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German Pages 302 [308] Year 1940
JOSEPH
SCHUMACHER
ANTIKE MEDIZIN Die
naturphilosophischen
in der
Grundlagen
griechischen
ERSTER
Berlin
der
Medizin
Antike
BAND
1940
VERLAG WALTER DE G R U Y T E R
& CO.
JOSEPH
SCHUMACHER
DIE NATURPHILOSOPHISCHEN G R U N D L A G E N DER in der griechischen
Berlin
MEDIZIN Antike
1940
V E R L A G W A L T E R D E G R U Y T E R & CO.
Archiv-Nr. 55 50 +0 Printed in Germany Druck von Walter de Gruyter & Co., Berlin VV 35
Frau Jula in Verehrung
Thyssen zugeeignet
VORWORT S p r e n g e l sagt in der Einleitung zu seinem »Versuch einer pragmatischen Geschichte der Arzneikunde« (4. Aufl. I. Bd., Leipzig 1846, S. 2): »Die Philosophie ist die Mutter der Medizin in wissenschaftlicher Rücksicht, und das Wachstum der einen steht mit der Zunahme der anderen Wissenschaft in unzertrennlicher Verbindung.« Dieser Satz hat in der Folgezeit wie kaum ein anderer Anerkennung und Widerspruch gefunden. Für keine Periode aber ist die Diskrepanz der Urteile von Philologen, Philosophen und Medizinhistorikern stärker, als für die Zeit der Genese der wissenschaftlichen Medizin. Schon d a s zeigt die Problematik. Die lückenhafte Überlieferung jedoch und vor allem der Widerspruch in den Doxographen stellt den Forscher, der es unternimmt, das Miteinander und Auseinander der Entwicklung naturphilosophischen und medizinischen Denkens in der griechischen Antike zu untersuchen, vor eine Fülle von Teilproblemen, und nicht mit Unrecht hat der ausgezeichnete Kenner der griechischen Antike, W. C a p e l l e , dem ich für seine wertvollen Hinweise danke, dieses Unternehmen als ein »opus aleae plenum« bezeichnet. Ich hätte es nie gewagt, diese Arbeit durchzuführen, wenn mir nicht die Annahme des vorliegenden Teils als Habilitationsschrift durch einen Professor H a b e r l i n g eine unschätzbare ideelle Unterstützung gewesen wäre. Ihm auch an dieser Stelle f ü r seine stete Hilfsbereitschaft meinen Dank zu sagen, fühle ich mich aufs tiefste verpflichtet. Essen-Werden-Ruhr, im Mai 1939. Joseph
Schumacher.
INHALTSVERZEICHNIS Seit«
Vorwort
VII
Vorbemerkungen Die Eigenart des »wissenschaftlichen Denkens« in der voraristotelischen Zeit (Bedeutung der griechischen Philosophie für die Entwicklung der abendländischen Wissenschaft im allgemeinen. Wandlung der Bedeutung der Kunstausdrücke. Philosophie und Medizin (öscopla und iyTreipla, der Makro- Mikrokosmosgedanke, Teleologie, Urstoff und Element))
I
Die alt-ionische Naturphilosophie I. Thaies II. Anaximander (das frrreipov, die sekundären Elemente, die Enantiosen, das »Leben«, das geometrische Weltbild) . . . . III. Anaximenes
18 22 30
Pythagoras und die Pythagoreer I. Pythagoras und seine Schule 1. Zur Pythagoras-K ritik 2. Die Zahlenlehre (Räumlichkeit der Zahl? Arithmetik oder Geometrie? Eigene Stellungnahme) 3. Bedeutung der neuen Wissenschaftsmethode 4. Die »Gegensätze« und die »Harmonie« 5. Folgerungen 6. Die »Medizin« der Pythagoreer (Gesundheit und Krankheit. Die pythagoreische Afarra. Die Therapie) II. Alkmaion 1. Die Gegensatzlehre, taovoulcc. Gesundheit, Krankheit . . 2. Analogieschluß. Physiologie
34 38 46 47 50 53 66 73
III. Ikkos von Tarent und Herodikos von Selymbria 1. Ihre 6(arra (Heilung durch Gymnastik) 2. Naturheilmethode
81 82
1. Seine Bedeutung für die Weiterentwicklung der Wirklichkeitserfassung 2. Der Xóyos, die »Elemente« 3. Die herakliteische Gegensatzlehre 4. Naturheilkraft
86 89 91 93
Heraklit
b
Schumacher, Antike I
X Seite
Die Eleaten I . Xenophanes, Parmenides 1. Die Seinskugel des Parmenides 2. Die »56§a« 3. Sinnesphysiologie I I . Melissos und die Medizin
95 97 gg
Die jüngeren Naturphilosophen I . Empedokles 1. Vier Grundstoffe 105 ) Arist. Metaph. 1092 b 8 (Vors. 5 45, 3). Vgl. Theophr. Metaph. 11 p. V I a 19 Usener (Vors. 5 45, 2).
42 Zeit die Quantitäten der Zahlen auf natürlichere Weise dargestellt haben, nicht wie die Heutigen symbolisch« 1 ). Aus dieser so glücklich durch Jamblich erläuterten Aristotelesstelle läßt sich schließen, wie anschaulich das Aoyijeoöai (rechnen, berechnen, aber auch erwägen, betrachten, denken) der Alten (vor Aristoteles) gewesen sein muß, wie man gleichsam aus der Zahl Figuren werden sah und das »Erkennen« — das wohl dem Denken und Einsehen gleichgesetzt wurde — darin bestand, die Figuren wieder in ihre Elemente aufzulösen. Das aber ergibt für unseren Fall einen dankenswerten Hinweis für die Erklärung einer der wesentlichen Funktionen der pythagoreischen Zahl (und zugleich für ihr Alter). Wir dürfen annehmen 2 ), daß eine der primitiven Methoden, Zahlen darzustellen, die war, Punkte in symmetrische Figuren anzuordnen, ähnlich der Anordnung etwa der Punkte auf den Dominosteinen. Aus A r i s t o teles, Stobaeus, Philoponus, Simplicius, Alexander, T h e m i s t i u s u. a. 3 ) wissen wir, daß es wohlbekannt war, daß die Zusammenfassung einer bestimmten Anzahl von Punkten in einer bestimmten Anordnung bestimmte Figuren ergab, z. B., wenn man von i angefangen, Reihen aufeinanderfolgender Zahlen in Form von Punkten darstellt, ergibt sich ein Dreieck:
; die sich
aus dem Dreieck jeweils ergebenden Summen nannte man Dreieckszahlen: i, 3, 6, io, 15, 21, 28 usw.; fügt man zur 1 die nächste ungerade Zahl 3 und zur jeweiligen Summe die nächste ungerade Zahl usf. hinzu: ; s o
ergibt sich immer eine Quadratzahl:
1 + 3 = 4, + 5 = 9 usf.; wenn jedoch zur 2 die aufeinanderfolgenden geraden Zahlen addiert werden, entstehen die »rechteckigen« Zahlen: •
Auf diese Weise sehen wir aus Zahlen
N ä m l i c h nicht d u r c h Buchstaben; d a ß dieses mit ovußoXiKcös gemeint ist, ergibt sich aus N i k o m a c h o s von Gerasa, Introd. A r i t h m . S. 83, 12 H o c h e : npÖTEpov
¿TnyvcoCTTeov, 6 T 1 IKOCTTOV ypct^iicc £> AR|HEI0ÜHE9A &pi6u6v • . . VÖ^CO
tcal auvÖT^ari dvöpcoirlvcp, AAV oü ipuCTei orinavTiKÖv fern TOÜ Apiönoö. 2 ) w o r a u f schon Burnet — allerdings ohne bis ins letzte die K o n s e q u e n z e n zu ziehen — hinweist (a. a. O . , S. 88ff.). s ) Belegstellen s. Z e l l e r I," S. 455 A n m . 3; genauere A u s f ü h r u n g e n bei H . H a n k e l , Z u r G e s c h . d. M a t h e m a t i k i m A l t e r t u m u. M i t t e l a l t e r , L p z . 1874, S. 92fr. u. S. 104; M o r i t z C a n t o r , V o r l e s u n g e n über G e s c h . d . M a t h e m a t i k I, L p z . 1880, S. 124 fr. u. S. 135.
43 Flächen werden, fühlen wir, wie mit der arithmetischen die geometrische Ordnung zugleich gegeben ist und wie unnötig der Streit um die Frage ist, ob die Pythagoreer die Zahl räumlich oder unräumlich faßten. Sie haben sich diese Frage nie gestellt, nicht nur, weil man damals ein Abstrahieren der Zahl von der Form, in der sie dargestellt wird, bzw. von Dingen, die sie konstituiert, noch nicht kannte, sondern weil man gar nicht das Bedürfnis hierzu empfand. Es soll in dieser Arbeit nicht untersucht werden, was Ägypten und Babylon Griechenland gegeben haben, jedenfalls war der Stand wenigstens des praktischen Wissens bei den Erbauern der Pyramiden und den crpTreSovdrrrai, die schon das Dreieck mit den Seiten 3, 4 und 5 kannten, das immer rechtwinklig ist, und rein arithmetisch den »Pythagoreischen Lehrsatz« zu illustrieren vermag, hinreichend, griechischem Geiste die ersten »Handlangerdienste« 1 ) zu leisten, und es ist sicher, daß die Griechen bald ihre »Lehrmeister« überflügelten, nicht nur in der praktischen Anwendung des Gelernten. Es zeigt sich eben auch hier: der hochentwickelte Orient hatte eine Unsumme von Einzelkenntnissen zu vergeben und Griechenland mag bisweilen der empfangende Teil gewesen sein; aber wo die Orientalen stehen blieben, da begannen die Griechen, wandten den Blick von den Erscheinungen auf das Wesen, von der Mannigfaltigkeit auf die Regelmäßigkeit, auf die Gesetzmäßigkeit, um aus ihr wieder die Einzeldinge mit logischer Notwendigkeit entstehen zu sehen; so machten sie das Wissen zur Wissenschaft, und das war ihre Gabe an das Abendland, von der wir heute noch zehren. — So sah nun P y t h a g o r a s aus jenen Figuren, die schon unzählige Male den täglichen Lebensbedürfnissen des Menschen gedient hatten, ohne zu tieferem wissenschaftlichem Denken zu führen, die Regelmäßigkeit, die konstituierende, formbildende Kraft der Zahl. Und noch etwas muß hier erwähnt werden: daß die Saiten der Lyra verschiedene Längen haben müssen, das wußten auch die Instrumentenbauer, daß aber die Länge der Saiten in einem bestimmten V e r h ä l t n i s abnahm bzw. zunahm, das sah erst der, für den die längere Saite der — rechtwinkligen — Lyra zur »Hypotenuse« geworden war. An einer ') Der Ausdruck entstammt den kurzen, aber treffenden Ausführungen des Ägyptologen F. W. v. B i s s i n g , Ägyptische Weisheit u. griechische Wissenschaft. Neue J a h r b . 29, 1912, S. 81 ff.
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ausgespannten Saite, deren tönenden Teil er durch Verschieben eines Steges verlängern bzw. verkürzen konnte, soll er die Zahlen 12, 9, 8, 6, 4, 3, denen die Töne c, f, g, c', g', c " entsprechen, gefunden haben. Wenn wir Jamblichos 1 ) glauben wollen, dann kannten allerdings schon die Chaldäer diese Beziehungen der Arithmetik zur Musik, j a sogar schon das harmonische Mittel, das auch obigen Zahlen zugrunde liegt, und P y t h a g o r a s soll es nach ihm von jenen gelernt haben; aber darauf kommt es hier gar nicht an; denn nicht darin liegt die Größe des P y t h a g o r a s , sondern in der Erkenntnis — nicht nur eines Naturgesetzes, sondern — einer in Zahlen festlegbaren Gesetzmäßigkeit in der Natur überhaupt. So wird er der große Mathematiker, indem er hinausführt über die praktischen Bedürfnisse 2 ), so wird er zum Wissenschaftler. Eine glückliche Verbindung von Beobachten und Denken, von Empirie und echt philosophischer Schau brachte als Ergebnis die für alle Wissenschaften so fruchtbare Erkenntnis der Gesetzmäßigkeit in allem Werden und Geschehen. Am schwerwiegendsten für die Folgezeit erwies sich aber das Hinaufrücken der Zahl in das Gebiet des Metaphysischen. Die Zahl selbst wurde zum Gesetzgeber, zum gestaltenden, formenden Prinzip, dem die Kräfte der Wandlung, vor allem das Feuer, Untertan waren. Anhangsweise sei hier noch eine Angabe des A r i s t o t e l e s erwähnt, die, wenn wir sie richtig verstehen, nicht nur eine Ergänzung und Bestätigung der oben dargelegten Zahlentheorie bedeuten würde, sondern auch für das Verständnis späterer medizinischer Theorien von Bedeutung wäre. In seiner Physik spricht A r i s t o t e l e s über die verschiedenen Anschauungen vom Leeren und sagt unter anderem 3 ): »Auch die Pythagoreer sagten (Ü9aaav!), das Leere sei, und es gehe aus dem grenzenlosen Odem das Leere in die Well 4 ) selbst — als ob sie aufatme — hinein, welches die Naturen umgrenze ( S i o p i j E i ) , gleichsam als wäre das Leere eine Art Trennung des Aufeinanderfolgenden und (überhaupt eine Art) der Unterscheidung. Und das liege als erstes in den Zahlen (sei das Wesen der Zahlen?).« J . B u r n e t sagt zu dieser Stelle 5 ): »Im wesentlichen ist das die Lehre des A n a x i m e n e s , und es wird zur vollen Gewißheit, daß es die des Pythagoras ist, wenn wir erfahren, daß Xenophanes®) sie ablehnte.« Die •) Introd. in Nie. Ar. p. 1 4 1 . 2) Vors.® 58 B 2. 3 ) Arist. phys. I V 6 2 1 3 b 22 (Vors.' 58 B 30). 4 ) Ich lese mit D i eis das handschriftlich überlieferte aCrrüi statt avrrö bei Bekker. 6 ) Anfänge, S. 95. *) Diog. L. I X 18, 19; die Stelle ist aber nicht eindeutig!
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von B u r n e t weiter angeführte Stelle aus der Metaphysik ) kann nun zum Beweis nicht herangezogen werden, da aus dem Zusammenhang hervorgeht, daß es sich dort um Pythagoreer um P i a t o n handelt 1 ); aber seine Ausführungen über die alten Vorstellungen über Luft und Leeres, über Luft und Dampf, Feuer und Nacht, Licht und Dunkelheit, Begrenzung und L'nbegrenztes sind gut begründet. Zustimmen kann man auch, wenn er daraus folgert: »Die darin enthaltene Identifizierung von Odem und Dunkelheit ist ein gewichtiges Argument für den primitiven Charakter der Lehre; denn im 6 . J a h r h . wurde die Dunkelheit als eine Art Dunst angesehen, während im 5. Jahrh. ihr wahres Wesen wohl bekannt war« 3 ). Dennoch wird man zögern, ihm zuzustimmen, wenn er weiter sagt: »Es scheint in der T a t sicher, daß Pythagoras die Begrenzung mit dem Feuer identifizierte und das Unbegrenzte mit Dunkelheit.« Einerseits finden wir in den Quellen keine einzige nach dieser Richtung hingehende Aussage — höchstens die Lehre vom Zentralfeuer und einige sehr unsichere Berichte über astronomische Anschauungen könnten damit in Harmonie gebracht werden —, und andererseits kann dieser Gedanke nicht leicht mit der oben dargelegten Lehre von der Zahl, vor allem mit der Lehre von der Harmonie und den Proportionen in Einklang gebracht werden. Es sei denn, daß man die Zahlen etwa als das dem Feuer immanente Gesetz ansehen würde, nach welchem dessen Tätigkeit der Begrenzung näher bestimmt würde. Dann hätten wir allerdings darin einen Beweis für die Behauptung, daß P y t h a g o r a s keine Unterbrechung der Kontinuität der bisherigen Entwicklung bedeutet, sondern vielmehr Fortführung und Ergänzung. Wir hätten auch eine Erklärung für die merkwürdige Tatsache, daß ältere Pythagoreer, z. B. H i p p a s o s — mit offensichtlicher Bezugnahme auf A n a x i m e n e s 4 ) und A n a x i m a n d e r — das Feuer zur Hypostasis der Dinge machen konnten. Auf gewisse später zu besprechende medizinische Lehren und auf die Herkunft der ihnen zugrunde liegenden naturphilosophischen Ansichten fiele damit ein ganz neues Licht. D i e Ionier hatten das Wesen d e r D i n g e i m S t o f f l i c h e n g e f u n d e n . C a u s a formalis, finalis, efficiens, V e r u r s a c h e n d e s u n d V e r u r s a c h t e s , Beherrschendes u n d Beherrschtes, alles w a r letzten E n d e s ein u n d dasselbe. E i n e solche W e l t e r k l ä r u n g konnte a u f die D a u e r
nicht
g e n ü g e n , schrie g e r a d e z u n a c h E r g ä n z u n g . Sie hatten w o h l erklärt, w o r a u s alles bestehe, aber nicht, w a r u m es gerade in dieser oder jener Form
bestehe. D i e E r g ä n z u n g
brachte
Pythagoras:
die
Z a h l bildet die verschiedenen regelmäßigen F i g u r e n , die Z a h l b e herrscht, nein, bildet den T o n , d e r ohne sie etwas g a n z Flüchtiges, U n f a ß b a r e s ist; w a r u m d a n n nicht a u c h alles a n d e r e ? S o w i r d d e r G r u n d gelegt z u m B e g r i f f des E I S O S , der mit seinen später n ä h e r ausgeführten B e s t i m m u n g e n in d e r M e d i z i n als