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German Pages 212 Year 2018
Die Präsenz der Antike in der Architektur
Colloquia Raurica Die Colloquia Raurica werden alle zwei Jahre vom Collegium Rauricum veranstaltet. Sie finden auf Castelen, dem Landgut der Römer-Stiftung Dr. René Clavel in Augst (Augusta Raurica) bei Basel, statt. Jedes Colloquium behandelt eine aktuelle geisteswissenschaftliche Frage von allgemeinem Interesse aus der Perspektive verschiedener Disziplinen. Einen Schwerpunkt bilden dabei Beiträge aus dem Bereich der Altertumswissenschaft. Um möglichst vielseitig abgestützte Erkenntnisse zu gewinnen, erörtern die eingeladenen Fachvertreter das Tagungsthema im gemeinsamen Gespräch. Die Ergebnisse werden in der Schriftenreihe Colloquia Raurica publiziert.
Das Collegium Rauricum
Jürgen von Ungern-Sternberg Peter Blome Joachim Latacz Hansjörg Reinau
Band 12
Die Präsenz der Antike in der Architektur Herausgegeben von Andreas Beyer
ISBN 978-3-11-037125-3 e-ISBN (PDF) 978-3-11-045821-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-045720-9 ISSN 1616-1157 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Andreas Tönnesmann 1953–2014 in memoriam
Inhalt Andreas Beyer Paradigma Antike?
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Aloys Winterling 6 Antike Antike Henner von Hesberg Vitruv und sein Umgang mit Vergangenheit Alexander Markschies Herrlicher als die Werke der Römer
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Jeffrey Chipps Smith The Failure of Classical Architecture in Renaissance Germany? Dietrich Erben Antike und Affront
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Andreas Köstler Antike als Additiv
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Martino Stierli Caesars Palace, Las Vegas etc.
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Vittorio Magnago Lampugnani Stadt als Projekt, oder: Die Modernität der Antike Register
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Andreas Beyer
Paradigma Antike? Zur Einleitung Der Palastbau des Florentiner Quattrocento wird gemeinhin als früher Höhepunkt der Wiederbelebung antiker Muster in der Architektur betrachtet. Theoretisch flankiert von Leon Battista Albertis De re aedificatoria, entwickelt sich vom Palazzo Medici, über Palazzo und Loggia Rucellai, den Palazzo Pitti und den Palazzo Strozzi bis hin zum Palazzo Gondi über rund ein halbes Jahrhundert die bauliche Erneuerung der Stadt am Arno im Rückgriff auf die Antike. Gleichwohl entsteht dabei kein einziger neo-antiker Bau, vielmehr ist der Zugriff auf die Antike selektiv und eigenständig, wirken lokale, mittelalterliche Traditionen ebenso ein wie neue Funktionszuweisungen, die der Profanarchitektur der Renaissance eine unverwechselbare Prägung verliehen haben. Gerade der selbstständige Impetus dieser Bauten und ihrer Architekten, von Michelozzo di Bartolommeo bis zu Giuliano da Sangallo, hat Florenz in seinem Verhältnis zur Antike, zu Vitruv, zur römischen Überlieferung und ihren Überresten eine Vorbildfunktion zuweisen lassen. Während des Zwölften Colloquium Rauricums, dessen Ergebnisse in diesem Band vorgestellt werden, hat Andreas Tönnesmann, mit dem gemeinsam ich die Aufgabe übertragen erhalten hatte, die Tagung auszurichten, noch einmal auf dem primordialen Rang der Florentiner Architektur bestanden, der er sich zuvor schon in vielen Studien zugewandt hat.1 Er tat das in Castelen während eines zusammen mit mir geführten Vortragsgesprächs, in welchem ich wiederum die Baukunst Neapels im Quattrocento in ihrer, aus meiner Sicht weit unabhängigeren Umsetzung antiker Vorgaben und Vorbilder ins Feld zu führen versucht habe, so wie ich das bereits zuvor ebenfalls in der ein oder anderen Untersuchung unternommen hatte.2 In unserem Gespräch, von dem keine Aufzeichnung existiert, das ich aber als besonders lebhaft in Erinnerung habe, hat keiner von beiden den anderen letztlich zu überzeugen vermocht, und das ganz zu Recht. Denn es diente vor allem dazu, die höchst divergenten Manifestationen der Antikenrezeption in der Baukunst zu herauszustellen, wie
1 Verwiesen sei exemplarisch auf Andreas Tönnesmann: Der Palazzo Gondi in Florenz, Worms 1983. 2 Vgl. Andreas Beyer: Parthenope. Neapel und der Süden der Renaissance, München und Berlin 2000. https://doi.org/10.1515/9783110458213-001
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Andreas Beyer
sie sich zeit- und ortsnah in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts in Italien besonders auffällig zeigen, und das jenseits einer wie auch immer begründeten qualitativen Wertung. Das Format des Gesprächs hatten wir freilich auch gewählt, weil tatsächlich zum Antikenbezug der Renaissancearchitektur bereits eingehend und vielerorts geforscht worden ist, wir uns also gleichsam auf Reminiszenzen beschränken und während der Tagung Raum lassen wollten für die Beschäftigung mit Zeit- und Kulturräumen, für welche die Frage nach der Präsenz der Antike in der Baukunst sich neu oder dringlicher stellt. Wir haben beabsichtigt, dieses Thema gemeinsam mit ausgewiesenen Fachleuten diachron und systematisch zu behandeln, wobei es uns durchaus nicht darum ging, ein homogen synthetisches Gesamtbild zu entwerfen, sondern, im Gegenteil, den jeweils höchst unterschiedlichen Rekurs auf die Antike zu beleuchten, wie er sich seit der Antike selbst und bis heute artikuliert. Allein bereits die Frage danach, welcher Zeitraum und welcher Ort mit „Antike“ überhaupt gemeint ist, ist immer schon Verhandlungssache, worauf Aloys Winterling in seinem Beitrag zu den Temporalisierungen des griechischrömischen Altertums hinweist. Dabei geht es ihm um den allgemeinen Rahmen des Verhältnisses von Vergangenheiten, Gegenwarten und Zukünften, innerhalb dessen die Geschichte der antiken Architektur nicht weniger zu verorten ist wie die Präsenz der Antike in der nachantiken Baukunst. Dabei erweist sich, dass für die Antike das Konzept einer enttemporalisierten Kunst gilt, in der die zeitliche Zuordnung keine Rolle spielt und das sich somit grundlegend vom Klassizismus eines Winckelmann unterscheidet, der ja das 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. in Griechenland als nicht hintergehbare Referenz für alle späteren Zeiten folgenreich sanktioniert hat. Auch Henner von Hesberg wendet sich dem Umgang der Antike mit der „eigenen“ Vergangenheit zu, namentlich am Beispiel Vitruvs. Und kommt zu dem Schluss, dass es sich bei dem, was als „klassisch“, als kanonisch und mithin vorbildhaft betrachtet wurde, um ein höchst gebrochenes Bild handelt und es eine Vergangenheit mit dem Anspruch auf verpflichtende Vorbildhaftigkeit kaum je gegeben hat. Bereits um die Zeitenwende ist der Rückgriff auf frühere Lösungen und Erfindungen in der Architektur selektiv, wirkliche Nachahmungen finden sich allenfalls in Detailformen. Womit sich eine auffällige Parallele zur Architektur des Quattrocento ergibt. Für das frühe Mittelalter, das Alexander Markschies am Beispiel des Aachener Doms erörtert, gilt ein vergleichbar souveräner Habitus. Karl der Große und sein Baumeister haben ein nicht weniger komplexes Verhältnis zur Vergangenheit, und offen bleibt, ob die Aachener Marienkirche sich nun auf die Hagia Sophia, den für den Salomonischen Tempel gehaltenen Felsendom oder die Grabeskirche Christi bezieht. Aber wie schon der Einsatz von Spolien, na-
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mentlich der antiken Säulen des Oktogons, und der offenkundige Bezug auf Ravenna erweisen, addiert sich der Bau aus vielerlei Vergangenheiten und schreibt er Karl ein sowohl in die Tradition des römischen Imperiums wie in jene des oströmischen Kaisertums. Jeffry Chipps Smith klagt auch für die Frühe Neuzeit, hier exemplifiziert an der Renaissancearchitektur Nürnbergs, einen selbstbewussten, keinen sklavisch nachahmenden Impetus ein. Entwürfe von Hermann Vischer dem Jüngeren oder Peter Flötners etwa weisen einen durch und durch hybriden Stil auf, der die Säulenordnung oder antike Ornamente ganz nach gusto, sozusagen, zum Einsatz brachte, vor allem, um den gotischen Stil einer neuen Formensprache weichen zu lassen. Diese war zwar als antike Referenz erkannt und als solche auch eingesetzt worden, aber durch die jüngsten Errungenschaften der italienischen Baukunst durfte sie zudem als „modern“ gelten. Auch für den Barock, oder vielmehr den klassischen französischen Stil, macht Dietrich Erben, am Beispiel der Hofkunst unter Ludwig XIV. und besonders an der Ostfassade des Louvre-Palastes deutlich, wie sowohl die Renaissance als auch die Antike amalgamiert, hier aber zugleich in einen neuen Repräsentationsstil überführt wurden. Vor allem nämlich sieht er hier eine grundsätzliche Problematik der Antikenrezeption, die als europäische „Kulturtechnik“ in den Dienst der Kompensation von Entwicklungsdefiziten der frühneuzeitlichen Staatlichkeit gestellt wird: Antike als höfisch gebundene Panegyrik. Andreas Köstler wendet sich dem Späthistorismus zu, also der Zeit zwischen 1880 und 1910, die sich, aufgrund ihres hemmungslosen Stilpluralismus, vielleicht als die antikenfernste Epoche überhaupt auszeichnet. Am Beispiel des ersten Berliner Pergamonmuseums oder des sogenannten „Deutschen Stadions“ von Otto March, dem Vorgängerbau des Olympiastadions von 1936, kann er gleichwohl evident machen, dass, zumal im Kontext des olympischen Sportgedankens, entgegen aller widrigen Umstände, auch in der Architektur des fin de siècle die Denkfigur einer wiederbelebten Antike aufscheint, wenn auch nur partiell und als Additiv. Als besonders überlebenswidriges Ambiente für die Antike dürfte zunächst auch Las Vegas erscheinen, die Unterhaltungsstadt im US-Bundesstaat Nevada. Und doch kann Martino Stierli an Caesars Palace oder dem Strip nachweisen, wie bewusst hier auf die ikonische Qualität und szenografische Dimension der Architektur gesetzt wird, nicht im Sinne einer kulturellen Rückversicherung oder eines Kults des Authentischen, sondern, im Gegenteil, als Feier des Artifiziellen und als Aktivierung antiker Stadtkonzeptionen im Zeitalter der auto-orientierten Konsumkultur. Bezeichnenderweise stand etwa bei Caesars Palace nicht die originäre römische Baukunst Pate, als vielmehr deren Übersetzung im Film. Und die räumliche, prozessuale Ordnung des Strip liest Stierli
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mit Robert Venturi und Denise Scott Brown als postmodernen Prozessionsweg, der, wie die „pittoreske“ Ordnung der Akropolis während der PanathenäenProzessionen, die Stadt als performative Struktur begreift und die postmoderne Stadt somit als permanente Aufführung der Idee der antiken Stadt verstehen lässt. Mit einem städtischen Projekt, mit einem eigenen zudem, befasst sich auch Vittorio Magnago Lampugnani. Sein 2001 entstandener Masterplan für das Stadtareal der Novartis AG in Basel, den er hier im Rückblick resümierend beschreibt, rekurriert bewusst auf die antike Planstadt, zumal auf die hippodamische Rasterstruktur mit ihrem streng orthogonal und hierarchisch gestuften Straßennetz, bei dem die öffentlichen Räume zum urbanen generierenden Element werden und die insulae zu Parzellen der in der Folge von einer eindrucksvollen Reihe von zeitgenössischen Architekten errichteten Einzelbauten. Der Novartis Campus verdichtet sich so zu einer monumentalen Versuchsanordnung innovativen Städtebaus, die sich der Strukturen antiker Stadtbaukunst bedient, in der zuversichtlichen Erwartung, damit ein Modell zu beleben, dessen Tauglichkeit und Dauerhaftigkeit sich immer wieder eindrücklich bestätigt hat. Das Zwölfte Colloquium Rauricum spannte so den Rahmen von der Antike selbst bis in die unmittelbare Gegenwart, und machte deutlich, dass es die Antike in der Architektur als unwandelbare Instanz und Kontinuum nicht gibt. Vielmehr zeigte sich durchgängig ein epochenübergreifender Habitus, der sich antiker Architekturerfindungen selektiv und im Detail bedient, immer nach Maßgabe jeweils zeitgenössischer Bedürfnisse und lokaler Bedingungen. Das von Andreas Tönnesmann und mir geführte, oben erwähnte Gespräch fügte sich so gleichsam nahtlos ein in einen Diskurs, der die Präsenz der Antike allerorten konstatierte, zugleich aber deren unerschöpften Reichtum gerade dadurch bestätigte, dass sie sich niemals glich. Als Paradigma fungiert die Antike gerade dadurch, dass sie in ihrer Zugriffsoffenheit sich immer wieder neu verfügbar macht. Gerne hätten Andreas Tönnesmann und ich unser Gespräch im Nachhinein schriftlich fixiert. Seine aber damals bereits ausgebrochene Erkrankung, an deren Folgen er im Mai 2014 verstarb, hat das verhindert. Es bleibt die Erinnerung an einen hochgeschätzten Kollegen und geliebten Freund, der auch in Castelen seine enorme Begabung bewies, unkonventionell und weit ausgreifend zu denken, wissenschaftlich und intellektuell scharf zu argumentieren und bei alldem eine menschliche Mitte zu bilden, um die wir uns gerne geschart haben. Den Beiträgern zu Colloquium und Tagungsband sei für ihr Engagement herzlich gedankt, Simeon Jankovic für die Erstellung des Registers und vielfältige Hilfestellungen, Sabine vom Bruch für die Redaktion und Marco Michele Acquafredda für die verlegerische Betreuung. Besonderer Dank gilt
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den Herausgebern der Reihe, Peter Blome, Joachim Latacz, Hansjörg Reinau und Jürgen von Ungern-Sternberg für die Aufnahme des Bandes in die Colloquiums-Serie und ihre nie nachlassende Geduld. Basel, im Sommer 2017
Aloys Winterling
Antike Antike Zu Temporalisierungen des griechisch-römischen Altertums
Vorüberlegung und Fragestellung Die Besonderheiten des Begriffs „Antike“, den in gedoppelter Form zu behandeln ich mir hier zur Aufgabe gemacht habe, legen es nahe, mit einer kurzen inhaltlichen Bestimmung zu beginnen: Der Begriff im heutigen Sinne etablierte sich im deutschsprachigen Raum etwa zu Beginn des 20. Jahrhunderts und bezeichnet seitdem nicht nur einzelne antike Kunstwerke („Antiken“),1 sondern 1. die griechisch-römische Gesellschaft und Kultur insgesamt als abgrenzbare historische Einheit und Epoche. Er ersetzte damit 2. den normativ aufgeladenen, wertenden Terminus „klassisches Altertum“, der – prominent seit Winckelmann – denselben historischen Gegenstand unter dem Aspekt seiner Vorbildlichkeit für die Gegenwart bezeichnet hatte.2 In beiden Hinsichten kann man nun nach einer antiken Antike fragen: 1. Bezogen auf die Antike als vergangene sozio-kulturelle Einheit lässt sich damit die Unterscheidung jeweils späterer Sichtweisen der Antike von der vergangenen Selbstdeutung und Selbstbeschreibung der Antike bezeichnen. Denn die Antike der Gegenwart (dies zeigt jede Forschungsgeschichte) ist nicht dasselbe wie die Antike z. B. des 19. Jahrhunderts und, dies liegt auf der Hand, schon gar nicht dasselbe wie die Antike der Antike. Anders ausgedrückt: Die gegenwärtige antike Vergangenheit lässt sich von der vergangenen antiken Gegenwart unterscheiden.
1 Vgl. die alte Bedeutung z. B. bei Johann Christoph Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart […], rev. und berichtiget von Franz Xaver Schönberger, 4 Bde., Bd. 1, Wien 1808, Sp. 393, s. v. „Antike“: „Die Antike, plur. die –n, von dem Französ. Antique, ein Ausdruck, welchen man in den neuern Zeiten eingeführet hat, diejenigen Werke der bildenden Künste zu bezeichnen, welche uns aus den schönen Zeiten Griechenlandes und Roms noch übrig geblieben sind. Man nennet diese Überreste auch Alterthümer, obgleich dieses Wort von einem weit größern Umfange der Bedeutung ist.“ – Das Manuskript wurde 2013 fertig gestellt. 2 Für die Durchsetzung des neuen Begriffs siehe Tadeusz Zielinski, Die Antike und wir. Vorlesungen, autorisierte Übers. v. E. Schoeler, unveränderter Abdruck, Leipzig 1905; vgl. Peter Kuhlmann, Art. „Antike“, DNP 13, 1999, 135–138. https://doi.org/10.1515/9783110458213-002
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Fasst man 2. „Antike“ als Wertbegriff, der eine vorbildliche Vergangenheit bezeichnet und einer Gegenwart als Norm vorhält – wie dies mit der griechischrömischen Geschichte seit dem Zeitalter der Renaissance und des Humanismus bis ins 20. Jahrhundert immer wieder gemacht worden ist –, so lässt „antike Antike“ nach einer (früheren) Epoche in der Antike selbst fragen, die von späteren antiken Epochen als Norm und Vorbild angesehen wurde, dem es nachzueifern galt. Haben diese beiden „antiken Antiken“ etwas Gemeinsames? Mir scheint, beide setzen in ihrem Kern die Vorstellung einer Historisierung von Geschichte und damit einer Reflexivität von Zeitlichkeit voraus. Wäre klar, dass die antike Vergangenheit einfach nur vergangen und mehr oder weniger gut rekonstruierbar ist, dass sie mehr oder weniger wertvoll ist, gäbe die Dopplung keinen Sinn. Diese impliziert vielmehr, dass jede Gegenwart die Beschreibung ihrer Vergangenheit selbst entwirft, anfertigt und damit konstruiert. Geschichte in diesem Sinne ist also gegenwärtige gesellschaftliche Selbstbeschreibung in temporaler Perspektive, die ihrerseits Wandlungen unterworfen und daher historisierbar ist. Die Zeithorizonte Vergangenheit, Gegenwart und natürlich auch Zukunft sind in dieser Perspektive also nicht einfach gegeben, sondern unterliegen selbst der Zeitlichkeit, sie bewegen sich gewissermaßen gemeinsam in der Zeit. Erst wenn man das so sehen kann, kann man 1. vergangene Gegenwart von gegenwärtiger Vergangenheit unterscheiden. Und dann kann man auch 2. nach der unterschiedlichen Funktion von Vergangenheit für die jeweilige Gegenwart fragen. Beides will ich im Folgenden versuchen. Dabei werde ich mich nicht der Architekturgeschichte, dem Thema dieses Bandes, zuwenden, sondern entsprechend meiner Kompetenz als Historiker Temporalität als solche in Bezug auf die Antike in den Blick nehmen. Es geht also gewissermaßen um den allgemeinen Rahmen der Relationen von Vergangenheiten, Gegenwarten und Zukünften, innerhalb dessen die Geschichte der antiken Architektur ebenso wie die Präsenz der Antike in der nachantiken Architekturgeschichte zu verorten ist. Dazu werde ich in folgenden Schritten vorgehen: Zunächst ist 1. kurz das Reflexivwerden der Zeit in der Neuzeit und damit die Bedingung der Möglichkeit einer Unterscheidung von gegenwärtiger Antike und antiker Gegenwart zu rekapitulieren. 2. geht es um die Geschichte der (anders gestalteten) Relation von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in der Antike selbst. 3. ist nach der Verbindlichkeit und Vorbildfunktion einer besonderen Vergangenheit in der Antike zu fragen. Die Spannweite des Themas – die sich der Konzeption des Colloquium Rauricum Duodecimum und den Anregungen der beiden Veranstalter verdankt – erfordert ein methodisches Vorgehen, das die Diskussion einer kaum
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noch überschaubaren (und in der Regel andere Fragestellungen verfolgenden) Forschung in weiten Bereichen ausblendet, das sich auf die Entfaltung des eigenen theoretischen Argumentes konzentriert und das dieses selbst durch wenige, aber aufschlussreiche Belege aus den antiken Quellen plausibel zu machen versucht.
I Die Verzeitlichung der Zeit in der Frühen Neuzeit „Zeit“ galt im vorneuzeitlichen Europa im Anschluss an aristotelische Vorstellungen meist als Bewegung, die von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft verlief. Ferne Vergangenheit und ferne Zukunft waren der Zeit enthoben und unabhängig von gegenwärtiger Beobachtung vorhanden. Durch Zeit wurde aus unvorhersehbarer Zukunft via Gegenwart Vergangenheit.3 Vergangenheit selbst war daher ein vorzügliches Reservoir an Erfahrungen, mittels derer man sich in der Gegenwart auf die ungewisse Zukunft einstellen konnte. Sie barg ein großes Potenzial an Lehren. Das Problem war nur, den Zugang zu den Erfahrungen aus zeitlich entfernter Vergangenheit zu gewinnen. Historie als Erkundung und schriftliche Dokumentation von Vergangenem konnte dabei helfen. Und die wertvollste, weil über die größten Wahrheitschancen verfügende, Historie basierte auf authentischen Berichten von Zeitgenossen, die dabei gewesen waren und die die Erfahrungen selbst gemacht hatten.4 Historia magistra vitae lautete der bekannte Satz, und dessen Voraussetzung war, dass sich die Zeitdimensionen der Vergangenheit und der Zukunft gewissermaßen in der Gegenwart verschränkten: Nur wenn grundsätzlich Anderes und Neues nicht zu erwarten war, konnte man aus der Vergangenheit für die Zukunft lernen. Gegenwart, die zur Vergangenheit wurde, trug damit zu einer additiven Geschichte bei, die durch fortschreitende Zeit Zuwachs erhielt und die durch sachliche Vorgaben gegliedert werden konnte: Herrscherwechsel, Schlachten, Naturkatastrophen u. ä.
3 Armin Nassehi, Die Zeit der Gesellschaft. Auf dem Weg zu einer soziologischen Theorie der Zeit, 2. Aufl., Wiesbaden 2008, bes. 39–78; vgl. allgemein zum Folgenden: Lucian Hölscher, Die Entdeckung der Zukunft, Frankfurt am Main 1999; Johannes Rohbeck, Art. „Verzeitlichung“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 11, 2001, 1026–1028. 4 Reinhart Koselleck, „Standortbindung und Zeitlichkeit. Ein Beitrag zur historiographischen Erschließung der geschichtlichen Welt“ [1977], in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1979, 176–207, hier: 178–183.
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Diese Zeitvorstellungen – wir wissen es v. a. aus den Forschungen von Reinhart Koselleck – veränderten sich in Europa im Laufe der Frühen Neuzeit in irreversibler Weise.5 Die Erfahrung realer gesellschaftlicher Veränderungen in einer nie zuvor erlebten Geschwindigkeit führte im 18. Jahrhundert zu einem Auseinandertreten von „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“ und verdichtete sich im neuen, zunächst positiv gedeuteten Begriff des „Fortschritts“:6 Die Zukunft erschien zunehmend nicht nur als ungewiss – was sie immer schon gewesen war –, sondern als grundsätzlich offen, als jedenfalls anders zu erwarten als die bekannte Vergangenheit, aus der zu lernen damit obsolet wurde. Gleichzeitig gerieten Begründungen der Gegenwart aus der Vergangenheit unter Rechtfertigungsdruck. Argumente wie „das war immer schon so“ überzeugten nicht mehr. Vielmehr verlagerten sich überzeugende Begründungen für gegenwärtiges Handeln in die Zukunft, auf zukünftig zu erwartende Entwicklungen oder zu erstrebende Zwecke. Erfahrungsraum und Erwartungshorizont, die Zeithorizonte Vergangenheit und Zukunft, wurden damit so weit auseinandergezogen, dass sie sich gewissermaßen nur noch in der auf den Augenblick geschrumpften Gegenwart trafen. Ich kann jetzt zum Präsens wechseln; denn man kann sagen, dass dieser temporale Befund in den letzten 200 Jahren keine grundsätzliche Veränderung erfahren hat – wenngleich die Erwartungen an die Zukunft längst zunehmend von Skepsis und Risikobewusstsein geprägt sind. Für den Umgang der modernen Gesellschaft mit Vergangenheit hat die Veränderung ihrer Zeithorizonte natürlicherweise gravierende Folgen gehabt. Durch die Wahrnehmung stetiger Veränderungen ergibt sich ein Sinnzuwachs des Vergangenen durch das ihm folgende Geschehen: Die wirkliche Bedeutung dessen, was passiert ist, zeigt sich erst durch das, was danach kommt. Für die sich im Zuge dieser Veränderungen etablierende wissenschaftliche Beschäftigung mit der Vergangenheit hatte dies methodische Relevanz: Das Urteil des authentischen Zeitzeugen verliert an Bedeutung als Quelle für das, was passiert, denn dieser kann ja gar nicht wissen, was von den Dingen, die er beobachtet, später einmal wichtig werden wird, da dies von ihm aus gesehen erst in der Zukunft entschieden wird. Vielmehr ist zeitliche Distanz zur Vergangenheit eine Voraussetzung für ihre angemessene Beurteilung und Beschreibung.7
5 Reinhart Koselleck, „Historia magistra vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte“ [1967], in: ders., Vergangene Zukunft (wie Anm. 4) 38–66. 6 Reinhart Koselleck, „,Erfahrungsraum‘ und ,Erwartungshorizont‘ – zwei historische Kategorien“ [1976], in: ders., Vergangene Zukunft (wie Anm. 4), 349–375; ders. u. a., Art. „Fortschritt“, in: Geschichtliche Grundbegriffe Bd. 2, 1975, 351–423. 7 Koselleck, „Standortbindung und Zeitlichkeit“ (wie Anm. 4), 183–186.
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Damit aber sind Vorstellung und Möglichkeit einer beobachterunabhängigen, allgemein gültigen, „objektiven“, zeitlosen Beschreibung der Vergangenheit hinfällig geworden. Da die Zeit weiter fortschreitet, ergeben sich immer wieder neue Gesichtspunkte, aus denen heraus in der Gegenwart die Vergangenheit zu beschreiben ist. Die eine Vergangenheit als solche gibt es damit nicht mehr, nur noch jeweils gegenwärtige Beschreibungen von dem, was zeitlich zurückliegt, Beschreibungen, die ihrerseits der Zeitlichkeit unterliegen. Dies erst ist der Beginn von „Geschichte“ im heutigen Sinne des Wortes. Denn die temporalen Veränderungen, die seit dem späten 18. Jahrhundert als irreversibel gelten können, beziehen sich nun nicht nur auf die Dinge, die beobachtet werden, sondern auch auf die Kategorien, in denen sie beschrieben werden. Der Wechsel von einer additiven zu einer immer wieder neu zu beschreibenden Vergangenheit, ging einher, das hat Koselleck am deutschen begriffsgeschichtlichen Befund gezeigt, mit der erstmaligen Entstehung des uns heute ganz selbstverständlich erscheinenden neuen Begriffs „Geschichte“ als einem Kollektivsingular:8 Er bezeichnet das vergangene Geschehen, das zuvor nur pluralisch ausgedrückt wurde („die Geschichte“ war ursprünglich das nomen plurale von „das Geschicht“), sodann auch die gegenwärtige Kunde und Erzählung davon, die traditionell durch das Wort Historie bezeichnet wurde, schließlich die prozesshafte Fortsetzung der Vergangenheit in die offene Zukunft, wie sie etwa in Wendungen wie „das Urteil der Geschichte“ (die nicht in der Gegenwart aufhört) zum Ausdruck kommt. Die Kontamination der Bedeutungen „vergangenes Geschehen“, „gegenwärtige Kunde davon“ und „übergreifender, in die Zukunft offener Prozess“ im Wort „Geschichte“ signalisiert, wie Koselleck treffend beobachtet hat, den Befund, dass das Bild, das sich die moderne Gesellschaft von ihrer Vergangenheit macht, ein je gegenwärtiges Produkt ihrer eigenen Reflexion ist, dass diese daher immer wieder umund neugeschrieben werden muss und dass dies mit ihrer offenen Zukunft zu tun hat.9 Kosellecks Ergebnisse, obwohl durch Quellen v. a. der „Sattelzeit“, der Zeit von etwa 1750 bis 1850, klar belegt und von fundamentaler Bedeutung für die moderne Geschichtswissenschaft, werden in der Forschungspraxis wenig be-
8 Reinhart Koselleck u. a., Art. „Geschichte, Historie“, in: Geschichtliche Grundbegriffe Bd. 2, 1975, 593–717, bes. 647–658. 9 Vgl. dazu die Konzeptualisierung der Wechselbeziehung zwischen vergangener (antiker) Referenz- und gegenwärtiger (moderner) Aufnahmekultur im Begriff der „Transformation“ bei Hartmut Böhme, „Einladung zur Transformation“, in: ders. u. a. (Hg.), Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels, München 2011, 7–37.
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achtet – mir scheint: verdrängt – und zwar v. a. wohl aus zwei Gründen:10 Es erscheint als eine narzisstische Kränkung für Historikerinnen und Historiker (und damit sind hier alle gemeint, die sich mit Vergangenheit beschäftigen, auch z. B. Literatur-, Kunst- oder Architekturhistoriker), dass ihre Ergebnisse, wie immer intensiv sie auch das „Vetorecht der Quellen“ beachten, einen temporären Charakter haben, den Status dauerhafter Wahrheit jedoch nicht erreichen können.11 Der andere Grund scheint mir in der Reflexivität der Zeitverhältnisse zu liegen, die man jetzt zur Kenntnis nehmen kann und als Historiker auch zur Kenntnis nehmen sollte. Deren Komplexität lässt sich anhand der Zeittheorie Niklas Luhmanns vorführen, der Kosellecks Überlegungen in diese Richtung fortgeführt hat.12 Wenn nämlich Zeit in ihren Dimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft keinen ontologischen Charakter mehr hat, sondern selbst der Zeitlichkeit unterliegt, bedeutet das z. B., dass man das Bild, das sich vergangene Gesellschaften von ihrer Vergangenheit gemacht haben, unterscheiden muss vom gegenwärtigen Bild dieser Vergangenheit der vergangenen Gesellschaften und dieses wiederum von zukünftigen Entwürfen derselben Vergangenheit. Das Gleiche gilt für die Dimension der Zukunft: Die heute entwerfbare Zukunft ist nicht identisch mit der Zukunft der Gesellschaften, die uns vorangegangen sind. Was zwischenzeitlich passiert ist, hat die Möglichkeitshorizonte und damit die Zukunft verändert. Die gegenwärtige Zukunft ist daher von einer vergangenen Zukunft zu unterscheiden und ebenso von den Zukünften in der Zukunft, über die wir wenig wissen (und natürlich auch von der zukünftigen Gegenwart, dem also, was tatsächlich einmal eintreten wird).
10 Die Auseinandersetzung mit Kosellecks Werk scheint sich v. a. auf die Frage der genauen Datierung der Entstehung des Kollektivsingulars „Geschichte“ im Deutschen und in den übrigen europäischen Sprachen oder auf die Angemessenheit des Konzepts der „Sattelzeit“ – insgesamt also: auf zeitliche und sachliche Differenzierung seiner Ergebnisse –, weniger dagegen auf die sich daraus ergebenden grundlegenden erkenntnistheoretischen Implikationen historischer Forschung als solcher zu konzentrieren. Siehe zuletzt bes. die Beiträge in: Hans Joas, Peter Vogt (Hg.), Begriffene Geschichte. Beiträge zum Werk Reinhart Kosellecks, Berlin 2011. 11 Dass dies kein Anlass zu historiographischem Minderwertigkeitsgefühl ist, kann ein Blick auf die Gegenwartswissenschaften lehren, deren (ebenfalls) beobachterabhängige Konstruktivität heute als wissenssoziologische Banalität gelten kann. 12 Siehe bes. Niklas Luhmann, „Weltzeit und Systemgeschichte. Über Beziehungen zwischen Zeithorizonten und sozialen Strukturen gesellschaftlicher Systeme“ [1973], in: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 2, Opladen 1975, 103–133; ders., „Evolution und Geschichte“ [1976], in: ebd. 150–169; vgl. die Abschnitte über „Evolution und Geschichte“ und „Temporalisierungen“, in: ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft, 2 Bde., Frankfurt am Main 1997, Bd. 1, 569–576, Bd. 2, 997–1016.
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Dass vergangene Gegenwarten von gegenwärtigen und zukünftigen Gegenwarten zu unterscheiden sind, lässt sich leicht nachvollziehen. Entscheidend aber ist, dass die vergangene Gegenwart nicht identisch ist mit der (heute) gegenwärtigen Vergangenheit, dass die gegenwärtige Gegenwart etwas anderes ist als vergangene Zukunft oder zukünftige Vergangenheit und dass die gegenwärtige Zukunft nicht dasselbe ist wie die zukünftige Gegenwart.13 Die temporale Verfasstheit der modernen Gesellschaft, die Tatsache, dass die Horizonte von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft jeweils selbst der Zeitlichkeit und damit geschichtlichem Wandel unterliegen, führt also zu einer Reflexivität der Zeit, und diese Verzeitlichung der Zeit lässt sich auch daran bemerken, dass Periodisierungen nicht mehr auf „feste“ Bezugspunkte wie Herrscherdynastien rekurrieren, sondern auf die Zeitlichkeit der Zeiten selbst, indem eine alte Zeit, das Altertum, vom Mittelalter und der neuen Zeit, später dann als Neuzeit bezeichnet, unterschieden werden.14 Schließlich hört diese Reflexivität der Zeit nicht bei den gerade geschilderten Doppelbestimmungen auf, sondern lässt sich weiterführen: Eine gegenwärtige Interpretation vergangener Sciencefictionliteratur z. B. wird sich unterscheiden von einer Interpretation derselben Literatur in der Zukunft. Oder: Die heute mögliche Rekonstruktion z. B. von Zukunftsvorstellungen im antiken Griechenland wird sich unterscheiden von Untersuchungen desselben Themas in einer zukünftigen Geschichtswissenschaft. Beides bedeutet: Gegenwärtige vergangene Zukunft ist etwas anderes als zukünftige vergangene Zukunft. Ebenso ist gegenwärtige vergangene Vergangenheit unterschieden von den vergangenen Vergangenheiten der Vergangenheit: Man lese dazu nur die Forschungen des 19. Jahrhunderts zur griechischen Historiographie und vergleiche sie mit gegenwärtigen zum gleichen Thema. Es liegt auf der Hand, dass die Komplexität dieser Zeithorizonte, die Vergangenheit und Zukunft als kontingent, als so und auch anders möglich erscheinen lässt, mit der Komplexität eines neuen Typs von Gesellschaft zu tun hat, der sich im 18. Jahrhundert in Europa endgültig durchsetzte und sich seitdem in überraschender Geschwindigkeit über den gesamten Globus verbreitet
13 Luhmann, Weltzeit und Systemgeschichte (wie Anm. 12), 114: „Wir möchten sagen können, dass die Gegenwart mit der Gegenwart der Gegenwart gleichzeitig ist und dass sie darin eine besondere Auszeichnung hat; dass ferner die Gegenwart auch mit der Gegenwart der Vergangenheit gleichzeitig ist, nicht aber mit vergangenen Gegenwarten, also erst recht nicht mit den Vergangenheiten vergangener Gegenwarten und auch nicht mit den vergangenen Gegenwarten gegenwärtiger Zukunft, sondern nur mit einer der zukünftigen Gegenwarten vergangener Gegenwarten.“ 14 Reinhart Koselleck, „,Neuzeit‘. Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe“, in: ders., Vergangene Zukunft (wie Anm. 4) 300–348.
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und zu vielfältigen Zentrum-Peripherie-Differenzierungen geführt hat.15 Im Zuge dieser Ausbreitung zeigte sich die Besonderheit der temporalen Strukturen des modernen Europa auch in ihrer Differenz zu den Zeitbestimmungen anderer, gleichzeitiger nichteuropäischer Gesellschaften.16 Wenn sich die temporalen Strukturen der Moderne somit durch Reflexivität der Zeit sowie durch Historisierung und Kontingenz der Geschichte auszeichnen – wie verhielt es sich mit den Zeithorizonten in der Antike?
II Antike Vergangenheiten, Gegenwarten und Zukünfte Als eine Besonderheit des 5. Jahrhunderts v. Chr. in Griechenland kann angesehen werden, dass Vergangenheit als ein eigenständiger temporaler Erfahrungsraum erstmals – bei Herodot – freigelegt und kurz darauf bereits – bei Thukydides – in komplexer Weise hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Zukunft reflektiert und bestimmt wird. Der pater historiae,17 der seine Schrift als „Darlegung der Erkundung (ἱστορίης ἀπόδεξις) des Herodot aus Halikarnassos“ bezeichnet, gibt als sein Ziel an, die von Menschen hervorgebrachten Dinge vor dem Vergessen bewahren zu wollen, und Anlass ist für ihn der große Krieg, der zwischen Hellenen und Barbaren stattgefunden hat.18 Seine „Erkundungen“ beziehen sich allerdings nicht ausschließlich, nicht einmal in erster Linie auf die Vergangenheit, vielmehr sind die „menschlichen Dinge“,19 die den Gegen-
15 Niklas Luhmann, „Temporalisierung von Komplexität. Zur Semantik neuzeitlicher Zeitbegriffe“, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 1, Frankfurt am Main 1980, 235–300. 16 Vgl. aus einer umfangreichen Literatur: Edward E. Evans-Pritchard, „Nuer Time Reckoning“, in: Africa 12, 1939, 189–216; Günter Dux, Die Zeit in der Geschichte. Ihre Entwicklungslogik vom Mythos zur Weltzeit. Mit kulturvergleichenden Untersuchungen in Brasilien (J. Mensing), Indien (G. Dux, K. Kälble, J. Meßmer) und Deutschland (B. Kiesel), Frankfurt am Main 1992; Barbara Adam, „Perceptions of Time“, in: Tim Ingold (Hg.), Companion Encyclopedia of Anthropology, London, New York 1995, 503–526; Klaus E. Müller, „Zeitkonzepte in traditionellen Kulturen“, in: ders., Jörn Rüsen (Hg.), Historische Sinnbildung. Problemstellungen, Zeitkonzepte, Wahrnehmungshorizonte, Darstellungsstrategien, Reinbek bei Hamburg 1997, 221–239. 17 Cic. de leg. 1, 5. 18 Vgl. als Überblick zur Forschungsgeschichte: Walter Marg (Hg.), Herodot. Eine Auswahl aus der neueren Forschung, 3. Aufl., Darmstadt 1982; Carolyn Dewald, John Marincola (Hg.), The Cambridge Companion to Herodotus, Cambridge u. a. 2006; nach wie vor grundlegend: Christian Meier, Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt am Main 1980, 326–359; 360–434. 19 Hdt. pr.: τὰ γενόμενα ἐξ ἀνθρώπων.
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stand seines Werkes ausmachen, auch kulturgeographischer und ethnographischer Natur, die Erkundung von Zeit und Raum wird nicht klar differenziert. Wohl aber grenzt Herodot den Bereich des Menschlichen erstmals klar von dem des Göttlichen ab und reflektiert die Methoden seiner Erkundungen: Es geht um Wahrheitsfindung.20 Dafür ist Autopsie die sicherste Methode, wenngleich er darauf hinweist, dass er auch ihm nur Berichtetes berichtet, und dies sogar dann, wenn es ihm selbst nicht plausibel erscheint.21 Wie sieht die Zukunft aus, die Herodot erwartet? „[…] die vor Zeiten groß waren, von denen sind die meisten klein geworden; und die groß sind zu meiner Zeit, waren früher klein,“ heißt es zu Beginn des Werkes.22 An anderer Stelle wird das Auf und Ab der Menschendinge mit einem Rad verglichen.23 Göttliches Eingreifen wird für möglich gehalten, auch Vorzeichen, die Unglück ankündigen,24 insgesamt werden jedoch keinerlei grundsätzliche Veränderungen erwartet. Erwartet wird Variation im Bereich des immer Gleichen. In den Kategorien Kosellecks lässt sich dies als Verschränkung von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont bezeichnen. Das ändert sich schon kurz darauf bei Thukydides, der bis etwa 400 v. Chr. lebte und schrieb.25 Auch er schildert einen Krieg, den zwischen Athen und Sparta, den er für bedeutender und denkwürdiger als alle früheren hält. In seiner sog. Archäologie, in der er die Vorgeschichte von den Anfängen bis in die Zeit der Perserkriege beschreibt, zeigt sich die Vorstellung eines Fortschreitens von einfachen, primitiven Verhältnissen Griechenlands in der Frühzeit – τὰ παλαιά (1, 20, 1) – hin zur Größe von Hellas in seiner Gegenwart: Während man in der Vorzeit in Waffen herumlief, aufgrund der Unsicherheit keine Bäume anpflanzte, keine Siedlungen befestigte und allenfalls dem Seeraub nachging, wuchsen später Landwirtschaft, Handel, Seefahrt und die Macht von Städten bis zur Zeit der Siege gegen die (persischen) Barbaren.26 Aufschlussreich ist jedoch, dass diese fortschreitende Entwicklung, die Thukydides be-
20 Hdt. 7, 214. 21 Hdt. 7, 152: λέγειν τὰ λεγόμενα; vgl. 4, 42. 22 Hdt. 1, 5 (Übers. im Anschluss an W. Marg). 23 Hdt. 1, 207. 24 Hdt. 1, 32; 6, 27. 25 Vgl. als Überblick zur Forschungsgeschichte Hans Herter (Hg.), Thukydides, Darmstadt 1968; Klaus Meister, Die griechische Geschichtsschreibung. Von den Anfängen bis zum Ende des Hellenismus, Stuttgart u. a. 1990, 45–62; Antonios Rengakos, Antonis Tsakmakis (Hg.), Brill’s Companion to Thucydides, Leiden 2006. 26 Thuk. 1, 2–8; 1, 15–17.
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obachtet, auf die Vergangenheit beschränkt bleibt, während er für die Zukunft mit konstanten Verhältnissen rechnet.27 Sein ganzes Werk – ich erinnere an Bekanntes – hat ja den Zweck, durch die Schilderung des Krieges „das Gewesene klar (zu) erkennen – und damit auch das Künftige, das wieder einmal, nach der menschlichen Natur, gleich oder ähnlich sein wird“. Entsprechend solle seine Historiographie ein „Besitz für immer“ sein.28 Grundsätzliche Veränderungen werden in der Zukunft also nicht erwartet, nur mehr oder weniger starke Variationen auf dem erreichten Niveau, und diese Zukunftserwartung wird durch ein anthropologisches Modell plausibilisiert, das durch bestimmte handlungsleitende Grundkonstanten des Menschen (wie Machtstreben, Furcht und Habgier) bestimmt ist.29 Thukydides’ Beschreibungen zeichnen sich durch höchst komplexe, modern anmutende Kausalanalysen und Quellenkritik aus: Er glaubt nicht gleich jedem Zeitzeugen, geschweige denn ihm selbst unplausibel erscheinenden Berichten von Berichtetem (wie Herodot),30 sondern er analysiert neben Gründen auch latente Ursachen, die „am meisten beschwiegenen“, aber eigentlichen Faktoren, die zu den Ereignisabläufen führten.31 Sein Werk dokumentiert temporale Strukturen, bei denen die Vergangenheit einerseits, Gegenwart und Zukunft andererseits in einer Weise auseinandergetreten sind, die man als vergangenen Fortschritt bei gleichzeitiger Verschränkung von Gegenwartswahrnehmung und Zukunftserwartung charakterisieren kann. Die grundlegende Differenz zu den oben skizzierten modernen Zeithorizonten zeigt sich aufschlussreich an einer Stelle, an der er auf zukünftige Vergangenheit zu sprechen kommt: Dass die alten mykenischen Burgen in seiner Ge-
27 Vgl. dazu grundsätzlich Christian Meier, Art. „,Fortschritt‘ in der Antike“, in: Geschichtliche Grundbegriffe Bd. 2, 1975, 353–363; vgl. ders., „Ein antikes Äquivalent des Fortschrittsgedankens. Das „Könnens-Bewußtsein“ des 5. Jahrhunderts v. Chr.“, in: ders., Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt am Main 1980, 435–499. 28 Thuk. 1, 22, 4 (Übers. im Anschluss an G. P. Landmann). 29 Dies zeigt aufschlussreich etwa die bekannte Stelle zu den Bürgerkriegen in den Städten, den Staseis, die unter den besonderen Bedingungen des Krieges zu ganz außergewöhnlicher Desintegration führten, das heißt, die dem Konstanzmodell zu widersprechen scheinen: Es sei in ständigem Aufruhr viel Schweres über die Poleis hereingebrochen, schreibt Thukydides und fügt an: „[…] wie es zwar geschieht und immer wieder sein wird, solange Menschenwesen sich gleich bleibt (ἡ αὐτὴ φύσις ἀνθρώπων), aber doch schlimmer oder harmloser und in immer wieder anderen Formen, wie es jeweils der Wechsel der Umstände (αἱ μεταβολαὶ τῶν ξυντυχιῶν) mit sich bringt.“ (3, 82) 30 Damit entgeht Thukydides natürlich zugleich die Möglichkeit von „Beobachtungen zweiter Ordnung“, sodass vor dem Hintergrund einer Historisierung der Geschichte Herodot als der „modernere“ Historiograph erscheint. 31 Thuk. 1, 20, 1; 1, 22, 2; 1, 23, 5 f.
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genwart wenig beeindruckend wirkten, dürfe, so Thukydides, nicht zu falschen Rückschlüssen über die tatsächliche frühere Größe und Macht Mykenes führen. „Denn wenn Sparta verödete und nur die Tempel und Grundmauern der Bauten blieben, würden gewiss die Späteren nach Verlauf langer Zeit voller Unglauben seine Macht im Vergleich zu seinem Ruhm bezweifeln – und doch haben die Spartaner vom Peloponnes zwei Fünftel zu eigen und sind die Vormacht des Ganzen und noch vieler Verbündeten außerhalb; aber da sie nicht in einer Stadt beisammen wohnen und keine kostbaren Tempel und Bauten haben, sondern nach altgriechischem Brauch dorfweise siedeln, so könnte Sparta eher armselig wirken. Wenn es aber Athen ebenso ginge, so würde seine Macht nach der sichtbaren Erscheinung der Stadt doppelt so hoch geschätzt werden, als sie ist.“ 32 Es gibt somit in der (zukünftigen) Vergangenheit zeitunabhängige, objektive Fakten, und (wie in der Gegenwart auch) nur eine Wirklichkeit, die es zu erkunden gilt. Durch die Zeit selbst kann die Vergangenheit für spätere Beobachter keine neue Bedeutung bekommen, sondern nur verdunkelt werden.33 Thukydides’ Vorstellung eines Fortschritts, der in der Gegenwart bereits zu seinem Ziel gekommen ist, wird knapp zwei Generationen später, um die Mitte des 4. Jahrhunderts, bei Aristoteles in die Form der Teleologie gebracht.34 So finden sich in seiner ‚Politik‘ an verstreuten Stellen Rekonstruktionen der früheren griechischen Geschichte, die man heutzutage als strukturgeschichtliche Analysen charakterisieren würde: Das Größenwachstum der Städte wird in Zusammenhang mit der Ausdifferenzierung militärischer Organisationsstrukturen und politischer Ordnungen gebracht.35 Komplexer werdende Verhältnisse und die Entwicklung von Rede- und Kriegskunst werden als Grund dafür genannt, dass die früher in eins gehenden Rollen von Volksführer und Feldherr sich differenzierten und es zugleich immer seltener zu Tyrannis-Herrschaften
32 Thuk. 1, 10. 33 Es ist zwar davon auszugehen, dass auch in der griechischen Gesellschaft dieser Zeit früheres Geschehen durch spätere Ereignisse einen Sinnzuwachs und neue Bedeutung erhalten konnte. Die Wahrnehmung eines solchen Sachverhaltes wäre jedoch (bei Thukydides) den mangelnden Fähigkeiten der Beobachter, nicht der Zeitlichkeit der Beobachtung selbst zugerechnet worden. 34 Vgl. zur Forschung: Renate Zoepffel, Historia und Geschichte bei Aristoteles (Abh. Heidelb. Akad. Wiss., Philos.-Hist. Kl. 1975, 2), Heidelberg 1975, 5–70; Raymond Weil, Aristote et l’histoire. Essai sur la „Politique“, Paris 1960; Arbogast Schmitt, Teleologie und Geschichte bei Aristoteles oder Wie kommen nach Aristoteles Anfang, Mitte und Ende in die Geschichte?, in: Karlheinz Stierle, Rainer Warning (Hg.), Das Ende. Figuren einer Denkform (Poetik und Hermeneutik 16), München 1996, 528–563. 35 Aristot. pol. 1297 b 16–28; 1292 b 41–1293 a 6.
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kam.36 Bei den meisten Wissenschaften und Künsten – wie etwa bei Heilkunst, Gymnastik und auch in der Gesetzgebung – sei es zu nützlichen Verbesserungen gekommen gegenüber der Zeit, als „die Griechen […] in Waffen umhergingen und voneinander die Frauen kauften.“ 37 Diese „Fortschritte“ sind jedoch nach Aristoteles nur Ent-Deckungen von vorhandenen Möglichkeiten, die in den Fähigkeiten und Bedürfnissen des Menschen angelegt sind, die vielleicht auch schon zuvor einmal entdeckt worden, aber wieder in Vergessenheit geraten sind und die daher – sollten sie (wieder) einmal in Vergessenheit geraten – auch jederzeit wieder neu entdeckt werden könnten: „Man muss demnach wohl doch […] der Meinung sein, dass vieles in langer Zeit oft erfunden wurde, ja vielmehr unendliche Male. Denn der vorteilhafte Nutzen scheint das Notwendige zu lehren […] Daher muss man hinreichend Gebrauch machen von dem, was schon entdeckt worden ist, was aber unbeachtet blieb, muss man zu suchen trachten“.38 „Alles ist nämlich beinahe schon erfunden, doch das eine ist noch nicht zusammengetragen, vom anderen macht man keinen Gebrauch, obwohl man es kennt.“ 39 Diese Vorstellungen, dass sich die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft auf ein vorgegebenes Ziel hin bewegt und es nur von äußerlichen Zufälligkeiten und der zur Verfügung stehenden Zeit abhängt, bis das Ziel erreicht ist, dass aber auch erreichte Entwicklungsniveaus wieder verloren gehen können, um vielleicht später erneut erreicht zu werden, diese Vorstellungen hat Aristoteles in den Anfangskapiteln seiner ‚Politik‘ in berühmte Sätze gebracht: Da der Mensch ein auf die Polis bezogenes Lebewesen sei, indem er seine ideale Lebensform, Glück und Autarkie, nur dort verwirklichen könne, sei die Polis als Ganze bereits da, bevor die einzelnen Menschen als ihre Teile da seien: „Dass also die Polis von Natur ist“, heißt es, „und früher als jeder einzelne, ist klar.“ 40 Die fortgeschrittene Gegenwart wird somit als Ziel der Vergangenheit gedeutet, hat aber ihrerseits einen prekären Status, indem stets Rückschritte, ebenso wie Neuanfänge und Neuentwicklungen möglich sind. Damit sind die bei Thukydides inkongruent gewordenen Zeitdimensionen von Vergangenheit einerseits, Gegenwart und Zukunft andererseits bei Aristoteles wieder ineinander verschränkt. Diese Verschränkung ist jetzt allerdings verbunden mit einer Aufhebung der Irreversibilität von Zeit in der Teleologie. Sie führt gewisserma-
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Aristot. Aristot. Aristot. Aristot. Aristot.
pol. pol. pol. pol. pol.
1305 a 7–15. 1268 b 32–42 (zit. 40 f.). 1329 b 25–35 (Übers. im Anschluss an F. F. Schwarz). 1264 a 3–5. 1253 a 25 f.: ὅτι μὲν οὖν ἡ πόλις καὶ φύσει καὶ πρότερον ἢ ἕκαστος, δῆλον.
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ßen zu einer Entzeitlichung der Zeit und sie hat die Folge, dass die Vergangenheit als eigener Erfahrungsraum, aus dessen Untersuchung man lernen könne, gleich mit aufgehoben erscheint: So überrascht es nicht, dass Aristoteles weder seine strukturgeschichtlichen Überlegungen noch seine teleologische Bestimmung der Entwicklung des Menschen hin zur Polis als „Historie“ (ἱστορία) bezeichnet und dass er der Erkundung von Vergangenheit als Erkenntnisquelle generell einen geringen Stellenwert beimisst. Ein ἱστορικός und ein Dichter, so heißt es an einer bekannten Stelle in der Poetik, unterschieden sich dadurch, dass der eine „das wirklich Geschehene“ (τὰ γενόμενα) mitteile, der andere aber das, „was möglicherweise geschehen könnte“ (οἷα ἂν γένοιτο). Die Realität von Einzelgeschehnissen als solchen ist nun aber für Aristoteles angesichts ihrer Zufälligkeit bei der Verwirklichung von durch die Natur des Menschen gegebenen Möglichkeiten gegenüber diesen Möglichkeiten selbst eher unbedeutend. ἱστορία – und es ist natürlich ganz falsch, dies hier mit „Geschichte“ zu übersetzen –, die es nur auf Besonderes abgesehen hat, ist daher nach Aristoteles weniger philosophisch und weniger ernsthaft als ποίησις, Dichtkunst, die auf Allgemeines zielt.41 Bei den hier am Beispiel von Historiographie und Philosophie vorgeführten Zeithorizonten im klassischen Griechenland lässt sich ein Zusammenhang mit (aus heutiger Sicht) ‚realhistorischen‘ Entwicklungen gut nachvollziehen: Die Wahrnehmung des eigenen fortgeschrittenen Zustands reflektiert die außergewöhnliche Stellung, die den griechischen Poleis durch ihre Auseinandersetzung mit den alten Kulturen des Orients und durch die eigene, sich von allem vorherigen absetzende Sonderentwicklung bewusst wurde. Die Annahme von wenig Veränderbarkeit und die Erwartung einer im Bereich der Erfahrung bleibenden Zukunft entsprechen der (aus heutiger Sicht) tatsächlichen Zukunft der griechischen Poleis. In strukturgeschichtlicher Hinsicht, bezogen auf eine spezifische politische Integration der Gesellschaft auf der Basis städtischer Einheiten, änderte sich – dies wäre ausführlicher zu begründen42 – auch in den folgenden Jahrhunderten nichts Grundlegendes. Was sich aber änderte, war die Entstehung politischer Suprastrukturen,43 die die Städte durch monarchische Großreiche politisch entmachteten. Die Ent41 Aristot. poet. 1451 b 1–7. 42 Vgl. dazu kurz: Aloys Winterling, Aristoteles’ Theorie der politischen Gesellschaft, in: Karen Piepenbrink (Hg.), Philosophie und Lebenswelt in der Antike, Darmstadt 2003, 67–82, bes. 78–80; ders., „Polisübergreifende Politik bei Aristoteles“, in: Kai Brodersen, Charlotte Schubert (Hg.), Rom und der griechische Osten. Festschrift für Hatto H. Schmitt zum 65. Geburtstag, Stuttgart 1995, 313–328, bes. 326–328. 43 Begriff im Anschluss an Friedrich Vittinghoff, „Soziale Struktur und politisches System in der hohen römischen Kaiserzeit“ [1980], in: ders., Civitas Romana. Stadt und politisch-soziale Integration im Imperium Romanum der Kaiserzeit, Stuttgart 1994, 253–271.
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stehung des größten dieser Großreiche, die Eroberung und Beherrschung des Mittelmeerraums durch die an der Peripherie der griechischen Welt gelegene, ursprünglich ganz unbedeutende Stadt Rom, gab Anlass zu einer weiteren Modifikation der Zeithorizonte. Wir können sie bei Polybios greifen, dem Griechen, der nach 168 v. Chr. – zunächst als Geisel – längere Zeit in Rom lebte.44 Direkt am Anfang des umfangreichen Werkes, das den überraschenden Aufstieg Roms zur Beherrscherin der Mittelmeerwelt in – so Polybios – nicht ganz 53 Jahren, vom Beginn des 2. Punischen Krieges, 220 angesetzt, bis zur Schlacht bei Pydna 168 v. Chr. erklären will, heißt es: In den vorangehenden Zeiten lagen die Ereignisse der Welt gleichsam verstreut auseinander, da das Geschehen hier und dort, sowohl nach Planung und Ergebnis als auch räumlich, geschieden und ohne Zusammenhang blieb. Von diesem Zeitpunkt an aber wird die Geschichte (ἱστορία) ein Ganzes, gleichsam ein einziger Körper (σωματοειδής), es verflechten sich die Ereignisse in Italien und Libyen mit denen in Asien und Griechenland, und alles richtet sich aus auf ein einziges Ziel.45
Polybios nimmt also eine grundlegende Veränderung in seiner jüngeren Vergangenheit zum Anlass für das Schreiben von Historie: Seit der Herrschaft Roms sind die lokalen Geschichten nicht mehr voneinander unabhängig und auch nicht mehr als solche zu beschreiben, sondern es ist eine Art Globalisierung der antiken Welt festzustellen, durch die alles mit allem vernetzt worden ist. Polybios benutzt – nach unserer Überlieferungslage als erster und zunächst einziger – den Begriff ἱστορία in einer doppelten Bedeutung zur Bezeichnung nicht nur der historischen Erzählung, sondern auch des vergangenen Geschehens selbst (so im gerade zitierten Beispiel). Dies entspricht den zwei Konnotationen des modernen Begriffs „Geschichte“ hinsichtlich seines Bezugs auf die Vergangenheit.46 Die dritte Bedeutung – „Geschichte“ als in die Zukunft offener Prozess – liegt Polybios jedoch fern. Aufschlussreich ist vielmehr, dass die grundlegenden Veränderungen v. a. der politischen Bedingungen in der Vergangenheit zwar wahrgenommen und nachvollzogen werden und zur Ursachenforschung und Historiographie anregen, eine Änderung des Erwartungshorizontes für die Zukunft, etwa in Rich-
44 Vgl. zur Forschung: Frank W. Walbank, Polybius, Berkeley 1972; Karl-Ernst Petzold, „Kyklos und Telos im Geschichtsdenken des Polybios“, in: Saeculum 28, 1977, 253–290; Klaus Stiewe, Niklas Holzberg (Hg.), Polybios, Darmstadt 1982; Brian C. McGing, Polybius’ Histories, Oxford 2010; Felix K. Maier, „Überall mit dem Unerwarteten rechnen“. Die Kontingenz historischer Prozesse bei Polybios, München 2012. 45 Polyb. 1, 3, 3 f. (Übers. im Anschluss an H. Drexler). 46 Koselleck, Art. „Geschichte, Historie“ (wie Anm. 8).
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tung auf eine Fortsetzung des Eintretens von Unerwartetem oder auf eine Zunahme von Offenheit und Veränderbarkeit, damit jedoch nicht verbunden ist. Vielmehr wird der Aufstieg Roms als besonderes Dokument für die Macht der Tyche, des Zufalls oder des göttlichen Wirkens, in der Geschichte gedeutet, die immer wieder Neues und Unerwartetes über die Menschen bringe.47 Ein Niedergang Roms in irgendeiner späteren Zeit wird – begründet durch das alte Schema des Verfassungskreislaufs und trotz seiner Theorie von der gemischten Verfassung Roms – als naturnotwendig erwartet.48 Das Auf und Ab des Herodot ist somit nach wie vor plausibel, nur dass die Amplitudenausschläge beträchtlich größer geworden sind.49 Auch sonst bleiben Erfahrungsraum und Erwartungshorizont miteinander verschränkt: Ziel der Historie ist es, durch wahre Berichte (ganz im Sinne des Thukydides) dauerhaft zu belehren und zu richtigen Einsichten zu führen.50 Der beste Historiker ist der, der das, was er schildert, als Augenzeuge miterlebt hat, und Polybios ist stolz darauf, dass er verschiedentlich sogar als Handelnder dabei war.51 Schließlich ist Historie Gegenwartsbeschreibung und soll der Belehrung in der Zukunft dienen. Polybios schreibt, er habe die frühere Vergangenheit mit Absicht nicht behandelt, da man dabei nur entweder das, was frühere aufgeschrieben hätten, plagiieren könne oder unnützerweise noch einmal behandeln müsse, was andere schon der Nachwelt überliefert hätten: „Für die Darstellung des aktuellen Geschehens habe ich mich entschieden, erstens, weil sich immerfort Neues ereignet und dieses infolgedessen fortlaufend einen neuen Bericht verlangt […], zweitens, weil dies das am meisten Nützlichste schon immer war […].“ 52 Dass die Deutung eines Geschehens aus späterer Sicht eine andere sein kann, dass Personen, die selbst nicht als Handelnde involviert waren, vielleicht sogar eine angemessenere Rekonstruktion von Zusammenhängen liefern können, entspricht nicht seiner Wirklichkeitssicht. So werden die alten temporalen Kategorien auf die großen Veränderungen, die er sich zum Thema gemacht hat, übertragen und bestimmen auch die erwartete Zukunft. Es bleibt bei additiver Geschichte bzw. geht zu ihr zurück, indem der „Fortschritt“ Griechenlands in archaischer Zeit ausgeblendet wird.
47 Polyb. 1, 4, 4. 48 Polyb. 6, 9, 12–14. 49 Polyb. 6, 57, 1: „Darüber, dass alles Seiende dem Verfall und Wandel (φθορὰ καὶ μεταβολή) unterworfen ist, braucht man wohl nicht noch ein Wort zu verlieren. Denn die Tatsache, dass die Natur zwingend ist (ἡ τής φύσεως ἀναγκή), genügt als Beweis.“ 50 Polyb. 2, 56, 11. 51 Polyb. 3, 4, 13. 52 Polyb. 9, 2, 1–5; Zit. 9, 2, 4 f.; vgl.: „[…] denn natürlich konnten die Alten uns nicht von Dingen erzählen, die erst später passierten […]“ (ebd.).
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Wie aber sahen nun die temporalen Strukturen derer aus, die diese große Veränderung der antiken Welt herbeigeführt hatten – der Römer? Die frühesten Zeugnisse, so die Fragmente des griechisch schreibenden Senators Fabius Pictor, deuten auf die Verschriftlichung von Vergangenheitsvorstellungen, wie sie für nichtschriftliche Gesellschaften charakteristisch sind. Das erste Kolloquium Rauricum im Jahre 1987 war diesem Thema gewidmet, und Jürgen von UngernSternberg hat dort gezeigt, dass die frühe römische Historiographie als Niederschrift mündlicher Traditionen anzusehen ist: Die Einrichtung vieler wichtiger Institutionen wird – historisch wenig plausibel – in die „zeitlose Geschichte“ der Frühzeit verlegt, der folgt dann ein charakteristisches „floating gap“, über das wenig bekannt ist, und erst die Geschichte der letzten drei Generationen wird wieder detailliert behandelt.53 Die Wahrnehmung zeitlicher Veränderung, wie wir sie bei den uns nicht nur fragmentarisch überlieferten historiographischen Werken der späten Republik, des 1. Jahrhunderts v. Chr., v. a. bei Sallust, aber auch bei historischen Rekonstruktionen etwa in den Schriften Ciceros finden, ist nun erneut eine andere. Anstelle eines erreichten fortgeschrittenen Niveaus, auf dessen Basis dann für die Zukunft ein Auf und Ab erwartet wird, zeigt sich hier ein großes Auf in der frühen Vergangenheit und ein großes Ab in der jüngeren Vergangenheit, das auch Gegenwart und Zukunft bestimmt.54 So beschreibt Sallust das erstaunlich schnelle Anwachsen Roms von kleinen primitiven Verhältnissen bis zur Beherrschung der Welt, das auf ideal gezeichneten innerstädtischen Verhältnissen wie Tugend, Tapferkeit, Moral und Solidarität basiert habe.55 Mit dem Sieg über die letzte Rivalin Karthago habe dann fortuna zu wüten begonnen und alles durcheinander gebracht. Geldgier, Herrschsucht, Verschwendungssucht, Unmoral und Ungerechtigkeit hätten
53 Jürgen von Ungern-Sternberg, „Überlegungen zur frühen römischen Überlieferung im Lichte der Oral-Tradition-Forschung“ [1988], in: ders., Römische Studien. Geschichtsbewusstsein – Zeitalter der Gracchen – Krise der Republik, München 2006, 1–29; vgl. Dieter Timpe, „Mündlichkeit und Schriftlichkeit als Basis der frührömischen Überlieferung“ [1988], in: ders., Antike Geschichtsschreibung. Studien zur Historiographie, hg. von Uwe Walter, Darmstadt 2007, 86– 108. Beide Aufsätze sind zuerst erschienen in: Jürgen von Ungern-Sternberg, Hansjörg Reinau (Hg.), Vergangenheit in mündlicher Überlieferung (Colloquium Rauricum Bd. 1), Stuttgart 1988. 54 Vgl. zur römischen Historiographie allgemein zuletzt: Andreas Mehl, Römische Geschichtsschreibung, Stuttgart 2001; Andrew Feldherr (Hg.), The Cambridge Companion to the Roman Historians, Cambridge 2009; Iris Samotta, Das Vorbild der Vergangenheit. Geschichtsbild und Reformvorschläge bei Cicero und Sallust, Stuttgart 2009; Konrad Heldmann, Sine ira et studio. Das Subjektivitätsprinzip der römischen Geschichtsschreibung und das Selbstverständnis antiker Historiker, München 2011. 55 Sall. Cat. 6–9.
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sich verbreitet und prägten die Gegenwart der civitas.56 Wie bei Livius, der wenig später ein ähnliches Grundmuster des Verlaufs der römischen Geschichte entwirft,57 werden die frühe res publica, die maiores, die Vorfahren, und die exempla ihrer Taten der heruntergekommenen Gegenwart als moralisches Vorbild entgegengehalten. Die Annahme eines grundsätzlichen Niedergangs ist es also, die hier jüngere Vergangenheit, Gegenwart und erwartbare Zukunft gemeinsam prägt, miteinander verschränkt und von der älteren Vergangenheit unterscheidet. Zweifellos waren es Desintegration und Bürgerkriege des 1. Jahrhunderts v. Chr., die diese Zeithorizonte plausibel machten, und die Verhältnisse der Kaiserzeit änderten an der Idealisierung der Frühzeit wenig: Nimmt man die Exkurse, die Tacitus am Anfang des 2. Jahrhunderts n. Chr. zu der frühen Geschichte der römischen res publica verfasst, so bleibt es bei der Vorbildlichkeit der Vergangenheit. Allerdings reflektiert er – nach einer Schilderung des nachlassenden Luxus innerhalb der Aristokratie der Flavischen Zeit – die Relation von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft folgendermaßen: „Vielleicht besteht für alles in der Welt so etwas wie ein Kreislauf (orbis) in der Art, dass sich – ebenso wie die Jahreszeiten – im Wechsel auch die Sitten wandeln. Nicht alles war bei den Früheren besser (nec omnia apud priores meliora), sondern auch unsere Zeit (nostra quoque aetas) hat viel Lobenswertes und viele Kunstfertigkeiten hervorgebracht, die die Nachahmung durch die Späteren verdienen. Jedenfalls sollte uns dieser Wettstreit mit den Vorfahren ausgehend vom Ehrenhaften erhalten bleiben.“ 58 Der Niedergang erscheint relativiert, die Verschränkung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wieder hergestellt.59 Überblickt und vergleicht man antike und moderne Temporalstrukturen, so lässt sich eine grundsätzliche Differenz feststellen: Der mit einer offenen Zukunft einhergehenden Verzeitlichung der Zeit und Historisierung der Geschichte in der Moderne steht eine additive Historie in der Antike gegenüber, die ihre eigene frühe Vergangenheit als Fortschreiten zu entwickelten Formen deutet, die für die Zukunft jedoch (nur) eine modifizierte Fortsetzung der Vergangenheit erwartet mit mehr oder weniger starken Ausschlägen zum Besseren oder zum Schlechteren.
56 Sall. Cat. 10–13; 10, 1: saevire fortuna ac miscere omnia coepit. 57 Liv. praef. 1–13. 58 Tac. ann. 3, 55, 5; vgl. hist. 1, 3, 1. 59 Die sich mit der Christianisierung des römischen Reiches und den damit verbundenen religiösen Heilserwartungen ergebenden neuen Temporalstrukturen stellen ein eigenes Thema dar.
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III Antike Antike? Was tragen beide Befunde nun zur Frage der Vorbildlichkeit einer Vergangenheit in der Antike, einer antiken Antike im zweiten Sinne also, bei? Fünf Aspekte erscheinen bemerkenswert. 1. Die Annahme eines steten Auf und Ab innerhalb eines gleich bleibenden Rahmens in Griechenland, die Annahme eines großen Aufstiegs und eines folgenden Abstiegs in Rom und die in beiden Fällen präsente Vorstellung, dass man aus der Vergangenheit lernen könne und solle, zeigt eine grundsätzliche und durch keine Veränderungen gebrochene Verschränkung von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont. Vergangenheit wurde nicht historisiert, also als definitiv vergangen und unterschieden von einer anders gearteten Gegenwart angesehen. Zwar wurden vielfältige Variationen in Rechnung gestellt, aber eine Wahrnehmung grundlegender, dauerhafter Veränderungen ist nicht feststellbar. Vergangenheit und Zukunft blieben in weiten Bereichen deckungsgleich. Und diese Temporalstruktur war resistent gegen reale Veränderungen größten Ausmaßes: Die griechische Wahrnehmung der Eroberung der griechischen (und übrigen antiken) Welt durch Rom bei Polybios irritierte die Annahme, man könne aus der Vergangenheit lernen, ebenso wenig wie die römische Selbstdeutung in spätrepublikanischer Zeit, die meinte, aus den einfachen Verhältnissen der früheren Jahrhunderte für die gänzlich andere Situation einer militärischen Beherrschung der antiken Welt lernen zu sollen. Die Nichtwahrnehmung grundlegender struktureller Veränderungen wurde kompensiert durch die Stilisierung einer launischen allmächtigen tyche bzw. fortuna und – in Rom – durch die Annahme eines Sittenverfalls, d. h. des moralischen Versagens der Menschen. Die dominante Temporalstruktur der Antike lässt sich somit als Gegenwart der Vergangenheit und als eine damit verbundene Limitierung der Zukunft bezeichnen. Sie ist durch das teleologische Modell des Aristoteles, das Wandel und Konstanz vereint und das damit zugleich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft enttemporalisiert, in die wohl eleganteste denkbare theoretische Form gebracht worden. Lernen aus der Vergangenheit war also von zentraler Bedeutung in der Antike – aber gerade nicht als Lernen von einer bestimmten, als anders und vorbildlich wahrgenommenen vergangenen Epoche, sondern aufgrund der Annahme einer Konstanz grundlegender Bedingungen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die es gegebenenfalls plausibel machten, Fehlentwicklungen oder nicht genutzte Möglichkeiten in der Gegenwart durch Erfahrungen aus der Vergangenheit zu korrigieren. 2. Zeitlichkeit zeigt sich in der Antike v. a. in der Historiographie, und Historiographie war politische Historiographie. Die Wahrnehmung von temporalen Strukturen war daher zentriert auf den Rahmen der städtischen politischen
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Einheiten. Während dies im griechischen Falle Kriege zwischen verschiedenen Städten und schließlich die Verschränkung aller Stadtgeschichten durch die römische Eroberung beinhaltete, zeigt es sich im römischen Fall daran, dass die Griechen als Vorgeschichte der Römer – sieht man von der mythischen Gründung Roms ab – in der römischen Historiographie nicht vorkommen. Die Vergangenheit Roms ist vollständig konzentriert auf die Geschichte der Stadt im Inneren und die ihrer Kriege gegen äußere Feinde, unter denen dann später auch Griechen, v. a. hellenistische Könige, eine Rolle spielen. Die vergangenen Vorbilder, an denen man sich orientierte, waren nicht große griechische Poleis, sondern die großen römischen Eroberungen, die zur Herrschaft über die antike Welt geführt hatten.60 Gelegentlich zeigt sich vielmehr der Versuch, die politischen Leistungen der Griechen zu relativieren. So meint Sallust, die Taten der Athener seien zwar großartig gewesen, aber doch „wesentlich kleiner“ als die Überlieferung es schildere. Sie würden nur deshalb über den ganzen Erdkreis als die größten gefeiert, weil sie durch die größten Schriftsteller gepriesen worden seien. In Rom dagegen hätten sich die klügsten Männer nur praktisch betätigt, und gerade die besten hätten lieber ihre Ruhmestaten durch andere preisen lassen wollen, als selbst die anderer zu schildern.61 Während diese Argumentation noch im 1. Jahrhundert v. Chr. auf eine Art Rivalität Roms mit Griechenland deutet, zeigt das Fehlen einer Orientierungs- oder Vorbildfunktion der griechischen Vergangenheit im Rom zu Beginn des 3. Jahrhunderts n. Chr. aufschlussreich ein griechischer Historiograph: Cassius Dio, selbst in Rom Senator und Konsular, verfasste auf Griechisch eine Römische Geschichte von den Anfängen bis in seine Gegenwart, die vollständig romzentriert ist und in der so etwas wie eine griechische Vorgeschichte Roms nicht vorkommt. Zwar wird berichtet, dass im frühkaiserzeitlichen Rom im Amphitheater für das römische Publikum Seeschlachten der Athener gegen die Perser aufgeführt wurden, was die Präsenz griechischer Vergangenheit in Rom dokumentiert.62 Die ausdrückliche Nicht-Vorbildlichkeit der griechischen Politik, die sich aus der militärischen Überlegenheit Roms gewissermaßen von selbst ergab, zeigt sich jedoch in vielen Beispielen, so etwa in einer Bemerkung Ciceros, die Athener hätten ihre besten Männer regelmäßig verbannt (was auf den Ostrakismos
60 Dass kaiserzeitliche Autoren, etwa Valerius Maximus oder Frontinus in seinen Strategemata, in Einzelfällen auch griechische Exempla heranziehen, widerspricht dem nicht. 61 Sall. Cat. 8, 2–5; 8, 2 f.: Atheniensium res gestae, sicuti ego aestumo, satis amplae magnificaeque fuere, verum aliquanto minores tamen, quam fama feruntur. Sed quia provenere ibi scriptorum magna ingenia, per terrarum orbem Atheniensium facta pro maxumis celebrantur. 62 Cass. Dio 55, 10, 7 (unter Augustus).
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anspielt),63 oder in einer Rede des Kaisers Claudius vor dem Senat, der den Athenern und Spartanern grundsätzliche politische Fehler vorhielt, da sie es versäumt hätten, (so wie die Römer) eroberte Städte in die eigene Bürgerschaft zu integrieren.64 Eine antike Antike – im Sinne einer vorbildlichen vergangenen Epoche der Antike selbst, an der man sich orientiert hätte – gab es auch aufgrund der Bedeutung der politischen Geschichte somit nur in einem sehr eingeschränkten Sinne: Die Dominanz der politischen Wahrnehmung von Veränderung hatte zur Folge, dass Besiegte (Griechen) für Sieger (Römer) in der Regel keine Orientierung darstellten. 3. Wie aber verhielt es sich im Bereich von Kunst und Kultur? War die Dominanz des Politischen in der Historiographie die einzig wichtige Dimension der Bezugnahme auf Vergangenheit? Salvatore Settis hat die These aufgestellt, dass der Klassizismus der Moderne im Sinne eines Winckelmann, durch den das 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. in Griechenland als Bezugspunkt und Vorbild aller späteren Zeiten kreiert wurde, bereits in der späthellenistisch-römischen Antike seinen Anfang genommen habe.65 Das „klassische Griechenland“ wäre somit die antike Antike. Settis hat allerdings selbst konzediert, dass es weder der Idee noch der Sache nach in der Antike eine Renaissance, eine „Wiedergeburt“ des klassischen Griechenland gegeben habe und dass ein Begriff des „Klassischen“ in der Antike fehle. Vor dem Hintergrund der hier analysierten antiken Temporalstrukturen dürften die zweifellos vorhandenen späteren Rückbezüge anders zu deuten sein. Ein römischer Bezug auf griechische kulturelle Leistungen lässt sich gut am Beispiel der Historiographie selbst zeigen: Cicero spricht in seinem Dialog De Oratore das Thema an. Zur Frage, welche rednerische und sprachliche Form dazu gehöre, Historie zu schreiben, schreibt er: „Die höchste, wenn man sie so betreibt, wie es die Griechen taten; tut man es so wie die Unsrigen, braucht es keinen Redner. Es genügt, wenn man nicht lügt.“ 66 Das Werturteil wird zeitlich differenziert und der Hintergrund erläutert: Zu Beginn sei auch die Historiographie der Griechen so schmucklos wie die der Römer gewesen. Und im Gegen-
63 Cic. rep. 1, 5. 64 Tac. ann. 11,23–25 (vgl. CIL XIII 1668 = ILS 212), hier: 11, 24, 4. – Vgl. zur Thematik insgesamt jetzt: Andrew B. Gallia, Remembering the Roman Republic. Culture, Politics, and History Under the Principate, Cambridge 2012. 65 Salvatore Settis, Die Zukunft des Klassischen. Eine Idee im Wandel der Zeiten, Berlin 2004; vgl. ders., „Der Klassizismus und das Klassische. Ein Durchgang im Rückblick“, in: Antikensammlung Berlin, Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz (Hg.), Die Griechische Klassik − Idee oder Wirklichkeit, Mainz 2002, 26–53. 66 Cic. de or. 2, 51.
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satz zu den Griechen – Herodot, Thukydides, Xenophon und andere werden namentlich genannt – hätten sich in Rom begabte Redner nahezu ausschließlich mit dem Führen von Prozessen auf dem Forum beschäftigt.67 Dass die griechische Historiographie die Referenzgröße darstellt, wird auch bei Quintilian gegen Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr. deutlich. Doch ihr Vorbildcharakter wird auch hier zurückgewiesen: „[…] unsere Historie (historia) dürfte der griechischen nicht nachstehen. Weder würde ich mich scheuen, dem Thukydides den Sallust entgegenzustellen, noch könnte es Herodot übelnehmen, dass Titus Livius ihm gleichgestellt wird.“ 68 Schließlich zeigt Lukians umfangreicher Traktat „Wie man Historie schreiben soll“ (Πῶς δεῖ ἱστορίαν συγγράφειν) aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. die Breitenwirkung des griechischen Vorbildes, jedenfalls im griechischen Osten des römischen Reiches. Die Autoren seiner Zeit, so Lukian, verfassten in großer Zahl Historien und imitierten bis in den Wortlaut Herodot und Thukydides. Ein leidenschaftlicher Nachahmer des Thukydides, der seinem Vorbild aufs Haar gleicht, hat wie dieser seinen Namen an den Anfang des Werkes gesetzt – ein überaus schöner Anfang, der wahrlich nach attischem Thymian duftet: ‚Krepereios Kalpurnianos aus Pompejopolis hat den Krieg beschrieben, den die Parther und Römer gegeneinander führten, und zwar von seinem Ausbruch an.‘ 69
Die Historiographie als literarische Form zeigt also einerseits wiederum – wie der Bereich der Politik – eine rückblickende Rivalität römischer mit vergangenen griechischen Leistungen, zum anderen – in der von Lukian karikierten
67 Cic. de or. 2, 52–58. 68 Quint. 10, 1, 101. – In ähnlichem Sinne sind auch die späteren antiken Bemerkungen zur Architektur zu verstehen (vgl. dazu den Beitrag von Henner von Hesberg in diesem Band). Einerseits betonen römische Autoren die Qualität römischer Baukunst: Vitruv stellt in augusteischer Zeit fest, die römischen Vorfahren (maiores) seien nicht weniger bedeutende Baumeister gewesen als die Griechen (Vitr. 7 pr. 18: cum ergo et antiqui nostri inveniantur non minus quam Graeci fuisse magni architecti […]). Aber: „In größerem Umfang scheint sich bis auf den heutigen Tag niemand mit diesem Gebiet der Schriftstellerei befasst zu haben, obwohl auch alte Römer (antiqui cives) bedeutende Architekten waren, die nicht weniger geschmackvoll Schriften hätten abfassen können.“ (Vitr. 7 pr. 15: amplius vero in id genus scripturae adhuc nemo incubuisse videtur, cum fuissent et antiqui cives magni architecti, qui potuissent non minus eleganter scripta comparare.) – Um die Wende zum 2. nachchristlichen Jahrhundert spricht Frontin gar von den unnützen Pyramiden und von anderen, von den Griechen errichteten nutzlosen, gleichwohl sehr gepriesenen Bauwerken und setzt ihnen die bedeutenden Leistungen römischen Aquäduktbaus entgegen. (Frontin. de aqu. 16: tot aquarum tam multis necessariis molibus pyramidas videlicet otiosas compares aut cetera inertia sed fama celebrata opera Graecorum.) Zu Plutarchs Sicht der Bauwerke des perikleischen Athen siehe Anmerkung 80. 69 Lucian. hist. conscr. 15 (Übers. im Anschluss an H. Homeyer).
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griechischen Historiographie der Kaiserzeit – das Phänomen einer durch keinerlei historische Distanz gebrochenen Imitation, die erneut eine Wahrnehmung grundsätzlich gleichbleibender Bedingungen voraussetzt.70 4. Aufschlussreich sind die späteren antiken Stellungnahmen zur bildenden Kunst, die oft im Sinne einer kunstgeschichtlichen Konzeption gedeutet worden sind.71 So finden sich in Ciceros Dialog Brutus im Zusammenhang mit Überlegungen zur Entwicklung der Redekunst in Rom Hinweise auf bildende Kunst und Malerei. Die Bildwerke des Kanachos (um 500 v. Chr.), heißt es, seien zu steif, als dass sie die lebendige Wirklichkeit (veritas) wiedergeben könnten, die des Kalamis (1. Hälfte 5. Jahrhundert) zwar auch hart, aber doch weicher als die des ersteren. Auch die Bildwerke des Myron (Mitte 5. Jahrhundert) reichten noch nicht nahe genug an die veritas heran, gleichwohl seien sie schön. Die des Polyklet (2. Hälfte 5. Jahrhundert) dagegen erschienen ihm schöner, „ja, schon ganz vollkommen“ (iam plane perfecta).72 Ähnliches lasse sich in der Malerei beobachten: Bei den älteren Malern lobe man einzelnes; bei Aetion, Nikomachos, Protogenes und Apelles aber sei bereits alles vollkommen (iam perfecta sunt omnia). Cicero äußert (mit Blick auf die ihn interessierende römische Redekunst) die Vermutung, dass sich auch bei allen übrigen Dingen dasselbe zeigte: Nichts sei gleich bei seiner Erfindung schon vollkommen.73 Die Annahme, dass es in künstlerischen Dingen – wie auch in Rhetorik und Philosophie – so etwas wie nicht übertreffbare Perfektion gebe, die vielfach schon erreicht sei, ist auch an anderen Stellen feststellbar: Cicero nennt bewundernswerte Höchstleistungen (summa) wie das Standbild des Olympischen Zeus oder den Doryphoros, mit denen man nicht konkurrieren könne, die die nachfolgenden Künstler gleichwohl nicht abhalten sollten, mit geringeren Ergebnissen (inferiora) auf eigenen Gebieten Bedeutung zu erlangen.74 Eine ähnliche Sichtweise vertritt Plinius d. Ä. im 34. Buch seiner um die Mitte des 1. Jahrhunderts n. Chr. entstandenen Naturalis Historia schreibt er –
70 Dies ließe sich generell auch für die unter den Eliten der griechischen Städte im Osten des römischen Reiches verbreitete literarische und rhetorische Kultur argumentieren, die meist als „Zweite Sophistik“ bezeichnet wird. Vgl. dazu die kritischen Argumente schon bei Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, „Asianismus und Attizismus“, in: Hermes 35, 1900, 1–52; sowie Peter A. Brunt, „The Bubble of the Second Sophistic“, in: BICS 39, 1994, 25–52; zur neueren Forschung: Timothy Whitmarsh, The Second Sophistic, Oxford 2005. 71 Vgl. zum folgenden: Hans Jucker, Vom Verhältnis der Römer zur bildenden Kunst der Griechen, Bamberg 1950; Jerome J. Pollitt, The Ancient View of Greek Art. Criticism, History, and Terminology, New Haven u. a. 1974; Thomas Gelzer, Hellmut Flashar (Hg.), Le classicisme à Rome aux Iers siècles avant et après J.-C. (Entretiens Fondation Hardt 25), Genève 1979. 72 Cic. Brut. (18) 70. 73 Cic. Brut. (18) 71: nihil est enim simul et inventum et perfectum. 74 Cic. or. (2) 5.
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nach längeren Ausführungen u. a. über Bronzestandbilder in Rom sowie über griechische und römische Kolossalstatuen –, eine kaum zählbare Menge von Künstlern sei durch kleinere Standbilder und Bildwerke bekannt geworden, wobei der Athener Phidias mit dem Standbild des Olympischen Juppiter herausrage. Eine größere Zahl der berühmtesten (celeberrimi) von ihnen nennt er namentlich und ordnet sie chronologisch in die Zeit von der 121. Olympiade (448–445 v. Chr.) bis zur 156. Olympiade (156–153 v. Chr.) ein. Dabei habe diese Kunst in der Zeit zwischen 293 und 156 eine Unterbrechung erfahren; sie sei danach aber wieder zu neuem Leben gekommen. Die Künstler jener letzten Phase seien zwar im Rang unter den zuvor genannten gewesen, aber doch ebenfalls sehr geschätzt worden.75 Unter den Berühmtesten, die er mit ihren Werken vorstellt, nennt Plinius nach Phidias den Polyklet, der u. a. den Doryphoros geschaffen habe. Von ihm stamme auch eine Statue, die die Künstler „Kanon“ (canona) genannt und aus der sie wie aus einer Art Gesetz (veluti a lege quadam) die Grundregeln ihrer Kunst abgeleitet hätten.76 Man sage, dass Polyklet diese Wissenschaft zur höchsten Vollendung gebracht und die Toreutik so gelehrt habe, wie Phidias sie geoffenbart habe.77 Myron schließlich sei derjenige gewesen, der sich stärker um Lebensnähe (veritas) bemüht und mehr Harmonie und Symmetrie in die Kunst gebracht habe als Polyklet. Er habe bei seinen Statuen aber den animus nicht so gut ausgedrückt wie jener. Außerdem habe er das Haar nicht besser dargestellt als in kunstlosen alten Zeiten (rudis antiquitas).78 Bei Cicero wie bei Plinius lässt sich somit die normative Vorstellung einer perfekten Form und höchsten Vollendung der Kunst feststellen, die – wenn sie erreicht wird – als solche nicht mehr verbessert, allenfalls variiert und nur noch nachgeahmt werden kann. Als Bildhauer oder Maler, die dieser Perfektion am nächsten gekommen seien, werden allesamt Griechen der Epoche genannt, die in der Moderne als „klassische Zeit“ bezeichnet wurde oder wird. Die Entstehungszeit der Kunstwerke ist im Rahmen der Überlegungen jedoch ganz offensichtlich unbedeutend; es werden keine Epochen oder Stile unterschieden. Die Annäherung an eine perfekte Form – wann immer sie stattgefunden hat – ist entscheidend. Und dementsprechend sind einige der berühmtesten Kunstwerke, sofern noch greifbar, auch zu Plinius’ Zeit noch in Gebrauch: Erwähnt wird eine Gruppe von zwei nackten, mit Knöcheln spielenden Kna-
75 Plin. nat. hist. 34, 52: cessavit deinde ars ac rursus olympiade CLVI revixit, cum fuere longe quidem infra praedictos, probati tamen. 76 Plin. nat. hist. 34, 55. 77 Plin. nat. hist. 34, 56. 78 Plin. nat. hist. 34, 58.
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ben, von der viele meinten, es gäbe kein vollendeteres Kunstwerk, und die sich im Atrium des Palastes des Kaisers Titus befinde.79 Das größte mögliche Lob über Kunstwerke besagt daher, „dass sie in alle Ewigkeit herrlichsten und immerwährend frischen Ruhm haben.“ 80 Es zeigt sich somit das Konzept einer enttemporalisierten Kunst, das grundlegend von dem Klassizismus eines Winckelmann unterschieden ist: War bei jenem gerade die Verortung der Kunst in einer als vorbildlich gewerteten historischen Epoche entscheidend (und Fragen der korrekten Datierung entsprechend wichtig), so spielen hier die zeitliche Zu- und die epochale Einordnung keine Rolle. Es gibt eine perfekte Form, die unabhängig von ihrer Entstehungszeit als solche wahrgenommen wird, die gerade in dieser Unabhängigkeit von der Entstehungszeit ihre Qualität hat und die damit als der Zeitlichkeit gegenüber indifferent angesehen wird. Obwohl sie in jedem Einzelfall einen (je nach Informationslage auch datierbaren) Entstehungszeitpunkt hat, findet eine Temporalisierung der Kunst oder der Versuch ihrer historischen Einordnung also nicht statt. Da das höchste Lob Zeitenthobenheit beinhaltet, sind auch mögliche zukünftige Entwicklungen neuer perfekter Formen der Kunst nicht denkbar. Die auf Kunst bezogenen antiken Temporalisierungen entsprechen damit weitgehend dem, was oben anhand der antiken Historiographie hinsichtlich der Wahrnehmung von Zeitlichkeit und Veränderung generell festgestellt wurde. Und es ist erneut Aristoteles, der in Bezug auf die Tragödie – Jahrhunderte vor Cicero und Plinius – diese Art der Kunstwahrnehmung in eine theoretische Form gebracht hat, in deren Zentrum wiederum eine teleologische Struktur steht: „Die Tragödie machte viele Veränderungen durch und sie hörte damit auf, als sie ihre eigene Natur verwirklicht hatte.“ 81 Bei Quintilian, der – ähnlich wie Cicero – Rhetorik und Kunst vergleicht und der wie jener und die anderen genannten Autoren in Malerei und Bildhau-
79 Plin. nat. hist. 34, 55: hoc opere nullum absolutius plerique iudicant. 80 Vitr. 7 pr. 13: […] artes aevo perpetuo nobilissimas laudes et sempiterno florentes habere iudicantur. – In diesem Sinne sind auch die Äußerungen Plutarchs über die Bauten, die auf der Akropolis zur Zeit des Perikles entstanden waren, zu verstehen: „Um so mehr müssen wir die Bauten des Perikles bewundern: in kurzer Zeit wurden sie geschaffen für die ewige Zeit. Ihre Schönheit gab ihnen sogleich die Würde des Alters, ihre lebendige Kraft schenkt ihnen bis auf den heutigen Tag den Reiz der Neuheit und Frische. So liegt ein Hauch immerwährender Jugend über diesen Werken, die Zeit geht vorüber, ohne ihnen etwas anzuhaben, als atmete in ihnen ein ewig blühendes Leben, eine nie alternde Seele.“ (Plut. Perikles 13, 3. Übers. im Anschluss an K. Ziegler) 81 Arist. poet. 1449 a 14 f.: καὶ πολλὰς μεταβολὰς μεταβαλοῦσα ἡ τραγῳδία ἐπαύσατο, ἐπεὶ ἔσχε τὴν αὑτῆς φύσιν.
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erkunst Entwicklungen hin zu perfekteren Formen feststellt,82 zeigt sich nun noch eine Weiterentwicklung und Differenzierung dieser Sichtweise. Er stellt die antike Kunsttheorie zwar nicht in Frage, bezieht aber neben den auctores, den Rednern und Künstlern, auch die amatores, die Liebhaber, der Rede und der Kunst, also gewissermaßen das Publikum in seine Überlegungen ein. Dies gibt ihm die Möglichkeit, reale – historische, regionale und individuelle – Variationen im Umgang mit Kunst zu erklären: […] deshalb gibt es noch keinen vollkommenen Redner und wohl auch noch keine vollkommene Kunst, nicht nur weil bei dem einen [sc. Redner und Künstler] dies, bei dem anderen etwas anderes hervorragender ist, sondern weil nicht allen [sc. Liebhabern] nur eine Form gefallen hat – teils nach den Verhältnissen sei es der Zeiten, sei es der Gegenden, teils nach dem Urteil jedes einzelnen und seinem Anspruch.83
5. Die Aussagen Quintilians, der die Perfektion von Kunstwerken angesichts variierenden Publikumsgeschmacks indirekt in Frage stellt, lassen sich durch Ergebnisse der neueren archäologischen Forschung bestätigen, die die Übertragung moderner epochaler und stilistischer Konzeptionen auf die Geschichte antiker Kunst in Zweifel gezogen und stattdessen spezifisch antike Bildsprachen und ihren zeitgenössischen Gebrauch ins Zentrum der Analyse gerückt hat. Zu verweisen ist hier v. a. auf die Arbeiten Tonio Hölschers. Demnach lässt sich die ältere These, dass die Entwicklung der römischen Kunst durch wechselnde Phasen der Bezugnahme auf die „klassische“ Formensprache des 5. Jahrhunderts oder auf die „barocke“ Formensprache des Hellenismus geprägt worden sei, empirisch nicht halten. Vielmehr ist ein Pluralismus von gleichzeitig und nebeneinander verwandten griechischen Vorbildern aus verschiedenen Epochen feststellbar. Entscheidend für die römische Auswahl seien nicht Epoche, Stil oder Geschmack der griechischen Kunst, sondern die Inhalte und Themen gewesen, die sie jeweils verkörperte und die nach Bedarf und ohne Rücksicht auf Heterogenität der Kunstwerke kombiniert wurden.84 In ähnlichem Sinne und an Hölscher anknüpfend hat auch Eugenio La Rocca den lange postulierten „Klassizismus“ der augusteischen Kunst in Frage gestellt. Es habe in jener Zeit kein einheitlicher Kunststil dominiert, man habe sich vielmehr aus einem Repertoire unterschiedlicher Epochen, Gattungen und
82 Quint. 12, 10, 3–9. 83 Quint. 12, 10, 2: […] atque ideo nondum est perfectus orator ac nescio an ars ulla, non solum quia aliud in alio magis eminet, sed quod non una omnibus forma placuit, partim condicione vel temporum vel locorum, partim iudicio cuiusque atque propositio. 84 Tonio Hölscher, Römische Bildsprache als semantisches System (Abh. Heidelb. Akad. Wiss., Philos.-Hist. Kl. 1987, 2), Heidelberg 1987.
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Stile bedient. Auf die bereitstehenden – nicht nur auf die „klassischen“, sondern auch auf die „hellenistischen“ – Bildangebote sei variierend zugegriffen worden. Sie seien entkontextualisiert und in neuen Zusammenhängen rekombiniert worden, was zu originellen Neuschöpfungen geführt habe.85
Schluss: Moderne Antike? Das Ergebnis, dass es keine antike Antike im Sinne einer einzigen vergangenen, abgeschlossenen Epoche der antiken Geschichte gegeben hat, die von späteren antiken Zeiten als vorbildlich und nachahmenswert angesehen worden wäre, ist vor dem Hintergrund der antiken Temporalisierungen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht überraschend: Alle Vergangenheiten waren in der Antike potenziell nachahmenswert oder aber das Gegenteil davon, und die Entscheidung darüber konnte im Einzelnen abhängen von dem Bereich, um den es ging (Politik oder Kunst), von dem, der die Frage stellte (Grieche oder Römer) und von der Zeit, in der die Frage gestellt wurde. Es gab somit viele und nach Kontext variierende „antike Antiken“. Überraschender erscheint vor dem Hintergrund der Frage nach Temporalisierungen die moderne Antike. Denkt man an die Zeitstrukturen der neuzeitlichen Gesellschaft, die spätestens am Ende des 18. Jahrhundert irreversibel wurden – an die Wahrnehmung gegenwärtigen Fortschritts, an die daraus folgende Historisierung der Vergangenheit und an die kontingent werdende Zukunft – so erscheint eine normativ überhöhte und enthistorisierte Antike als ein merkwürdiger Anachronismus. Angesichts der realen Beschleunigung gesellschaftlicher Veränderungen in nie zuvor dagewesener Art erscheinen die verschiedenen Klassizismen, die zweiten und dritten Humanismen wie Inseln vormoderner Temporalität in der Moderne, ja geradezu als moderne Radikalisierung des vormodernen Konzepts des Lernens aus der Geschichte, das es in dieser Einseitigkeit jedenfalls in der Antike selbst nicht gegeben hat. Die Frage nach der antiken Antike erweist somit die moderne Antike als das eigentliche Problem. Diente sie wirklich dem Ziel, dem sie dienen sollte: der Orientierung der Gegenwart an einer vorbildlichen Vergangenheit? Untersuchungen zur Rezeptions- und Transformationsgeschichte der Antike in der Moderne haben schon lange die Konstruktivität und Vielfalt der modernen An-
85 Eugenio La Rocca, „Der augusteische Klassizismus“, in: Antikensammlung Berlin, Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz (Hg.), Die Griechische Klassik – Idee oder Wirklichkeit, Mainz 2002, 627–636.
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tiken bemerkt. Mit den Worten von Friedrich Schlegel: „Jeder hat noch in den Alten gefunden, was er brauchte, oder wünschte; vorzüglich sich selbst.“ 86 Bezogen auf das „Brauchen“ und „Wünschen“ könnte man in temporaler Perspektive vermuten, dass die Antike für die Moderne eine Art Überleitungsfunktion gehabt hat. Durch die scheinbare Orientierung an einer als zeitlos idealisierten Vergangenheit hielt sie den Akteuren die realen gesellschaftlichen Veränderungen in ihrer Gegenwart intransparent und half somit, diese durchzusetzen. Hinsichtlich des „sich selbst Findens“ müsste man dann allerdings gegen Schlegel feststellen: Die Stilisierung einer vorbildlichen Antike erscheint als Ausdruck einer merkwürdigen Selbsttäuschung der entstehenden modernen Welt.
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Vitruv und sein Umgang mit Vergangenheit Vitruv war nach seinen eigenen Äußerungen ein Mann der Praxis. Dennoch wird er nicht müde, die Bedeutung von Bildung zu betonen. Dafür lohnt es sich zu verfolgen, welche Kenntnisse jemand wie er sammelte und welche Schlussfolgerungen er daraus zog. Außerdem ist von Interesse, wie er als Architekt mit Vergangenheit umging, welche Vorstellungen ihn dabei bestimmten und in welchem Maße sich diese Vorstellungen zu einem übergreifenden Bild zusammenfügten. Denn auf diese Weise gewinnen wir einen Einblick in den Wissenshorizont eines antiken Architekten, der stolz war, zu den Intellektuellen gezählt zu werden. Seine Bildung bezog Vitruv aus verschiedenen Bereichen, etwa aus einem Vorrat an einschlägigen Geschichten zu Architekten und Bauten früherer Zeiten, aber auch aus der Kenntnis verschiedener Theorien. Alle diese Vorstellungen waren überwiegend von Wünschen und Konzepten römischer Bauherren geprägt, mit denen sie sich gegen Vorläufer und Konkurrenten, aber auch allgemein gegen frühere Zeiten absetzten wollten. Diesen Vorstellungen sollten die Architekten mit ihren Entwürfen und den Ausführungen der Details gerecht werden.1 Das wird besonders in einer Äußerung des etwa 100 Jahre nach Vitruv lebenden Frontinus deutlich, der in seinem Werk über die Wasserversorgung Roms (aq. 16) schrieb: „Willst du so mit vielen Bauten, die für das Wasser notwendig sind, die müßigen Pyramiden vergleichen oder die nutzlosen, aber durch Ruhm gefeierten Werke der Griechen.“ 2 Der Autor maß folglich die Bau-
1 Die Anmerkungen beschränken sich auf das Notwendigste, da die Lit. zu Vitruv in den einschlägigen Ausgaben auf das Beste erschlossen ist. Empfohlen sei vor allem der Kommentar verschiedener Autoren in der Edition Vitruvius Pollio, De l’architecture I–X Belles Lettres (Paris 1969–2009), darin Vitruve, De l’architecture I , übersetzt und kommentiert von Philippe Fleury (Paris 1990); Bd. II, übersetzt und kommentiert von Louis Callebat und Pierre Gros (Paris 1999); Bd. III, übersetzt und kommentiert von P. Gros (Paris 1990); Bd. IV, übersetzt und kommentiert von P. Gros (Paris 1992). Für die Übersetzungen Vitruvs wurden die Ausgaben von Curt Fensterbusch, Zehn Bücher über Architektur, De architectura libri decem (Darmstadt 1964) genutzt, für Quintilian Helmut Rahn, Marcus Fabius Quintilians Ausbildung des Redners: Zwölf Bücher (Darmstadt 1972–75) und für Plinius Roderich König, C. Plinii Secundi d. ä. Naturkunde Naturalis Historia I–XXXVII (München–Darmstadt 1983–2004). Ich danke Valentin Kockel für eine kritische Lektüre des Manuskripts und für eine Reihe Hinweisen. 2 Vgl. Heinrich Drerup, „Architektur als Symbol. Zur zeitgenössischen Bewertung der römischen Architektur“, Gymnasium 73, 1966, 181–196, bes. 187–188. https://doi.org/10.1515/9783110458213-003
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ten der Gegenwart an denen der Vergangenheit, und der Vergleich fiel eindeutig aus. Die früheren Bauten stellen zwar bemerkenswerte Leistungen dar, aber sie waren auf unterschiedliche Weise nutzlos. Die Römer sahen sich also, was ihre Architektur anging, allen früheren Kulturen überlegen. Dennoch griffen sie auf die Vergangenheit zurück und nutzten den Fundus vorhandener Formen für ihre Zwecke. Vitruv lebte in einer Zeit, mit der wir gemeinhin einen der Wendepunkte in der Geschichte der antiken Architektur verbinden. Unter Augustus verwandelte sich nicht allein Rom zu einer Stadt aus Marmor, sondern das ganze Reich erhielt architektonisch ein neues Gesicht.3 Auf diesen Aufbruch reagierte unser Autor gespalten. Zwar beglückwünschte er den Princeps zu dessen Anstrengungen auf diesem Gebiet (de arch. I praef. 2), wurde aber dem Wandel kaum gerecht. Weder hob er die neuen gegen die alten, überkommenen Bauten besonders hervor, noch formulierte er zugunsten eines neuen Konzepts bestimmte Leitlinien. Bisweilen kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er die neuartige und in die Zukunft weisende Qualität von Bauten und Baukonzepten seiner Zeit gar nicht wahrnahm, etwa am Theater des Pompejus,4 dem Forum Caesars oder dem Tempel des Apollon auf dem Palatin.5 Seine Haltung blieb mit polemischen Ausfällen gegen die Spätformen des sog. 2. Stils der Wandmalerei aus frühaugusteischer Zeit (de arch. VII 5) oder auch gegen Gestaltungsweisen der dorischen Ordnung konservativ (de arch. IV 2,5). In beiden Fällen hatte man hingegen in der Umgebung des Augustus keine Probleme damit, fortschrittliche Lösungen zu verwenden.6 Die Art, wie Vitruv den Umgang mit Vergangenheit thematisierte, prägte unterschiedliche Diskursebenen. Zum einen bot Vergangenheit gültige Muster, deren Stimmigkeit sich aus den Regeln der Natur und der kulturellen Entwicklung ableiten ließ, und ermöglichte deshalb, Richtlinien für die Bewertung der Bauten seiner Zeit zu gewinnen. Zum
3 P. Gros, Aurea templa: recherches sur l’architecture religieuse de Rome à l’époque d’Auguste, Bibliothèque des écoles françaises d’Athènes et de Rome 231 (Rom 1976) 15–52; Paul Zanker, Augustus und die Macht der Bilder (München 1987) 73–85. 4 Vitruv erwähnt lediglich die Hallen hinter dem Gebäude, de arch. V 9,1. 5 Eine Ausnahme bildet de arch. III 3,2. 4. Dort werden gleich mehrere Tempel der frühaugusteischen Zeit erwähnt, aber ohne eine Würdigung ihrer Qualität. Vgl. den Kommentar dazu von P. Gros, Vitruvius III (Paris 1990) 99–107. 6 Zur Wandmalerei: Wolfgang Ehrhardt, Stilgeschichtliche Untersuchungen an römischen Wandmalereien: von der späten Republik bis zur Zeit Neros (Mainz 1987) 152–162; ders., Vitruv und die zeitgenössische Wandmalerei, Kölner Jahrbuch für Vor- und Frühgeschichte, 24.1991, 27–31; Paolo Fidenzoni, Il teatro di Marcello (Rom o.J.) 57 Abb. 31. 31 bis.
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zweiten bot Vergangenheit dem Autor einen Fundus an Geschichten, um sehr unterschiedliche Probleme des Lebens zu thematisieren, so wie es sich als Verfahren in der Rhetorik der Antike etabliert hatte.
Thematisierung von Vergangenheit Vitruv bezog Vergangenheit an vielen Stellen und in mannigfachen Formen in seine Überlegungen ein. An keiner Stelle gelangte er dabei aber zu einem Abriss einer Geschichte der antiken Architektur in ihrer Gesamtheit, sondern die Betrachtungen splitterten sich auf die einzelnen Bestandteile von Architektur auf. Dazu griff er in sehr unterschiedlicher Weise auf einen großen Fundus an Geschichten und auch an Werken und Bauten der Vergangenheit zurück. Denn Vitruv wollte auf Gattungen und Bautechnik ausgerichtet in die Materie einzuführen. Seine Adressaten bildeten die Bauherren Roms, was er nicht müde wurde, immer wieder hervorzuheben. In der Vorrede zum fünften Buch (de arch. V praef. 3) zeigte er Verständnis für die vielfältigen Belastungen seiner Mitbürger in öffentlichen und privaten Angelegenheiten und strebte deshalb nach Kürze, damit sie den Stoff seiner Schrift möglichst rasch aufzunehmen vermochten.7 Anderswo finden sich Formulierungen, in denen Vitruv seine Mitbürger vor hohen Kosten, vor praktischen Problemen bei der Wahl von Baustoffen und Farben und vor seiner Konkurrenz warnte. Besonders die Vorreden seiner Bücher nutzte er für solche Aussagen. Im sechsten etwa (de arch. VI praef. 5–6) mit Hinweis darauf, dass er selbst weit davon entfernt sei, Auftraggeber zu umschmeicheln, und dass die Vorfahren nur gut ausgebildete Architekten wählten. Im zehnten Buch verwies er auf einen Volksbeschluss in Ephesos, nach dem der Kostenvoranschlag für einen öffentlichen Bau nur zu einem Viertel überzogen werden durfte, andernfalls wären die Mehrkosten aus der Kasse des Architekten zu zahlen (de arch. X praef. 1). Seine Schrift sollte nicht als definitives Handbuch dienen, sondern Fachschriftstellerei in allgemeine Diskurse überführen, die einem Publikum ohne Spezialkenntnisse verständlich sein sollten. Deswegen griff er gerne zu Mitteln der Rhetorik, polemisierte, unterhielt mit Anekdoten, verwies auf die Vergan-
7 Klaus Sallmann, „Bildungsvorgaben des Fachschriftstellers. Bemerkungen zur Pädagogik Vitruvs“, in: Heiner Knell u. Burckhart Wesenberg (Hg.), Vitruv-Kolloquium, Darmstadt 17.− 18. Juni 1982, (Darmstadt 1984) 11–26; Martin Hose, „Erneuerung der Vergangenheit. Die Historiker im Imperium Romanum von Florus bis Cassius Dio“, Beiträge zur Altertumskunde 45 (Stuttgart 1994) 5–18 (Geschichte im Untericht).
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genheit und belegte fachliche Kompetenz mit Verweisen auf griechische und andere Schriftsteller, auf die Erfahrungen eines Architekten und auf Beobachtungen aus Natur und Technik.
Anekdoten Diese Voraussetzungen prägten folglich den Umgang mit der Vergangenheit und Verweise darauf. Daraus musste sich eine reizvolle Spannung zwischen Unterhaltung und Systematik ergeben. Eine unterhaltende Funktion nahmen vor allem die Anekdoten ein. Mit ihrer Hilfe erläuterte Vitruv jeweils eine bestimmte Erscheinung. Den Erzählungen kam dabei der Rang einer eigenständigen lehrreichen Geschichte zu. Bezeichnenderweise eröffneten sie meist einen größeren Abschnitt des Werkes und verbanden sich mit großen Namen oder bekannten Orten. So diente die bekannte und bei Vitruv eindrucksvoll erzählte Geschichte von Alexander und Deinokrates dazu (de arch. II praef.), seine eigenen Probleme zu veranschaulichen. Im Gegensatz zu seinem griechischen Vorbild besaß er nicht die Schönheit eines Herkules, um die Aufmerksamkeit Oktavians auf sich zu lenken. Es gehört zum Wesen solcher Anekdoten, dass sie selten endgültig aufgehen. Denn Deinokrates besaß ja nicht nur die schönere Gestalt, sondern entwickelte auch Aufsehen erregenden Ideen. Er wollte nämlich den Berg Athos nach Vitruv in eine Skulptur des Makedonenkönigs verwandeln, der eine Stadt in den Händen hielt. Vergleichbare Ideen hatte Vitruv nicht zu bieten. Die Geschichte über die Stützfiguren in Form von Mädchen weitete Vitruv als Beleg dafür aus, dass ein Architekt über historische Kenntnisse verfügen müsse, um gegenüber seinen Auftraggebern zu begründen, warum er einen bestimmten Schmuck für ein Gebäude verwendete (de arch. I 1, 5–6). Vitruv holte dazu weit aus, und berichtete von der Polis Karyai auf der Peloponnes, die mit den Persern paktierte und deshalb von den Spartanern erobert und vollständig zerstört wurde. Die Frauen durften ihre langen Gewänder und ihren Schmuck nicht ablegen, damit sie nicht wie in einem einmaligen Triumphzug als Zeichen ihrer Knechtschaft erschienen, sondern in einem ewig andauerndem Festzug des Siegers vorgeführt wurden. Daher schufen die damaligen Architekten Nachbildungen der Karyatiden an öffentlichen Gebäuden, wie sie eine Last tragen, „damit auch der Nachwelt die Bestrafung des Vergehens der Karyaten überliefert werde.“ Die in ihrer Logik abenteuerlich anmutende Geschichte vermischt verschiedene Vorstellungen und Überlieferungen, und zeigt
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zugleich, wie auftretende Widersprüche ausgeräumt wurden.8 So traten die Frauen in vollem Festschmuck auf, sollten aber trotzdem Unterworfene darstellen. Den Autor rettete nur der Verweis auf die metaphorische Qualität der Aussage. Auf die großen Bauten in Rom, etwa auf das Pantheon oder das Forum des Augustus, wo solche Mädchenfiguren real zu sehen waren, oder auf ästhetische Probleme ging Vitruv gar nicht erst ein. Die von Vitruv gewählte Verfahrensform beschrieb Quintilian (Inst Orat XII 4,1) folgendermaßen: „Vor allem müssen dem Redner Beispiele in Hülle und Fülle zur Verfügung stehen, Beispiele aus alter wie auch aus neuer Zeit in solcher Menge, dass er nicht nur all das kennen muss, was in Geschichtsaufzeichnungen erzählt oder in mündlicher Unterhaltung weitergegeben wird, und alles, was täglich geschieht, sondern auch nicht die Beispiele unbeachtet lassen darf, die von allen berühmteren Dichtern erdichtet worden sind“. Diesen Empfehlungen eines Lehrers der Rhetorik wurde Vitruv in vieler Hinsicht gerecht. Mit einer systematischen Annäherung an Geschichte – womöglich als Prozess zur Ausbildung bestimmter Muster von Architekturkonzepten – hatte es freilich kaum etwas zu tun.9
Vergangenheitsdiskurse Vielmehr finden sich in seinem Werk unter drei verschiedenen Perspektiven unterschiedliche Diskurse für den Blick in die Vergangenheit. Der eine konzentrierte den Blick auf die Vorgeschichte des Bauens und der Materialien. Vitruv berief sich dazu im zweiten Buch auf Schriftsteller, die er gelesen und die diese Dinge beschrieben hatten (de arch. II praef. 5). Deren Ergebnissen wollte er möglichst getreu folgen. Er nannte sie nicht beim Namen, aber möglicherweise handelte es sich um Autoren der Stoa, allen voran Poseidonios.10 Vier Entwicklungsschritte sind festzustellen und drei davon beziehen sich auf das Bauen: 1. Die Errichtung von Bauten bildete den Einschnitt nach einer ersten Entwicklung der Menschen, in der sie gelernt hatten, Feuer zu nutzen und miteinander zu sprechen. 2. Damit waren die Grundbedingungen für ein Zusammenleben gegeben und zugleich für Bauten, die das möglich machten. Von
8 H. Drerup, Zur Bezeichnung „Karyatide“, Marburger Winckelmann Programm 1975, 11–14; B. Wesenberg, „Augustusforum und Akropolis“, Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts 99, 1984, 172–185; vgl. den Kommentar von Philippe Fleury, Vitruvius I (Paris 1990) 74–83. 9 Vielfach wird vermutet, dass er an Entwicklungsideen der Stoa anknüpft, vgl. etwa Poseidonios, RE XXII 1 (Stuttgart 1953) 805–808. 818. 10 Vgl. den Kommentar von P. Gros, Vitruvius II (Paris 1999) 64–81.
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Anfang an gab es drei Formen, Hütten aus Laub, Höhlen, die vertieft wurden, und die Nachahmung von Schwalbennestern aus Lehm und Reisig. 3. In einem zweiten Schritt wurden feste Wände und Dächer gestaltet, die dem Regen standhielten. Die Kenntnis dieser Entwicklung wurde aus der Kombination von allgemein praktischen Erwägungen und aus ethnographischen Beobachtungen gewonnen, denn Holzhäuser mit Strohdach gab es vielerorts von Gallien bis Lusitanien, Blockhäuser bei den Kolchern am Schwarzen Meer und Hütten in Erdhügeln bei den Phrygern. Aber auch an historischen Orten mit einer dynamischen Entwicklung waren bisweilen Zeugnisse der alten Bauweise erhalten geblieben. So fand man in Massilia Dächer aus mit Spreu versetzter Erde, in Athen auf dem Aeropag eine Hütte mit einem Lehmdach und in Rom auf dem Kapitol das Haus des Romulus und auf der benachbarten Arx Bauten mit Strohdach. Von dort ausgehend ließ sich der Fortschritt nicht mehr aufhalten. Vom Häuserbau führte er zu der Ausbildung der übrigen Künste und Wissenschaften und von einem wilden und tierhaften zu einem friedfertigen und gesitteten Leben. Auf dieser Grundlage begannen die Menschen Häuser statt Hütten zu bauen, die nun auf festen Fundamenten nach gut kalkulierten, symmetrischen Verhältnissen errichtet wurden. Der Autor macht also wie wohl schon seine Gewährsmänner bei der Vorgeschichte der Architektur halt. Diesen historischen Auftakt nutzte Vitruv dazu, um seine Beschäftigung mit den Baumaterialien zu rechtfertigen, denen er das zweite Buch seiner Schrift gewidmet hatte: „Denn das vorliegende Buch handelt nicht davon, woraus die Baukunst hervorgeht, sondern davon, wie es ursprünglich zur Herstellung von Behausungen gekommen ist, auf welche Weise sie weitergebildet und allmählich bis zur jetzigen Vollendung fortgeschritten ist“ (de arch. I 1,8). Dazu zählte er unter den jeweiligen Materialien Belege aus verschiedenen Regionen auf. Im Verlauf dieses Buches mengte er eine Fülle an historischen Ausblicken und Geschichten ein. Als Beispiel sei nur der Abschnitt über Bauten aus Lehmziegeln erwähnt, unter denen er auch den Palast des Maussolos in Halikarnass aufzählte. Er bot ihm Gelegenheit, einen Exkurs über eine wundertätige Quelle im Heiligtum der Venus und des Merkur einzuflechten, ferner eine Beschreibung der ganzen Stadt und schließlich eine Episode aus dem Krieg der Artemisia mit den Rhodiern (de arch. II 8,11–15). Letztlich dienten alle die Ausführungen dem Beleg, dass schon Könige sich nicht scheuten, Lehmziegel für ihre Vorhaben zu verwenden, und folglich eine Ablehnung des Materials generell nicht gerechtfertigt sei. An anderer Stelle (de arch. II 9,15–16) berichtete er darüber, wie er auf einem der Feldzüge Caesars in den Alpen auf eine Stadt stieß, deren Befestigung aus einem nicht brennbarem Lärchenholz gebaut war. Die
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Übernahme dieses Materials auf Rom mit seinen leicht entflammbaren, vielstöckigen Hochhäusern hätte folglich seiner Überzeugung nach großen Gewinn gebracht. Blicke in die unterschiedlichen Dimensionen von Vergangenheit – die der Menschheit und die der eigenen Biographie, getreu den erwähnten Empfehlungen Quintilians – ermöglichten es, verschiedene Qualitäten von Baustoffen zu erkennen und voneinander zu unterscheiden. Einen zweiten ausführlichen historischen Exkurs eröffnete das vierte Buch über die Bedeutung der Ordnungen im Tempelbau. Hier arbeitete Vitruv mit den gleichen Denkmustern (de arch. IV 1,3–4,3). Die älteste ist die dorische Ordnung. Aufschlussreich ist wieder, wie er, oder seine Gewährsleute, den Vorgang in Etappen gliederte. In der ersten Phase errichtete Doros, ein König über die Peloponnes, der Juno einen Tempel in Argos, der zufällig diese Formen hatte, und dann in der Folge entsprechende Bauten in anderen Städten, „obwohl es die Berechnung ihrer Symmetrien noch nicht gab“. In einem zweiten Schritt brachten die Athener mit der Kolonisierung Ioniens diese Ordnung dorthin. Sie bauten dem „Apollon Panionios einen Tempel so, wie sie das in Achaia gesehen hatten, und nannten ihn „dorischen“ Tempel“. Für diesen Tempel entwarfen sie in einem dritten Schritt die Säulen dadurch geradezu neu, da sie deren Symmetrie nun erstmals berechneten und mit den Poportionsverhältnissen eines männlichen Körpers in Verbindung setzten. „Sie machten die Säule einschließlich des Kapitells sechsmal so hoch, wie sie den Schaft unten dick machten. So begann die dorische Säule die Proportion, die Stärke und Anmut des männlichen Körpers an den Tempel zu zeigen“. Die Proportionen orientieren sich folglich an einem natürlichen Vorbild, das durch Zahlenverhältnisse rationalisiert wird.11 Analog vollzog sich die Genese der ionischen Ordnung. „Später errichteten sie der Diana einen Tempel“ und wählten für dessen Säulen die Schlankheit des weiblichen Körpers. Nach Vitruv gingen sie allerdings in der Nachahmung des Naturvorbildes weiter. „Am Kapitell brachten sie rechts und links Voluten an, die wie gekräuselte Haarlocken bei der Frauenfrisur vorhingen …, und an dem ganzen Säulenschaft ließen sie Streifen herabgehen, wie bei Frauengewändern Gewandfalten üblich sind“. In einem abschließenden Schritt wurden die Proportionen noch einmal für beide Ordnungen verändert. „Die Späteren aber, die in Geschmack und Schärfe ihres Urteils weiter fortgeschritten waren und an schlanken Maßverhältnissen Gefallen fanden, setzten für die Höhe der dorischen Säulen sieben Säulen-
11 B. Wesenberg, „Vitruvs Vorstellung von der Entstehung des dorischen Triglyphenfrieses“, in: K. Braun, A. Furtwängler (Hg.), Studien zur klassischen Archäologie. Friedrich Hiller zu seinem 60. Geburtstag (Saarbrücken 1986) 143–157.
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durchmesser fest, für die der ionischen neun. Die Bauweise aber, die zuerst die Ionier angewandt haben, erhielt in der Folge die Bezeichnung „ionische“ Bauweise“. Die dritte, korinthische Ordnung ging auf die Erfindung eines einzelnen Bildhauers, Kallimachos, zurück, der auf dem Friedhof von Korinth auf das Grab eines Mädchens stieß, das von einem Wollkorb bekrönt wurde. Zum Schutz gegen Witterung hatte die Amme einen quadratischen Ziegel darauf gelegt. Das Ganze aber war von Bärenklau umwachsen worden, dessen Spitzen an den Ecken zu Voluten eingerollt wurden.12 Vitruv hatte folglich verschiedene Überlieferungen über die Entstehung des Bauens und der Ordnungen zusammengetragen und mit eigenen Beobachtungen bereichert. Die Erschließung von Vergangenheit beruhte immer wieder auf demselben Muster, der Kombination einer gewissen Verfahrenslogik mit Beobachtungen an realen Bauten. Dieses Vorgehen Vitruvs und seiner Gewährsleute ist an den Zeugnissen leicht abzulesen. Zunächst einmal gingen sie vom Bestand erhaltener oder bekannter Bauwerke aus. In der Tat gab es im Heiligtum der Hera bei Argos einen dorischen Tempel aus dem 7. Jh. v. Chr., der seine engsten Entsprechungen wiederum in Städten der Peloponnes etwa in Isthmia bei Korinth fand.13 Der Tempel der Artemis in Ephesos konnte zumindest aus der Sicht eines späteren Beobachters als einer der frühesten ionischen Tempel angesehen werden.14 Bei den Verweisen auf die Hütten in Athen und Rom fanden wir eine vergleichbare Vorgehensweise. Die konkreten Erscheinungen verband Vitruv gern mit einem Bau oder der Person eines Bauherrn oder Künstlers. Ferner gingen Erfindungen auf den Lokalstolz zurück, etwa wenn Athen die Berechnung der dorischen Säule für sich in Anspruch nahm. Schließlich wurden daraus Entwicklungen in der Form von Schritten stimmig erschlossen. Solche Listen von Bauten bereicherten im dritten Buch denn auch die Behandlung der Grundrisslösungen und Säulenstellungen im Tempelbau (de arch. III 2–3). 12 Zur Genese: Georges Roux, L’architecture de l’Argolide aux IVe et IIIe siècles avant J.-C, Bibliothèque des Ecoles françaises d’Athènes et de Rome 199 (Paris 1961) 359–367; Heinrich Bauer, „Korinthische Kapitelle des 4. und 3. Jahrhunderts v. Chr.“, Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts, Athenische Abteilung, Beiheft 3 (Berlin l973) 9–13. 13 Athanasios E. Kalpaxis, Früharchaische Baukunst in Griechenland und Kleinasien (Athen 1976) 38–45. 14 Anton Bammer, „Plinius und der Kroisostempel“, Jahreshefte des Österreichischen Archäologischen Institutes in Wien, 57, 1986–87, 13–28 (die Aussagen der römischen Autoren beziehen sich auf den nacharchaischen Tempel); ders., Die Architektur des jüngeren Artemision von Ephesos (Wiesbaden 1972) 34–42; Werner Kirchhoff, Die Entwicklung des ionischen Volutenkapitells im 6. und 5. Jhd. und seine Entstehung, Habelts Dissertationsdrucke. Reihe Klassische Archäologie 22 (Bonn 1988).
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Was aber völlig fehlte, waren direkte Bewertungen. Vitruv sagte zwar, dass die späteren Hausbauten mit besseren Materialien errichtet, erstmals fundamentiert und gut proportioniert waren und so war auch klar, dass daran die Bauten seiner Zeit anknüpften. Die Ordnungen entstanden in einer Mischung von Naturvorbild und rationalem Kalkül zunächst eher zufällig, wurden in einem zweiten Schritt systematisch verändert und in einem dritten noch einmal dem herrschenden Zeitgeschmack angepasst. Aber es fehlen Aussagen, wie bisweilen bei anderen Autoren,15 dass etwa eine bestimmte Periode oder auch Ordnung einer anderen vorzuziehen sei. Das verwundert gerade deshalb so sehr, weil sich die korinthische Ordnung im augusteischen Rom eindeutig durchsetzte. Mit einem anderen Klassifizierungsmodus ordnete Vitruv die Bauten ihren Erbauern und damit ihrem kulturellen Umfeld zu. Dem griechischen Tempel, Theater, Haus und Agora entsprachen ihre lateinischen Pendants samt Forum. Bezeichnenderweise stammten die Modelle aus verschiedenen zeitlichen Horizonten, der griechische Tempel aus der Zeit der Klassik, das griechische Theater, das Haus und auch das Konzept der Agora eher aus jener des Hellenismus. Eine derartige Wahl brachte vielleicht eine Vorliebe zum Ausdruck, aber eine Bewertung wird dabei nicht ausgesprochen. Allerdings kamen auch verschiedene Erklärungen zusammen. Beim Theater etwa versuchte er die optimale Formgebung nicht nur historisch, sondern mit naturwissenschaftlichen Methoden systematisch aus den Klangqualitäten abzuleiten (de arch. V 3–5). Diese Art des selektiven Umgangs mit Vergangenheit macht ebenso ein Blick auf die Quellen, die er als die Grundlage seiner Arbeit nennt, deutlich. In der Vorrede zu seinem siebten Buch gab er einen Überblick über die Architekten, deren Werke er zugrunde legte. Nach einer einleitenden Anekdote über das Thema des Plagiats fuhr er fort (de arch. VII praef. 10): „Ich sage allen Schriftstellern dafür unbegrenzten Dank, dass sie unter Aufbietung ihrer außergewöhnlichen genialen Erfindergabe von den ältesten Zeiten ein jeder auf seinem Gebiet uns eine Überfülle von Stoff geliefert haben, aus der wir, wie Leute, die aus Quellen Wasser schöpfen und es für ihre eigenen Vorhaben verwenden, reicheren und leichter zu beschaffenden Stoff für die Abfassung unseres eigenen Werkes zur Verfügung haben, und gestützt auf solche Vorgänger wagen wir es, ein neuartiges Lehrbuch zu schreiben.“ Wiederum folgte die Aufzählung der Berühmtheiten dem bewährten Muster. Als Begründer der Fachliteratur nannte Vitruv Agatharch von Athen, der für eine Tragödie des Aischylos eine Dekoration schuf und darüber geschrieben
15 Quintilian, inst. orat. XII 10, 12 (zu Marcus Tullius Cicero)
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hatte. Mit ihm wurden einige weitere Autoren zusammen gesehen, etwa Demokrit und Anaxagoras, die offenbar bei Gelegenheit optische Probleme untersuchten. Es folgte eine Liste von zehn Architekten, die bezeichnenderweise immer über einen ihrer Bauten schrieben, aber nur im Ausnahmefall allgemein ein Werk über Architektur. Sie stammten aus allen Epochen.16 Dennoch konnten alle die Werke große Wirkung ausüben, wie es Vitruv (de arch. III 3,9) ausdrücklich von Hermogenes bezeugte, aus dessen Quellen „die Nachfahren die Gesetze des Faches“ schöpften. Im Anschluss an den zuvor genannten Passus erwähnte Vitruv eine Reihe von weniger berühmten Autoren, die Vorschriften über Symmetrien und über den Maschinenbau verfassten. Andere Künstler gingen offenbar ebenso vor, etwa der Bildhauer Pasiteles, von dem Plinius (n.h. 36, 39) zu berichten wusste, dass er fünf Bücher über die Meisterwerke in aller Welt schrieb. Das klingt nicht unbedingt nach Wahl eines bestimmten Vorbilds, sondern eher nach breiter Streuung. Selten wurden, wie in den anderen Künsten, die Architekten mit besonderen Leistungen verbunden, vielmehr blieb bis auf wenige Ausnahmen unklar, warum die jeweilige Form als besonders gelungen anzusehen ist.17 Zu alledem stellte Vitruv der stattlichen Gruppe der griechischen Baumeister die wenigen römischen Autoren gegenüber, unter denen Fuficius, Terentius Varro und P. Septimius wohl keine Architekten waren, während berühmte römische Baumeister wie Cossutius oder Caius Mucius zwar bedeutende Bauten errichteten, aber nicht zur Feder griffen. Hieraus erklärt sich für ihn ein weiteres Motiv für die Abfassung seines Werkes (de arch. VII praef. 18): „Weil man also findet, dass unsere Altvorderen nicht weniger große Baumeister als die Griechen gewesen sind, und zu unserer Zeit ziemlich viele, und da nur wenige von diesen Schriften herausgegeben haben, glaubte ich nicht schweigen zu dürfen, sondern hielt es für angebracht, wohlgeordnet in einzelnen Büchern die einzelnen Gebiete zu behandeln“. Vitruv äußerte sich folglich positiv zu den griechischen Architekten und an anderen Stellen auch zur griechischen Kunst, aber nicht so, dass er ein Ideal in einer bestimmten Epoche oder an einem bestimmten Ort allein verwirklicht sähe. Die Römer waren genauso gut,
16 Friedrich Wilhelm Schlikker, Hellenistische Vorstellungen von der Schönheit des Bauwerks nach Vitruv (Berlin 1940) 10–33. 17 Am ehesten wird es noch bei Hermogenes klar. Zu ihm P. Gros, „Le dossier vitruvien d’Hermogénès“, Mélanges de l’Ecole française de Rome. Antiquité, 90, 1978, 687–703; Martin Kreeb, „Hermogenes. Quellen- und Datierungsprobleme“, in: (Hg.) Wolfram Hoepfner u. Ernst Ludwig Schwandner, Hermogenes und die hochhellenistische Architektur, Internationales Kolloquium in Berlin vom 28. bis 29. Juli 1988 im Rahmen des 13. Internationalen Kongresses für Klassische Archäologie, (Mainz 1999) 103–113.
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nur hatten sie als junge Nation auf diesem Gebiet noch nicht so viel leisten können.18 Einen weiteren, zunächst irritierenden Aspekt bildete sein Bestreben, Leistungen auch auf breiter Ebene nicht zu verdunkeln und deshalb ebenso die weniger berühmten Künstler wahrzunehmen. Dieser Gedanke tauchte schon früher in der Vorrede zum dritten Buch seines Werkes auf (de arch. III praef. 2). „Dies kann man besonders bei den alten Bildhauern und Malern feststellen, weil diejenigen von ihnen, die bekannte Rangstellungen und die Gunst der Empfehlung besaßen, in ewiger Erinnerung bei der Nachwelt fortleben, wie Myron, Polyklet usf.“ Wenig später kontrastierte er sie mit einer anderen Gruppe. „Die aber nicht geringeren Eifer, nicht geringere Begabung und Kunstfertigkeit als die berühmten (Künstler) besaßen und für wenig Begüterte nicht weniger hervorragend vollendete Werke geschaffen haben, sind der Vergessenheit anheim gefallen, nicht etwa, weil es ihnen an strebendem Bemühen und Kunstfertigkeit fehlt, sondern weil sie vom Glück im Stich gelassen waren, wie Hegias aus Athen, Chion aus Korinth, etc. Nicht weniger Maler wie Aristomenes aus Thasos, Polykles etc., denen weder strebendes Bemühen noch Liebe zur Kunst noch Geschicklichkeit fehlte, deren Ansehen als Künstler aber entweder geringen Vermögen oder Zerbrechlichkeit des Glücks oder beim Wettbewerb die Überlegenheit ihrer Gegner im Wege stand. So darf man sich nicht wundern, wenn aus Unkenntnis des künstlerischen Schaffens große Leistungen verdunkelt werden, aber es muss im höchsten Maße empören, wenn auch oft das freundschaftliche Verhältnis, das Gastereien entspringt, statt der wahren Beurteilungen falsche Anerkennung durch Schmeichelei hervorbringt.“ Hier meint man zu spüren, wie eigene, bittere Erfahrungen durchschlagen. Vor dem Hintergrund der antiken Überlieferung überrascht, mit welcher Intensität Vitruv diesen verschiedenen Ebenen künstlerischer Produktion und Anerkennung nachging. Möglicherweise wurde er bei der Vergabe von Aufträgen übergangen. Aber jenseits solcher Spekulationen machen seine Bemerkungen deutlich, dass der Blick in die Vergangenheit Verhältnisse zwischen den verschiedenen Ebenen klären sollte, zwischen Griechen und Römern, zwischen Theorie und Praxis, zwischen guten und weniger guten und anerkannten und nicht anerkannten Künstlern. Alle diese Aspekte versuchte er zumindest im Blick zu behalten. Die Berufung auf die großen Künstler garantierte dabei nicht die zeitlos gültige Norm, denn ihnen standen die weniger anerkannten zur Seite, die
18 Von der neuzeitlichen Rezeption sei hier abgesehen. Vgl. Thomas Gelzer, „Klassik und Klassizismus“, Gymnasium 82, 1975, 147–173; Helmut Sichtermann, „De gustibus – zur Beurteilung des römischen Klassizismus“, Gymnasium 81, 1974, 1–40.
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ebenfalls Bedeutung hatten. Allein damit erwiesen sich etablierte Normen zumindest aus seiner Sicht nur als bedingt tragfähig. Wie eine Konstellation des Glücks aussehen kann, die nach ihm den Ausschlag für die Berühmtheit der Künstler gab, erläuterte er an der zuvor genannten Stelle (VII praef. 12–13) an Hand der Architekten des Maussoleion von Halikarnass, Satyros und Pytheos. Sie waren vor allem deshalb in aller Munde, weil sie große Bildhauer zur Seite hatten, welche die Bildwerke ausführten. Deren Bekanntheit insgesamt schuf die Grundlage dafür, das Werk unter die sieben Weltwunder einzureihen. Nicht die Einzelleistung bildete folglich das Kriterium, sondern die gesamte Konstellation. So hieß es umgekehrt von dem Bau des C. Mucius (VII praef. 17), wäre er aus Marmor gewesen, „so dass er wie von Seiten der Kunst eine feine Ausführung, so durch Pracht und Aufwand Wirkung gehabt hätte, so würde er unter den ersten und bedeutendsten Bauwerken genannt werden.“ 19 Für Vitruv war Vergangenheit mehr in Personen greifbar als in Epochen. Das begann schon mit der eigenen Person, seine eigenen Erfahrungen beeinflussten sein Werk nachhaltig, aber es setzte sich dann mit den vielen genannten Personen fort. Dass bestimmte Epochen bestimmte Personen prägten, war ihm zwar klar, aber daraus zog er nicht den Schluss, sich eine Epoche als Vorbild zu wählen. Bei dem insgesamt diffusen Umgang mit Vergangenheit wundert es nicht, dass sich aus ihr für Vitruv kaum Normen ableiten ließen. Drei Beispiele mögen für diesen Aspekt genügen. Das erste betrifft die Gebälke der Ordnungen, über die Vitruv im vierten Buch handelte. Die Grundaussage dürfte wiederum allgemein bekannt sein. „Von diesen Bauteilen und ihrer zimmermannsmäßigen Ausführung in Holz her haben die Künstler beim Bau von Tempeln in Stein und Marmor deren Anordnungen in Steinmetzarbeit nachgeahmt, und sie haben geglaubt, diesen Erfindungen folgen zu müssen“ (de arch. IV 2,2)“. Das führte ihn im Folgenden zu so etwas wie einer verbindlichen Regel. Entscheidend ist das Vorkommen in der Natur und eine Ausführung, die sich an der Wirklichkeit orientierte – beide Begriffe enthalten bei ihm große Unschärfen. In der Folge waren bestimmte Formen auszuschließen und Vitruv behauptete etwa, dass „bei griechischen Bauwerken niemand unter einem Mutulus Zahnschnitt angeordnet“ (de arch. IV 2,5) hat. Angeblich billigten sie auch nicht, dass in Giebelschrägen Mutuli oder Zahnschnitte angebracht wurden. Entgegen seinen Aussagen sind aber beide Formen in der hellenistischen Baukunst zu finden, sogar an Bauten, die mit dem von ihm so verehrten Hermogenes in Verbindung ge-
19 Vgl. ebenso die Bemerkungen zu Cossutius (VII praef. 15).
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bracht werden, etwa in Magnesia.20 Für Vitruv war entscheidend, dass Richtigkeit sich nicht darin erweist, einer bestimmten Periode zuzugehören, sondern dass sie sich aus konstruktiver Logik geradezu zwingend ergab. Sie geriet damit zu so etwas wie einer Naturwahrheit.21 Schon vor Vitruv hatten offenbar einige Architekten die Meinung vertreten, man dürfe keine Tempel in dorischen Ordnung errichten (de arch. IV 3,1). Als Begründung überlieferte er, „weil sich an ihnen Symmetrien ergäben, die voller Fehler und unharmonisch sind“, und an anderer Stelle (de arch. IV 3,2) fügte er hinzu: „Daher scheinen die alten Baumeister beim Tempelbau das System der dorischen Symmetrie gemieden zu haben.“ 22 Das erinnert ein wenig an Diskussionen, wie sie in der Rhetorik um die Bevorzugung der attischen gegenüber der asianischen Redeweise geführt wurden,23 aber die Verbindlichkeit einer daraus abgeleiteten Regel blieb bei Vitruv weitaus schwächer. Alle diese Bemerkungen zeigten kohärente Muster der Argumentation. Dabei spielte die Naturwahrheit, die konstruktive Stimmigkeit eingeschlossen, die entscheidende Rolle. Für Vitruv gab es aber keine Epoche, die in besonderer Weise vorbildhaft bestimmend war. Vielmehr zeichnete sich eine bunte Fülle unterschiedlicher Referenzen auf verschiedene Horizonte der Vergangenheit ab. Dieser Aspekt ließe sich auch auf die übrigen Teile seines Werkes ausdehnen, ohne dass sich das Ergebnis ändern würde.
Widersprüchliche Wertvorstellungen und Normen im Umgang mit Vergangenheit Vitruv war den in der Antike üblichen Formen des Umgangs mit Vergangenheit verpflichtet. Übergeordnet war gewiss die Form der Historiker und Moral-
20 Nikolaos Ch. Stampolides, „Hermogenes, sein Werk und seine Schule“, in: (Hg.) Wolfram Hoepfner u. Ernst Ludwig Schwandner, Hermogenes und die hochhellenistische Architektur, Internationales Kolloquium in Berlin vom 28. bis 29. Juli 1988 im Rahmen des 13. Internationalen Kongresses für Klassische Archäologie, (Mainz 1999) 118–119, Abb. 2. 21 In ähnlicher Weise argumentiert Vitruv in der berühmten Passus über Wandmalerei (VII 5, 1–2). s. o. Anm. 6. 22 P. Gros, Vitruvius IV (Paris 1992) 121–141. 23 Quint. inst. orat. XII, 10, 16–26; Thomas Gelzer, „Klassizismus, Attizismus und Asianismus“, in: Le classicisme à Rome aux 1ers siècles avant et après J.-C., Koll. Genf 21.−26. August 1978, (Hg.) Hellmut Flashar, Entretiens sur l’antiquité classique 25, Vandoeuvres (Genf 1979) 3– 41; vgl. auch Konrad Heldmann, „Antike Theorien über Entwicklung und Verfall der Redekunst“, Zetemata 77 (München 1982) 122–162.
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schriftsteller, Vergangenheit als ein Repertoire von exempla für vorbildhaftes Handeln zu sehen. Eine vergleichbare Systematik entwarfen viele antike Autoren zu Werken der Kunst. Quintilian (Inst Orat XII 10,1) führte aus, dass „Gattungen von Werken, die ich meine, wie ihre besonderen Meister so auch ihre besonderen Liebhaber“ besitzen. Aus diesem Grund gibt es „keinen vollkommenen Redner und wohl auch noch keine vollkommene Kunst, nicht nur weil bei dem einen dies, bei dem anderen etwas anderes hervorragender ist, sondern weil nicht allen nur eine Form gefallen hat“. Denn alles wird nach den Unterschieden der Rezipienten untereinander jeweils relativiert. Quintilian erläuterte diese Position an den Beispielen der Malerei und der Skulptur. Daran entwickelte er zugleich nach ähnlichem Muster Bausteine einer Geschichte der Kunst, wie wir sie schon von Vitruv kennen. Dabei kam es auch zu kritischen Untertönen, aber mit anderer Akzentuierung. Aufschlussreich ist schon die Einleitung in die Betrachtung (Inst Orat XII 10,3): „Die ersten Künstler, deren Werke nicht nur um ihres Alters willen die Besichtigung lohnen, sollen die berühmten Maler Polygnotos und Aglaophon gewesen sein, deren einfache Farbgebung auch heute noch so begeisterte Liebhaber hat, dass sie jene noch fast rohen Gebilde und gleichsam Keimzellen der noch im Werden begriffenen Kunst den größten Meistern, die nach ihnen gekommen sind, vorziehen, und zwar – so kommt es mir vor – aus einem etwas eigenartigem Kennerehrgeiz“. In einem zweiten Durchgang (Inst Orat XII 10,9) wurde nach etwa demselben Schema die Entwicklung der Skulptur behandelt, mit einer Reihe von kritischen Bemerkungen. So habe Polyklet das pondus gefehlt. Die Entwicklung hatte bei Quintilian, der darin ungenannten Gewährsleuten folgte, ihr Ziel in der Naturwahrheit, der Lysipp und Praxiteles am nächsten kamen, während ihr Zeitgenosse „Demetrius als übertrieben getadelt“ wird. „Seine Liebe galt mehr der Ähnlichkeit als der Schönheit.“ In dem dritten Durchgang schließlich schlug Quintilian die Brücke zur Rhetorik. Auch hier ließen sich deutlich Entwicklungen beobachten. Laelius, die Scipionen, Cato und noch die Gracchen standen am Anfang der lateinischen Redekunst „die man immerhin als die Polygnote oder Kallone ihrer Kunst bezeichnen mag“ (Inst Orat XII 10,10). Die Entwicklung gipfelte in Marcus Tullius Cicero. Er war nicht ein „Künstler wie Euphranor, der sich in mehreren Kunstarten hervortat, sondern der Hervorragendste in allem“. Klarer als bei Vitruv wird hier deutlich, dass die Kategorisierung nach Genera, also die Untergliederung des Materials nach Gruppen und Epochen, vor allem einer ersten Orientierung dient. Eine chronologische Ordnung stellte damit weder Selbstzweck dar, noch bildete sie die Grundlage einer Geschichte der Kunst des Altertums. Bezeichnend war vielmehr, dass es viele einzelne
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Vergangenheiten gab, also die der dorischen Säule, der Wanddekoration, der Skulpturen oder der Rhetorik. Sie konnten miteinander verknüpft werden, aber weniger auf einer historischen als auf einer systematischen Ebene. Jede Entwicklung hatte ihre Anfänge und ihren Höhepunkt, bisweilen auch Verirrungen, und so ließen sich diese einzelnen Ebenen miteinander verknüpfen, selbst wenn sie chronologisch so weit auseinanderklafften, wie Polygnot und die Gracchen. Damit hing zusammen, dass es bei diesen antiken Autoren die Meister selbst waren, an denen sich die Nachwelt ausrichtete. Deshalb gab es weder bei Vitruv noch bei Quintilian für ihre jeweiligen Felder so etwas wie eine alles überragende Klassik, also eine Epoche, die man vorbehaltlos nachahmen wollte. In der Geschichte der Rhetorik ließe sich für ihre antiken Vertreter leicht nachweisen, dass so etwas wie ein Optimum vorstellbar ist, was aber unterschiedlich erreicht wurde und immer wieder neu umgesetzt werden musste. Diese Optimierung ist immer in Relation zu sehen, nicht linear von einer Epoche zur anderen, sondern im Einzelvergleich. So steht für Longinos in seiner Schrift über das Erhabene (peri hypsous, 33,1 ff.) fest, dass „selbst die überragendsten Naturen keineswegs frei von Fehlern seien.“ Und dann folgte eine Reihe von Abwägungen. Im Vergleich zwischen Homer und Apollonios, könnte man noch glauben, dass es auch ein Vergleich zwischen Epochen ist, zumal gleich ein Vergleich zwischen Erathostenes und Archilochos folgte, der jedes Mal zuungunsten der hellenistischen Dichter ausfiel. Aber für den Vergleich zwischen Pindar und Bacchylides oder Sophokles und Ion oder in der detaillierten Ausführung zwischen Hypereides und Demosthenes galt es schon nicht mehr. Eine ganz eigene Kategorie in der antiken Architekturbetrachtung bildeten jene Bauten, die als Weltwunder bezeichnet wurden.24 An ihnen stimmte, wie wir es bei der Betrachtung des Maussoleion durch Vitruv gesehen haben, sozusagen alles, Planung, Größe, Aufwand, Stil und Ausführung. Ähnlich bemaßen auch die Experten der Rhetorik die überragende Qualität der großen Meister. Diese Kriterien wandte auch Plinius (n.h. 36,75–125) an, wobei die Aufzählung der Wunderwerke dort wiederum zu Kategorien führte, wie wir sie eingangs bei Frontinus gefunden hatten. Denn die Pyramiden waren müßige und törichte Zurschaustellungen königlicher Macht und Plinius fand es nur gerecht, dass ihre Erbauer der Vergessenheit anheim fielen. Der Leuchtturm vor Alexandria kam hingegen besser weg, auch wenn die Römer in Ravenna und Ostia ähnliche Bauten hatten. Dann folgten die Labyrinthe in Ägypten, Kreta und Lemnos,
24 Werner Ekschmitt, Die Sieben Weltwunder: ihre Erbauung, Zerstörung und Wiederentdeckung (Mainz 1996).
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die Plinius als die abenteuerlichsten Werke menschlicher Verschwendungssucht bezeichnete. Dazu gehörte auch das Labyrinth des etruskischen Königs Porsenna, das schon ins Reich der Fabel gehört, die hängenden Gärten oder eine hängende Stadt. Als Gegensatz dazu war der Tempel der Diana zu Ephesos zu sehen, der zu echter Bewunderung griechischer Prachtliebe Anlass bot. Dieser Gedanke fand sich ähnlich auch in einem Epigramm des Antipater von Sidon über die sieben Weltwunder (AntPal IX 58). Bei Plinius schloss sich ein Tempel in Kyzikos an, wobei er aus derselben Stadt auffallenderweise noch eine Reihe weiterer besonderer Bauten aufzählte. Offenbar hatte er in diesem Fall eine entsprechende Schrift exzerpiert. Nach diesem Präludium stimmte er das Lob auf die Wunder Roms an. Sie bildeten geradezu eine zweite Welt, die vom Circus Maximus, der Basilika Aemilia, das Forum des Augustus zum Forum Pacis führte. Jener Bau wurde von Vespasian errichtet, unter dem der Autor lebte. In immer neuen rhetorischen Steigerungen wurde aus Rom Wunder nach Wunder aufgeführt, das größte Dach der Welt auf dem Diribitorium, der teuerste Baugrund für das Forum Caesars, die effizienteste Abwasserleitung – die von Agrippa restaurierte Cloaca Maxima – , die aufwendigsten Häuser und Paläste und die kostbarsten Theater. Den Abschluss seiner Ausführungen bildeten die durch ihren wahren Wert unübertroffenen Wunderwerke. Dabei handelt es sich um die Wasserleitungen Roms, zu denen im Vergleich die Erde nie etwas Bewundernswerteres gesehen habe. Der Tenor der Aussage deckt sich also ganz mit jener des Frontinus, während dieser Aspekt bei Vitruv nur anklingt und ganz auf Octavian/Augustus bezogen bleibt. Dennoch ist der Stolz auf die Leistungen Italiens und vor allem Roms auf dem Gebiet der Architektur deutlich zu spüren.25 Ein näheres Eingehen auf die Weltwunder hätte aber nicht zu dem Charakter seines Werkes gepasst, in dem es um Architekturpraxis gehen sollte. Die Leistung des Vitruv lag darin, dass er eine Materie wie Architektur in einer neuen und bisher wohl unbekannten Weise in eine literarische Form gebracht hat. Die griechischen Autoren vor ihm waren offenbar überwiegend auf ihre eigenen Werke bezogen. Als verantwortliche Architekten wie Iktinos, Pytheos oder Hermogenes erklärten sie ihre Bauwerke und erläuterten in diesem Zusammenhang bestimmte Aufgaben, die es dabei zu lösen galt. Ihr Publikum waren die Institutionen der Polis, die sie zu gewinnen suchten, vor denen sie sich aber auch rechtfertigen mussten. Vitruv schaffte ihnen gegenüber eine Synthese und musste deswegen auch die Dinge in Relation zueinander setzen.
25 H. von Hesberg, „Vitruv und die italische Tradition“, in: H. Knell u. B. Wesenberg (Hg.), Vitruv-Kolloquium, Darmstadt 17.–18. Juni 1982 (Darmstadt 1984) 123–140.
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Dazu diente ihm nicht zuletzt der Blick in die Geschichte, denn vor ihrem Hintergrund ließ sich der Wert der Formen klarer zuordnen. Die Systematik der Diskurse beruhte auf diesen heterogenen Grundlagen. Richtigkeit und überragende Qualität konnte nur erreicht werden, wenn in allen Teilbereichen diese Ziele umgesetzt wurden, wenn aber darüber hinaus die Bauaufgabe im Einklang mit den Erwartungen ihrer Zeit stand. Insofern blieben Rückgriffe punktuell, nicht aber umfassend. Eine derartige Form erfuhr ihre Systematisierung in einer Staffelung analog zu den den classes der römischen Gesellschaftsordnung und damit zur Genese des Begriffes classicus. So ordnete Cicero (ad ac. II 73) Demokrit über andere Philosophen, die er in die quintae classis verwies. Der Gedanke fand sich später ähnlich bei Gellius (XIX 8,15).26 Daraus ergab sich eine Qualifikation der Dichter in entsprechende Kategorien, also etwa die besten drei Tragiker. Damit aber entsprach es den oben ausgeführten Belegen aus der Kunst- und Architekturgeschichte. Auch dort wurden die Dinge jeweils entsprechend eingeordnet und klassifiziert. Ein gebrochener Umgang mit Klassik und Klassizimus ließe sich auch an der gebauten Architektur nachweisen, in der umfassende Kopien von Vorbildern fehlen.27 Bestenfalls stoßen wir auf Imitationen von Detailformen. So et-
26 Johannes Stroux, „Das Problem des Klassischen und die Antike“, in: (Hg.) Werner Jaeger, Das Problem des Klassischen und die Antike, Fachtagung der klassischen Altertumswissenschaft in Naumburg 1930, (Leipzig 1933) 114; Bernhard Schweitzer, „Der bildende Künstler und der Begriff des Künstlerischen in der Antike“, Neue Heidelberger Jahrbücher 1925, 28–132; ders., „Xenokrates von Athen, Beiträge zur Geschichte der antiken Kunstforschung und Kunstanschauung“ in: Schriften der Königsberger gelehrten Gesellschaft. Geisteswissenschaftliche Klasse 9, 1 (Halle 1932), 152; vgl. Thomas Gelzer, „Klassizismus, Attizismus und Asianismus“, in: Le classicisme à Rome aux 1ers siècles avant et après J.-C., Koll. Genf 21.–26. August 1978, (Hg.) Hellmut Flashar, Entretiens sur l’antiquité classique 25, Vandoeuvres (Genf 1979) 313; P. Gros, „Vie et mort de l’art hellénistique selon Vitruve et Pline“, Revue des études Latines 56, 1978, 289–313; Felix Preißhofen, „Kunsttheorie und Kunsbetrachtung“, in: Hellmut Flashar (Hg.), Le classicisme à Rome aux 1ers siècles avant et après J.-C., Koll. Genf 21.– 26. August 1978, Entretiens sur l’antiquité classique 25, Vandoeuvres (Genf 1979) 263–277. 27 Große Propyläen in Eleusis: Demosthenes G. Giraud, „Η κυρία είσoδoς τoυ ιερoύ της Eλευσίνoς“, Vivliothēkē tēs en Athēnais Archaiologikēs Hetaireias 120 (Athen 1991); John Travlos, „O Thesauros ths Eleusinos“, ArchDelt 16, 1960 Chron 57, 60; Andreas Post, „Zum Hadrianstor in Athen“, Boreas 21–22, 1998–99, 182–183, zum Rundtempel in der Villa Hadriana: Giorgio Ortolani, Il padiglione di Afrodite Cnidia a Villa Adriana: progetto e significato (Rom 1998) 141– 164. Vgl. auch allgemein H. von Hesberg, „Architekturkopien“, in: Hermann Büsing u. Friedrich Hiller (Hg.), Bathron. Festschrift Heinrich Drerup, (Saarbrücken 1988) 185–193; H. Knell, „Die Anfänge des Archaismus in der griechischen Architektur“, Xenia 33 (Konstanz 1993); Florens Felten, „Antike Architekturkopien“, in: Gabriele Erath, Manfred Lehner u. Gerda Schwarz (Hg.), Komos: Festschrift für Thuri Lorenz zum 65. Geburtstag (Wien 1997) 61–69.
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was wie Vergangenheit mit dem strikten Anspruch der Vorbildhaftigkeit fehlte auch in späteren Phasen der Antike, also etwa zur Zeit der zweiten Sophistik oder in der Spätantike. Vitruv ist aber von alledem weit entfernt und an ihm lässt sich, auch wenn er in einer Zeit lebte, die gemeinhin als „klassizistisch“ angesehen wird, ein Bezug auf Klassik als entscheidender Instanz – und sei es auch nur im erweiterten Sinn – kaum nachweisen.
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Alexander Markschies
Herrlicher als die Werke der Römer Der Aachener Dom als Paradigma frühmittelalterlicher Antikenrezeption
I Die Marienkirche als Tempel Salomos Wohl im Auftrag des Urenkels Karls des Großen und ab Dezember 883 verfasst, schreibt Notker der Stammler in seinen „Taten Kaiser Karls des Großen“ zwar nur knapp und erst ab dem 12. Jahrhundert weithin wahrgenommen, aber höchst instruktiv über die Kirche in Aachen, dass sie, nach eigenem Plan des Herrschers zu erbauen, herrlicher sei als die Werke der Römer, und Karl mit dem Projekt dem Beispiel König Salomos folge: Zunächst will ich die Bauten in Aachen erwähnen, die Karl nach dem Beispiel des hochweisen Salomo in wundervoller Art erbauen ließ (..) Als der äußerst regsame Kaiser Karl etwas Ruhe hatte finden können, wollte er doch nicht müße und träge sein, sondern sich weiter im Dienste Gottes abmühen; so nämlich, dass er auf heimatlichem Boden eine Basilika, herrlicher als die Werke der alten Römer, nach eigener Anordnung zu erbauen unternahm und sich in Kürze der Vollendung seines Vorhabens erfreuen konnte. Zu diesem Bau berief er aus allen Gegenden diesseits des Meeres Meister und Werkleute aller hierzu geeigneter Kunstrichtungen.1
Zwei Topoi werden hier zu einem recht frühen Zeitpunkt aufgerufen: Zum einen die herrscherliche Patronage in der Nachfolge König Salomos (nach 1. Kg 6), die häufig mit einer doppelten Markierung von Autorschaft verbunden
1 „(..) Edificiis (..) apud Aquasgrani iuxta sapientissimi Salemonis exemplum (..) mirifice construxit (..) Cum strenuissimus imperator Karolus aliquam requiem habere potuisset, non ocio torpere sed divinis servitiis voluit insudare, adeo ut in genitali solo basilicam, antiquis Romanorum operibus praestantiorem, fabricare propria dispositione molitus in brevi compotem se voti sui gauderet. Ad cuius fabricam de omnibus cismarinis regionibus magistros et opifices omnium id genus artium advocavit.“ Zit. nach Hans F. Haefele (Hg.), Notker Balbulus, Gesta Karoli magni imperatoris, Berlin 1959 (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum germanicarum, N. S. Bd. 12, I, 27 f.), S. 38. Die dt. Übersetzung nach Walter Kaemmerer, Aachener Quellentexte, Aachen 1980 (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Aachen, Bd. 1), S. 35. Vgl. für die hier und im Folgenden zitierten Quellen auch Clemens M. M. Bayer, Max Kerner und Harald Müller, „Schriftquellen zur Geschichte der Marienkirche bis ca. 1000. Text – Übersetzung – Kommentar“, in: Dies., Die Aachener Marienkirche. Aspekte ihrer Archäologie und frühen Geschichte, Regensburg 2014, S. 113–189. https://doi.org/10.1515/9783110458213-004
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wurde, d. h. Karl wird von Notker zugleich als Auftraggeber und Architekt hervorgehoben.2 Und zum zweiten der Überbietungsgestus, dass ein zeitgenössisches Bauwerk die Antike zu übertreffen in der Lage sei. Intendiert ist damit im Sinne eines typologischen Geschichtsverständnisses die Suprematie des Christentums über die heidnische Antike,3 d. h. zugleich auch ein Lob der Gegenwart.4 Normsetzung, Referenzierung und die Intentionalität einer Bauunternehmung höchsten Anspruchs werden hier von Notker Balbulus überaus kunstvoll in wenige Worte gekleidet. Wie stets stellen sich damit aber zunächst mehr Fragen, als Antworten gegeben werden: Auf welche Antike wird hier Bezug genommen, warum genau, und wie hat man sich diese Referenz eigentlich vorzustellen? Mit nochmaligem Blick in die Schriftquellen und auf das Bauwerk selbst soll im Folgenden diesen Fragen nachgegangen werden.5
II Antike ohne Ende in Aachen? Dass das Prominenteste der karlischen Pfalzprojekte und dessen Marienkirche6 in Aachen begonnen wurde und hier, wie es in anderen Zusammenhängen heißt, ein „Jerusalem“ bzw. ein „zweites Rom“ in Planung war,7 macht zunächst ratlos. Denn die Voraussetzungen waren denkbar schlecht: Aachen liegt in frühmittelalterlicher Perspektive geradezu verkehrsfeindlich – im Süden die Eifel, im Norden Sumpf, und die unter Agrippa angelegte Fernstraße Bavai –
2 Vgl. Paul von Naredi-Rainer, Salomos Tempel und das Abendland. Monumentale Folgen historischer Irrtümer, Köln 1994 sowie Günther Binding, Der früh- und hochmittelalterliche Bauherr als „sapiens architectus“, Darmstadt 1996, S. 349–356. 3 Vgl. Art. Aemulatio, in: Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 1, Tübingen 1992, Sp. 150–164 (Barbara Bauer). 4 Der Gedanke nach Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 21954, S. 174. 5 Vgl. für den aktuellen Stand der Forschung Harald Müller, Judith Ley, Frank Pohle u. Andreas Schaub: „Pfalz und vicus Aachen in karolingischer Zeit“, in: Thomas Kraus (Hg.), Aachen von den Anfängen bis zur Gegenwart. Karolinger – Ottonen – Salier, Aachen 2013, Kap. 7. Alexander Markschies, „Die Aachener Marienkirche und ihre Ausstattung (795–814)“, in: Ausst.Kat. Karl der Große. Karls Kunst, (Hg.) Peter van den Brink und Sarvenaz Ayooghi, Aachen 1994, S. 94–107 sowie den in Anm. 1 zitierten Sammelband zur Marienkirche. 6 Zum Terminus „Marienkirche“ vgl. Müller (wie Anm. 5), S. 193 ff. 7 Zur Jerusalemallusion siehe unten, S. 73. Die Beschreibung als „Roma secunda“ wird vor allem im so genannten, um 800 entstandenen Paderborner Epos greifbar, vgl. dazu Jörg Jarnut, Peter Godman u. Peter Johanek, Am Vorabend der Kaiserkrönung: Das Epos „Karolus Magnus et Leo Papa“ und der Papstbesuch in Paderborn 799, Berlin 2002.
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Maastricht – Köln war kilometerweit entfernt.8 Frühen Schriftzeugnissen ist Aachen kaum einer Erwähnung Wert, im Gegensatz etwa zum nahen Jülich, das wegen seines Namens – wie man schon früh wusste fälschlich – auf Julius Cäsar zurückgeführt wird.9 Und schließlich stand es im Frühmittelalter auch um den besonderen Schatz Aachens – das schwefelhaltige Quellwasser – nicht zum Besten: Fungierte der Ort in der Antike mit zwei Großthermen als eine Art Erholungszentrum für das römische Militär,10 wurde der Bäderbetrieb nach gewaltsamen Zerstörungen vermutlich schon im 4. Jahrhundert aufgegeben.11 Die Reaktivierung – hier als mondänes Kurbad – gelang im eigentlichen Sinne erst im 19. Jahrhundert.12 Für die Existenz und die Erinnerungskultur Aachens entscheidend, waren die heißen Quellen faktisch nur episodenhaft von größerer Bedeutung. Dies gilt zunächst und vor allem für die Zeit Karls des Großen, der gegen Ende des 8. Jahrhunderts sein Augenmerk besonders intensiv und nachhaltig auf Aachen gelenkt hat.13 Liest man nur die „Vita Karoli Magni“, dann waren hier persönliche Beweggründe ausschlaggebend: „Karl liebte die Dämpfe heißer Naturquellen und schwamm sehr viel und so gut, dass es niemand mit ihm aufnehmen konnte. Darum baute er einen Palast in Aachen.“ 14 Abgesehen von 8 Johannes Heinrichs, „Der Raum Aachen in vorrömischer Zeit“, in: Raban von Haehling u. Andreas Schaub (Hg.), Römisches Aachen. Archäologisch-historische Aspekte zu Aachen und der Euregio, Regensburg 2013, S. 13–96, hier S. 20. 9 „Julo, a conditore Julio Caesare cognominato“, zit. nach Paul Hirsch u. Hans-Eberhard Lohmann (Hg.), Widukindi monachi Corbeiensis rerum gestarum Saxonicarum libri tres, Hannover 1935 (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum germanicarum in usum scholarum separatim editi, Bd. 60, II, 1), S. 63. 10 Heinrichs (wie Anm. 8), S. 83. 11 Die Argumentation folgt hier Lukas Clemens, Tempore Romanorum constructa. Zur Nutzung und Wahrnehmung antiker Überreste nördlich der Alpen während des Mittelalters, Stuttgart 2003 (Monographien zur Geschichte des Mittelalters, Bd. 50), S. 115 ff. 12 Vgl. Adam C. Oellers u. Caroline Weber, Festschrift 175 Jahre Elisenbrunnen. Eine Ausstellung des Museums Burg Frankenberg, Aachen 1998. 13 Vgl. dazu Harald Müller, „Aachen. Ein Neuansatz im Rahmen der Pfalzenforschung“, in: Andrea Pufke (Hg.), Die karolingische Pfalzkapelle in Aachen. Material, Bautechnik, Restaurierung, Worms 2012 (Arbeitsheft der rheinischen Denkmalpflege 78), S. 17–24. 14 „Delectabatur etiam vaporibus aquarum naturaliter calentium, frequenti natatu corpus exercens; cuius adeo peritus fuit, ut nullus ei iuste valeat anteferri. Ob hoc etiam Aquisgrani regiam exstruxit ibique extremis vitae annis usque ad obitum perpetim habitavit.“ Zit. nach Oswald Holger-Egger (Hg.), Einhardi vita Karoli magni, Hannover 1911 (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum germanicarum, Bd. 25, Kap. 22), S. 27. Die dt. Übersetzung nach Evelyn Scherabon Firchow, Einhard. Vita Karoli Magni. Das Leben Karls des Großen, Stuttgart 1981, S. 51. Für den Kontext vgl. das faszinierende Buch von Horst Bredekamp, Der schwimmende Souverän. Karl der Große und die Bildpolitik des Körpers, Berlin 2014.
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dieser Aussage Einhards lag der Ort – trotz der genannten Einschränkungen – aus fränkischer Sicht durchaus zentral, und bereits Karls Vater Pippin lässt sich mit ihm in Verbindung bringen. Als entscheidender Faktor darf aber vermutlich die Absicht gewertet werden, eine Residenz auf Dauer zu errichten – mit entsprechenden Konsequenzen für die Repräsentation von Herrschaft. Auch darin zeigt sich möglicherweise eine Reverenz gegenüber König Salomo, durch dessen Palast- und Tempelbau Jerusalem zu einer Hauptstadt geworden war. Als „Jerusalem des ersehnten Vaterlandes, wo der Tempel des sehr weisen Salomon mit Kunstfertigkeit für Gott errichtet wird“ („Hierusalem optatae patriae, ubi templum sapientissimi Salomonis arte Deo construitur“) hebt Alkuin Aachen in einem Brief an Karl den Großen vom Juni 798 hervor.15 Wie sich im Folgenden zeigen soll, wurde für diese dauerhafte Visibilisierung von Herrschaft weder bautypologisch, im großen Maßstab, noch was den Dekor betrifft, auf vorgängiges in Aachen selbst Bezug genommen: Denn soviel man Dank jüngster Ausgrabungen und damit verbundener Forschungen über die Architektur des antiken Aachen und die Siedlungskontinuitäten zwischen Antike und Mittelalter auch weiß, vor allem über die Thermen, einen gallorömischen Umgangstempel, eine ca. 45,40 × 9,90 m messende Halle und die riesige, arkadengesäumte Platzanlage,16 die Marienkirche hat diese Anregungen nicht aufgegriffen. Bei einer als Selbstverständlichkeit vorauszusetzenden prinzipiellen Nähe zum frühmittelalterlichen Kirchenbau hätte zum Beispiel die Halle als Vorbild einer längsgerichteten Kirche fungieren können. Und die herrliche, bis zur Oberkante des Gesimses 7,10 m messende kaiserzeitliche Arkadenreihe, deren korinthische Säulen in einem Achsabstand von 3,55 m gesetzt waren, ist vielleicht im 4. Jahrhundert zerstört worden, stand demnach wohl nicht mehr vor Augen; in jedem Falle wurde sie nicht rezipiert.17 Die Architektur in Aachen, ja im Rheinland sähe vermutlich anders aus, wären die ebenmäßig proportionierten Säulenstellungen mit ihrem kostbaren Dekor, den wiegenförmigen Hüllblatt-Kelchkapitellen, den reich ornamentierten Bögen und Gesimsen mit den Okuli in den Zwickeln nicht erst in den 60erJahren des 20. Jahrhunderts gefunden worden. Nach allem was wir bislang wissen, diente die Aachener Antike der Marienkirche vor allem als Füllmaterial für die Fundamente – wenn man so will, als
15 Siehe zum Brief unten, S. 64, Anm. 27. 16 Vgl. zu den genannten Baukomplexen zuletzt Andreas Schaub, „Aachen in römischer Zeit aus archäologischer Sicht – Versuch einer Neubewertung“, in: von Haehling und Schaub (wie Anm. 8), S. 131–205, hier S. 161–185. 17 Die Angaben nach Schaub (wie Anm. 16), S. 177 f. sowie Joachim Kramer, „Zur römischen Säulenarkadenwand aus Aachen im Rheinischen Landesmuseum Bonn“, in: Aquae Granni. Beiträge zur Archäologie von Aachen, Köln 1982 (Rheinische Ausgrabungen, Bd. 22), S. 175–179.
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Abb. 1: Rekonstruktion der römischen Porticus in Aachen (nach Kramer 1982, wie Anm. 17, Taf. 54).
Grundlage und Ausgangspunkt: Hier haben sich sogar mit einem profilierten Blaustein und einem dreifach facettierten Architrav aufwendigere Reste römischer Architektur finden lassen.18 Auch unter den in jüngster Zeit genau untersuchten 60.000 Steinen des karolingischen Mauerwerks ist manches aus römischer Zeit wiederverwendet, ausschließlich Travertin, allerdings nur zu einem geringen Teil.19 Alles andere ist Import. Nahegelegen hätte, zumindest Fußböden zweitzuverwenden: Aber selbst der Granit, der Marmor und der grüne und
18 Vgl. Andreas Schaub, „Neue archäologische Untersuchungen im Aachener Dom“, in: Dombaumeistertagung in Aachen 2009. Vorträge zum Aachener Dom, Aachen 2010 (Karlsverein – Dombauverein. Schriftenreihe, Bd. 13, 2011), S. 101–108, hier S. 105. 19 Die ausführliche Dokumentation bei Ulrike Heckner und Christoph Schaab, „Baumaterial, Bautechnik und Bauausführung der Aachener Pfalzkapelle“, in: Pufke (wie Anm. 13), S. 117– 228.
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rote Porphyr kamen von außen, nicht etwa aus Aachen oder Köln.20 Geradezu als Emblem des Bruchs mit der Aachener Antike darf die Abweichung vom römischen Straßenraster gewertet werden, um eine Ausrichtung der Marienkirche nach Osten zu gewährleisten.21
III Die Aachener Marienkirche und die Antike Die berühmten antiken Säulen im Oktogon der Marienkirche, die bekanntlich Albrecht Dürer 1520 so bewundert hat,22 helfen, die Antikenrezeption des Aachener Doms noch weiter zu erhellen, zumal sie auch noch mit zwei bzw. drei sattsam bekannten zeitgenössischen Schriftquellen kontextualisiert werden können: In einem zwischen 787 und 791 zu datierenden Brief Papst Hadrians I. erlaubt dieser, dass Karl Mosaik und Marmor aus dem Palast in Ravenna „wegnehmen“ (lat. „abstollere”) dürfe.23 Leider lässt sich dieses päptstliche Privileg nicht direkt auf Aachen beziehen, die Materialien könnten auch in den anderen karlischen Bauprojekten dieser Zeit Verwendung gefunden haben, z. B. den Pfalzen Regensburg, Frankfurt, Herstal, Ingelheim, Worms oder Nimwegen – für letztere Pfalz hat sich sogar ein entsprechender, aussagekräftiger Quellenbeleg des Poeta Saxo von um 888 erhalten.24 Und auch für das Kloster 20 Sven Schütte, „Forschungen zum Aachener Thron“, in: Dombaumeistertagung (wie Anm. 18), S. 127–142, hier S. 130. Die Nachrichten über einen Materialimport aus Trier und von St. Gereon in Köln datieren aus dem Anfang des 12. Jahrhunderts bzw. von 1329 und sind daher in diesem Zusammenhang nicht relevant. Vgl. für die Belege und eine distinkte Argumentation Günther Binding, Antike Säulen als Spolien in früh- und hochmittelalterlichen Kirchen und Pfalzen, Stuttgart 2007 (Sitzungsberichte der wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, Bd. 45, Nr. 1), S. 20. 21 Wolfgang Kemp, Architektur analysieren. Eine Einführung in acht Kapiteln, München 2009, S. 179. 22 „Zu Aach hab ich gesehen die proportionierten seulen mit ihren guten capitelen, von porfit grün und rot und gassenstein, die Carolus von Rom dahin hat bringen lassen und do einflicken: diese sind werklich nach Vitruvius schreiben gemacht.“ Zit. nach Lydia Konnegen, „Zu Aach hab ich gesehen die […] seulen […] von porfit grün und rot“. Die antiken Säulen des Aachener Doms und ihr Schicksal im 18. und 19. Jahrhundert“, in: Das Münster 60, 2007, S. 40–50, hier S. 40. 23 Wilhelm Gundlach (Hg.), Codex Carolinus, Berlin 1893 (Monumenta Germaniae Historica. Epistolae 3, Nr. 81), S. 614. 24 „Ingylenhem dictus locus est ubi condidit aulam, / (..) Ad quae marmoreas praestabat Roma columnas, / Quasdam praecipuas pulcra Ravenna dedit.“ Paul von Winterfeld (Hg.), Poetae Saxonis annalium de gestis Caroli magni imperatoris libri cinque, Berlin 1899 (Monumenta Germaniae Historica. Poetae Latini aevi Carolini, Bd. IV, V, Z. 435–440), S. 65. Die Argumentation folgt hier Günther Binding, „Zur Ikonologie der Aachener Pfalzkapelle nach den Schriftquellen“, in: Dieter R. Bauer (Hg.), Mönchtum, Kirche, Herrschaft 750–1000, Sigmaringen 1998, S. 187–211, bes. S. 189 f.
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Abb. 2: Aachen, Marienkirche. Inneres nach Osten. Zustand vor 1913 (Albrecht Haupt, Die Pfalzkapelle Kaiser Karls des Großen zu Aachen, Leipzig 1913, Taf. 5).
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Abb. 3: Aachen, Marienkirche. Innerenraum (nach Ernst Günther Grimme, Der Dom zu Aachen. Architektur und Ausstattung, Aachen 1994, S. 37).
Saint-Riquier in Centula existiert ein chronikalischer Beleg, Karl habe Marmor und Säulen aus Rom bringen lassen.25 Immerhin bestätigt Einhard in seiner wohl Mitte der 820er-Jahre verfassten Karlsvita die Provenienz des kostbaren Materials: „Für die [wunderschöne Kirche in Aachen] ließ er Säulen und Marmor aus Rom und Ravenna bringen, da er sie sonst nirgends bekommen konnte.“ 26 Und in einem Brief Alkuins an Karl vom 22. Juli 798 berichtet dieser schließlich von einem „Gespräch“ mit wahrscheinlich Königin Liutgard „über
25 Binding (wie Anm. 20), S. 28. 26 „Religionem Christianam, qua ab infantia fuerat inbutus, sanctissime et cum summa pietate coluit, ac propter hoc plurimae pulchritudinis basilicam Aquisgrani exstruxit auroque et argento et luminaribus atque ex aere solido cancellis et ianuis adornavit. Ad cuius structuram cum columnas et marmora aliunde habere non posset, Roma atque Ravenna devehenda curavit.“ Einhard (wie Anm. 14), Kap. 26, S. 30 f.
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die Säulen, die in dem überaus schönen und staunenerregenden Bauwerk der Kirche, das Eure Weisheit befohlen hat, aufgestellt sind.“ 27 Die drei hier erwähnten Schriftzeugnisse haben der Forschung Anlass zu weitreichenden Spekulationen über den Charakter der sich mit dieser Spolienverwendung verbindenden Antikenrezeption gegeben.28 Und ganz gewiss: Es existieren wenige Bauglieder in der frühmittelalterlichen Architektur, die ähnlich umfassend und spannend durch Quellen erhellt werden können. Aber tatsächlich ist der Sachgehalt der Texte zunächst sehr lapidar. Sie markieren vollkommen angemessen die Besonderheit der Säulen, die Pracht und Schönheit des Materials, und machen deutlich, dass solche Kostbarkeiten in Aachen schlichtweg nicht greifbar gewesen sind. Man möchte hinzufügen: Vermutlich hätten auch die handwerklichen Fähigkeiten vor Ort und die Zeit nicht ausgereicht, um solche Säulen zu fertigen – die Marienkirche ist in geradezu galaktischem Tempo zwischen (um) 795 und (um) 803 errichtet worden.29 Was hier maximal möglich war, zeigen u. a. die karolingischen Kopien der antiken Kapitelle.30 Die Akanthusblätter wirken wie an den Kapitellkörper angeklebt, Caules, Helices und Voluten sind zu reinen Schmuckformen reduziert, Bohrungen finden sich nur in geringem Maße, Hinterschneidungen gar nicht, und jegliche Frische fehlt. Andererseits zeigen sie ein in der zeitgenössischen Ornamentik einzigartiges Verständnis für die Struktur eines korinthischen Kapitells und folgen offensichtlich der Vorgabe, Antike zu imitieren.31 Einen weiteren Akzent setzen die Bronzegitter, die Einhard in seiner Vita Karls neben den Türen als Schmuckstücke der Kirche ausdrücklich hervorhebt: Während in Tektonik und
27 „Fuit quoque nobis sermo de columnis, quae in opere pulcherrimo et mirabili ecclesiae, quam vestra dictavit sapientia, statutae sunt.“ Ernst Dümmler (Hg.), Alcvni sive Albini Epistolae, Berlin 1895 (Monumenta Germaniae Historica. Epistolae 4, Nr. 149), S. 244; die deutsche Übersetzung nach Ulrike Heckner, „Der Tempel Salomos in Aachen. Datierung und geometrischer Entwurf der karolingischen Pfalzkapelle“, in: Pufke (wie Anm. 13), S. 25–62, hier S. 38. 28 Vgl. etwa Thomas Raff, Die Sprache der Materialien. Anleitung zu einer Ikonologie der Werkstoffe, München 1994 (Kunstwissenschaftliche Studien, Bd. 61), S. 85 f. 29 Zu den Baudaten zuletzt Heckner (wie Anm. 27), S. 25–43. 30 Zu den Kapitellen vgl. Ruth Meyer, Frühmittelalterliche Kapitelle und Kämpfer in Deutschland. Typus, Technik, Stil, Berlin 1997, Bd. 1, S. 9–39 und zuletzt Heckner u. Schaab (wie Anm. 19), S. 197 f. 31 Als weitere Ausnahmen wären Ingelheim und Lorsch zu nennen. Vgl. Rebecca Müller, „Antike im frühen Mittelalter. Erbe und Innovation“, in: Bruno Reudenbach (Hg.), Karolingische und ottonische Kunst, München u. a. 2009 (Geschichte der Bildenden Kunst in Deutschland, Bd. 1), S. 191–215, hier S. 195.
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Abb. 4: Aachen, Marienkirche, Empore. Antikes Kapitell (nach Werner Jacobsen, Spolien in der karolingischen Architektur, in Poeschke (wie Anm. 38), S. 170).
Ornamentik vielfach die Antike maßgeblich ist, finden sich gleichberechtigt auch zeitgenössische Schmuckformen.32 Nähert man sich der Marienkirche von Westen, dann beginnt der Bau – abgesehen von seiner Fernwirkung – mit den noch heute sichtbaren Resten eines längsrechteckigen Atriums. Ob dessen Seitenwände von Säulenarkaturen in der Art des Inneren der Marienkirche getragen wurden, die hohe, von Kolossalpfeilern flankierte Bogenöffnungen rhythmisiert haben, mag einstweilen fraglich bleiben.33
32 Vgl. Katharina Pawelec, Aachener Bronzegitter. Studien zur karolingischen Ornamentik um 800, Köln 1990. Die Passage bei Einhard ist oben, Anm. 26, zitiert. 33 Zur Rekonstruktion vgl. Josef Buchkremer, „Das Atrium der karolingischen Pfalzkapelle zu Aachen“, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 20, 1898, S. 247–264. Felix Kreusch, „Kirche, Atrium und Portikus der Aachener Pfalz“, in: Wolfgang Braunfels (Hg.), Karl der Große. Lebenswerk und Nachleben, Bd. 3. Düsseldorf 1965, S. 463–533, hier S. 505–511. Zusammen-
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Abb. 5: Aachen, Marienkirche, Empore. Karolingisches Kapitell (nach Heckner u. Schaab (wie Anm. 19), S. 198).
In jedem Falle separierte das Atrium die Kirche von der Umgebung, und erst nach Durchschreiten seines Eingangs eröffnete sich im Sinne eines Passageritus der unverstellte Blick auf die Kirchenfront. Für die Prominenz des ehemaligen, karolingischen Atriumsportals spricht nicht zuletzt, dass man es in der Spätgotik durch einen aufwendigen Neubau ersetzt hat.34 Dieser erste Zugang zum Tempelbezirk erfährt durch die Westfront der Kirche eine monumentale Steigerung: Das riesige Bronzeportal lag ursprünglich in einem tiefen Trichter, überfangen wird es bis heute von einer kolossalen, knapp 18 m hohen Nische. In der Gesamtanlage erinnert dieses Ensemble an die antiken Foren und ihre Tempel bzw. die Redaktion dieser Zusammenbindungen durch den früh-
fassend Frank Pohle, Die Erforschung der karolinigischen Pfalz Aachen. Zweihundert Jahre archäologische und bauhistorische Forschungen, Darmstadt 2015, S. 221–262. 34 Dazu Elke Janssen-Schnabel und Norbert Nussbaum, „Das spätgotische Atriumsportal des Aachener Münsters“, in: Jahrbuch der rheinischen Denkmalpflege 34, 1992, S. 1–24.
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Abb. 6: Aachen, Rekonstruktion des Ostabschlusses des Atriums (Albrecht Haupt, Die Pfalzkapelle Kaiser Karls des Großen zu Aachen, Leipzig 1913, Abb. 62).
christlichen Kirchenbau.35 Spezifische Bezüge eröffnen sich damit nicht zwingend, als Vorbild könnten das Augustusforum in Rom (wegen der halbrunden,
35 Vgl. Urs Bauer, In atrium quod vocatur Paradiso. Das Atrium in der lateinischen Kirche bis zum Ausklang der karolingischen Renaissance, in: Das Münster 35, 1982, S. 154 f.; Sible de Blaauw, „The Church Atrium as a Ritual Space. The Cathedral of Tyre and St Peter’s in Rome“, in: Frances Andrews (Hg.), Ritual and Space in the Middle Ages, Donington 2011 (Harlaxton Medieval Studies, Bd. 21), S. 30–43.
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Abb. 7: Aachen, Rekonstruktion des Ostabschlusses des Atriums im ersten Bauzustand nach Kreusch 1964/65 (Frank Pohle, Die Erforschung der karolinigischen Pfalz Aachen. Zweihundert Jahre archäologische und bauhistorische Forschungen, Darmstadt 2015, S. 251).
sich gegenüberliegenden Konchen), St. Peter oder die allerdings erst 797 begonnene Festaula im Lateranspalast fungiert haben.36 36 Siehe zu den Bauten Martin Spannagel, Exemplaria principis. Untersuchungen zu Entstehung und Ausstattung des Augustusforums, Heidelberg 1999; Achim Arbeiter, Alt-St. Peter in Geschichte
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Der Kirchenbau selbst – seine Turmanlage, das Sechzehneck des Umgangs und das ihn überragende Oktogon – hat vermutlich vor allem durch seine Größe und seine imperiale Farbigkeit Eindruck gemacht: Seit der Restaurierung des 19. Jahrhunderts steinsichtig, war der Bau ursprünglich mit einem vereinheitlichenden Putzmörtel gefasst, der – wie Reste zeigen – einen hohen Ziegelmehlanteil aufwies.37 Die ehemals tiefrote Farbigkeit darf als Porphyrallusion interpretiert werden, bereits das Äußere der Marienkirche markiert mithin das höchste nur denkbare Anspruchsniveau.38 Auch das Innere der Kirche ist außergewöhnlich: Es ist der erste große, vollständig gewölbte nachantike Kuppelbau nördlich der Alpen. Mit einer Höhe von ca. 31 m und einem Durchmesser von gut 15 m erreicht es Maße, die auch heute noch Architekten und Ingenieure vor Herausforderungen stellen würden. Nach Durchschreiten des Westportals und dem Passieren des Umgangs hebt sich der Blick in das um ein wenig gebuste, achtseitige Klostergewölbe; „In Aachen tritt das Oktogon vom Fußboden bis zum Gewölbescheitel deutlich zutage.“ 39 Fotografien können den Eindruck dieser Architektur, die eine Bewegung im Raum und den Wechsel von Blickrichtungen intendiert, kaum angemessen wiedergeben. Die Längsachse dominierten die ehemaligen rechteckigen Altarnischen in Erdgeschoss und Empore und auf der gegenüberliegenden Seite der Thron, der nach gegenwärtigem Forschungsstand noch in der Bauzeit aufgestellt worden ist.40 Von ihm aus eröffnete sich der privilegierteste Blick in den Kircheninnenraum.
und Wissenschaft. Abfolge der Bauten, Rekonstruktion, Architekturprogramm, Berlin 1988; Manfred Luchterhand, „Päpstlicher Palastbau und höfisches Zeremoniell unter Leo III.“, in: Christoph Stiegemann u. Matthias Wemhoff (Hg.), 799. Kunst und Kultur der Karolingerzeit. Karl der Große und Papst Leo III. in Paderborn, Bd. 3, Mainz 1999, S. 109–122. Zur Rezeptionsgeschichte des Augustusforums vgl. Andreas Tönnesmann, „Palatium Nervae. Ein antikes Vorbild für Florentiner Rustikafassaden“, in: Römisches Jahrbuch für Kunstgeschichte 21, 1984, S. 61–70. 37 Heckner u. Schaab (wie Anm. 19), S. 143. 38 Vgl. zur Interpretation von Porphyr in Spätantike und Mittelalter Thomas Weigel, „Spolien und Buntmarmor im Urteil mittelalterlicher Autoren“, in: Joachim Poeschke (Hg.), Antike Spolien in der Architektur des Mittelalters und der Renaissance, München 1996, S. 117–151, hier S. 123–125. 39 Hermann Beenken, „Die Aachener Pfalzkapelle. Ihre Stellung in der abendländischen Architekturentwicklung“, in: Jahrbuch des Rheinischen Vereins für Denkmalpflege und Heimatschutz 1951, S. 67–80, hier S. 72. 40 Die Belege zur Datierung bei Schütte (wie Anm. 20). Zu Fragen der Funktion und Deutung des Throns, als Herrschersitz Karls des Großen, als ein kostbares Reliquiar in Erinnerung an den salomonischen Thron oder gar als „Hetoimasia“ vgl. auch Katharina Corsepius, „Der Aachener „Karlsthron“ zwischen Zeremoniell und Herrschermemoria“, in: Marion Steinicke u. Stefan Weinfurter (Hg.), Investitur- und Krönungsrituale. Herrschaftseinsetzungen im kulturellen Vergleich, Köln u. a. 2005, S. 360–375.
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Abb. 8: Aachen, Marienkirche, Isometrie S. 85 (Albrecht Haupt, Die Pfalzkapelle Kaiser Karls des Großen zu Aachen, Leipzig 1913, Tafel 14).
Mächtige, in der Mitte geknickte Pfeiler konturieren das Innere des Oktogons. Im Erdgeschoss flankieren sie breite Arkaden. In der hohen, zum Umgang weithin geöffneten Empore sind zwischen sie die zweigeschossigen, übereinanderstehenden Säulenstellungen gespannt, die in der Architekturgeschichte bis ins 20. Jahrhundert so folgenreich sind.41 Durch die Bronzegitter und die im eigentlichen Sinne atektonische Verschneidung der oberen Säulen mit den Rundbögen werden sie in besonderem Maße inszeniert.42
41 Albert Verbeek, „Die architektonische Nachfolge der Pfalzkapelle“, in: Braunfels (wie Anm. 33), Bd. 4 (1967), S. 113–156. Matthias Untermann, Der Zentralbau im Mittelalter. Form, Funktion, Verbreitung, Darmstadt 1989, S. 120–147. Eine Rezeptionsgeschichte der Marienkirche über das Mittelalter hinaus fehlt. Beispiele im 20. Jahrhundert wären das Landgericht III in Berlin am Tegeler Weg von Rudolf Mönnich (1901–1906) oder das Landesmuseum Wiesbaden von Theodor Fischer (1911–1920), vgl. Markschies (wie Anm. 5), S. 95 ff. 42 Vgl. Wolfgang Schöne, „Die künstlerische und liturgische Gestalt der Pfalzkapelle Karls des Großen in Aachen“, in: Zeitschrift für Kunstwissenschaft 15, 1961, S. 97–148, hier S. 122.
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IV Antike und Gegenwart in der Aachener Marienkirche Erstes Vorbild dieser Architektur ist San Vitale in Ravenna, ca. 525–547 auf bischöfliche Veranlassung durch den Bankier Julianus Argentarius errichtet.43 Die grundsätzliche Vergleichbarkeit des ebenfalls kuppelgewölbten Achtstützenbaus mit Emporen ist immer wieder gesehen worden.44 Mit gleicher Schärfe in der Beobachtung hat die Forschung die Unterschiede markiert, etwa bezüglich Statik, Raumwirkung und vor allem im Hinblick auf die Säulenstellungen der Drillingsarkatur: In Ravenna rhythmisieren sie Erd- und Obergeschoss, und betonen nicht wie in Aachen in der Fläche liegend die jeweiligen Seiten des Achtecks, sondern erweitern in halbrunden Steilnischen den Zentralraum.45 Sowohl die ravennatischen wie auch die römischen Bezüge in der Architektur der Marienkirche darf man mit direkten Eindrücken Karls des Großen jeweils vor Ort in Verbindung bringen: In Ravenna war er 787 und in Rom mehrfach, zuerst im Jahr 774.46 Vermutlich hat er dem Architekten, vielleicht beraten von seinem „Gelehrtenkreis“ mit Alkuin, Paulus Diaconus, Theodulf von Orléans und dem zur Bauzeit noch recht jungen Einhard,47 entsprechende Anweisungen gegeben. Die Rolle als Bauherr wird in der Aachener Marienkirche durch die im 19. Jahrhundert rekonstruierte, versifizierte Inschrift im Inneren des Oktogons memoriert.48 Eine weitere, freilich nur quellenmäßig fassbare Bauinschrift überliefert zudem den Namen des Architekten: Hier heißt es, dass „diese durch Erhabenheit ausgezeichnete Halle der große Kaiser Karl errichtet hat; der vortreffliche Meister Odo hat sie ausgeführt. In der Stadt Metz ruht er wohl“ („In-
43 Zum Bau siehe Friedrich Wilhelm Deichmann, Ravenna. Hauptstadt des spätantiken Abendlandes, Bd. 2. Kommentar 2. Teil, Wiesbaden 1976, S. 47 ff. Zu Julianus Ders., S. 21–27. 44 Vgl. etwa Günter Bandmann, „Die Vorbilder der Aachener Pfalzkapelle“, in: Braunfels (wie Anm. 33), S. 424–462 und Untermann (wie Anm. 41), S. 103–107. 45 Für einen ausführlichen Vergleich siehe etwa Bernhard Schütz, Deutsche Romanik. Die Kirchenbauten der Kaiser, Bischöfe und Klöster, Freiburg/Br. u. a. 1989, S. 61–65. 46 Peter Classen, Karl der Große, das Papsttum und Byzanz. Die Begründung des karolingischen Kaisertums, Sigmaringen 1985 (Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters, Bd. 9), S. 18–34. 47 Vgl. dazu Heckner (wie Anm. 27), S. 57. Zu Einhard als Bauherr Binding (wie Anm. 2), S. 39– 62. 48 Zur Inschrift vgl. Clemens M. M. Bayer, „Die karolingische Bauinschrift des Aachener Domes“, in: Max Kerner (Hg.), Der verschleierte Karl. Karl der Große zwischen Mythos und Wirklichkeit, Aachen 1999, S. 445–452 u. Arwed Arnulf, Architektur- und Kunstbeschreibungen von der Antike bis zum 16. Jahrhundert, München u. Berlin 2004, S. 113 f.
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Abb. 9: Aachen, Marienkirche, Grundriss (nach Heckner, wie Anm. 19, S. 119).
signem hanc dignitatis aulam Karolus caesar magnus instituit, egregius Odo magister explevit. Metensi fotus in urbe quiescit“).49 Gerne wird man den „vortrefflichen“ Magister Odo für die herausragenden baukünstlerischen Qualitäten der Marienkirche verantwortlich machen. Zum Beispiel für die Pfeiler, die die Oktogonecken markieren und als Vorlagen für die Scheidbögen zum Umgang fungieren, die wiederum an der Wandseite dieses Umganges gespiegelt sind. Rückseitig gliedern sich die Pfeiler in zwei Vorlagen auf, die kühn – aber durchaus logisch – mit den Kappen bzw. Graten des Gewölbes verspannt sind und so vom Achteck zum Sechzehneck überleiten.50
49 Zitat und Übersetzung nach Helga Giersiepen, Die Inschriften des Aachener Doms, Wiesbaden 1992 (Die deutschen Inschriften, Bd. 31), S. 10 f. 50 Die Analyse folgt hier Beenken (wie Anm. 39), S. 74–77 und Kemp (wie Anm. 21), S. 173– 186.
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Vielfach sind für die Marienkirche auch andere Referenzen in Anspruch genommen worden, nach z. B. Matthias Untermann war das „Ziel eine Nachbildung der Hagia Sophia in Konstantinopel“, Paul von Naredi-Rainer assoziiert den Bau mit dem „für den Salomonischen Tempel gehaltenen Felsendom“, Ulrike Heckner hält ihn aufgrund der Zahlensymbolik für ein Abbild des Himmlischen Jerusalem, und Judith Ley bringt jüngst erstmals ausführlich die Grabeskirche Christi ins Spiel.51 Die Frage nach dem Vorbild versucht dabei – wenn es sich denn nicht um das Argumentationsniveau eines architekturgeschichtlichen Propädeutikums handelt –, zwischen einer visuellen und einer durch Texte vermittelten Referenz zu differenzieren bzw. die jeweiligen Leistungen von Auftraggeber und Architekt zu unterscheiden oder Wahrnehmungshorizonte zu rekonstruieren. Von Interesse ist dabei durchaus auch die Unterscheidung zwischen formaler und inhaltlicher Referenzierung, selbst wenn sich auch hier Zweifel im Hinblick auf eine eindeutig lesbare Verbindlichkeit einstellen müssen. Mit Blick auf Ravenna heißt es bereits 1965: „Die bedeutende Geschichte der Stadt als Residenz weströmischer Kaiser, ostgotischer Könige und byzantinischer Statthalter des Basileus lässt nicht erkennen, welche geschichtliche Macht Karl der Grosse als Vorbild vor Augen hatte. War es Theoderich als großer, von Rom und Byzanz unabhängiger Germanenkönig oder war es das byzantinische Kaisertum, repräsentiert durch die glanzvollen Bilder Justinians in Ravenna, die ihn auch als Autor der Bauwerke erscheinen lassen konnten? Oder war es einfach das ästhetisch eindrucksvolle Architekturensemble, das König Karl beeindruckte und dessen teilweise Transferierung und Demolierung dem Papst durchaus willkommen sein musste, um die schon seit 751 verfallenden Zeugen der byzantinischen Herrschaft zu tilgen?“ 52 Vielleicht darf, ja muss man hier schlichter argumentieren: Mimesis und Repräsentation könnte man als distinkte Modi von Antikenrezeption anerken-
51 Matthias Untermann, „Zentralbaukirchen als Mittel der Repräsentation. Visuelle Kommunikation durch Architekturzitate“, in: Caspar Ehlers, Jörg Jarnut u. Matthias Wemhoff (Hg.), Zentren herrschaftlicher Repräsentation im Hochmittelalter. Geschichte, Architektur und Zeremoniell, Göttingen 2007 (Deutsche Königspfalzen, Bd. 7), S. 221–236, hier S. 222; Naredi-Rainer (wie Anm. 2), S. 124; Ulrike Heckner, „Zwischen Intuition und Messgenauigkeit. Auf der Suche nach dem rechten Maß der Aachener Pfalzkapelle“, in: Astrid Lang u. Julian Jachmann (Hg.), Aufmaß und Diskurs. Festschrift für Norbert Nussbaum zum 60. Geburtstag, Berlin 2013, S. 11–25; Judith Ley, „Warum ist die Aachener Pfalzkirche ein Zentralbau? Der Neue Salomonische Tempel als Vorbild herrscherlicher Kirchenstiftung“, in: Bayer, Kerner und Müller (wie Anm. 1), S. 94–110. Vgl. auch Cord Meckseper, „Wurde in der mittelalterlichen Architektur zitiert? Das Beispiel der Pfalz Karls des Großen in Aachen“, in: Braunschweigische Wissenschaftliche Gesellschaft. Jahrbuch 1998, S. 65–85 sowie zusammenfassend Pohle (wie Anm. 33), S. 98–91. 52 Bandmann (wie Anm. 44), S. 440.
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nen. Das hieße etwa, das Anspruchsniveau der Marienkirche und ihre verschiedenen Nutzungen als Stifts- und Pfarrkirche sowie als hochrangiges Herrscheroratorium herauszustellen, die eine längsgerichtete Architektur weitaus funktionaler hätte ermöglichen können.53 Der Typus des Zentralbaus wurde demnach offenbar ganz bewusst in Anlehnung an vorgängige Herrschaftsarchitektur gewählt, um – als eine Art Alleinstellungsmerkmal – nachhaltig höchsten und umfassenden Anspruch zu repräsentieren. Die regional weit ausgreifenden Referenzen sind in diesem Zusammenhang auch als sichtbarer Nachweis von Internationalität zu werten. Und die Antike schließlich wird dienstbar gemacht, um die Gegenwart davon abzusetzen: Liest man z. B. den Prolog von Einhards „Vita Karoli Magni“, dann findet sich hier nicht lediglich ein Lob der Gegenwart, sondern ein Überbietungsschema, dass die Vergangenheit sogar zu Gunsten der Gegenwart entwertet.54 Den Erfolg dieses Visualisierungskonzeptes von Herrschaft, dass einen Bau von höchster Qualität der Architektur und der Ausstattung voraussetzt, erweist bereits die Erwähnung anlässlich des Empfangs einer byzantinischen Gesandtschaft im Jahr 812: „Denn sobald sie nach Aachen vor den Kaiser kamen, nahmen sie die Vertragsurkunde von ihm in der Kirche entgegen, brachten ihm nach ihrer Art, also in griechischer Sprache, ihre Huldigung dar und nannten ihn Kaiser und Basileus.“ 55 Mehr geht nicht, denn die Marienkirche macht es offenbar möglich, Karl sowohl als Herrscher über das römische Imperium anzusprechen wie auch als oströmischen Kaiser. Dass dies auch für die gesamte herrscherliche Bildpolitik gilt,56 macht dieses Kapitel der Kunst- und Architekturgeschichte nur um so eindrucksvoller.
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53 Der Gedanke zuerst bei Untermann (wie Anm. 51), S. 221. Vgl. jetzt Müller (wie Anm. 5), S. 203–209 sowie Markschies (wie Anm. 5), S. 96–99. 54 Vgl. Curtius (wie Anm. 4). 55 „Nam Aquisgrani, ubi ad imperatorem venerunt, scriptum pacti ab eo in ecclesia suscipientes more suo, id est Greca lingua, laudes ei dixerunt, imperatorem eum et basileum appellantes.“ Friedrich Kurze (Hg.), Annales regni Fancorum, Hannover 1896 (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum germanicarum, Bd. 6), S. 136. Die dt. Übersetzung zit. nach Heckner (wie Anm. 27), S. 40. 56 Bredekamp (wie Anm. 14).
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The Failure of Classical Architecture in Renaissance Germany? Was classical architecture a failure in Renaissance Germany? Obviously one can answer this question positively or negatively depending upon how one frames the issues and chooses the examples. Initially constraining the reception and adoption of classical architecture in the German-speaking lands were the lack of ancient buildings as readily accessible models, the lack of interest in the purity of forms, and the lack of clear distinctions between classical and more contemporary Italian (or Welsch) architectural styles. Responses to actual Roman architecture on German soil were not always wholly constructive in the sixteenth century. While attending the Reichstag in Trier in 1512, Emperor Maximilian I climbed a tower to examine one of the city’s large cannons.1 To test the weapon’s power, he ordered several shots aimed at an ancient Roman tower, perhaps one of those in the imperial baths which were reputed to be indestructible. Maximilian was interested in the building’s solidity rather than the aesthetics of its architectural features. Although he was highly cultured and personally identified with the emperors of ancient Rome, he was indifferent to any damage that he might cause to an actual classical building. Before we blame him too much, we need to recall that Pope Julius II was currently tearing down Old St. Peter’s in Rome. To address the impact of classical architecture on Germany during the Renaissance, I shall focus on the art and architecture of Nürnberg, one of the empire’s most dynamic cultural centers.2 In contrast with Augsburg, Köln, Regensburg, and Wien, cities founded by the Romans, Nürnberg, established around 1050, was a relatively new town. Historical facts, even if known, did not prevent Hartmann Schedel from claiming a fictive Roman origin for Nürnberg in his Liber Chronicarum or Nuremberg Chronicle, published in 1493.3 He traced the name Nürnberg (Neroberg or Norica) to Emperor Tiberius Claudius Nero (r. 14–37 C.E.). As an imperial free city, Nürnberg had other reasons for stressing its Roman ties. The city council often referred to itself officially as the Senatus Populusque Norembergensis (S.P.Q.N.), an allusion to Rome’s S.P.Q.R.4
1 2 3 4
Wood 2008, 61–63. Baer 1993 offers a good comparative study of Augsburg. Kugler 2000; Smith 2008, esp. 18–19. Smith 1983, 56 and see below.
https://doi.org/10.1515/9783110458213-005
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Writing from Venice on February 7, 1506, Albrecht Dürer complained to Willibald Pirckheimer that the artists in Venice “copy my work in the churches and wherever they can find it; and then they revile it and say that the style is not antique and so not good.”5 Having recently completed his famous Adam and Eve engraving of 1504, which is based upon Vitruvian proportions and indirect knowledge of classical sculptures, Dürer’s remark has an edge of surprised bitterness to it. While in Venice and Bologna, the Nürnberg master conscientiously studied mathematics, including perspective and proportions, using texts by Vitruvius and Euclid as well as treatises by contemporary authors. For Dürer, the word or label “ancient” had clear meaning even if he was never quite sure when classical artists lived. He refers vaguely to their working “many hundred years ago” or “more than a thousand years” ago.6 Dürer developed a relatively sophisticated understanding of the antique though his knowledge was based more on literary and intermediary Italian artistic sources than on actual classical prototypes.7 A series of his drawings in London and Dresden, dating around 1506–1508, demonstrate his efforts to comprehend the classical architectural orders. Two sketches illustrate the five canonical forms of temple construction following Vitruvius Book 3, Chapter 3.8 His remarks mainly address the proportions and spacing of the columns and other parts. Another drawing shows a cornice, with its parts labelled in both German and the Bolognese dialect of Italian.9 Still other sketches depict Doric and Ionic columns or capitals.10 Dürer’s interest in classical architecture, however, was marginal. There is no textual or visual evidence of him examining an actual ancient Roman building. Rather his inclusion of an occasional Corinthian capital as in the scene of Christ before Pilate in the Engraved Passion is as an isolated, albeit appropriately antique, decoration rather than as part of a coherent architectural structure.11 Yet some contemporary viewers would have recognized the aptness of Dürer choice of a Corinthian capital in association with Pilate, the Roman procurator of Judaea, since this was the imperial or Augustan style according to Vitruvius.12
5 Conway 1958, 48; Rupprich 1956–1969, Vol. 1, 43–44. 6 Dürer 1538, folio A1 verso; Conway 1958, 176–177, 212; Rupprich 1956–1969, Vol. 2, 109; Dürer 1977, 37. 7 Panofsky 1955. 8 Folio 208r shows the pycnostyle, systyle, and diastyle and folio 208v depicts the eustyle and araeostyle. Rupprich 1956–1969, Vol. 2, 58–64; Strauss 1974, Nos. AS 1508/1–2. 9 Rupprich 1956–1969, Vol. 2, 64; Strauss 1974, No. 1506/48. 10 Rupprich 1956–1969, Vol. 2, 65–71, 355–64; Strauss 1974, Nos. 1506/44–46 and AS 1509/4–16. 11 Schoch, Mende, and Scherbaum 2001–2004, Vol. 1, No. 49. Dated 1512. 12 I wish to thank Andreas Haus for reminding me of this association.
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Fig. 1a: Albrecht Dürer, Temple Constructions, drawing, 1508. British Library, London, Ms. Sloan 5228, folios 208r–208v. (Photo: British Library).
It was the next generation of artists after Dürer who occasionally looked more searchingly to antiquity for inspiration. Hermann Vischer the Younger, born in about 1486, was the first Nürnberg and perhaps first German artist to study classical architecture directly.13 There is a remarkable group of twenty draw-
13 On Hermann, see Meller 1925, 124–163; Smith 1994, 401–403; Hauschke 2006, 22–24, 91, and passim.
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Fig. 1b: Albrecht Dürer, Temple Constructions, drawing, 1508. British Library, London, Ms. Sloan 5228, folios 208r–208v. (Photo: British Library).
ings from an album, now in the Musée du Louvre in Paris, that portray both ancient and contemporary buildings in Italy as well as his own original designs.14 Hermann, eldest son of the famous brass caster Peter Vischer the Elder, travelled at his own expense to Italy in 1515 shortly after the death of his wife. He was back in Nürnberg before January 2, 1516 when he purchased a house. Unlike Dürer, Hermann was interested primarily in architecture, a medium that
14 Demonts 1938, 70–74, Nos. 333–52. Six drawings date to 1515 and seven date to 1516. The sheets average about 32.2 × 21.2 cm. Neudörfer 1875, 31–33; Meller 1925, esp. 152–153.
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Fig. 2: Albrecht Dürer, Christ before Pilate, from the Engraved Passion, engraving, 1512.
he seems to have understood extraordinarily well. While in Rome he sketched the plan, elevation, interior section, and entablature of the Pantheon.15 He added accompanying notes. The text on the plan reads, “hie leitt die gantz Kapelln marija Rodunda im grunt mit der borten [= Porten] oder Eingang.” The section is inscribed, “Das ist die Gestalt der Kapeln Marija Rodunda Aussen an zu seen wie sie gebaut stet zu Rom.” A third drawing summarily shows part of the interior wall. Like most first-time visitors to Rome, he was
15 Demonts 1938, Nos. 334v, 335v, 340.
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Fig. 3: Hermann Vischer the Younger, Section and Cornice of the Pantheon, Rome, drawing, 1515. Musée du Louvre, Paris. (Photo: Service photographique de la Réunion des musées nationaux).
captivated by the Colosseum.16 He carefully sketched its outer elevation including the differentiation of the four columnar orders. A figure is added for scale on the first upper floor. Hermann’s inclusion of canopy level poles, however, suggests that he was looking at other sources rather than just the building. Hermann was attracted too by more recent innovative buildings, each with a strong classical character. He records the facade of Leon Battista Alberti’s church of Sant’ Andrea in Mantua, which was started in 1470.17 Another drawing with an elevation and a rough ground plan of a chapel, dated 1515, is labelled only as being in Siena.18 There are two images of a tempietto, which is reminiscent of but clearly not identical to Bramante’s structure, completed in 1502, at S. Pietro in Montorio in Rome.19 The latter two drawings, dated to 1516, were made after his return to Nürnberg. While still in Italy, Hermann sketched the interior and exterior elevations of several unidentified palaces.20 The artist
16 17 18 19 20
Demonts Demonts Demonts Demonts Demonts
1938, 1938, 1938, 1938, 1938,
No. 336. No. 333. No. 337. Nos. 343–344. Nos. 334, 338, 340, 342, 345–346.
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Fig. 4: Hermann Vischer the Younger, Colosseum, Rome, drawing, 1515. Musée du Louvre, Paris. (Photo: Service photographique de la Réunion des musées nationaux).
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likely produced numerous other architectural drawings, especially rougher onsite images, which do not survive. Back home Hermann continued to create drawings that reveal the strong impact of his experiences in Italy. The Vischer family’s greatest monument is the brass Shrine of St. Sebaldus in Nürnberg.21 Peter the Elder or another local master prepared the initial design in 1488. Work progressed rather slowly for lack of funds, and there was a complete hiatus between 1512 and 1514. The shrine was finally completed and placed in the Church of St. Sebaldus in 1519. In 1516 Hermann prepared two alternative designs for the shrine that exhibit a radically different architectural framework. Peter the Elder’s Gothic-style pointed arches with intricate tracery and finials contrast with the clear lines, rounded niches, and Corinthian columns of Hermann’s conception. Both drawings include statues of the apostles standing before the columns and the open space on the interior where the saint’s reliquary chest would be placed. Hermann’s second version stresses the architectural features, including fluted columns and an ornamental entablature, while omitting the statues. In its finished state, the shrine displays a curious and perhaps not altogether successful mix of Gothic and classical architectural forms. The canopy is overly busy. Nevertheless, the framework, figures, and ornamental details of the shrine reveal the Vischer family responding strongly to classical and more contemporary Italian art in this unprecedented monument. In the same year, 1516, Hermann devised five designs for rebuilding the eastern or St. George’s choir of Bamberg Cathedral.22 This is the most visible face of the church given its unusual position on the hill. Two of the three primary portals, not shown in the drawing, flank the choir. Unfortunately, little is known about the circumstances surrounding the making of these drawings. Nürnberg belonged to the diocese of Bamberg. Was Bishop Georg Schenk von Limpurg contemplating replacing or modernizing the Romanesque choir or was this simply a bit of creative doodling by Hermann? He proposed relatively simple modifications just to the exterior by adding Doric and Corinthian engaged columns or pilasters, updating of the wall treatment, and, in one case, adding statues between each segment of the upper gallery. Hermann unfortunately died in a sleigh accident on New Year’s night 1517.23 There is no way of predicting how he would have applied his under21 Stafski 1962, 9–36; Pilz 1970; Gothic and Renaissance 1986, Nos. 189–190; Weilandt 2007, 363–418. 22 Meller 1925, 155; Demonts 1938, Nos. 349–352. Most writers incorrectly connect these drawings with the Peter’s, or western, choir. 23 Neudörfer 1875, 31–32.
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Fig. 5: Peter Vischer the Elder and Workshop, Shrine of St. Sebaldus, Church of St. Sebaldus, Nürnberg, cast brass, 1488–1519. (Photo: Jeffrey Chipps Smith).
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Fig. 6: Hermann Vischer the Younger, Design for the Shrine of St. Sebaldus, drawing, 1516. Musée du Louvre, Paris. (Photo: Service photographique de la Réunion des musées nationaux).
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standing of classical and Italian architecture if he had lived longer. During 1516 the Vischer workshop was also actively engaged in the design of a great brass grille, which Jakob Fugger had commissioned for his family’s burial chapel in St. Anne’s in Augsburg.24 Peter the Elder received the commission in 1512 and work began around 1515. Ultimately, the grille was placed instead in the great hall of the Nürnberg Rathaus in 1540. Simon Meller and other scholars attribute the architectural form of the grille to Hermann based upon similarities with several of the Paris drawings.25 Originally, eight Corinthian columns supported a long architrave with ornamental friezes on front and back sides. Over the three doorways were two lunettes and a central columned pediment. The reliefs display battling centaurs and wildmen, diverse nudes and animals, and rinceaux. Hermann’s younger brother, Hans, completed the final casting between 1536 and 1540 when the grille was erected in the great hall. Unfortunately, the grille was sold as scrap in 1806 and only four figural sections survive. Peter Flötner was active in Nürnberg between 1522 and his death in 1546. Perhaps more than any other master he introduced classical architecture and Italianate decorative features into the local artistic vocabulary through his sculptures, prints, and drawings.26 His monogram appears on nine woodcuts depicting columns, pilasters, and capitals.27 Another eight, including five series of decorative friezes, are attributed to him. The forms in these prints combine features from the classical orders with his own inventions. Although he may have travelled to Northern Italy around 1530, his inspiration came initially from prints by Agostino Busti (also known as the Master of 1515), Zoan Andrea, Cesare Cesariano’s 1521 Como edition of Vitruvius, and other contemporary Italian masters. It helps to understand Flötner as an imaginative inventor whose designs, whether disseminated through prints or plaquettes, were eagerly adopted and adapted by artists working in widely diverse media. Consider his monogrammed woodcut of the Great Portal (c. 1540), which measures 50.7 × 17.8 cm.28 It is almost a summa of classical architectural and decorative elements with its beautifully ornamented pilaster sporting a base displaying a trophy, a Corinthian capital with volutes and a human mask made of foliage, and slender shell niches. The arch above the door contains a profile relief of a man and elaborate foliate decorations. The architrave includes acanthus leaves, palmet24 The city sold the grille in 1806. Most of it was melted down. Four reliefs are in the Château de Montrottier in Annecy. Meller 1925, 157–163; Gothic and Renaissance 1986, No. 199; Smith 1994, 261–265. 25 Meller 1925, 159; Demonts 1938, No. 334. 26 Dienst 2002. 27 Geisberg 1974, Vol. 3, Nos. 845–855; Schlieper 1988b. 28 Angerer 1984, 117–119, No. 27; Dienst 2002, 468.
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Fig. 7: Peter Flötner, Great Portal, woodcut, c. 1540 or earlier.
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tos, shells, and, above, dolphins, a floral vase, and a putto holding a shield framed by a laurel wreath. Amid the sheer profusion of forms and the celebration of things classical, it is easy to overlook the earthy pile of shit proudly displayed on the armorial shield. Flötner is clearly no purist in contrast with someone like Sebastiano Serlio who was active during the same years. Rather he maintains a respectful disrespect for the ancient forms. Flötner is more knowledgeable than Sebald Beham, another Nürnberg master then living in Frankfurt, who authored a series of engravings in 1543 and 1545 of capitals, which he mislabels as Doric.29 Beham cites Vitruvius as his authority but does not worry about the accuracy of his images. Flötner was not an architect; however, he did participate in creation of at least one residence – the two-story addition with a garden room, which Lienhart III Hirsvogel, a wealthy merchant, commissioned for his newly acquired house at Hirschelgasse 21.30 The project, completed in 1534, was prompted by his impending marriage a year later to Sabine Welser of Augsburg. The identity of the architect or master mason is unknown. The vocabulary of the architectural ornament, however, points clearly to Flötner. Johann Neudörfer, writing in 1547, credits the interior sculpture to Flötner.31 The ornamental doorway on the ground floor is either by the artist or by another master working from his designs. Its decorative vocabulary closely recalls Flötner’s two other woodcuts for portals.32 The doorway and the prints share pilasters filled with vases and plants, the half-round tympanum set into a rectangular frame adorned with rinceaux and, above, two dolphins whose tongues curl into scrolls. Garland swags decorate the cornice of the ground floor.33 The garden room or Festsaal on the piano nobile has long been praised as the first extant room in southern Germany coherently based on the classical orders or, alternatively, the region’s earliest known Renaissance-style room.34 Unfortunately, the house was largely destroyed in the bombing of 2 January 1945. Georg Pencz’s Fall of Phaeton ceiling painting and some sculptural fragments survived and were displayed in the Stadtmuseum Fembohaus until the garden room, as a one-story structure, was reconstructed in 2000 on the grounds of the Tucherschloss. An excellent book about the rebuilding and the art, which includes smart articles by Nicole Riegel-Satzinger on the architec-
29 30 31 32 33 34
Schlieper 1988a. Formerly called Am Schwabenburg. Dienst 2002, 553–561; Hirsvogelsaal 2004. Neudörfer 1875, 115. Geisberg 1974, Vol. 3, Nos. 836–837; Angerer 1984, Nos. 23a–b. See Geisberg 1974, Vol. 3, Nos. 839 and 843 for Flötner’s use of garlands. Dienst 2002, 556 with other citations.
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Fig. 8: Peter Flötner (after), Garden Doorway, Hirsvogelhaus, Nürnberg, completed 1934–1935. (Photo: Bildstelle und Denkmalsarchiv, Hochbauamt Stadt Nürnberg, c. 1935).
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Fig. 9: Peter Flötner, Designs for Two Portals, woodcuts, c. 1533.
ture and Detlef Knipping on Flötner, appeared in 2004.35 The room measures 16 by 6.5 meters. Painted and carved revetment or paneling covers the lower half of each wall. The four doorways to the right or, originally the house side of the room, are each framed by free-standing Corinthian columns with saddle supports joining them to the foliate frieze that runs around the chamber. The wooden capitals, covered to give the appearance of stone, are very reminiscent to Flötner’s own prints. The same is true for the sixteen Corinthian-style pilasters and accompanying bases whose sculpted reliefs, celebrating the arts and love, provide much of the room’s iconographic meaning. The small rectangular paintings topped by paired obelisks were added later in the sixteenth century along with terracotta busts of the first twelve Roman emperors.36
35 Riegel 2004 and Knipping 2004. 36 Tacke 2004.
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Fig. 10: Interior of the Garden Room, Hirsvogelhaus, Nürnberg, completed 1934–1935. (Photo: Bildstelle und Denkmalsarchiv, Hochbauamt Stadt Nürnberg, c. 1935).
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The centerpiece of the outer or garden wall is the large sandstone fireplace whose reliefs by Flötner were praised by Neudörfer. There is a small rib-vaulted room just behind it but no chimney. How this functioned is a bit uncertain but does not concern us at the moment.37 It has also been suggested that this was not a fireplace but a portal leading to a staircase to the garden. On top of the lower section, which matches the surrounding decorations, Flötner added a great arch surmounted by an entablature with triglyphs alternating with metopes filled with bucrania, masks, and foliate designs. The spandrel wreaths contain coats of arms. Within the arch, two putti with armorial shields stand beneath a monumental Hirsevogel, which is a type of green finch. Although individual details recall architectural features found especially in Venetian buildings, such as the Scuola Grande di San Giovanni Evangelista, or even in some of the brass epitaphs cast by the Vischer family workshop in Nürnberg, Flötner’s combination of forms is highly original.38 The room certainly was unprecedented in the architecture of Renaissance Nürnberg. The patron, Lienhard Hirsvogel, clearly wanted something strikingly modern and sharply distinct from the prevailing Gothic style used in other contemporary buildings in Nürnberg. Lienhard’s father had lived and worked in Venice. It is uncertain whether Lienhard also apprenticed there though he is documented residing in Lisbon and Antwerp. The novelty of an in-town garden room, a rarity within the densely packed neighborhoods of Nürnberg, was matched by his choice of artists. Pencz was named the city’s official painter in 1532. His Fall of Phaeton, inspired by the di-sotto-in-su perspective ceilings of northern Italy, is impressive in scale and visual impact.39 Flötner was a multitalented master with a solid knowledge of classical architectural and decorative forms. Lienhard Hirsvogel wanted to impress his new bride and his neighbors with his sophistication. Unfortunately, the marriage quickly failed. Sabine returned to Augsburg after living just fifteen months in Nürnberg. By the fall of 1536, Lienhard, in debt and in disgrace, left the city as well.40 Flötner and Pencz were both involved in the next notable display of classical architecture in Nürnberg. This occurred on February 16, 1541 when Emperor Charles V made his long postponed inaugural entry. The city honored Charles by erecting a great triumphal arch across Bürgstrasse between the Rathaus and
37 Riegel 2004, 49–52. I wish to thank Nicole Riegel-Satzinger for sharing her thoughts about the room’s original and still uncertain configuration. 38 Riegel 2004, 48, Figs. 41–42; Knipping 2004, Fig.10 – Eisensches Epitaph (dated 1522) in the Egidienkirche in Nürnberg; and Hauschke 2006, Nos. 74, 78, 81. 39 Hallinger 2004; Diemer and Diemer 2004; and Wiesner 2004. 40 Schaper 1973, esp. 261–270 on the relations between Lienhard and his wife.
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Fig. 11: Peter Flötner, Fireplace of the Garden Room, Hirsvogelhaus, Nürnberg, completed 1934–1935. (Photo: Bildstelle und Denkmalsarchiv, Hochbauamt Stadt Nürnberg, c. 1935)
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the castle. Constructed of wood and painted canvas, the arch was “sixty work shoes high” from the ground to the top of the imperial eagle and ninety-two work shoes wide. The best illustrations of the arch are Pencz’s presentation drawing and Flötner’s woodcut.41 In his capacity as city painter Pencz was asked to design the arch. Furthermore, sometime between April 1539 and November 1540, he had travelled to Rome where he had ample opportunity to study ancient triumphal arches and classical buildings. His solution involves a coffered vault with wreath-bearing victories in the spandrels. The entablature is supported by detached Corinthian columns and engaged pilasters. Statues of Justitia and Prudentia stand in the niches on the front of the arch and Fortitudo and Modestia on the backside. Above, amid the display of the emperor’s coats of arms and symbols, two putti support a cartouche stating that the S.P.Q.N., that is the city and council of Nürnberg, welcomes Charles V, the imperial Caesar Augustus. A group of musicians stood atop the arch to perform as the emperor and his entourage walked through. According to a separately published description of the entry, the eagle bowed its head and flapped its wings as Charles moved towards the arch and then rotated 180 degrees to face north as he passed by.42 Flötner’s woodcut commemorates the final version of the triple arch. It includes a profusion of foliage, masks, and grotesque figures adorning the previously bare flat pilasters, bases, jambs, and frieze. The accompanying Latin and German texts identify the different features, including that its columns are “auff Corinthische Art,” the inscriptions, and the overall scale of the monument. The rhyming German text is attributed to Hans Sachs. The front of the arch, as seen here, faced south toward the market place. Charles would pass through it on his way up to the castle on the hill. This arch was expensive to make so the city council decided to save it. The frame and paintings were stored at the Peunt, the work area of the city Baumeister in the southeast corner of Nürnberg. The arch, equipped with new armorials and inscriptions, was reused during Emperor Maximilian II’s entry into the city on June 7, 1570. They
41 Pencz’s drawing, measuring 23 × 32 cm, is in the Bayerisches Staatsarchiv, Reichsstadt Nürnberg, SI L134, no. 19. Flötner’s woodcut measures 53.9 × 49.2 cm. See Geisberg 1977, Vol. 3, No. 822; Reformation 1979, No. 275; Smith 1983, 56–57, 203, 279; Bartrum 1995, No. 79; Dienst 2002, 403–405. Flötner’s woodcut was published by Christian Egenolph in Frankfurt. As Bartrum has noted, Nürnberg’s council, conscious of its precarious political relations with the emperor due to the city’s official adoption of Lutheranism in 1525, banned local publications about the entry. 42 Bartrum 1995, No. 79 citing a contemporary pamphlet entitled Vonn Römischer Kayserlicher Mayestat Caroli v. Ehrlich einreitten in des Heyligen Reichs stat Nürmberg den xvj. Februarij, Würzburg, 1541.
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Fig. 12: Peter Flötner, Triumphal Arch of Emperor Charles V, woodcut, 1541.
planned to display it again for Rudolf II’s entry in 1580, but his visit was cancelled. The last exhibition that I know of occurred on January 18, 1712 for Emperor Charles VI’s entry.43 The arch is just visible in the background of Johann Adam Delsenbach’s 1713 engraving of this event. Was classical architecture a failure in Renaissance Nürnberg? The succinct answer is no; however, neither was it wholly successful. Let us briefly consider
43 Mende 1979, No. 35, Fig. 60.
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one final example – the house of Martin Peller constructed in 1602–1607 by Jakob Wolff the Elder at the north end of the Egidienplatz.44 As seen in prewar photographs, this was one of the most sumptuous houses in the city. It often hosted illustrious guests when they visited Nürnberg. The facade proudly displays classical features, such as the use of Tuscan, Doric, Ionic, Corinthian, and Composite orders in correct sequence for the elevation. Wolff’s basic source seems to have been Sebastian Serlio’s Regole generali di architettura (Book Four), which had been published in a German edition in 1542. Yet the overall busyness of the facade or the use of scrolled gables and strapwork look more to Netherlandish sources than to antiquity. The facade originally was planned to be more elaborate but city officials vetoed the design as too ostentatious. The courtyard juxtaposes its classicizing features with the Gothic-style tracery in its balustrades and oriels. The ornamental doorways explode with glorious decorative excess, which masks the classical origins of some features. Distinctions between what elements are antique, Italianate, Gothic, or Netherlandish mattered little to Wolff or to his patron, Martin Peller. Most Nürnberg and indeed most German artists and architects knew ancient architecture only second-hand from sixteenth-century books and prints. Nürnberg was an important source for creating these models. In addition to prints by Flötner, the Behams, Pencz, Augustin Hirsvogel, and later Virgil Solis and Jost Amman, among others, important architectural treatises were published in Nürnberg. The Vitruvius Teutsch, Walter Hermann Ryff or Rivius’ highly influential German translation, was printed by Johann Petreius in Nürnberg in 1548.45 In his title page, Ryff stresses the book utility for “allen künstlichen Handtwerckern” and all others who use a compass and ruler. The 178 woodcuts, many deriving from Cesariano’s Vitruvius edition or from Sebastiano Serlio’s Regole generali of 1537, illustrate the classical orders as well as some more contemporary structures such as Milan cathedral. Ryff’s other two treatises entitled Architectur and Der fünff Maniren der Colonen were published by Petreius in 1547.46 A few years later in 1554, the German translation of Hans Blum’s book on the five classical orders was issued in Nürnberg.47 German artists felt free to pick and choose details, such as the ancient orders and ornament, as it suited their needs. Hybridity, not purity, characteriz-
44 Schaffer nd [1934]; Schwemmer 1972, 71, 81, 117, 119–120, Pls. 67, 100, 103, 128A, 129; Hitchcock 1981, 304–306; Smith 1985, 95–98. Plans are currently underway for rebuilding the house’s facade and courtyard to match their original designs. 45 Vitruvius 1973; Günther 1988b; Dann 1988; Jachmann 2006, esp. 32–59. 46 Dann 1988, esp. 80, 83–84; Jachmann 2006, esp. 25–32, 59–74. 47 Blum 1554. The original Latin edition, Quinque columnarum, was published in Zürich in 1550. Schildt-Specker 1988; Günther 1988c.
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Fig. 13: Jakob Wolff the Elder, Façade of the House of Martin Peller, Nürnberg, 1602–1605. (Photo: Bildstelle und Denkmalsarchiv, Hochbauamt Stadt Nürnberg, c. 1935).
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Fig. 14: Jakob Wolff the Elder, Interior Courtyard of the House of Martin Peller, Nürnberg, 1602–1605. (Photo: Bildstelle und Denkmalsarchiv, Hochbauamt Stadt Nürnberg, c. 1935).
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Fig. 15: Jakob Wolff the Elder, Doorway of the House of Martin Peller, Nürnberg, 1602–1605. (Photo: Bildstelle und Denkmalsarchiv, Hochbauamt Stadt Nürnberg, c. 1935).
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es their adoption of classical features. The Gothic style, often referred to in Italy as the German style (or German manner), is increasingly pushed aside though not wholly banished during the sixteenth and early seventeenth centuries.48 What did it mean to adopt classical forms during this period? For most artists and patrons, the allure was in its novelty more than its specific classical associations. This was the modern style, one based on antiquity but filtered through recent Italian art. Classical architecture was then still just an interesting and aesthetically satisfying design option. It had not yet reached the canonical authority it would enjoy in subsequent centuries.
Addendum Scholarship has continued apace on this topic since the presentation of this paper in 2009. For the drawings of Hermann Vischer the Younger, see Astrid Lang, Die frühneuzeitliche Architekturzeichnung als Medium intra- und interkultureller Kommunikation (Petersberg, 2012), 46–78; and Matthias Exner (ed.), Stadt Bamberg. Domberg 1. Das Domstift, 2 vols. (Berlin, 2015), 1: 226–27, 775, and plan between 157–58. The eastern or St. George’s choir of Bamberg Cathedral experienced weather damage in the early sixteenth century that required repairs in 1510 and 1521. It is doubtful that any modernization to the exterior was seriously contemplated. On three of Peter Flötner’s woodcuts with architectural features and his work at the Hirsvogel garden room, see the comments by Anna Scherbaum and Thomas Eser respectively in Thomas Schauerte and Manuel Teget-Welz (eds.), Peter Flötner. Renaissance in Nürnberg (Exh. cat., Museen der Stadt Nürnberg) (Petersberg, 2014), 126–29, 157–60, nos. 36– 38, 52. The attribution to Pencz of the drawing of the Triumphal Arch of Emperor Charles V has been questioned, but only briefly, in Katrin Dyballa, Georg Pencz (Berlin, 2014), 401.
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48 On sixteenth and seventeenth-century attitudes about the Gothic style, see Smith 2002, 127–131 with additional literature.
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Antike und Affront Zum Zusammenhang von Antikenrezeption und Bellizität am Beispiel der französischen Hofkunst unter Ludwig XIV. Ludwig XIV. hat in den frühen Jahren seiner Herrschaft einen Repräsentationsstil geschaffen, den man, ohne allzu ironisch mit der Wimper zu zucken, als Eventkultur bezeichnet hat.1 Die öffentlichen Auftritte des Monarchen vor politischen Gremien sowie bei Festlichkeiten und Balletten, die vielen vom Zaun gebrochenen diplomatischen Präzedenzstreitereien, die Selbstinszenierungen auf militärischen Kampagnen – alle diese Kommunikationsereignisse und politischen Rituale hatten bei dem jungen König, der 1651 als Dreizehnjähriger volljährig wurde und 1661 als Dreiundzwanzigjähriger die Selbstregierung übernahm, etwas ausgesprochen Outriertes und den Anschein inszenierter Übertreibung. Mit diesem Habitus wandte Ludwig XIV. sich abrupt von der distanzierten Gravität seiner Vorgänger auf dem französischen Thron ab. Ludwigs Repräsentationsstil war sowohl von einem – durchaus exzentrischen – Pathos als auch von einer ostentativen nonchalance gekennzeichnet. Gegenüber den politischen Kontrahenten konnten diese beiden disparaten Selbstdarstellungsformen des Pathos und der Lässigkeit eine ausgesprochen konfrontative, beleidigende Stoßrichtung gewinnen und für beide boten – und das ist im Kontext dieses Aufsatzbandes natürlich das Entscheidende – antike Modelle die ent-
1 So Gerrit Walther, Protest als schöne Pose, Gehorsam als „Event“. Zur Formation des ludovizianischen Absolutismus aus dem Geist der Fronde, in: Lothar Schilling Hg., Absolutismus als unersetzliches Forschungskonzept? Eine deutsch-französische Bilanz. L’absolutisme, un concept irremplaçable? Une mise au point franco-allemande, München 2008, S. 173–189. Dem Aufsatz von Gerrit Walther verdankt die vorliegende Skizze entscheidende Anregungen, dessen historische Überlegungen werden auf der einen Seite für die Kunstgeschichte fruchtbar gemacht und auf der andern Seite im Hinblick auf eine „negative“ Antike verallgemeinert. Beim vorliegenden Text wurde die Form des Vortrags, der nur um die notwendigsten Quellen- und Literaturnachweise ergänzt ist, beibehalten, Dies beruht auf der Absicht, den Charakter der thesenhaften Zuspitzung zu bewahren. Der Vortrag führt Überlegungen aus meinem Buch über die Kunstpolitik Ludwigs XIV. weiter, dort finden sich auch ausführliche Belege; Dietrich Erben, Paris und Rom. Die staatlich gelenkten Kunstbeziehungen unter Ludwig XIV., (Studien aus dem Warburg Haus Bd. 9), Berlin 2004. Eine erweiterte Version des Aufsatzes ist zwischenzeitlich erschienen in: Wolfgang Augustyn und Ulrich Söding Hg., Dialog – Transfer – Konflikt. Künstlerische Wechselbeziehungen im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit (Veröffentlichung des Zentralinstituts für Kunstgeschichte in München 33), Passau 2014, 415–435. https://doi.org/10.1515/9783110458213-006
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scheidenden Bezugsgrößen. Damit ist eine recht simple Frage aufgeworfen. Es ist zu eruieren, wie sich auf der einen Seite die Antikenrezeption als eine ubiquitäre Kulturtechnik der Frühen Neuzeit und auf der anderen Seite ein konfrontativer Herrschaftsstil, der bei Ludwig XIV. vielleicht auf die Spitze getriebenen wurde, als solcher aber eben auch symptomatisch für die Epoche ist, miteinander in Beziehung setzen lassen. Die Antwort, die ich auf diese Frage zu geben versuche, lautet dahingehend, dass frühneuzeitliche Antikenrezeption fundamentale Strukturschwächen der Entwicklungsdynamik des frühmodernen Staates kompensiert. Zugleich stellen antike Modelle eine ideologische Legitimationsbasis für ein in der Frühen Neuzeit nicht nur akzidentiell, sondern strukturell auf Konfrontation angelegtes politisches Handeln dar. Aus dieser Sicht erhält jene Friedlosigkeit und Bellizität, die für die gesamte Epoche als bestimmend anzusehen ist, aus der rezeptiven Aneignung und Verwendung antiker Modelle eine wesentliche Begründung. Ich gehe methodisch von der Überlegung aus, dass jeder Rezeptionsvorgang, um verständlich zu werden, einer umfassenden historischen Kontextualisierung bedarf. Dieser historische Situationsbezug ist bereits mit der Begriffstrias von exemplum, imitatio und aemulatio aufgespannt, die das moderne Konzept der Rezeption auf die Basis quellenkonformer Begriffe stellt. Bezeichnet das exemplum das Material der Ausgangskultur, so bezieht sich die imitatio auf die Verfahrensformen der Übernahme, wohingegen die aemulatio mit der Benennung von Überbietungsstrategien schließlich auf spezielle Gebrauchskontexte der Nachahmung verweist.2 In der ludovizianischen Hofkunst werden die Gebrauchskontexte der Antikenrezeption in entscheidender Weise vom Parlaments- und Adelsaufstand der Fronde in den Jahren 1648–52 bestimmt. Die Antikenrezeption aus dem Geist der Offensive ist während der ersten anderthalb Jahrzehnte der Herrschaft Ludwigs XIV. maßgeblich aus dem Anspruch der Neuetablierung einer ganz auf den König ausgerichteten, unangefochtenen Monarchie motiviert, wobei sich diese Politik der Befestigung und des Ausbaus der Monarchie als Antwort auf die Systemkrise des Königtums während der Fronde darstellt. Im Zusammenhang mit der Absolutismus-Debatte der letzten Jahre braucht hier nur darauf hingewiesen zu werden, dass damit nicht einem „gelungenen“ und realisierten Absolutismus das Wort geredet werden soll, sondern dass Absolutismus hier im Gegenteil als politisches Ideal und Reprä-
2 Begrifflichkeit und Methode sind knapp erläutert bei Dietrich Erben, Zum Verständnis des Modellbegriffs in der Kunstgeschichte. Das Beispiel des Invalidendoms in Paris und des Petersdoms in Rom, in: Christoph Kampmann u. a. Hg., Bourbon-Habsburg-Oranien. Konkurrierende Modelle im dynastischen Europa um 1700, Köln u. a. 2008, S. 284–299, bes. S. 296–298.
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sentationsmuster im Rahmen des Krisenmanagements einer weiterhin vorhandenen Staatsschwäche verstanden werden soll. Im Folgenden werden nach einem einleitenden Blick auf die politischen Folgen der Fronde die unterschiedlichen Modalitäten der Antikenrezeption auf drei Ebenen der Hofkunst skizziert: Zunächst wird die Antikenrezeption an der Académie de France à Rome in den Blick genommen, dann die politischen Implikationen der auch bildlich vollzogenen Identifikation Ludwigs XIV. mit antiken Götterfiguren und zuletzt die Antikenrezeption im Bereich der Architektur am Beispiel der Ostfassade des Louvre. Schlagwortartig können die Modi der Antikenverarbeitung als bürokratische, hegemoniale und universalistische Antikenrezeption bezeichnet werden.
1 Das politische Erbe der Fronde als ideologischer Gebrauchskontext der Antikenrezeption Die Fronde, die am Ende des Dreißigjährigen Krieges Frankreich ab 1648 für fast ein halbes Jahrzehnt zwischen Aufstand und Bürgerkrieg in Atem hielt, hat auch die französische Monarchie in den institutionellen Grundfesten erschüttert.3 Im Zuge der Parlamentsfronde, die sich vor allem für die Abschaffung der Intendanten und gegen bestimmte Verfahren der Steuerpacht richtete, wurden ständische Rechte gegen königliche Modernisierungen ausgehandelt. Im Zuge der darauf folgenden Adelsfronde ging es dann um die Machtverteilung innerhalb der adeligen Eliten. Hier war sowohl die Staatsform der Erbmonarchie gefährdet wie auch die Einheit des Landes. Entscheidend ist mit Blick auf die recht verschiedenen Interessenkonstellationen, dass sich die Vorstöße zu einer politischen Kurskorrektur gegen die Ministerialregierung des Kardinals Mazarin und gegen die Regentschaft der Königinmutter Anne d’Autriche richteten, während eine Schwächung oder gar die Abschaffung der Monarchie an keiner Stelle avisiert wurde. Für die Parlementaires war eine in den königlichen Vorrechten „limitierte“ Monarchie ebenso ein Alptraum wie für die Noblesse eine gemischte Adelsmonarchie. Alle Aspirationen der Frondeure, gleich wel-
3 Aus der umfangreichen Literatur über die Fronde vgl. die konzise Übersicht und die Hinweise bei Walther (wie Anm. 1), S. 175–177 und die zusammenfassenden Darstellungen bei YvesMarie Bercé, La naissance dramatique de l’absolutisme 1598–1661 (Nouvelle Histoire de la France Moderne Bd. 3), Paris 1992, S. 143–189; Mark Bannister, Condé in Context. Ideological Change in Seventeenth-Century France, Oxford 2000, S. 79–153.
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cher Couleur, zielten auf die Stärkung der Monarchie. Ludwig XIV. wurde mit anderen Worten geradezu in die Pflicht genommen, die Ideale der Fronde zu erfüllen und dem von den Frondeuren geforderten „absoluten“ Monarchen auch zu entsprechen. Aus dieser Konstellation gewinnt der antikisierende Herrschaftsstil Ludwigs XIV. seine polemische Zugkraft und sein scharfes Profil. Das zeigt sich bereits bei den mehrfachen bildpolitischen Demütigungen der Frondeure selbst. Drei Beispiele für diese die Rebellen diskreditierenden Bildaktionen können genügen. Im Jahr 1652, als Ludwig XIV. und Anne d’Autriche von der durch die Fronde erzwungenen Flucht des Hofes nach Paris zurückkehrten, wurde auch Raffaels Gemälde des ‚Erzengels Michael im Kampf mit dem Teufel‘ triumphal in den Louvre überführt. Und es war angesichts der aktuellen politischen Umstände sozusagen sonnenklar, wer mit den teuflischen Widersachern und mit deren Bezwingern gemeint war. Die Bildpräsentation fügt sich in den Kontext der von Ludwig XIV. unternommenen Reform des Ordre de Saint Michel, die darauf abzielte, die Angehörigen des Adelsordens auf eine königstreue Linie zu bringen, indem die Zahl der Ordensritter reduziert wurde und indem die Familienanciennität und der für den Staat geleistete service im Zuge des Aufnahmeprocedere geprüft wurden. Als man das Bild Raffaels 1667 zum Gegenstand der ersten Conférence, die an der neu gegründeten Kunstakademie abgehalten wurde, machte, wurde nicht nur der künstlerische Rang des Gemäldes, sondern auch dessen Bedeutung als Symbol für den Durchsetzungswillen der Monarchie bestätigt.4 Analog zum Michaelsbild zeigt auch die unverzüglich nach dem Ende der Fronde geschaffene, 1654 vollendete Königstatue von Gilles Guérin den Monarchen als Überwinder der Fronde. Dies geschieht nun aber in direkter porträthafter Darstellung. Die Provokation des Standbildes besteht nicht nur darin, dass der jungenhafte, in eine antike Panzerstatue und in das Paludamentum gehüllte Monarch mit geradezu attitüdenhafter Lässigkeit den Fuß in den Nacken des Frondeurs setzt. Vielen Zeitgenossen musste darüber hinaus unverkennbar sein, dass die Statue gemäß ihres Typus in einer Reihe steht mit prominenten Sinnbildern des Triumphes etwa mit der von Leone Leoni geschaffenen Statue Kaiser Karls V. im Kampf gegen den Furor (1549–55) und mit der Statue des Herzogs von Alba als Triumphator über die Häresie (1570–71). Beim Standbild Ludwigs XIV. ist freilich die aus der Tradition überkommene allegorische und konfessionelle Thematik ganz in die tagespolitische Konfrontation gewendet. Zusätzliche Brisanz gewinnt die dargestellte Aktion der Unterwerfung durch den König noch durch die Postierung des Standbildes im Innenhof des Pariser Hôtel de Ville. Jedes Durchschreiten des Hofes stand fortan, und so lange, bis die Figur in einer Geste der Versöhnung des Monarchen mit 4 Vgl. Erben (wie Anm. 1), S. 43–45.
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Abb. 1: Guerin: Standbild Ludwigs XIV. im Rathaus von Paris, 1654. Radierung von Jean Frosne, 1654.
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Abb. 2: Balthazar und Gaspard Marsy: Latonabrunnen im Schlosspark von Versailles, 1668–1670. Kupferstich von Pierre LePautre, 1678. Aus: Katharina Krause, Die Maison de plaisance. Landhäuser in der Ile-de-France (1660–1730), München 1996.
der Pariser Kommune 1687 offiziell entfernt und durch ein politisch entschärftes Monument ausgetauscht wurde, unter dem Menetekel der Unterjochung. Diese Strategie spektakulärer Demütigung fand ihr Finale schließlich in der Brunnenwelt von Schloss Versailles. Am Latona-Brunnen werden die lykischen Bauern, die der Mutter mit den beiden Kindern den Zugang zum Brunnen verwehren, in Frösche verwandelt. Die unmittelbare Verbindung zum König ist durch die Präsenz des kindlichen Apoll gegeben. Ebenso direkt wird der Bezug zur Fronde bereits auf der onomasiologischen Ebene der Erzählmotive hergestellt, denn der Begriff der grenouillage, in dem das Wort Frosch steckt, bezeichnet im übertragenen Sinn die im Sumpf gedeihende politische Intrige.5 Die Frösche sind – so die zeitbezogene Lesart dieser aus der antiken Mythologie von Ovid überlieferten Meta-
5 Antoine Furetière, Dictionnaire Universel, 3 Bde., Den Haag-Rotterdam 1690, s. v. „grenouillage“.
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morphose – die hochadeligen Frondeure. Auf ihre Verweigerung des Königsdienstes folgt auf den Fuß die gerechte Strafe der Deformation zum Getier, das zertreten werden kann.6 Diese an die Eliten des Landes adressierten Bildpolemiken sind in all ihrer streitbaren und ostentativen Eindeutigkeit auf den ersten Blick atemberaubend und ungeheuerlich. Im Normenkodex der Zeit und im Rahmen der politischen Prioritäten erscheinen sie aber keineswegs als Verstoß gegen das Dekorum. Das Gegenteil ist der Fall. Nicht nur von den Anhängern, sondern gerade auch von den früheren Gegnern des Königs wurden der starke Auftritt, die beleidigende Provokation, der resolute Gegenschlag und der Mut zur Konfrontation geradezu erwartet. Denn solche Gesten entsprachen dem Normkodex der Nobilität. Sie reproduzieren die traditionellen feudalen Verfahren der Niederwerfung des Gegners und des in Szene gesetzten Triumphes, wie sie das vom Duell geprägte Standesverhalten der Nobilität erforderte.7 Darüber hinaus verwirklicht sich in solchen Handlungen das adelige Ideal des Libertin, der sich die Freiheit nimmt, seine Leidenschaften, und also auch seine politischen passions, ungezügelt darzustellen. Schließlich verlangt es die honnêteté, diese Mechanismen kühl zu durchschauen und die passions in rational gelenktes Kalkül zu übersetzen. Die Fronde hat, so lassen sich diese Beobachtungen zusammenfassen, Ludwig XIV. einen Herrschaftsstil abverlangt, dessen paradoxer Gehalt darin besteht, dass sich der kalkulierte Affront gegen die politischen Gegner als eine Konvention darstellt, weil sie mit den sozialen Normen der Nobilität übereinstimmt.8 Für diese Herrschaftstaktik wurde auch die Antike mobilisiert.
2 Bürokratische Antikenrezeption: Die Académie de France à Rome Die von der königlichen Kunstadministration am Beginn der Selbstregierung Ludwigs XIV. geplante und geschaffene französische Akademie in Rom war ein 6 Die Statue Guérins befindet sich heute in Chantilly, die Ersatzstatue im Musée Carnavalet; zum Standbild sowie zum Latona-Brunnen mit einer Erweiterung der Interpretation auf außenpolitische Bezüge zum Krieg gegen die Niederlande die Einträge von Christoph Frank in Ausst. Kat. „Krieg der Bilder. Druckgraphik als Medium politischer Auseinandersetzung im Europa des Absolutismus“, hg. v. Wolfgang Cilleßen, Berln 1997, Kat.-Nrn. E1; D.I.1; Gérard Sabatier, Versailles ou la figure du roi, Paris 1999, S. 72–99. 7 Zu diesem Konjunkturthema in der Frühneuzeitforschung der letzten Jahre zusammenfassend Ronald G. Asch, Nobilities in Transition 1500–1700. Courtiers and Rebels in Britain and Europe, London 2003, S. 370–377. 8 Diese Paradoxie wurde von Walther (wie Anm. 1), bes. 186 f. herausgestellt; zum Konzept der heroischen Ehre Bannister (wie Anm. 3), Kap. 1 und 3 passim, sowie Martin Disselkamp,
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Antikentransmitter, ihr Hauptzweck war die Vermittlung von antiker Kunst und Architektur nach Paris.9 Die Gründung einer solchen Institution, mit der man von Paris aus die Reisen und Aufenthalte französischer Künstler in Rom unter staatliche Observanz stellte, wurde im Herbst 1665 endgültig beschlossen. Die Statuten der Akademie wurden im Februar 1666 erlassen. Noch im selben Jahr trafen der Direktor und die ersten Pensionäre in Rom ein. Das ganze Unternehmen war geprägt von einem bürokratisch-dirigistischen Zug, der letztlich auch die Antikenrezeption bestimmte. So waren die Statuten inhaltlich dem Vorbild französischer Schulordnungen verpflichtet, deren pädagogisches Programm ganz auf die Einübung von Traditions- und Konventionswissen zielte. Curiosité galt in diesem akademischen Milieu künstlerischer Erziehung und Praxiseinübung als Fehlverhalten, das den kreativen Forschergeist moralisch als ähnlich bedenklich erscheinen ließ, wie konfessionelle oder politische Devianz. Institutionell wurde die Académie de France à Rome nach den Maximen merkantilistischer Wirtschafts- und Machtpolitik organisiert. Neu war dabei nicht die Zentralisierung der Kunst unter die Oberaufsicht des Staates, sondern der Anspruch, die künstlerischen Ressourcen außerhalb Frankreichs und damit vor allem den Fundus antiker Kunstwerke zu nutzen. JeanBaptiste Colbert, als damaliger Finanzminister und oberster Kunstadministrator der eigentliche Erfinder der Académie, sah in ihr schlicht eine Gewerbeeinrichtung und im Ort ihrer Niederlassung ein Terrain, das es auszubeuten galt. Wie bei der Wirtschaftsspionage so war es auch bei der Akademie die Aufgabe, die künstlerische Überlieferung Roms, die mit der formelhaft wiederkehrenden Redewendung des tout ce qu’il y a de beau à Rome umschrieben wurde, als einen vorgegebenen Bestand zuerst statistisch zu erfassen, ihn dann durch die nach Rom beorderten Künstler mittels Abgüssen oder Marmorkopien aufzuarbeiten und am Ende das Reservoir antiker Werke als Kopien nach Frankreich zu transferieren. Dieser Transferauftrag betraf vor allem die antike Skulptur, was als solches nicht unbedingt von Anfang an geplant war, was sich aber in der Praxis als durchschlagender Erfolg herausstellte. Reproduziert wurden die antiken Exempel aus den berühmen römischen Privatsammlungen. Mit den mehr oder minder getreuen oder freien Repliken wurden ausschließlich die königlichen Gärten in Versailles, Marly und den Tuilerien bestückt. Schaut man sich im Briefverkehr, der zwischen der römischen Akademie und der Pariser Kunstadministration der Bâtiments du Roy gewechselt wurde, die Begründungen für
Barockheroismus. Konzeptionen ‚politischer‘ Größe in Literatur und Traktatistik des 17. Jahrhunderts, Tübingen 2002. 9 Ausführlich zum Folgenden Erben (wie Anm. 1), Kap. III.
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die Auswahl der Vorlagen genauer an, so wird schnell klar, dass die Ikonographie der antiken Vorlage fast keine Rolle spielte. Die aus Rom gelieferten Statuen fügen sich demzufolge auch nicht in die Figurenensembles der bekannten, in sich geschlossenen ikonographischen Dekorationsprogramme dieser Gärten. Was zählte, war auf nicht das antike Einzelwerk, sondern die serielle Abfertigung der Kopien und deren Postierung im einheitlichen Aufstellungskontext der königlichen Gärten. In diesen beiden Aspekten der Serie und des monopolisierten königlichen Aufstellungskontextes liegt offenkundig auch die hauptsächliche Programmatik dieser Antikenadaptionen beschlossen. Die in Heerscharen angefertigten Kopien und deren Übertragung in die Pariser Residenzlandschaft dokumentieren den Anspruch des Königs, die in Rom verstreut verwahrten Antiken mit der Absicht der Vollzähligkeit in einer einzigen Domäne zusammenzuführen. Damit sollten zugleich die nun an den Pariser Hof translozierten Hoheitsrechte über das römisch-antike imperiale Erbe behauptet werden. In diesem kaum zu überbietenden Anspruch der Antikenaneignung steckt ein beträchtliches konfrontatives Potenzial, wobei der Anspruch selbst offenbar vor allem an die hochadeligen Standesgenossen des Königs adressiert war. Zum einen kommt mit der Translozierung der antiken Statuen ein standesrelevantes Argument der Antikenrezeption zum Tragen, demgemäß es sich bei der Sammlung und Präsentation von antiken Relikten um ein dizidiert adeliges Vorrecht handelt. In diesem Sinne konnte ein kaiserlicher Rat im 16. Jahrhundert seine Antikensammlung als „ein adenlich hausgerette und nit jedermanns ding“ titulieren.10 Im Umfeld des Hofes von Ludwig XIV. ist diese Idee in einer anonymen Eloge auf die Skulpturensammlung Mazarins offen ausgesprochen. In dem Gedicht tragen die statue parlanti selbst ihr Anliegen vor und bitten den König, sie aus der Antikensammlung des 1661 verstorbenen Kardinalministers in die königliche Sammlung zu überführen und ihnen dort Asyl zu gewähren. Denn nur dort könnten sie, so lassen sie als Begründung in eigener Sache verlauten, ihrer Rolle als examples für die königliche Regierungskunst gerecht werden.11 Die Antikenensembles in den Gärten des Königs machten den Anspruch der Antikensammlung als adeliges Vorrecht, ja sogar als königliches Prärogativ unübersehbar. Die Reproduktionen dokumentieren, dass sich der
10 Zitiert nach Gerrit Walther, Adel und Antike. Zur politischen Bedeutung gelehrter Kultur in der Führungselite der Frühen Neuzeit, in: Historische Zeitschrift 266, 1998, S. 361–385, hier S. 360 und passim mit weiteren entsprechenden Belegen. 11 „Plainte des statuës du Palais Mazariny au Roy“; Paris, Bibliothèque Nationale, Ms. français 892, fol. 9–18; zu diesem Gedicht vgl. Dietrich Erben, Der steinerne Gast. Die Begegnung mit Statuen als Vorgeschichte der Betrachtung, Weimar 2005, S. 31 f.
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Monarch als erster Mäzen im Staate verstand und dass er auch über die Mittel zur Durchsetzung dieser Ansprüche verfügte. An dieser Machtvollkommenheit hatten schon die Absetzung des Finanzministers Nicolas Fouquet und die Übernahme seiner Künstlerequipe von Vaux-le-Vicomte nach Versailles nicht die geringsten Zweifel gelassen. Ein weiterer konfrontativer Aspekt weist auf die Ausführung der Repliken an der Académie de France à Rome und auf die Gründungsidee dieser Institution zurück, die vom Merkantilismus her inspiriert war. Gemäß dieser Überzeugung ist offensichtlich, dass die für die Akademie Verantwortlichen in der antiken Kulturüberlieferung eine letztlich statische, unverrückbare Größe sahen. Sie übertrugen dabei die prinzipielle merkantilistische Auffassung, dass es auch in der Gewerbeproduktion und im Handel nur unveränderbare Größenordnungen, aber keine aus Angebot und Nachfrage sich entwickelnden Zuwachsraten gebe, auf den Sektor der antiken Kunstgüter. Der entscheidende Punkt bei einem solchen Glauben an die Existenz statisch gegebener Volumina ist die Konsequenz, dass jeglicher Machtzuwachs nach innen und nach außen nicht auf einer Steigerung der Produktivkräfte, sondern nur auf der Übernahme fremden Terrains beruhen kann.12 Dies gilt für die Wirtschaftspolitik ebenso wie für die Kulturpolitik, beiden Sektoren ist aus dieser zeitgenössischen Sicht die Eigendynamik der Machtkonkurrenz inhärent. Spätestens hier gelangt man über die Innenpolitik hinaus in die Sphäre der Außenpolitik, in der auch die beiden anderen Kontexte der Antikenrezeption aus dem Geist des Affronts angesiedelt sind.
3 Hegemoniale Antikenrezeption: Mythologische Identifikationsfiguren Ludwigs XIV. Lange bevor die Identifikation des Monarchen mit antiken Göttergestalten, und insbesondere die allgegenwärtige Apoll-Symbolik, in den Bildkünsten um die Mitte der 1660er Jahre erstmals auftauchte, fand sie erste szenische Umsetzungen im Ballett. Das Ballet de la Nuit wurde 1653 unmittelbar nach dem Ende
12 Ein prominentes Beispiel für diesen Mechanismus sind die ausdauernden Kriege Frankreichs gegen die nördlichen Niederlande, die aus ökonomischen Gründen vor allem zu dem Zweck geführt wurden, die Handelsflotte der Generalstaaten zu zerschlagen, um dann in Frankreich die entsprechende Schiffstonnage vorhalten zu können. Nach wie vor instruktiv für dieses Verständnis des Merkantilismus nicht nur als Wirtschaftsordnung, sondern als „Machtsystem“ Eli Heckscher, Der Merkantilismus, 2 Bde. in 1 Bd., Jena 1932.
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der Fronde und der Rückkehr der Königsfamilie nach Paris gegeben. Ludwig XIV. trat am Ende der Szenenfolge als Sonnengott auf. Ein Bericht in der Gazette de France machte klar, dass sich Ludwig XIV. hier als triumphaler deus ex machina nach den Wirren, die das Land erschüttert hatten, in Szene setzte: Der König, so scheibt die Gazette de France, habe den Glanz der Sonne verbreitet, die eben erst aus den dunklen Wolken hervorgetreten sei.13 Noch knapp zehn Jahre später gelangten die politischen Umstände der Fronde im Ballet d’Hercule amoureux zur Wiederaufführung. Ludwig hat zu diesem im Februar 1662 gegebenen Ballett Louis de Condé, den ehemaligen Rebellen und Hauptprotagonisten der Adelsfronde, zum Tanz geladen. Vor und während der Fronde war Condé wegen seiner Siege über die Spanier als neuer Alexander gefeiert worden. Die Alexander-Rolle wurde bei der Ballettaufführung nun auch dem von der Gicht geplagten, alternden Frondeur erneut zugeteilt. Doch trat Ludwig XIV. als damals noch allseits bewunderter jugendlicher Tänzer im Kostüm des Kriegsgottes Mars auf.14 Der antike Rollencode wurde bei diesen Repräsentationsspielen dazu genutzt, die Hierarchien zwischen König und Hochadel implizit anzusprechen und zugunsten des Monarchen zu klären. Condés Akt der monarchischen Usurpation, die er sich zu Zeiten seines strahlenden politischen Aufstiegs mit dem Alexander-Vergleich angemaßt hatte, wird revidiert durch die Oberherrschaft des Mars. Das Libretto hebt in der entscheidenden Begegnungsszene zwischen Ludwig-Mars und Condé-Alexander auch die unterschiedlichen Rollenqualitäten hervor: So wird durch den Status Alexanders als geschichtliche Gestalt auch die einstige Heldenrolle Condés relativiert – ce n’est qu’un Homme enfin –, wohingegen Ludwig als neuer Mars in die Sphäre der immortelles enthoben ist.15 Bekanntlich fand die hegemoniale Programmatik in der panegyrischen Identifikation Ludwigs XIV. mit Apoll sowie in der Emblematik des Sonnenkönigtums ihren prägnantesten Ausdruck. Es mag genügen, hier nur den ideologischen Gehalt dieser Bezüge auf die mythologische Gestalt des Helios-Apoll respektive des Apoll-Phoebus in Erinnerung zu rufen. Die Identifikation wurde Ludwig XIV. post festum regelrecht in die Wiege gelegt, als 1663 eine auf das Jahr 1638, dem Geburtsjahr Ludwigs XIV., datierte Medaille herausgegeben wurde, die den neugeborenen Dauphin auf einem von der Viktoria geführten
13 Vgl. Bannister (wie Anm. 3), S. 140 f. 14 Die Belege bei Bannister (wie Anm. 3), S. 162 f.; zu den Balletten auch Sarah R. Cohen, Art, Dance, and the Body in French Culture of the Ancien Régime, Cambridge 2000; Philippe Beaussant, Louis XIV artiste, Paris 1999. 15 So im Libretto zum Herkules-Ballett von Isaac Bensarde, Ballets pour Louis XIV, hg. v. Marie-Claude Canova-Green, 2 Bde., Toulouse 1997, Bd. 2, S. 582.
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Triumphwagen als Sinnbild des soleil levant zeigt. Ein Jahr nach Beginn der Selbstregierung hatte der König die Sonne über dem Globus mit dem Motto Nec pluribus impar als Emblem erkoren, und der Petit Conseil hatte die Wahl des Emblems im Jahr darauf offiziell publik gemacht.16 Ludwig XIV. selbst erläutert das Emblem in seinen Mémoires ohne jegliche mythologisierende Umschweife als ein auf die die Gegenwart der Monarchie bezogenes Herrschaftszeichen. Er setzt die Sterne in ihrem Verhältnis zur Sonne mit Höflingen gleich, denn sie bildeten um die Sonne une espèce de cour; die Strahlen des Zentralgestirns versinnbildlichten hingegen die Herrschaft des Königs über die empires der Welt.17 Keine andere Schrift breitet dann die vom König vorgegebene Lesart der Apoll-Symbolik mit solch unnachgiebiger Ausführlichkeit und Redundanz aus, wie Brice Bauderon de Senecys 1684 erschienener, Ludwig XIV. gewidmeter Apollon François.18 Wie bereits Ludwig XIV. greift auch Bauderon bei der Beschreibung der Planetenkonstellationen immer wieder auf eine Begrifflichkeit der Herrschaft zurück und verknüpft die Emblematik mit den aktuellen politischen Stichworten: Die europäischen Fürsten seien wie die Astres de son Royaume; wie die Sterne bei Sonnenaufgang respektvoll zurückwichen, so ergehe es tous les Estrangers qui viennent à la Cour de France. Wie die Sonne der Monarque des Himmels sei und ein Sinnbild der authorité souveraine, so werde sich eines Tages der Empire de France über den gesamten Erdkreis erstrecken – und so fort. Aus der Bewegung der Sonne leitet der Autor – noch als Verfechter des ptolemäischen Weltbildes – den weitgespannten Machtradius des Königs ab. Die Einteilung der Erde in Längen- und Breitengrade nimmt Bauderon zum Anlass, ein geopolitisches Ordnungsmodell unter der Vorrangstellung Frankreichs zu entwerfen. Wie die Sonne die Erde durch ihre Bewegung einteile, so unterteile der König den Erdkreis durch seine authorité, und gleich der Sonne unter den Sternen sei er postiert comme un Empereur au milieu de son Armée. Im Gartenprogramm von Versailles gewinnt die Herrschaft des Monarchen als Roi soleil über Zeit und Raum bekanntlich ihre unübertroffene Anschaulichkeit.19 Die raum-zeitlichen Dimensionen werden durch die Ikonographie und
16 Zur Erfindung der Devise Beaussant (wie Anm. 13), S. 72–99. 17 Louis XIV, Mémoires pour l’instruction du dauphin, hg. v. Pierre Goubert, Paris 1992, S. 136 f. 18 Brice Bauderon de Senecy, L’Apollon François, ou le parallele des vertus heroïques du tresauguste tres-puissant & tres-invincible Roy de France & de Navarre. Louis le Grand XIV. de ce nom. Avec les proprietez & les qualitez du Soleil etc., 2 Bde. in 1 Bd., Macon 1684, folgende Zitate und Paraphrasen S. 200–205, 344–350. 19 Zu Versailles neuerdings Sabatier (wie Anm. 5).
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Abb. 3: Jean-Baptiste Tuby: Apoll in seinem Sonnenwagen, Schlosspark von Versailles.
die Lage dreier Brunnen, die Apoll gewidmet und im Garten auf der Mittelachse angeordnet sind, miteinander verschränkt. Durch die Brunnenanlagen wird ein fast über den ganzen Garten ausgespannter Bedeutungsbogen geschlagen, wobei der im Brunnenensemble dargestellte Zeitverlauf der mythologischen Erzählungen für den Betrachter, der im Garten umherwandert, verräumlicht ist. In dem zwischen Boskett und Kanal gelegenen Bassin d’Apollon (1668–70) steigt der Sonnengott auf dem Pferdegespann mit Getöse aus dem Wasser hoch und fährt im Tagesverlauf die Sonnenbahn ab. Das Programm des bereits angesprochenen, der Parterrezone vorgelagerten Latonabrunnens (1668–70) ist einer Kindheitsepisode des Gottes und damit – in Erinnerung an die Ereignisse der Fronde – auch Ludwigs XIV. gewidmet (Abb. 2). Die ehemals am Schloss gelegene Thetisgrotte (1664–75), von der nur die Statuengruppen erhalten sind, markiert den Endpunkt der Tagesreise des Apoll. Die von François Girardon geschaffene Hauptgruppe stellt die jugendliche, von Meeresnymphen umsorgte Gottheit dar, die sich im Ozean zur Nachtruhe begibt, bevor sie am nächsten Morgen ihr Tagwerk wieder von Neuem beginnt. Für die Gestaltung der Sitzfigur griff Girardon auf die Statue des Apoll von
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Abb. 4: François Girardon: Apoll und die Nymphen. Statuengruppe in der ehem. Thetisgrotte im Schlosspark von Versailles. Kupferstich von Pierre Lepautre, 1672.
Belvedere zurück, die er aber gemäß der aemulatio mit dem antiken Vorbild in den szenischen Zusammenhang einer skulpturalen historia einfügt. In der Beschreibung der Grotte durch André Félibien beruht die Auslegung nicht nur auf der unmittelbaren Identifikation Ludwigs XIV. mit Apoll, sondern auch auf der Gleichsetzung der Grottenanlage mit dem Schloss von Versailles: Wie der Sonnengott am Abend im Palast der Thetis Ruhe finde, um sich von der Arbeit des Tages zu erholen, so suche der König im Schloss die Rast von seinen grandes & illustres fatigues, nur um sich am nächsten Morgen wieder mit ardeur an die Arbeit zu machen.20 Félibien versteht die antike Fabel als eine fiction ingénieuse, die er mit der Herrschaftskunst Ludwigs XIV. und mit dem tatsächlich auch vom Monarchen absolvierten Arbeitspensum seiner Regierungsarbeit ohne Ersten Minister ineins setzt. Diese Analogieschlüsse zeigen, dass
20 André Félibien, Recueil de descriptions de peintures et d’autres ouvrages faits pour le Roy, Paris 1689 (Repr. Genf 1973), S. 387: „(…) où le Roy va de fois à autres prendre quelque relasche, & se délasser de ses grandes & illustres fatigues, sans que ce repos l’empesche de retourner aussitost au travail avec la mesme ardeur que le Soleil qui recommence à éclairer le monde au sortir des eaux où il s’est reposé.“
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die Identifikation Ludwigs XIV. mit der Apollgestalt keineswegs nur symbolisch-abstrakt, sondern überaus konkretistisch gedacht war. Die Erzählmotive des antiken Mythos wurden in politische Metaphorik umgemünzt und als Währung der Herrschaftspraxis in Umlauf gebracht. Die mythologischen Identifikationsfiguren Ludwigs XIV. dienten zunächst der Einjustierung innenpolitischer Hierarchien unter den Vorzeichen der monarchischen Préeminence. Darüber hinaus wurde insbesondere der ApollMythos für die Programmatik einer hegemonialen Herrschaft instrumentalisiert, deren Radius weit über die Grenzen Frankreichs hinausging und die Idee universeller Weltherrschaft im Blick hatte.
4 Universalistische Antikenrezeption in der Architektur: Die Ostfassade des Louvre Im Bereich der Architektur steht man mit der Rekonstruktion des hier zunächst anhand von Bild- und Schriftquellen sowie von politischen Ritualen belegten Modus der konfrontativen Antikenrezeption methodisch vor zusätzlichen Herausforderungen. Um das Potential der Architekturikonologie auszuschöpfen, sind neben den hier relevanten Aspekten der Antikenrezeption auch der politische Kontext der Entstehungsgeschichte und der aus der Architekturtheorie begründbare Aussagegehalt eines Baus mit einzubeziehen. Dies ist abschließend am Beispiel der ab 1668 realisierten Ostfasse des Louvre-Palastes zu erläutern.21 Im Hinblick auf die Entstehungsgeschichte erscheint es zunächst als zentral, dass die Verantwortung für den endgültigen Entwurf einem Planungsgremium übertragen wurde und dass es sich bei der realisierten Schaufassade um ein ausgesprochenes Siegesdenkmal handelt. Der in den Jahren 1667–1668 geführte Devolutionskrieg gegen die spanischen Niederlande bestimmte in kaum zu überschätzender Weise das Planungsgeschehen und die Konzeption der Fassade. Gleich zu Beginn des Krieges wurde den Entwürfen von Gian Lorenzo Bernini eine endgültige Absage erteilt, die von Colbert ganz unverhohlen aus der gegenwärtigen conjoncture pressante d’une guerre par terre et par mer begründet wurde. Die Zuständigkeiten wurden im April 1667 endgültig einem Planungsausschuss übergeben, dem der Maler Charles Le Brun sowie die Ar-
21 Zum Folgenden Erben (wie Anm. 1), Kap. II, bes. S. 91–107; zu den Planungen und zur Baurealisierung am ausführlichsten Michael Petzet, Claude Perrault und die Architektur des Sonnenkönigs. Der Louvre König Ludwigs XIV. und das Werk Claude Perraults, München 2000.
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Abb. 5: Ostfassade des Louvre-Palastes in Paris. Kupferstich von Jean Marot 1676. Aus: Katharina Krause, Die Maison de plaisance. Landhäuser in der Ile-de-France (1660–1730), München 1996.
Abb. 6: Ostfassade des Louvre-Palastes in Paris.
chitekten Louis Le Vau und Claude Perrault angehörten. Wiederum war es Colbert, der diesen Kreis auf eine Gemeinschaftsarbeit verpflichtete, bei der die Anteile der einzelnen Künstler anonym bleiben sollten. Diese Direktive heißt letztlich nichts anderes, als dass den Architekten zwar die planerische Verantwortung übertragen, die eigentliche autorité für den Bau aber dem Bauherrn zugesprochen wurde. Nach jahrelangen Diskussionen wurde dann der Ausführungsentwurf für den Osttrakt von Ludwig XIV. ganz nach Kommandeursart mit einem Federstrich gebilligt, zwei Tage bevor der König mit dem Heerzug nach Flandern aufbrach. Die Grundsteinlegung fand während des Krieges statt, und man wartete für die Zeremonie die Rückkehr des Königs vom Schlachtfeld
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ab. Der Devolutionskrieg, der mit dem Frieden von Aachen im Mai 1668 beendet wurde, beendete eine Phase der französischen Außenpolitik, die als „paix arrogante“ beschrieben wurde. Mit dem Krieg wandelte sich Frankreich zur Militärmonarchie und er läutete die vier Jahrzehnte jener insgesamt fünfzigjährigen Herrschaft Ludwigs XIV. ein, in denen sich Frankreich im Krieg befand. Ludwig XIV. präsentierte sich erstmals als Kriegsherr auf dem Schlachtfeld, und für alle Zeitgenossen war deutlich, dass nun der Monarch am Zuge war und die militärischen Triumphe des ehemaligen Frondeurs Condé in den Schatten stellen wollte. Dies zeigt sich in der propagandistischen Offensive, die den Krieg begleitete. Auch die Ostfassade des Louvre gehört zu diesem Triumphprogramm. Der Gehalt der Fassade geht in ihrer Funktion als Stadtfassade des Osttraktes der Cour Carrée nicht auf. Der Idealentwurf ist im Stich von Jean Marot aus dem Jahr 1676 überliefert und wurde wegen des Ausbaus von Versailles nur teilweise realisiert (Abb. 5). Er macht die Ostfassade noch deutlicher als der ausgeführte Bau als Architektursynthese verständlich: Die Fassade erscheint als Synthese zweier antiker Bauaufgaben, des Triumphbogens und des Tempels, wobei die Mittelbereiche durch Risalite gerahmt werden, die das Formenvokabular der aus der Renaissance stammenden Altbauten aufnehmen. Insbesondere die Dachaufbauten stehen in deutlichem formalen Bezug zu den Risaliten am Lescot-Trakt des Louvre. Für das Verständnis des Mittelrisalits als Adaption des antiken Triumphbogens sind sowohl die hier nicht weiter erörterte Ikonographie und die Disposition der figürlichen Skulpturen als auch die Bauform signifikant. Mit dem Projekt eines Triumphbogen auf der Place du Trône zur Feier des Devolutionskrieges war bereits die Tradition des antiken Triumphbogens aktualisiert und in Dimensionen gesteigert worden, die die Realisierbarkeit des Projekts letztlich sprengten.22 Die Auszierung des Triumphbogens der Ostfassade mit Skulpturen war durch die erhaltenen antiken Monumente bekannt. Die antike Münzüberlieferung belegte die Aufstellung von bekrönenden Reitermonumenten oder Standbildern des Kaisers mit Begleitfiguren und wurde auch durch die zeitgenössische Kunsttheorie bestätigt. So hat François Lemée in seinem Traité des Statuës von 1688 im Kapitel über die Sockelformen die Tradition der Statuenaufstellung auf Triumphbogen von der Antike bis in die Gegenwart nachgezeichnet.23 Louis de Cordemoy bestätigt in seinem 1706 erschienenen Architekturtraktat den antiken Brauch, kritisiert ihn aber als une faute contre le bon sens – denn es sei weitaus einleuchtender, Menschen und animaux terrestres
22 Zu dem Triumphbogenprojekt Petzet (wie Anm. 21), S. 399–442. 23 François Lemée, Traité des statuës, Paris 1688 (Repr. Weimar 2010), S. 163–171.
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auf dem Boden stehen zu lassen.24 Dass das Zentrum der Ostfassade als Portikus nicht hinreichend zu beschreiben ist, sondern mit dem Repertoire von Architekturformen und skulpturaler Ausstattung dem Bautypus des antiken Triumphbogens verpflichtet ist, zeigen der dreiachsige Aufriss mit den Toröffnungen, die Instrumentierung mit gekuppelten Vollsäulen, die es in ähnlicher Form am Triumphbogen auf der Place du Trône gibt. Schließlich verweisen auch der Giebel, wie etwa die Bogen von Orange und Verona zeigen, auf diese Bauaufgabe. Das Fassadenzentrum gewann erst zu einem späten Zeitpunkt im Lauf des Entwurfsprozesses seine definitive Gestalt. Die Voraussetzungen für die synthetische Einfügung eines nicht der Bauaufgabe des Palastes zugehörigen Bautypus waren jedoch als Entwurfsprinzip bereits mit den Kolonnaden gegeben. Sie überspannen in panoramatischer Weite das Erdschoss, das Claude Perrault in seinem Vitruvkommentar als das piedestail der Kolossalordnung bezeichnet hat.25 Wie der Triumphbogen als profaner Bautypus der antiken Architekturtradition, erscheint auch die Kolonnade als Signum der Rezeption antiker, für einen Königspalast adaptierter Architektur. Sowohl die Entwurfsgenese als auch die zeitgenössische Rezeption der Kolonnade lassen auf deren Verständnis als ein Bauelement des antiken Tempels schließen. Charles Le Brun, eines der Mitglieder des Planungsausschusses, hatte das Motiv der aus gekuppelten Säulen bestehenden Kolonnade bereits um 1658 als Architekturhintergrund des Deckenbildes für den zentralen Salon in Vaux-leVicomte vorgesehen. Der Entwurf zeigt einen als Abbreviatur eines Tempels oval geführten Kolonnadenring mit der Versammlung der olympischen Götter, aus deren Mitte die Gestalt des Apoll in einem tonnengewölbten Portikus hervorgehoben ist. In die Louvreplanung wurde die Idee der monumentalen Säulenstellung, die als Kolonnade einer Galerie vorgesetzt ist, ab etwa 1661 von Léonor Houdin und François Le Vau eingeführt. Im Kommentar zur Vitruvübersetzung von Claude Perrault, die von Colbert 1664 in Auftrag gegeben wurde, sind die unterschiedlichen Formen der Kolonnade als ein konstituierendes Element der antiken Tempelfassade erläutert. Perrault leitet in diesem Zusammenhang die neuzeitliche Erfindung der mit Säulenpaaren rhythmisierten Kolonnade, die in der Tempelarchitektur kein Vorbild hat, aus seinen Überlegungen
24 Jean-Louis de Cordemoy, Nouveau traité de toute l’architecture ou l’art de bastir, Paris 1714 (Repr. Farnborough 1966), S. 96 f. 25 Claude Perrault, Les dix livres d’architecture de Vitruve corrigez et traduits nouvellement en François avec des notes et des figures (ed. pr. 1673), Paris 1684, S. 79.
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zum Wechsel des Interkolumniums vor dem Tempelzugang ab und gelangt darüber zur Rechtfertigung des Motivs der gekuppelten Säulen.26 Ein Gutachten zu dem vom Planungsausschuss vorgelegten Louvreentwurf aus dem Jahr 1668 belegt die Problematik der Tatsache, dass für den Palastbau ein antiker Peristyl, also ein Flügel einer Säulenhalle, adaptiert wurde. Ein anonymer Kritiker identifiziert den Peristyl mit dem griechischen Tempeltypus des mit doppeltem Säulenumgang versehenen Dipteros und bezweifelt mit dieser Überlegung die Angemessenheit der Verwendung des Motivs am Palastbau. Der hinzugezogene Architekt François Le Vau schränkt die strikte Zuordnung von Peristyl und Tempel ein, indem er darauf verweist, dass der Peristyl nicht nur am Tempel, sondern auch an Portiken, Theaterfassaden und bei der Randbebauung öffentlicher Plätze verwandt worden sei. Doch hat auch er Probleme mit der Anwendung der Bauform am Palast: Obschon un des plus beaux ornements de l’architecture, so entfalte ein Peristyl seine Schönheit nur bei ebenerdiger Lage und freier Zugänglichkeit pour la commodité publique. Diese Forderung ist beim Louvreentwurf ganz offenkundig nicht erfüllt. Le Vau rettet sich jedoch aus der Brisanz dieses planerischen Widerspruchs mit dem Argument, dass die Kolonnaden als Fassadenelement im Falle einer dahinter liegenden, funktional erforderlichen Galerie auch am Königspalast gerechtfertigt seien. In diesem Sinne rechtfertigt auch Claude Perrault später die Kolonnade. Er benennt sie als Einheit mit dem hinter der Säulenstellung entlangführenden Gang, den er als Vestibule à tous les appartements du premier étage bezeichnet.27 Gerade in ihrer kritischen Stoßrichtung zeigen die zeitgenössischen bautyplogischen Argumente, wie umstandslos die Kolonnaden mit der Bauaufgabe des antiken Tempels identifiziert wurden. In den Jahren um 1670 steht eine solche Idee einer Architektursynthese, wie sie die Ostfassade vorstellt, keineswegs isoliert. Ein identisches, auf antike Denkmalformen bezogenes synthetisches Entwurfskonzept findet sich bei der Porte Saint-Denis. Als Triumphtor zur Erinnerung an den Devolutionskrieg von François Blondel geplant und 1670 begonnen, entstand sie gleichzeitig mit der Ostfassade des Louvre. Nach den Erläuterungen des Architekten erschließt sich die Fassadendekoration des Bogens, die während der Errichtung durch die Ereignisse des Hollandfeldzuges nach 1672 eine ikonographische Aktualisierung erforder-
26 Perrault (wie Anm. 25), S. 79; zu den Planungsstufen am Petzet (wie Anm. 21), hier bes. S. 7–48. 27 Der Abdruck des Advis von François Le Vau von 1668 bei Robert W. Berger, Palace of the Sun. The Louvre of Louis XIV, University Park, Pa. 1993, S. 125–131, hier bes. p. 130 f.; die Erläuterung von Perrault (wie Anm. 25), S. 214.
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Abb. 7: Porte Saint-Denis in Paris. Illustration aus: François Blondel, Cours d’architecture etc., Paris 1683. Augsburg, Universitätsbibliothek.
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te und daher in veränderter Form realisiert wurde, als composition der schönsten Denkmaltypen der Antike: Der Sockel der Trajansäule ist für die seitlichen Passagen übernommen, deren Obeliskenaufsätze rücken an die Stelle der Säulenordnung und sollten drei Reihen der von der Colonna rostrata übernommenen Schiffsschnäbel zeigen. Absicht des Architekten war es, que l’ornement de la Porte S. Denis fust composé des parties copiées sur ces beaux Originaux.28 An der Ostfassade sind die höchsten sakralen und profanen Bauaufgaben vereint. Seit Vitruv war der vornehmste, durch den ranghohen Bauherrn begründete Rang von Tempel, Palast und Triumphdenkmal in der Hierarchie der Bauaufgaben fixiert. Die spätere Gültigkeit dieser Hierarchie bestätigt sich eindrucksvoll etwa in den 1682 erschienenen Edifices antiques de Rome von Antoine Desgodets, der seine Bauaufnahmen – bis auf eine kleine Gruppe von Theater- und Thermenanlagen am Ende des Buches – ausschließlich Tempeln und Triumphbogen widmet.29 Sind an der Louvrefassade durch die Kolonnade der Tempelbau und durch den Mittelrisalit der Triumphbogen evoziert, so wird durch die Eckpavillons mit der Reminiszenz an den alten Kernbestand des Königspalastes die Trias der Bauaufgaben vervollständigt. In Geschichtswerken und Panegyriken, die im Umfeld des Hofes entstanden sind, wurde dem Louvre ein universeller Rang zugemessen. Darüber hinaus war die Identifikation des Palastes mit dessen königlichem Bauherrn und Bewohner durch die mit Ludwig XIV. verbundene Sonnen- und Apollmetaphorik der Weg bereitet. Auch der bereits zitierte Brice Bauderon de Senecy verteidigt in seinem Apollon François gelegentlich den Louvre als Residenz gegen Versailles: Denn wie die Sonne im Mittelpunkt der Sterne stehe, befinde sich Paris im Zentrum des Reiches. Dieser Ehrenplatz erlaube es dem König, über sein eigenes Reich zu herrschen und seine Tugend bis an den Rand des Universums zu tragen.30 Für Charles Perrault stellt sich am Ende seiner Parallèle des Anciens et des Modernes der Louvre als die Weltformel schlechthin dar. Er berichtet vom Vorhaben der Ausstattung des Palastes in den verschiedenen Architekturstilen der Völker, so dass alle Fremden das Vergnügen hätten, beim Besuch des Louvre ihr eigenes Land wieder zu finden, und die ganze Pracht der Welt in einem Palast umschlossen sei: et toute la magnificence du Monde renfermée dans un seul Palais.31 28 Erläuterung des Projekts bei François Blondel, Cours d’architecture enseigné dans l’académie royale d’architecture, 2 Bde., Paris 1675–1683, S. 618–624; vgl. auch Wolfgang E. Stopfel, Triumphbogen in der Architektur des Barock in Frankreich und Deutschland, o. O. 1966. 29 Antoine Desgodets, Les Edifices antiques de Rome, Paris 1682. 30 Bauderon de Senecy (wie Anm.18), Bd. I, S. 143 f. 31 Charles Perrault, Parallèle des anciens et des modernes en ce qui regarde les arts et les sciences, 4 Bde., Paris 1688–1697 (Repr. in 1 Bd., hg. v. Hans Robert Jauss u. Max Imdahl, München 1964), Bd. IV, S. 274.
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5 Fazit Ludwig XIV. musste – so die Ausgangslage in meinen Überlegungen – den Adel nach der Fronde gewinnen, indem er jene Usancen übernahm, die auch die „Adelsfronde“ geprägt hatten. Er bediente sich dabei eines ausgesprochen konfrontativen Politikstils, dessen Methoden er schrittweise vom symbolischen Handeln in faktische Machtausübung überführte und dessen Radius er sukzessive von der Innen- auf die Außenpolitik erweiterte. Dieses Programm wurde entscheidend und fundiert mit den antiken, mythologisch-historischen Stoffen, Typologien und Formen begründet. Auf der Ebene der Herrschaft nach innen ließ sich anhand mythologischer Verhüllungen mit dem Gestus des scheinbar Unpolitischen über Politisches reden. Auf dem Feld der Außenpolitik boten die antiken Exempel historische Präzedenzfälle, die die Idee universeller Weltherrschaft denk- und vorstellbar machten und so der ausgesprochen bellizistischen Disposition eines Zeitalters Vorschub leisteten, das die Zeitgenossen als „martialisches Saeculum“, als „eisernes Jahrhundert“ oder oder als „siècle de fer“ bezeichneten.32 Weder die Fronde als politische Systemkrise eines Landes noch der daraus resultierende konfrontative Politikstil Ludwigs XIV. waren im frühneuzeitlichen Europa ein Einzelfall. Strukturelle Analogien, keineswegs völlige Übereinstimmungen, ließen sich in Wien und Berlin ebenso finden wie in Madrid oder Rom, wo man sich natürlich auch unterschiedlicher Antikenbezüge bediente. So scheint das Beispiel Frankreichs auf eine über den Einzelfall hinausgehende grundsätzliche Problematik der Antikenrezeption zu verweisen. Sie besteht darin, dass die Antikenrezeption als eine allgegenwärtige europäische Kulturtechnik in der Frühen Neuzeit in den Dienst gestellt wurde, fundamentale Entwicklungsdefizite frühneuzeitlicher Staatlichkeit zu kompensieren. Diese Entwicklungsdefizite bestehen 1. in der Vielzahl von Ansprüchen beinahe aller größeren europäischen Staaten auf universale Führung; zu diesen Defiziten gehörte 2. die gravierende Ineffizienz im Institutionengefüge der einzelnen Staaten, insbesondere die unauflösliche, aber konfliktbeladene Verbindung von Staat und Dynastie sowie die häufige territoriale Zersplitterung; nicht zuletzt ist bei den Defiziten schließlich 3. ein grundlegendes Defizit in der fehlenden Autonomie einer Politik zu konstatieren, die sich erst allmählich von den
32 Vgl. die klassische Studie von Henry Kamen, The Iron Century. Social Change in Europe 1550–1660, London 1971; Belege auch bei Markus Meumann, Von der Endzeit zum Säkulum. Zur Neuordnung von Zeithorizonten und Zukunftserwartungen ausgangs des 17. Jahrhunderts, in: Sylvia Heudecker et al. Hg., Kulturelle Orientierungen um 1700. Traditionen, Programme, konzeptionelle Vielfalt, Tübingen 2004, S. 100–121, bes. 117–120.
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Sektoren der Religion und der Ökonomie emanzipierte. Bei der Frage nach den Ursachen für die unzähligen, scheinbar unausweichlichen Kriege in der Frühen Neuzeit, und damit nach der „bellizistischen“ Disposition der Epoche, wurden im Rahmen der historischen Friedensforschung diese Strukturdefizite frühmoderner Staatlichkeit ins Zentrum der Argumentation gerückt. Aus dieser Sicht stellen sich die militärisch ausgetragenen Konflikte nicht als Auseinandersetzungen zwischen Staaten dar, sondern als „Staatenbildungskriege“. Die genannten staatlichen Strukturdefizite förderten kriegerische Zusammenstöße, die ihrerseits die weitere Etatisierung innerhalb der frühneuzeitlichen Staatenwelt vorantrieb.33 Innerhalb dieser kriegerischen Entwicklungslogik der Staatsgewalt ist auch der Antikenrezeption ihr funktionaler Stellenwert zuzuweisen. Die Berufung auf die unzähligen Exempel antiker Mythologie und Geschichte konnte über die strukturellen Schwächen hinwegsehen lassen, indem sie zentrale Widersprüche der im Entstehen begriffenen modernen Staatlichkeit homogenisierte und zugleich in militanter Art und Weise nach außen wendete. Imperialuniversalistische Aspirationen waren mit der Berufung auf die antiken Großreiche genauso zu legitimieren, wie sich das monarchische Prinzip durch antikisierende, mythologisch oder historisch eingekleidete Repräsentationsmuster gegen innere Fraktionsbildungen in Stellung bringen ließ. Eine gleichsam der Zeit enthobene Mythologie bot die Möglichkeit einer zwar transzendenten Herrschaftsbegründung, die aber die allgegenwärtigen konfessionellen Diversitäten neutralisierte. Mit alledem leistete die Rezeption der Antike aber auch einem Politikstil der Konfrontation und einer kriegerisch disponierten Politikausübung Vorschub. Dies änderte sich seit dem Ende des 17. Jahrhunderts und vollends im Verlauf des 18. Jahrhunderts. Die Querelle des Anciens et des Modernes forderte zur Neubewertung der antiken Exempel heraus, in der Staatsrepräsentation traten zeitgeschichtliche Themen an die Seite der Mythologien und antiken Historien,
33 Der Zusammenhang von Staatsbildung und Krieg wurde u. a. von Johannes Burkhardt in mehreren Beiträgen herausgearbeitet; vgl. bes. Johannes Burkhardt, Die Friedlosigkeit der Frühen Neuzeit. Grundlegung einer Theorie der Bellizität Europas, in: Zeitschrift für historische Forschung 24, 1997, S. 509–574. Zum weiteren Zusammenhang auch Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine Verfassungsgeschichte Europas von den Anfangen bis zur Gegenwart, München 1999, bes. S. 306–363. Auf die seit Beginn der 1990er Jahre ubiquitäre Absolutismus-Debatte sei in diesem Rahmen der Debatte um die Funktionstüchtigkeit der frühzeitlichen Staatlichkeit nicht eingegangen, sondern nur hingewiesen; vgl. dazu nur Schilling (wie Anm. 1).
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bis sie diese ablösten.34 Die Beschäftigung mit der Antike wurde sukzessive aus der Domäne der höfisch gebundenen Panegyrik in die Zuständigkeit der akademischen und universitären Gelehrten überstellt.35 Neben der römisch-imperialen Antike kam das griechische Altertum mit einer nicht mehr primär am Fürstenstaat orientierten Staatsethik in den Blick. Schließlich bezogen sich auch die Fürsten in ihrem Regierungshandeln nicht mehr vorzugsweise auf heroisch-antike, sondern auf modernere, aufklärerisch-utilitaristische Normen.36 Dieser radikale Wandel bestätigt aber für die vorangehende Epoche noch einmal die Rolle der Antikenrezeption als Ferment eines europäischen Zivilisationsprozesses, das nicht nur den humanen Fortschritt beförderte, sondern auch dessen destruktives Entwicklungspotenzial ideologisch beglaubigte.
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34 Dazu Thomas Kirchner, Der epische Held. Historienmalerei und Kunstpolitik im Frankreich des 17. Jahrhunderts, München 2001, bes. S. 370–457 und Erben (wie Anm. 1), bes. S. 312–341; auch Hendrik Ziegler, Der Sonnenkönig und seine Feinde. Die Bildpropaganda Ludwigs XIV. in der Kritik, Petersberg 2010. 35 Dazu Walther (wie Anm. 10), S. 380–385; zur Situation in Deutschland, die aber der allgemeinen Entwicklung in anderen europäischen Ländern folgt, Suzanne L. Marchand, Down From Olympus. Archeology and Philhellenism in Germany, 1750–1970, Princeton 1996. 36 Exemplarisch für Frankreich herausgearbeitet von Andreas Köstler, Place Royale. Metamorphosen einer kritischen Form des Absolutismus, München 2003, bes. 149–222.
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Unpublizierte Archivquellen „Plainte des statuës du Palais Mazariny au Roy“; Paris, Bibliothèque Nationale, Ms. français 892, fol. 9–18;
Andreas Köstler
Antike als Additiv Zum selektiven Gebrauch der Antike im Späthistorismus Habent sua fata tituli. Der gewundenen Formulierung des Titels mag man die Handhabbarkeit meines Themas ansehen. In der späthistoristischen Architektur eine Präsenz der Antike oder auch nur des Antikischen, welchen Grades und welcher Couleur auch immer, nachvollziehbar aufzuspüren – will sagen: in einer exakt erkennbaren, nicht durch nachantike Stile vereinnahmten Form –, mag vermessen scheinen. Das Zeitalter des späten, galoppierenden Historismus, die Spanne etwa zwischen 1880 und 1910, wird nicht grundlos als eine der antikenfernsten Epochen der jüngeren europäischen Kunst angesehen; und dies nicht nur, soweit es die Architektur angeht. Der Stilpluralismus des Fin de Siècle, der die Kunst grundverschiedener Epochen belehnte und ihre Formen scheinbar munter miteinander verschmolz, verträgt sich nun einmal nicht mit dem Reinheitsgebot eines bereits archäologisch unterrichteten Antikenbildes. So sehr die Bauten eines Alfred Messel oder Ludwig Hoffmann, Bruno Möhring oder Bruno Paul, Paul Mebes oder Peter Behrens auf den ersten Blick der Antike durchaus erneut verpflichtet erscheinen, erweisen sie sich qua Materialität mindestens ebenso der Zeit um 1800 verbunden und geben sich qua Stereometrie und Megalomanie ihrer Dimensionen endgültig als Werke der Zeit um 1900 zu erkennen. Und so dürfen die Sentenzen eines John Summerson oder Hanno-Walter Kruft nach wie vor Geltung beanspruchen: Das 19. Jahrhundert hat sich intensiv – wie wir meinen könnten, zu intensiv – mit historischen Baustilen beschäftigt. Gebäude in klassischen Formen wurden laufend weitergebaut, jedoch in einer Haltung, die gewissermaßen zurückgewandt war, und zwar nicht nur zum Griechischen und Römischen, sondern zu fast jeder späteren Entwicklungsphase dieser Formen, die also die Vergangenheit als einzigen großartigen Steinbruch für Ideen benutzte. […] Architekten historischer Bauten in klassischen Formen durchmusterten sozusagen die Errungenschaften der Vergangenheit nach Dingen, die man in anderer Weise oder in anderen Kombinationen wiederholen könnte.1
Der hier unterschwellig ausgesprochene, bei Summerson übrigens noch recht milde artikulierte Vorwurf eines bloßen Eklektizismus betrifft nicht nur die gebaute, sondern auch die bedachte Architektur der Jahre um 1900. Denn auf
1 Summerson (1983), 110–111. https://doi.org/10.1515/9783110458213-007
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dem Gebiet der Architekturtheorie sekundiert John Summerson etwa HannoWalter Kruft, wenn auch überwiegend ex silentio: In den deutschen Architekturzeitschriften erschienen [zu dieser Zeit] immer wieder Aufsätze unter dem stereotypen Titel „In welchem Style sollen wir bauen?“. Die Antworten lauteten auf Eklektizismus oder eine der historischen Stilformen. Der architektonische Historismus war außerstande, eine übergreifende theoretische Fundierung seiner Position zu liefern.2
Und etwas weiter heißt es lakonisch: „Architekturtheoretisch herrscht in Deutschland am Ende des 19. Jahrhunderts ein Vakuum.“ Derselbe John Summerson verknüpft dann aber, wenige Zeilen weiter, Antike und Späthistorismus doch recht eng miteinander, wenn auch auf überraschende Weise. Er bringt dabei eine Grundüberzeugung der Architekturgeschichte auf den Punkt, die bis heute in vielen unterschiedlichen Varianten durchgespielt und paraphrasiert wird, hier ihren Cantus firmus aber wohl am deutlichsten anklingen lässt. Die architektonische Moderne, so diese denkwürdig dialektisch gestrickte Denkfigur, sei nicht so sehr auf einen Bruch mit der Tradition versessen gewesen als vielmehr wiederum durch einen Rückgriff auf die Klassik ausgelöst worden. John Summerson noch einmal: „Die wirklichen Lösungen sollten noch kommen – jedoch nicht von einer genialen, in Wirklichkeit aber ziemlich heiklen Theorie der Gotik her, sondern aus der klassischen Tradition, die ganz Europa lange Zeit so eng mit der Antike verband.“ 3 Und anschließend werden Peter Behrens und Auguste Perret als die beiden Pioniere einer Geburt der Moderne aus dem Geist der Antike vorgestellt, während der arme Eugène Viollet-le-Duc samt seiner neugotischen Inspirationen in die Position eines Neandertalers der Moderne rückt. Wir haben es also mit einer denkwürdigen Ausgangsposition zu tun, besehen wir uns den Gebrauch der Antike und die Wandlungen des Antikenbildes am Ende des 19. Jahrhunderts näher: Einerseits sollen der Historismus, der doch auf klassischer Architektur aufbaut wie keine Epoche vor ihm, und ein klarer, archäologischer Antikenbezug nicht zusammengehen, weder in der Theorie noch in der Praxis. Andererseits scheint jedoch ein energischerer Rückbezug auf die klassische Antike innerhalb des Historismus gleich sein Ende mit eingeläutet zu haben. Ich habe da meine Zweifel, was diese Denkfiguren der Architekturgeschichte der Moderne angeht – denn um nichts anderes handelt es sich. Den sogenannten Neoklassizismus der Jahre um 1910, wie er in
2 Kruft (1985), 364–365. 3 Summerson (1983), 111.
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der Literatur regelmäßig als Scharnier zur Moderne4 umrissen wird, zeichnet in dieser Perspektive eine geradezu teleologische Qualität aus, die stutzig machen muss: Von dieser eindrucksvollen, doch zugestandenermaßen kurzlebigen und eng begrenzten Konstruktion der Antike um 1910 bleibt in dieser Sicht am Ende fast nur die „Möglichkeit zur Abstraktion“ 5, die dann – derart funktionalisiert – in die Moderne vorausweisen darf. Die vielfältigen anderen, überwiegend nichtantiken Komponenten dieses „industriebürgerlichen Reichsstils“ 6, wie ihn Tilman Buddensieg einmal genannt hat: der Bezug auf den Stil um 1800, auf Preußen, auf die Trias Gentz, Gilly und Schinkel; die neue Strenge und Regularität, wenn nicht Monumentalität, die wiederum nicht durch die Vorstellung eines Preußen um 1800 gedeckt wird; dazu die Materialität, die ganz neue Wege einschlägt; sie alle gehen in dieser Meistererzählung der Moderne unter. So betrachtet, kann am Ende selbst ein Le Corbusier bequem in der Antike gründen, da – wiederum laut John Summerson – es das „Ziel klassisch orientierter Architektur“ sei, „eine nachweisbare Harmonie der Bauteile zu erreichen“.7 Im übrigen dürfen als Belegstellen für das derart umrissene Ende des Historismus im Neoklassizismus immer dieselben, nicht gerade zahlreichen Werke herhalten: von Peter Behrens die hochberühmte Turbinenhalle für die AEG in Moabit sowie seine drei Jahre später entstandene Villa für den Archäologen Theodor Wiegand in Dahlem, von Auguste Perret die Eisenbetonbauten in Paris, das Wohnhaus in der rue Franklin, die Garage in der rue Ponthieu, die Kirche Notre-Dame du Raincy und das Marineministerium, von Alfred Messel das Pergamonmuseum, und im weiteren Umfeld vielleicht noch einige Vertreter der Stilstufe um 18008, um mit Paul Mebes zu reden. Ich hoffe, damit knapp die Bedenken angedeutet zu haben, die mich beim Thema heimsuchen. Daher möchte ich denn auch diese offenkundigen Untiefen der Architekturgeschichte umschiffen, indem ich weniger nach der faktischen Antikenaneignung des Späthistorismus frage – ob nun der theoretischen (die es nicht gibt) oder praktischen Anverwandlung (die sehr punktuell bleibt) –, sondern eher den Parametern eines positiven Aufrufs der Antike nachgehe.
4 Um hier nur wenige Positionen zum Neoklassizismus um 1900 paradigmatisch herauszugreifen: Neumeyer (1979), Nicolai (2004), Pehnt (2005). Hofer (2005), 7–14 lässt anschaulich die verblüffend reiche Begriffsbildung zur Architektur um 1900 Revue passieren, die wohl mehr über die Architekturgeschichtsschreibung denn über ihren Gegenstand aussagt. Bezeichnenderweise vermeidet Wolfgang Pehnt, wo immer möglich, den Begriff Neoklassizismus zugunsten des Zyklopenstils. 5 Nicolai (2004), 85. 6 Buddensieg (1979), 70. 7 Summerson (1983), 10 und 114. 8 Mebes (1908).
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Abb. 1: Ernst von Ihne, Kaiserbahnhof Potsdam-Sanssouci, 1909.
Hierbei kommt mir das Anliegen unserer Tagung entgegen, ausdrücklich nicht nach den einzelnen Verläufen theoretischer oder praktischer Antikenaneignung zu fragen als vielmehr danach, welche verschiedene Bedeutungen, Funktionen und Färbungen der Begriff Antike als Instanz architektonischen Denkens gewinnen konnte. Um es am Haupt- und Staats-Beispiel der Behrensschen Turbinenhalle pointiert zu verdeutlichen: Die vor Abbildungen der kanonisch gewordenen Südfront an der Huttenstraße geradezu triumphierende Feststellung antikischer Böschung und Proportion läuft so lange ins Leere, wie sie nicht gleichzeitig nachvollziehbar zu begründen weiß, warum Peter Behrens für ein technisches Bauwerk in einem Arbeiterviertel par excellence die Assoziation an eine Tempelfront hervorruft. Hingegen scheint der Hiatus zwischen Funktion und Form beim Hofarchitekten Ernst von Ihne architekturikonologisch leichter zu verschmerzen, obwohl dessen gleichzeitiger Kaiserbahnhof in Potsdam-Sanssouci Behrens’ Turbinenhalle tektonisch in nichts nachsteht und strukturell zum Verwechseln ähnlich ausfällt. Man kann nämlich den Unterschied zwischen beiden Bauten nicht nur, wie üblich, zuungunsten von Ihnes auslegen: Hier der moderne Behrens, der großzügig bis zur Antike zurückgreift, dort der aus der Ecole des Beaux-Arts stammende von Ihne, der so gut wie alle identifizierbaren historistischen Modi gleichermaßen beherrscht, sich aber scheinbar
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nie zu einer Moderne durchringen kann. Nun sind aber beide Bauten – das sei betont – gleichermaßen historistisch, denn beide blenden eine historische Fassade vor eine moderne Eisenskelettstruktur. Vor dieser Einsicht scheint es allemal erträglicher, wenn aus einem englischen Landhaus ein Salonzug hervordampft, als wenn ein Tempel technisches Großgerät entlässt. Kurz: Die Präsenz der Moabiter Antike ergibt bei Behrens so recht keinen Sinn, wenn man sie nicht als schlichte Nobilitierungschiffre einstufen will – und damit als bloße Stilzutat unterschätzt. Die Frage nach der Präsenz der Antike im Späthistorismus ist daher eher umgekehrt zu stellen: Was verbinden die Zeitgenossen denn positiv, will sagen: exakt beschreibbar, mit der Konstruktion Antike? Welches Antikenbild besitzt diese Epoche: unausgesprochen oder expressis verbis, und wie wirkt es: klandestin eingesetzt oder offen reflektiert? Nicht zuletzt befragen wir diejenige Ära, die von ihren archäologischen Siegeszügen und den ihr folgenden Selbstvergewisserungen, was es mit der Antike auf sich habe, besonders profitierte: von Olympia über Pergamon bis hin zu Priene und Milet,9 um nur die deutschen Hauptkampagnen unter staatlicher Beteiligung und Finanzierung zu erwähnen, nicht zu reden von der Ausbeute ägyptischer und vorderasiatischer Exkursionen und Ausgrabungen, die das Bild der klassischen Antike schon damals rundeten. Offensichtlich muss man die Antike, das heißt die Konstruktion der Antike, im späten Historismus anders zu fassen suchen, statt sie lediglich an der volatilen Bauzier ganz unterschiedlich strukturierter Gebäude abzulesen. Der Blick in die engere Architekturtheorie, das Architekturschrifttum, ernüchtert; da hat Hanno-Walter Kruft schon recht. Bei Peter Behrens etwa findet sich in keiner seiner umfangreichen Schriften, nicht einmal in den entscheidenden Jahren zwischen 1905 und 1915, eine Wendung, die die Antike als normative Kraft bemühte, wohl aber die bekannten Aspekte wie Funktionalität oder Modernität.10 Hingegen sind im öffentlichen Diskurs, in der populären, manchmal auch ganz architekturfernen Verständigung über die Antike durchaus Spuren zu entdecken, welche die Virulenz der Chiffre Antike für bestimmte Teilbereiche architektonischer Praxis belegen. Ich spreche von Spuren, Abtönungen bis hin zur homöopathischen Verdünnung – es gibt keinen ausführli-
9 In Olympia wurde ab 1875, in Pergamon ab 1878, in Priene und Milet ab 1899 gegraben, jeweils unter Beteiligung des Deutschen Reichs. 10 Behrens ist nicht der einzige Architekt der Jahre um 1900, der die Referenz auf die Antike auffallend ex silentio betreibt, sie in seinen Äußerungen außen vor lässt. Fast nur spätklassizistische Vertreter des Fachs, etwa August Orth oder Fritz Wolff, zeichnen und begründen nach 1880 noch unter dezidiertem Bezug auf die Antike.
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Abb. 2: Otto March, Schwimmbahn im Deutschen Stadion, 1913.
chen, geschweige denn hegemonialen Diskurs zur Antike mit direkter und eindeutiger Auswirkung auf die Architektur und vice versa, wie es etwa im Frühhistorismus der Fall ist. Daher auch der Begriff des Additivs, den ich allerdings ohne jede pejorative Färbung gebraucht wissen will: Es sind Beimengungen, Abtönungspartikel ganz unterschiedlicher Qualität und Quantität, die die Präsenz der Antike auch im späten Historismus nahelegen. Drei Praxisfelder der Antike im späten Historismus scheinen mir für eine nähere Untersuchung erfolgversprechend. Sie haben sich beim Abgleich mehrerer sich überschneidender Felder herauskristallisiert: dem des Bauens, dem der Rede über das Bauen, dem der Rezeption der Bauten und dem ihrer Auswirkungen auf die Nachbarkünste. Ich möchte mich hier auf drei Anwendungsgebiete beschränken, die die folgenden drei Abschnitte begründen: ein Kapitel zum wissenschaftlichen Diskurs über die Antike, sprich: zur Archäologie, auf die man allenthalben stößt, wenn man die Antike im Späthistorismus sucht; eines zur Kunst und ihren Bauten, also zur Inszenierung antiker Kunst in Bauwerken, aber auch zu ihrer Interaktion mit der zeitgenössischen Skulptur; sowie ein drittes zum Sport, seinen Bauten und deren Inszenierung. Hier, auf dem Feld des Sports und seiner Bauten, stellten sich – dies schon vorab – die meisten Neuigkeiten ein, da dieses Feld offensichtlich noch am ehesten brach
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liegt; und hier scheint ein Konzept der Antike virulent gewesen zu sein, das sich am Ende auch architektonisch ausmünzte und somit am besten fassbar ist. Ich bleibe der Übersicht halber beim Beispiel des wilhelminischen Berlin – und bitte das zu entschuldigen.
1 Die Antike der Wissenschaft Selbst vor der Folie der bemerkenswerten Karriere der Geisteswissenschaften im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, vor allem der historisch arbeitenden Fächer, nimmt sich der Aufschwung der Klassischen Archäologie imposant aus. Die großen Kampagnen der wilhelminischen Zeit sind schon erwähnt worden; sie führten sogar zur Benennung ganzer Museen nach den neu ergrabenen Hauptwerken, etwa bei den beiden Pergamonmuseen. Augenfällig gespiegelt findet sich die fast staatstragende Rolle der Klassischen Archäologie im Kanon der Fächer noch heute im Hauptgebäude der Berliner Universität. Einige erhaltene, da wandfest montierte Abgüsse monumentaler Vorlagen weisen den gesamten nordwestlichen Flügel der Friedrich-Wilhelms-Universität als ehemalige Abgusssammlung und ehedem deutlich größeres Winckelmann-Institut aus.11 Nicht weniger als ein gutes Fünftel der Kubatur des Universitätsgebäudes, allein die Hälfte der ab 1913 durchgeführten Vergrößerung des Boumann’schen Prinz Heinrich-Baus durch Ludwig Hoffmann, wurde also dem Fach Archäologie eingeräumt.12 Allerdings schlug sich die Wertschätzung des Faches hier nur in der Großzügigkeit der Institutsräume nieder; äußerlich hatte Hoffmann dem Vorbild Johann Boumanns formal strikt zu folgen. Die Wertschätzung für die Antike griff – bis auf ein Paar ionischer Säulen im mittleren Treppenhaus des Westflügels – nicht auf die Gestaltung der Architektur über. Das änderte sich bei der zweiten großen Außenseite der Berliner Archäologie, den späteren Bauten des Deutschen Archäologischen Instituts in Dahlem. Die Villen in der Peter-Lenné-Straße und Im Dol waren zwar zunächst Privat-
11 Die besondere, extreme Blüte der Berliner Archäologie um 1900 ist sicherlich nicht zuletzt auf Wilhelms II. lebenslanges Interesse zurückzuführen, das er seit seiner Bonner Studienzeit entwickelt hatte. Die große Erweiterung des Berliner Instituts fand anlässlich der Berufung des Bonner Archäologen Georg Loeschcke statt, dessen hohe Forderungen nach einer Intervention Wilhelms II. erfüllt wurden. Siehe dazu etwa Stürmer u. Wrede (1998). 12 Im selben Flügel residierte nur noch das Fach Kunstgeschichte, durfte also sichtbar bei ihrer Amme unterschlüpfen.
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Abb. 3: Peter Behrens, Villa Wiegand, Peter-Lenné-Straße 28–30, Hofseite.
häuser,13 die aber die gesellschaftliche Rolle der von Staats wegen mit der Leitwissenschaft Archäologie befassten Beamten und Wissenschaftler zu repräsentieren hatten. So ist das Haus Wiegand vor der Folie seiner Nachbarbauten sehr schnell als architecture parlante rezipiert worden, mit der sich der aus Milet nach Berlin zurückgekehrte – und in die Familie Siemens eingeheiratete – Archäologe und Leiter der Berliner Antikensammlung, Theodor Wiegand, mit Aplomb in die Berliner Gesellschaft eingeführt habe. Archäologische Antike – im Wortsinn: Antike aus erster Hand – und zeitgenössisches Bauen scheinen im Haus Wiegand eine überaus glückliche Symbiose eingegangen zu sein, zumal die Villa samt ihrer ursprünglichen Einrichtung bis heute erhalten ist. Nicht umsonst ist der Behrens’sche Entwurf, bei dem Wiegand als Bauherr einiges mitzureden hatte, zum Paradefall des Neoklassizismus um 1910 avanciert.14
13 In den zum Ensemble der Archäologenvillen gehörenden Haus Lepsius lebte der Sohn des berühmten Ausgräbers, in der dem Haus Wiegand benachbarten, von Cremer & Wolffenstein erbauten Villa der Schwager Wiegands, beides Bauten des Heimatstiles, vor denen das Haus Wiegand deutlich absticht. 14 Allein zum Haus Wiegand existieren bereits zwei umfangreiche Monographien: Hoepfner u. Neumeyer (1979) sowie Rheidt (2004). Beide betonen nachdrücklich die Sonderstellung ihres Gegenstandes.
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Abb. 4: Peter Behrens, Villa Wiegand, Peter-Lenné-Straße 28–30, Grundriss.
Innerhalb der Dahlemer, im weiteren Sinn der Berliner Villenlandschaft, die ja die gesamte Bandbreite des Bauens um 1900 aufbietet: Späthistoristisches von der späten Persiusadaption bis zum Neorokoko, verschiedene Varianten des Heimatstils, Jugendstil, Englisches à la Muthesius, usw., ist sie ein Sonderfall, der sofort das Interesse auf sich gezogen hat. Nur die Person Wiegand und ihre Rolle scheinen ihre besondere, immer als antikisch beschriebene Erscheinung zu rechtfertigen. Wenn auch zutrifft, das Haus Wiegand sei ohne Verweis auf die Bauherrenschaft gar nicht zu verstehen – merkwürdig bleibt, dass nicht weiter nach dem hier zur Architektur geronnenen positiven Bild der Antike gefragt wird. Genaueres Hinsehen auf die heute als Hauptrepräsentanz des DAI genutzte Villa lässt denn auch von einer tatsächlichen Präsenz einer archäologischen Antike nicht mehr allzuviel übrig: Im Grundriss und der Raumanordnung folgt das Haus Wiegand zeitgenössischen Modellen, die eher als Ausdruck der Lebensreform denn einer Antikenrezeption zu verstehen sind: Die Küche und der Versorgungstrakt sind nicht wie üblich in den Keller verbannt, sondern nach Norden
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in einen eigenen Bauteil ausgelagert, weshalb Hof- und Gartenseite asymmetrisch ausfallen; mit dem leichten Vorsprung des Küchentrakts zur Straße entsteht sogar eine malerische Gruppierung, die der ansatzweisen Symmetrie vor allem der Gartenseite entgegenarbeitet und einer Villenkopie antiken Ursprungs einen Strich durch die Rechnung zieht. Auf der Gartenseite sprechen die einhüftige Pergola und der seitlich versetzte Gartenpavillon, der vielsagend Tennishalle heißt – und nicht etwa Palästra oder Stoa –, auch eher von einem großbürgerlichen, lebensreformerisch angehauchten Haushalt. Die Aufstellung von Grabungsfunden und Abgüssen, etwa der Eirene, lassen diesen Gang zur Galerie werden, eher einer für stilgeschichtliche Übungen zugerichteten Abgusssammlung denn einer Villenausstattung vergleichbar. Das augenfälligste und zugleich merkwürdigste Antikenzitat der Villa Wiegand liefert das häufig abgebildete Peristyl am Haupteingang, das bis in die Maße hinein einem vom Bauherrn ergrabenen Vorbild einer hellenistischen Insula in Priene entspricht. Nur sitzt auch dieses Antikenzitat an einer zutiefst historistischen Stelle, nämlich ganz vorne an der Zufahrt. Es wird wie ein Signet vorgewiesen, kann aber dadurch seine qua Form angezeigte Funktion allenfalls ansatzweise erfüllen. Es fungiert also eher als Aushängeschild des Baus, etwa im Sinne von: Hier wohnt ein Archäologe, wozu sich dann auch – auf einer ganz anderen Ebene – die modernen Glasbausteine fügen, etwa im Sinne von: Hier wohnt ein moderner Archäologe. Man vergleiche einmal, um den Grad der Antikenrezeption um 1910 abzuwägen, die Adaption eines Wiegand und Behrens mit der Antikenverarbeitung des frühen Historismus, etwa in Form der Römischen Bäder, die Friedrich Wilhelm IV. in Charlottenhof anlegen ließ. Wenngleich diese nicht als Residenz mit Wohnfunktion gelten können und die Anlage sich langsam vom Gärtnerhaus über das Logis der Gäste des Kronprinzen zu einem Konglomeratbau entwickelte, bei dem Italienisches und Antikes nicht mehr sauber zu trennen sind – die Römischen Bäder selbst dürfen bei allen funktionalen Schwächen doch als gelebte Antike15 angesprochen werden. Das Antikenverständnis der Familie Wiegand hingegen, wie es sich in der Anlage repräsentativer Innenräume um die Halle, im Garten, in der Tennishalle, in den Pergolen spiegelt, ist mühelos durch lebensreformerische Inhalte abzulösen. Als Quintessenz darf man festhalten, dass die hier durchaus prominent aufgerufene Antike doch an der Epidermis der Architektur verbleibt, sie als Applik allenfalls die Wolle färbt, nicht aber tiefer die Struktur durchdringt. Jene Antike um 1910 bleibt immer noch historisch-historistische Einkleidung; wie jedoch wurde diese Antike gedacht? Julius Meier-Graefe, der ange-
15 So der sprechende Titel der Dissertation von Antje Adler (2009).
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Abb. 5: Fritz Wolff, erstes Pergamonmuseum, 1901–1908.
sichts der Themen Peter Behrens und Moderne gerne herangezogen wird, forderte bereits 1905, also lange vor dem Haus Wiegand, von der aufkommenden Moderne eine „hellenische Klarheit“ und „hellenische Vernunft“, die dergestalt „wieder an die Antike anknüpft“.16 In einer Denkfigur, die die Zeitgenossenschaft der Industriegesellschaft des deutschen Reiches eben nur partiell auf das alte Griechenland projiziert, verlangte er, „so zu bauen, daß nichts von der Form, nur dieser anbetungswürdige kühle Geist der Griechen auferstünde“. Und ein paar Zeilen weiter schränkt er nochmals ein: „Das wahre Griechentum existiert deutlicher als Ideal, als in der Realität der Trümmer.“ Auch wenn man vor dem Haus Wiegand so weit nicht gehen will und Julius Meier-Graefe als Partisan der Moderne schrieb: Hier hat er recht, es scheint eine höchst idealistische Konstruktion vom Griechentum im Schwange gewesen zu sein, die die Vorstellungen von der Antike im Wilhelminismus tränkte, die sich auf die Formebene jedoch nur sehr indirekt vermittelte, von den Funktionsabläufen einer gelebten Antike ganz zu schweigen.
16 Meier-Graefe (1905), 389.
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2 Die Antike der Museen und Künste Die eigentliche Außenseite der Berliner Archäologie, als ein zur Form geronnenes Antikenbild, ist jedoch nicht in der Villeggiatura ihrer prominenten Vertreter zu suchen, sondern präsentierte sich offiziell auf der Museumsinsel. Damit komme ich zum zweiten, erfolgreicheren Abschnitt dieser Untersuchung: zur Inszenierung antiker Kunst in Bauwerken des Späthistorismus, aber auch zu ihrer Interaktion mit der zeitgenössischen Skulptur. Das erste Pergamonmuseum, jenes „eigenartige Museum, das nach Form und Inhalt einzig in der Welt dasteht“ 17, so schon Albert Hofmann selbstbewusst in der Deutschen Bauzeitung von 1907, veranschaulicht wohl am ausdrucksvollsten die gewachsene Rolle der Antike im Kaiserreich. Später als in den anderen europäischen Ländern wurde die antike Kunst zur Leitwährung der preußischen Kulturpolitik umgeprägt, bemühte man sich um Ankäufe und Ausgrabungen – um dann aber, einmal im Schwung, die europäischen Rivalen hinter sich zu lassen. Unter den am Ende fünf Bauten für die königlichen Museen am Lustgarten bildet das Pergamonmuseum einen einzigartigen Ausnahmefall, nachdem mit dem Alten und dem Neuen Museum zunächst der Weltkunst,18 mit der Nationalgalerie und dem Kaiser-Friedrich-Museum dann zunehmend der nationalen Kunst 19 gehuldigt worden war. Dieser Einhol- und dann Überholvorgang drückte sich vor allem in der – auch international gesehen – Besonderheit aus, ein Architekturensemble als solches zu musealisieren, dazu möglichst in toto. Später gesellten sich mit dem Markttor von Milet, der Prozessionsstraße und dem Ischtar-Tor sowie der Mschatta-Fassade noch mehr Großarchitekturen dazu, die man für ausstellungswürdig hielt und – ein eigentlich verrückter Gedanke – in ein Museum pferchte. Es gab und gibt kein Elgin- oder besser Parthenon-Museum in London, kein napoleonisches Pyramiden- oder DelphiMuseum in Paris; die Zurichtung historischer Architektur für das Museum bleibt eine Domäne wilhelminischer Kulturpolitik. Der erste Versuch, eine Architektur als passende und ausdrucksvolle Hülle für ein auszustellendes Architekturensemble zu schaffen, missglückte denn
17 Hofmann (1907), 131. 18 Vor allem das 1859 eröffnete Neue Museum umschloß nicht weniger als zwölf einzelne Sammlungen, die von den ägyptischen und vaterländischen Altertümern bis zur zeitgenössischen Gegenwart reichten. Zum Neuen Museum siehe etwa Blauert (2009). 19 Die 1876 eröffnete Nationalgalerie verschob den Schwerpunkt der Berliner Sammlungen zugunsten der deutschen Kunst, und auch das vorrangig der Renaissance gewidmete KaiserFriedrich-Museum (Bode-Museum) Ernst von Ihnes rahmte die ausgestellten Werke der neueren, d. h. frühneuzeitlichen Kunst mit hohenzollernschen Treppenhäusern. Zu den einzelnen Bauten auf der Museumsinsel siehe Hensel u. Köstler (2005).
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auch. Fritz Wolffs sogenanntes erstes Pergamonmuseum hielt nicht einmal ein Jahrzehnt. Der Bau, 1897 begonnen und 1901 eingeweiht, wurde bereits 1908 wieder zugunsten des Messel’schen Nachfolgebaus mit tiefgreifend geänderter Programmatik niedergelegt. Nur wenige Stimmen haben Wolffs Architektur verteidigt, die meisten reihten sich in die Schar der Kritiker ein, die seine schnelle Baufälligkeit monierten, noch mehr aber seine drangvolle Enge, die es nicht erlaubte, den Altar und seine Skulpturen von weitem und damit auf adäquate Distanz zu betrachten. Ich will Ihnen mit dem Wolff’schen ersten Pergamonmuseum nun nicht dieses Intermezzo der Berliner Museumslandschaft als besonders antikischen Bau schmackhaft machen. Aber er scheint mir bezeichnender für unser Thema als das heutige, das Messel’sche Museum, das den Namen erbte, obwohl es deutlich mehr wollte als nur den Pergamonaltar zu beherbergen. Die Kritik hat dem kurzlebigen Bau Fritz Wolffs – neben seiner Geschichte – so zugesetzt, dass er als praktisch vergessen gelten darf. Das Positivste, was ich über ihn ausfindig machen konnte, des schon erwähnten Albert Hofmann Stellungnahme in der Deutsche Bauzeitung von 1907, lautet: „Der Stil des Ganzen ist der einer in schlichtester Auffassung gehaltenen hellenisierenden Architektur von guter Gruppierung.“ 20 Zum Argument wird mir dieser Satz aus zwei Gründen: zum einen, weil er offensichtlich schon in defensiver Haltung geschrieben wurde, zum anderen, weil er den Widerspruch zwischen ausgestellter hellenistischer Kunst und umgebender klassizisierender Museumsarchitektur so lauthals verschweigt, indem von hellenisierender Architektur die Rede ist. Hofmann verteidigt die längst überlebten, sich noch einmal vor Schinkel und Stüler verneigenden Tempelgiebel mit den übergroßen Akroterien und die äußerst zurückhaltend reliefierte Baukastenarchitektur als sparsam und einfach.21 Eine zeitgenössische Fotografie des Baus auf der Museumsinsel zeigt uns den vermutlichen Grund hierfür (Abb. 5): Hinter der Nordostecke, rechts, wird ein winziger Teil des von Ihneschen Kaiser-Friedrich-Museums sichtbar, ein Gegenbau jenseits der Stadtbahn, gleichzeitig errichtet und nur wenig später eingeweiht, der doch im architektonischen Programm eine ganz andere Melodie anschlägt als die Architektur, die für würdig erachtet wird, den pergamenischen Altar einzuhausen. Mit anderen Worten: Ein derart hochklassizistischer und daher antikischer Bau gilt am Ende des 19. Jahrhunderts bereits als anachronistisch und
20 Hofmann (1907), 129. Zum Planungs- und Baugeschichte umfassend Kästner (1987). 21 HofmannHofmann Albert (1907), 131: „so hat diese Sparsamkeit doch zu einer Einfachheit geführt, die ein geradezu mustergültiges Verhältnis zwischen Bauwerk und Ausstellungs-Gut hergestellt hat. In der Tat ist dieses eigenartige Museum, das nach Form und Inhalt einzig in der Welt dasteht, auch als Museum ein vorbildliches Werk.“
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ist nur noch möglich, wenn als er dienende Außenseite des Inneren fungieren konnte. Hofmann konstatiert denn auch „ein geradezu mustergültiges Verhältnis zwischen Bauwerk und Ausstellungs-Gut“ 22; merkwürdig, wie wenig er kommentiert, dass hier ein an der Klassik orientierter Bau für ein hellenistisches Monument sorgen soll. Wolffs Pergamonmuseum legt mit dem gewählten Stilkleid noch dieselbe Haltung an den Tag wie ein halbes Jahrhundert zuvor Stülers Neues Museum, das sich bescheiden hinter Schinkels Altes Museum duckte und stilistisch dem präsentierten Museumsgut jeden einzelnen Raum gesondert unterordnete. Es ist ein Ausnahme-Bau, was die Präsenz der Antike um 1900 anlangt, und ein Ausnahme-Bau, was das Verhältnis der Bauten auf der Museumsinsel zu ihren jeweiligen Schausammlungen angeht. Vollends in die Defensive geriet das erste, hellenisierende Pergamonmuseum noch postum angesichts der Programmatik seines Nachfolgers. Keine zehn Jahre liegen zwischen den Entwürfen für beide. Ausschlaggebend für die architektonische Gestaltfindung Messels war wohl das veränderte Programm des Museums. Nicht mehr nur der pergamenische Altar, sondern eine Trias kultureller Höchstleistungen sollte von der Dreiflügelanlage umschlossen werden: der Höhepunkt, die pergamenische Antike, im Corps de logis, das Vorderasiatische Museum im Südflügel und das Deutsche Museum im gegenüberliegenden Nordflügel. Umschlossen wurde diese kulturpolitisch brisante Mischung von einer Architektur, die im Kern antikisch aussieht, aber ihre eigentlichen Anleihen aus der Zeit um 1800 entnimmt, wie schon Wilhelm von Bode zurecht bemerkt hat. Die etwa von Bernd Nicolai und Wolfgang Pehnt betonte Monumentalität, das geradezu Megalomane, scheint ebenfalls im Dienste des Nationalen zu stehen, desgleichen die muschelkalkige Materialität. Der Bau hebt sich dadurch auf der Insel bis heute hervor, es scheint ihn nicht zu bekümmern, wie sehr er die anderen Bauten an den Rand drängt. Eine neue, nur noch in Maßen antikisch zu nennende Architektur umschloss am Ende den Pergamonaltar; wir haben es mit einer Rücknahme des archäologisch verbrieften Antikischen zu tun, zugunsten einer Geschichtskonstruktion, die das wilhelminische Deutschland als Erben der Griechen und Pergamener sowie Vorderasiens begriff und sich daher mit ihnen in eine Reihe stellte. Das wirft ein eigentümliches Licht auch auf das gleichermaßen megalomane Konzept eines Deutschen Museums, das erst Anfang der 1930er-Jahre eingerichtet wurde und von dem nach dem Krieg so wenig mehr übrig war, um als einziges unterge-
22 Hofmann (1907), 131; auch weiter hinten, S. 732, vertritt er vehement die Angleichung der Museumsarchitektur an ihren Gegenstand: „wenn man etwa der Meinung ist, daß Gestalt und Inhalt eines Museums eine gewisse stilistische Uebereinstimmung zeigen können.“
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Abb. 6: Louis Tuaillon, Sieger, 1899.
gangenes Museum auf der Museumsinsel auch aus dem Gedächtnis zu verschwinden. Kehren wir daher zu Fritz Wolffs ersten Pergamonmuseum und zum zweiten Argument Hofmanns zurück, wenn dieses auch ex silentio erfolgt. Bei seiner Beschreibung des Baus als hellenisierend überliest man zunächst, dass hellenisierend keineswegs mit hellenistisch gleichgesetzt werden kann. Hellenisierend meint hier: dem Griechentum angemessen. Die Frage ist meines Erachtens nie gestellt worden, warum gerade die Architektur Wolffs sich der naheliegenden Einladung entzog, dem asianischen Furor der pergamenischen Gigantenschlacht mit einer neobarocken Hülle Rechnung zu tragen. Auch Messel vermied die übliche Angleichung der Museumsarchitektur an den Charakter der Sammlung zugunsten seiner eigenen Architektur; wie sich ein von Ihne hier verhalten hätte, wüsste man gerne. Im Umkehrschluss darf man folgern, dass für die museale Darbietung der Antike, ob nun aus der Archaik oder dem Hellenismus stammend, anscheinend bis zu Wolff hin die Klassik als würdigste Hülle galt. Hier wird ein positives Bild der Antike greifbar, das trotz aller Ausgrabungen doch gewissermaßen normativ attisch bleibt. Dass trotz der zeitgenössisch galoppierenden Erweiterung der archäologischen Kenntnisse die klassisch-griechische, gleichsam attische Konfiguration als Ideal Bestand hatte, zeigt auch ein knapper Seitenblick auf eine Seitenlinie der Berliner Bildhauerschule. Peter Bloch fiel bereits Ende der 1970er-Jahre auf, dass sich um 1900 die Amazonen, die Sandalenbinder, die Werfer und Bogenschützen sowie die Sieger auffallend tummeln: „Die Häufung ist frappie-
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rend.“ 23 Er ließ diese Beobachtung allerdings unkommentiert, wo sich ein Kommentar zur erneuten Präsenz der Antike, und zwar derjenigen der griechischen Klassik, doch aufgedrängt hätte.24 In den Schriftquellen findet sich wieder wenig, aber eine kurze Tour d’Horizon bestätigt auch hier eine Neoklassik, deren positives Antikenbild bislang noch nicht untersucht ist. Louis Tuaillons Kopf des Siegers scheint mir eine recht genaue Praxiteles-Paraphrase zu sein, die nicht einmal auf die Glasflüsse bei der Bildung der Augäpfel verzichtet. Die Bronze ist aus ursprünglichem Privatbesitz, aus dem Garten der Villa Arnhold am Wannsee, wohl nicht umsonst 1961 in die Nähe des Olympiastadions versetzt worden, wo sie mit erhobenem Arm und Lorbeerkranz nun als Wegweiser zu den Sportstätten dient. In dieselbe Zeit fallen Georg Roemers Rekonstruktionen des Doryphoros und Diadumenos in Stettin. Der Bildhauer, Schüler Adolf von Hildebrands, wertete alle erhaltenen Repliken des seit 1863 im Doryphoros erkannten Polykletischen Kanons aus. Derart zu Schulbeispielen der griechischen Klassik hin ausgemendelte Doryphoroi finden sich aber nicht, wie man annehmen möchte, in den Abgusssammlungen archäologischer Institute, um bei der Kopienkritik zu assistieren, sondern noch heute gerne in den Aulen von Schulen und Akademien, etwa an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Wohl nicht von ungefähr: Es ist eine hochidealistische Konstruktion der Antike in ihnen begriffen, die mehr umfasst als das bloß Archäologische: Medizinisches verknüpft sich hier mit Militärischem, Ästhetik der Lebensreform mit Freikörperkultur, und alles versammelt sich im häufiger anzutreffenden Zitat vom „wahren Geist griechischer Kultur“, vom „wahren Griechentum“ oder vom „kühlen Geist der Griechen“.25 Auch der Zusammenhang mit dem Hygienediskurs der Zeit liegt auf der Hand, denn Georg Roemer arbeitete auch für das Hygienemuseum in Dresden. Nicht alle Athleten in der Skulptur um 1900 treten eindeutig antikisch auf. So weicht beispielsweise Hugo Lederers Athlet von 1908, seit den 1930er-Jahren an der Heerstraße überhoch aufgesockelt, um einiges von der klassischen Form ab, wenngleich das griechische Urbild noch erkennbar bleibt. Selbst ein Reinhold Begas, Übervater des Berliner Neobarock, schwenkt im Spätwerk um 1900 hin und wieder auf Klassizismen ein, und zwar, wenn es sich um Themen aus der Mythologie handelt. Sein Prometheus, 1901 entstanden, 2002 in der Akademie der Künste entdeckt, wo er in Kriegszeiten auf Weisung Albert Speers
23 Bloch u. Grzimek (1978), 312. 24 Auch die einschlägigen Ausstellungskataloge, etwa Berlin und die Antike (1979) oder Ethos und Pathos (1990), äußern sich dazu bezeichnenderweise nicht. 25 Diem (1913), 7; Meier-Graefe (1905), 389. Siehe dazu auch Ipsen (1999).
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Abb. 7: Begas, Prometheus 1901.
eingemauert worden war, scheint mir in der Wahl des Kopftyps auch antikisierend.26 Der knappe Exkurs in die Skulptur erlaubt es, das Antikenbild der Zeit als ein ganz bestimmtes, partiales Griechenland-Bild zu bestimmen. Es geht vorrangig um das Idealbild des Palästra-Athleten, wahlweise der Amazone, die der Jugend als sportliches und hygienisches Vorbild vorgehalten werden konnte.
26 Der Kopftyp variiert, abhängig von den eingenommenen Perspektiven; von vorne ist ein Fechter Borghese erkennbar, in der Seitenansicht wird eher auf Michelangelo abgehoben.
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Abb. 8: Tribüne im Deutschen Stadion mit Athleten und Neptungruppe.
3 Die Antike in Sport und Lebensreform Zahlreiche mehr oder minder antikische Sportler bevölkern nun auch eine Denkschrift, die 1913 den Bau des sogenannten Deutschen Stadions, Vorgänger des Olympiastadions von 1936, beflügeln sollte.27 So führt von hier aus am Ende ein Weg wieder zurück zur Architektur, und zugleich zum ergebnisreichsten Abschnitt dieser Untersuchung. Das Stadion verdankte sich dem Versuch, die olympischen Spiele von 1916 nach Deutschland zu holen. Der hiermit verbundene Zeitdruck führte dazu, es in die Mitte der erst 1909 eröffneten Rennbahn im Grunewald im Wortsinn einzutiefen, mit Zugang über einen Tunnel unter der Pferderennbahn. Architekt des Deutschen Stadions war Otto March, dessen Sohn Werner später die gesamte Anlage zum Olympiastadion von 1936 überformen sollte. Daher sind heute nur noch Fragmente dieses für 1916 geplanten deutschen Olympiastadions erhalten, manche wurden erst bei der jüngsten Renovierung des Olympiastadions 2004 wiederentdeckt und als Ar-
27 Reher (1913).
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chitekturspolien neu versetzt.28 Hauptpropagator der Spiele und Verfasser der Programmschrift Das Deutsche Stadion. Was es uns sein soll war Carl Diem, kein Unbekannter. Diems lange Rolle in Sachen Sportgeschichte begann als Generalsekretär für die VI. Olympiade 1916, später wurde er allgewaltiger Sportfunktionär, bis in bundesrepublikanische Zeiten hinein. 1962 verstorben, hätte man beinahe die Kölner Sporthochschule nach ihm benannt, was letztlich nur seine nicht unumstrittene Rolle im Nationalsozialismus verhinderte.29 Diems Eingangssätze, die ersten Worte dieser Schrift, die für ein nationales Stadion 1913 und kommendes Olympiastadion 1916 werben sollten, sprechen in ihrer Antikenseligkeit für sich: Nicht weiß schimmernd von penthelischem Marmor und prächtig, wie das Panathenäische Stadion an den Ufern des Ilissos, und nicht hochragend wuchtig wie das steinerne Monument nordischer Baukunst im Osten Stockholms, sondern weit ausladend, angeschmiegt an die knappen Erhebungen des Bodens, in matten Farben, so liegt das deutsche Stadion inmitten der Föhren des Grunewalds, schlicht in seinen Linien, gewaltig in seinen Massen, monumental in seiner Wirkung.30
Man beachte in der aufgerufenen Trias aus Monumentalität, Schlichtheit und Massigkeit das eingestandene Fehlen von Materialparametern der Antike, etwa dem Marmor. Ganz wie bei Julius Meier-Graefe geht es Diem vor allen Dingen um den „wahren Geist der Griechen“, weniger dagegen um die archäologisch korrekte antikische Form. Im angestellten Kulturvergleich firmiert die Antike, wie auch bei Alfred Messels Pergamonmuseum, nicht mehr als ausschließliche, so sehr sie auch verbal beschworen wird, sondern als Partialnorm. Auf der folgenden Seite träumt sich Carl Diem dann einen ganzen Absatz lang in einen Wettkampf des Altertums zurück: Ein Stadion … vor unserem inneren Auge sehen wir ein südliches Bild. Azurblauer Himmel … eine schmale, sonnenüberstrahlte Rennbahn, weite Sitzreihen, gedrängt gefüllt von der buntgekleideten schwatzenden Menge … Plötzlich tiefes Schweigen. In Purpurgewändern treten mit bekränztem Haupte die Kampfrichter ein und ihnen gegenüber erscheint die Priesterin der Demeter Chamyne, die einzige weibliche Zuschauerin der Kämpfe. Die Spiele beginnen. Schnell- und Dauerläufe wechseln ab. Bald fliegen die nackten Gestalten in höchster Geschwindigkeit über den weichen Boden, umtobt von den Rufen ihrer engeren Landleute, bald gilt es mit verhaltener Kraft die Strecke zu durchmessen, um am Ende des Laufs noch die entscheidende Geschwindigkeit zu besitzen. In der Mitte des Stadions treffen sich geschmeidige Glieder im Ringkampfe. Muskelstarke Arme pa-
28 Odenthal (2006). Zum Stadion und seiner mehrfach gebrochenen Geschichte am besten Schäche u. Szymanski (2001). 29 Zu Carl Diem siehe jetzt Krüger (2009). 30 Diem (1913), 5.
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Abb. 9: Wettkampf im Stadion, Aquarell. cken den Gegner, gewaltige Leiber drängen sich aneinander, auf daß der eine den andern zu Boden zwänge. An anderer Stelle tobt der Faustkampf, eine Uebung für harte Männer. Selten verläßt der eine ohne Beschädigung den Kampfplatz, denn die Fäuste sind mit ledernen und metallgepanzerten Riemen umschnürt. Schließlich werden beide Kampfarten noch vereint: im Pankration gibt es keine Beschränkung, dreimal muß der Gegner, geworfen oder gestoßen, zu Boden. Ein anderer Tag der Spiele bringt das Springen und das Speer- und Diskuswerfen, die ergänzenden Uebungen zum Laufen und Ringen im Fünfkampf. Die starken Gestalten, die im schnellen Lauf ihre Behendigkeit, im Ringen ihre Gewandtheit und Beherztheit erwiesen hatten, sie haben nun ihre Federkraft und den Stahl ihrer Arme zu zeigen. Mit drei mächtigen Sätzen springen sie in die Weite, der Diskus, die flache Metallscheibe fliegt in hohem Bogen durch die Luft, und der Speer zittert, von starken Armen geschleudert, nach mehr als 50 Metern im Sande. Den Abschluß bildet der Wettlauf der Bewaffneten. Feingliedrige Jünglinge mit schlanken Fesseln und starken Muskeln eilen um die Wette zum Ziel. Helm und Schild tragen sie, doch mehr ein Schmuck für ihre Gestalten als eine Last. So unsere Erinnerung …31
Dieser Aufruf eines agonalen Antikenbildes, der im Sport die Leibesertüchtigung für nicht zuletzt militärische Ziele erblickt, verschmilzt für den heutigen
31 Diem (1913), 5–6. Etwas weiter, S. 7, spielt Diem noch auf den Lorbeerkranz als Siegeszeichen an, den er gleichzeitig germanisiert: „Auf der einen Schmalseite der Bahn hat des Baumeisters sorgsame Hand eine mächtige Eiche als Wahrzeichen stehen lassen. Sie wird der übenden Jugend das Symbol ihres Strebens sein; aus ihren Zweigen kommt der einzige Lohn“. Der Eichbaum als Siegeszeichen hat alle Veränderungen der Sportstätten überlebt und wird als sogenannte Podbielski-Eiche bis heute in Ehren gehalten.
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Betrachter mit Dokumentarfotografien, die einen antikisch inspirierten Waffenlauf der Leibgarde Kaiser Wilhelms II. auf eben dieser Kampfbahn festhalten.32 Dann schlägt Diem doch noch einen Bogen zur Form, die sich stark von Griechenland inspiriert gibt und die antike Form der Arena, aber auch das Auftreten vieler Skulpturen von heroisch-idealer Nackheit im Stadion begründet, für die eine ganze Reihe bedeutender Plastiker der Berliner Bildhauerschule gewonnen werden konnten:33 So wie das Stadion zu Olympia, so wird auch das deutsche Stadion eine Stätte nationaler Kunst sein! So wie am Fuße des Olympos die ins Stadion einziehenden Kämpen, bevor sie den gewölbten Gang betraten, an den Statuenreihen der Altis vorbeimarschierten und die Nike des Paionios auf sie herabschaute, so werden auch die deutschen Jünglinge ihre Kampfbahn der Ehre mit Meisterwerken deutscher Kunst geschmückt sehen, und auch bei uns wird des Künstlers Hand die Gestalt des Olympioniken zum aneifernden Gedenken späteren Geschlechtern festhalten.34
Zwar kann eine Stadionarchitektur unter funktionalen Aspekten vielleicht am freiesten geplant werden, ist also einer Antikenrezeption gegenüber offener als ein Wohnhaus oder ein Museum. Doch die Hingabe, mit der die Schwimmbahn des Deutschen Stadions beiderseits von Stoenhallen eingefasst wurde, zeigt den Geist, dem diese Sportstätte verpflichtet war, am deutlichsten. Die Farbigkeit war den Befunden und Beschreibungen nach pompejanisch, auch die Kaiserloge im Süden soll so ausgestattet gewesen sein. Insgesamt gesehen, ist im Deutschen Stadion mit seinen Rahmenbauten, vor allem in der Schwimmbahn mit ihren Kolonnaden, in der Architektur um 1900 die größte Präsenz antiker Modelle und Normen zu konstatieren. Sie erweist sich als Additiv hygienischer und militärischer Wunschvorstellungen des Deutschen Reiches um 1910. Fassen wir zusammen: Die Vorstellung einer architektonischen Antike ist zu Ende des 19. Jahrhunderts nur in ausgesuchten Teilbereichen tragfähig. Man muss die Ergebnisse zumeist mit der Lupe suchen. Besonders desillusioniert die Quellenlage; im schriftlichen Diskurs bleiben uns vor allem die Architekten vieles schuldig. Nicht einmal Otto March, der mit dem Deutschen Stadion von 1913 eine so außerordentlich antikische Arena hinstellt, verliert ein Wort über 32 Krause (1926), Abb. S. 34. 33 So wurden unter der Regie von Louis Tuaillon und August Gaul unter anderem die Bildhauer Hugo Lederer, Walter Schmarje, Ludwig Cauer, Sascha Schneider und Georg Kolbe mit Statuen von Olympioniken, aber auch einer Nike und einem Neptun beauftragt, die zunächst in vergänglichem Material hergestellt, für die internationale Olympiade 1916 dann in Bronze ausgeführt werden sollten. Zur Formreduktion um 1900 und ihrem Zusammenhang mit dem Neoklassizismus der Zeit vgl. Steckner (1981). 34 Diem (1913), 11. Bilder des Stadions, der Schwimmbahn mit anschließenden Stoai und den provisorischen, aus Zement gefertigten Statuen bei Krause (1926).
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Abb. 10: Berlin, Olympiastadion, Rest der Halle an der Schwimmbahn, 1913.
seine Beweggründe, sondern lässt sich lediglich über Maße, Tragfähigkeiten und Materialien aus. Bis auf den olympischen gibt es keinen Diskurs, der die Antike in der Zeit um 1900 offen als vorbildhaft hinstellt, aber nicht einmal der Coubertin’sche olympische Werbefeldzug geht so recht in die Offensive. Erst einer so schillernden Gestalt wie Carl Diem ist, wenn auch auf Umwegen, noch das meiste zu entlocken. Dennoch gilt: Auf dem Gebiet der Kulturpolitik fallen die Ergebnisse relativ am dichtesten an, weniger auf dem der Industrie oder anderer Lebensbereiche der Jahrhundertwende: in der Archäologie, in den Museumsbauten, dann vor allem im Sport manifestiert sich eine Präsenz der Denkfigur Antike, die sich am Ende auch partiell in der Architektur des Späthistorismus niederschlägt. Ihre Aussagekraft erhalten diese Einsprengsel der Antike jedoch nur als Beimengungen größerer Konzepte, als Additive. Die Präsenz der Antike um 1900 hing wohl besonders an der Schicht ihrer Propagandisten und Rezipienten, die alle ihren wahren Geist griechischer Kultur in unterschiedlichen Abtönungen imaginierten. Auffallend stark hat sich der militärisch-sportliche Anteil des Antikenbildes niedergeschlagen, den die wilhelminischen Neogriechen zugunsten einer sportlichen wie militärisch effizienten Antikenvorstellung imaginierten. So darf man für das Schicksal der Konstruktion Antike im Späthistorismus vielleicht festhalten: Habent sua fata antiquitates.
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Caesars Palace, Las Vegas etc. Vom Nachleben der Antike in der szenografischen Architektur In Zusammenhang mit Las Vegas vom „Überleben der Antike“ zu sprechen, mag auf den ersten Blick paradox erscheinen. Im Jahr 2005 gerade einmal hundert Jahre alt geworden, ist die Glücksspiel- und Unterhaltungsstadt, Mitten in der Mojave-Wüste im Südzipfel des amerikanischen Bundesstaats Nevada gelegen, geradezu das Gegenteil von Dauerhaftigkeit. Als Architekturlaboratorium der Postmoderne erfindet sich Las Vegas im Rhythmus weniger Jahre immer wieder neu. Kaum ein Gebäude bleibt hier länger als eine Generation bestehen, und selbst die Sprengung riesig dimensionierter Hotelburgen wird in regelmäßigen Abständen als Spektakel medientauglich aufbereitet, gewissermaßen im Sinne einer Ruinenromantik unter umgekehrten Vorzeichen. Las Vegas lebt von der Gegenwartsvergessenheit seiner Besucher, und Geschichte findet höchstens als fiktives Spektakel statt. Wenn „die Antike“ in der abendländischen Kultur für Werte wie Dauerhaftigkeit, Ursprünglichkeit und Authentizität, ja mitunter Klassizität steht (und damit immer wieder auch als Projektionsfläche hergehalten hat), so scheinen diese Qualitäten in Las Vegas einen denkbar niedrigen Tauschwert zu besitzen. Und dennoch ist die Antike auch hier, mitten in der Mojave-Wüste, wenigstens in Form von (gebauten) Bildern, als Szenografien präsent. Diese „Präsenz“ wirft allerdings eine Reihe von bildtheoretischen Fragen auf, denen in Bezug sowohl auf architektonische als auch städtebauliche Gesichtspunkte nachgegangen werden soll.
Caesars Palace: Prototyp der Antikenrezeption Was kann mit dem Begriff „Überleben“ gemeint sein? Geht es mit den Worten Sigfried Giedions in seinem umfassenden wie umstrittenen Spätwerk zum „Beginn der Architektur“ um die „ewige Gegenwart“ des Vergangenen, um „Konstanz“ und „Wechsel“ in Hinblick auf die Raumkonzeption in Antike und Moderne?1 Stehen, frei nach Aby Warburg, architektonische „Pathosformeln“ zur Diskussion, also tief im kollektiven Unbewussten verankerte architektonische Tropen, die die Jahrhunderte überdauert haben, um solchermaßen ein „Nach-
1 Vgl. Giedion 1964/65 (am. Originalausgabe New York 1962–64). https://doi.org/10.1515/9783110458213-008
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Abb. 1: Das Caesars Palace Hotel and Casino in seiner ursprünglichen Anlage, ca. 1966 (aus: Venturi, Scott Brown u. Izenour (1972): Robert Venturi, Denise Scott Brown und Steven Izenour, Learning from Las Vegas, Cambridge, Mass. und London).
leben der Antike“ zu bezeugen, das dem Bewusstsein weitgehend verborgen bleibt?2 Wer in der Architektur des Strip, der seit den frühen 1940er-Jahren gewachsenen Hauptvergnügungsmeile von Las Vegas, nach einem antiken Bildprogramm sucht, wird jedenfalls schnell fündig, und zwar in erster Linie bei der 1966 eröffneten Hotel- und Kasinoanlage Caesars Palace, die den Antikenbezug im Namen und im architektonischen Programm deutlich zur Schau trägt. (Angesichts des stilistischen Pastiche des Strip wäre freilich anzumerken, dass Vergleichbares etwa auch für die Bildsprache der Renaissance oder des Barocks gesagt werden könnte). Obschon das Caesars Palace seit seiner Eröffnung immer wieder vergrößert und verändert wurde, lässt sich die ursprüngliche Konzeption der Hotelanlage noch erahnen. Der Besucher, der, mit dem Auto vom Strip her ankommend, auf das Gelände des Caesars Palace gelangte, wurde zunächst von einer Kopie der geflügelten Nike von Samothrake empfangen. Das vierzehngeschossige Hauptgebäude war mit seiner geschwungenen Fassade von der Straße gut 40 Meter
2 Vgl. Warburg 2000.
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Abb. 2: Porte cochère, Caesars Palace, mit Kopien antiker Skulpturen, ca. 1968. Foto: Learning from Las Vegas Research Studio, R. Venturi, D. Scott Brown, S. Izenour und Studierende der Yale University, 1968 (© Venturi, Scott Brown and Associates, Inc., Philadelphia).
zurückversetzt und durch einen von zwei halbrund ausgreifenden Kolonnadenarmen gefassten und von einer Brunnenanlage besetzten Vorplatz erschlossen. In der überdachten Vorfahrt sodann, der porte cochère, fand sich in Nischen eine Serie von Kopien klassischer und Renaissance-Statuen aufgestellt. Wie im Las Vegas der 1960er-Jahre immer wesentlicher Bestandteil des architektonischen Programms war das riesige Werbezeichen am Straßenrand, das um die Aufmerksamkeit der in ihren Automobilen vorbeifahrenden Passanten buhlte. Es verband eine gewöhnliche Schrifttafel mit der Andeutung einer römischen Tempelfront, deren Gebälk- und Giebelzone von vier ionischen Säulen getragen wird. Im Innern des Baukomplexes wurde das – freilich recht frei interpretierte – antike Thema fortgesetzt. So gab es etwa die so genannte „Cleopatra’s Barge“, den Kahn der legendären Königin von Ägypten inmitten einer Miniaturversion des Mittelmeers, aber auch den so genannten Circus Maximus, einen Aufführungsraum mit 1200 Sitzplätzen und eigenem Restaurant. Dass sich dessen Architektur nicht am antiken Vorbild gleichen Namens, sondern an einem anderen monumentalen römischen Bauwerk inspirierte, nämlich dem Kolosseum, sei nebenbei erwähnt. Die Bedienung im zugehörigen Restaurant mit
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Abb. 3: Ceasars Palace, Las Vegas, 1966. Werbezeichen mit ionischen Säulen und römischer Tempelfront, im Vordergrund eine Kopie des Raubs der Sabinerinnen von Giambologna. Foto: Deborah Marum (Courtesy Venturi, Scott Brown and Associates, Inc., Philadelphia).
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dem sinnigen Namen „Bacchanal“ war – je nach Geschlecht – in kurzer Tunika oder als Satyr mit Weinblattkränzen verkleidet. Was die architektonische Ausstattung betrifft, scheute Jay Sarno, der Besitzer des Caesars Palace, keinen Aufwand, um den „Realitätseffekt“ der Anlage durch den Import großer Mengen von Marmor und Granit aus Italien zu steigern.3 Trotz für den eingeweihten Betrachter offenkundiger Konzeptionsfehler ging es offenbar darum, ein möglichst glaubhaftes „Abbild“ der Antike – beziehungsweise wohl genauer: einer Reise in das Rom der Vergangenheit – zu entwerfen. Alan Hess hat darauf hingewiesen, dass die für die Gesamtanlage des Caesars Palace typische Verbindung von Außen- und Innenräumen an die räumliche Organisation der Hadriansvilla bei Tivoli denken lässt. Die antike Anlage stellte ihrerseits ein Konglomerat an bildhaften Architekturen dar, dessen einzelne Räume und Gärten jeweils thematisch einer spezifischen Region des römischen Weltreiches gewidmet waren.4 Wenn das Caesars Palace der erste konsequente Versuch war, die Themenarchitektur am Strip von Las Vegas zu installieren, so gab es dafür in der antiken Architektur also gewisse Vorläufer. Seinen eindeutigen Referenzen auf die römische Kaiserzeit zum Trotz wird das Caesars Palace in mindestens ebenso großem Maße von Anleihen aus dem Barock geprägt und ist von dessen Formensprache kontaminiert. So erinnern die ausgreifenden halbrunden Arme des Vorbaus an Lorenzo Berninis Kolonnaden auf dem Petersplatz. Dieser Versuch einer Platzgestaltung nach barockem Vorbild stellt für das Las Vegas der 1960er-Jahre ein städtebauliches Novum dar, hatte doch bis dahin der Typus des unscheinbaren Motels die Szene dominiert, der sich zwar auch durch vom Straßenrand zurückversetzte Bauten auszeichnete, in der Zone zwischen der Straße und der eigentlichen Hotelanlage aber in der Regel lediglich über eine groß dimensioniert Parkfläche verfügte, um spielwillige Automobilisten anzulocken. Diese Zweckplanung wurde nun beim Caesars Palace zugunsten einer repräsentativen Geste im Sinne des barocken Städtebaus aufgegeben. Die monumentale Brunnenanlage, die das Hauptaugenmerk dieser Gestaltung bildet, erinnert in Verbindung mit dem Skulpturenprogramm an die Ville d’Este und andere Sommervillen barocker Kardinäle in Tivoli – oder abermals der Villa Adriana. Während somit in der architektonischen Formensprache die Zeit gegenreformatorischer Prachtentfaltung im barocken Rom anklingt, wird das Skulpturenprogramm des Caesars Palace dem programmatischen Anspruch auf die Evokation antiker Bildwelten eher gerecht. Zum einen finden sich hier Repliken so berühmter griechischer und römischer Plastiken wie der bereits erwähnten Nike von
3 Vgl. Moehring 2000, 119. 4 Hess 1993, 87.
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Samothrake, des Apollos von Belvedere oder der Venus von Milo. Dieses Skulpturenprogramm gehörte zum ikonografischen Grundstock des Caesars Palace und wurde mit einer eigens angefertigten Broschüre beworben, in der durchaus auch ein didaktischer Anspruch zum Ausdruck kommt: Offenkundig sollte den Besuchern des Hotel-Kasinos neben dem Vergnügen auch ein wenig bildungsbürgerliches Wissen vermittelt werden – oder die Illusion aristokratischen Kunstgenusses. Es ist das Bild einer klassizistisch geläuterten, der Wahrnehmung Winckelmanns verpflichteten weißen Antike, das in diesem Bildprogramm kultiviert wird. Und zwar, in Ermangelung der antiken „Originale“, anhand exakter, für den unbedarften Besucher vermutlich gar täuschend echter Kopien. Neben dem antikisierenden Bildprogramm findet sich auf dem Gelände des Caesars Palace eine weitere Gruppe von Plastiken, die die Ikonografie der römisch-antiken Stadt evoziert. Die Rede ist von den Söldnern und Vestalinnen, die damit betraut sind, die riesige Parkfläche der Hotel-Casino-Anlage symbolisch zu bewachen. Ein Vergleich mit den weißen Marmorskulpturen bei der überdeckten Einfahrt zeigt in Materialität und Farbe ein ganz anderes Bild. Anstelle der steinernen Nüchternheit herrscht eine geradezu frivole Farbigkeit, und statt des Marmors sehen wir eine Pappmaché-artige Oberfläche (in Tat und Wahrheit handelt es sich um Fiberglas), die ihre billige Materialität in keiner Weise verbergen will. Das produktionsästhetische Leitmotiv heißt Bricolage und nicht Formvollendung. Bei diesen Söldnern handelt es sich um lebensgroße Nachbildungen von Spielzeugfiguren, die die Entwerfer des großen Reklamezeichens des Caesars Palace, Jack Larsen und Kermit Wayne, in einem Groschenladen zufällig entdeckt hatten und in Form von riesenhaft vergrößerten Blow-ups in ihren Entwurf integrierten.5 Materialität und Farbe, aber auch die Technik der Vergrößerung rufen jene in leuchtenden Farben bemalten Objekte aus Gips und Musselin in Erinnerung, die der amerikanische Pop-Künstler Claes Oldenburg etwa zeitgleich mit dem Bau des Caesars Palace zu Beginn der 1960er-Jahre in seinem Laden qua Atelier, dem so genannten „Store“ bzw. der Ray Gun Manufacturing Co., im New Yorker East Village schuf. Diese merkwürdige Koinzidenz fiel bereits Robert Venturi, Denise Scott Brown und Steven Izenour auf, als sie 1968 gemeinsam mit Studierenden der Yale University die Stadt Las Vegas zum Gegenstand einer städtebaulichen Untersuchung machten, die weitreichende Konsequenzen für den postmodernen Architekturdiskurs zeitigte. In ihrer Publikation, die
5 Hess 1993, 87.
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Abb. 4: „Statuary at Caesars Palace“, Detail aus der Werbebroschüre des Caesars Palace zum Skulpturenschmuck der Anlage, ca. 1966 (aus: Venturi, Scott Brown u. Izenour (1972): Robert Venturi, Denise Scott Brown und Steven Izenour, Learning from Las Vegas, Cambridge, Mass. und London).
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Abb. 5: Parkplatz mit römischem Legionär, Caesars Palace, 1966. Foto: Denise Scott Brown (© Venturi, Scott Brown and Associates, Inc., Philadelphia).
1972 unter dem Namen Learning from Las Vegas auf die wissenschaftlichen Recherchen vor Ort folgte, schrieben sie dazu: „[The Caesars Palace sign’s] base is enriched by Roman centurions, lacquered like Oldenburg hamburgers, who peer over the acres of cars and across their desert empire to the mountains beyond.“ 6 Es ist offenkundig, wie sehr das Interesse des Künstlers Oldenburg mit jenem der Architekten Venturi und Scott Brown an der Bildwelt der amerikanischen Populärkultur und deren Auswirkungen auf Architektur und Stadtbild der Gegenwart konvergierten. Während etwa Oldenburg seine Hamburger-Plastiken zu riesigen, beinahe architektonischen Objekten aufblies oder – wenigstens in Papierform – direkt auf architektonische bzw. städtebauliche Kontroversen der 1960er-Jahre Bezug nahm, waren Venturi und Scott Brown von der „programmatischen Alltagsarchitektur“ 7 Amerikas fasziniert, von den – von ihnen – so genannten „Enten“, 6 Venturi/Scott Brown/Izenour 1972, 51. Vgl. dazu Smith 2009, 103 f. 7 Die Bezeichnung „programatic architecture“ für solche Formen populärer Architektur am Straßenrand Amerikas stammt vom kalifornischen Architekturhistoriker David Gebhard, vgl. Gebhard 1980.
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Abb. 6: Claes Oldenburg, Two Cheesburgers, with Everything (Dual Hamburgers), 1962.
deren äußere Form direkt und bildhaft ihre Zweckbestimmung zur Darstellung bringt und die mitunter selbst die Gestalt eines Hamburgers annehmen konnten. Sowohl für die Pop Art als auch für die architektonische Populärkultur stellte das Prinzip der Appropriation eines Objekts aus der alltäglichen Bildwelt Amerikas bei gleichzeitiger Vergrößerung eine bevorzugte Arbeitsmethode dar. Nicht zufällig hatte Andy Warhol in den frühen 1960er-Jahren auf einer Autoreise quer durch die Vereinigten Staaten bemerkt: „The farther west we drove, the more Pop everything looked on the highways. Suddenly we all felt like insiders because even though Pop was everywhere […] to us, it was the new Art. Once you ‹got› Pop, you could never see a sign the same way again. And once you thought Pop, you could never see America the same way again.“ 8 Dieser Auffassung nach hatte die amerikanische „Roadtown“ gewissermaßen unbewusst eine Pop-Ästhetik entwickelt, in der sich die gesellschaftlichen und kulturellen Werte der Konsumkultur der Nachkriegszeit emblematisch manifestierten.9 Die Technik der Anleihe bei gleichzeitiger Verfremdung avancierte zu einer für die postmoderne (Bild-) Poetik zentralen künstlerischen Arbeitsmethode. Dieser Zusammenhang erklärt, weshalb Las Vegas und sein Umgang mit historischen – nicht zuletzt antiken – Klischees immer wieder als paradigmatisch für die Postmoderne beschrieben worden sind.
8 Warhol/Hackett 1980, 39 f. 9 Einen wesentlichen Anstoß erfuhr diese These überdies durch die Schriften Tom Wolfes zur Populärkultur der 1960er-Jahre und nicht zuletzt zum Phänomen Las Vegas, vgl. Wolfe 1965.
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Abb. 7: Fast-Food-Restaurant in Form eines Hamburgers. Foto: Learning from Las Vegas Research Studio, R. Venturi, D. Scott Brown, S. Izenour und Studierende der Yale University, 1968 (© Venturi, Scott Brown and Associates, Inc., Philadelphia).
Die Söldner des Caesars Palace verfügen demnach über eine doppelte Genealogie: Verweisen sie in Ikonografie und Bildprogramm auf die römische Antike, so sind sie in Materialität, Farbigkeit und Referenzbezug von der zeitgenössischen Pop Art inspiriert. Angesichts dieser Hybridkoppelung stellt sich die Frage, inwieweit der Bezug auf antike Bildwelten als unvermittelter Verweis auf die römische Kaiserzeit zu verstehen ist. Zweifelsohne handelt es sich beim „Zielpublikum“ des Caesars Palace ja nicht in erster Linie um Archäologen und Altertumswissenschaftler, sondern um eine breite Bevölkerungsschicht, die sich für die Antike in erster Linie als Kulisse und als Spektakel interessiert. Daher ist es dem Bildprogramm des Caesars Palace nicht primär um akribische Genauigkeit oder gar historisch verbürgte Faktizität zu tun (obschon ein solches Bemühen in den „weißen“ Skulpturen immerhin zu erkennen ist), sondern vielmehr um den Wiedererkennungseffekt; um jenes Déjà-vu also, das seit den literarischen Reiseberichten eines Lord Byron den touristischen Blick maßgeblich kennzeichnet und dem auch die Souvenirpostkarte maßgeblich ihre kulturelle Relevanz im Zeichen des Massentourismus verdankt. Das vielfach reproduzierte Bild wird für die Wahrnehmung wichtiger als das dargestell-
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Abb. 8: Antike im Film: Das Forum Romanum in The Fall of the Roman Empire (USA 1964) (aus: Lochman, Späth u. Stähli (2008): Tomas Lochman, Thomas Späth und Adrian Stähli (Hg.), Antike im Film. Auf dem Weg zu einer Kulturgeschichte des Antikenfilms, Basel, S. 111).
te Objekt selbst.10 Die direkte Referenz der römischen Soldaten liegt denn auch weniger in der Antike als vielmehr in jenem Bild Roms, das die großen Hollywood-Sandalenepen der 1950er und 60er-Jahre auf der Leinwand präsentierten.11 Was diese Figuren zu sehen geben, ist keine direkte Repräsentation der Antike, sondern deren durch Film und Fernsehen vermitteltes Bild, eine Reprä-
10 Zum Déjà-vu als Thema des literarischen Reiseberichts vgl. Franci/Zigani 2005, 45. Zur Zirkulation von Bildern anhand von Postkarten im Zeichen des Massentourismus vgl. Crang 1996 sowie Marjanović 2005, 208. 11 Aus kulturkritischer Perspektive liest sich diese Beobachtung folgendermaßen: „Las Vegas chooses to demolish the very ‚History‘ it superficially evokes in the patchwork architecture it calls upon to endorse the reliability of the show it puts on: its Caesar and Cleopatra looking more like well-known American film stars of the 1950s than ancient statuary, its dreadful pastiche of classical columns mixing the three Greek styles at random, and its improbable Roman soldiers, once again reminiscent of ingenuous Hollywood epics.“ Dezzi Bardeschi 2003, 120.
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sentation „auf zweiter Stufe“.12 Thesenartig ließe sich formulieren: Gerade diese bewusste Bezugnahme auf die mediale Verfasstheit der Moderne trug entscheidend zum großen populären Erfolg von Las Vegas bei.13
Architektur und Bild. Überlegungen zur Themenarchitektur Vom zwar barock kontaminierten, aber doch antik inspirierten Bildprogramm des Caesars Palace abgesehen, nimmt die Hotelanlage in der Architekturgeschichte von Las Vegas einen besonderen Platz ein. Das Caesars Palace wird gemeinhin mit dem Aufkommen der so genannten „Themenarchitektur“ in Verbindung gebracht und damit mit einer fundamentalen Zäsur in der lokalen Baugeschichte, die freilich weit über den Dunstkreis von Las Vegas hinaus Wirkung entfaltete. Erste Versuche, mittels eines übergeordneten Themas künstliche Fantasiewelten zu schaffen, in die die Besucher eintauchen konnten, hatte es in Las Vegas zwar bereits wesentlich früher gegeben.14 Schon das Hotel El Rancho aus dem Jahr 1941 – das erste überhaupt, das am Strip gebaut wurde – rief mit seiner Windmühle ein architektonisches, für ein Hotel-Kasino jedoch eigentlich sachfremdes Thema auf. Weitere Hotels orientierten sich an dieser Vorgabe, darunter etwa das Sahara, das Dunes oder das Sands. Diese Anlagen aber bezogen sich thematisch auf die spezifische topografische Lage von Las Vegas in der Wüste und stellten somit inhaltlich eine Verbindung zu ihrem Kontext her. Mit dem Caesars Palace wurde dagegen erstmals eine künstliche Welt geschaffen, in der sämtliche Details auf ein übergeordnetes Thema hin ausgerichtet waren, um die Besucher gleichsam im Sinne einer „Immersion“ darin gefangen zu nehmen. Auch ging es beim Caesars Palace erstmals nicht mehr darum, einen Bezug zur realen topografischen oder kulturellen Situation von Las Vegas im engeren Sinne herzustellen, sondern vielmehr, eine exotische und fremde, räumlich und zeitlich entfernte Welt zu evozieren.15 Von nun waren die Bildwelten der Hotels am Strip nicht mehr an ihren spezifischen Ort in Raum und Zeit gebunden, sondern verwiesen zusehends auf imaginierte Welten der Erinnerung und der Vorstellung. Es ist kaum ein Zufall, dass das
12 Vgl. Genette 1993. 13 Zur Medialität der modernen Architektur vgl. exemplarisch Colomina 1994. 14 Zur Architekturgeschichte von Las Vegas und zu den folgenden Ausführungen vgl. insbesondere Hess 1993. 15 Vgl. Hess 1993, 88.
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„Theming“ oder „Imagineering“ in Las Vegas anhand der antiken Architektur seinen Ausgang nahm. Das Imperium Romanum – auch in den bereits erwähnten filmischen Historienepen mit ihren Gladiatoren, Pferderennen und prächtigen Kaiserpalästen – scheint dem amerikanischen Publikum zum Zeitpunkt der größten wirtschaftlichen Machtentfaltung der USA im Zeichen der Konsumkultur der 1960er-Jahre als kulturelle Bezugsgröße besonders stark ins Bewusstsein gedrängt zu sein. Caesars Palace stand gewissermaßen am Anfang dessen, was als „szenografische Architektur“ bekannt geworden ist und den architekturtheoretischen Diskurs über die Stadt in den letzten Jahren entscheidend geprägt hat: Die Verwandlung des Stadtbilds in eine Serie von (begehbaren) Bühnenbildern, auf denen so unterschiedliche Vorstellungen wie eine Fahrt über Venedigs Canal Grande, ein Bummel über die Boulevards von Paris oder eben ein Ausflug in das antike Rom gegeben werden. Der Bezug zur Bühne und der Welt des Theaters ist offenkundig.16 Im Zeichen der angestrebten Immersion des Zuschauers in die Szenerie sind Bühnen- und Zuschauerraum zusehends verschmolzen, wird der Betrachter selbst zum Akteur, indem er das Bühnenbild als handelnde Figur betritt. Der Aspekt der Simulation beziehungsweise der Verdoppelung der Wirklichkeit in einem gebauten Bild hat immer wieder einen kritischen Diskurs befruchtet. Im Zentrum dieser Auseinandersetzung steht das Problem der Repräsentation und damit eine grundlegend bildtheoretische Fragestellung. Zentrale Kategorien dieses Diskurses sind die Begriffe wie „echt“ und „falsch“, Authentizität und Künstlichkeit. Die wichtigsten Argumente sollen anhand der bildtheoretischen Positionen von Umberto Eco und Jean Baudrillard kurz umrissen und kritisch kommentiert werden.17 Umberto Eco hat sich – seiner Auffassung nach: uramerikanischen – Phänomenen wie Disneyland, dem Hearst Castle, den „Cloisters“ des Metropolitan Museum of Art in New York oder der Stadt Las Vegas in einem längeren Aufsatz angenommen, der unter dem bezeichnenden Titel „Travels in Hyperreality“ erschienen ist.18 Eco charakterisiert die Vereinigten Staaten (keineswegs als Erster) als ein Land, das von Realismus und Imitation gleichermaßen besessen sei, weil es im Wesentlichen einer eigenen Kulturgeschichte ermangle. Die Ideologie Amerikas bestehe darin, „to establish reassurance through imitation“, sich also durch Nachahmung der eigenen kulturellen Identität zu versichern (wobei nicht weiter ausgeführt wird, wie dieser Mechanismus – angeb-
16 Die Analogie von Stadt und Theater ist ein Topos nicht erst der modernen Architekturtheorie, vgl. exemplarisch Tafuri 1977. 17 Die folgenden Überlegungen wurden entscheidend angeregt durch Ramirez 2001. 18 Vgl. Eco 1986.
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lich – funktioniert).19 Aus der Sicht des italienischen Semiotikers findet in den angesprochenen Phänomenen eine Verwechslung des Realen mit dem Künstlichen, des Echten mit dem Falschen statt. So spricht Eco über eine Kopie des Oval Office in der Gedenkstätte des ehemaligen US-Präsidenten Lyndon B. Johnson auf dem Gelände der University of Texas in Austin: To speak of things one wants to connote as real, these things must seem real. The ‘completely real’ becomes identified with the ‘completely fake’. Absolute unreality is offered as real presence. The aim of the reconstructed Oval Office is to supply a ‘sign’ that will then be forgotten as such: The sign aims to be the thing […] Its double, in other words.20
Zeichentheoretisch gesprochen, findet also gemäß Eco eine Ersetzung des „Bezeichneten“ (des signifié) durch das „Bezeichnende“ (das signifiant) statt, eine Überblendung und Auslöschung des „Realen“ durch seine zeichenhafte Repräsentation. Obschon Eco Las Vegas zwar zugute hält, eine „reale“, „wirkliche“ Stadt zu sein,21 lassen sich seine Ausführungen zur Replik des Oval Office auch etwa auf die artifizielle Antike des Caesars Palace übertragen. Seinen Ausführungen nach zu schließen, beruht die spezifische amerikanische Faszination für solche Szenografien letztlich auf dem Unvermögen oder dem Unwillen, zwischen „echt“ und „falsch“ zu unterscheiden. Aus der Sicht Baudrillards beruhen künstliche Welten, Simulakren und Simulationen nicht wie bei Eco auf einem kulturellen Manko, sondern auf einem irreversiblen historischen Prozess, der in der Postmoderne ein vorläufiges Ende gefunden habe.22 Demnach sei die „Realität“ von einst zusehends und vollständig durch Imitationen ihrer selbst ersetzt worden. Grundlegend für Baudrillards Bildtheorie ist die Unterscheidung zwischen Repräsentation und Simulation: Während erstere eine aus seiner Sicht statthafte Form der kulturellen Kodifizierung darstellt, erachtet er Simulationen aus denselben Gründen wie Eco für problematisch, weil sie keine Unterscheidung zwischen „echt“ und „falsch“ mehr erlaubten. Demgegenüber hat Gianni Vattimo in seiner Studie Das Ende der Moderne darauf hingewiesen, dass solche apokalyptischen Bildtheorien – er hat explizit Deleuze im Auge – einem merkwürdigen „Pathos der Eigentlichkeit“ 23 beziehungsweise der Authentizität unterlägen, einer Fetischisierung des vermeintlich „Echten“. „Die Schwäche dieser Position“, so Vattimo, „liegt nicht nur in der Illusion […], daß man zu den Ursprüngen zu-
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Eco 1986, 57. Eco 1986, 7. Eco 1986, 40. Vgl. Baudrillard 1981. Vattimo 1990, 27.
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rückkehren könnte, sondern vor allem, was schwerwiegender ist, in der Überzeugung, daß vom Sein her dasjenige nicht entstehen könnte, was tatsächlich entstanden ist.“ 24 Vattimos Position bringt eine Grundfigur postmodernen Denkens zum Ausdruck: Dass eine Rückkehr zu den Ursprüngen unmöglich und sinnlos ist, weil sie gar nie existiert haben, sondern selbst (bildhafte) Projektionen sind. Die Unvermeidlichkeit der – variierenden – Wiederholung (und des Wiederholten) beschreibt Jacques Derrida in seinen Randgängen der Philosophie als Prinzip der Iterabilität: „Iterabilität [ist] ein strukturelles Merkmal jedes Zeichens.“ 25 Angesichts der Rede vom Wahren und Eigentlichen beziehungsweise vom Falschen und Künstlichen erscheint es geboten, zwischen solchen Phänomenen wie dem Hearst Castle, dem geschichtstrunkenen Anwesen des Medienmoguln William Randolph Hearst an der kalifornischen Pazifikküste, einerseits und der Wiederkehr der Antike im Caesars Palace andrerseits zu unterscheiden. Während das Hearst Castle ein durchaus stimmiges Ensemble aus in halb Europa zusammengekauften Versatzstücken der abendländischen Kulturgeschichte sowie „frei“ ergänzten neuen Elementen der Architektin Julia Morgan besteht, also zumindest in Teilen aus „wirklichen“ Spolien, ist am Caesars Palace alles Nachbildung, Kopie, Imitation. Kann beim Hearst Castle tatsächlich von der von Eco ins Feld geführten kulturellen Rückversicherung die Rede sein, so erweist sich der Strip von Las Vegas mit seinen zu einer schillernden Perlenkette aufgereihten, begehbaren Bildwelten nicht als Ausdruck eines Kults des Authentischen, sondern entspringt im Gegenteil einer Lust am Artifiziellen. Statt um eine Substitution des „Echten“ durch das „Falsche“ geht es in Las Vegas vielmehr um ein bewusstes Spiel mit dem Künstlichen, oder, anders gesagt, um bewusste, absichtliche „Fehler“ der Repräsentation. Diese „Unschärfe“ der Darstellung wird dadurch unterstützt, das beim Caesars Palace nicht so sehr die antike Architektur und Skulptur selbst Pate gestanden haben als vielmehr deren massenmediale (filmische) Repräsentationen. Nicht Authentizität ist das Ziel, sondern die offene Zurschaustellung und Zelebrierung von Fiktionalität. Anstatt eine bereits existierende „Wirklichkeit“ (zum Beispiel die Antike) darzustellen, präsentieren und produzieren das Caesars Palace – und Las Vegas als ganzes – ihre eigenen Realitäten.
24 Vattimo 1990, 9. Und an anderer Stelle: „Wenn einmal der Fabelcharakter der wahren Welt erkannt worden ist, dann wird der Fabel die alte metaphysische Würde (die ‚Glorie‘) der wahren Welt zugeschrieben.“ Vattimo 1990, 30. 25 Derrida 1999, 343.
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Abb. 9: Sog. Neputune Pool, Hearst Castle, San Simeon, California, 1920er-Jahre. Architektin: Julia Morgan.
Die konträren Sichtweisen auf das Phänomen Las Vegas lassen sich unter Bezug auf den Mimesis-Begriff ihrerseits in einen größeren geistesgeschichtlichen Zusammenhang stellen, der bis in die Antike zurückreicht. Während Platon in seiner berühmten Dichterkritik im zehnten Buch seiner Politeia die künstlerische Mimesis als bloße Nachahmung einer Nachahmung, also ein Abbild dritten Ranges brandmarkt, lässt sich der aristotelische Mimesis-Begriff nicht auf die bloße Nachahmung der Wirklichkeit reduzieren, sondern schließt die Möglichkeit künstlerischer Fantasie und Gestaltungsfreiheit mit ein. Mimesis ist in diesem aristotelischen Sinne also nicht einfach Reproduktion, sondern kreative Transformation eines Urbildes.26 Rezeptionsästhetisch gesprochen geht es beim Antikenbild des Caesars Palace nicht um eine Täuschung des Betrachters oder gar eine Substitution des Authentischen durch das Künstliche. Vielmehr funktioniert diese artifizielle Bildwelt aufgrund eines bewussten Sicheinlassens des Betrachters, gerade weil ihm der höchst artifizielle Charakter des ge-
26 Vgl. dazu Ritter/Gründer 1980, 1398 sowie Ueding 2001, 1235.
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botenen Schauspiels vollkommen bewusst ist. Literatur- und Filmtheorie sprechen bei diesem Mechanismus von einer „suspension of disbelief“, die auch in der szenografischen Architektur von Las Vegas am Werke zu sein scheint.
Der Strip als Prozessionsweg Die Antike scheint in Las Vegas noch in einem weiteren Zusammenhang präsent, der über die bildhaft-szenografische Architektur hinausgeht, und zwar in der spezifischen stadträumlichen Struktur des Strip. Dieser Aspekt wird in der bereits erwähnten städtebaulichen Studie Learning from Las Vegas von Venturi, Scott Brown und Izenour wenigstens implizit verhandelt. Neben einer fotografischen und filmischen Bestandsaufnahme des urbanen Status quo27 stützen sich die Autoren der Studie auf das Medium der Kartografie, um ein Bild der von ihnen untersuchten urbanen Struktur zu gewinnen. Unter den zahlreichen kartografischen Darstellungen des Strip, die vom „Learning from Las Vegas Research Studio“ angefertigt wurden, befindet sich eine schematische Darstellung, die den Straßenzug mit seinem charakteristischen Knick als „zeremoniellen Raum“ darstellt. Der städtische Raum wird hier als eine raum-zeitliche Größe aufgefasst, die durch Bewegung erschlossen werden muss. Architektur, so die implizierte Aussage, ist in einen urbanen Kontext und einen Handlungszusammenhang eingebunden und formal wie funktional erst dadurch zu verstehen. Am konkreten Beispiel des Strip von Las Vegas besteht diese Handlung in der (wörtlich zu verstehenden) „Er-fahrung“ der Straße, die sich dem automobilisierten Betrachter als eine Sequenz von Bildern erschließt. Die prozessuale Ordnung dieser Straße ist zugleich ein prozessionale: Analog zu einem Prozessionsweg reihen sich die Hotels am Strip als einzelne Stationen auf einem solchen Weg auf. Im Zeichen der Konsumkultur sind die Heiligtümer der Pilgerfahrten gleichsam durch die Casinos ersetzt, den sekulären Weihestätten des Kapitalismus, in denen Erlösung statt durch Seelenheil nunmehr durch irdischen Reichtum versprochen wird.28 Die räumliche Ordnung des Strip erweist sich als architektonische Ausformung eines Rituals der Konsumkultur, das sich in die städtische Topografie eingeschrieben hat.
27 Vgl. dazu Stadler/Stierli, 2008. 28 „If Nolli marked the pilgrim’s way through Rome, then ours showed the tourist’s way along the Strip – a processional punctuated by casinos.“ Scott Brown 2007, 85. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Taylor 2008.
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Abb. 10: Der Strip von Las Vegas als zeremonieller Raum. Kartografische Darstellung: Learning from Las Vegas Reserach Studio, R. Venturi, D. Scott Brown, S. Izenour und Studierende der Yale University, 1968 (© Venturi, Scott Brown and Associates, Inc., Philadelphia).
In dieser Verortung einer urbanistischen Ordnung in einem zeremoniellen Handlungsrahmen zeigt sich eine Parallele zu antiken Städtebautheorien, in denen rituelle Handlungen die topologische Gestaltung des städtischen Raumes maßgeblich bestimmen.29 Das haben Archäologie und Architekturgeschichte von Auguste Choisy im 19. Jahrhundert bis hin zu Konstantinos Doxiadis’ Studie Raumordnung im griechischen Städtebau aus dem Jahr 1937 wiederholt beispielsweise für die Akropolis von Athen gezeigt.30 Choisy etwa hat an diesem Beispiel seine „pittoreske“ Theorie des antiken Städtebaus entwickelt, die auf der Annahme beruht, dass der Stadtraum in Bezug auf einen sich bewegenden Betrachter und dessen Perspektive organisiert sei. Sigfried Giedion wiederum hat hinsichtlich der räumlichen Organisation der Akropolis auf die besondere Bedeutung der nur alle vier Jahre stattfindenden Panathenäen-Prozession hingewiesen, einen religiösen Höhepunkt im al-
29 Vgl. dazu exemplarisch Gerding 2006. Der Autor argumentiert, dass das Erechtheion im Verhältnis zu seinem Vorgängerbau auf der Akropolis von Athen an unterschiedlicher Stelle wiederaufgebaut worden sei, um Raum für die panathenäische Prozession zu schaffen. 30 Vgl. Choisy o. J. [1899], 409–422 („Le pittoresque dans l’art grec: Partis dissymeétriques, pondération des masses“); Doxiadis 1937.
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Abb. 11: Doppelseite aus Auguste Choisys Histoire de l’architecture zum pittoresken Städtebau der Griechen am Beispiel der Akropolis, 1899.
ten Athen.31 In seinem Band Der Beginn der Architektur ist darüber hinaus in Bezug auf die ägyptische Architektur von der „alles durchdringenden Idee der Wanderung in Form von rituellen Prozessionen“ die Rede.32 Dasselbe Organisationsprinzip sah er auch in der griechischen Polis am Werk. Während Giedion in dieser prozessualen räumlichen Ordnung der antiken Stadt gleichsam den Beginn der Architektur zu erkennen glaubte, griffen auch namhafte Vertreter der Avantgarde Choisys Interpretation der griechischen Stadt auf, der zufolge die räumliche Struktur der Akropolis als eine „pittoreske“ Ordnung zu begreifen sei, die den Standpunkt eines sich fortbewegenden Betrachters berücksichtige. Demzufolge präsentierte sich die Akropolis als eine Folge von Bildern, die sich dem Betrachter bei zunehmender Annäherung an die Tempelbauten und Heiligtümer stationenweise offenbarten und dabei von einer komplexen Blickregie geführt sind.33 Richard Etlin hat aufgezeigt, wie sehr
31 Vgl. Giedion 1964/65, 276. 32 Vgl. Giedion 1964/65, 274. 33 Vgl. Choisy o. J. [1899], 409–422.
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Le Corbusiers Konzept der „promenade architecturale“, aber auch die räumliche Organisation seiner weißen Villen der 1920er-Jahre von dieser prozessualen Interpretation der Akropolis von Athen bei Choisy inspiriert sind.34 Demnach stelle sich die „promenade architecturale“ analog zur panathenäischen Prozession als eine Art „ritualisierte Zeremonie des Maschinenzeitalters“ dar.35 Mit Sergej Eisenstein befasste sich auch ein wichtiger Vertreter der filmischen Avantgarde eingehend mit Choisys Interpretation der Akropolis.36 Dessen Ausführungen zum pittoresken Städtebau der Griechen stehen im Zentrum des posthum veröffentlichten Essays „Montage und Architektur“. Für Eisenstein von besonderem Interesse ist die Idee einer räumlichen Ordnung, die temporal-sequenziell erschlossen wird. Er geht soweit, dieses Organisationsprinzip mit der Repräsentation der zwölf Stationen des Kreuzwegs in christlichen Kirchen in Beziehung zu setzen.37 Spielten antike Stadttheorien beziehungsweise deren wissenschaftliche Rezeption im 19. Jahrhunderts also eine prägende Rolle für den Städtebau-Diskurs der Avantgarde, so überrascht es wenig, dass Venturi und Scott Brown diese Thesen für die Analyse des Strip von Las Vegas aufgriffen.38 Fast gleichzeitig wie sie machte ihr Berufskollege Philip Johnson auf den „prozessionalen“ Charakter der Architektur aufmerksam. In einem Beitrag zum „prozessionalen Element in der Architektur“ aus dem Jahr 1966 schrieb er programmatisch: „Architecture is surely not the design of space, certainly not the massing or organizing of volumes. These are auxiliary to the main point which is the organization of procession. Architectu-
34 Vgl. Etlin 1987, 264–278. 35 “Le Corbusier appears to have cast […] the ritualized « machine-age ceremony » of the architectural promenade as an analogue to the most important civic and religious festival in ancient Athens, the Panathenaia. The drive from Paris and back […] substitutes for the Panathenaic procession that ascended on foot and in chariots from the main entrance of the city to the Acropolis.” Etlin 1994, 198. 36 Vgl. Eisenstein 1989. 37 Vgl. Eisenstein 1989, 121. 38 Dies umso mehr, als sich auch Rex Martienssen, Architekturprofessor an der Witwatersrand University in Johannesburg, wo Scott Brown zu Beginn der 1950er-Jahre studiert hatte, eingehend mit der Raumauffassung der Griechen befasst und 1956 eine entsprechende Studie publiziert hatte, vgl. Martienssen 1964. Darin schrieb er von der Idee eines „generous processional way“, die sich in Griechenland und seinen Kolonien durchgesetzt habe: „In very early times, whether under the influence of Babylon or not, the idea of a generous processional ways seems to have been established in Greece and her colonies. References are made by ancient writers to paved roads for religious processions, and although these latter would not approach in volume the ‘spectacles’ of the great Hellenistic cities with their vast watching crowds, they indicate a growth of civic consciousness that called for a corresponding architectural expression.” Martienssen 1964, 19. Vgl. dazu auch von Moos 1999, 41.
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re exists only in time.“ 39 Auch Johnson bezog sich explizit auf Choisy und dessen Analyse der Akropolis von Athen, um den temporalen Aspekt von Architektur und Städtebau zu betonen. Die Schlussfolgerung liegt nahe, dass die Theorie der antiken Stadt, vermittelt durch die wissenschaftliche Archäologie des 19. Jahrhunderts, die modernen Stadtkonzeptionen wenngleich unterschwellig, so doch in entscheidendem Maße prägte. Es erstaunt aus diesem Grund wenig, dass Venturi und Scott Brown im Strip von Las Vegas eine unbewusst gewachsene Realisierung solcher antiker Theorien für das Zeitalter der auto-orientierten Konsumkultur der Nachkriegszeit erblickten und damit letztlich ein Zeugnis für das Nachleben der Antike. Die postmoderne Stadt scheint mehr mit der Antike zu tun zu haben als die bloße oberflächliche Anleihe an antikisierenden Bildprogrammen. Die Organsationsstruktur der griechischen Polis hat einen Wiedergänger in dem, was man als „performativen“ Städtebau bezeichnen könnte: Die postmoderne Stadt ist eine Aufführung der Idee der antiken Stadt.
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39 Johnson 1965, 168. Johnsons Beitrag polemisiert aus diesem Grund gegen Architekturfotografie, weil diese Architektur auf zwei oder drei Dimensionen “einfriere”.
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Vittorio Magnago Lampugnani
Stadt als Projekt, oder: Die Modernität der Antike Ende des Jahres 2000 entschied die Geschäftsleitung des Pharmakonzerns Novartis AG, eines seiner Areale in Basel, jenes von St. Johann, grundlegend baulich umzustrukturieren. Von einem Produktionsstandort sollte es sich in ein Forschungs- und Verwaltungszentrum, in einen Ort der Innovation, des Wissens und der Begegnung verwandeln. Dieser funktionalen Umwidmung sollte auch städtebaulich, architektonisch und atmosphärisch Rechnung getragen werden. Die Aufgabenstellung bestand darin, die zukünftige Entwicklung des Areals zu systematisieren, zu rationalisieren und in nachvollziehbare städtebauliche Bahnen zu lenken. Die neuen baulichen Maßnahmen, welche die Umstrukturierung und Expansion des Konzerns erforderte, sollten untereinander koordiniert werden. Fehlplanungen, die aus mangelnden Abstimmungen und unzureichender Nutzungsflexibilität entstanden waren, sollten ebenso vermieden werden wie teure Provisorien. Dadurch sollte nicht zuletzt eine größere Wirtschaftlichkeit der Baumaßnahmen gewährleistet werden. Für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Novartis, aber auch für die Besucher sollte ein hochmodernes, funktionales und zugleich schönes, freundliches Umfeld für intensive Arbeit und Kommunikation entstehen. Sowohl die Wurzeln als auch die Ambitionen des internationalen Unternehmens sollten architektonisch zum Ausdruck gebracht werden. Eine neue, offene, anregende Arbeitsweise sollte räumlich nicht nur ermöglicht, sondern gefördert werden.
Die Geschichte des Areals Auf dem südlichen Teil des Areals zwischen Elsässerstraße, Voltastraße, Landesgrenze und Rhein stand vor über 2000 Jahren eine der europaweit größten keltischen Siedlungen. Nach deren Zerstörung lag das Terrain vor den Toren der Stadt Basel lange brach, bis es 1886 Sitz der Firma „Chemische Fabrik, Kern & Sandoz“ wurde, später in „Chemische Fabrik vormals Sandoz“ umbenannt und in den 1940er-Jahren wiederum als „Sandoz A.G.“ registriert. Anfang des 20. Jahrhunderts hatte sich dort ein klar organisierter Fabrikkomplex mit beeindruckenden Shedbauten in Sichtmauerwerk entwickelt. Mitte der 1920er-Jahre begann man, die niedrigen Bauten abzureißen und durch höhere zu ersetzen. 1939 wurde das schlichte und elegante Hauptverwalhttps://doi.org/10.1515/9783110458213-009
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Abb. 1: Straße im Sandoz-Werk St. Johann, Basel, 1920 (Photo Novartis International AG, Firmenarchiv).
tungsgebäude von Eckenstein & Kelterborn, Basel und Brodbeck & Bony, Liestal, eröffnet. Die folgende Entwicklung des Areals verlief weitgehend unsystematisch, sodass sich dieses in den 1980er- und 90er-Jahren als eher zufällige Addition von Bauten unterschiedlichster Nutzung, Höhe und Handschrift präsentierte.
Das Modell Zunächst schien es naheliegend, an der vorgefundenen heterogenen Bebauungsstruktur anzuknüpfen und die bestehende Unregelmäßigkeit zu thematisieren, vielleicht gar zu erhöhen. Das hätte größte Flexibilität sowohl im Umgang mit der bestehenden Bausubstanz als auch bei der Platzierung und Dimensionierung der Neubauten erlaubt, die exakt, ja geradezu maßgeschneidert, den Anfordernissen von Betrieb und Nutzung hätten angepasst werden können.
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Abb. 2: Rekonstruktionsplan der Stadt Selinunt (aus Jean Hulot und Gustave Fougères, Sélinonte. La ville, l’acropole et les temples, Paris 1910, Taf. 5).
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Abb. 3: Vittorio Magnago Lampugnani, Masterplan des Novartis Campus, Basel, Skizze, Februar 2001 (Studio di Architettura, Mailand).
Bei genauerem Nachdenken (und nach etlichen unzufriedenstellenden Versuchen) wurde entschieden, von dem arbeitssoziologischen Aspekt der Aufgabenstellung auszugehen und die Kommunikation in den Mittelpunkt des Projekts zu stellen. Das führte zum Modell der Stadt: Denn sie ist par excellence der Ort, wo Menschen gern zusammenkommen und miteinander sprechen, und damit die idealtypische architektonische Umsetzung des Postulats der sozialen Interaktion. Genauer: Es führte zum Modell der vorindustriellen Stadt. Vor dem Einbruch des Fahrverkehrs entstanden, ist ihr Maßstab ganz auf den Menschen
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Abb. 4: Modell des Novartis Campus, Basel, 2002 (Photo Novartis International AG).
(und nicht auf die Kutsche, die Straßenbahn oder das Automobil) abgestimmt. Die feine Vernetzung ihrer Straßen und Plätze schafft nicht nur kurze und direkte Verbindungen zwischen ihren verschiedenen Punkten, sondern dazwischen auch zahllose Gelegenheiten der geplanten und ungeplanten Begegnungen und damit des zwischenmenschlichen Austauschs. Die antike Planstadt, vor allem die griechische und die römische, bot sich mit ihrer einfachen, aber geschmeidigen Rasterstruktur als primäre Arbeitsreferenz an. Vom hippodamischen Städtebau-System wurde nicht nur das streng orthogonale, fein hierarchisch abgestufte Straßennetz übernommen, sondern auch die Kombination dieses Netzes mit platzartig ausgeweiteten Alleen und ebenso orthogonal geschnittenen, durch Straßen tangential erschlossenen Plätzen. Einer davon, das Forum, liegt wie sein römisches Original an der annähernd in Nord-Süd-Richtung verlaufenden Hauptachse, ist mit ihr jedoch, ebenso wie das Original, nur räumlich verbunden und als Fußgängerplatz ausgebildet, der von institutionell bedeutsamen Gebäuden gefasst wird. Überhaupt geriet, wie in der hippodamischen oder römischen Planstadt, das System von öffentlichen (und erschließenden) Räumen zum generierenden urbanen Element. Die dazwischen ausgewiesenen insulae mit ihren Bauparzellen mutierten zu Baufeldern für gewerbliche Einzelbauten.
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Auf die Nutzungsanforderungen wurde zwar eingegangen, aber in übergreifender Sicht. Nicht die einzelnen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, nicht die einzelnen Abteilungen sollten ein maßgeschneidertes architektonisches Kleid erhalten, sondern das dynamische (und sich stetig wandelnde) Unternehmen als Ganzes. Großzügigkeit und Neutralität würden dabei sowohl die erforderliche Flexibilität ermöglichen als auch das gewünschte Wohlbefinden schaffen. Es sollte eine Anlage entstehen, die auf bewährte Prinzipien der Beziehung von architektonischen Konfigurationen und menschlichem Verhalten aufbauen, diese aber in innovativer, zuvor nie dagewesener, kurz: moderner Form denken und anwenden sollte.
Der Masterplan Der Masterplan, der Mitte 2001 bewilligt und in der Folgezeit implementiert wurde, hat primär das etwa 20 Hektar große Gelände zum Gegenstand, das sich im Besitz von Novartis befindet. Er berücksichtigt jedoch auch den städtebaulichen und kulturellen Kontext der Stadt Basel. Der geplante Campus des Wissens steht im Zusammenhang mit den anderen, bestehenden oder projektierten großen Bildungs- und Kultureinrichtungen der Stadt. Der neue urbane Raum ist bewusst von der Uferpromenade entlang des Rheins herausgelöst, um diese öffentlich zu halten, zugleich aber so zum Fluss hin orientiert, dass eine starke, vielseitige Beziehung zwischen Campus und Wasser instauriert wird. Überdies wird die besondere Situation an der Grenze zwischen der Schweiz und Frankreich thematisiert und durch einen langfristigen Erweiterungsvorschlag nach Frankreich hinein die Eigenschaft von Basel als transnationale Stadt projiziert. Die neue, rigoros orthogonale Bebauungsstruktur ordnet sich in ihrer geometrischen Grundausrichtung der alten unter, welche die ursprüngliche Fabrikanlage bestimmt hat. Das hat zunächst funktionale und ökonomische Gründe. Bestehende Straßen werden erhalten, die neuen so angelegt, dass sie möglichst bereits existierenden Trassen entsprechen und damit die unterirdische Infrastruktur funktions- und wartungsfähig bleibt. Daneben sind kulturelle Gründe ausschlaggebend. Denn die rasterförmige Struktur zeichnet jene nach, welche die keltische Ansiedlung charakterisierte, die vor über zwei Jahrtausenden den Ort besetzt hatte. Überdies sollte die Erinnerung an die Fabrik, welche in vielerlei Hinsicht das Fundament des heutigen Forschungs- und Entwicklungsunternehmens bildet, in einer offenen Deutung bestehen bleiben. Die historische Fabrikstraße – bis 1889 hieß sie Schlachthausgasse – wird in ihrer Gesamtlänge von über 600 Metern zur repräsentativen Allee und zum
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Rückgrat der neuen urbanen Struktur ausgebaut. Die westlich von ihr bestehende Bebauung wird größtenteils erhalten, einschließlich der Hochhausbauten, die mit anderen Hochhäusern ergänzt werden sollen. Geplant ist eine Hochhausstadt en miniature, die von weither sichtbar sein und über den Rhein hinweg mit dem zweiten Novartis-Areal von Klybeck und seinen Bürohochhäusern und Schornsteinen korrespondieren wird. Für das Areal östlich der Fabrikstraße und überhaupt für den Großteil des Campus ist hingegen eine weitgehend gleichmäßige, vergleichsweise kleinteilige fünfgeschossige Bebauung vorgesehen. Solche Bauten haben sich in den meisten europäischen Städten bewährt, zumal sie geeignet sind, wohlproportionierte Stadträume mit hoher Aufenthaltsqualität zu erzeugen. Innen lassen sie sich gut und effizient aufteilen, mit einfachen Erschließungselementen, weil sie unmittelbar unterhalb der baurechtlichen Hochhausgrenze liegen, und können mit natürlich hellen Arbeitsräumen ausgestattet werden. Hinzu kommt, dass auf diese Weise das Hauptgebäude von 1939 auf selbstverständliche Art und Weise integriert wird, weil es ebenfalls etwa zwanzig Meter hoch ist. Allerdings besteht die neue städtische Struktur nicht aus Baublöcken, sondern aus Einzelbauten. Diese sind so dimensioniert, dass sie übersichtliche Arbeitsgruppen aufnehmen können und sich als Bürobauten ebenso eignen wie als Laboratoriumsgebäude, wobei jede Form der Zonierung zugunsten einer Funktionsdurchmischung vermieden wird. Die größten Parzellen haben eine Größe von etwa 62 × 35 Metern, die kleinsten von 55 × 18 Metern. Die städtebauliche Struktur wurde nicht zuletzt derart festgelegt, dass sie die größtmögliche verträgliche Menschendichte auf dem Areal erzeugen sollte. Das hatte nicht primär wirtschaftliche, sondern funktionale Gründe: Der Campus sollte in erster Linie ein Ort der Kommunikation sein, und diese wird durch Dichte, ja durch Enge befördert. Andererseits sollte ein Überfüllen des Geländes vermieden werden. Deswegen wurde nicht die baurechtlich maximal zulässige Ausnutzung ausgeschöpft, die Bauten von 40 Metern Höhe ermöglicht hätte, was die vergleichsweise schmalen Straßen verdunkelt hätte. Gleichsam als Kompensation für das enge Beieinander wurde nicht nur ein System von großzügigen öffentlichen Räumen vorgesehen, sondern es wurden innerhalb dieses Systems auch zwei große Parkanlagen geplant. Dort sollte das Gegenteil von Dichte erlebt werden können, nämlich Weite und Großräumigkeit; auch wurde damit der städtischen Dimension des Campus eine landschaftliche entgegengestellt. Der Kontrast wurde so scharf wie möglich formuliert, zumal gerade in dieser Schärfe ein besonderer Reiz liegt.
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Die Freiräume Die Freiräume des Campus standen von vorneherein im Zentrum der Planungsund Entwurfsarbeit: Im Dispositiv für kommunikatives Arbeiten und intensiven Informationsaustausch kommt ihnen eine zentrale Rolle zu. Tatsächlich wurde der Masterplan nicht als Addition von Bauten konzipiert, zwischen denen sich Räume öffnen, sondern im Gegenteil als System von Räumen, in welchem Baufelder ausgespart sind. Dieses Raumsystem ist sequenziell aufgebaut: Vom neuen Eingang an der Voltastraße bis zur französischen Grenze und zum Übergang zum Sportzentrum reihen sich entlang der Fabrikstraße verschiedene, aufeinander abgestimmte Raumsituationen auf. Sie eröffnen ein breites Spektrum an Aufenthalts- und Begegnungsorten und laden die Menschen zu unterschiedlichen Nutzungen ein. Östlich und westlich der Fabrikstraße sind weitere offene Räume angegliedert. Grundsätzlich wurde versucht, aus jedem Gebäude einen Ausblick auf einen Freiraum zu gewähren, sei dieser ein Park, ein Platz oder eine von Bäumen gesäumte Hauptstraße. Die öffentlichen Räume wurden jedoch nicht nur geometrisch und räumlich, sondern auch und vor allem in ihrer sozialen Funktion und ihrer Atmosphäre definiert. Diese Definition wurde sowohl aufgrund von Benutzungshypothesen als auch auf der Basis von archetypischen Situationen aus der Geschichte der Stadt und der Landschaftsgestaltung getroffen. Das Ergebnis war eine strategische Festlegung jedes einzelnen öffentlichen Raumes des Campus, die programmatisch seiner architektonischen Gestaltung zugrunde gelegt ist. Für all jene, die aus der Stadt, von der Autobahn und von der Voltastraße kommen, bildet der Eingangspark so etwas wie einen überraschenden und freundlichen Empfang. Man findet sich hier unerwartet in einer grünen Oase wieder, die eine optische Verbindung zwischen der Voltamatte und dem Rheinufer herstellt. Der Park ist ein Ort der Kontemplation, in dem man allein oder in Gruppen umherschlendern und sich in Ruhe unterhalten kann. Natur – oder ihr gebändigtes, überhöhtes Ideal – prägt ihn in erster Linie. Er ist kein Garten, aber auch kein Wald: Er steht in der Tradition der großen Villengärten der Antike und der pittoresken englischen Landschaftsgärten eines William Kent oder Capability (Lancelot) Brown. Er bietet Rasen, Bäume, geschwungene Wege und gemütliche, schattige Plätze, an denen man sich auf bequemen Bänken niederlassen kann. Sowohl in städtebaulicher als auch in sozialer Hinsicht ist die Fabrikstraße die Hauptachse des Campus. Dort, wo sie den Park kreuzt, vermittelt sie das Bild einer Allee. Wo sie in die bebauten Bereiche des Novartis Campus dringt,
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Abb. 5: St. Peters-Platz in Basel, 1654 (aus Matthäus Merian, Topographiae Helveticae, Rhaetiae et Valesiae, Frankfurt am Main 1654, Kap. 9, Taf. 4).
wird sie städtisch, ist jedoch weiterhin von Bäumen gesäumt, die als architektonische Elemente den Straßenraum definieren. Das Erkennungsmerkmal der Fabrikstraße sind allerdings ihre Arkaden, an denen sich die gesamten öffentlichen Einrichtungen für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie Besucher des Campus befinden. Die Fabrikstraße ist nicht einfach eine Hauptstraße, sie ist ein lang gestreckter Laden-, Restaurant- und Cafékomplex. Und sie ist ein übergreifender Ort für Begegnungen und lebendigen Austausch. Es ist kein Zufall, dass sich die drei markantesten öffentlichen Räume auf dem Campus – das Forum, das Green und die Piazzetta – alle zur Fabrikstraße hin öffnen. Das Forum ist der wichtigste und zugleich repräsentativste öffentliche Raum der gesamten Campusanlage. Er bildet nicht nur einen gemeinsamen Vorhof für das historische Hauptgebäude von Novartis International, das neue farbenprächtige Forum 3-Gebäude, das ebenfalls neue Bürohaus mit Visitor Center, den eigenwilligen Bau von Novartis Pharma aus den 1950er-Jahren und den nicht minder eigenwilligen gläsernen Campanile, sondern er stellt für Novartis per se einen symbolischen Ort dar. Hier können offizielle Firmenzeremonien und Feierlichkeiten inszeniert werden, an denen alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in einem untheatralischen, aber formellen Umfeld beteiligt sind. Darüber hinaus ist das Forum ein Ort, an dem Menschen spazieren, einander begegnen und zusammen sitzen können. Mit anderen Worten: Das Forum
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Abb. 6: Das Forum, Novartis Campus, Basel (Photo Novartis International AG).
bildet das Herz des Unternehmens. Der Platz ist hell und elegant gepflastert, leicht verschattet und weitgehend frei gehalten. Das Green könnte als das genaue Gegenteil des Forums bezeichnet werden und hat in der Tat grundverschiedene Aufgaben. Hier können sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu jeder Gelegenheit treffen und zusammensetzen, eine Erfrischung zu sich nehmen, picknicken oder in den anliegenden Cafés und Restaurants essen. Bildet das Forum das offizielle Herz der Firma, so ist das Green sein inoffizielles. Es ist als Grünanlage gestaltet, ein ausgedehnter Rasen, auf dem wenige große Bäume Schatten spenden und Menschen sich ungezwungen und in entspannter Atmosphäre nahezu überall hinsetzen können. Anders als der Park ist das Green kein Ort für individuelle Entspannung und Erholung, sondern für Geselligkeit. Stadträumlich stellt es, ebenso wie das Forum, eine asymmetrisch angeordnete Ausweitung der Fabrikstraße dar, welche die Gebäude des Platzes untereinander und mit der Straße selbst verbindet. Die Piazzetta erfüllt die gleichen Funktionen wie das Green, allerdings mit einer ganz anderen architektonischen Gestaltung. Sie soll ebenfalls ein informeller Begegnungsort sein, der zum Plaudern, Sitzen, Essen und Trinken einlädt. Sie ist jedoch weder mit Bäumen noch mit Gras bepflanzt, sondern durchgängig gepflastert. Daher wird sie ein für schlechteres Wetter geeigneter Ort
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sein, insbesondere dank der schützenden Arkaden, die den Platz dreiseitig begrenzen. Die Piazzetta könnte auch zu einem beliebten Ort am Abend werden, wenn die Lichter unter den Arkaden und auf dem kleinen Platz eine beruhigende und einladende Atmosphäre ausstrahlen. Der Swiss Place markiert das Ende der Fabrikstraße und den zweiten Eingang zum Novartis Campus, allerdings ohne den Eindruck eines Hintereingangs zu vermitteln. Es handelt sich um eine symmetrische Ausweitung der Fabrikstraße bescheidenen Ausmaßes. Der Swiss Place bezeichnet nicht nur die Grenze des Campus, sondern auch die Grenze zwischen der Schweiz und Frankreich. Im Zusammenspiel mit Richard Serras Skulptur Dirk’s Pod, die als Point de vue fungiert, und den beiden Bauten von Tadao Ando, die mit ihren 38 Metern die Normalhöhe der übrigen Campus-Bauten überragen, wird der kleine Platz zu einem emblematischen Ort. Abseits von der Fabrikstraße lockern das Arboretum und die Squares das dichte Baugefüge des Campus auf. Die Funktion des Arboretums gleicht jener des Parks, obwohl es deutlich kleiner und ungewöhnlich langgestreckt ist. Es ist ein Ort zum Spazieren, zum Ausruhen und zum Nachdenken. Trotz seiner schmalen Form bietet es kleine, intime Rückzugsorte entlang einer Promenade. Überdies gewährt es den gegenüberliegenden Gebäuden einen schönen Ausblick auf freundliche Begrünung sowie Ruhe und gute Luft. Wie sein Name andeutet, wird das Arboretum mit einer besonderen Baumsammlung bestückt werden, die es zu einem Museum der pflanzlichen Naturelemente machen wird. Wie die Londoner sind die Campus Squares kleine, intime Gärten – doch im Gegensatz zu ihren Vorbildern sind sie für alle zugänglich. Nicht vorrangig als Begegnungsorte gedacht, sind sie eher stille, gemütliche Oasen, in denen man sitzen, sich unterhalten oder etwas trinken und eine Kleinigkeit essen kann. Die wesentliche Funktion der Squares besteht darin, den Campusgebäuden zusätzlichen offenen Raum anzubieten und als Orientierungspunkte im Strassenraster zu dienen. Ebenso wie im Arboretum sorgt die Begrünung für angenehme Ausblicke und gute Luft. Anders als im Arboretum öffnen sich die Gebäude nicht durch Loggien und ruhige Arbeits- oder Versammlungsräume zu den Grünbereichen, sondern durch Eingangs- und Empfangsräume. Damit erhalten die Squares einen öffentlichen Charakter. Die Hängenden Gärten bilden den wichtigsten Dreh- und Angelpunkt zwischen Novartis Campus und Rhein. Der Park öffnet sich zwar ebenfalls zum Fluss hin, doch hier sind es die Gebäude, die sich zum Wasser orientieren. Funktional betrachtet stellen die Hängenden Gärten tatsächlich Erweiterungen der Campus Bauten am Rheinufer dar. Man wird die Anlage für Freizeitaktivitäten nutzen, doch ebenso und besonders für individuelles Arbeiten und Grup-
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penmeetings im Freien. Diese Funktion wird durch ihren repräsentativen Charakter zum Ausdruck kommen, im Gegensatz zur pittoresken Gestaltung der anderen Parks. Die Hängenden Gärten sind, wie der Name vermuten lässt, veritable Gartenanlagen, die in der Tradition der römischen Antike und der italienischen Renaissance stehen. Die entschieden (und sichtbar) künstlichen Gärten werden ein ebenso künstliches, nahezu inszeniertes Verhältnis zum Wasser des Rheins und zum gegenüber liegenden Ufer schaffen, von der tiefergelegenen öffentlichen Uferpromenade durch eine einfache und ansprechend gestaltete Natursteinmauer getrennt. Zu den öffentlichen Räumen des Campus gehören freilich auch und vor allem die Straßen. Neben ihrer Erschließungsfunktion übernehmen sie, ganz in der Tradition der europäischen Stadt, zahlreiche andere Aufgaben: nicht zuletzt jene des Begegnungs- und Aufenthaltsortes. Voraussetzung dafür ist die grundsätzliche Freihaltung des gesamten Campus vom Autoverkehr: Lediglich Taxis, Kleinlieferwagen und die Limousinen der Geschäftsleitung sowie der offiziellen Besucher sind zugelassen. Dadurch ist die potenzielle Bedrohung, die Motorfahrzeuge für den Fahrradfahrer und vor allem für den Fußgänger darstellen, auf ein Minimum reduziert. Bedingung für die privilegierte Nutzung der Straßen ist deren sorgfältige Gestaltung. Sie sind in Haupt- und Nebenstraßen aufgeteilt und entsprechend differenziert ausgelegt: Die Hauptstraßen mit symmetrisch angeordneten Bürgersteigen, Seitenentwässerung und doppelter Baumreihe, die Nebenstraßen dagegen mit asymmetrisch angeordneten Bürgersteigen, Mittelentwässerungen und, wenn sie in Ost-West-Richtung verlaufen, einer einzigen, nördlich angeordneten Baumreihe. Die Fabrikstraße ist 15, stellenweise 20 Meter breit, wozu 4 Meter Arkadenraum hinzukommen; die Hauptstraßen sind in der Regel 12,50 Meter, die Nebenstraßen 10 Meter breit. Besondere Sorgfalt wurde auf den Bodenbelag verwendet. Asphalt wurde von vorneherein ausgeschlossen, um nicht den Charakter von Automobilstraßen aufkommen zu lassen; stattdessen wurde eine Steinpflasterung vorgesehen. Diese hatte jedoch zahlreichen funktionalen Anforderungen zu genügen: Sie musste für den Lastwagenverkehr tauglich, aber auch für Fahrradfahrer, für gehbehinderte Menschen und für Damen mit Stöckelschuhen komfortabel sein. Nach zahlreichen Versuchen wurden die Fahrbahnen mit 12 Zentimeter starken Platten aus Sardischem White-Moncini-Granit belegt, deren Kanten in der einen Richtung geschnitten, in der anderen gebrochen sind; die Trittoberfläche wurde mit der Säge geschnitten. Die helle Farbe wirkt auch bei belegtem Wetter licht und freundlich. Im Kontrast dazu sind die Bordsteine und Bürgersteige in dunkelgrauem Negro-Grapesa-Granit aus Spanien ausgeführt. Hier gelangen, wiederum im Gegensatz zu den Straßen, großformatige Platten zur Anwendung, deren Fugenschnitte der Geometrie des jeweiligen Gebäudes angepasst sind.
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Tatsächlich kommt den Straßen des Campus über ihre funktionale und soziale Aufgabe hinaus auch eine wichtige ästhetische Rolle zu: Sie sind das einheitliche und durchgängige Element, das die unterschiedlichen Auftritte der (bewusst) heterogenen Campusbauten zusammenhält. Während jene das Individuelle zum Ausdruck bringen, versinnbildlichen diese das Gemeinschaftliche. Sämtliche Straßen auf dem Campus tragen neu Namen von Persönlichkeiten, die einen wichtigen Beitrag zum Fortschritt der Medizinwissenschaft geleistet haben. Die Namen sind so ausgewählt und geordnet, dass sie dem Alphabet folgen: Damit wird dem Namensystem das alphabetische System überlagert, um eine eingängige Orientierung zu ermöglichen. Die einzige Ausnahme ist die Fabrikstraße, deren Bezeichnung nicht geändert wurde, um die Erinnerung an den historischen Ursprung des Industrieareals lebendig zu halten. Jedes Gebäude beziehungsweise jeder Gebäudeeingang erhält eine Nummer, sodass man sich im Campus genauso zurechtzufinden vermag wie in einer Stadt. Überdies gerät dieses System zu einem kulturellen und didaktischen Dispositiv, denn Informationstafeln erläutern die Straßennamen mit den wichtigsten Lebensdaten und Errungenschaften der entsprechenden Persönlichkeiten.
Bestand und Abbrüche Der Masterplan ist als langfristiger Plan angelegt: Er beschreibt und gibt eine Entwicklung vor, die in frühestens dreißig Jahren abgeschlossen sein wird. Mit anderen Worten: Er ist ein Idealplan. Seine Realisierung ist zügig, aber nicht forciert vorgesehen. Es sollen nur diejenigen Bauten abgerissen werden, die obsolet sind; sie werden ausnahmslos durch Bauten ersetzt, die dem Masterplan folgen. Das neue Konzept sieht also die Koexistenz des Neuen mit den Überresten des Bestandes vor. Brüche im Erscheinungsbild werden nicht als Bedrohungen, sondern als tolerierbare Übergangssituationen und teilweise sogar als Bereicherungen aufgefasst. Derlei Ausnahmen und Brüche werden ebenso zahlreich wie langlebig sein. Indem tatsächlich nur diejenigen Gebäude abgebrochen werden, die gänzlich abgeschrieben und überhaupt nicht mehr zu nutzen sind, werden unnötige Ausgaben und ökologische Verschwendungen vermieden: Denn jede Zerstörung eines Bauwerks ist zugleich eine Zerstörung von Energie und produziert Abfall. Hinzu kommt, dass bestehende Bausubstanz dort, wo sie qualitätvoll ist, auch ein Stück Identität und Gedächtnis eines Ortes bedeutet. So wurde früh entschieden, neben den noch funktionierenden und teilweise hoch installierten Forschungsgebäuden auch ein Lagerhaus aus den 1940er-
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Jahren zu erhalten, das zunächst dekontaminiert und daraufhin provisorisch zu einem Bürobau umgebaut wurde. Dabei wurden erste Pilotprojekte für neuartige Großraumbüros realisiert. Der auf dreieckigem Grundriss errichtete Bau steht zwar quer zur Geometrie des Masterplans, bildet aber mit seiner zugleich schlichten und einprägsamen Form einen charakteristischen Ort im Campus. Auch für die oberirdische Parkgarage, die an der Lichtstraße unmittelbar gegenüber dem Hauptgebäude stand, mit dem sie etwa gleichzeitig gebaut wurde, wurde die Möglichkeit einer Umnutzung sorgfältig geprüft. Sie erwies sich jedoch als problematisch und hätte den Charakter des Bauwerks empfindlich beeinträchtigt. Überdies bedrängte der zwar nicht unansehnliche, aber recht voluminöse Zweckbau aus Sichtbeton das Hauptgebäude selbst. So wurde der Abriss beschlossen, um dem großzügigen Freiraum des Forums Platz zu machen.
Erschließung und Verkehr Der Haupteingang des Novartis Campus liegt nicht mehr an der engen und wenig exponierten Lichtstraße, sondern an der Voltastraße. Von dem Eingangsplatz aus wird eine zweigeschossige Tiefgarage erschlossen, die sowohl Besucherinnen und Besuchern als auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zur Verfügung steht. Weitere Zugänge, die allerdings nur für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vorgesehen sind, erfolgen über die Elsässer Straße, die Rheinpromenade und den bereits bestehenden oberirdischen Parkplatz Hüningen. Die Warenanlieferung ist zentral und von dort aus werden die Einzelstücke mit kleinen Lastwagen verteilt. Grundsätzlich wird jegliche Art von Durchgangsverkehr vom Campus ferngehalten.
Die Kunst Die Kunst ist im Campus nicht Applikation, sondern Bestandteil des gesamträumlichen Konzepts. Sie wird in den Außenbereichen so eingesetzt, dass sie Achsen markiert oder irritiert, Platzräume definiert und betont, Parkanlagen konzeptionell bereichert. Sie hat die Aufgabe, Wahrnehmungshilfen anzubieten, und sei es durch Verunsicherung und Überraschung, und den Charakter des Ortes zu präzisieren. Deswegen wird sie nicht dem Stadtraum hinzugefügt, sondern von vornherein mitgeplant.
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Das Licht Auch die Beleuchtung ist nicht Attribut, sondern integraler Teil des Masterplans. Aus energetischen, aber auch aus atmosphärischen Gründen ist sie gerade intensiv genug, um nachts der Campus-Bevölkerung das Gefühl der Sicherheit zu vermitteln, ohne ihr jenes der Spannung und des Geheimnisses zu nehmen. Zugleich ist sie ein architektonisches Element, das Stadträume und Parkanlagen kennzeichnet und charakterisiert, ihre Geometrie, Richtung und Anmutung nachzeichnet und unterstreicht. Die Plätze werden anders ausgeleuchtet als die Straßen, die Hauptstraßen anders als die Nebenstraßen, die Arkaden wiederum anders; ebenso die Parks und Squares. Dabei spielen die Objekte, die als Lichtquellen eingesetzt werden, ebenso eine Rolle wie die Lichtqualität selbst. Sie wurden deswegen eigens entwickelt und tragen zur Unverwechselbarkeit des Novartis Campus bei.
Die Graphik Gleiches gilt für die Graphik in den Außenbereichen. Analog zum Licht gilt der Grundsatz: soviel wie nötig, so wenig wie möglich. Der Überfrachtung des öffentlichen Raums mit vorlauten, impertinenten, oft überflüssigen Schriftbotschaften soll im Campus eine diskretere Welt entgegengesetzt werden. Wo jedoch Schriften erforderlich sind, werden sie speziell entwickelt oder sorgfältig ausgesucht: so, dass sie nicht als Fremdkörper auftreten, sondern als kongeniale Bestandteile des Stadtraums, der Architektur, der Gartenanlagen.
Die Nutzung Die Bauten auf dem Campus werden als Büro- oder Laborbauten genutzt. Bewusst wurden dafür wirtschaftliche, aber vergleichsweise kleine Parzellen festgelegt. Sie führen zu übersichtlichen Gebäuden, die von ebenso übersichtlichen Arbeitsstrukturen flexibel genutzt werden können. Außerdem werden die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der einzelnen Abteilungen, die möglicherweise nicht nur in einem, sondern in mehreren Gebäuden untergebracht werden, durch die räumliche Trennung eingeladen, die Straßen stärker zu nutzen und dadurch einen intensiveren Austausch mit ihren Kolleginnen und Kollegen aus anderen Arbeitsbereichen zu pflegen.
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Abb. 7: Fabrikstraße, Novartis Campus, Basel (Photo: Novartis International AG).
An der Fabrikstraße befinden sich in sämtlichen Erdgeschossen der Bauten gemeinschaftliche Einrichtungen: vom Visitor’s Centre zu Restaurants, Cafés, Läden; also all das, was eine kleine Gemeinschaft in ihrem Alltag benötigt. Dadurch wird die Fabrikstraße nicht nur zum architektonischen, sondern auch zum sozialen Rückgrat der Anlage. Und sie wird zum Ort, wo die meiste Bewegung, der intensivste Austausch, kurz: das intensivste urbane Leben auf dem Campus stattfindet.
Die Regeln Zusammengehalten wird der neue Komplex durch die volumetrische Festlegung der Baumasse und durch die homogene Behandlung der Straßen, belebt durch die unterschiedlichen Architekturen, die innerhalb seines Parzellenplans entstehen. Das erfordert die Bereitschaft der beteiligten Architektinnen und Architekten, sich – durchaus kritisch – auf den Plan einzulassen und mit den jeweiligen Nachbarn einen – durchaus kontroversen – Dialog zu führen. Die Interpretation dieser grundsätzlichen Haltung wird jedem einzelnen Baumeister überlassen. Tatsächlich gibt es für den Campus weder eine Gestaltungssatzung noch eine Festlegung der Materialien oder der Konstruktionen. Allerdings müssen die Baulinien übernommen werden, und die Traufhöhe darf zwar unterschritten, aber nicht überschritten werden. Bei der Gestaltung der Fassaden ist auf deren Aufgabe, den öffentlichen Raum des Campus zu begren-
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zen und zu bestimmen, besonders zu achten. Überdies müssen sämtliche Bauten, welche die Ostseite der Fabrikstraße säumen, Arkaden aufweisen. Für die Arkaden ist der festgelegte Raumquerschnitt von 4 auf 6 Meter bindend. Die Haupterschließung dieser Bauten muss von der Fabrikstraße aus erfolgen, wobei daneben möglichst viel Erdgeschossfläche für öffentliche Nutzungen bereitgestellt werden soll, die ebenfalls zur Fabrikstraße hin orientiert werden. Das Arkadenprofil legt dabei auch die Höhe des Erdgeschosses fest. Für den übrigen Teil des Campus sind die Haupteingänge ebenfalls festgelegt, entsprechend der Hierarchie von Plätzen, Haupt- und Nebenstraßen.
Nachhaltigkeit Die Dimension der Nachhaltigkeit wird im Novartis Campus vornehmlich durch die Dauerhaftigkeit der Bebauung erreicht, die auch Nutzungswechsel ohne aufwändige Umbaumaßnahmen ermöglichen soll. Tatsächlich sind sämtliche Bauten so konzipiert und dimensioniert, dass sie sowohl als Büro- als auch als Laboratoriumsgebäude genutzt werden können. Dadurch ist es möglich, auf grundlegende strukturelle Veränderungen des Konzerns ohne gleichermaßen grundlegende stadtarchitektonische Kursänderungen zu reagieren. Dies wird jedoch Ausnahme bleiben: Zu erwarten sind vielmehr kleinere Anpassungen der Innenraumdispositionen innerhalb von robusten Bauten. Hinzu kommt ein extrem geringer Energieverbrauch, der sowohl dank einer entsprechenden Gebäudeplanung als auch dank moderner Technologien gewährleistet und im Campus zum Standard erhoben wird. Ein ökologisch verträglicher, weitgehend natürlich ausgewogener Wasserhaushalt ist ebenfalls fester Bestandteil des Energiekonzepts.
Implementation Um all diese verschiedenen Aspekte zusammen zu binden, aufeinander abzustimmen und in den Dienst der Campus-Planung zu stellen, wurde der Workshop gegründet. In ihm amtieren all diejenigen Fachleute, die erforderlich sind, um der Komplexität der Aufgabe mit höchster Professionalität gerecht zu werden. Im Workshop vertreten die Experten jedoch nicht nur ihre eigene Disziplin, sondern diskutieren über deren Grenzen hinweg. Dadurch wird die Arbeit am Campus eine im besten Sinn interdisziplinäre Arbeit – und der Campus ein eminent interdisziplinäres Projekt.
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Abb. 8: Workshop für die Planung des Novartis Campus bei einer Arbeitssitzung in der Fabbrica von Harald Szeemann, Tegna (Tessin), 2004 (Studio di Architettura, Mailand).
Auf der Grundlage der Anregungen des Workshops und der Erfordernisse der Nutzer wurde der Masterplan des Campus verfeinert und modifiziert. Die Auflassung des Hafens mit der dazugehörigen Bahnerschließung sowie die Möglichkeit, die dadurch frei gewordenen Grundstücke zu erwerben, legten eine Erweiterung der baulichen Struktur Richtung Rhein nahe. Dadurch wurde nicht nur die Beziehung des Campus zum Flussraum verbessert, sondern auch die Geometrie der Parzellen. Letztere wurde zusätzlich auf Wunsch der Nutzer, die größere zusammenhängende Grundrissflächen für die Laboratorien anstrebten, zusätzlich verändert. Diese Veränderung ging soweit, dass eine gesamte Straße aus dem ursprünglichen Plan entfiel und die Parzellenstruktur als Ganzes entsprechend angepasst wurde. Das Konzept des Masterplans sieht vor, dass jedes Haus in der Stadt anders sein soll und mithin von einem anderen Architekten entworfen wird. Prominente Architekten aus aller Welt wurden und werden eingeladen, am Campus mitzubauen. Die Bauten sollten nicht nur die unterschiedlichen Architekturauffassungen widerspiegeln, sondern auch die unterschiedlichen Kulturen, in denen diese Auffassungen verwurzelt sind. Nicht zuletzt soll auf diese Weise
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die kulturelle Vielfalt derjenigen Menschen dargestellt werden, die diese Architekturen benutzen und sich in ihnen heimisch fühlen sollen.
Ausblick Insgesamt stellt sich der Novartis Campus als eine große Versuchsanordnung dar für einen innovativen Städtebau, der von vornherein dreidimensional gedacht ist, auf historischem Wissen von der (vor allem antiken) Stadt gründet und architektonische, landschaftliche, künstlerische, graphische und lichttechnische Aspekte einbezieht, dabei aber Teil einer ebenso radikalen und umfassenden Unternehmensstrategie ist. Insofern steht der Campus in der Tradition der großen städtebaulichen Unternehmungen der Vergangenheit, die immer nicht nur funktionale, ökonomische, soziale, technische und künstlerische, sondern auch politische und ideologische Projekte waren. Da die Versuchsanordnung ausgesprochen – und ungewöhnlich – langfristig angelegt ist, wird man erst nach Jahren über einigermaßen definitive Ergebnisse diskutieren können. Die Resultate, die man bereits heute auf der Baustelle am Rhein gewärtigt, geben immerhin Grund zur Zuversicht, dass es auch im 21. Jahrhundert möglich ist, jenseits von schnelllebigen Moden und vermeintlichen Sachzwängen, aber auch jenseits von kurzfristigem Denken und persönlichen Eitelkeiten ein städtebauliches Ensemble zu planen und zu realisieren, das den Bedürfnissen seiner Benutzer entspricht, einem gemeinschaftlichen Gedanken folgt und einen hohen künstlerischen Anspruch vertritt.
Literaturverzeichnis Architecture and Urbanism, Heft 482 (monographisches Heft zum Novartis Campus), Tokyo, November 2010. Lampugnani, Vittorio Magnago (Konzept), Novartis Campus, Eine moderne Arbeitswelt. Voraussetzungen, Bausteine, Perspektiven. Ostfildern 2009. Lampugnani, Vittorio Magnago, Die Stadt von der Neuzeit bis zum 19. Jahrhundert. Urbane Entwürfe in Europa und Nordamerika, Berlin 2017.
Register Personenregister Acquafredda, Marco Michele 4 Aetion 27 Agatharch 44 Aglaophon 49 Agrippa, Marcus Vipsanius 51, 57 Aischylos 44 Alberti, Leon Battista 1, 84 Alexander der Grosse 39, 116 Alkuin 59, 63, 71 Amman, Jost 99 Anaxagoras 45 Ando, Tadao 188 Andrea, Zoan 89 Apelles 27 Apoll 111, 115–120, 123, 126 Apollonios 50 Archilochos 50 Argentarius, Julianus 71 Aristomenes 46 Aristoteles 16–18, 23, 29 Artemis 43 Artemisia II. 41 Augustus 37, 51, 97 Bacchylides 50 Balbulus, Notker 57 Bauderon de Senecy, Brice 117, 126 Baudrillard, Jean 168–169 Begas, Reinhold 147–148 Beham, Sebald 91, 99 Behrens, Peter 132–136, 139–142 Bernini, Gian Lorenzo 120, 160 Bloch, Peter 146 Blome, Peter 5 Blondel, François 124 Blum, Hans 99 Boumann, Johan 138 Bramante, Donato 84 Brown, Capability (Lancelot) 185 Buddensieg, Tilman 134 Busti, Agostino 89 Byron, George Gordon „Lord“ 165 https://doi.org/10.1515/9783110458213-010
Caesar, Gaius Julius 41 Caius Mucius Scaevola 45, 47 Cassius Dio 24 Cesariano, Cesare 89, 99 Chion 46 Chipps Smith, Jeffrey 3 Choisy, Auguste 173–176 Claudius 25 Cleopatra VII. 158 Colbert, Jean-Baptiste 113, 120–121, 123 Cossutius 45 da Sangallo, Giuliano 1 de Condé, Louis 116, 122 de Cordemoy, Louis 122 de Coubertin, Pierre 153 Deinokrates 39 Deleuze, Gilles 169 Delsenbach, Johann Adam 98 Demokrit 45, 52 Derrida, Jaques 170 Desgodets, Antoine 126 di Bartolommeo, Michelozzo 1 Diaconus, Paulus 71 Diana 42 Diem, Carl 150, 152–153 Doros 42 Doryphoros 27–28, 147 Doxiadis, Konstantinos 173 Dürer, Albrecht 61, 80–83 Eco, Umberto 168–170 Einhard 59, 63–64, 71, 74 Eisenstein, Sergej 175 Erathostenes 50 Erben, Dietrich 3 Etlin, Richard 174 Euclid 80 Euphranor von Isthmos 49 Félibien, André 119 Flötner, Peter 3, 89–93, 95–99 Fouquet, Nicolas 115
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Register
Friedrich Wilhelm IV. 141 Frosne, Jean 110 Fugger, Jakob 89 Gaius Fuficius Fango 45 Gaius Laelius 49 Gellius, Aulus 52 Gentz, Heinrich 134 Giedion, Sigfried 156, 173–174 Gilly, Friedrich 134 Girardon, François 118–119 Guérin, Gilles 109–110 Hadrian I. 61 Hearst, William Randolph 170 Heckner, Ulrike 73 Hegias 46 Hera 43 Hermogenes 45, 47, 51 Herodot 13–15, 20, 26 Hirsvogel, Augustin 99 Hirsvogel, Lienhard 95 Hirsvogel, Lienhart III. 91 Hoffmann, Ludwig 132, 138 Hofmann, Albert 143–146 Hölscher, Tonio 30 Homer 50 Houdin, Léonor 123 Iktinos 51 Ion 50 Izenour, Steven 161, 172 Jankovic, Simeon 4 Jeanneret-Gris, Charles-Edouard, genannt Le Corbusier 134, 175 Johnson, Lyndon B. 169 Johnson, Philip 175–176 Julius II. 79 Juno 42 Justinian I. 73 Kalamis 27 Kallimachos 43 Kanachos 27 Karl der Grosse 2–3, 56–59, 61, 63–64, 71, 73–74
Karl V. 95, 97, 109 Karl VI. 98 Kent, William 185 Knipping, Detlef 93 Koselleck, Reinhart 9–11, 14 Köstler, Andreas 3 Krepereios Kalpurnianos 26 Kruft, Hanno-Walter 132–133, 136 La Rocca, Eugenio 30 Lampugnani, Vittorio Magnago 4, 181 Larsen, Jack 161 Latacz, Joachim 5 Le Brun, Charles 120, 123 Le Vau, François 123–124 Le Vau, Louis 121 Lederer, Hugo 147 Lemée, François 122 LePautre, Pierre 111, 119 Ley, Judith 73 Liutgard 63 Longinos 50 Ludwig XIV. 3, 106–110, 112, 114–122, 126– 127 Luhmann, Niklas 11 Lukian von Samosata 26 March, Otto 3, 137, 149, 152 Marcus Porciuss Cato 49 Marcus Terentius Varro 45 Marcus Tullius Cicero 21, 24–25, 27–29, 49, 52 Markschies, Alexander 2 Marot, Jean 121–122 Marsy, Balthazar 111 Marsy, Gaspard 111 Maussolos 41 Maximilian I. 79 Maximilian II. 97 Mazarin, Jules 108, 114 Mebes, Paul 132, 134 Meier-Graefe, Julius 141–142, 150 Meller, Simon 89 Messel, Alfred 132, 134, 144–146, 150 Möhring, Bruno 132 Morgan, Julia 170–171 Myron 27–28, 46
Personenregister
Neudörfer, Johann 91, 95 Nicolai, Bernd 145 Nikomachos 27 Oktavian 39 Oldenburg, Claes 161, 163–164 Pasiteles 45 Paul, Bruno 132 Pehnt, Wolfgang 145 Peller, Martin 99–102 Pencz, Georg 91, 95, 97, 99 Perrault, Claude 121, 123–124, 126 Perret, Auguste 133–134 Petreius, Johann 99 Phidias 28 Pictor, Fabius 21 Pindar 50 Pippin der Jüngere 59 Pirckheimer, Willibald 80 Platon 171 Plinius d. Ä. 27–29, 45, 50–51 Poeta Saxo 61 Polybios 19–20, 23 Polygnotos 49–50 Polyklet 27–28, 46, 49, 147 Porsenna 51 Poseidonios 40 Protogenes 27 Publius Septimius Geta 45 Pytheos 47, 51 Quintilian 26, 29–30, 40, 42, 49–50 Raffael von Urbino 109 Reinau, Hansjörg 5 Riegel-Satzinger, Nicole 91 Roemer, Georg 147 Romulus 41 Rudolf II. 98 Ryff, Walter Hermann 99 Sabatier, Gérard 112 Sachs, Hans 97 Salomo 56, 59 Sarno, Jay 160 Satyros 47
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Schedel, Hartmann 79 Schinkel, Karl Friedrich 134, 144–145 Scott Brown, Denise 4, 161, 163, 172, 175– 176 Serlio, Sebastiano 91, 99 Serra, Richard 188 Settis, Salvatore 25 Sextus Iulius Frontinus 36, 50–51 Solis, Virgil 99 Sophokles 50 Speer, Albert 147 Stierli, Martino 3 Stüler, Friedrich August 144–145 Summerson, John 132–134 Tacitus 22 Theoderich der Grosse 73 Thukydides 13–17, 20, 26 Tiberius Claudius Nero 79 Titus 29 Titus Livius 22, 26 Tönnesmann, Andreas 1, 4 Tuaillon, Louis 146–147 Tuby, Jean Baptiste 118 Untermann, Matthias 73 Vattimo, Gianni 169–170 Venturi, Robert 4, 161, 163, 172, 175–176 Vespasian 51 Viktoria 116 Vischer, Hans 89 Vischer d. J., Hermann 3, 81–82, 84–86, 88–89 Vischer, Peter 82, 86–87, 89 Vischer, Werkstatt 86, 89, 95 Vitruv 1–2, 36–51, 53, 80, 89, 91, 99 vom Bruch, Sabine 4 von Bode, Wilhelm 145 von Hesberg, Henner 2 von Hildebrand, Adolf 147 von Ihne, Ernst 135, 144, 146 von Limpurg, Georg Schenk 86 von Naredi-Rainer, Paul 73 von Orléans, Theodulf 71 von Österreich, Anna 108–109 von Ungern-Sternberg, Jürgen 5
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Register
Warburg, Aby 156 Warhol, Andy 164 Wayne, Kermit 161 Welser von Augsburg, Sabine 91, 95 Wiegand, Theodor 134, 139–141 Wilhelm II. 138, 142–143, 145, 152–153 Winckelmann, Johann Joachim 2, 6, 25, 29, 161
Winterling, Aloys 2 Wolff, Fritz 142, 144–146 Wolff, Jakob 99–102 Xenophon 26 Zeus 27 Ziegler, Hendrik 129
Ortsregister
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Ortsregister Aachen, DE 56–65, 69, 71, 74 – Aachener Dom (Marienkirche) 2, 56–57, 59, 61–74 Aeropag, GR 41 Alexandria, GR 50 Antwerpen, BE 103 Argos, GR 42–43 Athen, GR 14, 16, 41–44, 46, 174 – Akropolis 4, 173–176 Athos, GR 39 Augsburg, DE 79, 95 – St. Anna 89 Austin, TX – University of Texas 169 Bamberg, DE 86 – Bamberger Dom St. Peter und St. Georg 86 Basel, CH 178, 181–183, 186–187, 193 – Castelen/Augst 1, 4 – Eckenstein & Kelterborn Hauptverwaltungsgebäude 179 – Elsässerstrasse 178, 191 – Fabrikstrasse 183–190, 193–194 – Lichtstrasse 191 – Novartis Pharma AG Campus 4, 181–196 – Novartis Pharma AG Campus KlybeckAreal 184 – St. Johann 178–179 – Voltamatte 185 – Voltastrasse 178, 185, 191 Bavay, FR 57 Berlin, DE 127, 138–140, 144, 147 – Altes Museum 145 – Antikensammlung 139 – Bode-Museum 143–144 – Dahlem 134, 138, 140 – Deutsches Archäologisches Institut 138, 143 – Deutsches Historisches Museum 145 – Deutsches Stadion 137, 149–150, 152 – Friedrich-Wilhelms-Universität siehe Berlin, DE, Humboldt-Universität zu Berlin – Grunewald 149–150 – Haus Wiegand 139–143 – Heerstrasse 147
– Humboldt-Universität zu Berlin 138 – Huttenstraße siehe Turbinenhalle AEG – Im Dol 138 – Kaiser-Friedrich-Museum siehe Bode-Museum – Moabit 134–138 – Nationalgalerie 143 – Neues Museum 145 – Olympiastadion 3, 147, 149–150, 152–153 – Palais des Prinzen Heinrich siehe Berlin, DE, Humboldt-Universität zu Berlin – Pergamonmuseum 3, 134, 138, 142–146, 150 – Peter-Lenné-Strasse 138–140 – Turbinenhalle AEG 134–135 – Vorderasiatisches Museum siehe Berlin, DE, Pergamonmuseum – Winckelmann-Institut 138 Bologna, IT 80 Centula, FR – Kloster Saint-Riquier 63 Como, IT 89 Dresden, DE 80 – Hygienemuseum 147 Ephesos, GR 38, 43 – Tempel der Diana 51 Florenz, IT 1 – Palazzo Gondi 1 – Palazzo Medici 1 – Palazzo Pitti 1 – Palazzo Rucellai 1 – Palazzo Strozzi 1 Frankfurt, DE 91 – Königspfalz 61 Halikarnassos, GR 13, 41 – Maussoleion von Halikarnass 47 Herstal an der Maas, BE 61 Ingelheim, DE – Ingelheimer Kaiserpfalz 61
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Register
Istanbul, TR – Hagia Sophia 2, 73 Isthmia, GR 43 Jerusalem 57, 59, 73 – Grabeskirche 2, 73 – Jerusalemer Tempel 2 – Salomonischer Tempel siehe Jerusalemer Tempel Köln, DE 58, 61, 79 – Sporthochschule 150 Korinth, GR 43 Kreta, GR 50 Kyzikos 51 Las Vegas, NV 3, 156–173, 175–176 – Hotel Caesars Palace 156–163, 165, 167– 171 – Hotel Dunes 167 – Hotel El Rancho 167 – Hotel Sahara 167 – Hotel Sands 167 – Strip 3, 157, 160, 167, 170, 172–173, 175– 176 Lemnos, GR 50 Liestal, CH – Brodbeck & Bony Hauptverwaltungsgebäude 178 Lissabon, PT 95 London, GB 80, 143 Maastricht, NL 58 Madrid, ES 127 Maincy, FR – Schloss Vaux-le-Vicomte 115, 123 Mantua, IT – Sant’ Andrea 84 Marly, FR – Schloss Marly-le-Roi 113 Marseille (Massilia), FR 41 Metz, FR 71 Milet, TR 136, 139, 143 München, DE – Ludwig-Maximilians-Universität 147 Mykene, GR 16
Neapel, IT 1 New York City, NY – East Village 161 – Metropolitan Museum of Art 168 Nijmegen, NL 61 Nürnberg, DE 3, 79–82, 84, 86–87, 89, 91– 92, 94–102 – Bürgstrasse 95 – Egidienplatz 99 – Hirschelgasse 91 – Hirsvogelhaus 92, 94, 96 – Pellerhaus 100–102 – Rathaus 89, 95, 110 – Stadtmuseum Fembohaus 91 – St. Sebald 86–88 – Tucherschloss 91 Olympia 136 Olympos 152 Ostia, IT 50 Paris, FR 109, 113–114, 116, 126, 134, 143, 168 – Hôtel de Ville 109 – Jardin des Tuileries 113 – Louvre 3, 82, 108–109, 120–124, 126 – Marineministerium 134 – Place de la Nation 122–123 – Porte Saint-Denis 124–126 – Rue Franklin 134 – Rue Ponthieu 134 Peloponnes, GR 16, 39, 42–43 Pergamon 136 Potsdam, DE – Kaiserbahnhof Potsdam-Sanssouci 135 – Schloss Charlottenhof 141 Priene 136, 141 Pydna 19 Raincy, FR – Notre-Dame du Raincy 134 Ravenna, IT 3, 50, 61, 63, 71, 73 – San Vitale 71 Regensburg, DE 61 – Herzogshof 61 Rom, IT 19–21, 23–24, 26, 28, 36–38, 40– 44, 51, 57, 61, 63, 67, 71, 73, 83–85, 97, 113–114, 127, 160, 166, 168 – Académie de France à Rome 108, 112–113, 115
Ortsregister
– Augustusforum 40, 51, 67 – Basilika Aemilia 51 – Caesarforum 37, 51 – Circus Maximus 51 – Cloaca Maxima 51 – Friedenstempel 51 – Hadriansvilla 160 – Kapitol 41 – Kolosseum 84–85, 158 – Lateranspalast 68 – Pantheon 40, 83–84 – Petersplatz 160 – San Pietro in Montorio 64 – St. Maria Rodonda 83 – St. Peter 68, 79 – Tempel des Apollon 37 – Theater des Pompejus 37 – Trajansäule 126 – Ville d’Este 160 San Simeon, CA – Hearst Castle 168, 170–171
Siena, IT 84 Sparta 14, 16 Stettin, PL 147 Stockholm, SE 150 Trier, DE 79 Venedig, IT 80, 95 – Scuola Grande di San Giovanni Evangelista 95 Versailles, FR – Schloss 111, 115, 119, 122, 126 – Schlosspark 111, 113, 117–119 – Thetisgrotte 118–119 Wannsee, DE – Villa Arnhold 147 Washington, D.C. – Oval Office (White House) 169 Wien, AT 79, 127 Worms, DE 61
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