingen Sidonius Apollinaris und Ennodius, auch Cassiodorus als Verfasser der Variae und Orationes ab.52 In der griechischen Prosa werteten Dion und Lukian den kynischen Deklamator Menipp als ihr Vorbild auf und wurden ihrerseits zu Schulautoren. Die Attizisten Aelius Aristeides und Herodes Atticus bewunderten gleichzeitig die asianischen Skopelianos und Polemon und wurden ihrerseits zu Vorbildern für Themistios, Libanios, Julian im 4. Jahrhundert n. Chr. Auch für die Vertreter der manieristischen Richtung unter den Neusophisten galten die Klassiker der Dichtung und der Prosa als konstante Vorbilder.53 Auch die entgegengesetzte Tendenz hat sich geltend gemacht: Die Würdigung der neuen Tradition blieb nicht nur der Elite von Schöngeistern als Bestandteil des ausgebildeten Publikums vorbehalten. Neue Autoren sowohl der hellenistischen Zeit als auch der Kaiserzeit wurden neben den Klassikern in den progymnasmatischen und in den anderen rhetorisch-technischen Schultraktaten verwendet. Das sind zum einen Theopompos, Ephoros, Philistos, Menandros der Dichter - der eine längere Zeit als Schulautor gegolten hat - Demetrios von Phaleron; zum anderen Dion, Polemon, die Philostrate, Sopatros, Hadrian von Tyros.54 Wie im Laufe der Arbeit noch herauszustellen ist, war die antike Schule nicht immer die Hochburg des Konservatismus: 51 52

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Dazu Rudolf Keydell, Nonnos, Sp. 906f, 913. Dazu Norden, I, S. 304ff., 318ff., II, S. 605ff., 631ff., 663f.; Fontaine, Aspects, S.47-59; ders., Postclassicisme, S. 199f.; Hagendahl, Tertullian, S. 52ff., 97ff., 102f Dies geht u.a. aus den Biographien der Sophisten bei Philostratos hervor, der den Kult dokumentiert, den selbst die Modenlisten unter den Deklamatoren mit den alten Autoren trieben; so sind zu erwähnen: die enge Nachahmung der alten Tragödie und Epik durch Skopelian (Vitae § 518), die Bedeutung, die Polemon in seinem Unterricht den alten Dichtem und Rednern schenkte (§ 539), die Sprüche des Nikagoras bzw. des Hippodromos, die Tragödie sei die Mutter und Homer der Vater der Sophisten (§ 620). Nicht selten werden in diesem Geiste Abhängigkeitsbeziehungen fingiert: Aeschines, der als Vorvater des Asianismus galt, wird als Schüler Platons und des Isokrates hingestellt (§ 510). Zu den Mimesis-Filiationen und vor allem zum Problem der Konkurrenz der klassischen Muster mit den neuen Modellen in der Epoche der Neusophistik vgl. Kroll, Studien, S. 153f.; Bompaire, S. lOOff., 108ff, 112; Curtius, ELLM, S. 257ff. Vgl. oben Anm. 33. Zur Modernisierung des literarischen Schulprogramms vgl. Marrou, Gesch.d. Erz., S.. 240; ders. Augustin, S. 46 ; Bompaire, S . 86-91. 27

Viele ihrer Erscheinungen deuten darauf, daß sie oft zum Sammelbecken widersprüchlicher Tendenzen wurde. Die Umbildung des Schulkanons hat vor allem durch die Entstehung der christlichen Literatur einen wichtigen Impuls bekommen. Rhetoren wie Tertullian, Cyprianus, Arnobius, Marius Victorinus, Lactantius, Augustin, Hieronym, Dracontius, Rhetorenschüler wie Gregor von Nyssa, Basilius, Ennodius, Prudentius, Juvencus, Sedulius usw. haben ihren neusophistischen Modellen vor allem stilistisch ohne Bedenken nachgeeifert. Darüber hinausgehend ist die doppelgesichtige Einstellung des christlichen Bischofs Nonnos, des Paraphrasten des Johannes-Evangelium und Verfassers des Dionysiaka, keine Ausnahme. Zu ungefähr gleicher Zeit dichtete Dracontius De laudibus Dei und die poetisch-deklamatorischen Romulea und Orestis tragoedia.55 In den Schulprogrammen des byzantinischen und lateinischen Mittelalters figurieren die erwähnten christlichen Zöglinge der Sophistenschule bekanntlich neben klassischen und nachklassischen bzw. heidnischen Autoren verschiedener Manier und Stiltendenz. Eine Eigentümlichkeit des lateinischen Frühmittelalters bestand - wie noch zu sehen ist darin, daß die sprachlich-stilistischen Muster der klassischen Tradition oftmals Aberkennung fanden. Bei Gregor von Tours wie sonst bei den meisten Autoren der Merowingerzeit wird dies durch die Unfähigkeit, korrektes Latein zu schreiben, bedingt. In bestimmten Fällen aber ist dies auf die selbstgefällige Manieriertheit einiger Literaten wie Vergilius Maro oder Rather von Verona zurückzuführen, die die sprachlich-stilistische Distorsion als ästhetisches Prinzip befürworteten.56 Darüber hinaus ist daran zu erinnern, daß das Bibellatein als maßgebend galt. Andererseits kamen aber im christlichen Mittelalter andere Aspekte als die stilkritischen in den Vordergrund. So setzte sich vor allem in der Karolingerzeit die bereits von Augustin vertretene Auffassung einer interpretatio Christiana der heidnischen Autoren durch. Ihr gemäß sind die poetae moderni durch ihren christlichen Glauben weit überlegen, wobei sie sich nur die formale Kunst der Alten anzueignen hätten, um diese in aller Hinsicht zu übertreffen: Die moderni seien zugleich die sophi, die die Alten ergänzen und vervollkommnen sollten, indem sie das Übernommene durchgeistigten. Daher rührte der 'literaturkritische' Gedanke Alkuins, er selber sei ein alter Horatius, Angilbertus ein zweiter Homer, Modoin ein Ovid usw.57 Diese Einstellung hat in der Nachfolgezeit die verschiedensten 55

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Dazu Martou, Augustin, S. 49ff; Beck, Gregor von Nazianz, S. 5ff.; Klaus Thraede, Epos, Sp. 999f., mit weiterer Bibliographie; Herzog, S. XLVf., LII-LX; Michael Roberts, Biblical Epos, S. 62-74; Hagendahl, Latin Fathers, S. 229,294-298,31 Iff.; ders., TertuUian, S. 74-93. Vgl. die Ausführungen Erich Auerbachs, Literatursprache und Publikum, S. 78ff., 99-113; s. auch unten S.. 112-116. Zum christlichen Grundsatz des notwendigen Umbiegens übernommenen heidnischen Gutes vgl. Augustin, De doctr. Christ. 0,40; Hrabanus Maurus, De der. inst. Sp. 915. Unter den Behauptungen der Überlegenheit christlicher Dichter beim Wetteifern mit den heidnischen Modellen ist Alkuins Überbietung der vergilischen Aussage in der IV. Ekloge 55 zu erwähnen: Orpheus aut Linus, nee me Maro vincit in odis/ Dum manibus cingam pectora vestra meis (Carmine XVIII,19f.). Vgl. auch die Anrede Hrabans an einen dichtenden Freund: Carmina nempe tua dico meliora Moronis/ Carminibus, celsi cantibus Ovidii, odis quas cecinit

Literaten, selbst die großen Bewunderer der antik-heidnischen Kultur gekennzeichnet. So betrachtete sich Hildebert von Lavardin als Antitypus Homers bei der Verfassung seiner den Untergang Trojas schildernden Elegie: Alter Homerus ero vel eodem major Homero. Der Konversionsgedanke liegt u.a. auch der Einstellung des Johannes von Salisbury und Alanus von Lilie zu deren antiken Mustern zugrunde.58 Dieser Tendenz stand entgegen, daß bereits zu Anfang des Hochmittelalters auch jene Werke die aufgrund des erotischen Inhaltes verwerflich waren wie die Heroides und die Ars amatoria Ovids oder die Elegien Maximians anscheinend eine vorbehaltlose Aufnahme in den Schulkanon fanden. Diese sollen sich ebensogut wie die Metamorphoseis Ovids moralisieren lassen.59 Walther von Speyer fand einen rein ästhetischen Genuß (nostra satiavit corda voluptas) an den mythologischen bei Ovid, Vergil, vornehmlich aber in den Schulkompendien begegnenden Fabeln, schon bevor er sich dem Studium der alten Autoren (Homerus latinus, Horaz, Juvenal, Statius, Propertius, Terentius, Vergil, Lucanus) gewidmet hätte. Maßlose, bis zur Verschmähung der Heiligen Schrift gehende Bewunderung und Nachbildung der heidnischen Dichtung, vornehmlich Ovids und Vergils zu Anfang seiner Studienzeit warf sich selbst Guibert von Nogent vor. Ähnliches tat auch Marbod. Das sind keineswegs Einzelerscheinungen.60 Dabei läßt sich die Würdigung, wenn nicht immer die Bevorzugung der manieristischrhetorisierenden alten Dichter als Stil- und Kompositionsmuster feststellen. Ovid wird im 12. und 13. Jahrhundert sogar wichtiger als Vergil, mit dem auch Lucanus erfolgreich in Konkurrenz tritt. Diese Einstellung hatten sogar die durchschnittlichen Literaturtheoretiker unter den Verfassern von accessus ad auctores wie Konrad von Hirsau. Davon wurden um so mehr gekennzeichnet die elitär und ästhetisierend wirkenden Literaturlehrer in Reims, Angers, Tours, Chartres und Orleans, wo der Nährboden für die neuen Poetiken des Flaccus, verbosus Homerus... Hi quia protulerunt pomposis falsa Camenis... (Carmina X, Versus ad amicum, 4ff.); dazu Norden, II, S. 679f.; Hans H. Glunz, Die Literarästhetik, S. 12-16, 22-38, 51-60; M.L.W. Laistner, Thought and Letters, S. 276f.; Manitius, Gesch. d. lat. Lit., I, S. 572; Lehmann, Das Problem der karolingischen Renaissance, S. 11 If.; De Bruyne, I, S. 187ff., 199ff.; Hagendahl, Latin Fathers, S. 389-395; Jean Leclercq, Wissenschaft, S. 134; Curtius, ELLM, S. 58ff.; Thraede, Epos, Sp. 1009f.; Christian Gnilka, Der Begriff des rechten Gebrauchs, S. 13,16-19, 80,94f. 58 Vgl. Hildebert, Versus de excidio Troiae, in: Carmina miscellanea, S. 1452. Zu dessen Doppelgesicht als "Mann der Kirche" und magister elegantiarum seiner Zeit vgl. von Moos, Hildebert, S. 147ff. und 240-257. Zur Einstellung des Johannes von Salisbury vgl. Glunz, S. 51-60, von Moos, Geschichte als Topik, S. 154ff. und 448ff., Elisabeth Gössmann, Antiqui und moderni, S. 84. 59 Zur christlichen Umbiegung der erotischen Dichtung Ovids vgl. die entsprechenden Ovid-Einleitungen in Accessus ad auctores, S. 31ff.; dazu Minnis, S. 55f. und im allgemeinen Köhn, S. 229. Zur Rezeption und Nachdichtung Ovids vgl. Lehmann, Pseudo-antike Literatur, S. 2-15, 89-91; Erich Joseph Thiel: Mlat. Nachdichtungen, passim, und Beiträge, passim; Winfried Offermanns, Die Wirkung Ovids, S. 31-52. Zur Rezeption Maximians vgl. Richard Webster, in: The Elegies of Maximianus, S. 9f., 17-22. 60 Vgl. Ubellus scholasticus, V. 59-107; Guibert von Nogent, De vita sua 1,17; vgl. außerdem Lupus von Ferneres, Epistula 20, S. 470, über die fanatische Verehrung Horazens, Vergils, Ovids und Ciceros durch den gelehrten Mönch Probus, der sie unter die Heiligen zählen wollte. Dazu im allg. Glunz, S 226ff.; Vossen, S. 76; Salmon, S. 75; Comparetti, I, S. 124f.

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Hochmittelalters lag. Neben den kanonmäßigen Autoren der Klassik und Nachklassik lassen diese Poetiken auch spätantike und frühmittelalterliche Autoren als Muster des Stils bzw. des Prosarhythmus (cursus) für die Prosa des 12. Jahrhunderts gelten. So würdigt Galfredus von Vinsauf neben dem usus Senecanus auch den modus et mos Sidonianus (Poetria nova, V. 1825ff., außerdem Documentum, 11,2,11, S. 273). Bezüglich der pragmatischen Prosaschreibung vertritt Johannes von Garlandia die Lehre de quattuor stilis curialibus prefer stilos ires poeticos. Hierbei begegnen neben dem traditionellen stilus tullianus drei als vorbildliche Konstrukte der mittelalterlichen Praxis geltenden cursus. Darunter wird der stilus gregorianus sive scholasticus auf den Prosarhythmus in den Schriften Gregors des Großen, der stilus hyllarianus auf denjenigen der Schriften des Hilarius von Poitiers und der stilus ysydorianus auf Isidors Synonyma bezogen.61 Trotz des ab Mitte des 12. Jahrhunderts tobenden Streites zwischen artes und auctores gewannen eine rasche und allgemeine, kanonmäßige Anerkennung jene Werke der poetae moderni und jene Poetiken, die sich künstlerisch auszeichneten: Alexandreis, Architrenius, Bellum Trojanum (des Joseph Iscanus), Anticlaudianus, Pamphilius, De universitate mundi, Aurora bzw. die Poetria nova und Laborinthus. All diese Werke fanden im abendländischen Schulbetrieb Verwendung, wobei sie glossiert, kommentiert, gelegentlich mit Illustrationen versehen und in zahlreichen Handschriften überliefert wurden62.

Mit der Frage nach der Natur der mustergültigen Autoren berührt sich eng, wie im Vorangegangenen deutlich geworden ist, diejenige nach der Anzahl der jeweils nachzuahmenden Vorbilder, was eigentlich bereits zur Strategie des /mitario-Verfahrens gehört. Hierbei steht prinzipiell zur Debatte, ob am besten eine monistische oder eine pluralistische 'Vorbildlichkeit' zu vertreten sei. Kritisches Feingefühl und Reife des pädagogischen Verstandes zeitigten das Postulat des Eklektizismus und Pluralismus bei der Auswahl und Festlegung der zu befolgenden Vorbilder, wobei die stilistische Dimension als vordergründig erschien. Dionys zufolge (De im/i. II, fr. H, S. 204) verkörpert Homer als einziger unter den Klassikern 61

Vgl. Poetria Parisiana, V. 402-482. Die Auffassung des Johannes soll auf die Lehre Bernhards von Meung zurückgehen, die als solche auch in einer ausführlicheren, bisher unedierten Fassung des Documentum Galfrieds von Vinsauf begegnet; dazu Traugott Lawler, in: The Poetria Parisiana, S. 256ff.,32ff., mit Textangaben und weiterer Bibliographie. Vgl. auch H. Brinkmann, S. 38f. 62 Zum Streit der auctores und artes vgl. Norden, II, S. 71ff.; John Edwin Sandys, A Hist of Class. Scholarship, S. I,670ff.; Glunz, S. 94-97; Gössmann, S. 92-98; De Bruyne, II, S. 153-169. Zur schulmäßigen Rezeption der aufgezählten Autoren vgl. u.a. Curtius, ELLM, S. 59-62; 260ff.; De Bruyne, II, S. 24; H. Brinkmann, S. 41f.; Krewitt, S. 260ff.; Gallo, The Poetria nova, S. 68f.; Worstbrock, Eberhard, Sp. 127; W.B. Sedgwick, The Style, S. 352 (zu den von Matthäus von Vendöme verwendeten antiken und neuen Autoren); M. L. Colker, in: Walter von Chätillon, S. XIX und XXIIIf.; Curry Woods, An Early Commentary, S. XI-XXII. Diese neuen auctores werden ausführlich präsentiert von Hugo von Trimberg in Registrum multorum auctorum, V. 289-362, 381ff., 470ff. und 485ff.

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die Vollendung in jeder Hinsicht, so daß bei ihm das Ganze als nachahmenswert erscheint.63 Das Erfordernis, mehreren Mustern und nicht etwa einem einzigen Vorbild zu folgen, wird bei Dionys (De imit. II, fr. VI, S. 214) und bei Cicero (De inv. 11,1-3) anhand ein und desselben Paradigmas veranschaulicht, das bedeutende poetologische Implikationen aufweist; diese sind unten im Zusammenhang mit den Formen der varietas zu erörtern. Es wird erzählt, der Maler Zeuxis habe bei der Schöpfung seiner Helena verlangt, daß die Jungfrauen von Kroton ihm nackt dazu Modell stehen sollten. Dem Sinne dieses Beispiels nach wäre die künstlerische Vollkommenheit nur durch 'Abpflücken' und Synthetisierung all jener nachzuahmenden Vorzüge zu erreichen, wie man sie bei verschiedenen an sich unvollkommenen Mustern antrifft.64 Der gleiche Leitgedanke begegnet bei der Untersuchung des Stilcharakters einzelner dem Schulkanon angehörigen Redner durch Dionys. Der Eklektizismus liegt dem Leitgedanken Ciceros über imitatio zugrunde, wie dieser in dem bereits erwähnten Passus (aus De or. II 90) dargelegt wird. Demgemäß seien die wichtigsten Vorzüge des erwählten Vorbildes, und nicht etwa dessen Unzulänglichkeiten nachzubilden: ...ut, quae maxime excellent in eo...diligentissime persequatur. Hiermit hängt eigentlich die Aneignung der Fähigkeit, alle drei genera dicendi zu beherrschen (Or. lOOff.), als ideales Desiderat Ciceros zusammen.65 Ähnliches schreibt Macrobius Vergil zu, der ebenso befähigt sei: copiosum, breve, siccum, pingue et floridum genus zu beherrschen (Saturnalia V,l,7). Im gleichen Sinne erklärte Quintilian die Größe Ciceros und des Demosthenes damit, daß sie die reichste Musterauswahl getroffen hätten: Cicero habe sich bei seiner "zelotischen" Imitation der Griechen (...cum se totum ad imitationem Graecorum contulisset...) die Sprachgewalt des Demosthenes, die Sprachfülle Platos, den Liebreiz des Isokrates angeeignet (X,l,108). Das pluralistische Prinzip sei dadurch gerechtfertigt, daß das von den zwei Titanen der Beredsamkeit Geleistete nicht etwa den Inbegriff der Vollkommenheit darstelle, zumal andere Redner manches besser als sie gesagt hätten.66 Daher sei die Heranziehung der Autoren zweiten Ranges erforderlich, mit deren Hilfe sich das bei den großen Meistern Fehlende ergänzen lasse und es möglich werde, sogar Besseres als sie zu schaffen. So solle man Cicero nicht in allem nachahmen, sondern: vim Caesaris, asperitatem Caelii, diligentiam Pollionis. stellenweise dazunehmen (IX,2,24). Ähnliches bringt Theon in bezug auf die 63

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Zur hellenistischen Herkunft des Eklektizismus vgl. Fantham, Imit. and Decline, S. 107. Zur Auffassung des Dionys über Homer vgl. A. Michel, Imitation, S. 1727. Vgl. Kroll, Rhetorik, Sp. 1114. Bompaire, S. 79, nennt dies "imitation critique". S. auch ebd., S. 82 und 114; Fantham, Imit. and Decl., S. 107f.; Russell, De imit., S. 5; A. Michel, ebd., S. 1726f. Dazu Schmid, Zur Stillehre, S. 141; Atkins, II, S. 34; Thill, S. 23; Leeman, Orat. Ratio, S.110f.,142ff., 165f.; Quadlbauer, Zur Nachwirkung, S. 80. Das Selektionsprinzip konkretisiert Cic. andernorts anhand eines Beispiels von Nachahmung der schlechten Seiten des Vorbilds: Es seien ausschließlich die pravitas oris und die verborum latitudo des berühmten Redners Fimbria, die sein Bewunderer, der turbulente Fufius, nachgeahmt habe. Zu demselben Prinzip vgl. Philodemos, fr. XVIII, XXXf. Vgl. Quint. X.2,24; s. außerdem Ps.-Long. 33,2, über die Schwächen und Unzulänglichkeiten, die den Schöpfungen der genialen Naturen inhärent sind. Anders urteilt Hermog. für den die Vollkommenheit durch "das Demosthenische" verkörpert wird (Id. S. 270,11-272,10). 31

gleichzeitige Nachahmung des Lysias, Demosthenes und Aeschines zum Ausdruck (S. 72,1026). Eine pluralistische Nachahmung beansprucht Plinius (Epist. 1,2) für sich, indem er sich rühmt, in ein und derselben Rede Demosthenes, Calvus und Cicero gefolgt zu sein. Diese Anerkennung eines sogenannten 'anthologizing approach' durch die Schultheorie ermöglicht, wenn nicht ipso facto immer impliziert, die mehrsträngige Imitation sowohl klassischer als auch neuer bzw. manieristisch gesinnter Autoren; darüber hinaus verweist sie auf das Wettkampfmoment einer imitatio, die schon dadurch als ein schöpferischer Vorgang aufgefaßt wird.67 Die mittelalterlichen Autoren waren zwangsläufig auf das 'Abpflücken* verschiedenster Stilmodelle der Alten angewiesen. Johannes von Salisbury befürwortete den Zusammenhang der vielseitigen Lektüre mit der Selektion bester Züge der gelesenen und assimilierten Autoren: Nam exquisita lectio singulorum doctissimum, cauta electio meliorum optimum facit (Policraticus, VII, 10). Dabei bedient er sich der auch bei anderen Zeitgenossen begegnenden Metapher des Bienenhonigs mit Berufung auf den 84. Brief Senecas und auf die Saturnalien (I, Praef. 5) des Macrobius.68 Auch das ciceronische Paradigma des Malens Helenas war dem Mittelalter vertraut, wie es bereits Radbert von Corbie deutlich macht (Vita Adalhardi, Sp. 1518f.). Anhand dieses Paradigmas wurde auch später, in der Renaissancezeit, erneut über die Befolgung eines oder aber mehrerer Vorbilder debattiert; im Ciceronianus des Erasmus wird dies am ausführlichsten behandelt.

l .2.2.

Quid imitemur: Zur Beschaffenheit des Nachahmungsgegenstandes

Die zweite Peristase der imitatio, ihr Objekt (quid imitemur), wird von Cicero (De or. 11,90) und von Quintilian (X,2,14) in unmittelbarem Anschluß an die nachzuahmenden Personen quos imitemur - angeführt, mit denen das Objekt eng zusammengehört.

67 'Anthologizing approach' ist der Begriff, den Fantham, Imit. and Decline, S. 10, in bezug auf das erwähnte Paradigma des Malers Zeuxis bei Dionys und Cic. geprägt hat. Eine ähnliche Auffassung vertritt auch Dionys (De Demosth. 9,12ff.; Ad Pomp. Gem. S. 223) bei der Beurteilung des Demosthenes als Imitator seiner wichtigsten Vorgänger. Durch die gleichzeitige Nachahmung des Isokiates, Platon, Thukydides, Lysias und Isaios sei er, wie es Bompaire, S. 62, so richtig einschätzt, etwa "le prince des imitateurs" in der Meinung der antiken Kritik. Es wäre hierbei die bereits erwähnte isokrateische Filiation anzuführen, die Cic., De Or. II,94f., bietet, worin Demosthenes zweimal figuriert. S. auch Seneca, Epist. 84,7. Möglichst variierte Lektüre, dann vereinheitlichende Synthese des Gelesenen (ex omnibus colligamus, wide unumfiat) sind Macrobius zufolge (Saturn. I, Praef. 5ff.) die Voraussetzung des Schreibens. Zur Stilmischung als idealer Grundlage der imitatio vgl. Hennog., ebd. S. 273,11-274,4; dazu im allgemeinen Atkins, II, S. 152; Bompaire, S. 82. 68 Vgl. Petrus von Blois, Epist. 92 (an Reginald von Bath), S. 289. Er verteidigt sein literarisches 'Abpflücken' anhand der gleichen antiken Stellen wie Johannes. Davon ausgehend kommt er aber logischerweise auf die berühmte Metapher der nani super gigantum humeros, die ebenso gut als Korollar der Ratschläge Theons und Quint, auftreten dürfte, wie man dazu komme, besser als Cic. oder als Demosthenes zu reden. Zur Selektion der Autoren vgl. auch Norden, II, S. 718; Glunz, S. 57f; De Bruyne, II, S. 17. 32

Einer seit der Antike gel ufigen Bestimmung zufolge, die erst durch die strukturalistische Poetik ernstlich in Frage gestellt wurde, gilt das literarische Kunstwerk grosso modo als Zusammensein eines gedanklichen Inhaltes mit der ihn ausdr ckenden Form. Diese Dualit t wurde durch die antike Poetik mit einer relativ konsequenten Terminologie wiedergegeben, indem man von der copia rerum ac verborum (Quint. X,l,5) vom πραγματικός· und λ€κτικός· τόπος (Dionys, De comp. verborum, 1,5) sprach.69 Die Verwendung der Termini ποίησις· f r Stoff und ποίημα f r Stil wirkt angesichts der zun chst bei den Progymnasmatikern auftretenden Bedeutung von 'Werkganzheit' bzw. 'Werkbestandte ' irref hrend.70 Die Werkanlage - ordo oder τάξις - kommt bei den Theoretikern rhetorisch-technischer Richtung wie auch in den literaturkritischen und poetologischen Schriften (z.B. in der Ars poetica Horazens und in den Poetiken des Hochmittelalters) als die dritte Dimension des literarischen Werkes zum Ausdruck.71 Es sind also die der musterhaften Vorlage jeweils eigent mlichen Elemente res, verba und ordo, die den Gegenstand der imitatio als Umsetzungsproze ausmachen, wobei eine konzeptuelle Parallelstellung mit den Rhetorikpartien inventio, dispositio, elocutio auf der Hand liegt.72 Im Unterschied zur Redekunst kommt in der Poetik eine vergleichbare Stoffauffindung nicht in Frage. Stemplinger zufolge postulierte die antike Nachahmungstheorie 'Gleichg ltigkeit' gegen ber dem Stoff, der in der Regel als ein Vorgegebenes galt, so da die ζηλωσις· ausschlie lich auf die elocutionelle 'Verbesserung' der Vorlage hinauslaufen sollte.73 Dazu ist prinzipiell zu bemerken, da die thematische Abh ngigkeit von der berlieferung ipso facto nicht einer Gleichg ltigkeit gegen ber dem Stofflichen als solchem gleichkommen kann. Dieser vereinfachenden Kontraststellung widersprechen die Ergebnisse 69

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Vgl. auch Polybios, Hist. XII, 12,2; XVI, 17,9; Dionys, De /mir. II, III, S. 207; Philodemos, fr. ΙΧ-ΧΠΙ; dazu Christian Jensen, Neoptolemos, S. 102., 105. Diogenes Laertios, Vitae VII.60, zufolge ist es Poseidonios gewesen, der ποίησις f r die Stoffgestaltung und ποίημα f r den Stil verwendet hat. S. auch Philodemos, fr. Xf. Die andere Bedeutung des ποίημα und ποίησις begegnet bei Hermog., Prag., S. 4,22-5; Doxopater, Homiliae, S. 198,5ff; dazu Immisch, S. 11; Atkins, II, S. 13; Jensen, ebd., S. 104-115; Burck, Nachwort, S. 410. Vgl. Auct. ad Her. 111,17; Quint. X.2,27; Fortunatianus, De arte rhet. 111,1, S.120f; Sulpicius Victor, § 14, S. 320; Dionys, De Thuc. 8ff; H r. A.P. 145-153; Galfredus, Poetria, V.87-202; Docum. 1,1-17. Eine Zentralstellung nimmt dabei die Er rterung der antinomischen Begriffe von ordo artificiosus (οικονομία) und naturalis (τάξις) ein; dazu Martin, S. 213-219; Lausberg, §§ 443-452; Caplan, S. 184f.; Reiff, S. 66f.; Thill, S. 423; Dahlmann, Varros Schrift, S. 122f. In der Nomenklatur des Hermog. Id. S. 272, 10-3, entspricht die μέθοδος nur teilweise der τάξις und figuriert als solche neben evvoiat (Gedankengehalt) und λεξις (Stil). PS. Aristeides, Techne rhet. S. 459,13-22, nennt die Werkanlage σχήμα, wobei er f r das Stoffliche γνώμη und f r den Stil απαγγελία verwendet; dazu Hermann Baumgart, Aelius Aristeides, S. 155-162. Vgl. Quint X,2,27, bez glich der Nachahmung von verba, res, personae, consilia, dispositio, wobei mit res, personae, consilia das Gedanklich-Stoffliche gemeint wird. Au erdem ist hier Horazens Selbstdarstellung als Neuerer der Lyrik in der Epistulu 1,19, zu erw hnen, wo er sein Wetteifern bez glich der res et agentia verba ordine (V. 25ff.) kundtut; dazu einiges bei Thill, S. 432. Vgl. Stemplinger, S. 125-131. Bompaire, S. 66, 68, 72f., macht sich die Theorie Stemplingers durchaus zu eigen. Eine hnliche Auffassung vertreten auch Kennedy, Class. Rhet., S. 117, und Russell, De imitatione, passim.

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der in den letzten Dezennien unternommenen Einzeluntersuchungen ber die Nachahmungstechnik griechischer Modelle durch die Lateiner und der altlateinischen Modelle durch die mittelalterlichen Autoren.74 Bei alledem ist nat rlich von dem lyrischen Genus abzusehen. Auf eine systematische Weise wurden die zwei Prinzipien Stemplingers allerdings noch nicht in Frage gestellt. Ihm zufolge ist also die imitatio eine formelle Umsetzung der Vorbilder par excellence, wobei es um deren jeweils eigent mliche Wortwahl, Rhythmik und Redeschmuck geht. Diese Auffassung wird auf den ersten Blick durch den Theorie-Bestand der Alten durchaus best tigt. Es ist die stilistische Nachahmung, die die antiken Theoretiker anscheinend am meisten besch ftigt. Aus den vierzehn Paragraphen, die Quintilian in seinem zehnten Buch den technischen Aspekten der imitatio widmet (X,2,14-28), werden die inventorischen Elemente res, persona und consilium und dazu noch die Disposition u erst knapp und stereotyp behandelt (X,2,14 und 27). Nicht anders verf hrt er bei der Er rterung wichtigster Formen der schriftlichen bung (X,S,1-21), wo die Paraphrasierung den weitaus gr ten Raum einnimmt. Mit der bemerkenswerten Ausnahme eines substantiellen Abschnittes der horazischen Ars poetica (V. 119-152), der bekanntlich auf hellenistischem Gut, vor allem auf der Poetik des Eklektikers Neoptolemos von Paros beruht, scheinen der stofflichen imitatio lediglich verstreute Bemerkungen in verschiedenen theoretischen Schriften gewidmet zu sein.75 Von ihnen ausgehend l t sich ein Grundstock bestimmter Normen und Techniken m hsam herausarbeiten.76 Aus diesem Grund gewinnen die in den Progymnasmata-Traktaten vorliegenden, f r die Schulaufsatzerziehung gedachten Vorschriften der literarischen imitatio eine besondere Bedeutung, die bisher nicht gen gend erkannt worden ist. Noch reichhaltiger sind in dieser Hinsicht die auf der horazischen Poetik und auf rhetorisch-technischem Gut beruhenden Poetiken des Hochmittelalters.

Der aristotelischen Auffassung zufolge besteht das Stofflich-Gedankliche als Gegenstand der Imitation ( 6e μιμούνται) aus μΰθος· (fabula in der bertragung Wilhelms von M rbeke) als Zusammensetzung der dargestellten Handlungen und Geschehnisse, aus ήθη (mores, ebd.), d.h. Charakterzeichnung, was sp ter auch προσοποποιία genannt wurde und sich auf die personae bezieht, schlie lich aus διάνοια (ratiocinatio, ebd.), d.h. die Gedankenf hrung, aber auch die dem Werk jeweils innewohnende Gesinnung. Dies hat seine relative Entsprechung in dem rhetorischen Begriff von consilia. Die ήθη und die διάνοια bilden zusammen den gedanklich-affektischen Inhalt des Dramas, was seine Entsprechung in den 74 75

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Dazu ausf hrlicher unten, S. 56 ff. Vgl. Immisch, S. 8; Atkins, I, S. 170f, II, S. 72ff.; Augusto Rostagni, in: H r. De arte poetica, S. CXXII, 132f. Dazu Stemplinger, S. I25f.; Kennedy, Class. Rhet, S. 109.

'logischen', 'ethischen' und 'pathetischen' Bestandteilen der Argumentation einer Rede haben dürfte.77 In der antiken Theorie dokumentiert als erster Aristoteles die Annahme einer freien Umsetzung des überlieferten Stoffes durch die Dichter, wobei er sich auf die Behandlung der Tradition durch Homer und durch die Tragiker (Poet. 1451b,20ff., 1453b,22ff) bezieht. Das Zurückgreifen meistens auf die gleichen Stoffe ist nach verbreiteter Meinung auf die bereits der hellenistischen Dichtung eigentümiche Grundoption für die Behandlung überlieferter und künstlerisch bewährter, ja 'veredelter' Stoffe und Motive (famam sequere bei Horaz, A.P. 119) gegen die freie Erfindung und Suche nach Originalität zurückzuführen.78 Für diese poetologische Orientierung der nacharistotelischen Zeit hatte Isokrates schon zuvor den Grundstein gelegt, indem er vom "Gemeingut der Begebenheiten der Vergangenheit" geredet hatte, deren passende Wiederbenutzung und dabei sowohl gedanklich als auch stilistisch angemessene Überarbeitung eine Sache der gescheiten Köpfe sei.79 Andereseits rügte er die 'Stoffjäger', und zwar seine Nebenbuhler, die Sophisten, die sich freie und dazu paradoxale Themen und Stoffe ausgedacht hätten.80 Diese Programmatik hat sich in der Literaturpraxis und Kritik der Nachfolgezeit gegen die Poetik freier Erfindung fortdauernd durchgesetzt. So befürwortete auch Horaz an erster Stelle die Wiederaufnahme und dichterisch angemessene Behandlung der publica materies, d.h. des stofflichen Gemeingutes der Tradition, als eine künstlerisch anspruchsvolle Aufgabe.81 Durch die Vermittlung Horazens, aber auch durch diejenige der Vergil- und Terenzkommentatoren hat diese Auffassung auf die mittellateinische und volkssprachliche Dichtung des Mittelalters gewirkt.82 Vor allem hat sich die hochmittelalterliche Poetologie die Würdigung der publica materies angeeignet und daraus einen wichtigen Bestandteil ihrer Umsetzungslehre gemacht.83 Demzufolge betrieb sowohl die antike als auch die mittel77

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Vgl. Arist., Poet. 1450a,12f., b,l-12; 1456a,33-1456b,5; Rhet. 1393a,9; 1403a,17. Dazu Johannes Vahlen, Beiträge, S. 94 und 239; Alfred Gudeman, in: Aristoteles, Hepi ?, S.175ff. und 331f.; MC. Keon, S. 22f.; Homeyer, S. 266f.; Fuhrmann, Einführung, S. 14ff. Vgl. das philodemische Fragment bei Heinze, in: Hör. Briefe, S. 313. S. auch Hör. A.P. 119-130; dazu Heinze, ebd., S. 310ff.; Immisch, S. 106-109; C.O. Brink, Horace, S. 204; Fuhrmann, ebd., S. 126, 155; Steidle, S. 74; Rostagni, in: Hör. De artepoetica, S.39. Vgl. Panegyrikos. 9; dazu Hermann Peter, Gesch. LiL, II, S. 190; Stemplinger, S. 146; Atkins, I, S. 128f.; Burgess, S. 101; Volkmann, S. 27f., und vor allem Bompaire, S. 66 und 72; Reardon, S. 9f.; Jan Ros, Metabole, S. 20 Vgl Helena, l. Vgl. A.P. 128, 131 und weiterhin Seneca, Epist. 79,5ff.; Macrobius, Saturn. VI.1.5: societas et rerum communio; dazu Immisch, S. 31f., 107 und 121-126; Heinze, in: Hör., Briefe, S. 31f.; Brink, S. 208ff. Vgl. Ti. Cl. Donatus, Interpret, vergil; Prooemium, S. 2f.; Servius, Aeneidos Comment. II, S. 1; Philargyrius, Expl. in Verg. Buc., Prooemium, S.7; Evanthius, Defabula, S. 15, 18ff.; Scholia Bemensia, S. 740,743. Zur volkssprachlichen Dichtung vgl. Jean Frappier, Les rornans antiques, S. 145-182. Vgl. die Aussage des Galfredus von Vinsauf, Docum., § 132, S. 309: difficile est materiam communem et usitatam convenienter et bene tractare: quanta difficilius, tanto laudabilius. Anschließend verweist er, wie erwartet, auf Horaz, A.P. 125ff. Auf indirekte Weise hat der isokrateische Geist fortdauernd und epochenübergreifend gewirkt.

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alterliche literarische Aufsatzerziehung in der Regel keine Erz hl bungen anhand frei erfundener Stoffe, sondern Stil- und Kompositions bungen mit berlieferten Inhalten.84 Das im Laufe der Zeit st ndig bevorzugte Zur ckgreifen auf das literarische Traditionsgut bedeutete aber in der antik-mittelalterlichen Poetologie und somit in der Praxis der Imitation viel mehr als blo stilistische 'Verbesserung' der jeweiligen Vorlagen. Bei n herer Betrachtung der rhetorisch-poetischen Lehre stellt man fest, da es darin keine s uberliche Trennung zwischen der Dom ne des Stofflichen und derjenigen des Stilistischen gab. Es sei vorl ufig nun knapp an die Tatsache erinnert, die unten ausf hrlich zu er rtern ist, da Elemente und Techniken, die dem dramatischen wie dem epischen plot eigent mlich sind, wie sonst auch viele narratologische Begriffe in elocutioneller oder aber in grammatikalischer Einkleidung auftreten. Dies gilt bekanntlich f r wichtige Gedankenfiguren und Tropen wie u.a. amplificatio, brevitas, enallage, immutatio, evidentia, sermocinatio, expositio, hyperbole, tapeinosis. Die Anordnungsverfahren werden weiterhin im Kontext der grammatikalischtropischen Lehre theoretisiert. Dazu geh rt aber auch die Tatsache, da der Imitationsvorgang als solcher von den antiken und mittelalterlichen Theoretikern bald der Sparte des omatus zugewiesen, bald aber ohne weiteres als eine Abart der sprachlich-stilistischen Abwandlung kodifiziert wird.85 Hierbei bertr gt sich n mlich auf die imitatio die Unscharfe, die die Bestimmung des rhetorischen und auch des poetologischen Lehrgeb udes kennzeichnet. Dies l t sich u.a. anhand der Beschaffenheit der Redegliederung bei Ps.-Aristeides und auch bei Hermogenes veranschaulichen. Hier bezeichnet die γνώμη bzw. die evvoia den Gehalt, was den quintilianischen res und consilia entsprechen w rde, das σχήμα bzw. die μέθοδος die Anordnung (also den ordo ) und die άπαγγ€λία bzw. die λέξις den Ausdruck, also die verba bez glich der Wortwahl. Innerhalb dieser Gliederung bezieht nun das σχήμα eine inhaltlich labile Stellung zwischen der Gedanken- und Sprachebene. So ordnet Aristeides auch die Figuren dem σχήμα zu, w hrend Hermogenes hierunter au erdem die Redegestaltung fa t.86 In seiner Gliederung des carmen unterscheidet Matth us von Vend me die generalis sententia (was sich auch terminologisch mit der γνώμη deckt) mit deren Inhalt: attributa negotio et personae, die qualitas dicendi mit den Bestandteilen scemata und tropi und den ornatus verborum mit den verba festive. Daran schlie t er eine Parallelstellung dieser Werkgliederung mit den Phasen des poetischen Schaffens, wobei er aber der qualitas dicendi die er auch qualitas materiae nennt, die Anordnung des Stoffes, tractatus dispositio, entsprechen l t. Eine hnliche Vermengung der stofflichen mit den sprachlich-stilistischen Aspekten kommt in der Poetiklehre des Galfredus von Vinsauf zustande, indem u.a. die Satzbau- und 84

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36

Vgl. die Polemik Barwicks, Die Gliederung, S. 284ff., gegen die Auffassung Rohdes, Gr. Roman, S. 364ff., in den Schulen sei auch die Stofferfindung ge bt worden, wobei die Progymnasmata als Grundlage der Romanschreibung aufzufassen seien. Vgl. dazu vorl ufig Faral, S. 61ff.; H. Brinkmann, S. 47ff.; Lausberg, §§ 552ff., 607ff., 688ff., 712ff., 808ff.,893ff.undll04ff.. Vgl. Ps.-Aristeides, S. 459,13-22; Hermog., Id. S. 269,10-25. Vgl. Baumgart, S. 159f. S. oben Anm. 71.

die Werkbaulehre vom gleichen ambivalenten Begriff der materia ausgehen.87 Anhand all dieser der Bestimmung des Nachahmungsgegenstandes (quid imitemur) eigentümlichen Elemente kann man stichwortartig auf die Tragweite der Imitation folgern. Allgemein gesehen setzt diese zwei Hauptstufen voraus, zwischen denen sich mehrere von der antikmittelalterlichen Lehre unterschiedlich theoretisierte Modalitäten erkennen lassen. So kann die Nachahmung als eine formal-stilistische Umsetzung der Vorlage vorgenommen werden, wobei also deren res, consilia und auch ordo unangetastet bleiben sollten. Hierbei geht es Lausberg zufolge um ein "Ringen mit der Vorlage".88 In anderen Fällen gestaltet man die unter anderem in den Schulkompendien vorliegende schlichte, rohstoffartige 'Geschichte1 aus oder aber unternimmt man es, die in der Vorlage bereits kunstmäßig ausgearbeitete Werkfabel in ihren Komponenten und ihrer Anordnung abzuwandeln. Dies kann als ein mehrstufiger Prozeß erfolgen, der bis zur Auflösung der Vorlage und zu ihrer Ausbeutung als stofflichem Steinbruch geführt werden kann. Dieser komplexe, die formal-stilistische Umsetzung miteinschließende Imitationsvorgang wäre mit Lausberg als "Ringen mit dem Stoff zu bezeichnen.

1.2.3.

Quomodo imitemur: Rezeptive und produktive Momente der exercitatio

Wir haben es oben bereits unternommen, den lateinischen exercitatio-Begriff auf das dionysische quomodo imitandum ohne weiteres zu beziehen. An dieser Stelle wollen wir die dazugehörige Problematik in Betracht ziehen, indem wir wieder von der so wichtigen ciceronischen Bestimmung der imitatio ausgehen: Ergo hoc sit primum in praeceptis meis, ut demonstremus, quem imitetur atque ita, ut, quae maxime excellent in eo, quem imitabimur, ea diligentissime persequatur; turn accedat exercitatio, qua ilium, quem delegerit, imitando effingat atque exprimat...(De or. 11,90). In der Auffassung Ciceros soll sich die exercitatio die oben, von dem Wortlaut Lausbergs ausgehend, vorläufig als praktische Handhabung der ars definiert wurde - zu der nachzuahmenden Person und dem Gegenstand auf solche Weise gesellen, daß lediglich die Vorzüge des Vorbildes handgreiflich nachgebildet werden.89 Der zuletzt ausgedrückte Gedanke, der uns hier beschäftigt, wird durch die Verba effingere und exprimere wiedergegeben, die sich teils mit imitari überschneidend, teils dieses aber semantisch ergänzend und konkretisierend auftreten.90 flT

' Vgl. Matthäus von Vendöme, Ars versificatoria 111,49-52, S. 179f, im Zusammenhang mit der exsecutio materiae. Auch früher, nämlich im Zusammenhang mit der Lehre von der Wortwahl, hatte er dieselbe Gliederung des carmen getroffen: II,9ff., S. 253f.; dazu Quadlbauer, Die Genera , S. 68; De Bruyne, II, S. 16, 29ff. und 35; Krewitt, S. 283ff.; zur Lehre Galfreds vgl. Quadlbauer, ebd., S. 69; s. auch unten S. 149f. 88 Vgl. §§ 1098-1107, vornehmlich § 1104. 89 Vgl. Lausberg, § 1092. S. oben S. 17 und Anm. 14. Vgl. Cic., Acad. 1,27: ex qua (materia) omnia expressa atque efficta sint. S. auch Auct. ad Her. 111,24, 27, 34, und vor allem IV,49, wo die Gedankenfigur der Charakterisierung wie folgt definiert wird: effictio est cum exprimitur atque effingitur verbis corporis cuiuspiam forma. Sehr wichtig ist außerdem der folgende

37

Diese Bestimmung der exercitatio ist weiterhin auf das von Cicero an anderer Stelle empfohlene Ausbildungsprogramm des angehenden Redners zu beziehen.91 Ein solches Programm bezweckte die Erreichung der h chsten Auszeichnung eines eloquens und nicht nur disertus orator durch den Rednerz gling.92 Quintilian bernimmt das p dagogische Konzept Ciceros, wobei er vornehmlich die Erreichung einer festen, jederzeit verf gbaren und auch virtuosen Fertigkeit (firma quaedam facilitas, quae apud Graecos έ'ξις nominator) anhand der exercitatio f r wichtig h lt.93 Die letztere ergebe sich nun durch das Zusammenspiel des Schreibens mit dem Lesen und Reden, wobei die Reihenfolge: Lekt re, schriftliche bung, Rede bung n tig sei (X,l,lf.). Die dazugeh rigen Aufgaben seien derma en miteinander verkn pft und unzertrennbar, da keine von ihnen entbehrt werden k nne, ohne den ganzen Proze ins Wanken zu bringen.94 An anderer Stelle zeigt er, wie man infolge des guten Unterrichts (bene institutus) und der hinreichenden bung (satis exercitatus) dazu bef higt werde, mit den Deklamationen, n mlich mit den suasoriae und den iudiciales materiae, d.h. mit den Kontroversien zu beginnen (11,10,1). Der von Cicero mit der landwirtschaftlichen Metapher subactio (das mehrfache Pfl gen des Ackers) bezeichnete Durchbildungsproze wird von diesem expliziter und teilweise vollst ndiger als von Quintilian dargelegt.95 Dieser Proze enth lt also bei beiden - und noch eindeutiger in der Systematik Theons - zun chst eine rezeptive Phase, die bei Cicero wiederholt die Aufgaben der lectio und der auditio umfa t. Darauf folgt eine produktive Phase, worin die Nachahmung stufenweise, zun chst in einer reproduktiven, dann in einer nacheifernd-sch pferischen Form erfolgen soll.96 Zu dieser Phase geh ren die Momente des Redens (dictio) und des Schreibens (litterae, scriptio), deren Zusammengeh rigkeit

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Zusammenhang mit imitari bei Quint. 1,1,5: puer harum nutricum verba effingere imitando conabitur. Vgl. auch Aulus Gellius VIII.8; IX,9,3. Zahlreiche Beispiele dieser semantischen Verquickung zwischen exprimere, effingere und imitari bietet Thes. Latinus, V,l, S. 185f., 1789ff., und VII,l, S. 433. Zur blichen Bedeutung der exercitatio als bung vgl. De or. 1,156: vocis et spiritus et totius corporis et ipsius linguae motus et exercitationes Vgl. De or. I, 95. S. auch ebd. 1,152; dazu Barwick, Das Bildungsideal, S. 9f. Vgl. Quint. Χ,Ι,Ι. Bei Dionys war die έ'ξι? viel umfassender; dazu oben S. 17, Anm. 14. Zum virtuosenhaften Charakter dieser έξις vgl. Lausberg, § 7. Vgl. ebd;,X, l ,2:...verum ita statt inter se connexa et indiscreta omnia, ut si quid ex his defuerit, frustra sit in ceteris laboratum. Subacto mihi ingenio opus est, ut agro non semel arato, sed novato et iterato...Subactio autem est usus, auditio, lectio, litterae (De or. II, 131). Hier d rfte usus im Sinne von exercitatio (s. oben Anm. 14) als Oberbegriff der darauf folgenden bungsarten erscheinen. Bei Quint. Χ,Ι,Ι, fehlt aber die auditio, die weiterhin nur sehr fl chtig erw hnt wird (X,l,15,16). Die Abstufung der subactio wird in De or. 1,95, verdeutlicht:...jfwdio acriore...et otio acfacultate discendi maiore ac maturiore et labore atque industria superiore cum se ad audiendum legendum scribendumque dederit... S. auch ebd., I, 158; dazu im allgemeinen Barwick, Das Bildungsideal, S. 9. Bei Theon sind es zun chst die bungen der άκρόασις und άνάγνωαις. Der scriptio entsprechen weiter die bungen der παράφραση und εργασία (Prog., S. 61,25-65,26). Vgl. Reichel, S. 18ff. und 127ff; Lana, Quintiliano, S. 164.

gelegentlich mit Nachdruck unterstrichen wird.97 Diese beiden Momente weisen, wie Cicero in bezug auf die dictio deutlich macht, zwei Erscheinungsstufen auf: Die niedrigere, die von Cicero sinngemäß domestica exercitatio (Privatübung) genannt wird, bereitet auf die höhere vor, d.h. die forensische bzw. die schriftstellerische Aufgabe als Höchstleistung und Vollendung der exercitatio.9* In der Kaiserzeit ist es bekanntlich der sophistische Deklamator, der die ruhmreiche, von Cicero für das republikanische Forum befürwortete Stellung des orator eloquens einnimmt: Unter den neuen Verhältnissen heißt diese Gipfelstellung € (Philostratos, Vitae § 586). Die frühere Privatübung erlebt hierbei eine spektakuläre Aufwertung im Rahmen der Rhetorenschule. Die didaktisch-spielerischen Redeübungen gewinnen dabei so sehr an Bedeutung, daß sie zum festen Bestandteil der öffentlichen Deklamation und der Epideixis werden. Als Begleiterscheinung dieser Metamorphose der politischen und der demonstrativen Rede wird die eigentliche Gerichtsrede gelegentlich als berüchtigte Angelegenheit herabgesetzt." Das Moment der scriptio erfuhr im Zusammenhang mit der schulrhetorischen Entwicklung nachklassischer Zeit, die unter den neu geschaffenen Voraussetzungen von einer zunehmenden Literarisierung gekennzeichnet wurde, eine für die spätantike und mittelalterliche Geisteskultur sehr bedeutende Aufwertung.100 Bereits in der ciceronischen Auffassung aber hatte die schriftliche Übung eine Schlüsselrolle bekommen, die die Bedeutung der Kompositionsübungen in der Rhetorenschule der Kaiserzeit durchaus vorwegnahm. Diese Würdigung der Schriftlichkeit dürfte zum einen auf der literarischen Neigung Ciceros, zum anderen aber auf der hellenistischen Theorie und Praxis des grammatischrhetorischen Unterrichts beruhen, wie sie uns der Auctor ad Herennium dokumentiert. 97

Vgl. De or. I,150ff., und daran anknüpfend Quint. X,5,3ff. S. auch De or. II,96f. und Quint. X.7,7.

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Zum Übergang von der schulischen Propädeutik zur öffentlichen, forensischen Tätigkeit vgl. De or. 1,157: Educenda deinde dictio est ex hac domestica exercitatione et umbratili medium in agmen, in pulveren, in clamorem, in castra atque in aciem forensem. Der Inhalt der rednerischen Privatübung wird ebd., 1,149, angeführt: causa aliquaposita consimili causarum earum, quae inforum deferuntur, dicatis quam maxime ad veritatem accomodate. Zur Eigenart der Übungsreden in der ciceronischen Zeit vgl. Weische, Cicero, S. 134, 144undl67f. Vgl. u.a. den Brief des Plinius an Nepos (11,3), wo der folgende Kontrast zwischen res forensis und res declamatoria festgestellt wird: Nos enim qui in foro verisque litibus terimur, multum malitiae, quamvis nolimus, addiscimus: schola et auditorium etficta causa res inermis, innoxia est nee minus felix, senibus praesertim (II,3,5f.). S. auch die Briefe 1,23; 11,14.

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Es sei vorläufig nur knapp auf die zunehmende Profilierung der Rhetorik als Poetik und Stiltheorie in Zusammenhang mit der in der Spätantike und im Mittelalter erfolgten Aufwertung der litterae zuungunsten der traditionellen Beredsamkeit verwiesen. Hiermit hängt letztlich die Entstehung der artes dictaminis und der Poetiken des Hochmittelalters zusammen. Vgl. Curtius, Dichtung, S. 44; ELLM, S. 78-89 und ISSff.; Rohde, Der griech. Roman, S. 329-339 und 362; Kroll, Rhetorik, Sp. 1121f.; Clark, Rhetoric, S. 215f. Kennedy, The Art of Rhetoric, S. 332ff.; Bowersock, Greek Sophists, S. 11; Russell, Greek Declamation, S. lOff. und 74; S. F. Bonner, Roman Declamation, S. 40 und 78; Klopsch, Einführung, S. 64ff.; Bagni, S. 24ff., 29f. und 55f 39

Schreiben bedeutete fur Cicero zunächst die höchste Stufe in dem aus den Momenten der auditio, lectio und scriptio bestehenden Durchbildungsprozeß.101 Als solches sollte das Abfassen von Texten die Funktion des besten und vorzüglichsten Bildners und Lehrers des rednerischen Ausdrucks erfüllen: Stilus optimus et praestantissimus dicendi effector ac magister (De or. 1,150). Dieser Gedanke wird in der Fortsetzung des ciceronischen Passus ausgeführt und zugleich zu einem regelrechten Lob des Schreibens gesteigert (§§ 151-154). So wird u.a. betont, das Schreiben bedeute den Katalysator der Gedanken und des Ausdrucks überhaupt: Omnes enim, sive artis sunt loci sive ingeni cuiusdam ac prudentiae, qui modo insunt in ea re, de qua scribimus, anquirentibus nobis omnique acie ingeni conlemplantibus ostendunt se et occurrunt; omnesque sententiae verbaque omnia...sub acumen stili subeant et succedant necesse est. Es veranlasse außerdem die Vollendung der Stellung und Fügung der Worte: turn ipsa conlocatio conformatioque verborum perßcitur in scribendo. Selbst bei den Stegreifreden trage die eingeübte Fähigkeit zu schreiben dazu bei, daß das Mündliche dem schriftlich formulierten Text ähnlich erscheine. Der mündliche Diskurs gewinne hierdurch, auch wenn das ihm vorliegende Konzept nicht mehr befolgt werde, einen sicheren Faden, seine Festigkeit: et qui a scribendi consuetudine ad dicendum venit, hone adfert facultatem, ut etiam subito si dicat, tarnen illa, quae dicantur, similia scriptorum esse videantur; atque etiam, si quando in dicendo scriptum attulerit aliquid, cum ab eo discesserit, reliqua similis oratio consequetur. Dieser letzte Gedanke wird durch die Metapher des trotz der Unterbrechung des Ruderns fortfahrenden Schiffes veranschaulicht (§ 153). Im Vorwort zu seinen überwiegend praktischen Ratschlägen zum Schreiben (quo modo et quae maxime scribi oporteat, X,3,4-33) übernimmt Quintilian teilweise sogar wörtlich die ciceronische Stelle über die Schreibübung als optimum effectorem ac magistrum dicendi (X,3,lff.), wobei er mit noch größerem Nachdruck als Cicero auf der ausschlaggebenden Bedeutung der Schriftlichkeit für die Redekunst besteht: Die Stegreifrede sei ohne die constantia, die nur die Schreibübung dem Diskurs gibt, lediglich als ein leeres Geschwätz einzuschätzen. Anschließend spricht er als Höhepunkt dieser Würdigung das folgende Lob des Schreibens aus: illic radices, illic fiindamenta sunt, illic opes velut sanctiore quodam aerario conditae, unde ad subitos quoque casus cum res exiget, proferantur. Die radices und fundamenta in diesem Zusammenhang dürften mit der Bewertung der Progymnasmata durch Theon (S. 70,28f.) als Grundlage nicht nur der Redekunst, sondern der gesamten Schriftstellerei verglichen werden.102 Das von den Modernen so häufig angenommene Mündlichkeitspostulat der antiken Zivilisation müßte in vielerlei Hinsicht revidiert werden. 101

Vgl. De or. 1,150: Caput cuttern est, quod ut vere dicam minime facimus...quam plurimum scribere. In der in Anm. 95 angeführten Definition der subactio werden die litterae zuletzt erwähnt (De or. 11,131). Auch im Ausbildungsprogramm des Crassus als offensichtlicher Befürworter der ciceronischen Auffassung besteht die gleiche Reihenfolge: audiendum, legendum, scribendum (1,95). Dieselbe Reihenfolge liegt bei Theon vor (S. 65,23ff.). 102 Auf die Bedeutung der Schreibübung für den Elementarunterricht ist Quint, früher im Zusammenhang hiermit eingegangen (1,4,3). Zur quintilianischen Auffassung vgl. Curtius, ELLM, S. 435, und Gallo, Poetria Nova, S. 225.

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Wir besitzen andererseits eine Alkidamas zugeschriebene, vom sophistischen Geist geprägte Widerlegung einer solchen Bedeutung der Schriftlichkeit zugunsten der Stegreifrede:'// . Die dabei vorgebrachten Argumente sind sowohl praktischer als auch ästhetischer Natur (9-27). Schließlich wird konzediert, das Schreiben sei nicht völlig zu disqualifizieren, sondern als eine der mündlichen Darstellungsart unterlegene Sache zu betrachten (30). Hierbei tritt in aller Deutlichkeit das sophistische Prinzip spielerischer Verteidigung der 'schwächeren Seite' gegen die stärkere auf. Die während der Kaiserzeit mit der üblichen Praxis der Deklamationen in den Schulen oder in der Öffentlichkeit verbundene Vielfalt von Aspekten der dictio als mündlicher Aktualisierung der scrtprio-Tätigkeit und hiermit als Gipfel der Rednerausbildung kann im Zusammenhang dieser Arbeit nicht weiter erörtert werden.

1.2.3.1. Lectio und auditio Unter den zwei 'mehr rezeptiven' Übungen als Voraussetzung des 'produktiven' Vorgangs des Schreibens veranlaßt die lectio die Aneignung der durch das schriftliche Medium zugänglichen Vorbilder.103 Hingegen ermöglicht die auditio die unmittelbare Wahrnehmung der mündlich und für die Augen auch mimisch vorgeführten Modelle. Daher kann man innerhalb des Schulbetriebes und um so mehr in der Praxis der öffentlichen Rezitationen und Deklamationen gewissermaßen von Audiovisualität reden. Das Moment der lectio setzt, wie oben gesehen, das Bestehen des literarischen Kanons, dasjenige der auditio die Anwesenheit mustergültiger Redner und Lehrmeister voraus.104 Als solche figurieren das Anhören und die Lektüre zusammen in den meisten bereits erwähnten theoretischen' Erörterungen der exercitatio, wobei jedoch das Moment der Lektüre vor allem im Zusammenhang mit der schulischen Aufgabe des Studiums Beachtung findet.105 Der ciceronische orator eloquens soll ein vielseitig belesener Mann sein, was mit dem seit der hellenistischen Zeit bestehenden Primat der 'Bücherwelt' zusammenhängt; demgemäß erscheint sowohl der auszubildende Redner als auch der Dichter bzw. Historiker von Gelehrsamkeit und Traditionsgebundenheit geprägt. Die reiche und extensive Lektüre, das mühsame Studium der Dichter und Prosaschriftsteller gehörte ständig zu den Postulaten der Rednerausbildung.106 Dies findet seinen 103

Die zwei konsumtiven Bezeichnungen wurden von Stegemann, Theon, Sp. 2043f., geprägt. Vgl. Kroll, Rhetorik, Sp. 1115; Barwick, Das Bildungsideal, S. 9 Dazu Thill, S. 17, mit weiteren Stellenangaben und Hinweisen auf antike Quellen. 106 Vgl. Cic., De or. 1,158: legendi enim poetae, cognoscendae historiae, omnium bonarum artium doctores atque scriptores. S. auch ebd., 11,96 und 153,111,39 und 125; dazu Kroll, Rhetorik, Sp. 1116; Reichel, S. 111; Barwick, Das Bildungsideal, S. 65; Bompaire, S. 106f. Es sei hier der so wichtige Passus aus der quintilianischen Erörterung der lectio angeführt: denique credamus summis oratoribus, qui veterum poemata vel adfidem causarum vel ad ornamentum eloquentiae adsumunt. neun praedpue quidem apud Ciceronem, frequenter tarnen apud Asinium etiam et ceteros...videmus Enni, Acci, Pacuvi, Lucili, Terenti, Caecili, et aliorum insert versus summa non eruditionis modo gratia, sed etiam iucunditatis, cum poeticis voluptatibus aures aforensi asperitate respirant (I,8,10f.). 104

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geeigneten Ausdruck in jener dem griechischen Lehrer Ciceros, Apollonios Molon, zugeschriebenen Definition der Lektüre als 'Nahrung des Stils' (Theon, S. 61,28ff.). Dasselbe hatte schon viel früher Kallimachos, der wichtigste Vertreter der alexandrinischen Dichtung, programmatisch formuliert und hierfür durch sein Hauptwerk Aitia wie auch durch seine bibliothekarische Tätigkeit ein Beispiel gesetzt.107 Für die Belesenheit der Sophisten bietet Philostratos reichliche Belege, u.a. das Bonmot Polemons: Die zum Studium erforderlichen Werke der Prosaisten seien so zahlreich, daß sie nur auf Eselsrücken getragen werden könnten, während man für diejenigen der Dichter einen Wagen benötigen würde (Vitae, § 539). Wie uns wieder Philostratos bezeugt, hatten die Sophisten für alle Lebenssituationen immer das passende homerische Zitat im Mund. In der als pura voluptas litterarum gewürdigten Lektüre mustergültiger Werke als Voraussetzung der schriftstellerischen Betätigung schwebte Quintilian das verklärte Alternativdasein zur forensischen Beschäftigung vor.108 Das der Lektüre und der Schreibtätigkeit gewidmete otium erschien ein Jahrtausend später Johannes von Salisbury als beste, nützlichste und angenehmste Lebensbeschäftigung - abgesehen allerdings vom Gebet. Dies bringt er in einem Kontext zum Ausdruck, der auf dem quintilianischen Lob der reinen Freude an Literatur wie auch auf deren humanistisch anmutender Verherrlichung durch Seneca (otium sine litteris mors est et hominis vivi sepultura : Epist. 82,3) beruht.109 Die befruchtende Wirkung der Lektüre auf den Geist, wie sie, so meinte man, schließlich in der schöpferischen Phase des Schreibens mit der Hervorbringung des Kunstwerkes gipfeln sollte, wird durch Dionys im Zusammenhang mit der Bestimmung der imitatio anhand einer Anekdote veranschaulicht: Ein häßlicher Mann soll seine Frau veranlaßt haben, schöne Bilder zu betrachten, damit sie ihm ebenfalls schöne Kinder hervorbrächte (De imit. II, fr. VI, S. 214.). Damit stimmte später Theon überein, bei dem die Verknüpfung der mit der 110 auf den Vorgang der Lektüre prinzipiell bezogen wird. Durch den Verlust seiner weiteren Erörterungen zur Übung der Schullektüre sind wir in dieser Hinsicht auf ciceronisches Theoriegut und vor allem auf die Ausführungen Quintilians angewiesen. Im Schulbetrieb, wo Lesen vornehmlich Autorenstudium bedeutete, unterschied man im Mittelalter je nach dem Standpunkt das darauf bezogene Verfahren des Lehrers (lectio

107

Vgl. Fr. 442: * & aeiSu; dazu Hans Herter, Kallimachos, Sp. 389f. und 448; Kroll, Studien, S. 38; Bompaire, S. 71; Thill, S. 17. Vgl.III,18,4: est aliquis ac nescio an maximus etiam ex secretis studiis fructus ac tarn pura voluptas litterarum, cum ab actu, id est opera, recesserunt et contemplatione sui fruuntur, dazu Weische, Zur Bedeutung, S. 163; Curtius, ELLM, S. 437. Zur ästhetischen Wirkung der Autorenlektüre auf den Redestil vgl. Cic., De or. 111,39: sed omnis loquendi elegantia...tarnen augetur legendis Oratoribus etpoetis. S. ebd., 11,96 und vor allem Pro Archia, 12-30; dazu einiges bei Kroll, Rhetorik, Sp. 1114; Atkins, II, S. 37; Bompaire, S. 39ff. 109 Vgl. Policraticus, lib. I, Prologus, 388d, S. 17; zur literarischen Beschäftigung vgl. ebd., 386a, S. 13. 110 Vgl. Theon, S. 61,28ff.: "Die Lektüre ist die Nahrung des Stils; wir werden am schönsten nachahmen, wenn wir unsere Seele durch schöne Modelle prägen lassen"; dazu Bompaire, S. 37ff. und 42f., mit weiteren Hinweisen auf Quint, und Dionys.

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docentis) von demjenigen des Schülers (lectio discentis).111 Das Erforderliche beim Studium der Autoren im Rahmen der Schüleraufgaben war, wie immer, nachhaltiger Fleiß und geistige Anstrengung, deren unmittelbarer Niederschlag das Auswendiglernen und das Hersagen der Texte war.112 Was nun die Rolle des Lehrers anbetrifft, gehört das officium lectionis zur Aufgabe des Grammatikers, wobei die dazugehörige Texterklärung der Dichter (enarratio poetarum) und im allgemeinen die vielfache historische Sacherklärung (enarratio historiarum) nicht anders denn als Vorleistung zur Textedierung und -kritik anzusehen sind.113 Die letzteren galten eben als die höchste, die wahrhaft schöpferische Leistung des Grammatikers überhaupt.114 Der mittelalterliche Autorenunterricht ist gar nicht denkbar ohne die ihn bedingenden accessus ad auctores, Textkommentare und Glossierungen.115 Dem Rhetor wies Quintilian die Lektüre und die Kritik ( ) der Redner und der Historiker zu.116 In der hochmittelalterlichen Schule lebte, wie uns vor allem die accessus-Liieratur und ansonsten solche sporadischen Zeugnisse wie die von Hugo von St. Victor und von Johannes von Salisbury deutlich machen, teilweise die gleiche Technik des Literaturunterrichts fort. Neben Kontinuitätserscheinungen bzw. Wiederentdeckungen der gleichen pädagogischen 'patterns' entwickelten sich davon ausgehend neue Methoden der Autorenerklärung wie diejenige, die auf den sieben inventorischen Peristasen (quis, quid usw.) basierte, oder der sogenannte 'aristotelische' accessus, der nach den vier causae erfolgte.117 Das sind Erneuerungen, die epochenübergreifend gewirkt haben. 111

Vgl. Hugo von St. Victor, 111,7. Als drittes kommt bei ihm die lectio per se inspicientis in Frage, was m.E. mit den oben Anm. 109 und 110 angefahren Stellen übereinstimmen könnte; dazu einiges bei G. Pare", La renaissance, S. 218f. Zur lectio in der Antike vgl. Marrou, Gesch. der Erz., S. 243f.; Clark, S. 62. Vgl. De m. 1,95:...studio acriore...labore atque industria superiore, cum se ad audiendum, legendum, scribendumque dederit. S. vor allem Quint.X,l,19, der von der sonst mehrmals angewandten Speisemetapher auch in bezug auf die lectio Gebrauch macht: ...repetamus cuttern et tractemus et ut cibos mansos ac prope liquefactos demittimus, quifacilius digerantur: ita ut lectio...non cruda, sedmulta iteratione mollita et velut confecta memoriae tradatur. Es tritt dabei der rezeptive und akkumulative Charakter des Autorenstudiums als Voraussetzung der imitatio zutage, die hier als schöpferische Tätigkeit gemeint wird; dazu Fantham, Imit. and Decline, S. 116. 113 Zur Autorenerklärung vgl. Cic., De or. 1,158, wo weitere Unterscheidungen jedoch nicht getroffen werden. Zur pars historica der Grammatik und ihren Bestandteilen vgl. Seneca, Epist. 88,3; Quint 1,4,2-5, 8,18ff„ 9,1-3. S. auch Diomedes, De arte gramm. 18, S. 426. Vgl. außerdem die Definition der pars exegetica als scientia interpretandi poetas atque historicos bei Maximus Victorinus, De arte gramm. S. 188,1; dazu Stemplinger, S. 107ff.; Radermacher, Juvenal, S. 529; Barwick, Remmius Palaemon, S. 217f.; Thill, S. 17 114 Vgl. J.Wight Duff, A Literary Hist, of Rome, S. 24; Clark, S. 62f.; Marrou, Gesch. der Erz., S. 235(f.; Schanz u. Hosius, Teil II, S. 100. 115 Dazu Salmon, S.77ff; Bernhard Bischoff, Hadoard, S. 5Iff; Hubert Silvestre, Le schema des accessus passim; Louis Holtz, La redocouverte, S. 14ff und 20ff; Minnis, S.13-30. 116 Vgl. Quint 11,4,2 und 5,l,7ff.,16; dazu Reichel, S. 125. S. auch unten S. 231. 117 Vgl. Konrad von Hirsau, Z. 220ff.; Bernhard von Utrecht, Commentum, 200ff.; Hugo von St Victor 111,7; Johannes von Salisbury, Metalogicon 1,24; vgl. weitere noch wichtigere Stellenangaben bei Silvestre, S. 684ff.; Minnis, S. 3-7, 15f., 28ff. und 76ff.; vgl. außerdem A. Clerval, Les fcoles de Chartres, S. 225ff.; Faral, S. 99-103; Marrou, Gesch. der Erz., S. 491-506; Pierre Riche", Education, S. 62ff., 135ff. und 510ff.

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Eine der lectio relativ hnliche Beschaffenheit weist die auditio auf: Als rezeptive bung bedeutete sie das aufmerksame Anh ren musterhafter Redner bzw. Schulmeister, sp ter sophistischer Deklamatoren.118 Als rein passive bung beurteilt sie Theon als ungen gend, wenn sie nicht zur schriftlichen bung berleiten kann (S. 61, 32-62,1). Ein wichtiger, derartige Nachteile kompensierender Bestandteil der auditio war die Memorier bung, die zur angewandten Reproduzierung des Angeh rten bef higte. Die schon fr h in der hellenistischen Schule entwickelte Mnemotechnik lebte fort und perfektionierte sich in der Rhetorenschule und in der mittelalterlichen P dagogik, wie uns u.a. der Prolog zu De tribus circumstantiis des Hugo von St. Victor zeigt. Sie wird ja immer noch als eine wertvolle geistige Bef higung angesehen und gesch tzt. Bei ihrer Beurteilung in der Antike kommen gelegentlich solche Wendungen zum Ausdruck, an denen Ankl nge der dionysischen und pseudo-longinischen Mimesis-Auffassung abzulesen sind.119

1.2.3. 2. Die mehrstufige scriptio und der Vorgang der tractatio Es ist das Verdienst Reiffs, ciceronische, horazische und verschiedene andere Stellungnahmen klassischer und nachklassischer Zeit zum Verh ltnis der r mischen Autoren zu ihren griechischen Vorbildern bewertet zu haben und daraufhin eine mehrstufige von der sklavischen Abh ngigkeit bis zur kreativen Imitation f hrende Begriffsskala festgestellt zu haben. Es handelt sich nach Reiff dabei um die folgenden, durch r mische literaturtechnische Termini bezeichneten Momente: - die interpretatio als wortgetreuer Umsetzungsproze , wie er z.B. in der bersetzung von einer Sprache in die andere vorkomme; - die imitatio als stofflich und/oder stilistisch relativ freiere Nachahmung der Vorbilder; - die aemulatio als selbst ndige, mit den Vorbildern wetteifernde Umsetzungsform.120 118

Vgl. Quint. 1,1,36, 11,2,11, X.1,10; Plinius, Nat. Hist. XXVI.ll; dazu Reichel, S. 111; Julius Penndorf, Progymnasmata, S. 20; Alfred Gercke, Die alte τέχνη ρητορική, S. 358f.; Lana, Quintiliano, S. 114f. Zur Verbindung der Mnemonik mit den Aufgaben der auditio vgl. Auct. ad Her. 111,30: item qui mnemonica didicerunt possunt quad audierunt in locis collocare et ex his memoriter pronuntiare', dazu Herwig Blum, Die antike Mnemotechnik, S. 52; Gercke, S. 349. S. au erdem Philostratos (Vitae § 523) zur in der Schule des ber hmten Sophisten Dionysius von Milet viel kultivierten Mnemotechnik: Die begabtesten seiner Sch ler pr gten sich die Deklamationen des Meisters ein (έτυνοΰντο αυτά τάϊς γνώμαις), indem sie sich von seinen Worten ergreifen lie en, und waren daraufhin f hig, sie vor den anderen herzusagen. Zur Mnemotechnik in der antiken Schule vgl. Stegemann, Polemon, Sp. 1352; vgl. vor allem die Ausf hrungen Volkmanns, S. 567-572, und im allgemeinen Blum, passim. Zur Mnemotechnik bei Hugo von St. Victor vgl. William M. Green, Hugo of St. Victor, S. 484ff.; vgl au erdem die Erw hnung der mnemotechnischen bung im Unterricht Bernhards von Chartres durch Johannes von Salisbury, Metalogicon 1,24. Zur mittelalterlichen Mnemotechnik vgl. au erdem Bischoff, Die Ged chtniskunst, S. 204-212, und Helga Hajdu, Das mnemotechnische Schrifttum des Mittelalters, passim. 120 Vgl. Interpretatio, passim. S. auch die Besprechung Fuhrmanns, 'Reiff, Interpretatio', S. 446ff. S. auch den ausfuhrlichen kritischen Kommentar Thills, S. 451-470.

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Dabei lasse sich ein Spannungsverhältnis zwischen jeweils zwei Modalitäten einer engeren oder freieren Nachahmungsweise entdecken, wobei mehrere mit der Beschaffenheit der Literaturgattung (rednerische oder wissenschaftliche Prosa, Dichtung usw.) bzw. mit der Autorenindividualität (Lukrez, Terenz, Horaz, Vergil usw.) zusammenhängende Abstufungen festzustellen seien.121 Die bei Reiff gelegentlich vorkommende terminologische Schwankung ist eigentlich auf die bereits erörterte dialektische Beziehung der zur 122 zurückzuführen. Eine derartige Kodifizierung dürfte aber ebenso gut in Frage kommen für das Spannungsverhältnis zwischen Abhängigkeit und Selbständigkeit, das dem Umsetzungsprozeß innerhalb jeder anderen Literatur eigentümlich ist. Die Innenverhältnisse in der griechischen Literatur von der klassischen Zeit bis in den Späthellenismus hinein, die translatio studii von der antiken zur mittellateinischen, von der antikgriechischen zur byzantinischen Literatur, wie auch das Verhältnis volkssprachlicher Autoren Ost- bzw. Westeuropas zu deren griechischen bzw. lateinischen Mustern erlauben den gleichen Schluß. Ähnliches ließe sich in be'zug auf die Rezeption griechischer Literatur in den orientalischen Sprachgebieten Syriens, Armeniens, Georgiens, Ägyptens und Äthiopiens bemerken.123 Die zwischen Nachahmung und Wetteifern schwankende Beziehung der römischen Autoren zu ihren griechischen Mustern illustriert am besten die von Dionys befürwortete Dialektik von und ·.124 Auch konnte es schwerlich, wie Reiff zu meinen scheint, eine von dem hellenistischen imitofio-Begriff unabhängige Nachahmungstheorie in Rom gegeben haben.125 Die Fäden horazischer und quintilianischer Doktrin gehen, wie noch 121

Vgl. Reiff, passim, vor allem S. 7ff., 25ff., 44ff., 72ff. und 111-118; Dahlmann, Römertum, S. 81, den Reiff als seinen Vorläufer bezeichnet; Bompaire, S. 81f. 122 Vgl. die Kritik Fuhrmanns, Tleiff, Interpretatio', S. 447. Jedoch unterstreicht Reiff selber gelegentlich die Plurifunktionalität der Begriffe imitatio und aemulatto, z.B. bei Quint. Vgl. S. 94. S. außerdem Thes. Latinus, I, S. 970. Es sei auf die treffende Äußerung Lehmanns hingewiesen: "Die Geschichte aller mittelalterlichen Literatur, insbesondere die des lateinischen Schrifttums im Abendlande, ist für mehrere Jahrhunderte in hohem Maße eine Geschichte der Aufnahme, Verarbeitung und Nachahmung fremden Gutes" (Die Parodie, S. 10). S. auch ders., Das Problem, S. 116ff.; Hartmut Erbse, Überlieferungsgeschichte der griech. klass.und bell. Lit., in: Gesch. der Textüberlieferung, I, S. 209-307; Karl Büchner, Überlieferungsgeschichte der lat. Lit. des Altertums, ebd., S. 312-422; R. R. Bolgar, The Class. Heritage and its Beneficiaries, vor allem S. 13-45, 66ff., 91ff. und 130ff. Für die byzantinische Welt sind zu erwähnen: Beck, Das byz. Jahrtausend, S. 11-33, 109-122; ders., Überlieferungsgeschichte der byz. Lit., in: Gesch. der Textüberlieferung, I, S. 425-510; Hunger, Die profane Lit., I, S. 65-74, II, S. 4ff., lOff., 55ff., 87f. und 108-173. Für den balkanischen Kulturraum vgl. Nicolae Cartojan, Cartile populäre, vor allem I, S. 9-66, 217ff., 236-265, II, S. 13-33 und 289-308. Für den Orient sei auf die Arbeiten Steinschneiders hingewiesen, darunter: Die arabischen Übersetzungen aus dem Griechischen, Leipzig 1897. Vgl. auch die Arbeiten des Symposiums "Les contacts du monde syriaque avec les autres cultures' veröffentlicht in: Orientalia Christiana Analecta, 221, Rom 1983. 124 Zum römischen /m/fa/io-Begriff als Einzelfall der von den griechischen Theoretikern kodifizierten Mimesis vgl. Stemplinger, S. 121f.; Kroll, Rhetorik, Sp. 1113; Thill, S. 5-10; 14-22 und 464; Giorgio Pasquali, Orazio, S. 119f.; Flashar, S. 92, und Russell, De imit., S. If., und Criticism, S. 99 und 142f. 125 Vgl. Reiff, S. 114-118. Eine Einwirkung des rhetorischen imiiai/o-Begriffs der Griechen auf die römische Literaturtheorie verzeichnet er jedoch (S. 118f.) hinsichtlich der nachklassischen Entwicklung. 45

zu sehen ist, über ihre unmittelbaren hellenistischen Quellen hinaus auf isokrateische Postulate eines vielfachen, ästhetisch potenzierten Wetteiferns mit dem Traditionsgut zurück.126 Hiermit gelangen wir aber wieder an den Kreuzungspunkt zwischen Literaturpädagogik und -kritik, wobei sich die bisher überwiegend auf dem Gebiete der Schultheorie verfolgten Umsetzungserscheinungen durch literaturkritische Begriffe untermauern, gelegentlich ergänzen lassen. Man könnte auf vereinfachende Weise sagen, die an den Griechen geschulten Römer seien im Laufe der Zeit von der Elementarstufe der interpretatio über die mittlere Phase einer freieren imitatio bis zur hohen Stufe selbständiger aemulatto herangewachsen. Dasselbe gilt aber ebenso gut für die Genese und Entwicklung der volkssprachlichen Literaturen des Mittelalters in deren Bezug auf die mittellateinische bzw. byzantinische Literatur. Diese sozusagen phylogenetische Entwicklung reflektiert also getreulich den "ontogenetischen" Vorgang, d.h. den Lern- und Übungsprozeß, den die Schüler beim Grammatiker und dann beim Rhetor durchzumachen hatten, um sich als Redner oder als Schriftsteller zu behaupten. Dies läßt sich am Beispiel der rednerischen Laufbahn Ciceros wie folgt veranschaulichen: Der junge Cicero leistete durch seine Übersetzungen aus den attischen Prosaisten zunächst das munus interpretis; daran schloß sich die in seinen ersten Reden erfolgte Nachbildung einzelner durch den rhetorischen Unterricht vertraut gewordenen Musterstellen aus den attischen Rednern an. In den Verrinen wird aber seine aemulatio-Phase dadurch erkennbar, daß er sich bereits zu jener Zeit als "kongenialer Nachfolger attischer Klassiker" profiliert hatte.127 Die Eigenart der mit dem schulischen Moment des Schreibens verbundenen Phasen weist m.E. eine enge Verwandtschaft mit dem komplexeren Vorgang des imitatorischen Literaturschaffens auf. Eine nähere Betrachtung des Zusammenhanges dieser zwei Vorgänge wird uns im folgenden dazu veranlassen, die drei Glieder des von Reiff aufgestellten Schemas im Sinne eines dazu adäquaten Interpretationsmodells neu anzuwenden. Die interpretatio fällt auf der niederen Stufe des Literaturunterrichts mit der Übergangsphase von den rein rezeptiven Übungen des Lesens und Anhörens zu den produktiven Phasen der Textabfassung zusammen. Theoretisch stellt also die interpretatio eine eng reproduzierende Wiedergabe der jeweiligen Vorlage dar.128 Dabei können aber in der Schulpraxis mehrere bis zur aemulatio führende Abstufungen unterschieden werden. Die im Unterricht des grammaticus erfolgte vollständige oder partielle Umsetzung der Vorlage (z.B. der 126

Vgl. Isokrates, Panegyricus, 9f., Ad Nicoclem, 4l, Ad Philippum, 84, Antidosis, 45ff.; dazu u.a. Stemplinger, S. 152ff.; Burgess, S. 101; Bompairc, S. 75. Vgl. Weische, Cicero, S. 157. Vgl. auch die Analyse einzelner Fälle gedanklicher und stilistischer Nachahmung der Attiker durch Cic. ebd., S. 21-113 und 145-156. Stemplinger, S. 118, stellt die interpretatio als 'grammatische Paraphrase' der abwandelnden, künstlerischen Wiedergabe der Vorlage gegenüber, was er als 'rhetorische Paraphrasis' bezeichnet. Dabei beruft er sich sowohl auf Quint. X.5,5, als auch auf Theon, S. 62, 10-21. Dazu auch Lana, I Progimnasmati, S. 159; Lausberg, §§ 1093-1100, und neuerdings am ausführlichsten Roberts, S. 37-60. Zur interpretatio als Wortfigur der Synonymic vgl. Auct. ad Her. IV,38.

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homerischen Epen, der Aeneis) um des Verständnisses der Schüler willen grenzt sehr eng an die Übungen des Auswendiglernens und Hersagens, wobei sie sich naturgemäß von der mit der auditio zusammenhängenden Mnemotechnik qualitativ unterscheidet.129 Hierher gehören ebenfalls die Wortschatzübung und die anderen grammatikalischen Übungen.130 In der Praxis des Skriptoriums hat das Abschreiben der Handschriften bald eine gleichfalls gedankenlos reproduzierende Natur, bald aber weist es eine lebendige Benutzung und Durcharbeitung, gelegentlich eine spielerisch-emulative Paraphrase des antiken Textes auf.131 Die Herstellung von Literaturcentones einzelner Autoren, wie Homer oder Vergil, ist alles andere als eine mechanische interpretation2 Das ihr zugrundeliegende Selektionierungsprinzip grenzt schon an den 'anthologizing approach1 einer schöpferischen imitatio. Die dem originalen Wortlaut getreue Übersetzung in eine andere Sprache, z.B. vertere Graeca in Latinum (Quint. X,5,2) stellt grundsätzlich eine Form der interpretatio dar. Erfolgt sie aber als eine freiere Adaptation, so ist sie bereits als eine emulative Paraphrasierung zu bewerten. Gleicher Art sind die Prosa-Paraphrase der Dichtung, diejenige der prosaischen Vorlagen selbst, die Verifizierung der letzteren wie auch die Selbstparaphrasierung: nee aliena tantum transferre, sed etiam nostra...tractare (ebd. X,5,9).133 All diese Formen lassen sich dem quintilianischen Stichwort illa ex Latinis conversio (X,5,4ff.) subsumieren. Die in den Schulen als anspruchsvollere Umsetzungsübung geltende Verifizierung prosaischer Vorlagen genoß eine ständige Beliebtheit. Dazu gehören die uns aus der Spätantike belegten Deklamationen in Versen und vornehmlich die Metrifizierungen der biblischen Stoffe oder der Heiligenviten. Dazu gehört das in der christlichen Spätantike herausgebildete und im Mittelalter viel kultivierte opus geminatum als Sonderform der Selbstparaphrase.134 In dem zwischen der interpretatio als sklavischer und kunstloser Umsetzung der Vorlage und der Paraphrase als kunstmäßiger, stilistisch-formaler Abwandlung der Vorlage be129

Dazu einiges bei Kennedy, Class. Rhet, S. 177. Vgl. die von Martin P. Nilsson, Die hell. Schule, S. 15f., aufgeführten Zeugnisse aus dem Schulbetrieb im hellenistisch-römischen Ägypten. Vgl. auch Lausberg, §§ 1094-97, der diese Übungen unter dem Stichwort verba singula unterbringt. S. außerdem Kennedy, a.a.O., S. 177; Hunger, Mimesis, S. 33f. Weitere wichtige Zeugnisse bietet Roberts, S. 38-44. Zu letzterem Aspekt vgl. die Ausführungen Heinrich Domes, Untersuchungen, S. 12Sff., über die Eigenart der Hss. der Heroides im Mittelalter. 132 Vgl. Hieronym, Epist. 103,7; Isidor, I,38,25f, der eine Definition davon bietet und einige christliche Vergilcentones, darunter die 'Heilige Geschichte" der Falconia Proba erwähnt; dazu Schanz u. Hosius, II.S.99 und IV, S. 219f; Otto Crusius, Cento, Sp. 1929ff; Kroll, Studien, S. 157; Lehmann, Parodie, S. lOf. 33 Zur Prosa- bzw. Versenparaphrase als literarischer Übung vgl. Cic., De or. 1,34,154; Quint 1,9,2; zur Prosaparaphrase vergilischer Dichtung als Schulübung vgl. Augustin, Confessiones 1,17,27. Zur Selbstparaphrase vgl. außerdem Theon, S. 62,23f.; Plinius minor, Epist. VII.9,5; Philostratos, Vitae, § 572. Vgl. Lausberg, §§ 1098ff.; Thill, S. 19; Fantham, Imitation and Decline, S. 109; Cairns, Self-Imitation, passim; Graham Anderson, Theme and Variation, S. 6; Roberts, S. 8 und 17; Klaus Thraede, Epos, Sp. 991f. 134 Zu den Bibelversifizierungen vgl. im allgemeinen Curtius, Dichtung, S. 438; Clark, S. 177f.; Klopsch, Einführung, S. 71f.; zu ihrem Zusammenhang mit der schulischen Paraphraseübung vgl. Reinhard Herzog, Die Bibelepik, S. 61ff.; Hagendahl, Tertullian, S. 68f.; Roberts, S. 67ff. Zum opus geminatum vgl. Klopsch, ebd., S. 72; Ernst Walter, Opus geminum, passim; Roberts, S. 77-83. 130

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stehenden Spielraum ist u.a. das in der Literaturpraxis der Antike viel kultivierte literarische Pasticcio anzusetzen.135 Naturgemäß grenzt das literarische Plagiat am engsten an die Praxis der interpretatio, wobei es weder in der Antike noch im Mittelalter mit dem gleichen Makel wie in der Neuzeit behaftet war.136 Die interpretatio als engere und die Paraphrase als freiere Umsetzung der Vorlage fallen also auf der sprachlich-stilistischen Ebene im Grunde mit den drei Modalitäten: interpretatio, imitatio, aemulatio zusammen, wie diese von Reiff herausgearbeitet wurden. Sowohl die Theorie als auch die Praxis der Imitation betreffen aber, wie bereits angedeutet, oft genug einen Umsetzungsvorgang, der die sprachlich-stilistische Ebene (yerbd) mit einschließt und gleichzeitig insofern ein Höheres darstellt, als er eine unter das Stichwort aemulatio einzuordnende Aus- bzw. Umarbeitung je nach dem einzelnen Fall, des Stoffes (res) und/oder der Struktur (prdo) und/oder des gedanklichen Inhaltes (consilia) der gegebenen Vorlage erzielt. Im folgenden wird dieser 'höhere1 und komplexe Umsetzungsvorgang tractatio genannt. Insofern ist die tractatio als Vervollkommnung des mehrschichtigen, rezeptive und reproduktive Phasen einschließenden exercitatio-Prozesses aufzufassen. Ihrerseits wurde die exercitatio oben (S. 37) als Modalperistase (quomodo imitemur) der imitatio definiert. Nun bestehen in der Literaturpraxis fließende Grenzen zwischen der Paraphrase als 'Ringen mit der Vorlage' und der tractatio als umfassendem 'Ringen mit dem Stoff. So weisen solche typisch paraphrastischen Bearbeitungen, wie die Metrifizierungen der Bibel und der Heiligenviten oder die frühmittelgriechischen Fassungen des Alexanderromans, gelegentlich auch stoffliche und gedankliche Abwandlungen auf, die eigentlich der tractatio zuzuordnen sind. In der Vita Sancti Martini des Venantius Fortunatus sprengen die Abweichungen von der Sulpicius-Vorlage beinahe den Rahmen einer paraphrastischen Bearbeitung. Das Umgekehrte ist allerdings der Normalfall: Jede stoffliche und gedankliche Ausarbeitung bzw. Umgestaltung einer Vorlage impliziert die niederen Stufen der sklavischen interpretatio und der emulativen Paraphrase. In der epochenübergreifenden Tradition der Fabeldichtung besteht ein ständiger, vielerlei Abstufungen umfassender Übergang vom 'Ringen mit der Vorlage' zum 'Ringen mit dem Stoff und umgekehrt. Eine solche Sonderbedeutung der tractatio läßt sich begriffsgeschichtlich fundieren. Sie geht letzten Endes vom üblichen Sinne der verändernden Bearbeitung verschiedener Gegenstände materieller oder geistiger Natur aus. Die rhetorisch-technischen Traktate belegen uns tractatio meistens im Rahmen der Argumentationslehre in der Bedeutung von Ausarbeitung bzw. Durchführung spezieller oder gemeinsamer Orte (loci proprii bzw.

135

Dazu Bompaire, S. 113 mit weiteren Hinweisen; Kennedy, Class.Rhetoric, S.53ff. Zur Dialektik der wörtlichen Übersetzung und der freien Nachahmung vgl. Immisch, S. 109; Heinze, in: Hör. Briefe, S. 314. S. allgemein Oskar Walzel, Gehalt und Gestalt, S. 167. 136 Zum Plagiat im allgemeinen vgl. Stemplinger, passim, vor allem S. 114ff.; Ziegler, Plagiat, Sp. 1956-84. Für unsere Auffassung vgl. Bompaire, S. 83ff.; Ziegler, ebd., Sp. 1965ff. Es sei nebenbei auf die Stellungnahme des Aelius Aristeides zum Plagiat hingewiesen (Oratio 3,1).

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communes). 137Die tractatio im Sinne kreativer Umsetzung einer literarischen Vorlage tritt eindeutig beim Auctor ad Herennium, bei Quintilian und ebensogut in den Poetiken des Hochmittelalters auf.138 Hiermit hängt eine in der mittelalterlichen Lehre des accessus ad auctores häufig begegnende Auffassung von tractare, tractatio zusammen, wobei der modus tractandi oder agendi, scribendi auf die stilistischen und rhetorischen Vorzüge bezogen wird, die sich in einem literarischen Werk durch die Bearbeitung der vorgegebenen materia seitens des jeweiligen auctor ergeben. Konrad von Hirsau zufolge (§§ 135f.) besteht die schriftstellerische Eigenart des auctor (stilo suö) darin, daß er rerum gesta vel priorum dicta vel docmata adaugeat, also vorgegebene Taten und Handlungen, Reden und Meinungen vergrößernd darstellt. Die Eigenart dieser Auffassung wird noch deutlicher anhand der in den sogenannten 'aristotelischen' accessus auftretenden Bedeutung der forma tractandi als causa formalis des jeweiligen Werkes. Die causa materialis soll dabei den vorgegebenen Stoff bzw. die Vorlage bilden.139 Darüber hinaas ist die Verwendung der tractatio im Sinne schriftlicher Ausführung der jeweils vorgegebenen Themata in der humanistischen Tradition der Aufsatzerziehung zu erwähnen, die auf die progymnasmatische Lehre zurückgeht.14° Eine weitgehende Überschneidung mit der technisch-rhetorischen und der literaturtheoretischen Bedeutung der tractatio weist, wie noch zu sehen ist, die in De inventione und beim Auctor ad Herennium auftretende expolitio auf: Zum einen bedeutet expolitio die Ausarbeitung, Ausgestaltung der Argumente (expolitio inventorum), zum anderen bedeutet sie aber die literarische Umsetzung und Ausarbeitung einer gewissen Grundform wie die Chrie, die Gnome. Dabei haftet diesem terminus technicus immer noch seine ursprüngliche Bedeutung von Polierung, Verfeinerung (polire, nitidum reddere) an.141 Im griechischen Zur tractatio der loci vgl. im allgemeinen Cic., De inv. 11,49: cum diligenter aliqui proprius causae locus tractatus est; II, 26: qui loci omn.es similiter in incommodi vitatione tractabuntur; s. auch ebd., 1,82,100; II, 44; De or. 11,177; Part. or. 17; Quint. VI1,4,11. Zu den loci communes vgl. u.a. De inv. 11,51: Hi et ceteri loci communes...tractantur...gravius et ornatius et cum verbis turn etiam sententiis excellentibus. Zu dieser technisch-rhetorischen Bedeutung der tractatio vgl. Barwick, Die Gliederung, S. 51 ff. 138 Vgl. die Erörterung der Syntagmen commutabimus...tractando, mutatur res tractando( Auct. ad Her. 54ff) und pluribus modis tractare (Quint. X,5,9ff.) durch Lausberg, § 839 und 1104ff.mit weiteren Hinweisen über die modi und argumenta (loci) der tractatio, die als "schlußfolgernde und vertikal-steigernde Ausarbeitung" definiert wird. Die im Rahmen der schulliterarischen Übung auszuarbeitende Vorlage nannte später Matthäus von Vendome materia pertractata; vgl. III, 16, S.184: ...de materia pertractata, scilicet de fabulis poeticis, quas nudi Garamantes arant in scolastico versificandi exercitio. Die Neubearbeitung dieser materia nannte er exsecutio materiae: vgl. III,14f., S. 184 und IV,l, S. 180. Seinerseits unterscheidet Galfredus von Vinsauf, Docum. I,4f, S.266, den modus tractantis als Stofferweiterung durch die Beifügung einer enkomiastischen Digression in eine vorgegebene Geschichte (Minos und Scilla) von dem modus narrantis, den er im Sinne des Auct. ad Her. 1,9, als schlichte, dem Imperativ der brevitas untergeordnete Erzählweise bestimmt. 139ygj die Ausführungen Minnis1, S. 21f. und 28f., der die hier zu erörternden Aspekte der tractatio als emulative Imitation allerdings nicht mit berücksichtigt. Dazu Hermann Menge, Repetitorium, S. 391f., mit weiterer Bibliographie. 141 Zur ersten Bedeutung vgl. Cic. De inv. 1,40-42; 11,3,11; zur zweiten Bedeutung vgl. Auct. ad Her. IV.54; 49

Sprachraum haben tractatio und expolitio mit deren er rterten Hauptbedeutungen eine relative Entsprechung in der εργασία oder εξεργασία, wie diese durch die literaturtheoretischen, technisch-rhetorischen und progymnasmatischen Schriften belegt ist.142

l .3.

Die Erscheinungsebenen der tractatio

1.3.1.

Rhetorische und poetologische Allgemeinbestimmungen

Wir wollen jetzt erneut das Hauptergebnis in Betracht ziehen, zu dem Reiff in seiner Untersuchung der r mischen imitorio-Erscheinungen gekommen ist: Es handelt sich n mlich um die Feststellung eines Spannungsverh ltnisses erstens zwischen formal-stilistischer Selbst ndigkeit und stofflicher Abh ngigkeit, zweitens zwischen stofflicher Selbst ndigkeit und stilistischer Abh ngigkeit. Die dieses Spannungsverh ltnis veranlassenden Faktoren haben wir im vorigen in Anlehnung an Lausberg zun chst als 'Ringen mit der Vorlage' und 'Ringen mit dem Stoff bezeichnet und darin soeben zwei konstitutive, miteinander eng verbundene Momente der literarischen tractatio erkannt.l43Von den quintilianischen Bestimmungen der imitatio ausgehend bezieht Lausberg diese zwei Modalit ten auf die

ΛΛ*\

50

dazu Thes. Latinus, V, Sp. 1756. Zum etymologischen Sinn vgl. die Belege ebd., Sp.1753. Zur Mehrdeutung der expolitio vgl. Volkmann, S. 257; Calboli, S. 406ff. Anm .247. Im blichen literar-technischen Sinne bedeutet εξεργασία- die stilistische Ausarbeitung (vgl. Phdodemos, fr. X, S. 27) bzw. die Ausf hrung und Dimensionierung der einzelnen Episoden eines jeden Werkes; dazu Dionys, De Thttc. 9,13. Als solche figuriert εξεργασία als drittes Glied der Trias διαίρεσις-divisio, ταξιςordo, έξεργασία-tractatio, mit der Dionys den kunstm igen Bestandteil (τεχηκότερον μέρος) der Stoffgestaltung eines jeden Literaturwerkes (6 πραγματικός τόπος) bezeichnet; dazu W. Kenwick Pritchett, in: Dionysius, On Thucydides, S. 59; Martin, S. 217; Immisch, S. 33. Auf dem rhetorischtechnischen Gebiete bedeutet εξεργασία die Ausarbeitung der Argumente (εξεργασία των επιχειρημάτων) gem den blichen loci a persona, a re, a tempore, dann a simili, a comparatione usw. Vgl. Dionys, De Isaeo, 16f.; De Isocrate, 12; Quint. VIII, 3,85, Hermog., Inv., S. 219ff. Hiermit f llt eindeutig die lateinische tractatio als Argumenten-Ausf hrung zusammen: lllud videmus nequaquam satis esse reperire quid dicas, nisi id inventum tractarepossis; tractatio aufem varia debet esse...proponi oportet quid adferas et qua re ita sit ostendere: ex eisdem illis locis interdum concludere, relinquere alias alioque transire (Cic., De or. 11,176-7). S. auch Pritchett, S. 59. Die Bedeutung der stofflich-formalen Ausarbeitung einer literarischen Vorlage begegnet u.a. bei Libanios in seinem Prolog (Προθεωρία) zur Declamatio III, Legatio Menelai (Bd. V, S. 200). Dort bezeichnet er mit εργασία die ausdehnende bzw. konzentrierende Umsetzung (έκτείνειν bzw. συστελλειν) zweier homerischer Vorlagen in die deklamatorische Gestalt der Botschaft von Menelaos bzw. von Ulysses an Achilles (πρεσβευτικοί λόγοι). Die Synonymic der εργασία und tractatio, der εργασία (εξεργασία) und expolitio wurde zun chst von Jo. Christ. Theoph. Ernesti nachgewiesen: vgl. S. 135f. ε.ν.Έργασίαι, und S. 229 s.v.'Οικονομία. S. au erdem Volkmann, S. 277ff.; Martin, S. 128; Reiche!, S. 14; Caplan, S. 370 Amad. Vgl. oben S. 37. Hier wie in den folgenden l t sich auf der Ausdrucksebene eine gewisse Vertauschbarkeit der imitatio mit der tractatio schwerlich vermeiden. Zwischen ihnen besteht eine 'synekdochische' Beziehung: Die tractatio ist pars der imitatio als ein totum.

Vorgänge der paraphrasis bzw. des sogenannten pluribus modis tractare.144 Sie sind m.E. mit den Distinktionen in Zusammenhang zu bringen, die Heinze und Immisch, schließlich Reiff selbst in bezug auf den Kern der horazischen //n/iario-Theorie (A.P. 119-136) gemacht haben.145 Wie auch bisher soll hier das Gebiet der Lyrik ausgeklammert bleiben, wo andere Verhältnisse zwischen der stofflichen und der stilistischen Dimension der Nachahmung bestehen als bei den auf historischen bzw. mythischen Stoffen beruhenden epischen, dramatischen und historiographischen Werken. Gattungsgemäß vereinigt sich bei der Umsetzung des lyrischen Gedichts die gedankliche bzw. strukturelle Abhängigkeit vom Modell mit der sprachlich-stilistischen Selbständigkeit. Die Stoffe der Lyrik sind sozusagen theseis, denn im Zusammenhang mit ihnen eignen sich in der Regel keine peristatischen Determinierungen. Auf den Gebieten also der Epik und Dramatik lautet bekanntlich die horazische Aufforderung zur Imitation famam sequere und diejenige zur freien Fiktion sibi convenientia finge (A.P. 119). Das erste schließt, Immisch zufolge, das Zurückgreifen auf die Sage als 'poetischen Urquell' oder das 'Weiterbilden der Leistungen von Vorbenutzern' ein. Das wären nun aber die Hauptmodalitäten einer schöpferischen Aneignung von traditionellem Gemeingut: proprie communia dicere (A.P. 128) undpublica materies privati iuris erit (A.P. 13l).146 Die so aufgefaßte Dichotomic läßt sich nun angesichts der uns hier beschäftigenden Distinktion zwischen 'Ringen mit dem Stoff und 'Ringen mit der Vorlage' wie folgt nuancieren. Der 'poetische Urquell' kann entweder als amorphe auszugestaltende Sage (z.B. die Dionysos-Sage) oder hingegen als ein bereits künstlerisch ausgearbeitetes Werk (z.B. die homerischen Epen) auftreten. In beiden Fällen geht es letzten Endes um ein 'Ringen mit dem Stoff, wobei der erstere aus dem Kontext der Imitation ausfällt. Durch Umgestaltung bzw. Auflösung und Neugestaltung: Iliacum carmen deducts in actus (A.P. 129) und natürlich durch stoffliche Hinzuerfindung bzw. Umwandlung der und der sind zum einen die Argonautika des Apollonios von Rhodos, die Dionysiaka von Nonnos, zum anderen die Aeneis, die Achilleis, die anonyme Diomedea, auf die Horaz zu deuten scheint (A.P. 144), schließlich die Troja-und Alexanderdichtungen der Spätantike und des Mittelalters zustande gekommen.147 Beim "Weiterbilden der Leistungen von Vorbenutzern" wird das vorbildlich gestaltete Kunstwerk zum Gegenstand lediglich der poetischen Paraphrase, d.h. eben des 'Ringens mit der Vorlage' als stilistisch abwandelnder Wiedergabe der Vorlage. Bei Horaz sollte dies mit 144

Vgl. Quint X.5,5-9 und 9-11; Lausberg §§ 1099-1103 bzw. 1104-07. Vgl. Heinze, in: HOT., Briefe, S. 312-315; Immisch, S. 107-111; Reiff, S. 66f. 146 Vgl. Immisch, S. lOSff.; Heinze, ebd. S. 310ff.; Brink, S. 208-216. Zum semantischen Umfeld von famam sequere vgl. die Ausführungen Reiffs, S. 72f. 147 Deducts in actus verstehe ich mit Immisch, S. 107ff., als Auflösung und Neugestaltung der Vorlage. Die meisten interpretieren es lediglich als Dramatisierung des homerischen Stoffes; vgl. Heinze, ebd., S. 312; Wolf Steidle, Studien, S. 81f.; Brink, S. 207f. 145

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dem metaphorischen, einer Geringschätzung gleichkommenden Ausdruck desilies imitator in artum (A.P. 134) als geistloser und gebundener Umsetzungsart zusammenfallen. Dieses wird von Immisch so treffend mit 'Sprung in die Enge' übersetzt und an der Coma Berenices des Catull exemplifiziert.148 Diese Bestimmung des 'Ringens mit der Vorlage' entspricht insofern nur teilweise der quintilianischen Auffassung der Paraphrase (X,5,5-l 1), als diese über die erörterten Arten der interpretatio und der sprachlich-stilistischen emulativen Abwandlung der Vorlage hinausreicht.149 So bekundet Quintilian eine möglichst große Tragweite des Paraphrase-Begriffs, indem er ein mehrfaches Wetteifern mit der Vorlage wie folgt miteinbezieht: neque ego paraphrasin esse interpretationem tantum volo, sed circa eosdem sensus certamen atque aemulationem (X,5,5). Anschließend ergänzt Quintilian seinen aemu/ufio-Gedanken anhand der Erwähnung von innumerabiles modi der Abwandlung, die eigentlich unter nur wenigen gegensätzliche Paare bildenden Veränderungsvorgängen zu subsumieren seien: sua brevitati gratia, sua copiae, alia translatis virtus, alia propriis, hoc oratio recta, illud figura declinata (X,5,8). Das Spektrum der paraphrastischen modi bei Theon ist viel enger.150 An anderer Stelle, und zwar im Zusammenhang mit der progymnasmatischen Ausarbeitung der Tierfabel (1,9,2) meint Quintilian durch die 'kühnere Paraphrasierung' (paraphrasi audacius vertere) eine Raffung und Ausschmückung der Fabel-Vorlage bei der Beibehaltung des gleichen Sinnes: qua et breviare quaedam et exornare salvo modo poetae sensu permittitur.151 Diese 'kühnere Paraphrase' stellt aber, wie die ihr entsprechende ebenfalls einer Tierfabel bei Hermogenes (Prog., S. 3,13-4,16) uns deutlich macht, vornehmlich eine stoffliche, eventuell auch eine gedankliche Ausarbeitung der Vorlage dar, zumal exornare sowohl eine Stoffausdehnung als auch eine gedanklich-affektische Poten148

Vgl. Immisch,S.109f. Die Verflechtung der paraphrasis mit der tractatio versuchte Lausberg (§§ 1104ff) zu lösen, indem er die Stelle bei Quint.X,5,9 als den Ansatz einer ausschließlich dem 'Ringen mit dem Stoff gewidmeten Erörterung ansah. Im dortigen Wortlaut( Nee aliena tantum transferre, sed etiam nostra pluribus modis tractare proderit: X,5,9) bezieht sich abet pluribus modis troctare, wie es Thill, S. 19, bereits gezeigt hat, auf die Selbstparaphrase im Sinne also der retractatio eigenes Werks. Die hier gemeinten plures modi sind eigentlich von den vorher der Paraphrase zugeschriebenen innumerabiles modi im Grunde nicht zu unterscheiden: Die stilistische und die stoffliche Umsetzung unterliegen den gleichen Veränderungsvorgängen. 150 Theon, S. 62,14ff., bietet die Aufzählung lediglich einiger modi der Aussage wie Frage, Erklärung, Erkundung, Bitte. Zur modi-Lehre bei Quint, und Theon vgl. Reichel, S. 112 und 125; Stemplinger, S. 110, 119; Lana, Quintiliano, S. 160; Roberts; S. lOff.; vgl. vor allem Lausberg, § 1102, der in diesem Quint.Passus die antithetischen Vorgänge adiectio und detractio, dann die eigentliche und die tropische Rede, schließlich die Wort- und Gedankenfiguren unterscheidet 151 In Anlehnung an Colson, in Quintiliani Über I, S. 116f. sieht Roberts, S. 14f., diesen ganzen Passus innerhalb des das Progymnasma der Fabel betreffenden Absatzes 1,9,2, "as referring to a separate exercise". Der Satzbau dort läßt aber eine solche Lesart nicht zu: igitur Aesopi fabellas...narrare sermone puro...deinde eandem gracilitatem stilo exigere condiscant: versus primo solvere, mox mutatis verbis interpretari, tum paraphrasi audacius vertere, qua et breviare quaedam et exornare salvo modo poetae sensu permittitur. 149

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zierung anhand Gedankenfiguren und Tropen bedeuten kann.152 Dieser Ausarbeitung geht zunächst die Auflösung der Versform (versus primo solvere) voraus, dann die als lexikalische Umsetzung auftretende interpretatio (max mutatis verbis interpretari). Im Unterschied zu Theon, der die Paraphrase eindeutig auf das sprachlich-stilistische 'Ringen mit der Vorlage' beschränkt, scheint also Quintilian keine terminologische Grenze zwischen der stofflichen (bzw. gedanklichen) und der sprachlichen Umsetzung der Vorlage zu ziehen.153 Die von Quintilian befürwortete Würdigung der Paraphrase findet bei Theon darin eine gewisse Entsprechung, daß dieser die literarische Bedeutung der sprachlich-stilistischen Umsetzung in einem ebenfalls programmatischen Zusammenhang verteidigt.154 Dort bietet er für seine Auffassung der Paraphrase lauter Beispiele stilistischer Nachahmung aus der archaischen und klassischen Literatur.155 Wenn die sklavische Wiedergabe der Vorlage allgemein als Kennzeichen gedankenloser Schulmäßigkeit, ja der Unreife des jeweiligen getreuen Nachahmers (nee verbum verbo curabis reddere fidus interpres: Horaz, A.P. 133f.) angesehen wird, so bedeutet für Horaz das 'Ringen mit der Vorlage' immer noch nicht ein empfehlenswertes Verfahren, sondern, wie oben gesehen, einen 'Sprung in die Enge'.156 Erst sein Votum für ein 'Ringen mit dem Stoff Exomare hat Roberts, S. 17, als Ausdehnung aufgefaßt, wobei er eine Parallele zwischen Quint. X,5,7: sua brevitati gratia sua copiae, und Quint 1,9,2: breviare quaedam et exornare gezogen hat. 153 Roberts, S. 14ff. und 29ff., sieht in paraphrasi audacius vertere eine "developed rhetorical paraphrasis"; diese soll allerdings "in form rather than in context" erfolgen (S. 29). Dabei konstatiert er, daß es zwischen dieser "developed paraphrase" und der "original literary composition" lediglich graduelle Unterschiede gebe. Eine solche allzu weite Auffassung der Paraphrase herrscht in der üblichen literarisch-kritischen Terminologie, in der hiermit sowohl die enge Befolgung der Vorlage als auch deren freiere, umgestaltende Behandlung bezeichnet werden. Vgl. Theon, S. 62,10-25. Es wäre u.a. die Aussage Quint.: ...Sed circa eosdem sensus certamen atque aemulationem (X,5,5) mit derjenigen Theons zu vergleichen: "Ein Sachverhalt läßt sich nicht nur auf eine einzige Weise, sondern auf mehrere Weisen ausdrücken". S. auch Dion, Oratio XVIII.18. Quint scheint u.a. gegen die von Cic. (De or. 1,154) vorgebrachten Einwände gegen die Paraphrase lateinischer Reden zu polemisieren. Vgl. Reichel, S. 125, und Rann, in: Quintilianus, Ausbildung des Redners, II, S. 517; Roberts, S. l Of f.; 17f. Einen globalen Vergleich der Auffassungen Theons und Quint, hat Lana, Quintiliano, S. 160ff., unternommen. Vgl. außerdem Stemplinger, S. 118f., der etwa in unserem Sinne die Paraphrase als "dritten Grundpfeiler der rhetorischen Propädeutik neben Lektüre und Anhören" würdigte. Vgl. auch Reichel, S. 112 und 125f.; Penndorf, S. 6. So führt er Beispiele der Paraphrasierung Homers durch Archilochos und durch Demosthenes, des Thukydides durch Theopompos, des Lysias und Lykurgos durch Demosthenes an ( S.62,21-64,17); dazu Penndorf, S. 20. 156 S. auch Hör. Epist. I, 19,19; dazu Heinze, in: Hör. Briefe, S. 182; Immisch, S. 105-109; Brink, S. 204ff; Steidle, S. 85; Reiff, S. 58-62,70ff. Auch Cic. lehnte die Wortwörtlichkeit ab, nämlich: fabellas Latinos ad verbum e Graecis exprimere: Acad., l, 34; s. auch De officiis, 1,6.; dazu Reiff, S. 26ff. In seiner Schulzeit hatte er sich wie andere vornehme Römer schwierige Übersetzungsaufgaben, darunter platonischer und xenophonischer Werke vorgenommen. Bezüglich seiner im Alter erfolgten Übertragungen aus Demosthenes und Aeschines hielt er für wichtig zu unterstreichen: nee converti ut interpres, sed ut oratorf De optima gen., 14). S. auch diesbezüglich die Vorstellung Hieronyms vom bonus interpres: Epist. 106,3; dazu Reiff, S. 38f; Fantham, Imit. and Decline, S. 106; Weische, Cicero, S. 138. Dion, Oratio XVIII,18, empfiehlt die enge Paraphrasierung als nützliche Übung sowohl den Schülern als auch den gebildeten Erwachsenen. 53

(tuque rectius Iliacum carmen deducts in actus, A.P. 128f.) läßt sich m.E. mit der quintilianischen Aufforderung zu certamen und aemulatio, zu breviare und exornare vergleichen. Den beiden ist jedenfalls die Ablehnung jedes Tretens in die Spuren der Vorgänger gemeinsam.157 Hier wäre schließlich die Neuanwendung zu erwähnen, die Galfredus von Vinsauf dem horazischen proprie communia dicere zuweist, indem er mit communia den bereits in der Form eines Kunstwerks herausgearbeiteten Stoff bezeichnet, der so neuzugestalten wäre, daß das in der Vorlage bereits Ausgeführte zu übergehen und das dort nur im Keime Liegende auszuarbeiten sei.158

l .3.2.

Stofflich-formale und gedanklich-affektische Aspekte

Der paraphrasis als komplexer inhaltlicher und formaler Bearbeitung der Vorlage weist Quintilian zunächst ein derart reiches Spektrum von Realisierungsarten zu, daß er dabei als angemessenen Vergleich nur die infiniten Modalitäten der Wachsmodellierung vorbringen kann.159 Dies wird aber gleich darauf dadurch abgeschwächt, daß vornehmlich eine Ausarbeitung der einfachsten, 'unscheinbaren Stoffe' (Lausberg) empfohlen wird: plunmum autem parari facultatis existimo ex simplicissima quaque materia. nam ilia multiplier personarum, causarum, temporum, locorum diversitate fädle delitescit infirmitas, tot se undique rebus...offerentibus (X,5,10). Hiermit wird aber nichts anderes als eine Anpassung der tractatio an die Erfordernisse der Schulübung befürwortet. Dementsprechend beweise die vielfache Umsetzung einer solchen einfachen Vorlage durchaus die Tüchtigkeit des geschulten Schreibenden: Illud virtutis indicium est. fundere quae natura contracta sunt, augere parva, varietatem similibus, voluptatem expositis dare et bene dicere multa de paucis (X,5,H). Hier kommen in knapper, zugleich elliptischer Form die im Laufe dieser Abhandlung zu erörternden Hauptarten der tractatio samt deren Zielsetzung wie folgt zum Ausdrucke/ufere quae natura contracta sunt bezieht sich auf einen stofflich-formalen Aspekt, nämlich auf die Ausdehnung des Stoffes bzw. des Ausdrucks, während augere parva grundsätzlich eine 157

Die quinülianische Aussage: eum vero nemo polest aequare, cuius vestigiis sibi utique insistendum putat: necesse est enim semper sit posterior qui sequitur (X,2,10), ist mit dem Bekenntnis Horazens zur aemulatio, zu einer freien, selbständigen Gestaltung des Stoffes zu vergleichen: libera per vacuum posui vestigia princeps l non aliena meo pressi pede (Epist. I,21f.). Heinze, in: Hör., Briefe, S. 183, führt dies auf die gleichlautende Aussage des Kallimachos, fr. 293, zurück. Vgl. dazu Reiff, S. 64-68 und 72; Immisch, S. 108f; Brink, S. 208; Konrad Heldmann, Antike Theorien, S. 35-58. Possumus enim materiam communem proprie dicere si quattuor modos observemus. Primus modus est ne moremur übt moram faciunt alii; sed ubi moram faciunt, transeamus, ubi transeunt, moram faciamus (Docum., 11,3,133,8.309). 159 ...jVec aliena tantum transferre, sed etiam nostra pluribus modis tractare proderit: ut ex industria sumamus sententias quasdam easque versemus quam numerosissime, velut eadem cera alias aliasque formas duci solet: X.5,9; dazu Lausberg, §§ 1104ff.

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gedanklich-affektische Erhöhung der Vorlage bezeichnet. Hinzu käme nun deren Kehrseite: Die stofflich-formale Konzentration hatte Quintilian selbst im vorangegangenen Absatz im Zusammenhang mit der Ausdehnung angeführt: sua brevitati gratia, sua copiae (X,5,8); die gedanklich-affektische tapeinosis (Verkleinerung) gehört, wie uns die unten zu erörternden einschlägigen theoretischen Zusammenhänge (u.a. der platonische Passus aus Phaidros, 267a) unterrichten, ebenso eng mit der auxesis-auctio zusammen. Das sind also Hauptaspekte der tractatio, die bereits mit der Ausarbeitung der Grundformen, die den Schülern jeweils vom Lehrmeister vorgelegt werden, verbunden sind.160 Von der Umsetzung komplexer Vorlagen, denen eine Vielfalt von peristatischen Aspekten innewohnt (illa multiplici personarum, causarum, temporum, locorum, dictorum, factorum diversitate...\,5,lQi), rät Quintilian, wie eben gesehen, ab. Dies würde eher in die rednerische, im allgemeinen in die schriftstellerische Praxis als Fortsetzung und Vervollkommnung des in der Schule vielfach Geübten und Erlernten gehören. Dieser letzte Aspekt fällt im Grunde zusammen mit Reiffs Bestimmung des aemulatio-Momentes in der römischen Literatur und im allgemeinen mit allen anderen Erscheinungen wetteifernder, schöpferischer imitatio innerhalb jeder traditionsgebundenen Kultur. Wir wollen diese zwei Aspekte, die den eigentlichen Gegenstand des zweiten Teils der Arbeit bilden, vorläufig nur kurz nacheinander beleuchten, indem wir zunächst eine bedeutende Kostprobe der schulischen tractatio, dann eine schlußfolgernde Übersicht über die Beziehung dieser Lehre zu der in ihrem Bann stehenden Literaturpraxis anbieten werden.

1.3.3.

Die tractatio als Schulübung: die mehrstufige Ausarbeitung einer Grundform des Diskurses

Die Auffassung Quintilians von der vielfachen Ausarbeitung (versemus quam numerosissime) einer simplicissima materia läßt sich am besten anhand einer Schulübung veranschaulichen, die ihre Bedeutung epochenübergreifend beibehalten konnte. In ihr konzentrieren und verschwistern sich zugleich die im vorigen erläuterten, durch die Rhetorik- und Poetiklehre theoretisierten Aspekte einer stufenweisen tractatio materiae. Es besteht m.E. eine Parallelität zunächst zwischen: (1) der quintilianischen Auffassung von einer sowohl stilistischen als auch stofflichen Ausarbeitung knapper Grundformen der Rede; (2) der beim Auctor ad Herennium als Gedankenfigur auftretenden, von Galfredus von Vinsauf relativ frei übernommene expolitio als mehrstufiger Verfeinerungsübung einer Sentenz.161 Diese wird zunächst wie folgt definiert: E. est cum eodem loco manemus et aliud 160

Eine ausführliche, sowohl forensische als auch literarische Aspekte der Progymnasmata umfassende Erörterung solcher Übungen bietet Theon in seiner Einleitung, S. 60,3-65,25 und 66,9-72,26. 161 Vgl. Quint, X,5,20f.; Aucl. ad Her. IV,42,54-45,58; Galfredus, Poetria, V. 221ff., wo die expolitio als Erweiterungsmittel impliziert wird; dann ebd., V. 1244ff., wo sie zu den Gedankenfiguren neben descriptio,

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atque aliud dicere videmur (IV,42,54).162 Die Parallele besteht weiter mit der ergasia einer Chrie oder einer Gnome als Aufsatzübung in den Progymnasmata-Traktaten: von Hermogenes (Prag. S. 6,19-7,10 für die Chrie, S. 8,6-28 für die Gnome) und Aphthonius (S. 23,2425,6 für die Chrie und S. 25,28-27,22 für die Gnome).163 Im erwähnten Kontext (X,5,9ff.) befürwortet Quintilian die Ausdehnung, Steigerung und die vielfach abwechselnde Behandlung einer sententia, wobei er die spezifisch rhetorischen Vorübungen wie die theseis, die destructio et confirmatio sententiarum, schließlich die Ausarbeitung der loci communes als dazu geeignete Modalitäten aufzählt. DerAuctor adHerennium trifft zunächst die Unterscheidung zwischen dem Verfahren des eandem rem dicendo, das, wie gleich zu sehen ist, mehr als eine "wiederholte sprachliche Äußerung des gleichen Gedankens" (Lausberg) bedeutet, und demjenigen des de eadem re dicendo als einer Gedanken-Ausarbeitung, "die die Hinzufügung neuer um den Hauptgegenstand (res) gruppierter und mit ihm zusammenhängender und von ihm abgeleiteter Gedanken" (Lausberg) voraussetzt.164 Wie uns außerdem auch die ergasia der Chrie bei den griechischen Progymnasmatikern unterrichtet, wird diese res in die Form einer Gnome-Sentenz gekleidet, die mannigfaltig abzuwandeln ist.commutabimus (Auct. ad Her. IV,42,54), commutabitur undplurimis utemur commutationibus (ebd. IV,42,56). Beim Verfahren eandem rem dicendo bietet sich eine dreistufige commutatio, nämlich: pronuntiando, verbis, tractando. Galfredus übernimmt dies, wobei er als Begründung das Variationsprinzip aufbringt: tripliciter varie dicemus eandem rem (Poetria nova, V. 1249f.). Das außerschriftliche commutare pronuntiando stellt den minimalen Änderungsgrad der Sentenz dar, indem es sich bloß auf die rednerische Diktion und auf das Gestikulieren bezieht.16S Denkbar ist dabei allerdings der Anschluß eines solchen Verfahrens an die Übung des Hersagens im Rahmen eines /«crio-Vorgangs. Das commutare verbis bedeutet hingegen die rein sprachlich-stilistische Abwandlung der Sentenz. Als solches kommt dies einem 'Ringen mit der Vorlage' gleich und läßt sich auf die erwähnte quintilianische Forderung nach einer ebenso mannigfaltigen Paraphrase wie die Art und Weise der Wachsmodellierung (X,5,9) und weiterhin auf die Paraphrase in der Auffassung Theons (S. 62,10-21 und 69,27f.) beziehen. Das commutare tractando betrifft beim Auctor ad Herennium eindeutig das Moment der gedanklich-affektischen Abwandlung diminutio zählt, und schließlich als Ausarbeitungsverfahren innerhalb des Musterbeispiels (V. 1300-45); dazu Faral, S. 63f. 162 Diese wird von Lausberg, § 830, als "Ausmalung eines Gedankens" (res) durch Abwandlung (variatio) der sprachlichen Formulierung (verba) und der zum Hauptgedanken (res) gehörenden Nebengedanken (res) definiert. Ros, S. 24f., ordnet die expolitio dem Oberbegriff - variatio unter. 163 Vgl. die knappe, jedoch aufschlußreiche Erörterung der ergasia in der Einleitung Theons, S. 69,26-70,7. Ihre Ausführung als Übung an sich innerhalb des Traktats ist in den uns erhaltenen griechischen Hss. Theons

abhanden gekommen. 164

Vgl. Lausberg, §§ 831 und 842; Calboli, S. 406 Anm. 247 165üazu Lausberg, § 834. 56

der Sentenz, wobei lediglich zwei Modalitäten solcher Abwandlung dargeboten werden: tertium genus...quod tractando conficitur, si sententiam traidemus aut ad sermocinationem aut ad exsuscitationem (IV,42,55).166 Die Figur der sermocinatio - womit hier das Selbstgespräch gemeint wird - bewirkt eine im Sinne der aristotelischen Rhetorik 'ethische', und die exsuscitatio eine 'pathetische' Färbung des Gehaltes.167 Solche Figuren gelten aber in der Poetik Galfreds als Mittel der Stoffausdehnung, der dilatatio materiae.16* Die dazugehörigen Ausführungen und Musterbeispiele zeigen, daß es sich dabei tatsächlich um eine stofflich-formale Expandierung und zugleich um eine Intensitätssteigerung handelt: Beides fällt terminologisch mit der amplificatio zusammen.169 Das Verfahren de eadem re dicendo stellt beim Auctor ad Herennium eine mehrteilige, jedoch einheitliche Übung dar, die von der im Argumentationsteil dieses Traktates aufgeführten Lehre vom Epicherem abhängt. Es geht allerdings um eine etwas freiere, eigentlich essayistische Bearbeitung, bei der mehrere Modalitäten einer stofflich-formalen und einer gedanklich-affektischen tractatio (plurimis commutationibus, IV,42,56) des gleichen Basis-Satzes im Zusammenhang geboten werden. Wir konstatieren eine weitgehende Koinzidenz zwischen dieser höchsten Stufe der expolitio und der zwei Jahrhunderte später bei Hermogenes und Aphtonius vorliegenden ergasia der Chrie und Gnome.170-Sowohl die Progymnasmatiker als auch der Auctor ad Herennium und Galfred, der diesem ad litteram folgt und dabei einen Basis-Satz anfertigt, den er auch für die anderen Formen der expolitio verwendet, bieten extensive Beispiele für dieses Verfahren. Dies läßt auf eine gemeinsame, schulmäßige Quelle schließen, deren Grundzüge bereits in der voraristotelischen Rhetorik identifiziert werden sollen.171 Bei Quintilian (X,5,7f.) werden unter dem Stichwort de eadem re dicere unzählige Arten und Weisen (innumerabiles modi) und auch Wege (plurimaeque viae ) einer umfassenden Umsetzung der Vorlage angedeutet, die sich jedoch nur unter wenigen begrifflichen Gegen16

Der Zusammenhang des rein Sprachlichen mit dem Gedanklich-Affektischen unter dem Stichwort eandem rem dicendo kommt auch in Pro Archia, 18 zum Ausdruck: eandem rem dicere commutatis verbis atque sententiis. Vgl. auch Dion, Oratio XVHI.18, und Theon, S. 62,14ff. (bei der Bestimmung der modi der paraphrasis). 167 Zur sermocinatio vgl. Lausberg §§ 809, 841. Calboli, S. 410 Anm. 254, bezieht sie auf das griechische wie es bei PS. Long. 7,2 vorkommt. 168 Vgl. Galfredus, Docum. 11,2,2: und vor allem Poetria, V. 264; 1305-25 und 1392-1410. Die auf artificium dilatandi materiam (Docum. 11,2,99, S. 302) zurückgehende Prägung dilatatio materiae, die ich im folgenden vorzugsweise benutzen werde, ist der Studie Worstbrocks, Dilatatio materiae vor allem S. 27ff., entnommen. 169 Zur Mehrdeutigkeit der amplificatio vgl. Lausberg 1244, S. 645 (s.v. amplificatio). 170Yg| jig Definition des Epicherems: Ergo absolutissima et perfectissima est argumentatio ea quae in quinque panes est distributa: propositionem, rationem, rationis conflrmationem, exornationem, complexionem (Auct. ad Her. 11,18,28). Zur Zusammengehörigkeit dieser Art der expolitio mit der Lehre vom Epicherem und mit der progymnasmatischen Lehre von der ergasia einer Chrie oder Gnome vgl. Volkmann, S. 257ff., Clark, S. 189; Reichel, S. 14f.; Caplan, S. 108ff. und 365 Anm. c; Calboli, S. 407ff.; am ausführlichsten Lausberg, § 842. 17 'Dazu einiges bei Calboli, S. 407 Anm. 247.

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satzpaaren subsumieren lassen: Das sind die Modalit ten der F lle und K rze (sua breviitati gratia sua copiae), die eigentliche und die tropische Redeweise (alia translatis virtus alia propriis ), die schlichte und die durch Figuren abgewandelte Rede ( hoc oratio recta illud figura declinata commendat.). Der Auctor ad Herennium und Galfredus unterscheiden sieben, die Progymnasmatiker acht Bestandteile (commutationes, κεφάλαια) dieser Art der Ausarbeitung.172 Hierbei ist der folgende Wortlaut beim Auctor ad Herennium: (IV,43,56) am aufschlu reichsten: Sed de eadem re cum dicemus plurimis utemur commutationibus. Nam cum simpliciter pronuntiarimus, rationem poterimus subicere; deinde dupliciter vel sine rationibus vel cum rationibus pronuntiare; deinde afferre contrarium...deinde simile et exemplum...deinde conclusionem. Das rem simpliciter pronuntiare f llt mit der b ndigen, die Form eines BasisSatzes einnehmenden Sentenz-Gnome zusammen: Sapiens nullum pro re publica periculum vitabit. Dies l t sich mit der quintilianischen Modalit t sua brevitati gratia wohl vergleichen und entspricht au erdem der propositio in der Lehre vom Epicherem beim Auctor ad Herennium (II, 18,28).m Bei den Progymnasmatikem steht die Formulierung der Chrie bzw. Gnome als Basis-Satz bereits als Voraussetzung der ergasia. Daher beginnt man bei ihnen die Ausarbeitung mit dem Lob des Urhebers des Weisheitsspruches (εγκωμιαστικό^}, n mlich des Isokrates bzw. des Theognis. Das Einlegen eines Enkomions kommt aber einer gedanklich-affektischen Ausarbeitung der Vorlage gleich und kennzeichnet hierdurch den h heren Literarisierungsgrad, den die ergasia bei den Progymnasmatikem im Vergleich zum Auctor ad Herennium erreicht hat. Das rationem subicere als 'allgemeinste Begr ndung' entspricht offenbar der ratio des Epicherems, wie diese vom Auctor ad Herennium angef hrt wird (II, 18,28).174 Das dupliciter vel sine vel cum rationibus pronuntiare meint eine erweiternde Paraphrase, wobei die Variante cum rationibus, wie das gebotene Musterbeispiel deutlich macht, aus "einer negativen und einer positiven Formulierung des Inhaltes des Basis-Satzes" besteht.175 Dies f llt nun mit der epicherematischen rationis confirmatio zusammen, wobei die Angabe der dazugeh rigen rationes nur fakultativ ist. Die Progymnasmatiker trennen eindeutiger diese zwei Momente voneinander ab, indem sie zun chst vom παραφραστικόν als schlichter (κατά το άτιλοϋν Hermog., Prog., S. 8,9 und 14ff.) Ausf hrung des in der Chrie knapp Formulierten reden. Die im Musterbeispiel des Auctor ad Herennium sehr knapp formulierten rationes werden von den Progymnasmatikem als Rubrik an sich ausf hrlicher behandelt (το της αιτίας}. Im allgemeinen w rde dieses Moment dem quintilianischen sua copiae gratia entsprechen.

Im folgenden berufe ich mich auf die Lehre und die sie illustrierenden Musterbeispiele beim Auct. ad Her. IV,56f; Hermog. Prag. S. 6,19-7,10; 8,7-28 und Aphthonios, S. 23,20-25; 26,10-27,22; dazu Caplan, S. 370 Anra. d; Calboli, ebd. Lausberg, § 842, erkl rt das rent simpliciter pronuntiare als " berschriftartige Aufstellung des Basis-Satzes". 174 Vgl. Lausberg, ebd. 175 Vgl. Lausberg, ebd.

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Die darauffolgenden drei commutationes: contrarium, simile und exemplum sind dem Auctor ad Herennium und den Progymnasmatikern gemeinsam und figurieren au erdem in der Argumentationslehre des Hermogenes als ebenso viele Ausf hrungsmodalit ten des Epicherems, die jeweils an die erforderlichen Peristasen ankn pfen sollen.176 Sie fallen offenbar mit der Rubrik exornatio in der Ausarbeitung des Epicherems beim Auctor ad Herennium zusammen und veranlassen eine betr chtliche Bereicherung des Gehaltes mit Nebengedanken, die zugleich eine dichterische Potenzierung des Textes bewirken. Lediglich Aphthonios bietet anschlie end als weiteren Bestandteil dieser ergasia das 'Zeugnis der Alten' (S. 13,16 und 24,31ff. f r die Chrie; S. 27,18ff. f r die Gnome). Es handelt sich dabei eigentlich um ein kunstloses Beweismittel, das als solches mit den vorangehenden commutationes insofern kontrastiert, als diese k nstliche Beweismittel darstellen. Rein formal gesehen, entspricht diese Rubrik den von Isidor (Etym. 11,30,15) als Abart des kunstlosen Beweises im Zusammenhang mit der Argumentationslehre undifferenziert angef hrten dicta factaque maiorum. Aphthonios meint aber damit ausschlie lich die literarischen Zeugnisse (Hesiod, Euripides, Theognis), die den Wertgehalt der Chrie zus tzlich bekr ftigen sollen. Die Ausarbeitung schlie t beim Auctor ad Herennium und bei Aphthonios mit der conclusio (επίλογος) ab, die offenbar auf die complexio des Epicherems zur ckgeht und einen didaktisierenden Charakter aufweist.177 Eine explizite Entsprechung dieses anhand der simplicissima materia einer Chrie oder Gnome durchgef hrten epicherematischen Essays bietet Quintilian zwar nicht: Seine knappe Ausf hrung der Chrie deutet aber auf einen solchen Vorgang hin. Die Formulierung sententiae quoque et chriae et ethologiae subiectis dictorum rationibus apud grammaticos scribantur...(l,9,3) d rfte auf eine hnliche 'Begr ndungsweise' wie die beim Auctor ad Herennium und bei den griechischen Schulrhetoren verweisen. Eine solche ergasia war ihm sicherlich vertraut, hatte aber keinen geeigneten Platz in der Institutio. Eine weitere, diesmal ebenso deutliche Analogie wie diejenige zwischen der expolitio beim Auctor ad Herennium und der ergasia bei den Progymnasmatikern w re zwischen der mehrstufigen tractatio der Fabel bei Quintilian (1,9,2) und derjenigen festzustellen, die bei Theon (S. 74,3-76,5) und Hermogenes (S. 3,13-4-17) vorliegt. Die griechischen und lateinischen Schultraktate enthalten auch weitere Ausarbeitungsaiten der Grundformen des Diskurses, die im zweiten und dritten Teil dieser Arbeit ausf hrlich zu er rtern sind.

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Vgl. Hermog. Inv. S. 219ff.; dazu Volkmann, S. 258f. Bei Hermog. Prag. S. 8,11 und 27f., findet sich stattdessen die κρίσις (τόπο? ο κατά κρίσιν), deren allgemeine Bedeutung von autoritativer Entscheidung (iudicium, bei Ernesti, Lexikon, S. 189, s.v. κρίσις) hier im Sinne einer parteiischen Finalit t umfunktionalisiert wird. Der Auct. ad Her. IV.41, fa t die conclusio au erdem als Wortfigur; dazu Caplan, S. 331 Anm. g.

177

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1.3.4.

Die tractatio in der Schriftstellerei. Schlußfolgerungen

Die kunstgemäße Ausgestaltung der in der Tradition ( ) roh und ungeformt vorliegenden Stoffe wie u.a. die von Kallimachos bearbeiteten, auf Lokalüberlieferung beruhenden Geschichten von Hekale, Galatea, Akontion und Kydippe, Branches begegnet nur an zweiter Stelle.178 Das nach selbständigem Schaffen strebende Wetteifern mit den Meisterwerken konstituiert hingegen seit der hellenistischen Zeit die Hauptströmung innerhalb der Literaturpraxis. Die schriftstellerische aemulatio wird insofern zu einem 'Ringen mit dem Stoff, als sie als erste Umsetzungsphase die Auflösung der kunstvoll gestalteten Werkfabel des jeweiligen Modells voraussetzt. Der hierdurch gewonnene 'Rohstoff wird zum Zwecke einer neuen Synthese umgeformt, wobei andere Elemente hinzuerfunden bzw. Fremdstoffe herangezogen werden. Daraus ergibt sich ein selbständiges, vom Geiste der kreativen Imitation geprägte Neuprodukt, das, wie gesehen, die dem "Ringen mit der Vorlage" eigentümlichen sprachlichstilistischen Abwandlungen mit einschließt.179 Die von Horaz in dessen Ars poetica befürwortete Umgestaltung der jeweiligen dichterischen Vorlage läßt sich bekanntlich auf einen aufschlußreichen Passus aus der philodemischen Poetik über die wetteifernde Behandlung wichtigster poetischer Stoffe wie Thyestes, Paris, Helena, Menelaos, Elektra durch die Tragiker beziehen.180 Demzufolge liefe die aemulatio mit Homer wie auch mit den Tragikern nicht auf die Übernahme ihrer Sujets als solche hinaus, sondern auf ihre Ausbeutung als thematischen Steinbruch, aus dem neuzugestaltende 'Geschichten' geschöpft werden können. Die antik-mittelalterliche Dichtung verfolgte nun mit aller Konsequenz eine solche Strategie, wie es uns die sehr beliebten, mehrfach erfolgten Bearbeitungen des Alexander-, Troja-, Thebensujets, der ovidischen Narzissus-, Pyram-und-Thisbe-Geschichten sowie der Komödiensujets des Terenz deutlich machen. Darin unterscheiden sich diese tractationes von den Bearbeitungen des Alten und Neuen Testaments der Spätantike und des Mittelalters, die 178

Dazu im allgemeinen Stemplinger, S. 136; Kroll, Studien, S. 141f. Zu Kallimachos vgl. Herter, Sp. 202,211215 und 415-423. Das gleiche gilt u.a. auch für Theokrit; dazu Ph. E. Legrand, Etüde, S. 87-92. Vgl. die Ausführungen Heinzes, Virgil, S. 244f.; vgl. auch Kroll, Studien, S. 144, der den Vorgang der Vorlageauflösung und Neusynthese mit Recht auf die isokrateische Aufforderung zur Wiederbelebung der traditionellen Stoffe zurückführt; dazu einiges auch bei Reiff, S. 73. Gelegentliche Äußerungen zur kreativen Imitation begegnen bei den hellenistischen Erneuerern der Dichtung, wie Kallimachos (z.B. fr. 293) und Theokrit (im Helenas Epithalam); dazu Herter, S. 247f. und 448ff.; Legrand, S. 83ff. "Wie in der bildenden Kunst keiner als geringer gilt, weil er den Stoff eines anderen Künstlers sich aneignend ihn schön verarbeitet hat...das gilt auch, wenn jemand die trojanischen oder thebanischen Ereignisse im ganzen von einem anderen übernimmt, sie gewissermaßen auflöst und in bestimmter Weise wieder zusammenfügt und ihnen seinen Stempel aufdrückt. So haben die Geschichte des Thyestes und Paris und Menelaos und der Elektra und mehrere andere Stoffe Sophokles und Euripides und viele andere Dichter behandelt, aber wir glauben doch nicht, daß deshalb (wegen der Entlehnung) die einen besser und die anderen schlechter sind, sondern oftmals die Entlehnenden besser als die Vorgänger, wenn sie mehr poetische Vorzüge mitbringen": Philodemos, fr. VI in der Übersetzung von Immisch, S. 108, und Kroll, Studien, S. 143; vgl. weiterhin ders., Rhetorik, Sp. 1113; Fuhrmann, Enführung, S. 123.

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in der Regel paraphrastischer Art sind. Hingegen kommt die Bearbeitung der Heiligenviten oftmals einer stofflichen und gedanklichen Umwandlung der Vorlage gleich. Im allgemeinen dienten die antiken Klassiker als stofflicher Steinbruch für die verschiedensten literarischen Konstrukte der mittelalterlichen Autoren. Wie die Praxis jener lateinischen aemulatores der Griechen von Terenz bis Horaz zeigt, die zugleich über ihr Verfahren reflektiert haben, geht es in der tractatio oft genug um viel mehr als um ausschließliches Zurückgreifen auf eine bestimmte Vorlage. Die Befolgung mehrerer Modelle veranlaßte eine kunstvolle contaminatio, die in der Beschaffenheit so vieler Dichtungs- und Prosawerke durchaus sichtbar ist.181 Die Kombinatorik mehrerer Quellen, deren Elemente umgebildet wurden, führte bereits in der klassischen lateinischen Literatur zu mosaikartigen Neuschöpfungen, wie es u.a. die vielen, zunehmend gründlicher verfahrenden Untersuchungen zur epischen Technik in der Aeneis bewiesen haben.182 Das gleiche wurde mehr oder weniger ausführlich in bezug auf die vergilischen Bukolika, die Carmina Horazens, die Argonautica des Valerius Flaccus sowie auf die Metamorphoseis und die Amores Ovids, den man mit Recht als principem imitatorum bezeichnen darf, nachgewiesen.183 Dasselbe gilt in einem noch größeren Ausmaß für die lateinischen Epiker des Mittelalters. In der Alexandreis hat Walter von Chätillon außer der Historiae von Curtius Rufus, seiner Hauptquelle, die er bald paraphrasiert, bald kreativ ausarbeitet, Pharsalia, Aeneis, Historia de preliis, Justinus, Valerius Maximus und Thebais sowohl stofflich als auch stilistisch ausgebeutet. Bekanntlich weist das Walthariuslied starke Stoff- und Stilanlehnungen an die antike Dichtung vornehmlich an Vergil und Prudentius auf. Alanus von Lilie folgte in seinem Anticlaudianus nicht nur Psychomachia und In Rufinum, sondern ahmte auch De consolatione philosophiae und De nuptiis Mercuri et Philologiae reichlich nach.184 Dazu gehört außerdem die Tatsache, daß die lateinischen Dichter der Spätantike und um so mehr diejenigen des Mittelalters die kreative Imitation ihrer dichterischen Vorbilder mit der 181

Über die Bedeutung des Terenz als Theoretiker der imitatio vor allem in bezug auf seine Äußerungen im Prolog von Andria und Heautontimoroumenos, vgl. Atkins, II, S. 9, der die imitatorische Manier des Terenz mit derjenigen Shakespeares vergleicht. Zur Kontamination-Technik des Terenz vgl. auch Kroll, Studien, S. 144ff.; Fontaine, in: Sulpice Severe, S. 78; Thill, S. 23; Knauer, S. 145. 1Ä? Dazu Atkins, II, S.94,347; Bompaire, S. 81 ff. Zur Aufspaltung homerischer Personen und deren Funktionen durch Vergil vgl. Knauer, S. 145. 183 Zur Aeneis vgl. Heinze, Virgil, S. 243; Kroll, Studien, S. 157ff. und 161ff.; Knauer, passim, vor allem S. 145ff. In bezug mfBucolica vgl. Thill, S. 39-133, Ian M. Le M. Du Quesnay, S. 36-69; zur contaminatio und Neugestaltung der Quellen bei Horaz vgl. Reiff, S. 66; Thill, S. 115-160 und 165-204; dazu auch C.W. MC Leod, S. 89-102. Zu verschiedenen Aspekten der imitatorischen Technik Ovids als Nacheiferers der Alexandriner vgl. u.a. Kroll, ebd., S. 159; Richard Bürger, De Ovidii carminum, passim; Alfred Surber, Die Meleagersage, passim; Galinsky, S. 1-14. Zur Dependenz des Valerius Flaccus von Apollonios bzw. von Vergil vgl. Kroll, ebd., S. 173f.; Marius N. Moltzer, De Argonauticis, passim; Hans Stroh, Studien, passim; Friedrich Mehmel, Valerius Flaccus, S. 1-41. Zu den Quellen der Alexandreis vgl. Carlo Giordano, Alexandreis, S.26-148; Heinrich Christensen, Das Alexanderlied, S.102-165; zum Walthariuslied vgl. Strecker, S. S.60f; 80ff; Otto Zwierlein, Das WalthariusEpos, passim; Manitius, Gesch. d. Lat. Lit., I, S. 612; zur Imitation alter Dichter im Anticlaudianus vgl. R. Bossuat, in: Alain de Lilie, Anticlaudianus, S. 34-42; Peter Ochsenbein, Studien, S. 27-38.

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substantiellen Ausbeutung der mythologischen und historischen Kompendien, der Exempelund Anekdotensammlungen verbanden. Diese dienten weiterhin als Themen-Reservoir und 'Urquell1 der poetischen Invention für verschiedene epische Arten wie die historische, die hagiograpnische Dichtung, das didaktisch-allegorische, das mythologische Epos, schließlich für die novellistischen Erzählungen selbst. Joseph Iscanus, Alanus von Lilie, Bernhard Silvestris haben mehr als alle anderen aus mythologischen Kompendien geschöpft. Eine vergleichbare tracfatio weist aber gelegentlich auch die römische Historiographie auf; dies geschieht bekanntlich im Rahmen der hauptsächlich methodologischen und stilistischen Nachahmung der griechischen Modelle, was in der berühmten Formel aemulus Thucydidis Sattustius (Veil. Paterculus, Hist.. 2,36,2; Quint. X.1,101) zum Ausdruck kommt. Außerdem bilden manchmal die römischen Annalisten und Titus Livius nachweislich einzelne Episoden ihren griechischen Modellen nach.185 Ähnliches läßt sich femer bei der Nachahmung: Sallusts durch Widukind von Corvey, Rahewin oder durch den Verfasser der Vita Heinrici IV; Suetons durch Einhard; des Thukydides durch Priscus; der Epitome Justins durch Regino von Prüm; des Titus Livius durch Lampert von Hersfeld feststellen.186 Die attischen Redner wurden zum Gegenstand einer gedanklichen und stilistischen mehrere Abstufungen aufweisenden Imitation durch Cicero.187 Einzeluntersuchungen kanonisch anerkannter Werke klassischer und nachklassischer Latinität, hellenistischer und späterer Gräzität und mittelalterlicher Latinität bestätigen den Komplexitätsgrad der dabei verwendeten Techniken einer 'architecture imitative'.188 Dabei hängen Stoffumformungen und Hinzuerfindungen, Stoffzufuhr und Umstrukturierung des Werkaufbaus mit stilistischen Abwandlungen und mit an Mnemotechnik gebundener reproduktiver interpretatio eng zusammen.189 Das gleiche sollte für die weniger untersuchten Dazu im allgemeinen Kroll, Studien, S. 159f., der u.a. eine Abhängigkeitskette in der ethnographischen Topik von Hekataios über Herodot bis auf Plinius und Tacitus feststellt. Zur imitatorischen Technik des Livius vgl. Karl Kessler, Livius, S. 7-20; G. L. Michael, Livius und Polybios, passim; August Wolf, Die Quellen von Livius, XXI, 1-38, passim, und vor allem Erich Burck, Die Erzählkunst, S. 140-175 (Titus Livius gegenüber Dionys) und 197-217 (zur sogenannten peripatetischen Geschichtsschreibung). Zur Nachahmung des Thukydides durch Sallust vgl. Leeman, Oral, ratio, I, S. 331 f. und 337. flA 100 Zur Nachahmung des Tacitus durch Ammian vgl. Guy Sabbah, Ammien Marcellin, S. 15f. und lOlf. Zur Beziehung Einhards zu Suetonius, Widukinds und Rahewins zu Sallustius bzw. Josephus Flavius vgl. L. Friedländer, Erinnerungen, S. 328ff. Zur Nachahmung des Titus Livius durch Lampert von Hersfeld vgl.. Giuseppe Billanovich, Lamperto di Hersfeld, S. 47ff.; zu den Motivanlehnungen Sallusts durch die Vita Heinrici IV vgl. Schneider, S. 4-9, 14-106. Zur Nachahmung des Thukydides durch Priscus vgl. Hunger, Mimesis, S. 26f 187 Vgl. Weische, Cicero, passim, vor allem S. 145-150. 188 Dazu Thill, S. 20. Dies hat die Aineif-Untersuchung durch Knauer im einzelnen nachgewiesen; vgl. seine Schlußfolgerungen, S. 145ff.; dazu auch Kroll, Studien, S. 157ff. S. außerdem Du Quesnay, S. 36-69. Da die antiken Quellen der mittellateinischen Dichter relativ gut festgestellt werden können, sind auf diesem Gebiete die Techniken der paraphrastischen Nachahmung viel leichter zu erkennen als bei den griechischen und altrömischen, uns nicht mehr erhaltenen Quellen der lateinischen Klassiker und Nachklassiker. Dazu einiges bei Thomas Berres, Ennius, passim. 1

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Aspekte einer gedanklich-affektischen tractatio der Vorlage gelten, über die hauptsächlich die epideiktische Literatur Aufschluß gibt. Vereinzelte Vorläufer der erst von der neuzeitlichen Gelehrsamkeit zustandegebrachten Untersuchungen zur Technik der literarischen Umsetzung sind aber bereits in der Spätantike zu entdecken. So bietet Macrobius im Rahmen seiner ausführlichen Diskussion über die Spezifität der von Vergil betriebenen Nachahmung griechischer und lateinischer Modelle (Saturnalia 11,1-8; IV.lff.; VI.1-60) einen aufschlußreichen Umriß der dichterischen Nachahmungsmodalitäten im allgemeinen. Dazu sollen gehören: eine buchstäbliche oder leicht verändernde Übernahme von Versen aus Homer, eine größere, jedoch immer noch erkennbare Veränderung des Übernommenen, schließlich die Übernahme eines bereits von Vorbenutzem modellierten homerischen Gutes.

63

2.

Die ästhetische Konstellation der literarischen Umsetzung

2.1.

Klassik, Manierismus und Imitation

2.1.1. Polarisierung und Zusammenspiel von Klassik und Manierismus Eine solche 'architecture imitative', wie im vorigen Kapitel skizziert, der eine mehrstufige tractatio der jeweiligen Vorlage zugrunde liegt, erkennt man bei allen Meisterwerken der europäischen Literatur, die als Niederschlag eines analogen Prozesses entstanden sind. Bei ihnen wird die getreue Nachbildung der einen Komponente des Modells mit der Umgestaltung und Umdisponierung der anderen sowie mit dem Hinzuerfinden neuer Elemente vereinigt. In seinem Inferno zeigte sich Dante zugleich als interpres, imitator und aemulator Vergils, wie dieser seinerzeit ein Nachahmer und Wetteiferer Homers gewesen war. Mit der Bewertung solcher anerkannten Produkte der kreativen Imitation verbindet sich nun die Frage nach den Kriterien der ästhetischen und literaturkritischen Würdigung der Ergebnisse dieser Imitation im bisher erörterten antiken und mittelalterlichen Zusammenhang. Eine solche Würdigung erfolgte seit dem Späthellenismus meistens innerhalb einer bestimmten programmatischen Konstellation, der spezifische, auf eine ästhetische Polarisierung hinauslaufende kritische Maßstäbe zugrunde lagen. Es handelt sich um die attizistische Doktrin, die während des Späthellenismus zur höchsten Geltung als Reaktion auf die vielfachen Erneuerungen der früheren Zeit zustande kam. Der Attizismus fußte auf einer Stilkritik, der zufolge ein literarisches Werk nach der Art und Weise seines Bezugs auf die Muster des 5. und 4. Jahrhunderts gewürdigt wurde. Es ging also um die Übereinstimmung oder aber um die Abweichung vom klassischen Modell hinsichtlich des Stils und der Sprache, was, wie bereits gesehen, auch andere poetologische Aspekte mit einschließt. Die dabei entstandene Kontraststellung zwischen dem 'Klassischen' und dem 'Unklassischen' wurde im Laufe der Zeit auf verschiedene, oftmals einander überschneidende Stichwörter gebracht. Bei dem zunächst in der späthellenistischen Zeit entstandenen, von der modernen Gelehrsamkeit gerne aufgegriffenen kontrastiven Begriffspaar Asianismus und Attizismus läßt sich die Tragweite des ersteren allerdings nur auf eine begrenzte Zeit feststellen.1 Weitere Polarisierungen ergaben sich später zwischen Apollodoreern und Theodoreern innerhalb des Attizismus, dann zwischen Archaikern und Neoterikern. In der Spätantike identifiziert man die africitas oder aber die ubertas gallici sermonis (Hieronymus, Epist. 125,2) als Erscheinungen, die dem Asianismus entsprechen.2 Das Konzept Nordens vom "Kampf des alten und neuen Stils", den er bis zur Schwelle der Neuzeit als ein kontinuierliches dialektisches Phänomen darstellte, hat sich trotz berechtigter Dazu vor allem Ulrich von Wilamowitz-Möllendorf, Asianismus und Attizismus, S. 7 und 51f.; Norden, I, S. 130-135 und 154f.; Blass, Die Beredsamkeit, S. 25-33; Kennedy, The Art of Rhetoric, S. 98ff. Vgl. die Auseinandersetzung Nordens mit diesen in unserer Zeit bereits überholten Kategorien. S. vor allem II, S. 588ff., 596ff, 632ff. und 642.

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Kritik von Wilamowitz insofern eingebürgert, als es auf allgemeingültigen literarisch-soziologischen Koordinaten beruht.3 Schließlich steht die zunächst von den Romanisten Curtius und H. Friedrich befürwortete Antinomie von Klassik und Manierismus in der antiken und mittelalterlichen Literatur zur Debatte. Curtius war es, der die so wichtige Aufspaltung des Begriffs Klassik in die Ideal- und Normalklassik vornahm, wobei die letztere wie folgt definiert wurde: "Damit bezeichne ich alle Autoren und Epochen, die korrekt, klar, kunstgemäß schreiben, ohne menschliche und künstlerische Höchstwerte zu repräsentieren".4 Die antiken Belege für eine solche Bestimmung der Normalklassik treffen wir bei den Befürwortern einer diesem Ideal entgegengesetzten Auffassung an. Der offenbar auf einen Traktat Vom Erhabenen zurückgehende Brief des Plinius an Lupercus setzt wie folgt an: Dixi de quodam oratore saeculi nostri recto quidem et sano, sed parum grandi et ornato ut opinor apte: nihil peccat, nisi quod nihil peccat (Epist. IX,26,1). In ähnlicher Weise hatte sich früher Ps.-Longinus in bezug auf den "korrekten, ausgewogenen und gesunden Stil" des mittelmäßigen Dichters bzw. Redners geäußert (XXXIII, l ff.).5 Ihm zufolge erhebt sich der Idealklassiker - in specie Demosthenes oder aber Platon - gewaltig über die "Hochfläche der Normalklassik" (Curtius), indem er an das Erhabene gelangt. Unzulänglichkeiten und Fehler sollen nun zwangsläufig jene Begleiterscheinungen des genialen Schöpfertums darstellen, die einen solchen Künstler beinahe an den Rand des Abgrundes führen ( Se € : Ps.-Longinus XXXIH,2 und saepe accedere ad 6 praeceps : Plinius IX,26,2). Die Normalklassik setzt hingegen eine literarästhetische Auffassung voraus, die mit jenem Typ von imitatio zusammenfällt, der sich das Ziel setzt, die mustergültige Vorlage nicht zu Vgl. Nordens Darlegung des "Kampfes des alten und des neuen Stils" in der klass. Antike (I, S. 251-299), in der Spätantike (I, S. 355-391), im Mittelalter (II, S. 748-753). Dabei bezieht er sich auf die Begriffe und veurepoi und bei den Lateinern neoterici. Vgl. u.a. Servius, Comm. in Aen. 8,731 und 12,605. Von Norden übernimmt offenbar Bompaire die Opposition zwischen 'archaisants' und 'modernistes', 'anciens' und 'modernes', wobei er diesen Begriffen ein breiteres Bedeutungsspektrum zuweist. Vgl. vor allem S. 44-97. Vgl. auch die Begründung der Antinomie von 'Konservativen' und 'Neuerern' durch Heldmann, S. 187. Im Mittelalter meint antiqui die auctores, während bereits bei Cassiodorus moderni die Zeitgenossen bezeichnet. Seit dem 12. Jh. bekommt aber der Begriff modernus eine polemische Konnotation im Zusammenhang mit dem Konflikt von artes und auctores; dazu Gössmann, passim. Zum Begriff der Klassik vgl. u.a. die im Sammelband 'Das Problem des Klassischen und die Antike', hg. von Werner Jaeger, vorliegenden Abhandlungen, vor allem von Paul Friedländer, Vorklassisch und Nachklassisch (S. 33-46), Wolfgang Schadewaldt, Begriff und Wesen der antiken Klassik (S. 15-32), Johannes Stroux, Die Anschauungen vom Klassischen im Altertum (S. 1-14). Vgl. Curtius, ELLM, S. 278.; H. Friedrich, Manierismus, S. 353-358; ders., Epochen, S. 593ff.; ders., Silvae, S. 34ff.; vgl. außerdem Gustav Reni Hocke, Manierismus, S. 235; Burck, Vom röm. Manierismus, S. 24. Zum gemeinsamen Standpunkt vgl. Anne-Marie Guillemin, La critique littoraire, S. 120; A. N. SherwinWhite, The Letters of Pliny, S. 508; Rüssel, in: Ps.-Longinus, S. XLI. Vgl. Curtius, ELLM, S. 278. Vgl. außerdem weitere Stellen bei Ps.-Long. XXXII,4, XXXIV.4 und XXXV,3f.; Plinius, Epist. IX.26,10. 65

bertreffen, sondern eher - dem Wortlaut Quintilians nach - dieser durchaus getreu zu folgen (cuius vestigiis sibi utique insistendum putat: X,2,10). Daher erscheint die Normalklassik par excellence schulbezogen, was aus ihrer weiteren Beschreibung durch Curtius herauszulesen ist: "...die Normalklassik ist nachahmbar und lehrbar". Man d rfte also von einer Schulklassik reden, die in der Stilgeschichte zun chst mit dem antiken Attizismus zusammenfiel. Sie w re grosso modo als eine konservatorische, auf die strikte Observanz der bernommenen techne bedachte imitatio zu verstehen, die deswegen als kleinlich erscheinen mag.7 Die dazugeh rige tractatio schl gt demnach einen Weg ein, der als tutius per plana, sed humilius et depressius (Plinius, ebd.) zu bezeichnen sei. Das aus der Kunstgeschichte extrapolierte Manierismus-Konzept bezeichnet hingegen den subjektivistischen, anscheinend auf Willk r beruhenden '6cart' von der Norm. Die manieristische imitatio setzt sich daher die " berwucherung" (Curtius) der musterg ltigen Vorlage als Ziel, wobei man auch in Kauf nimmt, da die unternommene aemulatio mi lingen k nnte. Ein asianisches Prinzip, das Ps.-Longinus zun chst im kritischen Geist zitierte, lautete: "Das Verfehlen gro er Ziele ist jedoch ein edles Versagen" (111,3). Im Zusammenhang aber mit seinem Urteil ber die wechselnden Leistungen von genialen K nstlern verkehrt er dies wie ein Sophist ins Positive (33,1-4), was bei Plinius, wie gerade gesehen, seine Entsprechung hat (Epist. 26,2). Axiologisch gesehen, ist also die von der Norm befreite Manieriertheit, f r die sich die mit dem Kleinlichen (το μικροπpenes') kontrastierende Bezeichnung der Gro z gigkeit und Freiheit (το €λ€υθ ist die oben erw hnte von Fortunatianus (1,5, S. 71) als typisches Beispiel von παρ'ίστορίαν gebotene Vertauschung des Hortensius mit Cicero: reus est Q. Hortensius, quod in consulatu suo supplicium de indemnatis civibus sumpserit. Als Vertauschung des Handlungsobjekts (quid fecerit), was in Analogie zur Motivbezeichnung casus virorum illustrium ein stoffliches έτ€ρότιτωτον zu nennen w re, sei das Antezedens in der Controversia VH,2, bei Seneca dem lteren erw hnt: Popilium parricidii reum Cicero Johannes Sykutris, Epistolographie, Sp. 194 und 214; Hirzel, II, S. 26; A. Cizek, Zur lit. rhet. Bestimmung der Collatio, S. 116ff. und 123ff. Zum Briefwechsel zwischen Seneca und Paulus vgl. ebd., S. 127. Zum Brief des Presbyters Johannes vgl. Gioia Zaganelli, Le lettere del Prete Gianni, S. 243-261. Zu den fingierten Briefen im Mittelalter vgl. Giles Constable, Forged Letters, S. 11-39. I3 ^ln der angef hrten Brutus-Stelle handelt es sich um hellenistische und r mische Historiker, die die Todesarten des Themistokles, Alexander und Colorian auf tragisch-rhetorische Weise fingiert haben sollen; dazu A. Cizek, Antike Rhetoren, S. 292. Zum epideiktischen Charakter der Geschichtsschreibung vgl. Polybius XXIX.12; Cic. Farn. V.12,2-8; Otto von Freising, Gesta Friderici, S. 8,82 und 114; ders., Historia duarum civitatum, S. 10; dazu allgemein Curtius, ELLM, S. 184ff. 136 Vgl. Honstetter, S. 11 und 52ff. Zur Popularit t des Valerius Maximus im Mittelalter vgl. Reynolds, S. 4291 Zur Eigenart der mittelalterlichen Exempelliteratur vgl. von Moos, Geschichte als Topik, S. 93-144. 137 Dazu Merkelbach, S. 14-19; 45-48; 108-156, der dabei die gelegentliche Verflechtung der immutatioErscheinungen in ein und derselben Episode hervorhebt; s. auch A. Cizek, Historical Distortions, passim. Unter den vielen m glichen Beispielen einer Legendenbildung unter dem Einflu der Rhetorik sei auf die christliche Konstantinslegende εν TOUTQ νίκα hingewiesen, wie sie von Peter, I, S. 409ff., er rtert wurde.

166

defendit. Jener Generation, die nach dem Ende der 'römischen Revolution' lebte, war diese auf die Taten des Mörders Ciceros bezogene Vertauschung durchaus offenbar. Dazu gehört auch das Thema der von Hermogenes erwähnten Controversia mit einem Sokrates-Stoff: "Sokrates wird wegen des Gewerbes der Zuhälterei angeklagt" (bei Kohl, Nr. 177, S. 48). Als Beispiel von dient die Controversia: "Nikias und Alkibiades haben das Heer in Sizilien zugrunde gerichtet und werden deswegen unter Anklage gestellt", die von Tiberianos zitiert wird (bei Kohl, Nr. 122, S. 37). Bekanntlich starb Nikias in Sizilien, während Alkibiades früher und aus einem anderen Grund in Athen angeklagt worden war. Hierher gehört auch die Suasoria VIII bei Seneca dem Älteren Deliberat Cicero an scripta sua comburat prominente Antonio incolumitatem sifecisset. Dies ruft die Tatsache in Erinnerung, daß sich Cicero nach Pharsalos scheinbar dem Regiment Caesars unterworfen hatte. Als ein doppeltes wäre die Entstellung der Ereignisse um Demosthenes und Aeschines in der folgenden Controversia des Sopatros anzusehen: "Philippos forderte von den Athenern die Auslieferung des Demosthenes. Hypereides beriet sie dies nicht zu tun, Aeschines überzeugte sie jedoch Demosthenes zu übergeben. Philippos faßte diesen und ließ ihm die Zunge abschneiden. Aeschines wird öffentlich unter Anklage gestellt" (bei Kohl, Nr. 366, S. 76). Dazu gehört auch der von den rhetorisierenden Historikern erfundene Selbstmord des Themistokles in seinem Exil in Persien (Cic., Brut. 43). Ebenfalls als immutationes erscheinen die in den deklamatorischen Reden und in den Progymnasmata zum Zwecke einer künstlichen Argumentation verwendeten colores rhetorici. Sie treten als falsa expositio im Sinne einer Retouche im günstigen Sinne des Sachverhaltes auf, was angesichts des fiktiven Charakters der Deklamationen eigentlich als ästhetische, spezifisch dichterische Angelegenheit erscheinen mag.138 Darunter sind es oft paradoxale und wunderliche Motive, die der poetischen Tradition entnommen und als colores extra themata (Quint. IV,2,90) verwendet wurden. Dazu gehört die von Quintilian erwähnte, allzu häufige, bereits die Sättigung der Zuhörer bewirkende Einfügung der somniorum et superstitionum colores (IV,2,94). Ihrer Herkunft und auch ihrer Verwendungsfunktion nach kommen sie den exogenen Digressionen in der Dichtung und Historiographie gleich.

1.2.3.

Der Umstellungsvorgang und die Lehre vom ordo artificialis

Die transmutatio als Vorgang der strukturellen Umstellung eines Ganzen durch spezifische Tropen läßt sich zunächst sowohl auf die rein formale Satzanordnung als auch auf die durch Zeitkoordinate determinierte Gedankensequenz innerhalb des Satzkörpers beziehen. Dieser letzte Aspekt kommt eindeutig zutage bei der Bestimmung der Hysterologie u.a. durch Donatus und Beda als jener semantischen Erscheinung des Hyperbatons, die in der Inversion der

l38

Vgl. Quint. V.2,88-100; dazu Bornecque, S. lOlff.; Boissier, S. 217f.; Clark, S. 230f; Lausberg, § 329; Fairweather, S. 266ff.

167

Gedankenordnung (sententiae cum verbis ordo mutatus: Donatus, S. 401,6f.) besteht. Zum biblischen Beispiel: Hie accipiet benedictionem a domino et misericordiam a deo merkt Beda (S. 614,13ff.) an, daß Gott dem Gerechten eigentlich zunächst seine Barmherzigkeit zeigt, um ihn dann zu segnen. Diesem Verfahren stellt Donatus die gegenüber, die lediglich als Wechsel in der Reihenfolge der Wörter im Satz erscheint: verborum tantum ordo praeposterus, ut 'Italian contra'pro contra Italiam (S. 401,9ff.).139 Der auf die Disposition bezogene Vorgang der iransmutatio umfaßt die Modalität des Platzwechsels im Kontakt, die anastrophe oder inversio heißt, und diejenige des Platzwechsels auf Abstand, das Hyperbaton im engeren Sinne oder die transgressio.140 Das der Hysterologie innewohnende Prinzip der Umstellung ist nun mit dem von Quintilian und Theon theoretisierten Verfahren des sogenannten ordo artificialis, d.h. der kunstgerechten Invertierung der chronologischen Anordnung in der Rede, in Verbindung zu setzen.141 Die transmutatio-Lehre bei diesen Theoretikern bezieht sich aber sowohl auf die Disposition der Gesamtrede als auch auf diejenige des Narratio-Teils (Quint. IV,2,83). Hiermit hängt bei ihnen weiterhin der ordo artificialis in der Historiographie und in der Dichtung als Alternative zum chronologischen Erzählablauf (ordo naturalis) zusammen. Dieses Verfahren heißt bei Quintilian mos Homericus, d.h. jene ästhetisch motivierte Erzählart, die mit der Mitte oder mit dem Ende des Geschehens beginnt: ...ubi ab initio incipiendum, ubi more Homerico a mediis vel ultimis. Theon, der möglicherweise Quintilians Quelle ist, stellt den folgenden sinusoiden Erzählvorgang a mediis in der Odyssee fest: Homer beginne von der Mitte der Geschehnisse aus (von der Kalypsoepisode), kehre dann zurück zum Anfang, indem er Ulysses dessen Peripetien den Phäaken erzählen läßt, und schließlich richte 139

Eine ähnliche Bestimmung, d.h. die tropische Bestimmung des Hyperbatons, liegt bei Diomedes (S. 461,15ff.) und Choiroboskos (S. 255,10f.) vor, während Charisius (S. 275,5ff.) diesen Aspekt übersieht. Gleichwohl erwähnt er wie auch Donatus und Diomedes, die synchysis als Hyperbaton obscurum, zumal diese Unterart des Hyperbatons die völlige Verkehrung des semantischen Zusammenhangs bedeuten soll: hoc est omni pane confusum (Diomedes, ebd.). Lausberg, § 891, seinerseits definiert die Hysterologie als Gedankentropus, wobei er sich auf Beda, Gregorios von Korinth und Choiroboskos beruft. Beda allerdings übernahm wörtlich die Definition des Donatus. 140ygl. Quint. 1,5,40; Phoibammon, S. 48,5, 15ff. Terminologie wie auch Klassifikation sind dabei schwankend. So versteht Theon unter lediglich die Worttrope und unter eigentlich den ordo artificialis in der Narratio; vgl. S. 82,19ff. und 86,7-87,11; dazu Lana, Quintiliano, S. 125; Volkmann, S. 436ff.; Lausberg, § 463,3a und b. In der Systematik des Phoibammon (S. 52,6-53,20) begegnet eine völlig andere Auffassung der transmutatio, die mit verschiedenen Gedankenfiguren der Anrede zusammenfällt. 141 Vgl. dazu Lausberg, § 891: "Die dichterische Berechtigung zur Hysterologie ist mit dem Prinzip des ordo artificialis gegeben". Vgl. außerdem ebd., §§ 452, 983 und 1243; s. auch Lana, Quintiliano, ebd., und Quadlbauer, Zur Theorie der Komposition, S. 128f., der das Inversionsverfahren mit dem hysteron-proteron in Zusammenhang bringt, wobei er einschlägige Belege aus Ti. Cl. Donatus und Cic. bietet. Der Terminus ordo artificialis wurde von spätantiken Rhetoren in bezug auf die Gerichtsrede geprägt; vgl. Fortunatianus, S. 120, Sulpicius Victor, S. 320; dazu Lausberg, §§ 446ff. und 452; Faral, S. 56; Brinkmann, S. 44f; Gallo, Poetria nova, S. 138. 168

er sich von dort mit der Darstellung der Mnesterophonie auf das Ende der Geschehnisse hin (S. 86,8-17). Anschließend kommentiert Theon ähnliche Erscheinungen in den Historien des Thukydides und Herodotos und faßt die verschiedenen kombinatorischen Formeln des von ihm genannten ordo artificiaüs zusammen (S. 86,17-87,11). Die nimmt in der Lehre Theons fast die gleiche Bedeutung an wie die adiectio ( ) und detractio ( ) der Narratio, an deren Erörterung sie unmittelbar angeschlossen wird (S. 85,30-86,7 und 86,7-16). Wie bei der Theoretisierung der anderen transformationeilen Vorgänge wird auch hier ein Stilmittel auf die Kompositionsebene extrapoliert. Theons Ausführung des mos Homericus ist die wichtigste, die uns von der Antike überliefert ist, und weist wohl auf ein in den Schulen jener Zeit bereits eingebürgertes Konzept hin. Dies ergibt sich aus der häufigen poetologischen Beschäftigung mit dem ordo artificialis, die meistens im Zusammenhang mit der Dichtererklärung und -nachahmung in den Schulen steht. Erwähnenswert sind u.a. der Vergilkommentar des Tiberius Claudius Donatus (Interpr. Verg., S. 6,18ff.), der Terenzkommentar des Aelius Donatus, der die kunstgerechte Anordnung der Darstellung sowohl bei Homer und Vergil als auch bei den Tragikern und Komikern nennt (Praef. zu Andria, 2,2 und auch andernorts: Andria, 228, 399, 459 und 481; Adelphoe, 78) und vor allem der A«nm-Kommentar des Servius. Dieser stellt den ordo artificialis in der Aeneis fest (Praef., S. 4f.) und billigt dieses Verfahren: constat perite fecisse Virgilius, indem er sich auf die Autorität Horazens, A.P. 43f. (ut iam nunc dicat...debentia dici/ pleraque differat...) beruft. Seinerseits sah Macrobius im Beginnen des Werkes mit der Mitte eine poetica disciplina (Sät. 5,2,9ff.), was sich auf noch älteres, nämlich alexandrinisches Theoriegut zurückfuhren lassen soll.142 Das sich auf eine solch gewaltige Autorität stützende Verfahren der kunstgerechten Anordnung wurde in der mittelalterlichen Schule jedoch nicht ohne Widerspruch hingenommen. So befürwortete Notker der Deutsche die bona dispositio, die darin bestünde: rem eo ordine quo gesta est narrare, sowohl für die Historiographie, wobei er die invertierende Anordnung der letzten Bücher der Reges in der Bibel als praeposterus ordo rügte, als auch für die Dichtung, wobei er die Anordnung Vergils in der Aeneis als vitiosa tadelte (De arte rhet. 49 bzw. 47).143 Die Bewertung aber des poetischen ordo artificialis aus ästhetischen Gründen (quicumque promittit se facturum bonum carmen...) begegnet schon früher, nämlich in den Scholia

142

Zu diesen Aspekten der Umstellung vgl. Faral, S. 56; Gallo, Poetria nova, S. 138, und vor allem Quadlbauer, Zur Literaturtheorie, S. 134. Ihm zufolge sind bei Ti. Cl. Donatus "innere Schwierigkeiten" mit der Lehre vom ordo artificialis festzustellen. Ein weiterer Passus bei Horaz, nämlich A.P. 148ff, in dem dieser die Fähigkeit Homers, die Zuhörer ohne weiteres in medias res zu versetzen, lobt, scheint von den Kommentatoren nicht immer in Zusammenhang mit der Lehre vom ordo artificialis gebracht, sondern auf die Vortragsweise des Dichters bezogen worden zu sein; vgl. Scholia Vind., S. 17. Nur von einigen Scholiasten wurde dieser Bezug hergestellt; vgl. Heinze, in: Hör. Briefe, S. 317. l43 Dazu ausführlich Quadlbauer, Die Genera, S. 55f. (zur Stillehre im allgemeinen), und ders., Zur Literaturtheorie, S. 123ff., bezüglich der Dispositions-Lehre Notkers.

169

Vindobonensia (S. 4,42-5,18). Hier beruft sich der Scholiast auf das von Horaz im Anschluß an die erwähnte Stelle (A.P. 42ff.: ...ut iam nunc dicat usw.) gefällte Urteil: hoc amet, hoc spernat promissi carminis auctor. Dies würdigt er als poetologisches Präzept des antiken Dichters wie folgt: hoc breviter dicit...amet artificialem ordinem et spemat naturalem. Daran schließt er eine Erörterung der kunstgerechten Invertierung in der Disposition der Aeneis an, wobei er zugleich zeigt, wie der naturalis ordo dort aussehen würde.144 In der accessus-Literatur des 11. und 12. Jahrhunderts, im accessus Anselmi, bei Konrad von Hirsau und bei Bernhard von Utrecht werden sowohl der ordo naturalis als auch der artificialis als ebenbürtige Musterlehren für die schulliterarische Praxis bewertet, wobei man sich bei der Befürwortung des ersteren auf die Autorität von Terenz, Lucanus, Statius stützt. Bei Konrad von Hirsau ist darüber hinaus die Rede vom principium naturale bzw. artificiale des Werkes, was seine Entsprechung in den später entstandenen Poetiken hat.145 Das WerkExordium hatte, wie es Curtius gezeigt hat, schon viel früher eine große Achtung in der Dichtungspraxis genossen. Im 'Alexiuslied' (Anfang des 11. Jhs.) sei eine bewußte, auf schulmäßiger Grundlage beruhende Anwendung der literarischen Technik bei der Gestaltung sowohl des Exordiums als auch der conclusio erkennbar. Hiermit liefert Curtius einen wichtigen Beleg für das Bestehen einer mit dem regelrechten Schulbetrieb verbundenen literarischen Praxis schon lange vor der Entstehung der hochmittelalterlichen Poetiken in Frankreich.146 Die sehr ausführliche Dispositionslehre Galfreds (Poetria nova, V. 86-202, Documentum, 1,1-12, S. 265-271) zeichnet sich durch die Verquickung der traditionellen zwei ordines mit der diesem Theoretiker eigentümlichen Theorie vom principium naturale bzw. artificiale aus. Dies geschieht vor dem Hintergrund seiner oben erörterten Auffassung von der Zusammengehörigkeit des Narratems als brevissima materia einer Satzeinheit mit dem Werk als Ganzem.147 Wie früher die Wiener Scholien der Ars poetica stellt auch Galfredus dem unfruchtbaren ordo naturalis (ordinis est primus sterilis, Poetria nova, V. 101) den ordo artificialis als ein schöpferisches Prinzip par excellence gegenüber (...ramusque secundus/ Fertilis et mira succrescit origine ramus/ In ramos... ebd., V. lOlff.). Den letzteren erklärt er zunächst im 144

Vgl. Quadlbauer, Die Genera, S. 32f, der im einzelnen zeigt, wie der Inhalt der A.P. 43f. durch "verkrampfte Einzelinterpretation" in die starre Opposition ordo naturalis l ordo artificialis hineingezwungen wird; dazu auch ders., Zur Literaturtheorie, S. 13Iff., und Zur Theorie der Komposition, S. 118. 145 Vgl. Konrad von Hirsau 194ff.; Bernhard von Utrecht, Commentum 45ff. und 150fT.; Bernhard Silvestris, S. If.; dazu von Moos, Poeta und Historicus, S. 94f.; Salmon, S. 79f.; Minnis, S. 21f.; Quadlbauer, Zur Literaturtheorie, S. 136f.; ders., Zur Theorie der Komposition, S. 119, mit weiteren Angaben. 146 Vgl. Alexiuslied, S. 117. 147 Vgl. Quadlbauer, Die Genera, S. 70ff. und 102f., der von der "Tendenz zur kleinen Einheit" als Merkmal der hochmittelalterlichen Theoretiker, insbesondere des Matthäus von Vendöme und des Galfredus spricht; demgemäß fallen die paries materiae mit den partes orationis, also den "größeren kompositionellen Teilen" bzw. den verba zusammen; s. auch ders.. Zur Theorie der Komposition, S. 121-124. 170

allgemeinen als Voranstellung der Werkmitte oder des Werkendes vor den Anfang. Dabei würdigt er dieses Verfahren im Sinne einer 'art for art's sake'-Auffassung, deren zeitlich entferntes Homolog, wie weiterhin noch zu sehen ist, in der sophistisch-isokrateischen Auffassung einer virtuosen Sinnesumbiegung der jeweiligen Modelle zu suchen ist: Trahit ars ab utroque facetum/ Principium (d.h. a fine thematis et a media) ludit quasi quaedam praestigiatrix,/ Et facit ut fiat res postera prima, futura/ Praesens...vetusta novella...nigra Candida, vilia cara (V. 118-125). Anschließend bietet Galfredus eine originale, acht technische Methoden umfassende Theorie eines kunstgerechten Beginns, was eigentlich auf ebenso viele Modalitäten der strukturellen Umstellung des Ganzen hinausläuft.148 Das sind zunächst die Invertierungen a fine bzw. a medio ohne Anhang, dann mit einem jeweils angehängten Exemplum bzw. Proverbium. Wie üblich, veranschaulicht er dieses Verfahren anhand eines Musterbeispiels, das in der Poetria nova und im Documentum identisch ist. Auch diese Lehre Galfreds genoß die Achtung der späteren Theoretiker.149 Nach einem ursprünglich aristotelischen, später in der grammatischen und rhetorischen Theorie vertretenen Tektonik-Prinzip wird das aus Exordium, Mitte, Abschluß bestehende thematische Ganze der Erzählung als eine Einheit aufgefaßt: Hoc genus est triplex, surgens de triplice planta./Plantae suntpartes in themate prima, secunda,/ Ultima... (Poetria nova, V. 134ff.).150 Der Anfang der dabei als Vorlage benutzten Geschichte (pars primula Minos) handelt von der Person des Königs Minos von Kreta. Die Mitte (altera mors puert) erzählt vom Studienaufenthalt und von der heimtückischen Tötung des Sohnes Androgeus in Athen. Das Ende (finis confusio Scillae) erzählt von dem aus Liebe zu Minos verübten Verrat Scillas an ihrem Vater, dem König Nisus von Athen, dann von der Verschmähung der Scilla durch Minos

l48

Dem Wortlaut in der Poetria nach ist zunächst vom ordo des Welkes als eines Ganzen die Rede: V. 94f, 101, 111 und 116; erst im V. 151 wird das principium mit allem Nachdruck erwähnt: ...sunt ita principii ...reperti/Tres rami: finis, medium... Anders im Docum. (1,2-17, S. 265ff., und 11,1-12, S. 268-271), wo immer principium naturale bzw. artificiale figurieren. 149 In seinem Kapitel De arte inchoandi führt Johannes von Garlandia (111,1-97) sehr ausführlich die Lehre de principio artificiali et VIII speciebus eius an, wobei er die meiste Zeit Galfredus sehr getreu folgt und, wie immer, eigene Musterbeispiele bietet. Außerdem unterscheidet er einen neunten modus inchoandi. Anders Eberhard der Deutsche, V. 269-298, dem es um das principium per zeuma...et per hypozeusim geht, was zweifelsohne auf die Lehre von der inchoatio bei Matthäus von Vendome I,3,ff., S. 11 If., zurückfuhrt 150yg] obej, Anm. 14 und außerdem die Lehre von den tria loca narrations bei Marius Victorinus, Expl. in Rhet. Cic., S. 204,27; dazu ausfuhrlich Lausberg, §§ 299, 443, 462,1 und 1244; s. außerdem die auf die Satzebene beschränkte Dreiheitsauffassung des Matthäus von Vendome: inchoare materiam (L3ff.), exsecutio materiae (IV,2ff.) und conclusio (IV.50); dazu Quadlbauer, Die Genera, S. 71. Satz- und Werkbau in der antik-mittelalterlichen Lehre werden ständig auf einen gemeinsamen Nenner gebracht Wie Jean Rychner, La chanson de geste, S. 37-47, gezeigt hat, ist die gleiche Dreiteilung für die epische Makrostruktur, z.B. für das Rolandslied oder für die Guillaume-Lieder grundlegend. Dabei bedeute der Anfang "la preparation", die Mitte "la crise centrale et le point culminant", das Ende "le denouement de l'action".

171

und ihre Metamorphose in eine Haubenlerche.151 In der Poetria nova führt Galfredus diese drei Partien der Minos-Geschichte, die er mit natura, d.h. principium naturale, a fine und a medio, d.h. zweierlei principium artificiale, bezeichnet, getrennt voneinander (V. 159-179) an, während im Documentum (I,l,6ff, S. 266f.) diefabella zunächst in zusammenhängender 18 Zeilen zählender Prosa erzählt wird, was einem progymnasmatischen Musterbeispiel der Narratio durchaus ähnelt. Anschließend bietet er aber jeweils Vers- und Prosafassungen: metricum bzw. prosaicum exemplum der drei Partien als ebenso viele Modalitäten des principium naturale bzw. artificiale an, wobei der Wortlaut der Versfassungen von demjenigen in der Poetria nova abweicht. Für den Endteil liegen - wie beim Schneekindgedicht im Abschnitt abbreviatio rnaleriae - sogar zwei Versionen in Versen vor (Documentum, 1,3-9, S. 267), was die Zusammengehörigkeit dieser theoretischen Konstruktion mit der schulliterarischen Praxis deutlich vor Augen führt. Es ergeben sich also zwei Modalitäten des principium artificiale: mit Platzwechsel im Kontakt (a medio), was der rhetorischen Apostrophe entsprechen würde, wobei Mors pueri vorangestellt wird, und mit Platzwechsel auf Abstand, was mit dem Hyperbaton zu vergleichen ist, wobei das Ende der Geschichte, die confusio Scillae, dem Anfang vorangestellt wird. Eine kunstmäßigere Gestaltung soll weiterhin dadurch erreicht werden, daß dem jeweils vorliegenden Anfang (si pars prima velit tnaius diffundere lumen) ein ihm passendes (nee minus apte) Proverbium (sententia sumpta) oder Exemplum vorausgeschickt wird (Poetria nova, V. 126-144; Documentum, 1,10, S. 267). Dementsprechend bietet Galfredus jeweils inhaltlich verschiedene Proverbia bzw. Exempla für das principium naturale und für die zwei Formen des artificiale: a medio und a fine (Poetria nova, V. 180-202; Documentum, 1,11-17, S. 267f.). All dies hängt nun zusammen mit der sowohl für die Dichtungstheorie als auch für die ars dictaminis so wichtige Exordialtopik, die man möglichst variationsreich haben wollte. Dabei galt die exordiale Verwendung vor allem eines Proverbiums als Merkmal der 'modernen' Dichtung. Seinerseits hatte auch Matthäus von Vendöme bei seiner inchoatio materiae (1,6-29, S. 11 Iff.) empfohlen, das Werk mit einer generalis sententia bzw. einem Proverbium anzufangen.152 Diese Lehre haben später Johannes von Garlandia und Gervasius von Melkley

151

Dieser offenbar sehr beliebte Stoff begegnet sowohl in griechischen als auch in lateinischen Quellen von der Antike bis ins Spätmittelalter hinein. Vgl. u.a. Aischylos, Choephoroi 613ff.; Ovid, Metamorphoseis VIII,1-151; Hyginus, Fabulae, 198; Apollodors 'Bibliothek' III,210f.; Nonnos, Dionysiaka XXV,148ff.; Eustathius, 'Comm. zu Dionys Periegetes', 420a. Wegen ihrer so großen Verbreitung ist diese Sage als idealer Stoff der progymnasmatischen Narratio anzusehen. Johannes von Garlandia, 111,2Iff., führt als Musterbeispiel die vita et hystoria Beati Dionysi an, das als ein spezifisch mittelalterlicher progymnasman'scher Stoff anzusehen ist. Im Unterschied zu Galfredus reduziert er aber diese Narratio auf die drei den jeweiligen Inhalt der Partien zusammenfassenden Sätze: ...studuit Athenis...predicavit in Gallia...decapitatus fiiitpro Domino. 152 Dabei hatte er eine Handvoll Beispiele aus der klassischen Dichtung geboten (1,16-30, S. 113ff.). Wie noch zu sehen ist (vgl. Anm. 160) verlangte aber die Dictamen-Theorie ein möglichst realitätsbezogenes 172

als geeignet für die Dichtung der moderni gewürdigt und anhand eigener Beispiele illustriert.153 Eine große Anzahl epischer Werke aus dem 12. und 13. Jh. wie die Trojaromane, Alexanderromane, Erec, der Rosenroman, auch hagiographische Werke wie die Vitae der Heiligen Paula und des Thomas Beckett fangen mit einem Proverbium oder Exemplum an.154 An sich sind aber die Proverbia und die Exempla, wie die im Zusammenhang mit der digressio erörterten comparationes und similitudines (Documentum, 11,21, S. 274), Bestandteile extra corpus materiae, also Fremdkörper, die zur jeweiligen Narratio hinzugefügt werden.155 Ihnen gegenüber steht in der Minos-Geschichte die laus Minois, die Galfredus als eine endogene Stofferweiterung innerhalb aes principium naturale auffaßt. Diese digressio in materia bewirke daher einen "Verzug": sumitur etiam naturale principium quando materiam initiamur a laude Minois, immorando circa laudem eius (Documentum, 1,3, S. 266).156 Dem Wortlaut in der Poetria nova (V.159-166) nach besteht die laus in einer physisch-moralischen - nach dem Muster der Typen-Portraits bei Matthäus von Vendöme hergestellten - Beschreibung. Die Hinzufügung der laus Minois kommt also einem reinen dilatatio-Vorgang bei Beibehaltung des ordo naturalis gleich, was eine geringere künstlerische Leistung voraussetzen soll als die gleichzeitige Anwendung der transmutatio innerhalb des Ganzen und der adiectio eines Proverbiums bzw. Exemplums extra corpus materiae an das jeweils vorliegende principium. Dies wäre der Hintergrund der gerade zitierten Beurteilung der zwei ordines durch Galfredus: Ordinis est primus stenlis, ramusque secundus/Fertilis (Poetria nova, V. 101 f.).

Exordium, was die große Bedeutung erklärt, die bereits Alberich von Monte-Cassino (De ration« dicendi, S. 11-19) der salutatio und captatio schenkte: Sie sollen der Natur des jeweiligen Empfängers angemessen sein. Johannes von Garlandia III,90ff. Gervasius von Melkley, S. 151,3-13, erwähnt dabei das Exordium einer Anonymi Laus Episcopi Norwicensis wie auch des Architrenius; dazu die Ausführung Schmidts, S. 286. Fand, S. 60. Weitere aus der mittellateinischen Dichtung (z.B. aus den Cambridger Liedern) stammende Beispiele bietet James Schulz, Classical Rhetoric, S. 8ff., wobei er bemerkt, daß die inchoatio mit einem Exemplum sehr selten und daß diejenige mit einer sententia nicht so oft begegne, wie man es annehme. Zur Verwendung der sententiae in den Arengen vgl. Fichtenau, Arenga, S. 131. 155 Wie Gallo, Poetria nova, S. 140, gezeigt hat, sind die Exempla im Sinne Galfreds keineswegs "short narratives", sondern ebenfalls proverbialer Natur. Vgl. u.a. Ultimo digna/ Fraudis in auctorem simili pede fraudem reversa (Poetria, V. 172); dazu auch Quadlbauer, Zur Theorie der Komposition, S. 128. Eine allegorisierende Nuance unterscheidet sie gelegentlich von den ebenfalls infiniten Sentenzen. Zur exogenen Natur des degressiven Exemplums vgl. Docum. 11,9, S. 270: Cum enim exemplum inducatur quasi simile... Die Hss. bieten häufig selbständige Sammlungen von Proverbien, von denen man einen beliebigen Gebrauch machen konnte; vgl. z.B. die Hs. B.N. Lot. 15155 mit ihren Flores proverbiorum, die sowohl in Versen als auch in Prosa verfaßt sind. 156 Dieses immorando oder moram facere wird an weiterer Stelle im Docum. 11,3,133, S. 309, wie folgt erläutert: Et intellegere debemus hone moram quantum ad digressionem vel descriptionem... Begrifflich fällt dies mit der Figur commoratio beim Auct. ad Her. (IV,58) zusammen. Weitere Überschneidungen mit der ebenfalls dort (IV,54) vorliegenden expolitio liegen auf der Hand; dazu einiges bei Calboli, Anm. 247, S. 406. 173

Im Unterschied zur dilataüo durch die laus Minois bewirkt also das Hinzufügen eines Proverbiums oder eines Exemplums im Zusammenhang mit dem fronsmufario-Vorgang eine Verfremdung der herkömmlichen fabella: Das Vorausschicken nämlich eines moralisierenden Proverbiums bzw. eines allegorisierenden Exemplums läßt weiterhin die Narratio als ein Apolog erscheinen, dessen Exordium die Funktion eines Promythions erfüllt.157 Galfredus und auch Johannes von Garlandia unternehmen es, den hierdurch entstandenen Verfremdungseffekt insofern abzuschwächen, als beide wortreich ausführen, anhand welcher Floskeln der Übergang \omprincipium artificiale (mit oder ohne exordiales Proverbium bzw. Exemplum) zum Sujet auf passende Weise vermittelt werden soll. Beim Übergang vom Proverbium zur Narratio seien pronominale oder verbale Syntagmen: huius sententiae habemus argumentum... (Documentum, 11,6, S. 269) bzw. docet, attestatur, indicat (ebd., 11,7, S. 270, und Johannes von Garlandia, II,47f.) und bei demjenigen vom Exemplum zur Narratio Modaladverbien wie pariter, similiter, a simili, eo pacto usw. zu verwenden (Documentum, II,9ff.; Poetria Parisiana, 111,71 f.). Die letzteren kennzeichnen die similitudines. Demnach bildet die Reihenfolge in der auf diese Weise umgesetzten Minos-Narratio, nämlich: exordiales Proverbium bzw. Exemplum, explikativer Übergang, dann das principium naturale bzw. das von der Mitte oder vom Ende der Narratio herausgeholte principium artificiale eine an sich fest konturierte Einheit, die den urpriinglichen thematischen Rahmen (Exordium, Mitte, Epilog) zu überwuchern droht. Der Bedeutungsschwerpunkt wird also bei einer solchen Disposition eindeutig auf den Werkbeginn gelegt. Daraus ergibt sich das folgende implizite Mißverhältnis zwischen der Werkanordnung und dem Werkbeginn: Ein mit Proverbium bzw. Exemplum beginnendes, anschließend aber chronologisch, also nach dem ordo naturalis ausgebautes Werk weist immer noch ein principium artificiale auf, und umgekehrt hat ein unchronologisches, also künstlich angeordnetes Werk insofern ein principium naturale, als es nicht mit Proverbia bzw. mit Exempla beginnt.158 Die par excellence als Modell des ordo artificiaüs geltende Aeneis wiese demzufolge ein principium naturale auf. Diese Diskordanz scheint Johannes von Garlandia (III,90ff.) insofern beheben zu wollen, als er eine neunte sowohl bei Lucanus als auch bei Vergil vorliegende Unterart des principium artificiale unterscheidet, die darin bestünde, daß der Narratio Themenangabe (propositio), Anrufung (invocatio) und Darstellung der Geschehensursache (causa hystorie) vorangestellt

157

Vgl. die drei in der Poetria nacheinander angeführten Beispiele für das Proverbium oder Exemplum, die dem Anfang, der Mitte oder dem Ende der Narratio voranzustellen sind: Quod magis optatur, magis effluit... (V. 181); Pessima res livor, totus mortale venenum... (V. 187) usw. Ähnliches bietet Johannes von Garlandia III,44ff. Was nun die Verwandlung einer Narratio in Apolog und umgekehrt betrifft, sei hier auf die folgende Bemerkung von Doxopater hingewiesen: "Wenn das Epimythion entfernt wird, bleibt die Fabel als ' (also fingierte Narratio) bestehen" (Homiliai, S. 243,22f.). Gallo, Poetria nova, S. 144-150, hat anhand mehrerer aus den artes predicandi und dictaminis geholter Beispiele gezeigt, wie die Voranstellung eines Proverbiums bzw. Exemplums im jeweils vorliegenden Zusammenhang eine epicheirematische oder enthymematische Konstruktion zeitigen kann. 158 Dazu Quadlbauer, Zur Theorie der Komposition, S. 120f. 174

seien.159 Im Artifizialitätsmuster Galfreds scheint außer der in aller Deutlichkeit vertretenen adiectio und transmutatio auch die stoffliche detractio mit eingeschlossen zu sein. Die Einfügung nämlich eines von seiner Natur her fremdstofflichen Proverbiums bzw. Exemplums ins Werkexordium und die Umstellung der Narratio-Bestandteile bewirken, wenn der gleiche Werkumfang beizubehalten ist, zwangsläufig die Eliminierung jener durch die Verlegung des Narratio-Schwerpunktes auf das principium artificial« entbehrlich gewordenen thematischen Elemente, die je nach der verwendeten Variante dem 'natürlichen' Anfang, der Mitte oder dem Ende angehören. Auch bei der Erweiterung des Umfanges dürfte man grundsätzlich von einer absoluten Amplifizierung des principium artificiale in stofflicher wie in stilistischer Hinsicht und von einer relativen diminutio bzw. detractio der anderen Partien sprechen. Für den Werkabschluß (de consummatione sive de fine matenae ) bietet Galfredus eine einfachere Lehre, die offensichtlich als Pendant zur principium-Theone beabsichtigt ist: Es werden die folgenden drei Modalitäten empfohlen: Den Abschluß soll man a corpore matenae, d.h. vom Narrutio-Stoff ausgehend, oder a proverbio oder aber ab exemplo machen. Anschließend fühlt er Beispiele aus der römischen Dichtung für diese einzelnen Modalitäten an, die er dabei auch kommentiert (Documentum, 11,3, l ff., S. 319f.). Auf diese Weise vereinigt die Dispositionslehre Galfreds Elemente der grammatischen Satzanordnungslehre, der rhetorisch-poetologischen Theorie des ordo artificialis wie auch der dilatatio- bzw. abbreviatio-Lehre in einer neuartigen Synthese. Auch bei den DictamenTheoretikern des 13. Jahrhunderts begegnen wir einer partiellen Anlehnung an die Lehre Galfreds. Dazu gehört an erster Stelle die ästhetisch begründete Befürwortung (pulcrius ordinäre bei Guido Faba) der künstlichen Anordnung bezüglich des Satzbaus bzw. des dichterischen Werkganzen. In dieser Hinsicht galt weiterhin die Aeneis als Muster. Dies wird uns sogar durch die pragmatisch orientierte Exordiumslehre Konrads von Mure bezeugt.160

159

Dazu Quadlbauer, ebd., S. 121f., der außerdem anmerkt, daß Galfredus seine Lehre lediglich für 'moderne' epische Dichtung gelten lasse. 160ygi die Summa de arte pros. S. 67; vgl. auch Quadlbauer, Zur Theorie der Komposition, S. 122ff. Kelly (S. 132), Gallo (Poetria nova, S. 144) und auch Walter Kronbichler (in: Konrad von Mure, S. 67) stellen m.E. eine zu enge Abhängigkeit Konrads von der mc/ioario-Lehre Galfreds und Johannes' von Garlandia heraus. In seiner sehr ausführlichen Exordium-Lehre, S. 144-150, folgt Konrad von Mure nur teilweise der Systematik des Johannes von Garlandia, IV, 17-24. So führt er zunächst die klassisch-rhetorische Lehre von den sechs modi der captatio benevolentiae (secundum Tullium, S. 146) und anschließend eine andere Systematik (secundum alias) auf, wobei er unter den acht modi nur vier aus der Poetria Parisiana übernimmt. Das Exordium a proverbio und ab exemplo, das den Kern der Lehre Galfreds bildet, übersieht er. Anders steht es mit den rein poetologischen modi prolongandi und abbreviandi (S. 109ff.), die er von der Poetria Nova fast wörtlich übernimmt, wobei er Galfredus auch zitiert (S. 113). 175

1.3.

Schlußfolgerungen

Aus der Diskussion der transformationeilen Vorgänge adiectio, detractio und transmutatio innerhalb der hochmittelalterlichen Poetik lassen sich wichtige Anleitungen zur tektonischen Abwandlung der Vorlage herausstellen, die zum Teil in der Figuren-, Tropen- und in der progymnasmatischen Lehre im Rahmen der antiken Schulrhetorik, zum Teil in einzelnen poetologischen Aussagen vornehmlich des Philodemos, Horaz und der spätantiken Autorenkommentarien ihre Antezedenzien haben. Was bei den letzteren zu allgemein und in den Progymnasmata-Traktaten der Spätantike zu speziell, weil auf bestimmte Grundformen des Diskurses beschränkt, formuliert wurde, wird von den hochmittelalterlichen Theoretikern mit Hinblick auf das Dichtungswerk kodifiziert und im Grunde zu einer Poetik der Imitation erhoben. Dabei bleibt aber die Kodifizierung der in der Literaturpraxis der Antike und des Mittelalters de facto zunehmend bedeutenden zmmiifario-Techniken nur in Ansätzen, weil nur einzelne auf der Satz-, Stil- wie auch auf der invenfio-Ebene operierende Begriffe poetologisch aufgewertet werden. Ich habe im vorigen versucht, die theoretische Tragweite solcher Begriffe virtualiter zu rekonstruieren. Der Einfluß der bisher erörterten poetologischen Modelle der dilatatio, abbreviatio und transmutatio auf Einzelwerke wie auch im allgemeinen auf die epische Literatur des Spätmittelalters wurde m.W. nur sporadisch untersucht. Es besteht dabei ein wenig begründeter Zweifel über die wirkliche Beeinflussung der Literaturpraxis durch die vom antik-rhetorischen Geiste geprägten theoretischen in der Schule vermittelten Literaturmodelle im allgemeinen und über die schöpferische Rezeption der Poetik Galfreds im besonderen.161 Die praktische Relevanz der von Galfredus theoretisierten Stofferweiterungs- und Verkürzungsmittel wird in den einschlägigen, im vorigen herangezogenen Darlegungen bei Faral, H. Brinkmann, Curtius, Gallo, von Moos, Ryding, Kelly, Worstbrock, Quadlbauer erkannt. Weniger Erfolg scheinen jedoch die Modelle der auf dem transmutatio-Votgang beruhenden Lehre von der künstlichen Anordnung gehabt zu haben.162 Würde man aber die Struktur von manchem Heldenepos oder ritterlichem Roman mit den Vorschriften Galfreds genauer vergleichen, so ergäben sich genug Argumente für deren 'Sitz im Leben': Die Prologe enthalten oft sowohl Proverbien als auch exkursorische Elemente aller Art. Zur Technik des

161

Von der masiven Präsenz der Poetik Galfreds in den Bibliotheken Englands ausgehend, besteht Kelly, S. 144148, auf dem Einfluß dieser Theorie auf die Literaturpraxis des Spätmittelalters, u.a. auf die Komposition der Canterbury Tales. Der gleichen Meinung sind: Faral, S.60, Sedgwick, The Style, S. 351; Notes, S. 331, 337; Gallo, The Poetria Nova, S. 68f, der die Existenz von über zweihundert Handschriften der Poetria nova erwähnt, die in den Codices "in distinguished company", d.h. zusammen mit den Schulbüchern: Arspoetica Horazens, De consolatione philosophiae, Georgica auszumachen sind. Zur Benutzung der Poetria nova in der mittelalterlichen Schule vgl. auch S. Gallick, Med. Rhet. Arts, S.81-84; Curry Woods, An Early Commentary, S. XVH-XIX, Poetic Digression, S. 621-25. 162 Dazu Kelly, S. 132, der den im Roman d'Enoas und in Yvain vorliegenden ordo artificialis erwähnt. Ryding, S. 38, negiert jede Relevanz der Lehre Galfreds von den acht Modalitäten des ordo artificialis.

176

sogenannten roman ä tiroirs gehören u.a. Unterbrechung und Wiederaufnahme des gleichen Handlungsstrangs bzw. der gleichen Episode, was als narrativ-episches Hyperbaton einzustufen wäre.163 Die dadurch entstandene Diskontinuität der narrativen Einheit, die auch für den antiken Roman bzw. das Epos kennzeichnend ist, steht in direktem Zusammenhang mit der progymnasmatischen Kompositionstechnik selbständiger Einheiten, die in der Ökonomie der epischen Großform als emblematische Glanzstücke wirken.164 Angesichts des theoretischen Gewichts des hochmittelalterlichen poetologischen Beitrags ergab sich in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit einer Erörterung der vier transformationeilen Vorgänge, schon bevor die einzelnen, auf diesen Kategorien beruhenden progymnasmatischen Stil- und Kompositionslehren samt ihrer literarischen Konkretionsformen im Rahmen der spätantiken und mittelalterlichen Schule untersucht werden.

163

Die Invertierung der natürlichen Reihenfolge in der Epik wird von Ryding, S.50-60, unter dem Stichwort "roman ä tiroirs" ausführlich behandelt. Dies erfolgt zunächst in Zusammenhang mit den epischen Zyklen, u.a. um Reinhard, Alexander den Großen, Wilhelm von Orange, wobei er von "cycle ä tiroirs" spricht. Bei alledem will er keinen Anhaltspunkt in der Lehre Galfreds und implizit in der rhetorischen Lehre von der transmutatio erkennen. 164 Das bisher bereits mehrfach erwähnte Epos Architrenius erscheint als ein ästhetisch sehr gelungener Niederschlag einer solchen Mosaikarbeit. Innerhalb dieses "in kleine Einheiten zergliederten Werkes" (Schmidt S. 31) ragen die heterogenen Beschreibungen des ersten Teils und die ebenso mannigfaltig konzipierten Reden des zweiten Teils hervor; dazu ausführlich Schmidt, ebd. S. 31ff. 177

2.

Die Verfahrensweisen der gedanklich-affektischen tractatio

Im Prolog des Panegyrikos, der unter allen seinen Reden am stärksten auf die Nachwelt gewirkt hat, äußert sich Isokrates zugunsten der tractatio der überlieferten Sujets wie folgt: "Weil die Redekunst ( ) es durch ihre Natur ermöglicht, daß man sich über den gleichen Gegenstand auf vielfache Weise äußert und dabei Großes klein ( € ) macht, dem Kleinen Größe zukommen läßt, das Alte erneuert und das Neue in altertümlicher Weise zum Ausdruck bringt, so braucht man das bereits von den anderen Behandelte nicht zu meiden, sondern man soll versuchen, es besser als die Vorgänger zu machen. Die Begebenheiten der Vergangenheit sind uns als Gemeingut hinterlassen, sie aber bei passender Gelegenheit zu verwerten, sich das jeweils Angemessene auszudenken und die richtigen Worte zu treffen, ist den Einsichtsvollen eigentümlich... Man soll nicht die Erfinder jeweiliger Sachen, sondern diejenigen bewundem, die den besten Gebrauch davon gemacht haben."1 Dieser durch seine Aussagekraft so beachtenswerte Passus bringt m.E. zwei an sich antinomische Hauptgedanken in einen stichhaltigen Zusammenhang. Es geht zunächst um die unbeschränkte Macht des Wortes, die dazu befähigt, den jeweiligen Redegegenstand nach Belieben umzuwandeln. Dieser Annahme steht nun das von uns bereits erörterte Stichwort eines sowohl gedanklichen als auch stilistischen Wetteiferns mit den Initiatoren bzw. Vorbenutzern des bewährten literarischen Grundstocks gegenüber. Wir haben auch gesehen, wie sich letzteres in der horazischen Empfehlung, die publica materies wieder zu benutzen, niedergeschlagen hat, was weiterhin für die Poetologie des Mittelalters grundlegend wurde.2 In dem isokrateischen Passus geht es also zum einen um eine 'Verbesserung1 im Sinne der von uns erörterten stofflich-formalen tractatio der literarischen Vorlage; zum anderen bedeuten aber die Grundsätze: "das Kleine groß, das Große klein, das Alte neu machen " eine bis zum krassen Gegenteil führende Entstellung des Redegegenstandes im allgemeinen und der literarischen Vorlage im besonderen. Die hierbei zur Geltung kommenden Begriffe sind im folgenden als Reversionsprinzipien zu bezeichnen. Das isokrateische Verbesserungsprinzip ist in seiner Tragweite zunächst mit der folgenden Aussage des ciceronischen Crassus in De oratore I,50f. zu vergleichen: ...ei qui bene dicunt adferunt proprium, compositam orationem et ornatam et artificio quodam et expolitione distinctam...orator id, si tanquam clientis causam didicerit, dicet melius et ornatius quean ipse eius rei inventor atque artifex? Hier fällt eine zweifache Umschreibung des isokrateischen Gedankens durch Cicero auf: Zum einen wird das literarische Gemeingut auf die gerichtliche Beredsamkeit beschränkt, zum anderen betrifft die Verbesserung der jeweiligen Vorlage den Redeschmuck (ornatus) und die Gedankenverfeinerung (expolitio), wobei letztere auch noch 1

Panegyrikos, 8-10. Der Hauptgedanke begegnet auch andernorts bei Isokrates: Ad Nicoclem, 41; Antidosis, 47; dazu Burgess, S. 101; Bompaire, S. 66 und 73; Reardon, S. 91; Fuhrmann, Einführung, S. 122.

2

Vgl. Hör. A.P. V. 130.

3

Zum beachtlichen Einfluß des Isokrates, vornehmlich seines Panegyrikos, auf Cic. vgl. Weische, Cicero, S. 135f. und 165f.

178

die Tragweite der gleichnamigen Figur beim Auctor ad Herennium einbeziehen mag. Dies aber l t sich seinerseits anhand eines anderen isokrateischen Leitgedankens sinngem erg nzen: Im Ad Philippum, 85, u ert sich Isokrates, der als Urheber des Prosa-Rhythmus galt, zur gro en Bedeutung der kunstgem en Durchformung (έξεργάζεσθαι) der rohstofflichen Erstfassung eines jeden Werkes (υπογράφων).4 Demnach konnte der k nstlerische 'Bildner' entweder auch der Urheber der υπογραφή sein, also mit dem ciceronischen Begriff von rei inventor zusammenfallen, oder der Bearbeiter eines fremden Entwurfes. Hierbei kommen also weitere Aspekte der von uns im allgemeinen Sinne determinierten triadischen Synonymic von tractatio, ergasia und expolitio zum Ausdruck.5 Mit dem Verfeinerungsprinzip h ngt also die spezifisch isokrateische Bestimmung der ausgefeilten Diskursform zusammen, die sich f r die hohen Anspr che der Lekt re eignet, wobei sowohl vom Inhalt als auch von der Vortragsweise abgesehen wird. Hierher geh rt die Kontraststellung der λέξις γραφική - als Ausdruck der Schriftstellerei - und der λέξις αγωνιστική, die der forensischen Beredsamkeit eigen ist, f r die der von Cicero als pater eloquentiae anerkannte Isokrates angeblich wenig Begabung zeigte.6 Die im angef hrten Passus aus dem Panegyrikos vorangestellte Feststellung der Allmacht des Wortes klingt durchaus provokativ, zumal sie ber alle sonstigen Bekenntnisse des Isokrates zur variierenden und erneuernden tractatio, zur literarischen ποικιλία und καινότης weit hinausgeht.7 Erst bei der Er rterung der isokrateischen Enkomion-Auffassung wird sich herausstellen, inwiefern darin die gedankliche Verzerrung des Lobgegenstandes mit impliziert wird. Die absolute Macht der λόγοι hatten schon die Lehrmeister des Isokrates, die Sophisten der ersten Generation Protagoras und Gorgias, formuliert.8 Eine Beschr nkung der auf

S. auch ebd., 4,7,11; Epist. 6,7. Der gleichen Terminologie bedient sich Platon in der Politeia, 504A, wo er zwischen υπογραφή als menschlicher Leistung und τ€λ€ΐοτατη άπεργασία (vollkommenste Ausarbeitung) als transzendentem Vorgang unterscheidet. Zur erw hnten Urheber-Rolle des Isokrates vgl. Cic. De or. ΙΠ.173; Or. 174. Zur quivalenz der tractatio mit der ergasia und expolitio vgl. oben S. 49f. Vom antiken Standpunkt aus scheint kein wesentlicher Unterschied zwischen dem Bildner eines eigenen und eines fremden Hypomnemas bestanden zu haben. Bekanntlich wird das achte Buch der Historien von Thukydides f r ein vom Autor selbst angefertigtes Hypomnema gehalten. Auch die Commentarii Caesars basieren auf eigenen Aufzeichnungen. In vielen F llen formten die sich als eloquentissimi homines auszeichnenden Historiker (s. Cic. De or. 11,55, dann 57,95 und 111,36) die ihnen zugestellte rohstoffartige Vorlage durch, die u.a. von M nnern der milit rischen Praxis angefertigt worden war; dazu Norden, I, S. 94; Petzold, S. 253 und 268; Avenarius, S. 84ff, 90f. und 94-97; Stemplinger, S. 152; Leeman, Orat ratio, I, S. 168. Zu den zwei Arten der λέξις vgl. Arist. Rhet. 1413b,lff. Zum Appellativ pater eloquentiae vgl. Cic. De or. 11,10. Zur Eigenart des epideiktischen Stils vgl. Isokrates, Panathenaikos. 12; Antidosis, 147 und 183f.; Epist. 1,5,6; Dionys, De Isocr. 14,20; Cic. Or. 37-42; De or. 11,341; Polybios, Hist. X,21; dazu Buchheit, S. 28 und 173f.; Russell-Wilson, S. XXf.; Ros, S. 20 und 23. Vgl. Panathenaikos, 4 und 246; 'Gegen die Sophisten1 16; Antidosis, 17, Ad Philippum, 27; Euagoras, 9; vgl. dazu Steidle, S. 29f. Zur sophistischen Herkunft der Auffassung des Isokrates ber die Macht der λόγοι vgl. u.a. Gercke, S. 179

Antilogien hinauslaufenden Paarungen gro /klein und alt/neu allein auf die stilistische Virtuosit t des Redek nstlers st tzt sich zwar teilweise auf antike Zeugnisse, entspricht aber weder der sophistischen Allgemeinauffassung noch der isokrateischen Grundauffassung im Panegyrikos:9 Hier geht es um gedankliches Wetteifern mit den ruhmreichen Vorg ngern bei der Aktualisierung und Dynamisierung politischer Ideen wie derjenigen des gemeinsamen Kampfes der Hellenen gegen die persischen Barbaren.10 Wie vertr gt sich nun hiermit die Annahme der rein sthetisch und subjektiv-autark erscheinenden Allmacht der Rede, die sich gleicherma en ber Natur und Konvention hinwegzusetzen vermag? Es liegt eine gewisse Ironie darin, da gerade die Dialektik der Epideixis mehr als eine Br cke zwischen der spielerischen Wertneutralisierung, wie sie von den Sophisten vertreten wurde, und dem ernsten politischen Engagement des Isokrates zu schlagen vermochte.

2.1.

Die sophistischen Reversionsprinzipien und ihre Tragweite

Den Allmachtanspruch der Rede hatte Gorgias in seinem ber hmten Prolog zu Helena ausgef hrt, wo er auf die k nigliche und wundervolle, magische Kraft besitzende Natur der von ihm bef rworteten Redekunst eingegangen war: "Der λόγος· ist ein m chtiger Monarch, der mit einem kleinsten K rper und unsichtbaren (sie!) g ttliche Sachen hervorbringt. Er kann die Furcht aufheben, den Schmerz beseitigen, Freude bewirken, Mitleid verst rken..."11 In 343ff. und 352; Buchheit, S. 31ff.; Severin Koster, Die Invektive, S. 11; Gisela Schmitz-Kahlmann, Das Beispiel der Geschichte, S. Iff. 9 So erw hnen Harpokration (Lexikon in decem oratores, S. 16 und 160) und Suidas (Lexikon, S. 371) άρχαίως und καινως im lexikalischen Sinne, wobei sie sich auf unseren Passus beziehen; dazu Georges Mathieu und Emile Br6mond, in: Isocrate, Discours, I, S. 16 Anm. 2. Die Lexikographen erw hnen aber mit Berufung auf Ephoros auch die dementsprechenden gedanklichen τρόποι, d.h. die gedankliche Anwendung dieses Begriffspaares. Demetrios, §§ 120ff., bezieht ausdr cklich "das Kleine gro machen" sowohl auf den Stil als auch auf die Denkweise. Darin stimmen mit ihm mehr oder weniger explizit die anderen weiterhin anzuf hrenden Belege Uberein. 10 Vgl. u.a. Mathieu, Les ide"es politiques d'Isocrate, S. 69-75. 11 "Vgl. Helena, 8 in der bersetzung von Immisch, in: Gorgias, Helena, S. 23. Der gorgianische Gedanke wird hier von Platon in Philebos, 58a und Gorgias, 452e wiederaufgenommen; dazu Immisch, ebd., S. 23ff.; Avenarius, S. 66; Buchheit, S. 31f. Mit der sophistischen W rdigung der Macht des Wortes h ngt m.E. die gewisserma en verwirrende Darstellung der δύναμις als Merkmal des epideiktischen Genus durch Aristoteles zusammen: "der Zuschauer urteilt ber die δΰναμις des Redners" (Rhet. 1358b,6). Hier ber geben am besten Aufkl rung zun chst Gorgias, Helena, 14: ή fc του λόγου δΰναμ if, wo die magische Kraft der Rede wiederum behauptet wird, und dar ber hinaus der folgende quintilianische Passus: est igitur frequentissimus finis 'rhetoricen esse vim persuadendi...quae res ne quid adferat ambiguitatis, vim dico βύναμιν (11,15,3. Darauf l uft brigens die Erkl rung der βιίναμις durch den fr hbyzantinischen Anon. Comm. in Rhet. Arist. (S. 10,11-35) hinaus: Es ginge um die "demosthenische" F higkeit, die M cke dem L wen gleich, den Winter angenehmer als den Sommer und die Fliege als lobenswert hinzustellen. 180

dem bei Platon, Phaidros, 267a, vorliegenden Kontext erscheinen die gegenteiligen, paarweise aufgef hrten Reversionsprinzipien als Hauptbestandteile der sophistischen Auffassung von der Redekunst: "Wir wollen Teisias und Gorgias beiseite lassen, die denken, da die wahrscheinlichen Sachen mehr als die wahren zu sch tzen seien, und durch die Macht des Wortes erreichen, die gro en Dinge als klein, die Alten als neu und umgekehrt hinzustellen; auch haben sie entdeckt, wie man ber alles eine b ndige oder eine ma los lange Rede halten kann." Hier f llt zun chst der Zusammenhang der zwei Begriffspaare mit dem Prinzip der rhetorischen Wahrheitsmanipulation auf. So impliziert dieser Kontext das sophistische Virtuosit tspostulat: "die schw chere Sache zur st rkeren machen "(TOI/ ηττω λόγον κρ€ΐττω ποιεΐν ) noch deutlicher als der isokrateische Passus. Das Alternativspiel der These und Antithese ber jeden beliebigen Gegenstand konstituiert das Kernst ck der sophistischen Rhetorik, wie es uns durch verschiedene, oft feindlich gesinnte Quellen seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. bezeugt wird, in denen von den δισσοι λόγοι, d.h. von den eristisch ausgedachten Antilogien ber den gleichen Gegenstand die Rede ist. Dieser relativierenden Denkweise zufolge, die die Grenze zwischen Ernst und Spiel vors tzlich verwischen l t, geh rt wohl das Kleine gro und das Gro e klein machen mit der Vertauschung des Sch nen und des Sch ndlichen, Gerechten und Ungerechten, Wahren und Unwahren zusammen.12 Es handelt sich hier im Grunde um den rhetorischen Ausdruck eines 'Denkens in Alternativen', dessen Grundlage letzlich in der heraklitischen Dialektik zu suchen ist.13 Im platonischen Passus werden au erdem die Vorg nge von dilatatio und abbreviatio in gleichem Atemzug mit den Reversionsprinzipien erw hnt, was uns ber die Zusammengeh rigkeit der zwei Aspekte in der Auffassung der Sophisten eindeutig unterrichtet.14 In der von der Wiedergeburtsvorstellung des antik-sophistischen Geistes gepr gten rhetorischen Theorie und Praxis der Sp tantike begegnet erwartungsgem h ufig die Wiederaufnahme, manchmal sogar die Steigerung dieser Reversionsprinzipien.15 Nicht von ungef hr 12

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Vgl. Dissoi Logoi, l,Iff., S. 150ff.; Euripides, Antiope, fr. 29; Aristophanes, Nubes, V. 113ff., mit dem Rededuell άε$"Αδικος und Δίκαιος· Λόγος·; Arist. Rhet. 1402a,24; Cic. Brut. 8; Sextus Empiricus, Adv. gramm. 11,47; Aulus Gellius, V,3,7; dazu Stemplinger, S. 127; Sandys, S. 47; Rudolf Rauchenstein, in: Isokrates, Ausgew hlte Reden, S. 35f.; Burgess, S. 94; Peter, I, S. 84f.; Buchheit, S. 31; SchmitzKahlmann, S. Iff.; Gercke, S. 352; Avenarius, S. 66; Kennedy, Classical Rhetoric, S. 31; von Moos, Geschichte als Topik, S. 238ff. Dazu von Moos, ebd., S. 121ff., in Zusammenhang mit Johannes von Salisbury, Metalogicon, III,10,161f. Zu Heraklit als Vorbild des Manierismus und, Andre" Breton zufolge, "Urahn des Surrealismus" vgl. Hocke, S. 13. Vgl. dazu den Kommentar Radermachers, in: Artium Scriptores, S. 46, wo er auf weitere Stellen im platonischen Sophistes, 2S9d und auch in der Rhetorik Philodems (1,235,5) aufmerksam macht. S. auch Weische, Rhetorik und Philosophie, S. 26f. Vgl. u.a. Longinus, Techne rhet., S. 182; Hermog. Id.. S. 381; Ps.-Plutarchos, Isokrates, 838c; Julianus, Panegyrikos, 1; Fronto bei Volkmann, S. 318. Zu diesem Zusammenhang bei den sp tantiken Rhetoren vgl. Rohde, Der griech. Roman, S. 348; Stemplinger, S. 128 und Weische, ebd. S. 30.

181

sieht ausgerechnet Apuleius darin die Quintessenz der Redekunst. Der vielleicht typischste Vertreter des lateinischen Manierismus in der Spätantike übernimmt dabei offenbar den platonischen Passus über Gorgias und Teisias und wertet ihn seiner Gesinnung entsprechend wie folgt auf: Oratoris excellentis est lota anguste, angusta late, vulgata decenter, nova usitate, usitaia nove proferre, extenuare magna, maxima e minimis posse efficere aliaque id genus plurima (De dogm. Platonis III, S. 262).16 In einem Brief an seinen ehemaligen Lehrer Libanios schreibt Basilius der Große folgendes, das offenbar eine weitere Paraphrase des platonischen Passus im Phaidros darstellt: "Was würde nun ein Sophist nicht sagen, vor allem einer, dessen Kunst nach allgemeiner Erkenntnis darin besteht, daß er nach seinem Belieben die großen Dinge klein macht und den kleinen Dingen Größe zuschreibt. Damit meine ich gerade die Kunst, die Du uns damals vor Augen geführt hast" (Epist.. 339,Iff.). Im vorliegenden Kontext äußert der Kirchenvater eindeutig seine Bewunderung für die früher zur Schau gestellte des sophista magister, der im Alter den Bagatellen immer noch eine imponierende Größe zuzuweisen vermochte. Sein Freund, Gregor von Nazianz, war auch ein solcher Virtuose der Beredsamkeit. Gelegentlich äußerte sich auch Libanios im ähnlichen Sinne über die Beschaffenheit des Redners, wobei er diesem die Wahrheitsmanipulation als eine Selbstverständlichkeit unterstellte.17 Die gedanklich-affektische Verzerrung bzw. Reversion des jeweiligen Redegegenstandes kennzeichnet nun die Epideiktik, die im engeren Sinne mit Lausberg (§ 239) als eine "exhibitionistisch aufgefaßte Ausübung der Redekunst" zu definieren ist. Hierbei ist die subjektive Steigerung oder Herabsetzung des jeweils gegebenen Gegenstandes wesentlich, während die stoffliche Erweiterung, Kürzung oder die 'Revolutionierung' dieses Gegenstandes nur sekundär mitwirken dürfen.18 Mit der Reversion des Großen ins Kleine und des Alten ins Neue hängt paradigmatisch die Verflechtung bzw. die Umkehrung des Scherzes und des Ernstes zusammen, die wir hier nur flüchtig erwähnen können.19 Cicero zufolge mildert die hilaritas, der risus überhaupt, die tristitia ac severitas des Redegegenstandes (De or. III.236), so daß der 16

Norden, I, S. 602f., hält Apuleius für einen Vertreter der "extrem modernen Richtung", der sich als Nachkomme des Hippias gefühlt habe. Viel später begegnen wir bei Aquila Romanus einer Formulierung, die möglicherweise auf Apuleius zurückgeht: Figurandarum sententiarum et elocutionum proprium oratoris munus est. Hoc enim genere etparva extollit et angusta dilatat (S. 22). 17 Vgl. Libanios, Progymnasma 5 (bei Stemplinger, S. 128 Anm. 3): "Wenn ich Redner sage, meine ich den Mann, der imstande ist, die großen Dinge klein zu zeigen und die Kleinen groß, wie auch das Ungerechte als recht zu beweisen und umgekehrt mit den rechten Dingen zu verfahren". Auf ganz ähnliche Weise bezeichnet auch Sextus Empiricus das Tun der Rhetorik (Adv. g ramm. 11,47). Im ganzen zweiten Buch dieses Werkes, das der Polemik gegen den Anspruch der Rhetorik, eine zu sein, gewidmet ist, bezieht sich Sextus oft wörtlich auf platonische Argumente aus Phaidros und Gorgias. 1 & Zu dieser subjektiven Dimension der Epideiktik vgl.Volkmann, S. 322. 19 Burgess, S. 102, schreibt Gorgias auch das Alternativspiel zu, das darin bestehe, "in answering of jest with earnest and earnest with jest", allerdings, ohne dies zu belegen. Dazu Ernst Kemmer, Die polare Ausdrucksweise, S.lSSff; Curtius, ELLM, S. 419.

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Gerichtsredner oftmals odiosas res saepe, quas argumentis dilui non facile est, ioco risuque dissolvit (ebd.)· Julius Caesar Strabo, der witzigste Mann seiner Zeit, werde deshalb bewundert, weil er auf eine einzigartige Weise res...(ragicas paene cornice, tristis remisse, severas hilare...tractavit..., wobei er den Charme der Bühne in die forensische Rede hineingebracht habe (ebd., 111,30). Dies hat seine Entsprechung bei Horaz zunächst in dessen Feststellung, daß ...ridiculum acri/fortius et melius magnas plerumque secat res (Satira I,10,22f.). Im gleichen Gedicht (V. 19f.) gibt er außerdem an, daß dem Redner, dem Dichter wie auch dem urbanus homo im allgemeinen die Alternanz von sermo tristis und iocosus gemeinsam sei.20 Das andere Begriffspaar, das Alte neu machen, also die Aktualisierung, und das Neue alt machen, die Archaisierung, impliziert darüber hinaus ein räumliches Pendant, nämlich die Verlegung des Nahestehenden in die Ferne und des Fernliegenden in die Nähe.21 Ein eindeutiger Niederschlag davon begegnet erstmals in dem sowohl von den Sophisten und von Isokrates als auch von den Sokratikern Platon und Antisthenes betriebenen Fingieren von Mythen und Utopien unterschiedlichsten Inhalts und Zwecks. Die von den Sophisten Polykrates und Gorgias als bloße usus ingenii ausgedachten Busiris und Helena werden von Isokrates zum Anlaß genommen, seine Ideen vom idealen Monarchen und Gesetzgeber bzw. von der panhellenischen Allianz gegen die Barbaren in altertümlichem Gewand aufzutischen.22 Aktualisierung bzw. Rationalisierung kennzeichnen den 'Herakles am Scheideweg' des Prodikos, den Atlantis-, Eros-, Hades-, Ermythos bei Platon, später den euhemeristischen Mythos. Hiervon leitet sich die im Laufe der Zeit zunehmende Vorliebe der hellenistischen und römischen Historiker für Mytheneinlagen ab.23 Ausschlaggebend dürfte zunächst das Beispiel des Isokrates-Jüngers Theopompos gewesen sein, der innumerabiles fabulae in seinen 20

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Zur Mischung von Ernst und Spiel in der Gerichtsrede vgl. Fuhrmann, Fiktion im römischen Recht, S. 156, mit weiterer Bibliographie. Zur Horazstelle vgl. auch Kießling, in: Hör., Satiren, S. 161. Wir haben bereits gesehen, wie Hör. in der A.P. 89ff. und 23 Iff. die Mischung des Tragischen mit dem Komödienhaften bzw. mit dem Satyrspiel gerügt hat. Zur Funktion des Lächerlichen in der Redekunst vgl. Martin, S. 139 und 145, und Leeman, in: M. Tüll. Cic., De or., S. 183-212, in bezug auf die Ausführung der Theorie und Praxis des risus bei Cic. De or. 11,248-291. Zur Beziehung des Lächerlichen zum Psogos vgl. Koster, S. 7f. Das Altemativspiel neu/alt und alt/neu, wie es von dem manieristischen Dichter Marino befürwortet ist: dando nuova forma alle cose vecchie o vestendo di vecchia maniera le cose nuove (Epist. 1,259), führt H. Friedrich, Silvae, S. 41, direkt auf den platonischen Passus aus Phaidros, 267'a zurück. Dazu Mathieu, S. 44; Sykutris, S. 33f.; Buchheit, S. 46f., 52f. und 62f. Rauchenstein zieht in seinem Kommentar zum erörterten isokrateischen Passus aus dem Panegyrikos (S. 35) eine platonische Stelle aus Hippias motor, 286b heran, wo sich der Namensträger des Dialogs rühmt, anhand des alten Dichtungsstoffes eine Epideixis verfaßt zu haben, in der Nestor nach der Einnahme Trojas Neoptolemos "eine Menge rechtmäßiger und durchaus schöner Sachen" beibringe. Es handelt sich dabei um einen Vorfahren der späteren deklamatorischen Suasoria. Zu den platonischen Mythen vgl. u.a. P. Friedländer, Platon, I, S. 182-221 und 300ff.; Russell-Wilson, in: Menander, S. XIV. Zur Mytheneinlage in den Geschichts- und Redewerken vgl. Cic. Or. 65; Ps.-Dionys, Techne rhet., S. 275,3; dazu Kroll, in: Cic., Or. S. 67.Vgl. außerdem die Aufzählung bekanntester Mytheneinlagen bei Platon, Theopompos, Herodotos und Thukydides durch Theon, S. 66,17-67,11. 183

Philippika verflochten haben soll.24 Darunter figuriert die Darstellung des Sagenlandes Meropis, die gattungsgemäß mit dem Atlantismythos Platons und die Fiktion von Panchaia des Euchemeros zusammenhängt. Die romanhaften Alexanderhistoriker gingen bekanntlich weit über die bloße Mytheneinlage hinaus, indem sie die Mythisierung des mazedonischen Welteroberers, seine achilleische, dionysische, herakleische Wandlung betrieben haben. Hier tritt am deutlichsten das dialektische Zusammenspiel der erwähnten räumlichen und zeiüichen Kategorien zutage: Zum einen wird das aktuell Politische ins Mythische projiziert, wobei die Sage selbst reaktualisiert wird; zum anderen rücken Indien, das Land der Skythen oder Äthiopien näher, sie werden sozusagen greifbar.25 Dies begegnet in verschiedenen Epen wie Argonautica, Dionysiaka wie auch in Romanen der hellenistisch-römischen Zeit, beispielsweise in der Vita Apollonii von Tyana oder in den Aethiopica. Eine ebenfalls aktualisierende Umbiegung des Alten bedeutete im Mittelalter die fortgesetzte tractatio antiker Stoffe, und zwar an erster Stelle der Alexander- und Trojastoffe in Epen, später in Romanen. Noch wichtiger als diese war die während des ganzen Mittelalters in den Heiligenviten und in der Exempelliteratur erfolgende Aktualisierung biblischer und hagiographischer Themen, wozu sich in der Regel die Hervorhebung des Dargestellten gesellte.26 Alle diese so weit führenden Implikationen des ursprünglich sophistisch-isokrateisch formulierten Zusammenspiels zwischen hie und /Wie, hoc und illo tempore können hier nicht im einzelnen verfolgt werden. Sie sind lediglich als Begleiterscheinungen der uns in erster Linie beschäftigenden Momente der vergrößernden und verkleinernden Distorsion literarischer Vorlagen gelegentlich aufzugreifen.

2.2.

Inventorische und elocutionelle Grundlagen der Reversion

Die Reversionsprinzipien, wie diese angeblich von Gorgias, dann von Isokrates im Panegyrikos formuliert wurden, gehören, wie bereits angedeutet, mit der Strategie der epideiktischen Rede zusammen, die zunächst von Anaximenes, Aristoteles, dann erst von den späteren Schulrhetorikern theoretisiert wurde.27 Der zu den Sophisten der zweiten Generation zählende Anaximenes, der mutmaßliche Verfasser der sogenannten Rhetorica ad Alexandrum, konkretisiert das, was in der knappen Formulierung von Isokrates und Platon allgemein anwendbar erschien: "Die Gattung der Lobrede besteht in der Hervorhebung ( ) 24

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Vgl. Cic. Leg. 1,5, der Um in diesem Zusammenhang im gleichen Atemzuge mit Herodotos erwähnt. Vgl. auch Theon, S. 80,27-81,3; Dionys, De Thuc. 7. Dazu im allgemeinen Erwin Mederer, Die Alexanderlegenden; Fritz Taeger, Charisma, I, S. 191-208; William W. Tara, I, S. 118, 144, 230-248; Ludwig Bieler, Oelos, II, S. 24; Reitzenstein, S. 12. Vgl. Delehaye, Les passions, S. 219ff. und 260ff.; ders., Les legendes, S. 57-100; Frantisek Graus, Volk, Herrscher und Heiliger, S. 60-120; von Moos, Geschichte als Topik, S. 81-113. Zur Zusammengehörigkeit der hellenistischen und spätantiken Epideiktik mit der anaximenischen Lehre vgl. Burgess, S. 94ff. und 104ff.; Buchheit, S. 208-215.

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r hmlicher Absichten, Handlungen und Reden und in der Hinzuerfindung (συνοικ€ίωσιςappropriatio) anderer, die gar nicht vorhanden sind. Die Tadelrede ist hingegen die Unterdr ckung (ταπίίνωσις) der r hmlichen Eigenschaften und die Hervorhebung (αϋξησις) der ruhmlosen".28 Ein viertes Verfahren, die παράλειψις-praeteritio, bedeutet in der Lobrede das Verschweigen der Schatten, in der Tadelrede hingegen der Lichtseiten des Gelobten.29 Die hellenistische und die sp tantike Lehre beziehen ausdr cklich das gegenteilige Begriffspaar das Kleine gro und das Gro e klein machen in die Verfahrensweisen der αϋξησι? bzw. ταπ€ΐνωσις ein, die sowohl in der Lob- als auch in der Tadelrede als jeweils zusammenwirkende Momente gedacht werden. Die Hervorhebung der Eigenschaften des Gepriesenen, einschlie lich derjenigen Leistungen, die objektiv gesehen belanglos oder sogar l cherlich sind, d rfe bis ins Hyperbolische getrieben werden: Die geringen Erfolge eines Feldherrn seien als gro e Leistungen hinzustellen, und auf hnliche Weise sei eine M cke zum L wen zu machen. Die Ameise soll wegen ihrer unerm dlichen T tigkeit als unegeheuer flei ig dargestellt werden. Unzertrennlich mit der auxesis des Positiven ist das argumentativ-illustrative Verfahren der synkrisis verbunden, wobei die Modalit t a simili, vor allem aber die a minore ad maius und α contrario herangezogen werden. Die Hervorhebung des Positiven wird nun zwangsl ufig durch das Verschweigen (παράλ€ΐφις) der Unzul nglichkeiten (ελαττώματα), gegebenenfalls auch der gr ten Verbrechen oder durch deren Umdeutung in Vorz ge des Lobgegenstandes (€υφημία) erg nzt. Das B se sei im allgemeinen als das Gute, das Ungerechte als das Gerechte vorzuf hren. Die Ermordung des Kleitos durch Alexander, seine Orgien und die Aufnahme barbarischer Sitten seien zu verschweigen, w hrend der von Paris begangene Ehebruch bei der Entf hrung Helenas umgedeutet werden soll. In der Tadelrede komme das Umgekehrte zustande.30 In dem

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Vgl. Rhet. ad Alex. 1425b,36ff. und 1438b,6. Ich habe provisorisch τα ένδοξα und τα άδοξα mit "r hmlich" bzw. "r hmlos" bersetzt, wobei es sich eigentlich um "das Gute und Positive" bzw. "das Schlechte und Negative" handelt. Anschlie end definiert Anaximenes das "R hmlich-Lobenswerte" (το έπαικτόν) anhand jener capitulafinalia der gel ufigen Moral, wie des Sch nen, Gerechten, Gesetzm igen, N tzlichen usw.; dazu Buchheit, S. 212. Endoxa und adoxa beziehen sich auf die Vertretbarkeitsrangstufen der Redegegenst nde; s. unten S. 198ff. Die napa^enjiif-praeteritio hat eigentlich, wie Ernesti, S. 245, gezeigt hat, zwei unterschiedliche Bedeutungen: Zum einen bezeichnet man hiermit das tats chliche bergehen der Peinlichkeiten (Anaximenes, 1438b,6; Cic., Or. 137; Ps.-Aristeides, S. 505,20ff.; Hermog., Id. S. 374); zum anderen bedeutet sie "die Kundgabe der Auslassung gewisser Dinge" (Lausberg, § 882), was manchmal ironisch gemeint wird, so da man auf diese Dinge noch aufmerksamer gemacht wird; vgl. u.a. Aquila Romanus, 8, S. 24f., und der Auct. ad Her. IV.37, der diese Figur occultatio nennt; dazu Ernesti, ebd.; Kroll, in: Cic. Or.,S. 123; Burgess. S. 94. Vgl. Isokrates, Busiris, 4; Arist. Rhet. 1367a,33-1368a,29; Quint. 111,7,25; Demetrios, § 122; Ps.Aristeides, Techne rhet., S. 505,11-506,8; Nikolaus, Prog. S. 52,17-53,19; Anon. Comm. in Arist, Rhet. S. 10,25f.; Emporius, Praec. dem. mat. S. 567ff.; dazu Burgess, S. 94; Volkmann, S. 322; Ernesti, S. 332; Martin, S. 293. Zur euphemia s. unten Anm. 72. 185

auf eine panegyrische Vorlage zurückzuführenden Alexanderroman sind alle erwähnten Negativzüge tatsächlich weggelassen. Das Hinzuerfinden ( ) von Vorzügen bzw. Defekten, das ebenfalls von Aristoteles befürwortet wird (Rhet .1367b,24), fällt mit der adiectio, d.h. dilatatio material, zusammen, während deren Verschweigen ( € ) mit der detractio, d.h. abbreviatio materiae, koinzidiert. Das sind im Grunde technische Richtlinien, die für jede beliebige epideiktische Rede kennzeichnend sind. Auf der Ebene der elocutio betrifft die gedanklich-affektische Reversion hauptsächlich die Funktion jener Tropen, die entweder eine gewaltige und dabei offensichtliche oder aber eine kaschierte, jedoch nicht weniger verzerrende Änderung des jeweiligen Gegenstandes bewirken. Zur ersteren Kategorie gehört die Hyperbel, zur letzteren die Ironie. In einem oben bereits erörterten Passus bei Quintilian nimmt das "Vergrößern des Kleinen" seine Stelle innerhalb einer elliptischen Aufzählung der stofflich-formalen und gedanklichaffektischen Mittel der tractatio ein: Illud virtutis indicium estfundere quae natura contracta sunt, augereparva, varietatem similibus, voluptatem expositis dare, bene dicere multa depaucis (X,S,11). Das augere parva wird von ihm andernorts anhand der Lehre vom Tropus Hyperbel als "kühnem Schmuckmittel" näher bestimmt. Die Hyperbel wertet er positiv, solange diese sich innerhalb des ihr eigentümlichen naturalis modus bewegt und nicht über die Grenzen des prepon hinausschreitet. Dabei erfolge die Hyperbel sowohl als vergrößerndes als auch als verkleinerndes Verfahren: ...est haec decens veri superiectio: virtus eius ex diverse par, augendi atque minuendi (VIII,6,67).31 Sobald aber sie über die Glaubwürdigkeitsschwelle maßlos hinaussehe, sei sie als der schnellste Weg zu betrachten, der zur kakozeüa, also zum verpönten Manierismus führe.32 Das vom spätantiken Kommentator der aristotelischen 'Rhetorik' angeführte Beispiel für die Allmacht der Rede ( ·) "eine Mücke zum Löwen machen" würde Quintilian seiner Auffassung nach entweder als eine witzige Übertreibung im Sinne der urbanitas, oder ganz im Gegenteil als Merkmal der geistigen Stumpfsinnigkeit (stultitia) einstufen.33 In der maßlosen Hyperbolik findet weiterhin das von Apuleius befürwortete maxima e minimis efficere seinen

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1 Das prepon wird in diesem Zusammenhang mit mensura, modus wiedergegeben. Die Hyperbel wird ebd.,Vm,6,67-76, ausführlich erörtert Mit der quintilianischen Bestimmung ist die viel knappere supertatioLehre bei Cic. De or. .203 und beimAucf. ad Her. IV.44, zu vergleichen; dazu auch Volkmann, S. 439; Calboli, Anm. 202, S. 386. 32 Sed huius quoque rei servetur mensura quaedam, quamvis enim est omnis hyperbole ultra fidem, non tarnen esse debet ultra modum. nee alia via magis in cacozelian itur. Das nicht zu Überschreitende Maß an Glaubwürdigkeit (ultra fidem) bestimmt Quint lediglich vom rein gerichtsrhetorischen Standpunkt her: Es dürfe keine auf Betrug hinauslaufende Lüge sein (ebd., VIII.6,74). Vgl. Volkmann, S. 439f.; Lausberg, § 909. 33 Die obere Grenze der Hyberbolik führe in die Lächerlichkeit, die nun zweierlei Veranlassung hat: pervenit haec res frequentissime ad risum: qui si captatus est, urbanitas, sin aliter, stultitiae nomen adsequitur (VIII,6,74). Das eine kommt also einer freiwilligen, das andere einer unfreiwilligen Komik gleich. Seinerseits räumte Demetrios ein, daß das Thersites-Enkomion als Scherz zuzulassen sei, sonst solle man bei der Anwendung der Hyperbel immer Rücksicht auf das prepon nehmen.

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Ausdruck.34 Nach Demetrios ist eine derartige Umkehrung keine Verletzung des prepon, falls sie "aus Notwendigkeit" erfolge.35 Das Gegenteil der Hyperbel, nämlich die gewaltige Verkleinerung des Gegenstandes, die tapeinosis bzw. diminutio genannt wird, bezeichnet Quintilian an anderer Stelle (VIII,3,48)und zwar im Zusammenhang mit den als stilistischen vitia geltenden elleipsis, kakemphaton, (Verunstaltung) pleonasmos usw. (VIII,3,3-60)- als ein humilitaiis vitium, wodurch "die Größe und Würde des Gegenstandes herabgesetzt werde." Implizite wird die tapeinosis von der als virtus anerkannten maßvollen Verkleinerung (man würde sagen: mediocria e magnis) auseinandergehalten.36 Als Beispiel für die erstere bietet er das dichterische Syntagma: "Felsig ist die Warze droben auf des Berges höchstem Scheitel".37 Anschließend rügt er das der tapeinosis entgegengesetzte vitium, das darin bestehe, den kleinen Dingen Namen zu geben, die ihr Maß übertreffen; dazu zählt er" den Vatermörder einen Schuft nennen", was eigentlich ein Euphemismus ist. Im vorletzten Fall geht es aber um einen durch unangemessene Wortwahl bewirkten Stilbruch. Griechische Theoretiker, an erster Stelle Ps.-Longinus, 34,6 und 38,6, bezeichnen den als eine gesteigerte Art der Ironie aufzufassenden ebenfalls als tapeinosis, was auf die fließenden Grenzen zwischen den zwei Klassen der Tropen hinweist.38 Die Würdigung einer mannigfaltigen Umbiegung, die auch inventorische Aspekte mit einschließt, begegnet bei Galfredus in der Poetria nova bei der Aufzählung der Leistungen, die einer virtuos-manieristischen (quasi quaedam praestigiatrix), von kunstgerechter Anordnung gekennzeichneten Dichtung eigentümlich sein sollen: Etfacit utfiat res postera prima, fittura/ Praesens, transversa directa, remota propinqua;/ Rustica sie fiunt urbana, vetusta novella/ Publica privata, nigra Candida, vilia cara (Poetria nova, V. 121ff.). Das Paar postera prima, futura praesens könnte sich zum einen auf die kunstgerechte Anordnung beziehen, zum anderen dürfte es, wenn wir es buchstäblich nehmen, auf Prophezeiungen hinweisen. Transversa directa/remota propinqua könnte man auf die veranschaulichende, d.h. gedanklich-affektische Potenzierung einer Vorlage, aber auch auf die als Metapher zu verstehende collatio in occulto im Sinne des oben, S. 142, erörterten Passus aus der Poetria nova, V. 247ff., beziehen. Darüber hinaus dürfte vor allem das Syntagma remota propinqua als Heranziehung des Fernliegenden in die unmittelbare, vertraute Nähe verstanden werden. Rustica...urbana dürfte seine Entsprechung im vulgata decenter bei Apuleius (De dogm. Platonis, III.S. 262) haben

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Im erwähnten Kontext, VIII,6,70ff., führt Quint, u.a. den bei Cic. vorliegenden Vergleich des Antonius, dann des Verres mit Charybdis an, wobei dieses Vergleichsmotiv aus Pindar entnommen zu sein scheint Vgl. das von Demetrios (§ 120) angeführte Beispiel für "das Kleine groß machen": "Die geringen Erfolge eines Feldherra seien als große Leistungen hervorzuheben". Demetrios zufolge ist dies keine Verletzung des prepon, da es um eine ernste, bedeutungsvolle Angelegenheit geht (123). Seit Isokrates galt die Manipulation der historischen Wahrheit durch den Panegyriker als eine feste Konvention; s. unten S. 19Sff. Die tapeinosis dürfte auf das sophistisch-isokrateische Syntagma raneiva itoielv zurückgehen; vgl. dazu Ernesti, S. 348. Vgl.VIII,3,48 in der Übersetzung H. Rahns, in: M.F. Quintilianus, I. Teil, S. 171. Dazu Ernesti, S. 83, der auch weitere Belege, darunter aus Phoibammon, anfuhrt 187

und darüber hinaus in der innerhalb der Grenzen der urbanitas bleibenden Hyperbel im Sinne Quintilians, zumal die maßlose Hyperbel von diesem auch als eine vulgäre Ausdrucksweise(vu/go quoque et inter ineruditos et apud rusticos) disqualifiziert wird (VIII,6,75f.).39 Das vetusta novella fällt mit dem nova usitate, usitata nove bei Apuleius zusammen, wobei sich beides als aktualisierende Umgestaltung des Alten im Sinne des sophistischen Reversionsprinzips interpretieren läßt. Das publica/privata weist zweifelsohne auf das horazische tractatioPrinzip, das von Galfredus an anderer Stelle ausgeführt wird (Documentum, 11,132, S. 309). Das nigra Candida, vilia cara dürfte auf eine neuartige und dichterische Art das gleiche verkünden wie das Kleine groß machen und dabei mit dem von Quintilian verpönten Gegenteil der Verkleinerung:parvw dare excedentia modum nomina (VIII,3,48) zusammenfallen. Dies ist im Grunde nichts anderes als die ästhetische Aufwertung der humilia. Das Große klein machen also die tapeinosis, die in diesem Zusammenhang nicht mehr erwähnt wird, gilt Galfredus als Unterart der Hyperbel und wird bei den Mitteln des ornatus difficilis untergebracht. Sie wird dort definiert als humiliatio magnae rei (Documentum, 11,32, S. 290 und 43, S. 292), was mit dem Wortlaut, jedoch nicht mit dem Geist Quintilians übereinstimmt, zumal Galfredus dieses vitium als ein durchaus legitimes Schmuckmittel würdigt, das seiner Wirkung nach auch der Synekdoche zugeordnet wird.40 Die diminutio faßt Galfredus als eine gemäßigte Form der Verkleinerung auf: Et rem diminuit verbo, sed more modesto (Poetria nova, V. 1236f.). Dies scheint von Johannes von Garlandia aufgegriffen und verdeutlicht worden zu sein, da dieser in der diminutio eine Bescheidenheitsfigur sieht: Diminutio est cum aliquis se humiliat (VI,329ff.). Das beigelegte Beispiel ist eine offensichtlich einem Werkprolog entnommene Bescheidenheitsfloskel. Die Hyperbel faßt also Galfredus einer Tradition zufolge, die ihm sowohl durch Quintilian als auch durch Beda vertraut sein konnte, als bivalenten Tropus der Hervorhebung und Herabsetzung der Materie wie folgt auf: Miriflce laudes minuit modus iste vel äuget;/Et placet excessus, quem laudat et auris et usus (Poetria nova, V. 1020f.).41 Bemerkenswert ist dabei das Beziehen der Hyperbel auf die Lobrede. Das mirifice schwächt Galfredus allerdings durch die an Quintilian erinnernde Warnung vor der exzessiven Hyperbolisierung ab, wobei er vom Begriff aptum Gebrauch macht: Currat yperbolicus, sed non discurrat inepte/Sermo: refrenet eum ratio placeatque modestus/Finis, ut excessus nee mens nee abhorreat auris (ebd., V. 101316).

·" Die von Curry Woods veröffentlichten Scholien der Poetria nova bieten keine Interpretation dieses begrifflich so dichten Passus. Lediglich der V. 121 wird wie folgt erläutert: Ludit- commendat subtilitatem arris et diät 'prestigiatrix' id est venefwa. Prestigium est quedam subtilitas magice artis... (S. 28). 4 ^ Similiter ponimus partem pro toto quando 'gurgitem', qui est pars marts, ponimus pro 'man', et estfigura quae appellatur thapinosis, id est humiliatio magnae rei. Color vero appellatur intellectio (Docum, 11,3,43). Dazu Krewitt, S. 147f., und Gallo, Poetria nova, S. 206, die diesen Kontrast zu Quintilian hervorheben. 41

Die frühmittelalterliche Stillehre hatte die tapeinosis ausdrücklich als Gegenstück der Hyperbel aufgefaßt. Vgl. Cassiodor, Expositio in Psalmos, 97, S. 590, bei Krewitt, S. 147f.

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Wohnen die Hyperbel und die tapeinosis der epideiktischen Technik des Vergr erns bzw. Verkleineras inne, so liegt die Ironie haupts chlich der euphemia, dysphemia und paraleipsis zugrunde. Die Ironie wird sowohl von Quintilian (VHI,6,55) als auch von Isidor, 11,21,41, ausdr cklich als ein der Epideiktik eigent mliches Verfahren der Umkehrung des Lobes in Tadel und andersherum aufgefa t: ...ironia fit...aut cum laudamus eum quem vituperare volumus, aut vituperamus quem laudare volumus.42 Dabei ist mit Lausberg (§ 902) zwischen "Dissimulationsironie", d.h. "Verheimlichung der eigenen Meinung" und "Simulationsironie" als "Vort uschung einer eigenen mit der Gegenpartei bereinstimmenden Meinung" zu unterscheiden. Wie noch zu sehen ist, setzt sowohl die euphemia als auch die dysphemia die Verflechtung beider Arten dieses Gedankentropus voraus, w hrend die paraleipsis, wie es Anaximenes, 1434a,25, deutlich macht, als eine Unterart der Simulationsironie aufgefa t wurde. Der Wert der verschiedenen Unterarten der Ironie wie σαρκασμός, διασυρμός, άντίφρασις, άστ€ΐσμός, χαριεντισμός, μυκτηρισμός die ebenso vielen St rkegraden jenes Tropus gleichkommen, kann hier nicht untersucht werden.

2.3.

Zur gedanklichen Reversion in der Historiographie

Es seien nun einige Aspekte angef hrt, die die Gegenwart der Reversionsprinzipien in der Historiographie, also in jener Literaturgattung veranschaulichen, die in der Nachfolge der zwei Isokrates-J nger Ephoros und Theopompos durch Epideiktik betr chtlich gepr gt wurde. So h lt Polybios den Vertretern der rhetorisch-tragischen Historiographie folgendes vor: "Auch wenn sie schlichte und einfache Themen behandeln, wollen sie nicht durch Sachlichkeit, sondern durch die F lle der geschriebenen B cher und durch ihre Vorstellungskraft als Historiker zur Geltung kommen, wobei n tig ist, die kleinen Dinge gro zu machen, das b ndig Auszudr ckende umzuschreiben und noch hinzuzuerfmden, (manche) Nebensachen und Nebenhandlungen aufzubauschen" (Hist. XXIX.12). Wie leicht festzustellen ist, erinnern diese Vorw rfe am meisten an den Wortlaut bei Platon und Apuleius, wobei die hier angedeutete Methode im Grunde die gleiche ist, die sp ter von Cicero in seinem programmatischen Brief an den Historiker Lucceius bef rwortet wurde. So forderte diesen Cicero auf, eine historia ornata der Ereignisse seines Konsulats zu verfassen, in der die leges historiae, an erster Stelle die Wahrheitsverpflichtung der Historiker au er Kraft gesetzt werden sollten.43 Es fehlt im Mittelalter nicht an theoretischen Bef rwortungen bzw. an Kritik einer durch epideiktische Verzerrung gepr gten Historic. An erster Stelle ist Otto von Freising zu erw hnen, dessen vorz gliche Ausbildung eine Vertrautheit mit dem ciceronischen Begriff von historia ornata nicht ausschlie en l t. In seinem Prolog zu Gesta Frederici schreibt Otto den 4

^ Vgl. Quint. VIII,6,55: Et laudis autem simulatione detrahere et vituperations laudare, concessum est, mit Beispielen aus Reden Cic.'s. 43 Vgl. A. Cizek, Antike Rhetoren, S. 292ff., mit weiterer Bibliographie.

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Historikern der Vergangenheit die Absicht zu, die clara facta der tapferen Männer hervorzuheben (extollere) und die obscura facta der Feiglinge entweder zu verschweigen, was fax paraleipsis gleichkommt, oder aber, falls diese ans Licht gezogen werden, dann sie als ad terrendos...mortalium mentes darzustellen. Das letztere könnte nun unter Umständen einer gewaltigen dysphemia gleichkommen. Mehrsagendes treffen wir aber in dem 1157 geschriebenen Brief des Kaisers Barbarossa an seinen Oheim an. Hier verlangt Friedrich von Otto Ähnliches wie in der Antike Cicero von Lucceius: Otto möge das von ihm verfertigte Hypomnema (...gesta...breviter compilata, S. 82, l Off.) im Sinne der Erweiterung und Vermehrung (dilatanda et multiplicanda, S. 88,27f.) auszugestalten. Dabei äußert Friedrich seine Zuversicht, Otto würde "das sehr Wenige" (tantillum hoc), das er während dieser Zeit geleistet habe, wohl lobpreisen können: quia tuum praeclarum Ingenium humilia extollere etdeparva materia multa scribere novit (S. 82,14ff.). Beziehen wir diesen Passus auf die bisher erörterte sophistisch-isokrateische Tradition, wozu auch die Aufforderung Ciceros an Lucceius gehört, so vermögen wir darin mehr wiederzuerkennen als den floskelartigen Ausdruck eines Bescheidenheitstopos: Die Reversion des Kleinen ins Große wird hier im gleichen Atemzug mit der dilatatio materiae befürwortet.44 Eine über die ciceronische Aufforderung zur epideiktischen Historiographie weit hinausgehende Tatsachenverzerrung schreibt im Spätmittelalter Ps.-Robert von Grosseteste "den meisten Historikern" zu. Bei einem Vergleich der Schreibweise von Beda und Gildas mit der Manier von Geoffrey von Monmouth über die Vergangenheit Britanniens zu berichten, stellt er das folgende fest: Quod est generale paene omnibus historicis, qui pro affectu vel levi relatu casus descnpserunt et quandoque parva magnificaverunt vel e contrario magna suppresserunt et nonnumquam non gesta sola sua imaginatione vel suspicione concepta descnpserunt veraciterque acta omiserunt.45 Der Wortlaut dieser an die "meisten Historiker" so heftig geübten Kritik weist m.E. auf das erörterte epideiktische Lehrgut des Anaximenes hin, dessen Traktat zu jener Zeit in lateinischer Übersetzung bereits zugänglich war.46 Eine derartige Herabwürdigung der Historiographie erklärt sich allem Anschein nach durch die Parteilichkeit des Ps.-Robert de Grosseteste gegen diese Gattung, wenn nicht überhaupt gegen die litterae.47 Hier fallen also parva magnificaverunt mit der bis zur Reversion führenden auxesis-augmentatio, das Syntagma 44

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Vgl. dazu Salmon, S. 84. Weder Schmale, der Herausgeber der Gesta Friderici, noch der der Beziehung zwischen Barbarossa und Otto von Freising gewidmete Aufsatz von Eberhard F. Otto, Otto von Freising und Friedrich Barbarossa, berücksichtigen diesen Aspekt. Vgl. Summa philosophiae, S. 288f; dazu von Moos, Geschichte als Topik, Anm. 295 und 492, der dies u.a. auf den Ciceronischen Passus aus Brut. 47: concession est rhetoribus ementiri in historiis bezieht. Die lateinische, Wilhelm von Moerbeke zugeschriebene Übersetzung des Anaximenes war im 13. Jh. gut bekannt; vgl. Grabmann, in: Anaximenes latinus, S. 8. Lawler, in: The Poetria Parisiana, S. 228, erwähnt ihre Benutzung durch Johannes von Garlandia. Das letztere gilt für die Einstelllung des großen viktorinischen Magisters Hugo von St Victor in der ersten Hälfte des 12. Jhs. Dieser zählt alle Dichtungsgattungen: tragoediae, comoediae, satirae usw., aber auch die fabulae und historiae zu den appendicia artium (Didascalicon .4).

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magna suppresserunt mit der tapeinosis, weiterhin non gesta...descripserunt mit der synoikeiosis-appropriatio und schlie lich acta omiserunt mit der paraleipsis-praeteritio zusammen.

2.4.

Der epideiktiscne Rahmen der gedanklich-affektischen tractatio

Die bisherige Erl uterung inventorischer und elocutioneller Aspekte, die die jeweilige Umbiegung eines Redegegenstandes kennzeichnen, hat uns jedesmal ins Gebiet der Epideiktik gef hrt. Dort scheinen die wichtigsten literarisch-technischen Gegebenheiten wie auch die psychologischen und soziologischen Rahmenbedingungen der uns hier besch ftigenden gedanklich-affektischen tractatio vorzuliegen. Durch ihre Eigenart bezieht die Epideiktik eine Mittelstellung zwischen forensischer Redekunst einerseits, Dichtung und Historiographie andererseits. Aristoteles (Rhet. 358b,l-29) grenzte das forensische Gebiet vom epideiktischen jeweils in bezug auf dessen Publikum, Handlungszeit und Redegegenstand ab. Beim forensischen Genus gehe es um die 'Richter1 im Gerichtshof oder in der politischen Versammlung, um die Vergangenheit bzw. die Zukunft. Dort werde ber Gerechtigkeit oder N tzlichkeit der Sachen geurteilt. Beim epideiktischen Genus gehe es um Zuh rer, die ber die F higkeit (δυναμις) des Redners urteilen, die feststehende, anerkannte Sch nheit oder Sch ndlichkeit des Redegegenstandes durch Lob bzw. Tadel zu amplifizieren. Die eigenliche Bezugszeit der Epideixis sei die Gegenwart; die Vergangenheit oder die Zukunft k men auch oft vor.48 Demzufolge erweist sich die forensische Rhetorik als "Sch pferin der Persuasion" (π€ΐθοϋς δημιουργός bei Platon, Gorgias, 453a), die auf einer Beweisgrundlage beruht. Anhand dieser vermag der forensische Redner sein Publikum vom 'Sein', d.h. von der Wahrheit, N tzlichkeit, Gerechtigkeit usw. der von ihm vertretenen Sache zu berzeugen, die entweder wahrscheinlich oder zweifelhaft oder gar unvertretbar erscheinen kann.49 Hingegen tritt die Epideiktik in der Hauptsache als "Sch pferin des Genusses" (δημιουργός χάριτος) auf.50 Da, wo der 48

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Zur aristotelischen Auffassung von δυναμις vgl. oben Anm. 11. Die auxesis wird von Arist. als Hauptcharakteristik der Epideixis erst bei der Ausf hrung der Eigent mlichkeiten dieses Genus angegeben (1368a,27ff.). Im knappen Kontext aus 1358b,27f. werden lediglich "das Sch ne und das H liche" als Ziel der epideiktischen Rede erw hnt Die Dreiteilung der Beredsamkeit wird u.a. von Cic. Part. or. 70, und am ausf hrlichsten von Quint. 111,3,14-17 er rtert. Zur aristotelischen Bestimmung der Epideiktik vgl. Burgess, S. 105f.; Buchheit, S. 125,8, Russell-Wilson, in: Menander, S. XlXf.; Lausberg, § 61. Vgl. die sich an die platonischen Einw nde im Gorgias anlehnende ausf hrliche Kritik des Sextus Empiricus an den verschiedenen Aspekten der persuasiven Funktion der Rhetorik: 11,2,4,62,64,75,79 und 92. Diese Bezeichnung wird in den Fragmenten des Alkidamas bezeugt Vgl. Friedrich Solmsen, Rekonstruktionen, S. 137. Die ciceronische Entsprechung lautet wie folgt: ...quod Graece έπιδεικτικόν nominator, quia quasi ad inspiciendum delectationis causa comparatum est (Or. 37). S. auch ebd., 68, 69 und 108; Part, or. 58; Quint Il.lOf; vgl. Kroll, in: Orator, S. 177. Eine aufschluBreiche Abgrenzung der Epideiktik von den forensischen Genera der Beredsamkeit bringt sp ter der Sophist Fronto zum Ausdruck, wobei er sich 191

forensische Redner Biederkeit und Schlichtheit vortäuscht, stellt der Epidektiker die volle Macht seines Intellektes, seine zur Schau.51 Wie der Dichter will dieser dabei den 'Schein1 erwecken und hiermit sein Publikum ergötzen, das sich auf die virtuose Manipulation des ihm bekannten Redegegenstandes bewußt einläßt. Der ästhetische Genuß gewinnt hier die Oberhand über das Nützliche und das Gerechte. Als erster hatte sich Gorgias zu deren Hauptaufgaben geäußert: dem Auditorium Vergnügen zu bereiten, es zu bezaubern, durch Täuschung zu entzücken. Hier liegt schon die für die Nachfolgezeit so wichtige gemeinsame Grundlage der Dichtung und Epideiktik vor.52 Die von Gorgias für die Redekunst im allgemeinen beanspruchte Ausübung einer magischen Kraft auf die Seelen der Zuhörer weist auf die Konvergenz des persuasorischen und des ästhetischen Moments hin.53 In den oben angeführten Belegen aus dem platonischen Phaidros, aus Apuleius, Libanios, Sextus Empiricus erscheint die Reversion des Kleinen bzw. des Großen im Zusammenhang mit der des Gerechten, des Wahren, des Schönen. In der Epideixis soll die Argumentation insofern eine sekundäre Rolle spielen, als der status qualitatis ihres jeweiligen Gegenstandes schon im voraus feststeht: "In den epideiktischen Reden sind die Sachen in der Regel ohne Beweis zu glauben, es sei denn daß sie unglaubwürdig oder von jemand anderem bewirkt worden sind" (Arist. Rhet. 1417b,31ff.). Ähnliches vertritt Cicero mit mehr Intransigenz, indem er angesichts der certa oder pro certis posita, die der Epideixis eigen seien, jede Argumentation ausschließt: ...quod sine ullis argumentationibus...accomodatur (Part. or. 71). Quintilian aber greift seinerseits auf die aristotelische Bestimmung zurück, indem er die Argumentation für die realitätswidrigen Sachverhalte, im besonderen für das Mythische gelten läßt (111,7,4-6). Sonst stellt er die certa allerdings auf die 'unernste1 Art der Prunkrede bezieht: in primis sectanda est suavitas. namque hoc genus orationis non capitis defendendi nee suadendae legis nee exercitus adhortandi nee inflammandae contionis scribitur, nee facetiarum et voluptatis. Ubique vero ut de re ampla et magnified loquendum, parvaeque res magnis adsimulandae comparandaeque (bei Volkmann, S. 318). 51 Die Epideiktik hat Hunger, Aspekte, S. 8., m.E. sehr treffend als "öffentliche Schaustellung des eigenen Intellekts" definiert Vgl. auch Huizinga, S. 142. Lausberg, § 239, gibt Epideixis durch "Exhibition" wieder; die Epideiktik sei als jene Art der Redekunst anzusehen, die "zur planmäßigen Exhibition übergeht". S. auch Volkmann, S.322f. Zur Semantik der bzw. des vgl. Burgess, S. 98ff. 5 2 Dazu ausführlich Adam, S. 25ff., der sich vor allem auf Helena, 10-14 und auf die Dissoi Logoi beruft. Vgl. auch Burgess, S. 92; Buchheit, S. 27f., mit weiteren Angaben von der hellenistischen Zeit an, darunter bei Dionys, Doxopater usw. 53 Vgl. den oben erwähnten platonischen Passus über Gorgias und Teisias: "Sie denken, daß die wahrscheinlichen Sachen mehr als die wahren zu schätzen seien" (Phaidros, 267a). Zur Beziehung von und vgl. Dissoi Logoi, 90,11,28 und 111,17, S. 410f.; Gorgias, Helena, 13. Zur magischen, mit der des Medizinmannes konkurrierenden Kraft des Wortes vgl. ebd., 12-15. Es sei vor allem auf die ebenfalls von Gorgias hervorgehobene Qualität des ästhetischen Illusionismus hingewiesen: "Der Betrüger ist gerechter als der Nicht-Betrügende, und der Betrogene ist klüger ( ] als der Nicht-Betrogene. Der Betrüger ist gerechter, weil er den Betrug ja im voraus ankündigt, so daß der Betrogene dadurch klüger wird, und nur der Gefühlvolle ist empfänglich für den Charme der Rede" (Plutarchos, De gloria Athen. 348c); dazu Adam, S. 25ff.

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ohne weiteres in Zusammenhang mit dem epideiktischen Genus.54 Die Argumentation spielt tats chlich eine gewisse Rolle in der Epideiktik, und zwar im Zusammenhang mit der Aufgabe der euphemia, also der Besch nigung der blen oder zweifelhaften Eigenschaften und Leistungen des Gelobten, und der dysphemla im Rahmen des Psogos.55 Als geeignetes Argumentationsverfahren in der epideiktischen Rede tritt die ratiocinatio auf, die Quintilian (VIII,4,20-25) anhand mehrerer loci er rtert.56 Der epideiktische Vortrag der Sophisten erster Generation hatte eine inhaltlich und gattungsm ig unterschiedliche Thematik, die dem Mythos, der Philosophie und der Gerichtspraxis entnommen war. Die dazugeh rigen Werke sind meistens durch spielerischen oder eristischen Geist und sthetizismus gepr gt. Mit der sophistischen Epideixis trat die erste Form des Manierismus der Gesinnung auf.57 Die Einteilung in agonale und epideiktische Beredsamkeit lag schon bei Isokrates (Antidosis, 1) vor, dem es aber haupts chlich um die noch unten zu besprechende Unterscheidung zwischen spielerischer und ernstgemeinter, weil in wichtigen Angelegenheiten beratender Epideiktik ging, f r deren U±eber er sich selbst hielt.58 Die auf hellenistische Grundlage zur ckgehende Lehre Ciceros erweitert und pr zisiert zugleich den Status der demonstrativen Rhetorik innerhalb der Literatur. Die von ihm als sophistische Rhetorik bezeichnete Epideiktik (Or. 37) setzt er aufgrund ihres hedonistischen Merkmals in Kontrast mit der als eigentlichen Beredsamkeit geltenden Rhetorik des Forums: cum sit Us propositum non perturbare animos sed placare potius, nee tarn persuadere quam delectare... (Or. 65).59 Dem agonalen Charakter der forensischen wird der friedliche und 54

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Omnia de quibus dicendum esi, aut certa sint necesse est...Certa, ut cuique est animus, laudat aut culpat (Quint. 111,4,8); dazu Buchheit, S. 125f.; Koster, S. 18. Dem Begriff certa entspricht bei Arist. der von den "anerkannten Sachen" (τα? πράξεις ομολόγουμένας, Rhet. 1368a,23ff.). Von dieser festen Lehre ausgehend spricht Menandros, § 368, vom "anerkannten Guten" (τα όμολογουμένα αγαθά} als inventorischem Gebiet ausschlie lich der Epideiktik. Im erw hnten Kontext bei Quint 111,7,4-6 handelt es sich um eine Best tigung (κατασκευή ass Unglaubhaften im Mythos. Zum Gegenst ck dieses Verfahrens bemerkt Volkmann folgendes: "Eine Widerlegung kann nur insofern vorkommen, als man das άδοξον oder άμφίδοξον durch seine Besch nigung zum Lobe verwandelt, z.B. wenn ein Lobredner des Hercules seinen Dienst bei der K nigin Omphale in Weiberkleidern und mit dem Spinnrocken zu entschuldigen sucht." Dazu bietet er die einschl gige Lehre des Sopatros (S. 320f.). Dazu Lausberg, § 405. Zur Manier des Gorgias vgl. Heinrich Gomperz, S. 47: "Es kommt ihm nicht darauf an, was bewiesen und gesagt, sondern darauf, wie es bewiesen und gesagt wird". Vgl. auch ebd., S. 16ff., die Er rterung des "epideiktischen Charakters der Deklamationen". Zur sophistischen Epideixis vgl. im allgemeinen Kennedy, The Art of Persuasion, S. 167ff.; ders.. Classical Rhetoric, S. 75; George B. Kerferd, The Sophistic Movement, S. 30ff. Zum Manierismus der Sophisten vgl. Curtius, ELLM, S. 76; H. Friedrich, Epochen, S. 599f.; Hocke, S. 13. Vgl. ebd., 3; Busiris, 9; Helena, 9; dazu Sykutris, S. 48f.; Buchheit, S. 63 und 124. Dazu Kroll, in: Cic. Or. S. 44f.; ders., Rhetorik, Sp. 1129, in bezug auf die philodemische Auffassung der Epideiktik. Zu den r m. Rhetoren vgl. Roberts, S. 34ff.

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schöngeistige der demonstrativen Rede entgegengehalten. Die gleiche Charakteristik galt in der Kaiserzeit für die durch ihren Standort und ihre Zielsetzung mit der Epideiktik eng zusammenhängenden Deklamationen: Qui delectationem parat scribit non ut vincat sed ut placeat. Omnia iiaque lenocinia conquirit: argumentations quia molestae sunt et minimum habentflons relinquit...cupit enim se approbare non causam (Seneca der Ältere, Contr. IX, Praef. l).60 Einem solchen Epideiktik-Begriff ordnet nun Cicero die auf historische Personen der fernen oder näheren Vergangenheit verfaßten Lobreden unter: ...illud tertium laudationum genus...ipsi enim Graeci magis legendi et delectationis aut hominis alicuius ornandi quam utilitatis huius forensis causa laudationes scriptitaverunt; quorum sunt libri, quibus Themistocles, Aristides, Agesilaus, Epaminondas, Philippus, Alexander aliique laudantur (De or. 11,341). Hier wird also der aristotelische wie auch der anaximenische Bezug der Epideixis auf die Gegenwart zugunsten der sophistischen und auch isokrateischen Auffassung (im Panegyrikos, 8ff.) überwunden. Lob- und Tadelreden auf mythische und historische Gestalten stellen an sich eine müßige und schöngeistige Angelegenheit dar, der die Momente der lectio und scriptio zugrunde liegen. Aus diesem Grund tritt die Epideixis als eine beliebte Spezies der literarischen, in der Schule angeeigneten Umsetzungsart derpublica materies auf.61 Andernorts bei Cicero (Or. 61-67) erhält die kunstgemäße, stofflich-stilistische und gedankliche Gestaltung die Bedeutung eines gemeinsamen Nenners für Epideiktik, Historiographie und philosophische Literatur. In der Nachfolge der Isokrates-Jünger galten die Historiker zu den eloquentissimi v/ri.62 Ebenfalls unter dem Einfluß des Isokrates, und zwar des Panegyrikos, ordnete Cicero auch die als Traktat verfaßte symbuleutische Redegattung der Epideiktik zu.63

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Seneca der Ältere gibt dies als Meinung des traditionalistisch, d.h. ciceronianisch eingestellten Rhetors Votienus Montanus wieder. Vgl. auch Contr. IX,6,12, und Quint., der sich konzilianter gegenüber einer Praxis zeigt, die er selbst in seinem Unterricht zu berücksichtigen hatte: quare declamatio...quoniam autem aliquid in se habet nonnihil sibi nitoris adsumere (11,10,12); dazu u.a. Bonner, S. 22. Menandros nennt die Deklamationen "politische Epideixeis" (tmSeifi? : 331,16ff.). Angesichts der Zusammengehörigkeit der stilistischen Verfeinerung mit der Ostentation des Inhaltes und des Vortragens als Spezifikum der epideiktischen Rede sehe ich schwerlich einen Widerspruch zwischen der aristotelischen Definition des Epideiktikon im ersten Buch der Rhet. (13S8b,l-29) und derjenigen aus dem dritten Buch (1414a,18f.), wo es sich lediglich um die schriftliche Qualität der epideiktischen Rede handelt. Auf einem solchen Widerspruch besteht Buchheit mit allem Nachdruck (vgl. S. 173). Zu diesem Zusammenhang des Inhaltlichen mit dem Stilistischen in der Epideiktik vgl. Russell und Wilson, S. XXf. Vgl. Cic. De or. 11,55: apud Graecos autem eloquentissimi homines remoti a causis forensibus...tum ad historiam scribendam maxime se applicaverunt. Vgl. ebd., 57; Quint. X,2,21; dazu Norden, I, S. 84ff.; Kroll, in: Cic. Or. S. 66f. laudationum scriptionem et historiarum talium suasionum qualem Isocrates fecit Panegyricum multique alii qui sunt nominati sophistae (Or. 37). Jedoch geht hier Cic. über den wesentlichen Unterschied hinweg, den Isokrates zwischen seiner 'ernsten' Epideiktik und der Epideiktik der von ihm disqualifizierten Sophisten feststellen wollte.

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Der quintilianische Epideiktik-Begriff geht noch weiter in die Richtung der Literarisierung, indem er zum einen die Hymnendichtung und das Heldenepos (111,7,6-19), zum anderen das mit der Ekphrasis zusammenh ngende St dte-, Landschafts- und Bautenlob und dar ber hinaus die Gelegenheitsreden aller Art (III,7,26ff.) mit einbezieht. Dabei tritt nicht mehr der stilistische, sondern ausdr cklich der thematische und sinnbezogene Standpunkt in den Vordergrund.64 Auch die speziellen, in aller Hinsicht ausf hrlicheren Epideiktik-Traktate des Ps.Dionys und des Menandros beziehen im gleichen Ausma wie Quintilian das dichterische Moment mit ein. Aus dieser bersicht ergibt sich eine dem Begriff der Epideixis als Sch pferin des sthetischen Genusses innewohnende Ambivalenz, die im folgenden st ndig vor Augen zu halten ist: Zum einen bezieht sich die Epideixis im engeren Sinne auf die F lle der Lob- und Tadelreden aller Art, zum anderen bedeutet sie eine gattungs bergreifende Haltung und zugleich eine Technik des "Sich-zur-Schau-Stellens".

2.4. l. Die 'ernste' und die 'spielerische' Epideiktik Die F lle der im engeren Sinne aufgefa ten Epideixeis teilt man einer bereits von Isokrates und Aristoteles vertretenen Konvention zufolge in eine ernste (μ€τά σπουδής) und eine unernste, spielerische Art (χωρίς· σπουδής) ein, was sich auf das oben angef hrte Gegensatzpaar Ernst/Scherz beziehen l t.65 Im ersten Fall handelt es sich um eine hervorhebende Darstellung von Gegenst nden anerkannten, positiven oder negativen Wertes zum Zwecke des Lobes oder Tadels.66 Unter den dazugeh rigen sehr unterschiedlichen Erscheinungen kommt der feierlichen Lobpreisung die weitaus gr te Bedeutung zu. Dieser Epideiktik-Typ beruht auf einem soziologisch und literar- sthetisch bestimmten Konformismus der Werte, der sich im prepon-Begnff kristallisiert.67 Auf diese Epideiktik beziehen sich die meisten isokrateischen, 64

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Die Struktur des Personenenkomions erkl rt Quint.(ni,7,10ff) nur anhand homerischer Motive aus der Iltas. Dies wird fast zu einer Regel f r die Progymnasmatiker wie auch flir Menandros. Vgl. Rhet. 1366a,29; Isokr., Helena, 11; Busiris, 9. Gorgias selbst bezeichnete seine Lobrede auf Helena als παίγνιο» (Helena,l); dazu Martin, S. 182. Vgl. au erdem die von Demetrios, § 120, getroffene Unterscheidung zwischen der "ernsten Rede" (σπουδαίος λόγος )und den Spielen (παίγνια). Vgl. im allgemeinen Fraustadt, S. 74f. und 91. Vgl. Cic. Pan. or. 72: Nan enim dubiafirmantur, sed ea quae certa out pro certis posita sunt augentur, dazu auch Quint. 111,7,6. In seinem Kommentar zum Begriff des λόγο? εκθετικός bei Aphthonios, S. 35,25, stellt Johannes Sardianos (Commentum, S. 116,17ff.) das Attribut εκθετικός hervorhebend' dem δραματικός - dramatisch' und άπαγγελτικός - erz hlerisch' wie folgt gegen ber: "Es stellt die Gr e der tugendhaften Taten und anderer Vorz ge zur Schau". Auxesis und synkrisis stellen Buchheit zufolge "das Herz der Epideiktik" dar (S. 15). Vgl. dazu auch Lana, Quintiliano, S. 165; Kennedy, Class. Rhetoric, S. 74f. Vgl. die Bestimmung des Epideiktikon bei Chai'm Perelman und Lucia Olbrechts-Tyteca: "La conception de ce genre oratoire...le fera pratiquer par ceux qui dependent les valeurs traditionelles, les valeurs 195

anaximenischen und aristotelischen Bestimmungen, dann die quintilianische Lehre, die auf hellenistisches Schulgut zurückfuhrt, ein großer Teil der progymnasmatischen Enkomion-Lehre und schließlich die technischen Traktate des Ps.-Dionys von Halikarnassos und des Menandros. Die Gegenstände der 'ernsten' Enkomiastik sind zum Teil den öffentlichen und privaten Gelegenheiten der Gegenwart entnommen, denen eine unerschöpfliche Fülle von Modalitäten innewohnen soll.68 Zum Teil sind es, wie als erster Isokrates im Prolog zu seinem Panegyrikos forderte, auch Themen d&rpublica materies.® Die Tadelrede, der Psogos, wird in diesem theoretischen Zusammenhang wohl als Gegenstück der Lobpreisung meistens knapp erwähnt, wobei man oft genug auf die dialektische Relation zwischen Loben und Tadeln eingeht.70 Dies ist u.a. an der Feststellung des Aristoteles abzulesen, daß man bei der Gestaltung des Psogos lediglich die loci des Enkomions umzukehren brauche (Rhet. 1368a,35). Das gleiche besagt die anaximenische Definition des Psogos als Gegenstück der Lobrede: "Die Tadelrede ist...die Unterdrückung der rühmlichen Eigenschaften und die Hervorhebung der ruhmlosen" (1425b,37f.).71 Die sophistische Lehre postulierte außerdem das Alternativspiel des Lobes und Tadels auf den gleichen Gegenstand, wie es u.a. von Cicero bezeugt wird: Gorgias quem singularum rerum laudes vituperationesque conscripsisse, quod iudicaret hoc oratoris esse maxitne propriutn rem augere passe laudando vituperandoque rursus qffligere (Brut. 47). Das Zusammenwirken von gleichzeitigem Verkleinern (tapeinosis) des Positiven und Vergrößern (auxesis) des Negativen kennzeichnet den Psogos als Umkehrung der Lobpreisung. Das als positiv und rühmlich Anerkannte wird durch dysphemia ins Gegenteil verkehrt oder aber durch paraleipsis ausgeblendet. Hingegen ist im Enkomion das Ruhmlose bzw. Negative nach Möglichkeit durch euphetnia umzuwerten oder zu verschweigen, wobei das Kleine groß und das Schändliche schön wird. Grundlegend für das Verfahren der euphetnia bzw. dysphemia in der Lob-und Tadelrede dürfte deren folgende Ausführung durch Aristoteles (Rhet. 1367a, 33f.) sein: "Man soll...den Vorsichtigen kaltblütig und hinterlistig, den

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admises, celles qui sont l'objet de l'oducation et non les valeurs r£volutionnaires...il y a un optimiste et Wnisseur dans l'opidictique" (La nouvelle rhotorique, S. 67); dazu auch Bompaire, S. 267, der jedoch das Gegenstück dieser Form der Epideiktik, den "Non-Konformismus" des paradoxalen Enkomions, erwähnt. Vgl. Quint. 111,4,1-4: nam si laudandi ac vituperandi officium in pane tertia ponimus, in quo genere versari videmur cum: querimur, consolamur, mitigamus, concitamus, terremus, confirmamus, praecipimus, obscure dicta interpretamur, narramus... Die Aufzählung weiterer verschiedener Gelegenheiten des Alltäglichen geht weiter. Vgl. Burgess, S. 104f. und 118ff.; Buchheit, S. 146-152 und 155-188; Lausberg, § 62; Stegemann, Theon, Sp. 2046; Bompaire, S. 269. Vgl. Arist. Rhet. 1368a,33f.; Anaximenes 1426a,lff.; Cic. De inv. 11,178; De or. 11,349; Brut. 12; Hermog. Prog. S. ll,28ff.; Aphthonios, S. 40,7-17; Nikolaus, S. 54,lf.; Priscian, S. 556,15ff.; Doxopater, S. 461,9ff.; Johannes Sardianos, S. 168,18ff.; dazu u.a. Burgess, S. 113; Cousin, I, S. 195. Vgl. Koster, S. 14. Zur Dialektik des Lobes und Tadels vgl. Baldwin, Medieval Rhetoric, S. 30ff.; Lausberg, §§ 240f. Koster, S. 7, 12ff.; Buchheit, S. 208ff.

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Einfaltigen gutmütig und den Unempfindlichen sanftmutig nennen..."72 Ein durchaus nachdrückliches Festhalten am dialektischen Wesen der Epideiktik begegnet u.a. in der spätantiken Lehre bei Emporius: Non polest videri demonstrative, materia, nisi quae talis est, ut ex ea ex diverso vel vituperari possit aliquis vel praedicari (S. 567,4ff.). Dies beschränkt er aber auf eine bestimmte Klasse von Gegenständen. Im Mittelalter hat Alkuin den genauen Wortlaut der Definition des genus demonstrativum aus De inventione, 1,7 (demonstrativum genus quod tribuitur in alicuius certae personae laudem out vituperationem: Disput, de rhet., S. 526,36ff.) übernommen, wobei er im christlichen Geist die Irreversibilität des Lobes bzw. Tadels auf deren jeweilige Gegenstände anhand des folgenden biblischen Beispiels befürwortet hat: ut in Genesi de Abel et Cain: Respexit Dominus ad Abel et ad munera eius, ad Cain autem et munera eins non respexii (ebd.). Die Dialektik des Lobes und Tadels auf den gleichen Gegenstand wird im allgemeinen als Voraussetzung vieler Epideixeis betrachtet, die als 'unemste', spielerische Angelegenheiten in Kontrast zu den ernsten, d.h. feierlich-religiösen oder politisch fundierten Enkomien bzw. Psogoi gestellt werden. Lob und Tadel erscheinen in der 'unernsten' Epideiktik als ebenbürtige, alternative Aspekte einer bald satirisch oder parodistisch, bald rein 'sportlich' wirkenden Reversion des Redegegenstandes. Hervorhebungs- und Herabsetzungsverfahren treten dabei in einem Wechselspiel auf, das gelegentlich eine nonkonformistische Gesinnung in bezug auf die bewährten Werte der Gesellschaft oder der literarischen Tradition kundtun kann.73 Das sophistische Prinzip: "die schwächere Seite zur stärkeren machen" liegt offenbar der Lust an der Umkehrung des Konventionellen bzw. Natürlichen ins krasse Gegenteil zugrunde. Erst bei den paignia tritt in aller Deutlichkeit die ganze Tragweite der sophistischen Reversionsprinzipien zutage. Die 'unernste' Epideiktik steht im Banne der zügellosen varietas und wäre daher als

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Davon hängt die folgende Version bei Quint. 111,7,25, ab: ...pro temerariofortem, pro prodigo liberalem, pro avaro parcum vocemus. Dazu Volkmann, S. 322. Bei Emporius (S. 567,25-569,24) begegnet m.W. die detaillierteste und zugleich aufschlußreichste Aufführung des Wechselspiels von euphemia und dysphemia. Der euphemia liegt eigentlich die sogenannte Figur der distinctio-paradiastole zugrunde, wie sie ebenfalls von Quint. IX,3,65 und 82, anhand von Beispielen bestimmt wird. Bei der Exemplifizierung des adtenuatioVerfahrens bietet der An«, ad Her. 111,6, Kostproben eigentlich des dysphemia-VerfahKHs:..iustitiam...nos demonstrabimus ignaviam esse et inertiam ac pravam liberalitatem; quam prudentiam appellant, inertiam et garrulam et odiosam scientiam esse dicemus... S. auch die Erläuterungen des Ps.-Aristeides (S. 503,30506,7) und Nikolaus (S. 50,16ff., 52,20-53,8) im Zusammenhang mit der Gestaltung des Enkomions. Die Beteiligung der Kyniker an der 'unemsten' Epideiktik (vgl. Menandros, 346,18: "das Lob der Armut von Proteus, dem Kyniker", wobei es sich um Proteus Peregrinus, den Zeitgenossen von Lukian, handelt) zeigt, daß diese Spielart nicht immer einer sozialkritischen, also 'ernsten' Grundlage entbehrte. Zu den Charakteristiken der 'unernsten' Epideiktik vgl. im allgemeinen Burgess, S. 94f.; Wilhelm Süss, Ethos, S. 112; Buchheit, S.208ff der allerdings von der Bedeutungslosigkeit solcher Erscheinungen ausgeht. Es fehlt allerdings an einer Würdigung der vielfachen Beziehungen, die diese Epideiktik einerseits zur Dialektik, andererseits zur parodistischen und satirischen Literatur aufweist. Wichtige Ansätze sind allerdings bei Huizinga, S. 142-150; Hugo Rahner, Der spielende Mensch, S. 28-32; von Moos, Geschichte als Topik, S. 251; Kindermann, Satyra, S. 47ff., 199, zu vermerken. 197

Erscheinung des anpene'f -indecorum einzustufen. Man könnte somit meinen, die 'ernste' Enkomiastik gehöre mit der klassizistischen, die 'unernste' hingegen mit der manieristischen Ästhetik zusammen.74 Angesichts der reichen und epochenübergreifenden Präsenz sowohl in den Schulexerzitien als auch in der Literaturpraxis von verschiedenen Formen der 'unernsten' Epideiktik überrascht ihre schmale Grundlage: Die Anaximenes-Rhetonk und die Vorschriften des Emporius, Nikolaus, Ps.-Aristeides in der Spätantike bieten die meisten Anhaltspunkte, die allerdings nur extensiv auf die paradoxalen Enkomien zu beziehen sind. Die moderne Forschung ist überwiegend von der isokrateischen Position der Würdigung der 'ernsten' und der Disqualifizierung der 'unernsten' Epideiktik ausgegangen.75 Dabei bleiben aber zum einen die Implikationen, die die Zusammengehörigkeit des Enkomions mit dem Psogos zeigt, zum anderen die Tatsache, daß sowohl die 'ernste' als auch die 'unernste' Epideiktik auf der gleichen Manipulationsstrategie beruhen, außer acht: Im ersten Fall wird sie durch spezifische Motivation getarnt, im zweiten hingegen tritt sie offen zutage. Die erörterten Umkehrungsprinzipien sind ebenso kennzeichnend für die prunkvolle, eine politische oder soziale Wirksamkeit anstrebende Epideixis wie für das scherzhafte und paradoxale Enkomion.

2.4.2. Die Vertretbarkeitsrangstufen in der Epideiktik Die Ergründung der Differenzierungs- und Verflechtungserscheinungen zwischen der 'ernsten1 und der 'unernsten' Epideiktik kann nur auf einer näheren Betrachtung der sogenannten Vertretbarkeitsrangstufen oder Anständigkeitsgrade der Redegegenstände (Lausberg, § 64) beruhen. Die in Anlehnung an das Rangstufen-System des juristischen Bereichs formulierte Lehre des Menandros (346,9-15) unterscheidet vier Klassen von Gegenständen der epideiktischen Darstellung: die endoxa, amphidoxa, paradoxa und adoxa. Die lateinische Forensiklehre bietet beim Auctor ad Herennium und in De inventione unterschiedliche Entsprechungen für und , während für das honestum, für das anceps oder das dubium bei den anderen Autoren begegnen. So entspricht den adoxa dem Inhalt nach das beim Auctor ad Herennium, 1,5 belegte turpe besser als das 74

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Vgl. dazu die Bemerkung Hans von Arnims, Dio von Prusa, S. 12: "Neben den grossen politisch-symbuleutischen Inhalts verfaßt er (sc. Gorgias) d.h. Reden, die an einem willkürlich gewählten und an sich bedeutungslosen Gegenstand die formale Kunst des Redners zur Schau stellen und zugleich dem Hörer oder Leser Unterhaltung bieten." Vgl. auch Gercke, S. 355f. Daher ist die 'unernste' Epideiktik als der typische Vertreter der "art for art's sake" in der antiken und mittelalterlichen Literatur anzusehen, wobei dieses epochenübergreifende Kulturphänomen mit Walzel (S. 166) wie folgt zu definieren ist: "L'art pour l'art (heißt, daß) jeder Stoff für künstlerisch verwertbar und daher künstlerisch wertvoll gut". Dies geschieht in allen Schriften über allgemeine Rhetorik, so bei Volkmann, Martin, Lausberg, Perelman und Olbrechts-Tyteca, die verständlicherweise die forensische Rhetorik zum Hauptgegenstand haben; dies gilt aber außerdem für die Monographien zur Epideiktik, so bei Fraustadt und Buchheit. S. jedoch Koster, S. 12. Das Buch von Burgess bietet die weitaus beste Übersicht Über die Komplexität dieses Genus.

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admirabile, wie es in De inventione, 1,20 steht, denn das letztere fallt seiner Bestimmung zufolge: admirabile a quo est alienatus animus eorum qui auditun sunt, eigentlich mit τα παράδοξα zusammen, insofern beides auf die Verfremdung der Zuh rer hinausl uft. Das beim Aucior ad Herennium, ebd., und in De inventione, ebd., vorliegende humile kommt einer betr chtlichen Erweiterung der paradoxa-Klasse gleich. Als solche beruht diese Hierarchisierung, die au erdem in der poetologischen Charaktereneinteilung bei Aristoteles (Poet. 1448a,3-15) ein relatives Pendant hat, auf dem allgemeinen Weitempfinden des Publikums.76 Sie erscheint als eine an die Komplexit t der rednerischen Praxis angepa te Verfeinerung der klassischen Einteilung in endoxa und adoxa (Anaximenes 1425b,36ff.), die mit der er rterten Einteilung in 'ernste' und 'unernste' Epideiktik bei Aristoteles und Isokrates zusammenh ngt.77 Die endoxa-honesta bezeichnen das anerkannte, ber jedem Zweifel stehende Gute: "die G tter und das sonst offensichtlich Vornehme"(Menandros, ebd.).78 Das sind also Gegenst nde der feierlichen, "ausschm ckend-best tigenden Epideixis" (Lausberg, § 64,1), deren bekannteste Unterart die Panegyrik ist; dazu geh ren sowohl personenhafte als auch leblose Gegenst nde. Feste religi se oder religi s-politische und ethische Konventionen, die in der christlichen Welt fortlebten, sind hier grundlegend. Daher sollten die G tter und Heroen bzw. die christliche Gottheit und die Heiligen au erhalb des dialektischen Reigens der auxesis und tapeinosis stehen: Jam vero laudes deorum...certe non sunt demonstrativa quando sacrilegii genus sit in reprehendendis diis exercere facundiam (Emporius, S. 569,29ff.). Theoretisch sollen sie also nicht als Gegenstand der 'sportlichen' oder scherzhaft-parodistischen Epideixis geduldet werden. Auf folgerichtige Weise schlie t nun Emporius auch die endoxoi unter den normalen Sterblichen aus dem Altemativspiel des Lobes und Tadels aus: ...in hominempium, in virumfortem demonstrativa non erit, quia haec ex contrario carent crimine (S. 567,3ff.). 7

*> Eine f nfte Klasse, n mlich τα SuanapaKo\oueera-obscura Redegegenst nde, lie Menandros allerdings beiseite. Vgl. au erdem die ebenfalls auf die Forensik bezogenen Klassifikationen von Nfinoukianos, (Scholien zu De statu IV, S. 183,14ff), Isidor von SevUla (H.S.lff.), Cassiodorus (S. 497) und Alkuin, Disput, de rhet., S. 533; dazu Volkmann, S. 108ff.; Martin, S. 24f. Lausberg, § 64,1-4, spricht bez glich des juristischen Bereichs vom "Rechts- und Wahrheitsempfinden" des Publikums. S. auch Ueding u. Steinbrink, S. 238f. Zur Klassifikation des Menandros vgl. au erdem Burgess, S. 157ff.; Russell und Wilson, S. 248. 77 An dieser Zweiteilung h lt offenbar auch Quint (111,7,26ff.) fest, der in seiner Systematik der epideiktischen Formen eine breite, mehrere Unterarten z hlende Kategorie von honesta impliziert: urbes, homines, loci, aber auch dictorum honestorum factorumque laus generalis. Dir stellt er die (laus) rerum omnis modi mit weiteren m glichen Klassen gegen ber, die unten zu er rtern sind. 7 ^ Die ethische Dimension der ένδοξοι άνδρας· wird in jedem antiken Rhetorik-Handbuch er rtert. Es sei exempli gratia auf Ps.-Aristeides, S. 460,1-20, hingewiesen. Als gemeinsame Auszeichnung dieser zwei Arten l t er die σεμνότης (gravitas) gelten (ebd., S. 5f.). In seiner Topik', 100b,22ff., definiert Aristr ένδοξα entweder als allgemein anerkannte Meinungen, was also mit der Bestimmung des Menandros zusammenf llt, oder aber als Meinungen der Menschenmehrheit bzw. der Weisen, weiterhin der meisten unter den Weisen und schlie lich als Meinungen nur der angesehensten unter den Weisen.

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Hier kommt also die Anschauung von einer ausschließlich idealisierenden Epideixis zum Ausdruck, in der das Negative keinen Platz hat. Daraufbaut Menandros seine für die feierlichen Gelegenheiten geeignete Lehre vom 'ernsten' Lob auf. Für die ebenfalls zum endoxa nicht nur aus rein ästhetischen Gründen zählenden leblosen Gegenstände wie Ortschaften, Bauten, Naturerscheinungen usw. erscheint der Psogos als eine vertretbare Möglichkeit, die aber in der Praxis weniger umgesetzt wurde.79 Eine ähnliche Einseitigkeit soll nun für die Antipoden der endoxa, d.h. für die adoxa-turpia gelten, die sich der gleichen Konvention zufolge ausschließlich für den Psogos eignen. Menandros führt dazu an: "die Dämonen und das offenbar Üble".80 Quintilian zufolge eignen sich für die Schmähung die corporis ac fortunae mala oder die animi vitia, wie diese von Thersites bzw. Nireus, Plisthenes verkörpert wurden. Weiterhin seien es jene Personen, die eine verhängnisvolle politische Rolle spielten, wie Moses als Führer eines Volkes, das eine Gefahr für die anderen darstellte, oder die Gracchi wegen der von ihnen erlassenen Gesetze (111,7,19-22). Im christlichen Mittelalter galt bekanntlich ein solches opprobium dem Propheten Mohammed, der überdies auch als ein Scheusal dargestellt wurde.81 Zwischen den Polen der endoxa und adoxa liegen die Klassen von amphidoxa-dubia und paradoxa-humilia. Sie konstituieren in unterschiedlichem Ausmaß den Tummelplatz der epideiktischen Darstellung und eignen sich für das paignion, meistens ohne das Wert- oder das religiöse Empfinden der Hörer zu verletzen. 79

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Vgl. Emporius, S. 569,31 f.: Facile est elementa laudare sed absurdum est reprehendere. Dies dürfte ebenso für die Kunstgegenstände gelten. Anders sieht es allerdings bei den Städten und Ortschaften aus, weil sie eine soziale und politische Bedeutung haben. Da ist der Psogos sozusagen das legitime Gegenstück zum Enkomion. Eine Umkehrung des 'Enkomions Roms' von Aristeides ist durchaus denkbar, wobei gleiche topoi zu verwenden wären. Das Lob auf die römische Weltherrschaft läßt sich leicht in ihre Verdammung umwandeln. Das Üble ist mit Lausberg (§ 241) als moralisches Übel zu verstehen, wobei, wie unten zu sehen ist, die Überschneidungen mit den physischen Übeln auf der Hand liegen. Hier kann uns die Frage, ob die Erwähnung der adoxa nicht etwa eine Interpolation in den Text des Menandros sein könnte, nur am Rande beschäftigen. Volkmann, S. 109, außerdem Russell und Wilson (S. 248), weisen mit Recht auf das Bestehen dieser Kategorie in anderen theoretischen Zusammenhängen, z.B. bei Aulus Gellius, XVII,12 hin. Dort geht es um , was uns an die bereits von Isokrates unterschiedenen (Busiris, 49) erinnert. Die meisten von Quint, in diesem Passus anhand bestimmter vituperatio, wie turpitude generis, vitia usw. ausgesuchten turpes personae durften den Schulexerzitien entnommen worden sein. Die Verabscheuung Moses hier geht offenbar auf den durch die blutigen Aufstände und Kriege veranlaßten blinden Judenhaß im Rom der zweiten Hälfte des 1. Jhs. n. Chr. zurück. Die mittelalterliche Schmähliteratur um Mohammed erreichte ihren Höhepunkt während der ersten Kreuzzüge. In seinem dem Propheten gewidmeten Abschnitt innerhalb der Gesta Dei per Francos läßt ihn Guibertus von Nogent während einer Epilepsie-Krise von Schweinen zerfetzt werden und bemerkt dabei: porcus ipse porcis devorandus exponitur (1,3, Sp. 689-693). Einen ähnlichen Tenor weist auch die Vita Mohammedi Embrychius' von Mainz auf. Vgl. u.a. Bischoff, Ein Leben Mohammeds, S. 107ff; Huyghens, in: Otia de Mahomete, S. 292f. Das letztere von Walter von Compiegne verfaßte Werk stellt jedoch den Propheten als einen amphidoxos-Cbaiakter dar.

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Die Eigenart der amphidoxa entspricht m.E. dem in Lysis (217b) ausgeführten platonischen Begriff "vom weder Bösen noch Guten".82 Menandros (§ 346) zufolge sind jene Gegenstände ambivalent, die das endoxon mit dem adoxon, also das Positive und Lobenswerte mit dem Negativen und Tadelnswerten vermengen.83 Die Illustrationen hierfür sucht er in dem Panathenaikos des Isokrates und in demjenigen des Aristeides. In der isokrateischen Rede wird zum einen der Ruhm des alten Athen mit den Unzulänglichkeiten des zeitgenössischen in Kontrast gestellt, zum anderen wird Lakedaimon bei einem systematischen Vergleich contrario mit Athen folgerichtig herabgesetzt.84 Eine treffende Bestimmung des amphidoxon dürfte im erwähnten Kontext der vituperatioLehre bei Quintilian (111,7,20) vorliegen, in dem die moralische Ambivalenz des menschlichen Charakters mit dem epideiktischen Alternativspiel wie folgt verbunden wird: Ei animi totidem vitia, quot virtutes sunt, nee minus quam in laudibus duplici ratione tractantur. Diejenigen Charaktere, die "uns ähnlich sind", galten Aristoteles als am besten geeignet für die Tragödie (Poet. 1448a,5), wozu er "den klugen Mann, der zugleich schlecht ist", oder "den Tapferen, der ungerecht ist" (ebd., 1456a,20ff.), zählte. Ein amphidoxos Charakter sollte Emporius zufolge der demonstrativa materia par excellence innewohnen: quae talis est ut ex ea diverso vel vituperari possit aliquis vel praedicari (S. 567,9f.). Dies exemplifizierte er anschließend wie folgt: Itaque verbi causa demonstrativa materia erit in Tullium vel in Caesarem, quoniam utrumque eorum et laudare promptum est et reprehendere. Analog mit dem platonischen "weder Bösen noch Guten" beziehen die amphidoxa eine schwankende und provisorische Stellung, sozusagen am Scheidewege zwischen zwei unterschiedlichen Konventionen, die zum Paradigmawechsel in die endoxa bzw. in die adoxa führen können. Es kann sich im einen Fall um gewisse parteiische Anschauungen politischer und religiöser Natur, die mit der Gegenwartspraxis, mit dem hie et nunc verbunden sind, und im anderen Fall um literarisch oder lediglich spielerisch- eristisch motivierte Optionen für Gegenstände handeln, die der mythischen oder historischen Vergangenheit angehören. Für die erste Möglichkeit wäre der auf die damalige politische Gegenwart bezogene Gegenstand des isokrateischen Panathenaikos, für die zweite Möglichkeit wären die von Emporius angeführten Caesar- und Cicero-Stoffe als Gegenstand schulrhetorischer Übung oder sophistischen Vertrags zu erwähnen. Hierbei sind die Grenzen zwischen parteiisch und 'sportlich' motivierter epideiktischer Distorsion bereits relativiert. Eine literarisch-philosophische Sonderart konstituieren die sogenannten im platonischen Symposion, im Phaidros oder anderswo begegnenden erotikoi logoi, die den Eros als einen 82

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Zu diesem Begriff vgl. Paul Friedländer, Platon, II, S. 85ff. und 294ff.; Marco Attilio Levi, La teoria della philia, S. 286ff. Vgl. Lausberg, § 241. Russell und Wilson übersetzen an dieser Stelle adoxon mit "of no repute" (S. 33), was eigentlich mit dem humile-paradoxon zusammenfällt. Daher wäre adoxon mit "of bad repute" wiederzugeben, mit dem turpe als dem ethisch und ästhetisch Negativen. Dazu Mathieu und Bromond, in: Isocrate, Discours, t. IV, S. 66-73; Mathieu, Les iddes politiques, S. 124. 201

ambivalenten Gegenstand par excellence darstellen.85 Die Epideiktik des Bros hat die ganze Zeit ein beliebtes literarisches Exerzitium konstituiert. Im lateinischen Mittelalter haben die rigoristisch gesinnten Dichter den Eros zum adoxos herabgesetzt, während die Ovidianer ihn zum endoxos aufgewertet haben. Die eine wie die andere Position begegnet gelegentlich bei Anhängern der gleichen Richtung: Der seine frühere Leichtsinnigkeit bereuende Marbod disqualifiziert den Eros als materies inhonesta levisque der Dichtung. Sein Freund Baldricus von Bourgeuil verherrlicht ihn ohne Vorbehalt: Naturam nostramplenam deus egit amoris...Si culpatur amor, actor culpatur canons/Actor amons enim criminis actor erit*6 Ein anonymer hochmittelalterlicher Accessus ad auctores weiß hinsichtlich der Dichtung Ovids zwischen dem in den Heroides begegnenden Lob des castus amor- wie der der Penelopeund dem Tadel des incestus amor im Falle Phädras zu unterscheiden (S. 32,33ff.). Bei der vierten Klasse epideiktischer Gegenstände kommt die oben erwähnte semantische Diskrepanz zwischen deren griechischer und lateinischer Bezeichnung vor. Humilia würde eher auf die belanglosen und niedrigen, paradoxa auf die sonderbaren und befremdenden Sachen, also auf die admirabilia hinweisen. Das letztere wird durch die von Menandros gebotenen Beispiele bestätigt: "das Enkomion des Todes von Alkidamas und das der Armut von dem Kyniker Proteus" (§ 346,20ff.).87

2.4.3. Distorsionserscheinungen im 'ernsten' Personenlob Wir wollen im folgenden einige der aufgezählten Hauptformen 'ernster' und 'spielerischer' Epideiktik in ihrem jeweiligen Zusammenhang näher in Betracht ziehen, wobei das Augenmerk auch auf jene Distorsions- bzw.Reversionserscheinungen gerichtet sein wird, die manch gelegenheitslyrischer und vor allem parodistischer Dichtung eigentümlich sind. Die Poetik solcher Gattungen weist ähnliche Techniken der gedanklich-affektischen Distorsion auf, was zur Erkenntnis der mit der Imitation verbundenen epideiktischen Erscheinungen beträchtlich beiträgt. 85 86

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Dazu Fraustadt, S. 53ff.; Russell und Wilson, S. XIVf. Vgl. Marbod, Über decent capitulorum I, V. 3, S. 60; Baldricus, Nr. CLIX, Fiona Ovidio, V. 51ff. (hg. von Abrahams). Dem leichtsinnigen Liebesstoff hält Marbod an der erwähnten Stelle eine vom Ideal der honestas geprägte geistliche Dichtung entgegen. Seinerseits hat Baldricus allerdings die platonische Liebe, die Minne, im Sinn: Nee lascivus amor, nee amor petidantis amoris/Pm te subvertit corque jecurque meum (Ad dominam Constantiam, V. 49ff., S. 339). Vgl. Andreas Capellanus, De amore, 1,1. Zur mittelalterlichen Ambivalenz der Liebe vgl. Schnell, S. 15-76. Eine scharfe Unterscheidung zwischen den humilia und admirabilia läßt sich eigentlich nicht machen; vgl. die Aufzählungen, die sie miteinander mischen, bei Volkmann, S. 108f.; Arthur S. Pease, Things without Honour, S. 29; Cousin, S. 192f.; Rohde, Der griech. Roman, S. 33If.; Burgess, S. 157f.; Russell und Wilson, S. XDlf.; Hunger, Die profane Lit., I, S. 131f. Burgess bezeichnet diese Epideiktik als Paradoxographie, Pease als Adoxographie, wobei die erstere mit den Beschreibungen von Wunderdingen, die letztere mit dem Lob der turpia verwechselt werden kann.

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Initiator des politischen Enkomions war bekanntlich Isokrates, der sich hierbei von der sophistischen 'unernsten' Epideiktik programmatisch abgrenzte.88 So nahm er grundsätzlich zwei Erneuerungen des Genres vor, die auf eine graduelle Entwicklung seines Konzeptes hinzuweisen scheinen. Es handelt sich zunächst um die Umwandlung der rein spielerischen Epideixis eines mythisch-historischen Stoffes in eine 'ernste' Angelegenheit. Das sophistische Prinzip das Alte neu machen stellt Isokrates, wie bereits gezeigt, in den Dienst eines bestimmten politischen Ideals. Die Busiris- und Helena-Stoffe aktualisiert er, indem er in ihrem Gewand zwei seiner Lieblingsideen präsentiert: den panhellenischen Expansionismus und den Monarchismus.89 Eine weitere viel folgenreichere von Isokrates stammende Erneuerung betrifft die Verfassung von Lobreden auf zeitgenössische Herrscher. Auch hier geht er von der gleichen politischen Auffassung aus, wobei er auf keine publica materies mehr zurückgreift, sondern einen bestimmten Realitätsabschnitt auszugestalten und zugleich ihn zu verzerren unternimmt. Das auf diese Weise hergestellte politische Enkomion erscheint als eine für die Nachwelt mustergültige Synthese von Protreptik und Epideiktik, in der also die Ergötzung mit der Belehrung "harmonisch" zu vereinigen sind. Dieser Synthese liegt eine bestimmte Intention (voluntas) und eine moralisch-politische Pflicht (officium) zugrunde, denen normalerweise der forensische Redner gegenüber den Richtern bzw. den Mitstreitern nachzugehen hat.90 Gegenstand dieses daher 'ernsten' Enkomions sollte der Auffassung des Isokrates und kurz danach der des Xenophon zufolge jene Persönlichkeit der Gegenwart sein, deren Profil den politischen Vorstellungen des Lobredners und seiner Parteinahme entspricht. Darauf beruht die ausnehmende Verherrlichung des Gelobten als eines vollkommenen Menschen, dem lauter Tugenden, vornehme Charakterzüge, heldenhafte bzw. wahrhaftig königliche Handlungen zuzuschreiben sind.91 All dieses kann kein Streitobjekt mehr sein.92 Worauf es bei dieser 88

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Dazu Blass, Att. Beredsamkeit, II, S. 284; Fraustadt, S. 59; Schmitz-Kahlmann, S. 4; Buchheit, S. 64, mit Berücksichtigung vornehmlich des Evagoras. Zur Umwandlung der sophistischen 'unemsten' Lobrede durch Isokrates vgl. H. Gomperz, S. 36; Buchheit, S. 47f. und 62. Zu den politischen Ideen des Isokrates vgl. Mathieu, S. 95-112. Zur Idee einer panhellenischen Einheit und hellenischer Überlegenheit über die Barbaren vgl. ders., S. 42. Vgl. Panathenaikos, 246: "...eine Rede, die viel historisches und philosophisches Gut, allerlei Variation und Fiktion aufzuweisen hat..für den Nutzen ( ) und das Vergnügen ( ) der Zuhörer..." Vgl. auch die knappe Formel im Titnokles, fr. VI: ' ? naiSfueiv Die vor allem in: Euagoras, Panegyrikos, Ad Nicoclem, Panathenaikos, in der Triedensrede', in 'Gegen die Sophisten' befürworteten ästhetischen, pädagogischen und moralisch-politischen Ideen des Isokrates konstituieren eine andauernde publica materies für die antike und byzantinische Nachwelt; dazu Mathieu, S. 95; Sykutris, S. 33f., 42 und 48; Burgess, S. 101 und 112f.; Buchheit, S. 53; 67-76; Ziegler, Panegyrikos, Sp. 562 und 565. Zur Bedeutung der Begriffe voluntas und officium im Rahmen der forensischen Rhetorik vgl. Lausberg, §§ 35, 115,156 und 214. Vgl. Euagoras, 9,3: "Wir suchen uns die großmütigen, verehrungswürdigen Männer".Vgl. auch Ad Demonicum, 32. Xenophon spricht im Agesilaos, l vom "vollkommen guten Mann"; dazu Leo, S. 316; Jaeger, Paideia, 111,146; Fraustadt, S. 67. Zum Idealisierungsvorgang im Enkomion vgl. die treffende Bestimmung Franz Bittners, Studien zum Herrscherlob, S.22: "Jeder Lobredner huldigt einem Ideal, dessen Züge er der Persönlichkeit, die er anspricht, verleihen will". Vgl. oben S. 195, Anm. 66. Bei dem dort angeführten Passus aus Cic. Part. or. 71: Non enim dubia 203

Idealisierungstechnik ankommt, ist die Vergr erung und Versch nerung des R hmlichen (endoxos), seine bedenken- und schrankenlose, hyperbolische auxesis.9* Die hierbei erfolgende Distorsion des realen Sachverhaltes besteht also zun chst in der Annahme bzw. Unterstellung, der Gepriesene sei ein absoluter endoxos. Beim Lob des hellenistischen, sp ter des r mischen Herrschers gibt es nur den Superlativ: Dieser sei als "Gott unter den Menschen" zu betrachten (θ€0ς· εν άνθρώποις).94 Euagoras, Agesilaos und der uns auch ab altera parte bekannte Philipp waren aber in jeder Hinsicht ambivalente Gestalten, die sich daher ebensogut als Gegenst nde des Psogos eigneten. Der zum Zwecke der Verherrlichung vorgenommenen auxesis der wirklichen Eigenschaften soll sich die synoikeiosis erfundener Qualit ten zugesellen, was mit der folgenden stereotypen Formulierung bei Isokrates zusammenf llt: "Man soll dem Gelobten mehr Gutes andichten, als dieser in Wirklichkeit besessen hat".95 Auf die spezifische Differenz zwischen dem φ^υδολογέϊν des sophistischen paignion und der Wahrheitsverzerrung im politischen Enkomion bezog sich sp ter Demetrios (§ 122), indem er meinte, das Kleine gro machen erfolge nicht nur als spielerische bertretung des prepon (δια του άπρεπους·), sondern auch aus "Notwendigkeit" (υπ'ανάγκης). Hierbei f hrt er ein f r die isokrateische auxesis im Euagoras durchaus passendes Beispiel an: "...wenn man die geringen Erfolge eines Feldherren als eine gro e Leistung hinstellt". Die "Notwendigkeit" kommt also einer parteiischen Legitimation f r das Andichten positiver Z ge gleich. Bei der Konfiguration einer symbuleutisch-epideiktischen Rede empfiehlt Isokrates die ψενδολογία in einem Atemzug mit moralisch-philosophischem und historischem Ideengut und weiterhin mit den stilistischen Variationsmitteln.96

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firmantur, sed ea quae certa out pro certis posita sunt augentur, weist das zweite Glied der Disjunktion auf den Distorsionsvorgang, implizit auf die Idealisierung des Lobgegenstandes hin. In der Er rterung des Kaiserlobs verlangt Menandros, § 368, die Hervorhebung lediglich der positiven Eigenschaften unter Ausschlu aller Zweideutigkeiten; dazu Bompaire, S. 269. Dazu Arist. A«f.l368a,23f.: "...(bei den epideiktischen Reden) man nimmt die Handlungen als unbestritten an, so da nur noch Gr e und Sch nheit hinzugef gt werden m ssen". Dementsprechend wird im Euagoras, 13-18 und 24-28, wo die Leistungen des Gelobten aufgef hrt werden, der lobende Ton bis zum Hymnos gesteigert Vgl. Ivo Bruns, Das literarische Portrait, S. 122. Euagoras, 75 und Arist. Pol. 1284a,ll, bezeugen erstmals diesen Begriff im Zusammenhang mit der politischen Pers nlichkeit. Vgl. Busiris, 4; vgl. auch Platon, Menexenos, 235a; dazu Buchheit, S. 46-49; Wendland, Die Tendenz des Menexenos, S. 183ff. Zugleich r gt Isokrates die L genhaftigkeit der Verfasser von paignia: vgl. Helena, 4 und 8. Zu diesem scheinbaren Widerspruch vgl. Buchheit, S. 79. Es sei nun angesichts seiner Bedeutung der bereits oben (Anm.90) zitierte integrale Passus aus dem Panathenaikos, 246 angef hrt: "Wenn du dich entschlossen hast, eine Rede zu verfassen, die sich von allen anderen unterscheiden soll, und die denen, die sie sorgf ltig betrachten und sich bem hen, das zu begreifen, was den gew hnlichen Menschen entgeht, schwierig zu fassen erscheinen soll, da eine solche Rede viel historisches und philosophisches Gut, allerlei Variation und Fiktion (μ€στόν ποικιλίας και ψευδολογίαςϊ aufzuweisen hat, so soll diese aber nicht, wie blich, auf den Schaden der Mitb rger, sondern auf die Unterweisung der Zuh rer zu ihrem Nutzen oder Vergn gen hinauslaufen..."

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Demnach erscheinen die Gemeinsamkeiten zwischen dem isokrateischen Enkomion und dem sophistischen paignion wesentlicher als ihre spezifische Differenz, die hervorzuheben Isokrates sich so sehr bemühte. Dieser Eindruck verdichtet sich noch bei der Betrachtung des nach isokrateischem Schema verfaßten Menexenos, der eben für eine Parodie, ein platonisches paignion des 'ernsten' Enkomions gehalten wird.97 Ernst und Spiel waren also bereits in der Entstehungszeit der Enkomiastik verwechsel- bzw. vertauschbare Kategorien. Es sei an die zu Anfang dieses Kapitels erörterte Zusammenstellung der sophistischen Distorsionsprinzipien im Panegyrikos, 8f., erinnert, die die Aufforderung enthalten, die bewährten Stoffe erneut zu behandeln. Das zum schulmäßigen und zugleich spielerisch-demonstrativen Zweck Geübte ist also mit aller Konsequenz nicht nur auf die mythisch-historischen Gegenstände, sondern aus parteiischen Gründen auch auf die politische 'Gegenwartswirklichkeit', auf den Ernstfall, anzuwenden.98 Die von Anaximenes skizzierte und in den spätantiken Lehrbüchern ausführlicher behandelte Technik einer Vergrößerung der positiven und Verkleinerung der negativen Züge des Lobgegenstandes findet bereits im isokrateischen Enkomion auf die Herrscher ihre beste Illustration. Die im Euagoras den Kriegshandlungen des damals unlängst verstorbenen Königs von Salamis in Zypern gespendeten Lobesworte "schlagen der historischen Wahrheit ins Gesicht".99 Der in Wirklichkeit bedeutungslose regulus wird zum großen Sieger über die Perser aufgeweitet, deren Größe gleichzeitig herabgesetzt wird. Die Niederlage in dem mit dem trojanischen Krieg verglichenen zehnjährigen Krieg mit den Persern, an dessen Ende Euagoras wiederum zum · des Großkönigs werden mußte, wird verschwiegen. Die massive Anwendung der paraleipsis vereinigt sich mit einer geschickten Anwendung der euphemia, die Halbwahrheiten auftischt. Schließlich kulminiert die euphemia in einer krassen Verdrehung der historischen Wahrheit: Der Großkönig sei es gewesen, der dazu gezwungen worden sei, mit dem unbesiegbaren Euagoras Frieden zu schließen.100 Die gleiche Verhüllungstechnik wird auch bei der Erzählung der familiären Umstände und der Jugendtaten des Euagoras angewendet. Das Enkomion auf Euagoras bot also für die Nachwelt eine mustergültige Technik des Lobes, die auf die Umwandlung der historischen, ' strukturierbaren Gestalt des Herrschers in eine stereotyp bis zur Gottähnlichkeit idealisierte fca#oAoi/-Darstellung hinausläuft. Wie Bruns so treffend anmerkte: "...die Erzählung (im Euagoras) spezieller Fakta ist streng ausgeschlossen; wir haben es mit einer Sammlung von

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Zur parodistischen Eigenart des Menexenos vgl. die Ausführungen Wendlands, Die Tendenz des Menexenos, S. 180-185. Hierbei tritt das Gegenteil des von Lausberg wie folgt formulierten Übergangs von 'ernster' zu spielerischer Epideiktik auf: "die an den ernsthaften Gegenständen erlernte Lobtechnik unernst auf des Lobes unwerte Gegenstände anzuwenden" (§ 241). Die spielerischen Enkomien des Gorgias, Alkidamas und Polykrates hatten demnach propädeutischen Wert für die 'halbernsten' Werke Busiris und Helena des Isokrates und weiterhin für seine symbuleutisch-epideiktischen Stücke. So Sykutris, S. 33. S. auch Bruns, S. 120-126, in aller Ausführlichkeit. i Euagoras, 63; dazu Bruns, S. 121. 205

dauernden Übungen, Gewohnheiten, Eigenschaften zu tun".101 Bei einem solchen Idealisierungsvorgang erfolgt andersherum als in den Enkomien mythologischer Gestalten wie Busiris und Helena eine Projizierung des Gegenwärtigen in die mythische Welt: Das Neue wird ins Alte verwandelt. Dazu dient vornehmlich die Synkrisis mit berühmten Gestalten bzw. Motiven aus dstpublica materies der Tradition, wobei im Euagoras homerische Motive wie der trojanische Krieg oder die Nostoi herangezogen werden.102 Die synkritische Projizierung des Gepriesenen in die Welt des Mythos wird in solchen Fällen häufig durch Hyperbeln als bewährte Reversionsmittel untermauert.103 Im Euagoras wie sonst auch im xenophontischen Agesilaos bleibt die Anwendung des Übernatürlichen, der Wunderereignisse ad maiorem gloriam des Gelobten allerdings aus. In der Zeit nach Alexander und gewiß im Zusammenhang mit der ihm gewidmeten Enkomiastik fand die hemmungslose Anwendung der admirabilia in den Lobreden auf Monarchen und gleichzeitig in der mit ihnen typologisch verwandten rhetorisch-tragischen Historiographie statt.104 Zwischen Isokrates und Xenophon einerseits, den enkomiastischen Alexanderhistorikern andererseits spielte der Isokrates-Jiinger Theopompos sowohl konzeptuell als auch stilistisch gesehen eine Übergangsrolle. Seine Philippos- und Alexanderenkomia waren fast ebenso bekannt wie seine Philippika.105 Die Bedeutung verschiedener Formen der ernsten Epideiktik hat im Laufe der Kaiserzeit und des Mittelalters ständig zugenommen. Dies gilt sowohl für die Fortentwicklung einzelner Untergattungen als auch für das Bestehen epideiktischer Partien in der Historiographie, der Epik und in der philosophisch-didaktischen Dichtung.106 101

Vgl. ebd. S. 123. Leo, S. 149, schreibt Isokrates die Zuordnung der synkrisis dem Enkomion zu. Zur Bedeutung der synkrisis vgl. auch Buchheit, S. 16; Fraustadt, S. 63ff.; Koster, S. 17; am ausführlichsten Sykutris, S. 27ff., in bezug auf Euagoras. S. dazu auch unten S. 313f; 315ff. 103 Die Aufforderung zur hyperbolischen Lobpreisung drückt Isokrates mehrmals aus. Vgl. Euagoras, 22; Panathenaikos, 123; dazu Sykutris, S. 27; Burgess, S. 113. 104ygj_