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German Pages 411 [412] Year 2011
Gunilla Eschenbach Imitatio im George-Kreis
Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte Begründet als
Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker von
Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer
Herausgegeben von
Ernst Osterkamp und Werner Röcke
69 ( 303 )
De Gruyter
Imitatio im George-Kreis von
Gunilla Eschenbach
De Gruyter
ISBN 978-3-11-025446-4 e-ISBN 978-3-11-025447-1 ISSN 0946-9419 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Eschenbach, Gunilla, 1977− Imitatio im George-Kreis / Gunilla Eschenbach. p. cm. − (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte ; 69 (303)) Includes bibliographical references. ISBN 978-3-11-025446-4 (acid-free paper) 1.George, Stefan Anton, 1868−1933 − Friends and associates. 2. George, Stefan Anton, 1868−1933 − Ethics. 3. George, Stefan Anton, 1868−1933 − Influence. 4. Imitation in literature. 5. Poetics. 6. Influence (Literary, artistic, etc.) − History − 20th century. 7. German − Intellectual life − 20th century. I. Title. PT2613.E47Z627 2011 8311.8−dc22 2011006898
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Für Rainer
VII
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teil 1:
Das Imitatio-Modell . . . . . . . . . . . . . . . .
1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 1.7 1.8 1.9 1.10 1.11
Der Urgeist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mimesis des Urgeists . . . . . . . . . . . . . . . Übung (Exercitatio) . . . . . . . . . . . . . . . Imitatio der abgeleiteten Wesen . . . . . . . . . Chronologischer Durchgang durch die Blätter . Differenzen im Kreis . . . . . . . . . . . . . . . Übertragung auf literarhistorische Wertungen . Epistemologische Konsequenzen . . . . . . . . Platon-Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . Rezeption symbolistischer Lyriktheorie . . . . Mimesis und Imitatio als Themen von Georges Lyrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Die Religionswissenschaft Joachim Wachs . . . 1.12 Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teil 2: 2.1 2.2 2.3 Exkurs: 2.4 2.5 2.6
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29 31 33 35 40 50 52 59 62 66
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70 83 90
Imitatio im Kreis: Vallentin, Gundolf, Stauffenberg, Morwitz, Kommerell . . . . . . . .
92
Enge stilistische Imitatio . . . . . . . . . . . Imitieren und imitiert werden . . . . . . . . Perfektionierung, Idealisierung, Regulierung Kreispädagogik und NS-Rassenhygiene im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Imitatio und Spiel . . . . . . . . . . . . . . . Problematisierung von Imitatio . . . . . . . Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . 92 . . . 108 . . . 118 . . . .
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136 140 157 169
VIII
Inhaltsverzeichnis
Teil 3:
Imitatio außerhalb des Kreises: Hardt, Meinke, Schaeffer, Strauß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173
3.1 3.2 3.3 3.4 3.5
Dilettantische Imitatio . . . . . . . . . . . . . Ästhetizistische und eklektizistische Imitatio . Homosexuell motivierte Imitatio . . . . . . . Emanzipierte Imitatio . . . . . . . . . . . . . Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Teil 4:
Kritik an Lyrik und Poetik außerhalb des Imitatio-Modells: Hofmannsthal, Hérédia, Schröder, Rilke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241
4.1 4.2 4.3 4.4 4.5
Kritik am abgefallenen Dichter Kritik am epigonalen Dichter . Kritik am falschen Urgeist . . . Kritik am proteischen Dichter . Ergebnis . . . . . . . . . . . . .
Teil 5:
Abgrenzung vom Imitatio-Modell: Rilke, zur Linde, Pannwitz, Borchardt, Schröder . . . . 276
5.1 5.2 5.3 5.4
Kritik an der Mimesis des Urgeists . . Kritik an der Imitatio . . . . . . . . . . Kritik an Imitatio und Homosexualität Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . .
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241 257 260 270 274
276 286 305 317
Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 Bild- und Textanhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Friedrich Gundolf: Über Bühnenanweisungen [Umschlag] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Friedrich Gundolf: Sonette vom Taschensumpf . . . . Hanns Meinke: An Stefan George . . . . . . . . . . . Friedrich Gundolf und Karl Wolfskehl: Ein und funfzig auf den ARSCH . . . . . . . . . . . Karl Wolfskehl: Vier Parodien auf Rainer Maria Rilke
. . . 329 . . . 330 . . . 330 . . . 340 . . . 354
IX
Inhaltsverzeichnis
Rudolf Alexander Schröder: Arschaisch hast du, Stefan, dich gebrüstet einst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . Verzeichnis der Archive und Abkürzungen . Ungedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . Gedruckte Quellen und Forschungsliteratur Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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363 363 364 366 394 395 396
X
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1
Einleitung Im Kreis wird sie verfasst, von Zeitgenossen verlacht, von der Forschung weithin ignoriert: die sogenannte „Epigonenlyrik“1 im Umfeld Stefan Georges. Karlhans Kluncker konstatiert in seinem Aufsatz Der George-Kreis als Dichterschule: Unberührt von variierender Autorschaft und minimen Ansätzen zu sprachlichen Individualstilen ergibt sich ein monochromer künstlerischer Gesamteindruck der ‚Blätter‘, da der gemeinsame Nenner aller Beiträge dem Werk Georges zu entnehmen ist.2
Die Abwertung der Blätter-Gedichte als epigonal oder als unfreiwillige Parodie, als „Hohlspiegelbilder und Pfefferkuchenmänner Georgeschen Wesens“3 zieht sich wie ein Basso ostinato durch die lange Geschichte der George-Kritik. Nur wenige Stimmen erheben sich zur Verteidigung der Lyrik des Kreises.4 Den mächtigsten Fürsprecher hat sie in George selbst, der es ablehnt, darin „nur eine ansammlung mehr oder minder guter verse“ oder „schamlose nachahmerei“ zu sehen. Demgegenüber betont er das „BAULICHE (construktive)“.5 Nicht das Talent des Einzelnen, sondern der Gesamteindruck ist für George ent-
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Vgl. Manfred Durzak: Epigonenlyrik. Zur Dichtung des George-Kreises. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 13 (1969), S. 482–529. Karlhans Kluncker: Der George-Kreis als Dichterschule. In: Roger Bauer u.a. (Hg.): Fin de siècle. Zu Literatur und Kunst der Jahrhundertwende (Studien zur Philosophie und Literatur des neunzehnten Jahrhunderts 35), Frankfurt a.M.: Klostermann 1977, S. 467–480, hier S. 475f. Vgl. Albrecht Schaeffer: Stefan George. In: ders.: Dichter und Dichtung. Kritische Versuche, Leipzig: Insel 1923, S. 297–501, hier S. 495. Vgl. Karlhans Kluncker: Blätter für die Kunst. Zeitschrift der Dichterschule Stefan Georges, Frankfurt a.M.: Klostermann 1974. Stefan George an Hugo von Hofmannsthal, Brief vom Juli 1902. In: Robert Boehringer (Hg): Briefwechsel zwischen George und Hofmannsthal, zweite, ergänzte Auflage, München und Düsseldorf: Helmut Küpper vormals Georg Bondi 1953 [erste Auflage: 1938], S. 158–162, hier S. 160f. (im Folgenden zit. als George-Hofmannsthal Briefwechsel).
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Einleitung
scheidend, und er sieht sich missverstanden, wenn das einzelne Element, der einzelne schwache Dichter im Kreis, und nicht das Zusammenwirken der einzelnen Teile auf seine Qualität hin geprüft wird. Was George in seinem Brief an Hofmannsthal vom Juli 1902 entwirft, ist, ohne es so zu nennen, eine Nachahmungstheorie. Diese Theorie soll klarstellen, wie das nachahmende Dichten vieler Einzelner zu einem Gesamtgefüge wird, welches die Kultur auf ein neues Niveau hebt. Um dieses Ziel zu erreichen, sind zwei Typen von Akteuren notwendig: die Einzelnen, von denen die schöpferischen Impulse ausgehen, und die Gruppe, die diese Impulse aufgreift und weiterträgt. Nur wenige Beiträger seiner Zeitschrift Blätter für die Kunst bezeichnet George gegenüber Hofmannsthal als „urbedingt“ und „einzig“, so etwa Ludwig Klages oder Karl Wolfskehl. Diese sogenannten „Urgeister“ imitieren nicht, sondern sind dazu befähigt, ihre individuellen Anlagen unabhängig von der Anleitung durch andere zur Vollendung zu treiben.6 Die meisten Menschen sind aber „abgeleitete Wesen“.7 Ihr Schaffen ist nicht autark. Um produktiv zu werden, sind sie auf den Kontakt zu einem Urgeist angewiesen. Sie besitzen die schöpferische Energie, „das Göttliche“, nur in der „abgeleiteten art“, „als funken der immer wieder entfacht werden muss“.8 6
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8
Der Begriff „Urgeist“ ist in den Schriften des Kreises ubiquitär. Programmatisch erscheint er in der fünften Folge der Blätter: „Neuer Bildungsgrad (Kultur) entsteht indem ein oder mehrere urgeister ihren lebensrhythmus offenbaren […].“ – Blätter V, S. 1. – Herausgegriffen sei aus der Fülle der Belege die Einleitung aus dem Goethe von Friedrich Gundolf. Gundolf spricht dort nicht vom lyrischen Ich und vom Erlebnis, sondern vom „Ur-ich“ und vom „Urerlebnis“ des Dichters sowie vom „Genie“, das „ein Urgeist, kein bloßer Bildungsmensch“ sei. – Friedrich Gundolf: Goethe, Berlin: Bondi 111922 [erste Auflage: 1916], S. 26f. Der Begriff „abgeleitetes Wesen“ ist in den Schriften des Kreises seltener, aber der Sache nach ebenso präsent wie sein Komplement, der Urgeist. Als Beleg dient Karl Wolfskehl: Stefan George und die Welt [zu seinem 60. Geburtstag]. In: Karl Wolfskehl. Gesammelte Werke, 2 Bde., hg. v. Margot Ruben und Claus Victor Bock, Bd. 2, Übertragungen. Prosa, Hamburg: Claassen 1960 [erstmals gedruckt in: Münchener Neueste Nachrichten, Nr. 188, am 12. 7. 1928 und Die Neue Rundschau 2 (1928)], S. 260–267, hier S. 267. – Wolfskehl nennt George ein „lebendiges Vorbild für jedes abgeleitete Wesen, das ‚sich im Sein erhalten‘ will.“ Blätter IX, S. 154.
Einleitung
3
Das Gegensatzpaar von ur- und abgeleitet ist eine Grundkonstellation, die das Denken des Kreises in ganz verschiedenen Kontexten prägt. Einer davon ist die literarische Polemik. Für Friedrich Gundolf ist z.B. Rudolf Borchardt ein Wesen, das „von ableitungen aus abgeleitetem lebt“, wohingegen George „nichts als wesen“ sei.9 Auf der Ebene der Textanalyse differenziert Gundolf zwischen „Urerlebnissen“ und „abgeleiteten Erlebnisse[n]“.10 Max Kommerell unterscheidet zwischen dem Typus des „Urdichters“, der neue Sprachzeichen „unmittelbar“ aus dem „Lebensstoff“ generiere (Mimesis), und dem abgeleiteten Dichter, der „am Geformten weiterformt“ (Imitatio).11 Auf nicht-literarische Bereiche greift dieser Antagonismus über, wenn die Philosophin Edith Landmann die „Urwahrheiten der Dichter“ positiv den nur „abgeleiteten Wahrheiten philosophischer Systeme“ gegenüberstellt.12 In der Regel sehen sich Georges Anhänger als abgeleitete Wesen. George nennt die zu jener Gruppe gehörenden Kreisangehörigen in seinem Schreiben an Hofmannsthal abstufend die „kleineren“, die „ganz kleinen“ und die „kleinsten“. Sie können – und sollen – durch Nachahmung der Urgeister an deren kulturellen Leistungen partizipieren. Auch die imitierende Lyrik der „kleinsten“ habe ungeachtet ihres fehlenden ästhetischen Eigenwerts eine Existenzberechtigung, weil sie künstlerische Sekundärtugenden wie Disziplin, Arbeitsethos und Geschmack auszubilden helfe. Anders als bei den Urgeistern führten diese Tugenden zwar nicht zur Perfektion: „durch alle haltung und führung wird kein meisterwerk geboren“. Aber die Verbesserung ihres handwerklichen Könnens führe zu Resultaten, welche „bei aller dünnheit“ doch „durchaus anständig“ seien. Der Maßstab, an dem die entstehende Lyrik gemessen wird, ist die zu imitierende, durch den Urgeist gesetzte Norm. Indem eine gesamte Dichtergruppe nach Verbesserung ihrer lyrischen Aussagefähigkeiten strebt, will George ausgehend von diesem Nu9 10 11
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Friedrich Gundolf: Das Bild Georges. In: Jahrbuch für die geistige Bewegung 1 (1910), S. 19–48, hier S. 33. Gundolf (111922): Goethe, S. 28. Max Kommerell: Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik. Klopstock – Herder – Goethe – Schiller – Jean Paul – Hölderlin, Frankfurt a.M.: Klostermann 2(1940) [erste Auflage: 1928], S. 95. Edith Landmann: Die Transcendenz des Erkennens, Berlin: Bondi 1923, S. 290.
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Einleitung
kleus die poetische und ästhetische Kultur der Gegenwart heben. Dass aber diese kleinsten solche arbeit zu liefern vermochten: dass man ihnen rein handwerklich bei aller dünnheit nicht soviel stümperei anzukreiden hat als manchen Vielgerühmten: das scheint mir zeitlich und örtlich betrachtet für unsre kunst und kultur von höherer bedeutung als alle versbände und alle theaterstücke […].13
Imitatio nimmt in Georges Bildungsprogramm eine zentrale Stellung ein. Nachahmung soll kulturbildend wirken, indem sie der Pluralität von Stilen und Schreibweisen einen einzigen Stil entgegensetzt. Das lässt sich auf Nietzsche beziehen, der in seiner ersten Unzeitgemäßen Betrachtung Kultur als „Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebensäusserungen eines Volkes“ definiert.14 Nachgeahmt werden sollen keine überhistorischen, klassischen Vorbilder, sondern die lebenden Urgeister und mit ihnen die jeweils neuen Tendenzen. Ähnliche Konzeptionen sind wenige Jahre später im Kunstgewerbe wie dem Bauhaus oder dem Deutschen Werkbund zu finden. Hermann Muthesius zufolge soll die kunstgewerbliche Industrieproduktion nicht die alten Formelemente kopieren, sondern den neuen englischen Stil, wovon er sich nicht zuletzt eine „erziehliche Wirkung“ auf den „tiefgesunkenen Geschmacksstand“ verspricht.15 Auch das Bauhaus proklamiert eine serielle Kopie neuer Stile und betont das Handwerkliche im Schaffensprozess. Ein signifikanter Unterschied besteht indes darin, dass für George die künstlerische 13 14
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Stefan George an Hugo von Hofmannsthal, Brief vom Juli 1902. In: GeorgeHofmannsthal Briefwechsel, S. 158–162, hier S. 159f. Friedrich Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen, Erstes Stück. In: Nietzsche Werke, Kritische Gesamtausgabe, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin und New York: de Gruyter 1972, Bd. 3.1, Die Geburt der Tragödie, Unzeitgemäße Betrachtungen I–III, hier S. 159. – Zur Rezeption dieser Gedanken im George-Kreis vgl. Stefan Breuer: Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995, S. 191f. „Wenn man von dem Kunstgewerbe eine erziehliche Wirkung erhofft, wenn es den tiefgesunkenen Geschmacksstand heben soll, so kann dieses Ziel nur erreicht werden, wenn auch die täglichen Gebrauchsgegenstände vernünftig und schön gestaltet werden, und das kann nur geschehen, wenn sich die Reorganisation bis in die maschinenmäßig hergestellten Gebrauchsgegenstände erstreckt.“ – In: Sonja Günther (Hg.): Hermann Muthesius 1861–1927. Katalog zur Ausstellung in der Akademie der Künste vom 11. Dezember 1977 bis 22. Januar 1978 (Akademiekatalog 117), o.O. [Berlin] o.J. [1977], S. 38.
Einleitung
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Leitkultur nicht auf gesellschaftlichen Übereinkünften, sondern auf dem Willen schöpferischer Einzelner beruht.16 George differenziert zwischen einer Poetik der Urgeister und einer Poetik für die abgeleiteten Wesen. Die Poetik für die Urgeister bewegt sich im ideengeschichtlichen Kontext von Individualität und Schöpfertum. Creatio meint im Blick auf George keine Neuschöpfung von Welt wie im französischen Symbolismus, sondern nur eine Neuschöpfung von Sprache, mit der die Welt bezeichnet wird. Der Dichter als Vates findet für das von ihm intuitiv Wahrgenommene neue sprachliche Zeichen. Er allein leistet Mimesis. Mimesis umschreiben die Schriften des Kreises als Erkenntnis und Darstellung des urbildlichen Seins (vgl. Kap. 1.2).17 Die Poetik für die abgeleiteten Wesen thematisiert hingegen primär die Imitatio auctoris. Sie sollen im Gestus der Creatio des Urgeists dichten, aber selbst keine Creatio vollbringen. Konflikte ergeben sich dann, wenn Georges Anhänger diese Ebenen verwechseln bzw. wenn ihre Gedichte so rezipiert werden, als läge eine solche Verwechslung vor. Auf dieses Problem weist Hofmannsthal in einem Brief vom 18. Juni 1902 hin, der von George mit dem eben zitierten Brief beantwortet wird. Auf Hofmannsthal wirkt die stilistische George-Imitation in den Blättern verlogen, weil sie „das Durchdrungensein, den Sieg über das Ganze“ vortäusche, indem sie sich des „neuen gehaltenen Tones“ bediene.18 Er sieht in der stilistischen Imitatio eine Anmaßung. George verteidigt darauf die imitierende Kreislyrik mit Verweis auf das realistische Selbstbild ihrer Verfasser („sich wie geniusse geberden – thaten sie nie“).19 Spätere Modifikationen seiner Nachahmungspoetik zeigen, dass George durch Integration inspirationstheoretischer Vorstellungen diesem Defizit zu begegnen sucht. Konflikte ergeben sich aber auch dann, wenn genuine poetische Begabungen seines Kreises mit dem enggesteckten Rahmen der Nachahmung konfrontiert werden. Ein Gutteil der Spannungen, die in den nachfolgenden Textanalysen 16 17 18 19
Vgl. Breuer (1995): Ästhetischer Fundamentalismus, S. 192. Aus diesem spezifischen Vates-Modell resultiert Georges Ablehnung des Geniegedankens. Hugo von Hofmannsthal an Stefan George, Brief vom 18. Juni 1902. In: George-Hofmannsthal Briefwechsel, S. 152–157, hier S. 154. Stefan George an Hugo von Hofmannsthal, Brief vom Juli 1902. In: GeorgeHofmannsthal Briefwechsel, S. 158–162, hier S. 159.
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herausgearbeitet werden, resultiert aus dieser labilen Konstellation und dem problematischen Austarieren zwischen Imitatio und Creatio. Sozial-, kultur- und bildungsgeschichtliche Fragestellungen bestimmen die George-Forschung der letzten Jahre. Stefan Breuer,20 Rainer Kolk,21 Carola Groppe22 und Robert Norton23 setzen sich mit der Struktur des Kreises und seinen psychosozialen, wissenschaftsgeschichtlichen, pädagogischen und politischen Merkmalen auseinander. Thomas Karlaufs George-Biographie,24 das im Entstehen begriffene George-Handbuch25 und Ulrich Raulffs Monographie über Georges Nachleben26 signalisieren öffentliches Interesse, wie es aktuell dem gesamten Umfeld der sogenannten „konservativen Revolution“ zuteil wird.27 Aktuell kündigt sich eine stärkere Fokussierung auf Georges Lyrik und Poetik an: Armin Schäfer hat eine textimmanente Studie zur poetischen Form bei George vorgelegt,28 Steffen Martus hat Georges Gesamtschaffen unter dem Vorzeichen einer Werkpolitik analysiert29 und Ernst Osterkamp betrachtet in seiner jüngsten Veröffentlichung in Einzelinterpretationen das proble20 21 22 23 24 25
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Vgl. Breuer (1995): Ästhetischer Fundamentalismus. Vgl. Rainer Kolk: Literarische Gruppenbildung am Beispiel des George-Kreises 1890–1945 (Communicatio 17), Tübingen: Niemeyer 1998. Vgl. Carola Groppe: Die Macht der Bildung. Das deutsche Bürgertum und der George-Kreis 1890–1933, Köln: Böhlau 1997. Vgl. Robert Norton: Secret Germany. Stefan George and His Circle, Ithaca, NY u.a.: Cornell Univ. Press 2002. Vgl. Thomas Karlauf: Stefan George. Die Entdeckung des Charisma. Biographie, München: Blessing 2007. Vgl. Achim Aurnhammer, Wolfgang Braungart, Stefan Breuer und Ute Oelmann (Hg.): Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch zu Leben und Werk Stefan Georges, zu den Mitgliedern seines Kreises und zu dessen Wirkung, 3 Bde., Berlin und New York: de Gruyter 2011 [in Vorbereitung]. Ulrich Raulff: Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben. München: C.H. Beck 2009. Vgl. Jan Andres, Wolfgang Braungart und Kai Kauffmann (Hg.): „Nichts als die Schönheit“: ästhetischer Konservatismus um 1900 (Historische Politikforschung 10), Frankfurt a.M. u.a.: Campus 2007; Stefan Breuer: Die Völkischen in Deutschland. Kaiserreich und Weimarer Republik, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2008. Vgl. Armin Schäfer: Intensität der Form. Stefan Georges Lyrik, Köln u.a.: Böhlau 2005. Vgl. Steffen Martus: Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert. Mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George (Historia Hermeneutica 3), Berlin und New York: de Gruyter 2007.
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matische Spätwerk.30 Sandra Richter hat auf das spannungsvolle Verhältnis von anti-parodistischer Poetik und parodistischer Praxis im George-Kreis aufmerksam gemacht.31 Marita KeilsonLauritz nimmt in ihren Gedichtanalysen speziell das Phänomen der Homoerotik in den Blick.32 Einzig Hans-Georg Gadamer hat bisher die exponierte Stellung „der Nachahmung, der imitatio“ im Kreis als entscheidende Differenz zu anderen Poetiken der Zeit benannt, ohne diesen Gedanken weiter auszuführen.33 Das Phänomen der Imitatio wurde bislang noch nicht ins Zentrum einer Studie über den George-Kreis gestellt, obwohl gerade der Aspekt der Nachahmung eine Verbindung zwischen poetologischen und gruppensoziologischen Ansätzen herzustellen vermag.34 Die Wiederentdeckung der Imitatio bei George bildet das zentrale Scharnier zwischen der sozialen Kreis- und Gemeindebildung und der Poetik des Kreises. Wolfgang Braungarts Darstellung ist für diese doppelte Betrachtungsweise ein wichtiger Bezugspunkt.
30 31
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Vgl. Ernst Osterkamp: Poesie der leeren Mitte. Stefan Georges Neues Reich, München: Hanser 2010. Vgl. Sandra Pott: Parodistische Praktiken und anti-parodistische Poetik. Friedrich Gundolf über Goethe, Hölderlin, Platen, Heredia und Hofmannsthal (mit einem Abdruck unveröffentlichter Texte). In: Euphorion 100 (2006), H. 1, S. 29–77. Marita Keilson-Lauritz: Von der Liebe, die Freundschaft heißt. Zur Homoerotik im Werk Stefan Georges (Homosexualität und Literatur 2), Berlin: Rosa Winkel 1987. Gadamer hat unter dem Titel Poetica acht Essays veröffentlicht, von denen die ersten drei Stefan George gewidmet sind. – Hans-Georg Gadamer: Der Dichter Stefan George. Gedenkrede, gehalten 1968 an der Universität Heidelberg. In: ders.: Poetica. Ausgewählte Essays, Frankfurt a.M.: Insel 1977, S. 7–38, hier S. 8f. Zur literarischen Gruppenforschung vgl. Jürgen Frese: Intellektuellen-Assoziationen. In: Richard Faber und Christine Holste (Hg.): Kreise, Gruppen, Bünde. Zur Soziologie moderner Intellektuellenassoziationen, Würzburg: Königshausen & Neumann 2000, S. 441–462; vgl. Kolk (1998): Literarische Gruppenbildung; ders.: Art. George-Kreis. In: Wulf Wülfing, Karin Bruns und Rolf Parr (Hg.): Handbuch literarisch-kultureller Vereine, Gruppen und Bünde 1825–1933 (Repertorien zur deutschen Literaturwissenschaft 18), Stuttgart und Weimar: Metzler 1998, S. 141–155; Günter Baumann: Der George-Kreis. In: Faber (2000): Kreise, Gruppen, Bünde, S. 65–84; Rolf Parr: Interdiskursive As-Sociation. Studien zu literarisch-kulturellen Vereinen, Gruppen und Bünden vom Vormärz bis zum Ersten Weltkrieg (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 75), Tübingen: Niemeyer 2000.
8
Einleitung
Er entwickelt am Beispiel des George-Kreises eine Theorie des ästhetischen Rituals und zeigt Verbindungen von ästhetischen, soziologischen und religiösen Konzepten auf, die auch für diese Studie wichtig sind.35 Jürgen Egyptien hat das Desiderat einer systematischen Betrachtung der imitierenden, als epigonal eingeordneten Kreislyrik benannt.36 Sie wurde bislang nur zum Gegenstand weniger, sich auf Einzelpersonen konzentrierender Studien.37 Eine verdienstvolle und materialreiche Ausnahme bildet die Arbeit von Karlhans Kluncker über die Blätter für die Kunst.38 Neben der Darstellung der Produktionsbedingungen und der Thematisierung des Buchmarktes gibt Kluncker eine Übersicht über die stilistischen Merkmale der Kreislyrik und bietet damit eine unverzichtbare Basis für die Betrachtung imitierender Gedichte. Achim Aurnhammer bereitet einen Überblick über die produktive George-Rezeption außerhalb des Kreises vor.39 Günter Heintz, der die Wirkungsgeschichte Georges in der Lyrik der nachfolgenden Dichtergeneration untersucht, arbeitet weitgehend mit anderen Texten und mit einer anderen Zielsetzung als die vorliegende Untersuchung.40 Diese Arbeit löst das von Egyptien konstatierte Desiderat nur bedingt ein; eine vollständige Erfassung des Materials beansprucht sie nicht. Ihre Zielsetzung ist, zu einer dem Selbstverständnis des Kreises angemessenen Einschätzung der imitierenden Lyrik im Umfeld Georges zu gelangen. Interessant sind die Gedichte nicht durch ihre Validität in Bezug auf das Kriterium der Eigenständigkeit, sondern 35 36
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Wolfgang Braungart: Ästhetischer Katholizismus. Stefan Georges Rituale der Literatur (Communicatio 15), Tübingen: Niemeyer 1997. Vgl. Jürgen Egyptien: Entwicklung und Stand der George-Forschung 1955– 2005. In: Text+Kritik. Zeitschrift für Literatur 168 (2005), Stefan George, S. 105–122, hier S. 121. Vgl. etwa Robert E. Lerner: Poetry of Gertrud Kantorowicz: Between „Die Blätter für die Kunst“ and Theresienstadt. In: George-Jahrbuch 5 (2004/05), S. 98–109, und Sieglinde Klettenhammer: Stefan George und seine ‚Jünger‘ in der Provinz. Das Verhältnis der ‚Brenner‘-Gruppe zum George-Kreis. In: George-Jahrbuch 5 (2004/05), S. 76–118. Vgl. Kluncker (1974): Blätter für die Kunst. Der für das Handbuch Stefan George und sein Kreis bestimmte Text war bei Drucklegung noch unveröffentlicht. Vgl. Günter Heintz: Stefan George. Studien zu seiner künstlerischen Wirkung (Schriften zur Literatur- und Geistesgeschichte 2), Stuttgart: Hauswedell 1986.
Einleitung
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durch ihre je spezifische Umsetzung einer im Kreis entstehenden Nachahmungstheorie. Die vielen imitierenden Gedichtbände und Einzelgedichte in Georges Umfeld sind kein bloßer Wurmfortsatz seines eigenen Œuvres, sondern führen ins Zentrum seiner Poetik.41 Georges Poetik erheischt das Imitiertwerden, die imitierenden Gedichte erlangen Vollständigkeit erst als Imitate von Georges Lyrik. George hat seine Poetik konsequent zum Thema seiner Lyrik gemacht. Seine Gedichte lassen sich – mit Sandra Richters Heuristik – in drei Gruppen aufteilen.42 Eine erste Gruppe bilden die Dichtergedichte und poetologischen Widmungsgedichte. Beide Typen sind im Werk von George überdurchschnittlich häufig vertreten. Sie stellen den Autor und die Produktionsseite von Lyrik ins Zentrum und thematisieren die technischen und subjektiven Voraussetzungen dichterischen Schreibens. Die zweite Gruppe bilden Gedichte über Lyrik als dichterisches Produkt im weiteren Sinne; eingeschlossen sind hier Poesie, Lyrik oder ein bestimmtes literarisches Programm. Zu dieser zweiten Gruppe poetologischer Lyrik gehören auch Texte, die die Poetiken anderer Dichter kommentieren. Gedichte der dritten, sich mit der Rezeption von Literatur befassenden Gruppe von poetologischer Lyrik präjudizieren, kommentieren und steuern die voraussichtliche Aufnahme eines Werks. Diese Taxonomie ist stichhaltig und kann, weil sie den Nachahmungskomplex gleichsam zum Subthema hat, sinnvoll dem Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit angepasst werden: Der ersten Gruppe poetologischer Lyrik zuzurechnen sind diejenigen Gedichte, die den Bereich der Mimesis zum Thema haben oder Anweisungen geben, 41
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Für die Betrachtung von Georges Lyrik und Poetik sind die Standardwerke von Hubert Arbogast und Claude David sowie die bereits genannte Habilitationsschrift von Wolfgang Braungart wichtige Referenzpunkte. Die Dissertation von Annegret Schaub-Bungers wirkt in ihrem ideologiekritischen Ansatz heute in vielen Punkten veraltet. – Vgl. Hubert Arbogast: Die Erneuerung der deutschen Dichtersprache in den Frühwerken Stefan Georges: eine stilgeschichtliche Untersuchung, Köln: Böhlau 1967; Claude David: Stefan George. Sein dichterisches Werk, München: Hanser 1967; Braungart (1997): Ästhetischer Katholizismus; Annegret Schaub-Bungers: Die Poetik Stefan Georges im Rahmen seiner Kunstanschauung (Versuch einer Ideologiekritik), Dissertation Universität Göttingen 1972. Vgl. Sandra Pott: Poetiken, Poetologische Lyrik, Poetik und Ästhetik von Novalis bis Rilke, Berlin und New York: de Gruyter 2004.
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wie Dichten gelingt. Zur zweiten Gruppe zählen diejenigen Gedichte, die die eigene Lyrik, die Lyrik des Kreises bzw. die Lyrik und Poetik anderer kommentieren oder imitieren. Texte der dritten Gruppe unterscheiden zwischen adäquater und inadäquater Rezeption und suchen die Aufnahme eines Werks zu steuern, indem sie Regeln aufstellen, wie sich der ideale Rezipient gegenüber der aufzunehmenden Lyrik verhalten soll. Sie berühren das von Braungart als performativ bezeichnete Element von Georges Poetik, das vom Leser eine aktive Rezeptionshaltung einfordert.43 Zu einer solchen Rezeption zählt auch die Nachahmung. Die Gedichte dieser Gruppe sind entweder poetologische Selbstaussagen Georges oder poetologische Wegweiser für die „abgeleiteten Wesen“ (Wolfskehl) seines Kreises. Imitierende Aneignungsformen wie das Abschreiben, Auswendiglernen, Rezitieren und Übersetzen von Gedichten sind nicht nur technische Verfahren, sie zielen auf die Verinnerlichung der von George gesetzten poetischen und ethischen Normen.44 Es gibt Gedichte von George, die eben jene ethische Imitatio thematisieren. Im Verlauf der Arbeit wird gezeigt, wie eng ethische und stilistische Imitatio aufeinander bezogen sind. Ethische Imitatio bezweckt eine den ganzen Menschen betreffende Ausrichtung. Georges Anhänger beschreiben das Eintreten in Georges Kraftfeld als Umkehr im neutestamentlichen Sinn.45 Parallelen zur Imitatio Christi sind durchaus gewollt. Gadamer erkennt diese Implikation von Nachahmung auch, wenn er von einem „neuen Stil des Meister-Schüler-Verhältnis43
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Vgl. Wolfgang Braungart: „Was ich noch sinne und was ich noch füge, Was ich noch liebe trägt die gleichen züge“. Stefan Georges performative Poetik. In: Text+Kritik. Zeitschrift für Literatur 168 (2005), Stefan George, S. 3–18. Vgl. Robert Boehringer: Das Leben von Gedichten, Kiel: Hirt 31955 [erste Auflage: Breslau: Hirt 1932], S. 5f. – Vgl. auch Karlauf (2007): Stefan George, S. 389 und Braungart (1997): Ästhetischer Katholizismus, S. 154. Vgl. [Edith Landmann]: Georgika. Das Wesen des Dichters. Stefan George: Umriß seines Werkes. Stefan George: Umriß seiner Wirkung, Heidelberg: Weiss’sche Universitätsbuchhandlung 1920 [zweite Auflage 1924]. – Die Studie erscheint mit Georges Imprimatur versehen, aber anonym – vermutlich, weil der Verfasser eine Frau ist. Gundolf schätzt die Abhandlung sehr, wahrt aber gegenüber seiner Freundin Elisabeth Salomon die Anonymität der Autorin: „Wer die Georgika verfasst soll ich nicht sagen […].“ – Friedrich Gundolf an Elisabeth Salomon, Brief vom 28. Juli 1920 (DLA). – Landmann spricht von der „Sinnesänderung des ganzen Menschen“, S. 102.
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ses“ spricht, der sich im George-Kreis ausgeprägt habe. „Was in solchem Verhältnis […] herangebildet wurde, war für jeden, der auch nur von ferne beobachten konnte […] besonders eindrucksvoll, weil es dem allgemeinen Zeitbewusstsein und seinen Werten entschieden widersprach.“46 Imitatio scheint der Ästhetik der Moderne zuwiderzulaufen, weil diese doch allgemein nach Individualisierung strebt. Die Vielzahl von Poetiken und Schreibweisen um 1900 fördert demgemäß nicht die Imitation, sondern die Originalität bzw. in intertextuellen Zusammenhängen die Parodie in allen drei Gattungen: Es gibt die Lyrikparodie,47 die Dramenparodie48 und, z.B. auf dem Gebiet der Trivialliteratur, die „Backfischroman“-Parodie49 oder die „Sex and crime“-Parodie.50 Parodierende oder allgemein ironische Formen von Intertextualität in Literatur, Musik, Theater, bildender Kunst und im Film gelten als „ästhetische Signatur der Moderne“.51 Allerdings setzt diese Zuschreibung ein spezifisches Bild einer Ideal-Moderne voraus, das sich nicht nur mit der sogenannten Gegenmoderne, sondern mit der realen Moderne nicht ohne Weiteres deckt. Denn die Moderne kennt auch wertfreie oder affirmative imitierende Verfahren. Prozesse der Schul- und Gruppenbildung bei Arnold Schönberg oder Arno Holz, das Entstehen neuer Regelpoetik und -ästhetik bei Holz, Schönberg oder Wassily Kandinsky, Verfahren stilistischer Imitatio wie die Hölderlin-Anklänge des frühen Lud46 47
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Gadamer (1977): Der Dichter Stefan George, S. 8f. Vgl. z.B. Hanns von Gumppenberg: Das teutsche Dichterross in allen Gangarten vorgeritten, München: Verlag der Deutsch-Französischen Rundschau 1901. Mit zahlreichen Nachauflagen ist es bis heute eine populäre Anthologie von Lyrikparodien. Vgl. Nikola Rossbach: Theater über Theater. Parodie und Moderne 1870–1914, Bielefeld: Aisthesis 2006; Hans E. Goldschmidt (Hg.): Quer sacrum. Wiener Parodien und Karikaturen der Jahrhundertwende, Wien: Jugend und Volk 1976. Karl Ettlinger: Fräulein Tugendschön, die edle Gouvernante (Parodie auf einen Backfisch-Roman) und andere Humoresken, München und Leipzig: GeorgMüller 21909. Richard Kovacevic und Emmerich Kolovic (Hg.): Amalia Krauthappl oder Der Schlüssel zum Glück. „Sex and crime“-Parodie aus den Zwanzigerjahren, Wien: Lynkeus 1990. Vgl. Philippe Despoix, Art: Ironisch/Ironie, IV. Eine ästhetische Signatur der Moderne. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, hg. v. Karlheinz Barck u.a., Bd. 3, Stuttgart und Weimar: Metzler 2001, S. 224–236, hier S. 225.
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wig Strauß oder die Nachahmung antiker, mittelalterlicher oder frühneuzeitlicher Formen bei Rudolf Borchardt und Rudolf Alexander Schröder, das Übersetzen als technisches Aneignungsverfahren, ja der ganze Bereich der Stilistik im gymnasialen Schulunterricht: sie alle zeigen teils eine Kontinuität, teils eine Wiederaufnahme der Imitatio. Vom Teppich des Lebens (1899) und von der fünften Folge der Blätter für die Kunst (1900/01) an wird von George ein Imitatio-Modell theoretisch fixiert und in poetische, philosophische und weltanschauliche Konzepte eingebunden. Dieser Begriff wird zwar nicht expressis verbis verwendet, aber die Konzeption hat durchaus Modellcharakter, weil sie der Kreisbildung die theoretische Grundlage gibt und prägend auf die Denkmuster und Wahrnehmungsweisen der Kreisangehörigen wirkt. Man kann sich dem Imitatio-Modell im Kreis nähern, indem man es gesellschaftlichen Tendenzen, etwa einem modernetypischen „Bedürfnis nach verbindlichen Normen“,52 zuordnet oder nach mentalen Voraussetzungen wie beispielsweise einem Defizienzbewusstsein der Imitierenden fragt.53 Robert Norton schreibt in seiner George-Biographie, George wolle klonen,54 und erklärt damit seine Förderung von Imitatio mit einem narzisstischen Wunsch nach Selbstvermehrung. Auch Stefan Breuer hat bei George und Mitgliedern seines Kreises eine narzisstische Störung diagnostiziert.55 Aber zeitgeschichtliche oder psychologische Erklärungsmuster allein greifen zu kurz. Es handelt sich um ein poetologisch hoch reflektiertes Konzept, das im ImitatioZusammenhang erstens eine Quelle dichterischer Produktivität entdeckt und zweitens auf diese Weise Bedingungen für die Möglichkeit einer ästhetischen Erfahrung schaffen will. Die ästhetische Erfahrung ist ein konstitutiver Faktor des Kreises. Sie steht am Beginn des Kontakts eines späteren Kreismitglieds zu George, sie präformiert ein ‚religiöses‘ Verhältnis zwischen Meister und Jünger. Die imitierenden Techniken im 52 53
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Maximilian Nutz: Werte und Wertungen im George-Kreis. Zur Soziologie literarischer Kritik, Bonn: Grundmann 1976, S. 50. Vgl. Nikola Kaminski und Dina De Rentiis: Art. Imitatio. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. v. Gert Ueding, Bd. 4, Tübingen: Niemeyer 1998, Sp. 235–285, hier Sp. 237. Vgl. Norton (2002): Secret Germany, S. 400. Vgl. Breuer (1995): Ästhetischer Fundamentalismus.
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Kreisleben haben die Funktion, sie zu perpetuieren. Um überhaupt den Impuls zur Nachfolge zu verspüren, ist eine ästhetische Ersterfahrung mit Georges Lyrik notwendig. Das geht aus den Erinnerungsbüchern des Kreises deutlich hervor. Aus dieser Ersterfahrung folgt die bedingungslose Anerkennung von Georges Werk, die zur bedingungslosen Anerkennung von Georges Person überleiten kann. Daraus kann eine Entscheidung zur Nachfolge resultieren. Vonseiten des Jüngers initiiert sie den Eintritt ins Nachahmungsgefüge, vonseiten des Meisters muss dieser Moment durch den Akt der Erwählung bestätigt werden. Was daraus folgt, ist ein Meister-Jünger-Verhältnis, das auf der ethischen Nachfolge des Jüngers beruht. Stilistische Imitatio ist eine Folge dieser ethischen Imitatio. Die Stilnachahmung kann unbewusst wie bewusst geschehen. In der unbewussten Weise resultiert sie aus Überwältigung und Stilzwang. In der bewussten ist sie ein Mittel, durch die hermeneutische Anstrengung des aktiven Nachvollzugs die bewunderte Lyrik Georges besser zu verstehen. Die Ausübung imitierender Techniken dient dazu, die ästhetische Ersterfahrung zu wiederholen und ihre Intensität aufrechtzuerhalten. Ästhetische Erfahrung wird durch die Einübung in imitierende Praktiken gleichsam systematisiert. Imitatio wird beschrieben als Verbindung von aktivem Üben (Exercitatio) und passivem Angesteckt- und Überwältigtwerden (Contagio). Ein distanziertes Verhältnis zum imitierten Gegenstand ist im Imitatio-Modell nicht vorgesehen. Stilistische Imitatio ohne ethische Imitatio wird als Ästhetizismus, Proteismus oder Eklektizismus abgelehnt. Eine Analyse der Imitatio-Theorie und der imitierenden Praktiken des Kreises hat bei diesen poetologischen Absichten und Abgrenzungen anzusetzen. Natürlich sind auch sie eingebettet in Strömungen der Zeit wie z.B. ästhetischen Anschauungen der Jugendbewegung und der Lebensphilosophie.56 Über einen Bezug zu symbolistischen Lyriktheorien wird im Verlauf der Arbeit zu reden sein. Georges frühe Begegnung mit der mo56
Heidegger etwa entwickelt ähnliche Vorstellungen ausgehend vom Bündischen. – Vgl. Martin Heidegger: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), In: Martin Heidegger. Gesamtausgabe. III. Abteilung: Unveröffentlichte Abhandlungen, Bd. 65, Frankfurt a.M.: Klostermann 32003, Kap. 45 „Die ‚Entscheidung‘“, S. 96–99.
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dernen französischen Lyrik und mit dem Kreis um Mallarmé stellen die Weichen für seine poetische und poetologische Entwicklung und relativieren den späteren Einfluss Platons. Die These lautet, dass nicht die Platon-Exegese des Kreises, wie sie momentan verstärktes Forschungsinteresse auf sich zieht,57 für die Imitatio-Theorie des Kreises – so zweifellos diese antiken Modellen nahesteht – verantwortlich ist, sondern dass sie sich aus Georges früher Poetik entwickelt. Stefan Breuer hat aus Vorstellungen Georges und seines Kreises heraus eine Theorie des ästhetischen Fundamentalismus formuliert.58 Auf den ersten Blick scheint im Phänomen der George-Imitatio eine fundamentalistische Ästhetik im Medium der Lyrik (die Breuer ausspart) vorzuliegen: als Geschmacksdiktat, das strikten ästhetischen Normen folgt. Bei näherem Hinsehen aber gibt es zwischen der stilistischen Nachahmung Georges und fundamentalistischen Praktiken gewichtige Unterschiede. Die unbedingte Vorgabe poetischen Stils und Geschmacks soll, erstens, die individuelle persönliche Entwicklung der Kreismitglieder und – nach außen gerichtet – die Entwicklung der Kultur nicht stillstellen. Vielmehr ist sie Mittel zum Zweck einer idealen Entfaltung individueller und kollektiver Fähigkeiten. Fundamentalistisch wäre die imitierende Praxis des George-Kreises erst, wenn sie das geistige Potenzial eines Individuums unter das Joch einer Idee zwänge. Zweitens führt die Unbedingtheit des Meisters, im Unterschied zu fundamentalistischen Konstellationen, im George-Kreis nicht dazu, die Auslegung seiner Kunst zu reglementieren oder gar zu unterbinden. Zur Auslegung fordert George vielmehr ausdrücklich auf. Die Imitatiopraxis des Kreises zielt in Georges Verständnis drittens nicht auf eine Stillstellung der Geschichte. Die Imitatio eines Meisters kann die Kultur nur in einer bestimmten historischen Situation heben. Künftige historische Konstellationen bedürfen neuer Urgeister und neuer zu imitierender Vorgaben. Daher ist Georges Position mit dem Etikett Anti-Modernismus (so der Untertitel von Breuers Stu57
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Vgl. Ulrich Raulff und Lutz Näfelt: Das geheime Deutschland, eine Ausgrabung. Köpfe aus dem George-Kreis (Marbacher Magazin 121), Marbach a.N.: Deutsche Schillergesellschaft 2008 und Christian Oestersandfort: Platonisches im ‚Teppich des Lebens‘. In: George-Jahrbuch 7 (2008/09), S. 100–114. Vgl. Breuer (1995): Ästhetischer Fundamentalismus.
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die) unzureichend beschrieben. George und sein Umfeld begreifen sich als literarische Avantgarde und nicht als Gruppe, die einen vergangenen Zustand konservieren oder restituieren will.59 Wie verhält sich dieser Anspruch zum eingangs zitierten Vorwurf der Epigonalität?60 Wohl nicht zufällig ist die Epigonalitätsdiskussion unter Vertretern der George-Forschung wie Manfred Durzak,61 Claude David62 und Gert Mattenklott63 rege geführt worden. Durzak wendet den Epigonenbegriff auf den George-Kreis an.64 Er erklärt das von ihm sogenannte Epigonentum des Kreises damit, dass den Kreisangehörigen in der hybriden Atmosphäre der Realitätsbezug abhanden gekommen sei. Das Verhältnis von stilistischem Traditionsbezug und eigenem Erleben schlage einseitig zugunsten der Imitatio aus und radikalisiere diese zur Epigonalität.65 Dass der Kreis keine Erlebnisintensität zulasse, ist indes eine Vorannahme Durzaks, die sich aus den Selbstbeschreibungen der Kreismitglieder so nicht herleiten lässt. In ihrer Selbstwahrnehmung befähigt sie der Kontakt zu George überhaupt erst zum Dichten. Durzak widerspricht sich schließlich selbst, wenn er einerseits das Kreisleben als limitierenden Faktor ansieht und andererseits konstatiert, dass gerade diejenigen Gedichte, die die Gestalt Georges thematisieren, am wertvollsten seien.66 Der Begriff epigonal wird von Durzak 59
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Vgl. Michael Landmann: Erinnerungen an Stefan George. Seine Freundschaft mit Julius und Edith Landmann, Amsterdam: Castrum Peregrini-Presse 1980, S. 41. – Zur Abgrenzung von Konzepten der konservativen Revolution vgl. Breuer (1995): Ästhetischer Fundamentalismus, S. 226–240. Epigonales Schreiben wird in der jüngeren Forschung nicht mehr ausschließlich pejorativ gewertet. – Vgl. Markus Fauser: Intertextualität als Poetik des Epigonalen. Immermann-Studien. München: Fink 1999; Burkhard MeyerSickendiek: Die Ästhetik der Epigonalität. Theorie und Praxis wiederholenden Schreibens im 19. Jahrhundert: Immermann – Keller – Stifter – Nietzsche, Tübingen und Basel: Francke 2001. Vgl. Durzak (1969): Epigonenlyrik. Vgl. Claude David: Über den Begriff des Epigonischen. In: Werner Kohlschmidt und Hermann Meyer (Hg.): Tradition und Ursprünglichkeit. Akten des III. Internationalen Germanistenkongresses 1965 in Amsterdam, Bern u.a.: Francke 1966, S. 66–78, hier S. 73. Vgl. Gert Mattenklott: Epigonalität. In: ders.: Blindgänger. Physiognomische Essais, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, S. 72–100, hier S. 89 Vgl. Durzak (1969): Epigonenlyrik. Vgl. Durzak (1969): Epigonenlyrik, S. 489. Vgl. Durzak (1969): Epigonenlyrik, S. 524.
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nicht reflektiert. Im Unterschied zu Durzak hinterfragt David den Epigonalitätsbegriff und den daran geknüpften Vorwurf stilistischer Unselbstständigkeit. Er plädiert dafür, nur noch bei der Kopie von Epigonalität zu reden.67 Burkhard Meyer-Sickendiek greift in Die Ästhetik der Epigonalität diese Differenzierung auf, indem er begrifflich zwischen Epigonentum als Unvermögen und Epigonalität als freiwilliger Entscheidung für alte Formen unterscheidet.68 Am weitesten führt Gert Mattenklott die Apologie der Epigonalität. Ausgehend vom antiken Mythos zeigt er die Stärke der „Epigonoi“, der Söhne, die die Stadt Theben erobern, anstatt wie ihre Väter zu scheitern: „Mimikry anstelle von Originalität; verdoppeln statt entwickeln: so heißen die Stichworte, um die herum man das Epigonale als eine sinnvolle Figur moderner, eher freilich postmoderner Einbildungskraft zeichnen kann.“69 Mattenklott stellt daher die Frage, ob der Epigonalitätsbegriff überhaupt geeignet sei, um die positive Art von Nachahmung als freiwilliger ästhetischer Strategie zu beschreiben.70 Der Nachahmungsbegriff, so wie der George-Kreis ihn versteht, vermag die von Mattenklott konstatierte terminologische Lücke zu schließen.71 Imitatio – und nicht Epigonalität oder Performativität – erscheint als der angemessene Begriff, um Struktur und Charakter von Georges Poetik und der Lyrik seines Kreises zu beschreiben. Denn mit den anderen zwei Begriffen wird nur ein Teilbereich des Gesamtphänomens abgedeckt. Epigonalität ist im Imitatio-Modell zudem schon ein definierter Begriff und daher als wissenschaftliche Kategorie ungeeignet, um Imitatio im Kreis zu beschreiben. Der Epigonalitätsbegriff ist im Kreis negativ konnotiert und wird verwendet, um das eigene Imitieren davon abzugrenzen. Imitatio ist demgegenüber eine transversale Größe, die ästhetische, poetologische, soziale, performative und ethische Kategorien umfasst. Daher entschei67 68 69 70 71
Vgl. David (1966): Über den Begriff des Epigonischen, S. 73. Vgl. Meyer-Sickendiek (2001): Ästhetik der Epigonalität, S. 23. Mattenklott (1986): Epigonalität, S. 89. Vgl. Mattenklott (1986): Epigonalität, S. 91. Schon Markus Fauser grenzt – mit anderer Zielsetzung – epigonales Schreiben von imitierenden Verfahren ab. Ihm geht es darum zu zeigen, dass epigonale Schreibweisen mit der Herausbildung des historischen Relativismus einhergehen. Neuere Formen von Nachahmung behandelt er nicht. – Vgl. Fauser (1999): Intertextualität als Poetik des Epigonalen, S. 23.
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det sich die vorliegende Arbeit für einen metasprachlichen Imitatio-Begriff, der nicht in den Schriften des Kreises vorkommt, der aber über die stilistische Nachahmung hinaus auch jene anderen, für den Kreis sämtlich relevanten Bereiche tangiert. Georges Entdeckung der Imitatio hängt zusammen mit seiner Abkehr von allem, was bloß verneint, ohne etwas Aufbauendes entgegenzusetzen. Obzwar „durch und durch eine polemische Natur“, vermeidet George den öffentlichen Streit.72 Das Verfassen von parodistischen und satirischen Gedichten entspricht nicht seinem affirmativen Dichtungsverständnis „Poetry is praise“.73 Aber diese Poetik ist sentimentalischer Natur – George beginnt seine Dichterkarriere als Satiriker – und kennt sehr wohl die satirische Negation. Die Erfahrung elementarer Entgöttlichung der Welt liegt Georges poetischem Gegenentwurf als eine innere Spannung zugrunde. George selbst spricht angesichts einer von ihm selbst verfassten Schülersatire davon, „[d]ass in dem Gedicht schon viel drin stecke: auch die gefährliche Doppelseitigkeit.“74 George spielt auf die in jener Satire geäußerte Einsicht in die Relativität von Werten an. Diese grundsätzliche Ambivalenz ist ein Grundprinzip seines Werks.75 In ihrer „Doppelseitigkeit“ ist es vielschichtiger, als es die reduzierende Wahrnehmung der Jünger vermuten lässt. Dirk von Petersdorff hat auf diese Kontingenzen aufmerksam gemacht.76 Er diskutiert sie im Zusammenhang seiner Kritik an Stefan Breuers Wortprägung „ästhetischer Fundamentalismus“.77 Wie Petersdorff mit Recht betont, ist Georges Moderne-kritische Haltung nicht nur auf die Literatur bezogen: Seine Zeitgenossen, so von Petersdorff, hätten Georges Lyrik nicht ästhetisch, sondern 72 73 74 75
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Ludwig Rohner: Die literarische Streitschrift. Themen, Motive, Formen, Wiesbaden: Harrassowitz 1987, S. 197. Überliefert bei Edith Landmann: Gespräche mit Stefan George, hg. v. Georg Peter Landmann, Düsseldorf u.a.: Küpper 1963, S. 164. Landmann (1963): Gespräche mit Stefan George, S. 51. Vgl. Vincent J. Günther: Der ewige Augenblick. Zur Deutung von Georges „Der Siebente Ring“. In: Eckhard Heftrich (Hg.): Stefan George-Kolloquium, Köln: Wienand 1971, S. 197–203, hier S. 199. Dirk von Petersdorff: Stefan George – ein ästhetischer Fundamentalist? In: Bernhard Böschenstein, Jürgen Egyptien, Bertram Schefold und Wolfgang Graf Vitzhum (Hg.): Wissenschaftler im George-Kreis. Die Welt des Dichters und der Beruf der Wissenschaft. Berlin: de Gruyter 2005, S. 49–58, hier S. 55. Breuer (1995): Ästhetischer Fundamentalismus.
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ethisch aufgefasst und damit auf ihre direkte Lebenspraxis bezogen.78 Was nun den ästhetischen Fundamentalismus anbelangt, so unterziehe Georges Lyrik selbst den ‚fundamentalistischen‘ „Gestus von Wahrheitsbesitz, Deutungsmacht, Selbstsicherheit“ in manchen Gedichten einer Reflexion.79 Diese Aussagen sind sicher richtig. Dennoch ist Breuers Charakterisierung von Georges Lyrik als fundamentalistisch in einem anderen Sinne zutreffend. Zwar liegt ihr die Erfahrung von Ordnungs- und Transzendenzverlust zugrunde. Aber sie reagiert darauf mit einer für die Jünger verbindlichen Welterklärung und Sinnstiftung. (Die freie Persönlichkeitsbildung der Jünger wird davon nicht berührt, weshalb das Imitatio-Modell selbst, wie oben ausgeführt, nicht fundamentalistisch ist.) Gleichwohl wird der George-Parodie die Arbeit leicht gemacht, da die Negation der Affirmation vorausgeht und ihr im Kern innewohnt.80 Die Parodie ist die subversive Variante der (im Prinzip konstruktiven) Imitatio. Sigrid Hubert hat George-Parodien zum Thema ihrer Dissertation gemacht.81 Sie betrachtet die Texte primär hinsichtlich ihrer technischen Verfahren. Aus diesem Grund ergeben sich kaum Berührungspunkte mit dem vorliegenden Ansatz, der vor allem nach dem Bezug zum Imitatio-Komplex fragt. In der literaturwissenschaftlichen Parodiediskussion wird das Verhältnis der Parodie zur Imitation nur am Rande erwähnt. Offenbar erscheint ihr die Parodie in hinreichender Weise von der Imitation als einer anderen intertextuellen Verfahrensweise abgrenzbar. In der klassischen Parodietheorie (Erwin Rotermund, Theodor Verweyen) konstituiert das metatextuelle Zusammenspiel von Wiederholung und Differenz den parodistischen Text; die Autorintention spielt gemäß poststrukturalisti-
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Vgl. von Petersdorff (2005): Stefan George – ein ästhetischer Fundamentalist?, S. 55. Von Petersdorff (2005): Stefan George – ein ästhetischer Fundamentalist?, S. 55. Auf ähnliche Weise funktioniert die Wagner-Parodie. Wagners Widersprüche resultieren aus der Diskrepanz zwischen mythischem Erzählen und modernem Bewusstsein. – Vgl. Wagner Parodien. Parodien auf Richard Wagner, Ausgewählt und mit einem Nachwort versehen von Dieter Borchmeyer und Stephan Kohler, Frankfurt a.M.: Insel 1983, S. 284–289. Vgl. Sigrid Hubert: George-Parodien. Untersuchungen zu Gegenformen literarischer Produktion und Rezeption, Trier 1982 (Mikroreproduktion des Manuskripts).
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scher Lyriktheorie keine Rolle.82 Außerdem gibt es ideologische Gründe für die relative Nichtbeachtung der Imitatio in der jüngeren Literaturwissenschaft. Imitierende und eklektische Verfahren werden von einer marxistisch geprägten Kulturtheorie kritisiert: Anders als die Parodie könne die affirmative oder wertfreie Imitation die Funktion eines dialektischen Umschlags von der Kritik der überlebten Form zur Vorbereitung einer neuen Form nicht wahrnehmen.83 Parodie erscheint gegenüber der Imitation als der attraktivere Untersuchungsgegenstand. Und wenn Imitation doch betrachtet wird, wie bei Genette, dann als eine so lose Form von Nachahmung, dass das Problem der Abgrenzung zur Parodie sich nicht stellt.84 Der GeorgeKreis praktiziert aber eine stilistische Imitatio, die auf einen einzigen Autor ausgerichtet ist. Nun ergibt sich plötzlich, anders als in der barocken Imitatio, deren Ideal selbst schon eklektisch ist, in der Imitation ein vergleichbar enger Bezug zum Prätext wie in der Parodie. Diese Nähe erweist sich aufgrund einer Eigenschaft von Georges Lyrik als problematisch, die man in ästhetischen Kategorien als erhaben bezeichnen würde. Da die stilistische Imitatio einen ‚hohen‘ Stil zu erreichen trachtet,85 vergrößert sich die Gefahr einer unfreiwilligen Diskrepanz zum Prätext. Minimale Abweichungen reichen aus, um die sich schon an der Grenze bewegende Sprache ins Lächerliche zu kippen; die Fallhöhe ist umso größer, je erhabener der Ausgangspunkt ist. In der Tat entstehen im Kreis stilistische George-Imitationen, die unfreiwillig parodistisch wirken. Die Abgrenzung zur Parodie 82
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Zu den vier Änderungskategorien parodistischer Textverarbeitung nach Erwin Rotermund: 1. Adjektion, 2. Detraktion, 3. Transmutation und 5. Substitution vgl. ders.: Die Parodie in der modernen deutschen Lyrik, München: Eidos 1963, S. 9 und S. 18 und Theodor Verweyen und Gunther Witting: Die Parodie in der neueren deutschen Literatur. Eine systematische Einführung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1979, S. 121. Vgl. Marcus Hahn: Geschichte und Epigonen. 19. Jahrhundert, Postmoderne, Stifter, Bernhard (Rombach-Wissenschaften 35), Freiburg i.Br.: Rombach 2003, S. 373–376. Vgl. Gérard Genette: Palimpseste, Die Literatur auf zweiter Stufe, Aus dem Franz. von Wolfram Bayer und Dieter Hornig (Edition Suhrkamp 683), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 97–118. Vgl. Kluncker (1974): Blätter für die Kunst, S. 130. – Kluncker zeigt am Beispiel eines Gedichts von Ernst Gundolf, wie die „‚heroisch-erhabene‘“ Absicht eine „manieristische“ Wirkung hervorrufen kann.
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wird also schwierig. Man muss bei der Analyse dieser Texte die vergessene Kategorie der Autorintention einbeziehen, weil man auf der strukturellen Ebene allein keine eindeutige Zuordnung treffen kann.86 Die Autorintention muss auch deshalb berücksichtigt werden, weil stilistische Imitatio nach dem Verständnis des Kreises von ethischer Imitatio begleitet sein muss. Im Kreis gilt sogar: Nicht die stilistische Qualität der Texte, sondern die ethische Haltung ihrer Verfasser ist für ihre Bewertung entscheidend. Auch dort, wo auf der Ebene der Textstruktur eindeutig eine von parodistischen Textverarbeitungstechniken geprägte Beziehung zwischen Text und Prätext vorliegt, kann es sich auf der Ebene der Autorintention um eine Imitation handeln. Aus alledem folgt, dass man nicht, wie die textimmanente Parodietheorie es intendiert, aufgrund formaler Kriterien allein zwischen Imitation und Parodie sauber trennen kann. Parodie und Imitation sind nur an der Autorintention festzumachen. Parodie wird in dieser Studie daher gemäß der Autorintention als kritisch definiert, Imitation gemäß der Autorintention als affirmativ. In der Praxis erweist es sich als notwendig, weitere Differenzierungen vorzunehmen, um jene Beispiele zu beschreiben, in denen sich widerstreitende Impulse mischen. Nicht selten gibt es in den in dieser Arbeit untersuchten Texten Differenzen zwischen der Struktur des Textes und der Intention des Verfassers. Sie sind nicht nur Zeichen stilistisch-technischer Mängel (dilettantische Imitatio). Es gibt auch Brüche, die psychologisch als un- oder halbbewusste Ambivalenzen gegenüber George zu erklären sind. Manchmal werden diese Diskrepanzen auf der Textebene sichtbar, manchmal nicht. In manchen Fällen kann eine besonders enge Nachahmung die Folge sein, die 86
Die Autorintention hat als außerliterarischer Prätext wieder Eingang in neuere Analyseansätze gefunden. Ein Beispiel ist die Systematisierung von Prätextkategorien bei Thomas Zabka: 1. Prätext der metatextuellen Übernahme (= literarischer Vorlagenbezug), 2. Prätext der inhaltlich-motivischen Abweichung (= Einführung neuer, in der Vorlage nicht vorhandener Inhalte), 3. Prätext der Abweichungsrhetorik (= Techniken rhetorischer Textveränderung), 4. Prätext der Aussagereferenz (= außerliterarische Bezugspunkte) und 5. Prätext der ideologischen Textaussage (= Normvorstellungen des Verfassers). – Vgl. ders.: Parodie? Kontrafaktur? Travestie? Anlehnung? Zur Klassifikation und Interpretation von Metatexten unter Berücksichtigung ihrer mehrfachen Intertextualität. Überlegungen zu Gedichten von und nach Bertolt Brecht. In: DVjs 78 (2004), H. 2, S. 313–352, hier S. 323.
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vorhandene Spannungen zu überbrücken trachtet. Denn gerade bei den dichterisch Begabten führt die Festlegung auf eine von George gesteuerte ‚corporate identity‘ des Kreises und auf den antwortenden, spiegelnden und imitierenden Part langfristig zum Bruch. Dafür sind die Karrieren von Gundolf und Kommerell beispielhaft. Beide zählen während ihrer Kreiszugehörigkeit zu denjenigen Figuren, die George jeweils am nächsten stehen. Eine strukturelle Ähnlichkeit ihrer ansonsten je individuellen Brüche mit George besteht in der kritischen Distanzierung von paternalistischen Bildungskonzeptionen, wie sie in der Spätphase des Kreises besonders im Umfeld von Friedrich Wolters vertreten werden. Tatsächlich wird die Frage nach der Art und Weise, wie sich Bildung vollzieht, im Kreis unterschiedlich beantwortet. Dieser Aspekt, der vorerst nur angedeutet werden kann, wird im zweiten Teil der Arbeit weiter entwickelt (vgl. Kap. 2.3). Vier differente Modelle existieren nebeneinander, die im Folgenden mittels einer Begrifflichkeit beschrieben werden, die nicht in den Schriften des Kreises angelegt ist. Sie ist den im Kreis kursierenden Vorstellungen terminologisch nicht vollkommen fremd, erlaubt aber von Georges Selbstsicht abweichende Interpretationen und Einordnungen. Die vier Bildungskonzepte unterscheiden sich in der jeweiligen Interaktion zwischen Bildungsgeber und Bildungsnehmer. Als erstes zu nennen ist die Perfektionierung. Perfektionierung bezeichnet ein Modell der Selbstbildung, das nicht an Nachahmung gekoppelt ist. Es versteht Bildung vielmehr als die autarke Entfaltung eines inneren Keims, eines gleichsam genetisch fixierten ‚Bauplans‘. Diese Perfektionierungskonzeption liegt allen Gestaltbiographien des Kreises zugrunde, denn sie betrifft die Urgeister, deren schöpferisches Potenzial sich ohne Imitatio anderer entfaltet. Die autarke Entfaltung der Urgeister wird allerdings von ihrer jeweiligen Umwelt geprägt. Obwohl die „großen Menschen“ von ihrer jeweiligen Zeit und Umgebung beeinflusst sind, werden sie nicht im selben Maß wie die Alltagsmenschen als von ihrer Umgebung determiniert empfunden, da in ihnen eine schöpferische Kraft wirksam sei, die in ihnen Gestalt werde. Der Gegenpol zur Perfektionierung ist ein als Regulierung bezeichnetes Konzept. In diesem Bildungsmodell gibt es zwei Akteure. Hier wird das Bildungsziel von einem Bildungsgeber willentlich bestimmt, ohne dass auf die gegebenen Anlagen des Bildungsnehmers Rücksicht
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genommen würde. Nach dem Prinzip der Formursächlichkeit in der aristotelischen Ursachenlehre wird der Bildungsnehmer nach diesem Bildungsziel geformt. Dazwischen sind die zwei für das Imitatio-Modell entscheidenden Bildungskonzepte angesiedelt. Sie sind eher zwei Varianten ein und desselben Konzepts und lassen sich unter dem Begriff der Idealisierung fassen. Anders als bei der Perfektionierung der Urgeister wird dem abgeleiteten Wesen das Ideal (vom Urgeist) als ein nur annäherungsweise zu erreichendes Ziel vorgestellt, und anders als bei der Regulierung wird in dieser Konzeption die Individualität des Bildungsnehmers gewahrt. Denn das Bildungsziel wird unter Berücksichtigung der je individuellen Anlagen des Bildungsnehmers definiert. Es wird sich zeigen, dass die meisten imitierenden Gedichte von Georges Anhängern Bildung in diesem Sinne begreifen, wie sich überhaupt die Praxis der Imitatio aus dieser theoretischen Konzeption heraus verstehen lässt. Die eine Spielart betont den Aspekt des Wachsens und steht damit nativistischen Bildungstheorien nahe, die andere betont den Aspekt des Formens und lässt diesen gegenüber dem organischen Entwicklungsgedanken überwiegen. Die Form, nach welcher der Bildungsnehmer gebildet wird, ist keine äußere Setzung wie bei der Regulierung, sondern die innere Idealform, die in ihrer Potenzialität im Individuum enthalten ist und vom Bildungsgeber erkannt und freigelegt wird. Während das Idealisierungsdenken des Imitatio-Modells ein Miteinander von Bildungsnehmer und Bildungsgeber voraussetzt, bekommt beim Regulieren der Bildungsgeber ein Übergewicht. Die individuelle Anlage des Bildungsnehmers spielt keine Rolle bzw. kann sogar ein Hinderungsgrund sein, die vorgegebene Form zu erfüllen. Das Ziel, nach welchem hin reguliert wird, kann unterschiedlich bestimmt werden. In der Spätzeit des Kreises gibt es bei einzelnen Jüngern die Tendenz, darunter das Volk, das Blut und schließlich die Rasse zu verstehen. Nach 1933 werden diese Exklusionsmechanismen gegenüber den jüdischen Kreisangehörigen greifen – doch diese Entwicklung führt aus dem Fokus dieser Studie, deren Untersuchungsgegenstand der Kreis zu Lebzeiten Georges ist, heraus.87 87
Vgl. Raulff (2009): Kreis ohne Meister, S. 149–154.
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Die Geschichte des Kreises lässt sich mit Hansjürgen Linke in einem dreistufigen genealogischen Modell beschreiben.88 In der ersten Generation des Kreises (ab 1892) hat George noch keine Führungsposition inne. Der Kreis besteht aus einem lokkeren Zusammenschluss befreundeter Dichter mit ähnlichen poetologischen Ansichten und lehnt sich an das Vorbild von Mallarmés Künstlerrunde an. Die zweite Generation des Kreises, d.i. die Geschichte des eigentlichen George-Kreises, setzt um 1900 ein. George nimmt nun die Rolle des Meisters gegenüber seinen Jüngern ein, die auch dem Alter nach der jüngeren Generation angehören. In der dritten Generation ab ca. 1920, in der der Altersunterschied zwischen George und den jüngsten Kreismitgliedern bis zu zwei Generationen beträgt, ist ein Rückgang an entstehenden Gedichten festzustellen. Mit der Abfolge der Generationen wechseln die Anforderungen an die Jünger. Für alle drei Jüngergruppen gilt Imitatio, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung. Davon ausgenommen sind nur diejenigen wenigen Dichter, denen George einen Urgeist-Status zuerkennt wie z.B. Wolfskehl und Hofmannsthal. Der Primat stilistischer Imitatio wird in der Generationenfolge vom Primat der ethischen Imitatio abgelöst. In dem Maße, wie die ethische Imitatio im Kreis zunimmt, sinkt die Toleranz gegenüber stilistischer Imitatio ohne Ethos, gegenüber einer Lyrik, die ‚spielt‘ und sich darin kreative Freiräume sucht.89 Diese Entwicklung geht zusammen mit Dogmatisierungsprozessen in der Enkelgeneration der nach 1900 Geborenen. In der ersten Generation existiert zumal bei den stilistisch unabhängigen Dichtern der Gedanke der autarken Perfektionierung. In der zweiten Generation, mit der Herausbildung des Imitatio-Modells (und der Integration „kleinerer“ und „ganz kleiner“ Blätter-Dichter), herrschen Idealisierungskonzepte vor, während in der dritten Kreisgeneration die aristotelische Regulierung an Einfluss gewinnt und das eigentliche Dichten in den Hintergrund rückt. 88
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Vgl. Hansjürgen Linke: Das Kultische in der Dichtung Stefan Georges und seiner Schule, 2 Bde., München und Düsseldorf: Helmut Küpper vormals Georg Bondi 1960. Vgl. die Wertungen jüngerer Kreismitglieder über Gundolfs Gelegenheitslyrik bei Edgar Salin: Um Stefan George. Erinnerung und Zeugnis, München und Düsseldorf: Helmut Küpper vormals Georg Bondi, zweite, neugestaltete und wesentlich erweiterte Auflage 1954 [erste Auflage: 1948], S. 69.
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Als Konsequenz daraus verliert der Aspekt der Creatio, wie sie George in eingeschränktem Maß von seinen Jüngern verlangt, immer mehr an Bedeutung. Diese Aussage scheint dem Zuvorgesagten zu widersprechen. Wie im Verlauf der Arbeit näher ausgeführt wird, schließt Imitatio der Jünger, wie George sie versteht, eine spezielle Form von Kreativität ein. Creatio bezeichnet in diesem Zusammenhang kein autonomes Schaffen, sondern Partizipation an der visionären Kraft des Urgeists. Die abgeleiteten Wesen werden vom Urgeist angesteckt, im übertragenen Sinne inspiriert und damit zur Erkenntnis seines Ideals befähigt. Diese „abgeleitete“ Form von Creatio durch Contagio setzt imitierende Nachfolge voraus. Das Imitatio-Modell sieht nicht vor, dass ein abgeleitetes Wesen zum Urgeist wird. In der dritten Generation spielen poetologische Konzeptionen von Imitatio und Contagio nur noch eine sehr untergeordnete Rolle. Allerdings bestehen hier erhebliche Differenzen zwischen den verschiedenen Untergruppen des Kreises. Obwohl die Rede von Jüngern – eine Selbstbezeichnung90 – und die Bezeichnung George-Kreis Homogenität suggerieren, verbirgt sich dahinter eine Vielzahl von Unterkreisen und Einzelpersönlichkeiten, die sich lokal, personell und bezüglich der Stellung zu George ausdifferenzieren.91 Darüber hinaus umgibt den Kreis eine gewisse Grauzone von George näher oder ferner stehenden Personen, die nicht dem eigentlichen Kreis angehören, aber doch zu seinem Umfeld zu rechnen sind. Wenn die Bezeichnung George-Kreis mehr ist als eine bloße wissenschaftliche Hilfskonstruktion, dann deswegen, weil die Kreisangehörigen sich selbst aufgrund ihrer Bezogenheit auf eine gemeinsame Mitte als eine Gemeinschaft empfinden und dieses Bild in der Öffentlichkeit auch bewusst vertreten.92 Nach dieser Einführung in Zielsetzung und Begrifflichkeit der Arbeit seien Aufbau und Methode kurz skizziert. Die Studie gliedert sich in fünf Teile. Der erste Teil entwickelt das ImitatioModell. Erstaunlich und durchaus untypisch ist dabei das hohe 90 91 92
Vgl. Friedrich Gundolf: Gefolgschaft und Jüngertum. In: Blätter VIII, S. 106– 112. Vgl. dazu Baumann (2000): Der George-Kreis. Vgl. Cornelia Blasberg: Charisma in der Moderne. Stefan Georges Medienpolitik. In: DVjs 74 (2000), H. 1, S. 111–145.
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Maß an Übereinstimmung zwischen theoretisch formulierter und tatsächlich praktizierter Autorpoetik im George-Kreis. Die Imitatio-Theorie prägt nicht nur die Lyrik, sondern auch die wissenschaftliche Arbeit: An den Beispielen Edith Landmanns und Joachim Wachs werden die Ausstrahlungen des ImitatioModells in Philosophie und Religionswissenschaft vorgestellt. Außerdem wird die Übertragung auf wissenschaftliche literarhistorische Wertungen des Kreises skizziert, die die kulturellen „Blütezeiten“, die Innovationsschübe der Literaturgeschichte, als Ergebnis von Nachahmungskonstellationen deuten. Im zweiten Teil der Arbeit werden exemplarisch Gedichte von Kreismitgliedern der zweiten und dritten Generation (Friedrich Gundolf, Ernst Morwitz, Berthold Vallentin, Max Kommerell und Claus von Stauffenberg) dahingehend betrachtet, wie sie auf die Strukturen, poetologischen Themen und Motive von Georges Lyrik reagieren (bzw. nicht reagieren). Es handelt sich dabei um veröffentlichte und unveröffentlichte Texte, die in der Enge oder Weite der Imitatio divergieren. Gerade die schöpferisch Begabten unter den Jüngern müssen zwischen den Erfordernissen des Imitatio-Modells und den eigenen Ansprüchen lavieren. Die Chronologie macht deutlich, dass nicht nur Georges Schüler seinen poetologischen Vorgaben folgen, sondern dass umgekehrt auch George auf die Imitationen seiner Jünger reagiert. Stilistische und ethische Imitatio werden in den Gedichten selbst thematisiert. In der Art und Weise, wie dies geschieht, wird die Problematik deutlich, die sich aus einem imitierenden Schreiben ergibt. Dies gilt vor allem für das Problem der ‚übererfüllenden‘ Nachahmung, die zur unfreiwilligen Parodie des zu imitierenden Objekts oder zum dilettantischen Scheitern des nachahmenden Subjekts führen kann. Anhand der verwendeten Metaphernbereiche treten die individuellen und gruppenspezifischen Unterschiede in der Gewichtung poetischer und bildungsbezogen-ethischer Nachahmungsprozesse deutlich zutage. Die Textanalysen arbeiten die verschiedenen Umsetzungen innerhalb der verschiedenen Gruppen und die typischen Phasen innerhalb der individuellen Entwicklung eines Kreismitglieds heraus. Das Untersuchungsinteresse des dritten Teils richtet sich auf stilistische Imitatio bei Autoren, die nicht zum George-Kreis zählen. Die Bandbreite ist groß und reicht von trivialen (Hein-
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rich Hardt) bis hin zu anspruchsvollen Auseinandersetzungen mit dem Modell (Albrecht Schaeffer und Ludwig Strauß). Insbesondere die letztgenannten Autoren verweisen auf das Umschlagen von Imitation in Parodie. Bei den Stiladaptionen aus dem weiteren Umfeld des Kreises zeigt sich ein ‚Imitatio-Gefälle‘. Stärker als im Kreis – dort beschränkt sich dieses Phänomen auf die Anfangszeit der Kreiszugehörigkeit, bevor der Trainingseffekt der Exercitatio einsetzt – findet sich dort die Spielart der gut gemeinten, aber stilistisch unzureichenden Imitatio (Dilettantismus). Es gibt auch den umgekehrten Fall. Hanns Meinkes stilistische Imitationen sind rein qualitativ überzeugend, aber George vermisst das wahre Ethos (Ästhetizismus). Ästhetizistische, epigonale und dilettantische Imitatio werden im GeorgeKreis als negative Umsetzungen des Imitatio-Modells betrachtet und ihre Verfasser entsprechend abgewehrt. Nur bei Meinke tritt der singuläre Fall ein, dass George, wie sonst nur bei den Angehörigen seines Kreises, mit einem Widmungsgedicht auf die an ihn herangetragenen Nachahmungen reagiert und die ausbleibende Erwählung poetologisch begründet.93 Im vierten und fünften Teil der Arbeit wird die Rolle poetologischer (vorrangig satirischer und parodistischer) Lyrik in den Kontroversen verschiedener literarischer Gruppen in den Blick genommen.94 Der vierte Teil behandelt die Sichtweise des Kreises. Die Texte richten sich gegen Rilke, Schröder, Hérédia und Hofmannsthal. Wolfskehls Rilke-Parodien kritisieren vor allem den Stil seiner frühen Lyrik. Gundolfs und Wolfskehls satirische Verse gegen Schröder reagieren vor allem auf dessen vorangegangenen kritischen George-Aufsatz. Hofmannsthal ist für Gundolf eine negative Projektionsfigur. Wenn er an Hofmannsthal den proteischen Dichter kritisiert, der sich in alles einfühle und keine Persönlichkeit habe, dann ist diese Eigenschaft – positiv als Hingabe und Einfühlungsvermögen ausgedrückt – gerade die typische Haltung des Jüngers. Daher übt Gundolf in seinen Hofmannsthal-Parodien versteckte Selbstkritik. Im fünften Kapitel werden die Positionen der Gegenseite vorgestellt. Gegen das Imitatio-Modell richten sich die Charontiker um Otto zur Linde und die Insel-Autoren Rilke, Borchardt und 93 94
Stefan George: H. M. In: SW, IX, S. 78. Vgl. Wülfing (1998): Handbuch literarisch-kultureller Vereine.
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Schröder (Hofmannsthal verweigert sich einer öffentlichen Positionierung). Sowohl in ihrem jeweiligen Charakter als auch in ihrer literarhistorischen Wirkung lassen sich diese Autoren nicht über einen Kamm scheren. Doch sie alle setzen sich in Form von Gedichten mit Georges Poetik und insbesondere mit dem Nachahmungsgedanken auseinander. Georges Homosexualität wird in den Imitationen, Satiren und Parodien wiederholt zum Thema, mit unterschiedlicher Absicht. Otto zur Linde verbindet Homosexualitäts- mit Ästhetizismuskritik. Er assoziiert Homosexualität mit Ästhetizismus, indem er den Vorwurf der Unfruchtbarkeit, der Unfähigkeit zu erzeugen, von der biologischen auf die poetologische Ebene überträgt. Schröder verbindet Homosexualitätskritik dagegen mit Kritik am Imitatio-Modell und am Kulturpolitiker George: Liebe zum gleichen Geschlecht und politische Gleichschaltung gehen im Vorwurf politischer und sexueller Perversion eine eigentümliche Verbindung ein. Der Fall Meinkes wiederum ist ein Beispiel dafür, wie George-Imitation zur Chiffre homosexueller Wünsche werden kann. Stilistische Imitatio hat Appellfunktion: Die in der Nachahmung unter Beweis gestellte Nähe zu George soll eine körperliche Nähe nach sich ziehen. Dieser Aspekt führt zu einem Problem, das latent in vielen Auseinandersetzungen mit George und seinem Kreis mitschwingt. Man könnte der Studie vorhalten, sie ignoriere, dass der Zweck des Imitatio-Modells letztlich darin bestanden habe, George junge Männer zuzuführen, die seinem erotischen Ideal entsprächen. Der poetologische und ethische Überbau sei nichts anderes als ein Feigenblatt, das, wie Borchardt und Schröder suggerieren, im Schutzraum des Kreises gelegentlich fallengelassen worden sei. Dem ist entgegenzuhalten, dass eine solche Zweckbestimmung den theoretischen Ansatz dieser Arbeit nicht tangiert. Musik erklang einer jahrhundertealten Vorstellung nach zur Ehre Gottes. Niemand käme auf den Gedanken, aufgrund dieses Endziels auf musiktheoretische Analysen zu verzichten, zumal dieser eine Zweck, wie die Geschichte der Kirchenmusik erweist, höchst unterschiedliche musikalische Konkretisationen erfahren konnte. Entsprechendes gilt für das Imitatio-Modell. Einen homosexuellen Endzweck der ImitatioPraxis des Kreises – falls ein solcher vermutet würde – herauszuarbeiten, würde zu einer psychologischen oder soziologischen
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Studie führen. Es gibt aber aus literaturwissenschaftlicher Sicht gute methodische Gründe, den Fokus der Arbeit auf den poetologischen Gehalt der poetischen Texte zu richten. Selbst wenn es das unausgesprochene Endziel von Imitatio und Idealisierung wäre, schöne Männer zu potenziellen Sexualpartnern heranzubilden, führt das Imitatio-Modell zu realen poetischen Ergebnissen, die poetologisch immanent und unabhängig von sexuellen Interessen betrachtet werden können.
Teil 1: Das Imitatio-Modell
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Teil 1: Das Imitatio-Modell 1.1 Der Urgeist Imitatio ist die Voraussetzung jeder Kultur; sie dient der Übertragung von Wissen und Handlungsmustern auf die nachfolgende Generation.1 Das Theoriemodell des George-Kreises trägt dieser Erkenntnis Rechnung, indem es Nachahmung für notwendig erklärt, um eine Kultur zu stiften und zu erhalten. So jedenfalls lautet die Begründung für Imitatio, die vom Kreis und von George gegeben wird. Die folgenden Ausführungen zeigen, wie Imitatio im Kreis gedacht wird, ohne weitere, unausgesprochene psychosoziale Faktoren in Rechnung zu stellen.2 Kulturelle Entwicklung ergibt sich diesem Modell zufolge nicht evolutionär aus der Generationenfolge, sondern geht aus der schöpferischen Leistung Einzelner – im ästhetischen, ethischen und politischen Feld – hervor. Diese Urgeister mit den Grundtypen des Dichters, Philosophen und Täters3 sind darauf angewiesen, imitiert zu werden, um ihre kulturalisierende Wirkung zu entfalten. Imitatio wird ausgelöst durch Ansteckung (Contagio), durch persönliche Berührung, weshalb das Imitatio-Modell erstens viel ‚körperlicher‘ argumentiert als etwa die Einflussforschung4 und zweitens, anders als die Intertextualitätsforschung, 1 2
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Peter Sloterdijk: Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009, S. 424. Als weitere Zwecke könnten u.a. genannt werden: Selbsterhebung und Steuerung der Rezeption schon zu Lebzeiten durch die Gründung eines Verehrerkreises oder, auf Seiten der Imitierenden, Ich-Stärkung durch Orientierung an einer normativen Instanz. Der Dichter gilt im Denken des Kreises mehr als die anderen zwei Typen, weil er als Dichter-Philosoph auch ethische Richtlinien gebe und mit seiner Lyrik die politische „Tat“ vorbereite. 1931 schreibt Gundolf in einem Brief an den Orientalisten und früheren preußischen Kultusminister Carl Heinrich Becker, dass er Imitatio als „‚Contagion‘“ verstanden wissen will und nicht als äußerliche Übernahme von Motiven wie in der Einflussforschung. – Friedrich Gundolf an Carl Heinrich
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Teil 1: Das Imitatio-Modell
nicht von Texten, sondern von Personen ausgeht.5 Die gesamte geschichtliche Entwicklung geht diesem Modell zufolge von großen Menschen aus, die zu anderen Menschen in Beziehung treten. „Nichts anderes ist Geschichte: die Wechselwirkung der schöpferischen und der empfänglichen Menschen.“6 Wie das Moment der Wechselseitigkeit beweist, verläuft die Ansteckung in beide Richtungen. Sie basiert auf erotischer Attraktion: So wie die abgeleiteten Wesen von den Urgeistern angezogen werden, kann umgekehrt die erotische Anziehung zu einem anderen Menschen bei den Urgeistern den schöpferischen Prozess auslösen.7 Bereits in diesem Punkt ist angedeutet, dass das ImitatioModell nicht nur eine Theorie produktiver Rezeption, sondern auch eine Theorie der Produktivität ist und aufs Engste poetologische Fragestellungen berührt. Konstitutiv für das Nachahmungsverständnis des Kreises ist der nachahmende Bezug auf eine Person.8 Schon in der antiken Imitatio-Tradition können die nachzuahmenden Exempla sowohl geistige Gehalte (Imitatio morum) als auch Personen sein. Ihnen wird eine überzeitliche normative Geltung zugeschrieben (Imitatio Christi, Imitatio veterum).9 Davon unterscheidet sich das Imitatio-Modell des Kreises, weil die jeweiligen Urgeister nur für die Dauer eines gewissen Zeitabschnitts ihre kulturelle Wirkung entfalten.10 Die Ausbreitung ihrer Ideen geschieht
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Becker, Brief vom 7. April 1931. Vgl. Claus Victor Bock und Lothar Helbing [d.i. Wolfgang Frommel] (Hg.): Gundolf-Briefe. Neue Folge, Amsterdam: Castrum Peregrini-Presse 1965, S. 264. – Becker war mit Wolfgang Frommel bekannt, den er dem gleichfalls von ihm geförderten Joachim Wach als Doktoranden empfahl. Dazu und zu Beckers George-Verehrung vgl. Raulff (2009): Kreis ohne Meister, S. 436–455. Zum Begriff der Ansteckung, dort allerdings bezogen auf die poetologische Dimension von Krankheitsdarstellungen in der Literatur, vgl. Elisabeth Strowick: Sprechende Körper. Poetik der Ansteckung. Performativa in Literatur und Rhetorik, Paderborn: Fink 2009, S. 195–197. Friedrich Gundolf: Dichter und Helden, Heidelberg: Weiss’sche Universitätsbuchhandlung 1921, S. 23–58, hier S. 25. Beispiele dafür sind Sokrates-Alkibiades, Dante-Beatrice und George-Maximin. Kolk spricht von einer „personalistischen Ethik“. – Kolk (1998): Literarische Gruppenbildung, S. 161. Vgl. Kaminski und De Rentiis (1998): Imitatio, Sp. 235–303. „Der Eine Sinn der durch die Welt waltet […] bedarf für jeden Raum und jede Zeit anderer Zeichen. Daraus daß man die fertigen Zeichen […] dieses Einen
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durch die abgeleiteten Wesen: durch ihr Nachahmen der Urgeister und ihr Nachgeahmt-Werden durch Dritte. Die abgeleiteten Wesen wirken nicht oder in weitaus geringerem Maß als die Urgeister durch ihre Persönlichkeit, sondern durch Lehre. In der fixierten und verschulten Lehre ist zwar die schöpferische Kreativität des Urgeists nur noch in reduzierter Form erhalten. Aber als ‚abgesunkenes Kulturgut‘ hebt es das allgemeine Niveau der Kultur und erfüllt darin seinen Sinn.
1.2 Mimesis des Urgeists Der Urgeist zeichnet sich dem Imitatio-Modell zufolge durch eine besondere Erkenntnisfähigkeit aus. Er steht in Kontakt zur Substanz, die auch als „Mitte“, als „Allumfassendes“ und „Zentrales“,11 als „zeugendes, unzerstörbares lebenszentrum“, als „leib“, als „gott“ oder als „ens realissimum“ bezeichnet wird.12 Mimesis ist die Erkenntnis und Darstellung jener Substanz; gleichgültig, ob es sich dabei um ein schon vorhandenes Objekt oder um einen Gegenstand handelt, den die mimetische Darbietung erst hervorbringt. Anders als bei Aristoteles, der die Fiktionalität der Nachahmung betont, hat Mimesis im Kreis einen ontogenetischen Status, da sie selbst dort, wo sie sich im Bereich des Möglichen bewegt, auf die Substanz rekurriert.13 Bezogen auf den Urgeist selbst ist dessen je individuelles Ingenium die „cella“ all seiner Schöpfungen.14 Jeder Urgeist muss für seine
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Sinns von dem einzigen Punkt wo sie und nur sie wahr sind auf andere übertrug, statt sich um das neue nur hier gültige Zeichen zu mühen, sind die meisten Irrnisse entstanden.“ – Friedrich Gundolf: George, dritte, erweiterte Auflage, Berlin: Bondi 1930 [erste Auflage: 1920], S. 3. Edith Landmann (1920): Georgika, S. 9. „Gibt es […] in der welt eine nicht aufzulösende substanz, ein schlechthin in sich ruhendes, zeugendes, unzerstörbares lebenszentrum? Gibt es einen leib, oder theologisch gesprochen, einen gott, oder philosophisch, ein ens realissimum, eben eine substanz oder nicht? […] Wie man sie beantwortet – die antwort ist keine sache der demonstration sondern des erlebnisses – davon hängt die stellung zur zeit und ihren werten ab.“ – Friedrich Gundolf: Wesen und Beziehung. In: Jahrbuch für die geistige Bewegung 2 (1911), S. 10–35, hier S. 19. „Nichts wird echtes Bild und echtes Wort was nicht schon da ist, einerlei ob einem oder allen sichtbar.“ – Gundolf (31930): George, S. 186. Edith Landmann (1920): Georgika, S. 23.
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Gegenwart „das neue […] gültige Zeichen“15 finden, Mimesis leistet nur er. Wie Platon kennt der Kreis auch eine negative Verwendung des Mimesisbegriffs.16 Negativ ist die Mimesis dann, wenn sie bei einer bloßen Wirklichkeitskopie stehen bleibt (Naturalismus). Ihren verdichteten Ausdruck findet das mimetische Sprechen des Dichters im poetischen Symbol. Das Symbol stiftet keine arbiträre, rational strukturierte Relation zwischen Zeichen und Bezeichnetem wie die Allegorie, sondern legt die jeweilige Tiefenschicht der Einzeldinge offen und bildet somit die höhere ontische Kategorie. Aufgrund der Anknüpfung an das Seiende ist der Aspekt der Creatio bei George weniger stark ausgeprägt als im französischen Symbolismus.17 Die Schöpferkraft des Urgeists geht nicht so weit, etwas Neues zu schaffen, sondern ist eine Creatio, die sich auf der denotativen Ebene bewegt. Zu den Bereichen, in denen sich die Mimesis vollzieht, gehören neben der Sprache auch „Lehren, Bräuche, Einrichtungen, Formen“.18 Die Mimesis des Urgeists geht also über den Zweck des ästhetischen Vergnügens hinaus und zielt auf „Erleuchtung“, „Erlösung“, „Errettung“ und „Wiedergeburt des Volks“.19 Sie kann sich nicht nur auf Dinge richten, sondern auch auf Perso15 16
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Gundolf (31930): George, S. 3. Vgl. Platon, Der Staat, 394e-396a. – Zum Mimesis-Begriff bei Platon vgl. Stephen Halliwell: The Aesthetics of Mimesis, Princeton und Oxford: Princeton Univ. Press 2002 und Stefan Büttner: Literatur und Mimesis bei Platon. In: Jörg Schönert und Ulrike Zeuch (Hg.): Mimesis – Repräsentation – Imagination. Literaturtheoretische Positionen von Aristoteles bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, Berlin und New York: de Gruyter 2004, S. 31–63. Szondi konstatiert in Bezug auf Mallarmé: „Das Schöne ist die Negation sowohl des Seienden als auch des Nichts, es überwindet das Nichts, ohne darum affirmativ zu werden. […] Weil aber die Schönheit die Antwort des symbolistischen Dichters auf das Nichts ist, zu dem ihm die Wirklichkeit zerrinnt, weil die Dichtung des Symbolismus nicht imitatio, sondern creatio sein will, sehen sich seine Dichter und Theoretiker in der Nähe der Alchimisten.“ – Peter Szondi: Das lyrische Drama des Fin de siècle, hg. v. Henriette Beese, Studienausgabe der Vorlesungen 4, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 21991 [erste Auflage: 1975], S. 125f. George sucht demgegenüber das Schöne und die Wirklichkeit zu vereinigen. Gundolf (31930): George, S. 3. – Zu den sozialen, anthropologischen und genetischen Facetten eines weiten Mimesisbegriffs vgl. Gunter Gebauer und Christoph Wulf: Mimesis. Kultur – Kunst – Gesellschaft (Rowohlts Enzyklopädie 497), Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1992. Gundolf (31930): George, S. 249.
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nen.20 Eine poetische Symboltheorie weitet sich somit zu einem Theoriemodell, das das Mimesisprinzip sowohl produktions- als auch wirkungsästhetisch begreift und es mit einem Nachahmungsprinzip verbindet, das sich seinerseits nicht auf die Substanz der Dinge, sondern auf den Urgeist selbst und seine Zeichen richtet.
1.3 Übung (Exercitatio) In der Vorrede zum siebten Jahrgang der Blätter wird hervorgehoben, „wieviel ‚exercitium‘ jede kunstübung · auch die allergrößte · einleiten und begleiten muss.“21 Der Begriff Exercitium erinnert an Horaz, der in seiner Epistula ad Pisones vom Dichter neben Begabung auch lernendes Studium verlangt.22 Die Exercitatio als „kunstübung“ wird aber nicht nur vom Urgeist selbst verlangt,23 sondern auch von seiner Umgebung, die für die Ausbreitung und Durchsetzung seiner Botschaft verantwortlich ist. In diesem Sinne hatte die Exercitatio, eine Kombination von Lectio und Imitatio, im Barock ihren Platz im Schul- oder Universitätsunterricht.24 Sie sollte dazu dienen, sich mit den technischen Mitteln eines Künstlers vertraut zu machen. Das Imitatio-Modell des Kreises geht über den technischen Aneignungsaspekt indes hinaus: Es zielt vermittels einer durch Exercitatio erreichten Konzentration und Ausrichtung auf die Formung des inneren Menschen und nähert sich damit einer spi20
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„[D]as Wesen eines jeden Gegenstandes ist zugleich sein Ideal, die Norm, auf die er aus Verkrümmungen und Verdunklungen seines Wesens hinstrebt. […] Wer das Lebensgesetz eines Lebendigen enthüllt, der stellt ihm eben hiermit sein Ideal vor Augen, er ist ein Apostel und der berufene Richter über allen Abfall vom Ideal, alle Abweichungen vom Wesen.“ – Edith Landmann (1923): Transcendenz des Erkennens, S. 258. Einleitung zur siebenten Folge. In: Blätter VII, S. 1–3, hier S. 2. Horaz: Epistula ad Pisones, V. 261–268 und 408–418. Die Schlüsselworte sind Arbeit („studet“) und Lernen („didicit“), V. 412 und 415. – Wie Armin Schäfer ausgeführt hat, schließen sich die poetologischen Maximen der Blätter eng an Horaz an. – Vgl. Schäfer (2005): Intensität der Form, S. 91 und 93. Weiter unten wird zu sehen sein, dass die Figur des Dichters bei George auch ‚arbeitet‘. Gunter Grimm: Literatur und Gelehrtentum in Deutschland. Untersuchungen zum Wandel ihres Verhältnisses vom Humanismus bis zur Frühaufklärung (Studien zur deutschen Literatur 75), Tübingen: Niemeyer 1983, S. 165.
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Teil 1: Das Imitatio-Modell
rituellen Übung.25 Mit dieser Auffassung vertritt der Kreis eine umfassende Hermeneutik in diltheyscher Tradition, die weniger auf die Feststellung von Sinn als vielmehr auf das Hineinkommen in den hermeneutischen Vorgang als solchen zielt. Ziel der siebenfachen Exercitatio des Kreises („hören, lesen, abschreiben, auswendiglernen, hersagen, deuten und übersetzen“)26 ist es, dem Gedicht ‚nachgeformt‘ zu werden: Wem es gelingt, das Gedicht sich derart einzuverleiben, daß dessen ‚heimlich bildende Gewalt‘ in ihm wirksam wird, der wird geistig und körperlich umgestaltet, gebildet im Goetheschen Sinne; er wird dem Großen, das im Gedichte steckt, nachgeformt. […] Seine Wirkung zeigt sich körperlich in dem veredelten Antlitz des am Großen gebildeten Menschen. Diese steigernde Wirkung wird um so größer sein, je vollkommener das Gedicht aufgenommen worden ist, je mehr der Aufnehmende es wirklich hat und in sich schließt und bei sich behält.27
Dieser Vorgang der geistigen Bildung ist zugleich ein körperlicher: Körper vereinigen sich mit Körpern, und aus der Einverleibung des Textes geht die Umbildung der menschlichen Physis hervor. Das Gedicht wird gleichsam zur Hostie, und wie die Kommunion das Bild Christi im Menschen aufrichtet, so geht der Leib des Gedichts in den Leib des Rezipienten über. Die Exercitatio des Kreises verwendet das stilistisch-technische Verfahren der Imitatio in Kombination mit einem aus Meditationsübungen abgeleiteten Verfahren der Lectio als Anthropotechnik, deren Ergebnis die körperliche und charakterliche Vervollkommnung, die Herausbildung einer „Haltung“ sein soll.28 Wie in der meditativen Übung folgt auf das Lesen die aktive Aneignung, durch die der Text dann seine Wirkung entfaltet.29 Derselbe Doppelcharakter von aktiver und passiver Umbildung ist 25
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Braungart sieht im George-Kreis eine ästhetische Funktionalisierung von ursprünglich im katholischen Ritus verhafteten Formen ausgeprägt. Die Fokussierung auf katholische Formen ist aufgrund von Georges kultureller Sozialisation berechtigt. – Vgl. Braungart (1997): Ästhetischer Katholizismus. Boehringer (31955): Leben von Gedichten, S. 6. Boehringer (31955): Leben von Gedichten, S. 4f. Kolk verwendet zur Beschreibung dieses Vorgangs den Begriff der Haltung, den auch der Kreis selbst gebraucht. – Vgl. Kolk (1998): Literarische Gruppenbildung, S. 240–251. Vgl. den Dreischritt von Lectio, Ruminatio und Gustatio in der christlichen Meditationsübung.
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bei der im Kreis praktizierten Textaneignung gegeben, da aktive Selbstbildung (Exercitatio) und passive Ansteckung (Contagio) einander durchdringen. Der Textgegenstand der Übungen ist somit kein beliebiger, da die Voraussetzung für die durch Exercitatio erreichte geistige und körperliche Veredelung eben jene Ansteckung mit der schöpferischen Energie ist, die der „Urdichter“ in den Text bannt. Es bestätigt sich der im vorigen Abschnitt bemerkte Sachverhalt, dass die Arbeit am Menschen unauflöslich mit der hermeneutischen Arbeit am Text verwoben ist. Und nicht nur das: Der gesamte Motor der Nachahmungsverfahren lässt sich auf den Impuls zurückführen, Georges Lyrik adäquat zu verstehen. Das ganze Modell arbeitet darauf hin, dass der „Aufnehmende“ eine ästhetische Erfahrung mit dem Text macht. Sie wird durch imitierende Verfahren vorbereitet und perpetuiert, damit der Übende den Text in einem hermeneutischen Zirkel mehr und mehr „hat und in sich schließt und bei sich behält“.30 Der gesamte Bereich der Exercitatio ist abzugrenzen von der Contagio einerseits und der Lehre andererseits. Die Exercitatio umfasst all das, was in den Bereich der aktiven Übung fällt, die Contagio hingegen umfasst all das, was passiv empfangen wird. Beide Kräfte sind im Imitatio-Modell im Verhältnis zwischen Meister und Jünger wirksam. Exercitatio ist auch nicht gleichbedeutend mit Lehre. Die Lehre bezeichnet die Weitergabe von Wissen an Dritte. Sie transportiert das „neue Zeichen“ (Gundolf) des Urgeists in didaktisch aufbereiteter Form, verschult und abgeschwächt in weitere Kreise.
1.4 Imitatio der abgeleiteten Wesen Die abgeleiteten Wesen sind nicht zum eigenen Schaffen befähigt, aber die Empfänglichen unter ihnen können vermittels stilistischer Imitatio an den neuen Zeichen und an der schöpferischen Energie der Urgeister partizipieren (vgl. Kap. 1.1). Mit der positiven Wertung von Nachahmung bezieht sich der Kreis auf die bis in die Antike zurückreichende imitierende Tradi30
Boehringer (31955): Leben von Gedichten, S. 5.
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tion,31 die durch den Geniegedanken und ein damit einhergehendes neues Verständnis von dichterischer Produktivität diskreditiert worden war.32 Obwohl das Konzept des Urgeists scheinbar nahtlos ans Originalgenie des mittleren 18. Jahrhunderts anknüpft – scheinbar deswegen, weil George die willkürlich subjektive Freiheit des dichterischen Geistes nicht akzeptiert und stattdessen die objektive Erkenntnis des Seins und die freiwillige Unterordnung unter ein Gesetz vertritt –, findet die Imitatio quasi durch die Hintertür wieder Eingang in die Poetik für die abgeleiteten Wesen. Die Renaissance des Nachahmungsgedankens wird bei Nietzsche vorbereitet, und zwar in seiner Auseinandersetzung mit dem Epigonalitätsbegriff. Im zweiten Teil seiner Schrift Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben (1874) wertet er das zuvor kritisierte Epigonentum auf.33 Im Epigonen erkennt er einen Typus, der durch die Orientierung an guten Mustern mehr zu leisten vermöge als das Genie.34 Dies scheint auf den ersten Blick mit der Argumentation des Kreises ungefähr deckungsgleich. Wenn diese Studie trotzdem nicht mit einem Epigonalitätsbegriff im Sinne Nietzsches, sondern mit dem Imitatio-Begriff arbeitet, dann nicht nur wegen der im allgemeinen Sprachgebrauch pejorativen Färbung des Terminus epigonal. Zum einen hat Imitatio gegenüber Epigonalität einen semantischen Mehrwert, weil die Begriffsgeschichte der Imitatio bereits die doppelte Bedeutung von stilistischer und 31
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Vgl. Peter Stocker: Art. Parodie. In: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik 6, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2003, Sp. 637–649, hier Sp. 645. Vgl. Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik, 1750–1945, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1985 und Günter Blamberger: Das Geheimnis des Schöpferischen oder: Ingenium est ineffabile? Studien zur Literaturgeschichte der Kreativität zwischen Goethezeit und Moderne, Stuttgart und Weimar: Metzler 1991. „Damit soll nur dies und nichts als dies gesagt sein, daß selbst der oftmals peinlich anmutende Gedanke, Epigonen zu sein, groß gedacht, große Wirkungen und ein hoffnungsreiches Begehren der Zukunft, sowohl dem einzelnen als einem Volke verbürgen kann: insofern wir uns nämlich als Erben und Nachkommen klassischer und erstaunlicher Mächte begreifen und darin unsere Ehre, unsern Sporn sehen.“ – Friedrich Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen, Zweites Stück, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, In: Nietzsche Werke, Kritische Gesamtausgabe, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin und New York: de Gruyter 1972, Bd. III,1, S. 262. Vgl. Meyer-Sickendiek (2001): Ästhetik der Epigonalität, S. 217.
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ethischer Nachahmung kennt.35 Zum anderen reagiert das Imitatio-Modell in anderer Weise auf die Epigonalitätsproblematik des 19. Jahrhunderts als Nietzsche, dessen positive Umwertung des Epigonalitätsbegriffs letztlich auf etwas anderes zielt. Nietzsche begreift Epigonalität nur dann positiv, wenn das Nachgeahmte weit zurückliegende Zeiten betrifft und Nachahmung eine Form von Erinnerungsarbeit ist. Gundolf spricht dagegen kritisch von einem Festhalten an den „fertigen Zeichen“ zu einem Zeitpunkt, an dem diese nicht mehr „wahr“ sind.36 Nietzsche geht es um das Weiterschreiben einer langen Tradition, während das imitierende Schreiben im Kreis sich bevorzugt auf neue Texte bezieht. Während bei Nietzsche ein Nahverhältnis zum nachgeahmten Gegenstand negativ konnotiert bleibt,37 ist eben ein solches Nahverhältnis für den Imitatio-Zusammenhang im Kreis konstitutiv.38 Daher ist es geboten, zwischen Epigonalität und Imitatio auch dort, wo beide Begriffe positiv belegt sind, zu differenzieren. Überdies grenzt sich der Kreis bei aller Sympathie für ein Epigonentum im Sinne Nietzsches in seinem Selbstverständnis davon ab. Die dritte Folge der Blätter misst den rückwärtsgewandten Dichtern zwar als „treuen wahrer[n] einer gewissen überlieferung die mit der hinterlassenschaft der ahnen ihre häuslichkeit verschönten“ einen gewissen Wert bei,39 aber dieses gleichsam in den Wohnzimmern des Bürgertums angekommene Kulturgut wird nicht mehr als zukunftsweisend, sondern nur noch als Relikt („hinterlassenschaft“) betrachtet. Epigonalität ist, chronologisch betrachtet, die Schwundstufe eines früheren Nachahmungszusammenhangs, in welcher stilistische Imitatio noch stattfindet, ohne dass noch Contagio, der Anschluss an eine lebendige Energiequelle, damit verbunden wäre. 35
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Das betrifft insbesondere den wachsenden Einfluss des Christentums seit der Spätantike und dem Mittelalter, in dem die Imitatio nicht mehr allein eine poetologische Kategorie ist, sondern die moralische, theologische und religiöse Dimension in den Vordergrund rückt. – Vgl. Jürgen H. Petersen: Mimesis – Imitatio – Nachahmung. Eine Geschichte der europäischen Poetik, München: Fink 2000, S. 82. Gundolf (31930): George, S. 3. Vgl. Meyer-Sickendieck (2001): Ästhetik der Epigonalität, S. 156. Vgl. Michael Landmann (1980): Stefan George, S. 41. Blätter III, 5 (1896), S. 130.
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Eine zweite, ebenso wichtige Abgrenzung wie diejenige von der Epigonalität ist diejenige vom Individualismus. Auch hier wertet der Kreis nicht grundsätzlich negativ, denn dem Urgeist wird Individualität als eine wesentliche Eigenschaft zugeschrieben. Individualismus kann jedoch, so der Kreis, keine leitende Idee für die Gesellschaft insgesamt und für die Künste sein.40 Der gesellschaftliche Individualismus stellt dem Kreis zufolge für die abgeleiteten Wesen eine Überforderung dar. Dieses Problem ergebe sich in Gesellschaften, die nicht von großen Menschen geführt würden. Wo solche Vorbilder fehlten, werde die Persönlichkeit auf sich selbst zurückgeworfen.41 Eine Kultivierung des Selbstausdrucks sei bei den meisten Menschen eine „zerstörerisch[e] anmaassung“.42 Exercitatio dient eben nicht der Kultivierung individueller Eigenheiten, sondern der Aneignung von „form-ansätze[n]“ und „lebensäusserungen überpersönlicher art“.43 Bildung ist die Erkenntnis der allgemeinen Grundlage des eigenen individuellen Soseins und nicht die Ausbildung losgelöster Individualität. Eine dritte Abgrenzung, die der Kreis selbst nicht vornimmt, die aber für die Begriffsklärung notwendig ist, ist diejenige zur barocken Imitatio. Die Imitatio im Verständnis des Kreises ist mit ihr keineswegs identisch. Wie Gunter Grimm am Beispiel der einschlägigen Poetiken von Kaspar Stieler, Martin Opitz, Sigmund von Birken, Georg Philipp Harsdörffer und Daniel Georg Morhof ausgeführt hat, unterscheiden barocke Poetiken fünf Imitationstypen: das einfache Ausschreiben eines Werkes,44 das Übersetzen, die Nachahmung eines einzigen Autors, das (auswählende) Nachahmen mehrerer Autoren und schließlich die Umsetzung mehrerer Motive.45 Als Ideal gilt der vierte Typ, die eklektische Nachahmung mehrerer Autoren. Die in der poetolo40 41
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Diese poetologischen Vorstellungen müssen auch vor dem Hintergrund der politischen Realität in der Weimarer Republik gesehen werden. „So sehr aber hatte man selbst die Idee menschlicher Hoheit […] verloren, daß man aus der Not die Tugend machte: die Pflicht der Persönlichkeit zu sich selbst.“ – Edith Landmann (1920): Georgika, S. 94. Karl Wolfskehl: Die Blätter für die Kunst und die neuste Literatur. In: Jahrbuch für die geistige Bewegung 1 (1910), S. 1–18, hier S. 8. Wolfskehl (1910): Die Blätter für die Kunst, S. 9. Gemeint ist das Ausschlachten, die wörtliche Entlehnung; sie ist zulässig, wenn sie nur Teile und nicht das Werkganze betrifft. Vgl. Grimm (1983): Literatur und Gelehrtentum in Deutschland, S. 171–177.
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gischen Tradition empfohlene selektive Aneignung verschiedener Orientierungsmuster wird im George-Kreis zurückgewiesen: Gefordert wird der auf einen Autor konzentrierte Sectarius anstatt des Eclecticus.46 Ein eklektischer Zugang, wie ihn Senecas Bienengleichnis entfaltet,47 hat den Anschein von sittlicher Treulosigkeit und Flatterhaftigkeit48 und wird als „glaubenslose Handhabung der Mittel und Stoffe“ abgelehnt.49 Positive Nachahmung entspringt aber einer Glaubensentscheidung, die Edith Landmann mit dem neutestamentlichen Begriff der (Sinnesänderung, Buße) beschreibt.50 Ganz im Sinne der christlichen Nachfolge hat Imitatio eine subjektive und eine objektive Dimension, denn das eigene Nachahmen soll das Nachgeahmtwerden durch andere nach sich ziehen. Die Art und Weise, wie dies geschehen soll, wird im Kreis kontrovers diskutiert. Überhaupt bestehen Differenzen in der jeweiligen Gewichtung des Verhältnisses von Contagio, Exercitatio und Lehre und in der Definition der Bereiche, in denen sich Georges Wirkung vollziehen soll. Im Verlauf der Arbeit wird viel von stilistischer und ethischer Imitatio die Rede sein. Beide Begriffe sind weit gefasst. Stilisti46
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Der Schulpoetiker Johann Hübner umreißt mit diesen zwei Begriffen die beiden Hauptmöglichkeiten von Imitatio. – Johann Hübner: Neu-vermehrtes Poetisches Hand-Buch. Das ist, eine kurtzgefaste Anleitung zur Deutschen Poesie […], Leipzig 1731 [erste Auflage: 1696], S. 185f. – Vgl. Gunter Grimm: Der Kranz des Patrioten. Nachahmungspraxis und Originalitätsideal bei Herder. In: Lenz-Jahrbuch. Sturm und Drang-Studien 4 (1994), S. 101–112, hier S. 102. „Apes, ut aiunt, debemus imitari, quae uagantur et flores ad mel faciendum idoneos carpunt […].“ Lucius Annaeus Seneca: Philosophische Schriften (W 177), Bd. 4, übersetzt, mit Einleitung und Anmerkungen versehen von Otto Apelt, Wiesbaden: Marix 2004, S. 223f. – Zum Bienengleichnis als Leitmetapher der Poetik vgl. Jürgen von Stackelberg: Das Bienengleichnis. Ein Beitrag zur Geschichte der literarischen Imitatio. In: Romanische Forschungen 68 (1956), S. 271–293; Andreas Kablitz: Nachahmung und Wahrheitsanspruch. Seneca – Petrarca – Montaigne. In: Mediävistische Komparatistik. Festschrift für Franz Josef Worstbrock zum 60. Geburtstag, in Verbindung mit Susanne Köbele und Bruno Quast hg. v. Wolfgang Harms und Jan-Dirk Müller, Stuttgart: Hirzel 1997, S. 95–145. „Keinesfalls darf der Aufnehmende wählerisch da und dort Einzelheiten herausgreifen […]. Nicht neue und viele Dinge sollen gesucht und versucht, sondern das seltene Große soll durch immer wiederholtes Hören vollkommener aufgenommen, gekostet und befestigt werden […].“ – Boehringer (31955): Leben von Gedichten, S. 5 und S. 10. Gundolf (31930): George, S. 14. Vgl. Edith Landmann (1920): Georgika, S. 102.
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sche Imitatio bezeichnet alles, was sich in der Struktur eines Textes als metatextuelle Übernahme erweist. Dazu gehören sprachlich-stilistische, thematische, rhetorische und gattungsbezogene Merkmale. Ethische Imitatio richtet sich dagegen auf geistige Gehalte oder auf eine Person, die geistige Gehalte repräsentiert. Der Kreis unterscheidet zwischen positiver und negativer Stilnachahmung. Negativ ist stilistische Imitatio ohne ethische Imitatio (vgl. Kap. 1.5). Ethische Imitatio ohne stilistische Imitatio ist in der zweiten Generation des Kreises nicht vorgesehen, weil das Schreiben von Gedichten ein Bestandteil der Exercitatio ist. In der dritten Generation des Kreises kann sich ethische Imitatio in stilistischer Imitatio artikulieren, muss es aber nicht tun. In dieser Spätphase des Kreises ist das Imitatio-Modell nicht mehr der theoretische Bezugsrahmen; die angestrebte Verbesserung verlagert sich vom ästhetischen ins politische Feld. Das ImitatioModell ist stark auf Fragen der Produktion und Rezeption von Lyrik zugeschnitten. Weil dieser Bezugsrahmen in einer späten Phase des Kreises nicht mehr gegeben ist, rückt ein neuer, weit gefasster Wirkungsbereich in den Fokus. Eine solch umfassende Definition dieses Wirkungsbereichs läuft auf ein Staatsmodell hinaus, das nicht mehr die ästhetische Erfahrung des Einzelnen oder die Kultur im Blick hat. Die ursprünglich poetologischen und ästhetischen Nachahmungs- und Bildungskonzepte werden zum Teil biologistisch neu definiert, was zu einer Verflachung der früheren theoretischen Positionen führt (vgl. Kap. 2.3).
1.5 Chronologischer Durchgang durch die Blätter In der ersten Blätter-Folge (1892/93) ist das Imitatio-Modell noch nicht konturiert. Georges Lobrede auf Mallarmé entwirft jedoch bereits ein soziales Gruppenmodell: Deshalb o Dichter nennen dich genossen und jünger so gerne meister weil du am wenigsten nachgeahmt werden kannst und doch so grosses über sie vermochtest, weil alle in sinn und wolklang nach der höchsten vollendung streben damit sie vor deinem auge bestehen, weil du für sie immer noch ein geheimnis bewahrst und uns den glauben lässest an jenes schöne eden das allein ewig ist.51 51
Dichterköpfe III. Mallarmé. In: Blätter I, 5, S. 137.
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Ein Meister-Schüler-Verhältnis ist zwar gegeben, aber die Formulierung „damit sie vor deinem auge bestehen“ legt nahe, dass der Meister vor allem eine Kritikerfunktion hat. Daneben ist er schon derjenige, der ein „geheimnis“ bewahrt und seinen Jüngern den „glauben“ an ein ewiges Reich der Kunst erhält. Damit deutet sich die besondere Erkenntnisfähigkeit des Urgeists im späteren Imitatio-Modell an. Die spezifische Diesseitigkeit dieses Modells ist aber noch nicht ausgearbeitet, denn die Rede vom ewigen Schönheitsreich knüpft in konventioneller Weise an die platonistische Vorstellung einer ästhetisch begriffenen Ideenwelt an. Stilistische Imitatio hat in diesen Ausführungen noch keinen Platz, sie klingt allenfalls im Streben der Jünger nach Vervollkommnung an. Die „genossen und jünger“ ahmen den Meister indes nicht nach, sondern suchen sich selbst zu perfektionieren. Die Reflexionen darüber, wie das Ziel der Blätter, die deutsche Dichtersprache zu erneuern, umgesetzt werden könne, berühren bald auch das Thema der stilistischen Imitatio. Denn als vorbildhaft wird das französische Modell des Parnass dargestellt. Die parnassische Lyrik sei in Frankreich eine Stilschule gewesen, aus der die moderne französische Dichtung habe hervorgehen können. Eine solche handwerkliche Solidität sei bei den Deutschen erst nachzuholen: „Bevor in einem land eine grosse kunst zum blühen kommt“, heißt es bereits in der dritten Blätter-Folge, „muss durch mehrere geschlechter hindurch der geschmack gepflegt worden sein.“52 Durch eine „heilsame diktatur“, wie George 1902 seinen Plan rückblickend gegenüber Hofmannsthal nennt,53 will er die Voraussetzungen dafür schaffen und als Poeta imperator den Deutschen seinen Stil in die Finger diktieren. Indem George gleich über mehrere Generationen hinweg in die Zukunft plant, denkt er gleichsam dynastisch. Die Geschmackspflege berührt die Dimension von cura in cultura. Pflege und Sorge auf kulturellem Gebiet (Politik, Ethik und Ästhetik) geht George zufolge von der Kunst aus. Seine Vorstellung ist eine Variante des historischen Narrativs der Blütezeit, und zwar eine personalisierte, die die kulturelle Verbesserung vom Wirken einzelner Urgeister abhängig macht.
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Blätter III, 2, S. 35. George-Hofmannsthal Briefwechsel, S. 150.
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Noch das erste Heft der vierten Folge der Blätter (1897) verweist die Lernwilligen zuerst auf sich selbst: „ihr dürft anmut (grazie) nicht an fremden kunstwerken ablesen wollen, denn es wird nie gelingen. lernet zuerst anmut (grazie) der eigenen haltung und bewegung.“54 Stärker gewichtet als die Imitatio wird die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit. Das ändert sich mit der fünften Folge (1900/01). Sie begründet die defizitäre Leistung der deutschen Literatur mit „einem falschen originalitätsstolz“, einem „wirtschaftenwollen auf eigne faust“ und „einer scheu vor der einordnung“.55 George fördert von nun an nachahmendes Verhalten, weil er sich positive kulturelle Auswirkungen davon verspricht. In der fünften Folge wird das ImitatioModell erstmals vorgestellt. Obwohl der Begriff nicht expressis verbis fällt, wird es als ein Denk- und Schreibmodell exponiert, das die Bewegung um George und allgemein jede Form von Kulturerneuerung erklären soll. Klarer als in den früheren Aussagen wird nun der Gedanke ausgesprochen, dass kulturelle Entwicklung von der Nachahmung der Urgeister ausgehe: Neuer Bildungsgrad (Kultur) entsteht indem ein oder mehrere urgeister ihren lebensrhythmus offenbaren der zuerst von der gemeinde dann von einer grösseren volksschicht angenommen wird. der urgeist wirkt nicht durch seine lehre sondern durch seinen rhythmus: die lehre machen die jünger.56
Das Modell ist vertikal in die drei Instanzen „urgeist“ – „gemeinde“ – „volksschicht“ (andernorts auch: „herde“) unterteilt. Mit dem Begriff „lebensrhythmus“ findet der für die Epoche zentrale Rhythmusbegriff Eingang in die Blätter.57 Der Modus der Weitergabe dieser gleichsam dynamisierten Substanz differiert in den unterschiedlichen Hierarchieebenen, denn während der Urgeist durch seine Persönlichkeit wirkt, verbreiten seine Jünger den Rhythmus durch Lehre. Wo der Rhythmus sich Flexibilität bewahrt, verstetigt die Lehre eine bestimmte Art kultureller Praxis. Stilistische Imitatio ist somit ein zwiespältiges Gut: 54 55 56 57
Blätter IV, 1, S. 2. Blätter V, S. 3. Blätter V, S. 1. Vgl. Christine Lubkoll: Rhythmus. Zum Konnex von Lebensphilosophie und ästhetischer Moderne um 1900. In: dies. (Hg.): Das Imaginäre des Fin de siècle. Ein Symposium für Gerhard Neumann (Rombach Wissenschaft Litterae 88), Freiburg i.Br.: Rombach 2002, S. 83–110, hier S. 84.
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Einerseits etabliert sie einen neuen Stil, andererseits konserviert sie das Erreichte und nähert sich damit unterschwellig der Epigonalität. Damit überlagern sich, geschichtsphilosophisch betrachtet, in Georges Nachahmungsdenken und im mit diesem verbundenen Kulturverständnis Optimierungsvorstellungen und Dekadenzvorstellungen. Der achte Jahrgang der Blätter (1908/09) thematisiert den Dekadenzaspekt im Blick auf stilistische Imitatio am äußersten Rand des Imitatio-Zusammenhangs, der ohne Contagio auskommen muss: Was man noch vor zwanzig jahren für unmöglich gehalten hätte: heute machen bei uns Dutzende leidliche verse und Dutzende schreiben eine leidliche rede · ja das neue Dichterische findet wenn auch in der zehnfachen verdünnung öffentlichen und behördlichen beifall. Damit ist ein teil der Sendung erfüllt.58
Georges Haltung einer rein stilistischen Imitatio gegenüber ist ambivalent. Einerseits ist er stolz darauf, stilbildend gewirkt zu haben. 1909 bemerkt er gegenüber Berthold Vallentin, jetzt bekäme er gute Verse zugeschickt,59 das sei früher ganz anders gewesen: „Wenn man da zwei gute Strofen habe haben wollen, habe man sie selber machen müssen.“60 Andererseits wird speziell in der eben zitierten Passage aus den Blättern, wie ihr spöttischer Tonfall signalisiert, die erfolgreiche Popularisierung seines Stils als Schwundstufe betrachtet.61 An gleicher Stelle warnen die Blätter „vor einer gewissen geläufigkeit […] die das echte überwuchert“.62 George steuert damit einer einseitigen Fixierung auf das Ergebnis entgegen, das seine in den ersten Blätter-Jahrgängen eingeführte Vorstellung von der Erlernbarkeit des Handwerks gezeitigt hat: schlechten Ästhetizismus. Die Abwehr einer ausschließlich stilistisch orientierten, nur auf ästhetische Zusammenhänge fixierten Imitatio verdeutlicht den normativen Anspruch Georges, der nicht nur im Sinne einer Re58 59
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Blätter VIII, S. 1. „Jetzt kämen viele Jüngere, die ihm gute Gedichte schickten, im Manuskript bessere als die Verse von R.A.S. [= Rudolf Alexander Schröder].“ – Berthold Vallentin: Gespräche mit Stefan George, Amsterdam: Castrum PeregriniPresse 1967, S. 33. Vallentin (1967): Gespräche mit Stefan George, S. 32. Karlauf weist darauf hin, dass diese Passage in den Blättern auf Ernst Hardts Drama Tantris der Narr gemünzt sei. – Karlauf (2007): Stefan George, S. 723 Anm. 45. Blätter VIII, S. 1.
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gelpoetik poetologische Sachverhalte, sondern auch im Sinne einer normativen Ethik Fragen der richtigen Lebensführung berührt. Dieser achte Jahrgang setzt erstmals das theoretisch formulierte Imitatio-Modell um. Die Gedichte der jüngeren Kreismitglieder erscheinen anonym und sollen den Meister-JüngerBund sowie das gestiegene allgemeine Niveau der Dichtersprache illustrieren. Imitatio fällt mit Entindividualisierung zusammen, da es nicht auf die individuelle Leistung, sondern auf die allgemeine Verbesserung ankommt. In der neunten Blätter-Folge (1910) wird die zuvor proklamierte und praktizierte, danach aber mit Reserve betrachtete stilistische Imitatio damit gerechtfertigt, dass sie keine „ausschliessliche übung in gewaltstückchen [!] der werkstatt“ gewesen sei, sondern noch „eine andere bedeutung“ habe.63 An dieser Stelle wird die ethische Dimension der Imitatio angesprochen, die über den technisch-stilistischen Übungscharakter hinausgeht. Bei George setzt, wie bei Hofmannsthal,64 die ethische Ausrichtung seiner Lyrik bereits vor der Jahrhundertwende ein. 1902 formuliert Rudolf Borchardt in seinem Epilog zur Insel eine Kritik des eigenen ästhetizistischen Frühwerks65 und Rilke entdeckt den Begriff der Arbeit für seine Poetik.66 Ästhetizismuskritik ist wohlfeil; doch nur im George-Kreis findet sie Eingang in eine spezifische, ethisch begründete Imitatio-Theorie. Die Mimesis des Urgeists, welche die Imitatio durch andere initiiert, wird im neunten Blätter-Jahrgang zusammen mit dem gesamten Theoriemodell detailliert entfaltet: Die Schöpfer haben das Göttliche in der ersten unmittelbaren art: sie sind urtypen und ob man sagt · sie tragen es in sich oder ein gott hat es ihnen eingegeben ist eine blosse denkform – wie das setzen eines hervorrufers hinter den dingen immer nur ein hinausrücken der grenze ist. 63 64
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Blätter IX, S. 1. Vgl. Der Tor und der Tod (1893) oder Das Märchen der 672. Nacht (1895). Wolfgang Braungart hat dargestellt, dass Hofmannsthals ästhetizistische Texte bereits Selbstkritik leisten. – Vgl. Braungart (1997): Ästhetischer Katholizismus, S. 68–73. Vgl. Kai Kauffmann: Rudolf Borchardt und der ‚Untergang der deutschen Nation‘. Selbstinszenierung und Geschichtskonstruktion im essayistischen Werk, Tübingen: Niemeyer 2003, S. 39. Vgl. Andrea Pagni: Rilke um 1900. Ästhetik und Selbstverständnis im lyrischen Werk (Erlanger Beiträge zur Sprach- und Kunstwissenschaft 72), Nürnberg: Carl 1984.
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Die Schöpfer müssen das Göttliche immer wieder neu gebären · sie geben es in der aufnehmbaren form den Hirten und diese geben es in der aufnehmbaren form der herde. Die zeiten wo die Hirten gut sind und die Hirten von der herde gehört werden nennt man die guten zeiten der menschheit. Kein Schöpfer ist so gross dass das von ihm gebrachte Göttliche für immer wirksam wäre wie es auch nie ein gleiches Göttliches für alle stufen gibt. Für zeiten die das Göttliche im menschen nicht erleben ist Gott eine blosse denkform.67
Diese Aussagen machen deutlich: Die Frage nach einer jenseitigen göttlichen Instanz ist irrelevant. Trotzdem wird von der Kreativität des Urgeists als einem Göttlichen gesprochen – und dies in biblischen Bildern („Schöpfer“, „Hirten“, „[H]erde“). In ähnlicher Weise bedient Opitz den alten Gedanken von der Poesie als erster Theologie, ohne damit ein Inspirationsmodell zu verbinden. Er sieht die Quelle der poetischen Inspiration in der besonderen Anlage des Dichters und nicht in seiner Gottbesessenheit. Obwohl Opitz sich mehrfach auf das platonische VatesModell bezieht, definiert er den „Göttlichen furor“ als eine „natürliche regung“ und schließt so eine heteronome Inspiration letztlich aus.68 Die Poetiken des späteren 17. und frühen 18. Jahrhunderts erklären die Kreativität des Dichters gleichfalls mit dessen Ingenium; im 19. Jahrhundert erreicht diese Entwicklung ihren Gipfelpunkt in der Dichterpsychologie.69 Ziel ist eine induktiv-empirische Poetik, die deskriptiv mit der Analyse von 67
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[Stefan George]: Über das Feststehende und die Denkformen. In: Blätter IX, S. 154–156, hier S. 154f. – Zu Georges Verfasserschaft vgl. Kurt Hildebrandt: Erinnerungen an Stefan George und seinen Kreis, Bonn: Bouvier 1965, S. 128. Martin Opitz: Buch von der deutschen Poeterey, hg. v. Richard Alewyn, Tübingen: Niemeyer 21966 [erste Auflage: 1963], S. 54f. Vgl. Christian G. Allesch: Geschichte der psychologischen Ästhetik. Untersuchungen zur historischen Entwicklung eines psychologischen Verständnisses ästhetischer Phänomene, Göttingen u.a.: Verlag für Psychologie 1987; Monika Fick: Sinnenwelt und Weltseele. Der psychophysische Monismus in der Literatur der Jahrhundertwende (Studien zur deutschen Literatur 125), Tübingen: Niemeyer 1993; Georg Braungart: Leibhafter Sinn. Der andere Diskurs der Moderne (Studien zur deutschen Literatur 130), Tübingen: Niemeyer 1995, bes. Zweiter Teil, IV.; Thomas Borgard: Immanentismus und konjunktives Denken. Die Entstehung eines modernen Weltverständnisses aus dem strategischen Einsatz einer ‚Psychologia prima‘ (1830–1880) (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 63), Tübingen: Niemeyer 1999 und Sandra Pott: Von der Erfindung und den Grenzen des Schaffens: Fallstudien zur InventioLehre in Poetik und Ästhetik. In: Imaginatio und Inventio, hg. v. Toni Bernhart und Philipp Mehne (Paragrana; Beiheft 2), Berlin: Akademie 2006, S. 217–242.
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Selbstzeugnissen der Dichter und mit der Untersuchung von Leben und Werk arbeitet.70 Nach dem Verständnis des Kreises ist die Voraussetzung für die Mimesis des Urgeists indes nicht dessen subjektive, von Zufälligkeiten geprägte psychische Disposition. Das Ingenium wird vielmehr als eine universale Erkenntnisfähigkeit aufgefasst, die das Göttliche im Sinnlichen sieht.71 Eine solche Poetik spiegelt Kontinuitäten und Modifikationen des ältesten Dichtungskonzepts vom Poeta vates, indem ein Geheimnis um den Schaffensprozess bleibt, ohne dass der Gedanke einer transzendenten Inspirationsquelle damit verbunden wäre. Strukturell hat der Dichter dieselbe Mittlerfunktion wie der Priester in der katholischen Kirche.72 Er vermittelt aber nicht zwischen der Gemeinde und einem transzendenten Gott (wie in der katholischen Liturgie) oder zwischen einer Welt der Dinge und einer davon abgetrennten Ideenwelt (wie bei Platon), sondern zwischen einer Welt der Erscheinungen und einer in den Erscheinungen selbst verborgenen metaphysischen Substanz. Was die Organisation der Vermittlung selbst anbelangt, so legt die Rede von Hirten und von der Herde eine Analogie zum christlichen Apostelwesen nahe. So wie die Diakone von Petrus zu Vorbildern für die Gemeinde berufen werden und damit sowohl Christus nachahmen als auch selbst nachgeahmt werden, sollen auch die Jünger um George weitere Kreise um sich scharen und zwischen George und diesen vermitteln.73 Ebenso nahe liegen Assoziationen zum platonischen Inspirationsmodell. In Platons Dialog Ion wird der Rhapsode vom Dichter inspiriert und überträgt den göttlichen Funken auf das Publikum. Die eigentliche Inspiration geht von der Muse aus: 70
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Vgl. Tom Kindt und Hans-Harald Müller: Dilthey contra Scherer. Geistesgeschichte contra Positivismus. Zur Revision eines wissenschaftshistorischen Stereotyps. In: DVjs 74 (2000), S. 685–709, hier S. 701. Vgl. Boehringer (1945): Ewiger Augenblick, S. 33. Zu den strukturellen Analogien vgl. mit zahlreichen Belegen aus der liturgischen Bewegung Richard Faber: Maria Laachs ‚Liturgische Bewegung‘ im Allgemeinen und Odo Casels ‚Mysterientheologie‘ im Besonderen. Ein doppelter Rückblick auf katholische Religionsgeschichte, mit Seitenblicken auf Mircea Eliade und Stefan George. In: Horst Junginger (Hg.): The Study of Religion Under the Impact of Fascism (Numen Book Series, Studies in the History of Religions 117), Leiden und Boston: Brill 2008, S. 421–442. Vgl. Roland Kany: Art. Jünger. In: Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. 19 (2001), Sp. 258–346 (mit Verweis auf den George-Kreis).
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„[Zuerst macht] die Muse selbst Begeisterte, und an diesen hängt eine ganze Reihe anderer durch sie sich Begeisternder.“74 Im Unterschied zu Platons Magnetgleichnis, in dem die Muse, um im Bild zu bleiben, eine ‚endotherme Reaktion‘ auslöst, ist der Urgeist auf keine externe Inspirationsquelle angewiesen. Stattdessen läuft eine ‚exotherme Reaktion‘ ab, die er aus sich heraus, wenn auch befördert durch die Contagio, initiiert.75 Es ist innerhalb der Logik des Imitatio-Modells nahezu unmöglich, Georges Lyrik ohne persönliche Berührung mit dem Kreis zu verstehen und zu imitieren. Die rezeptiven Menschen sind auf Energiezufuhr durch den schöpferischen Urgeist angewiesen, da sie „das Göttliche“, wie es in einem gleichnamigen Merkspruch der Blätter heißt, nur in der „abgeleiteten art“ besitzen, „als funken der immer wieder entfacht werden muss“.76 Das gilt auch für die Jünger in ihrem Verhältnis zu der ihnen untergeordneten Gruppe der Herde. Die Jünger können ihre Multiplikatorfunktion nur ausfüllen, solange sie durch Contagio mit dem Urgeist verbunden sind. Es ist in diesem Modell nicht vorgesehen, dass der Jünger irgendwann nach Abschluss seiner Lehrjahre zum Meister wird, da dies einer Positionsverschiebung vom abgeleiteten Wesen hin zum Urgeist gleichkäme. Diese Vorannahme ist sozusagen die Achillesferse des ImitatioModells, da es einen persönlichen Reife- und Emanzipationsprozess nicht in Rechnung stellt und diesen sogar verhindert. Nicht zufällig ist dies der Punkt, an dem sich persönliche Verwerfungen im Kreis ergeben und dem Kreis die größten Begabungen verloren gehen. Aus dem Blickwinkel der treuen Jünger ist der verlorene Kontakt zum Urgeist gleichbedeutend mit einem Todesurteil: „Wer je die flamme umschritt / Bleibe der flamme trabant!“ heißt es im gleichnamigen Gedicht, das ebenso wie der Merkspruch Das Göttliche in der neunten Folge der Blätter erscheint und als dessen poetische Verdichtung gelten 74
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Platon: Ion. In: Platon. Sämtliche Werke, Bd. 1 (Rowohlts Klassiker der Literatur und der Wissenschaft), hg. v. Ernesto Grassi unter Mitarbeit von Walter Hess, in der Übersetzung von Schleiermacher mit der Stephanus-Numerierung hg. v. Walter F. Otto, Ernesto Grassi und Gert Plamböck, Hamburg: Rowohlt 1957, S. 97–110, hier S. 103, Nr. 533e. „Die Schöpfer müssen das Göttliche immer wieder neu gebären.“ – [George] (1910): Über das Feststehende und die Denkformen, S. 154. [George] (1910): Über das Feststehende und die Denkformen, S. 154.
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Teil 1: Das Imitatio-Modell
kann. Wer sich vom Zentrum entferne, treibe „zerstiebend ins all“. Dass eine Flamme und nicht – wie es im Rahmen der planetaren Metaphorik nähergelegen hätte – die Sonne das Gravitationszentrum ist, betont die ‚ansteckende‘ Qualität von Imitatio.77 Anders als das Sonnenlicht verbreitet sich die Flamme durch direkte Berührung. Das Gedicht wird in verschiedenen Jugendbünden und im Nationalsozialismus Karriere machen. An dieser Stelle wird deutlich, dass der Gedanke der ethischen Imitatio auf politische Modelle charismatischer Herrschaft übertragbar ist. Im Rahmen des Imitatio-Modells ist die ethische Imitatio jedoch nur ein Teilbereich und nur ein Derivat des eigentlich ästhetischen und poetologischen Ansatzes – obwohl eine Applikation dieses ethischen Teilbereichs auf das politische Feld naheliegt und von nationalsozialistischen Angehörigen der dritten Kreisgeneration auch vollzogen wird. Die Akteure des (poetologischen) Imitatio-Modells lassen sich in folgender Übersicht zusammengefasst darstellen:
Abb. 1: Akteure des Imitatio-Modells 77
Stefan George: Wer je die flamme umschritt. In: SW, VIII, S. 84. – Abgedruckt in: Blätter IX, S. 40.
Teil 1: Das Imitatio-Modell
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Dieses Schema erfasst nur die Akteure des Imitatio-Modells, nicht die Wechselwirkung zwischen den Akteuren. Es erfasst auch nicht die Neuinterpretation dieses Modells bei Vertretern der dritten Kreisgeneration. Ein Schema der Interaktion zwischen Bildungsgeber und Bildungsnehmer einschließlich der diesbezüglichen differenten Auffassungen innerhalb der verschiedenen Jüngergruppen erfolgt im zweiten Teil der Arbeit (vgl. Kap. 2.3). Nicht eigens aufgeführt sind ferner diejenigen, die sich außerhalb dieses Funktionszusammenhangs bewegen. Es fehlt in diesem Modell der Hinweis auf das Geschick der abgeleiteten Wesen, die nicht das Glück haben, durch Contagio mit einem lebendigen Urgeist verbunden zu sein. Sie sind zur Epigonalität verurteilt. Außerdem fehlen die Fälle des Scheiterns: Das abgeleitete Wesen versagt, wenn es sich selbst absolut setzt, der Urgeist wiederum versagt, wenn er es nicht schafft, Gehör zu finden.78 Fehlendes Ethos oder fehlende Erkenntnis der Substanz können dazu führen, dass Dichtung keine positive Sinnstiftung leistet (negative Mimesis). Wenn ein potenzieller „Urdichte[r]“79 sich nicht um das gültige Zeichen bemüht, sondern beliebige Zeichen setzt, erreicht er keine Perfektion und wird seiner Vorbildfunktion nicht gerecht (negative Mimesis). Das Ergebnis ist ein poetischer Proteismus, der weder sinnstiftend noch stilbildend wirkt und daher auch keine Nachahmung auslöst. Beispiele fehlgeleiteter Imitatio sind die dilettantische und die epigonale Nachahmung sowie die ästhetizistische und die eklektizistische Nachahmung, welchen beiden das Kriterium der ethischen Entscheidung für einen einzigen Autor fehlt. Zu ergänzen wäre auch in diesen Fällen die Fundamentalkritik fehlender Substanz. Die fehlgeleiteten Formen von Mimesis und Imitatio sind in der folgenden Übersicht zusammengefasst (Abb. 2). Sie alle bewegen sich außerhalb des Imitatio-Modells. Sie bewirken weder Perfektionierung (des Urgeists) noch Idea-
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Mit der ausbleibenden oder erfolgenden Nachahmung fällt die Entscheidung darüber, ob sich die Vision des Schöpfers ausbreitet oder nicht. Ein Fall des Scheiterns ist für den Kreis Nietzsche, der zu Lebzeiten keinen Jüngerkreis bildet, oder Hölderlin, dessen Rezeption erst verzögert einsetzt. Kommerell (2[1940]): Der Dichter als Führer, S. 95.
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Teil 1: Das Imitatio-Modell
Abb. 2: Fehlgeleitete Formen von Mimesis und Imitatio
lisierung (der abgeleiteten Wesen), und daher grenzt sich der Kreis von ihnen ab.
1.6 Differenzen im Kreis Bezüglich der Art und Weise, wie die Weitergabe der neuen Zeichen seitens der Jünger auszusehen habe, bestehen im Kreis Differenzen. Sie lassen sich zunächst an den Antipoden Wolters und Gundolf festmachen.80 Wolters favorisiert die Weitergabe des Neuen durch Lehrinhalte, Gundolf betont die Rolle des pädagogischen Eros. Er zielt nicht wie Wolters auf eine konkrete Umsetzung in einem politischen Staats- und Gesellschaftsmodell. Während Gundolf auf die individuelle Idealisierung durch Contagio setzt, favorisiert Wolters den Gedanken einer allgemeinen Formgebung von außen. George selbst lässt die Entscheidung über eine Priorisierung dieser beiden Ansätze offen, fördert aber die Diskussion über diese Fragen.
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Zur Opposition zwischen Wolters und Gundolf vgl. Groppe (1997): Die Macht der Bildung, S. 239–245 und S. 271–276; Karlauf (2007): Stefan George, S. 440–450 sowie den Briefwechsel zwischen Gundolf und Wolters, der neben den Differenzen auch das Verbindende zeigt: Friedrich Gundolf – Friedrich Wolters. Ein Briefwechsel aus dem Kreis um Stefan George hg. v. Christophe Fricker, Köln, Weimar und Wien: Böhlau 2009.
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In seinem Aufsatz Gefolgschaft und Jüngertum in der achten Folge der Blätter verurteilt Gundolf stilistische Imitatio ohne Contagio scharf.81 Die nur an den neuen sprachlichen Mitteln Interessierten erniedrigten „das Seltene zum prunkstück […] und in den boden der bereit war für saat und steckling bohren sie ihre gestelle fürs feuerwerk.“82 Sie hätten kein Interesse an der Botschaft von Georges Lyrik, sondern übernähmen nur deren ästhetischen Oberflächenreiz. Mit ihrem „feuerwerk“, das sie über dem Saatboden abfackelten, behinderten sie dessen sprachpflegerisches und kultivierendes Tun. Diese Kritik richtet sich vordergründig gegen die Ästhetizisten und die ‚Trittbrettfahrer‘ der Bewegung, die, ohne Folgerungen für ihren Lebensstil daraus zu ziehen, nur stilistisch imitieren und daher negative ästhetizistische Nachahmung leisten. Überraschender als diese bekannten Abgrenzungen wirkt indes die diesen Worten folgende Kritik an denjenigen Anhängern, die „nur den glauben und den eifer haben aber nicht die liebe.“83 Als Subtext schwingt in Gundolfs Argumentation seine kritische Sicht auf die Richtung um Wolters mit.84 Den Glauben kann er dieser Gruppierung nicht absprechen, was er aber vermisst, ist die affektive Bindung durch Contagio. Er bezweifelt die Effektivität einer Weitergabe der neuen Zeichen von außen nach innen vermittels eines vorgegebenen äußeren Formats. In seinem Heidelberger Wirkungskreis werden diejenigen, die Äußerlichkeiten imitieren wie die „viermalgeschlungen[e] Kultkrawatte“, von Gundolf „unverzüglich zu Wolters weitergeschickt“.85 Vor diesem Hintergrund gewinnt auch der folgende Passus eine auf Wolters beziehbare Nebenbedeutung. Nicht nachahmung ist die pflicht der jünger: ihr stolz ist dass der meister einzig ist. Seine bilder sollen sie nicht machen · sondern sein werk sein · nicht seine erstarrten züge und gebärden aufstellen und herumtragen sondern sein blut und seinen hauch · sein licht und seine wärme · seine musik und seine bewegung aufnehmen in ihr dasein und
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Vgl. Friedrich Gundolf: Gefolgschaft und Jüngertum. In: Blätter VIII, S. 106– 112. Gundolf (1908/09): Gefolgschaft und Jüngertum, S. 108. Gundolf (1908/09): Gefolgschaft und Jüngertum, S. 109. Vgl. Karlauf (2007): Stefan George, S. 447. Salin (21954): Um Stefan George, S. 139f.
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weitergeben in die noch starre oder leere welt · wandelnde öfen die er geheizt hat · stoff den er beseelt: seines grossen atems umsetzung · verkörperung · vervielfältigung […].86
In fast identischen Worten beschrieb Herder die Imitatio auctoris als ein unwillkürliches Abfärben dessen, von dem man begeistert ist: „[S]ein Feuer facht unsern Geist an, wir schaffen in seine Bilder neue Züge, und prägen seine Ideen um […] – wir werden mehr als Nachahmer, wir werden Nacheiferer.“87 Herder kommt indes zu einem anderen Ergebnis als Gundolf, denn sein Ideal ist das Nacheifern (Aemulatio). Gundolf geht es aber um die getreue Weitergabe dessen, was als sinnliche Energie vom Urgeist ausgeht („sein licht und seine wärme · seine musik und seine bewegung“). Es geht ihm auch nicht um eine äußerliche Weitergabe allein des Stils: Erst durch die Contagio verbreite sich die Substanz. Es gehört zum Wesen von Klang, Wärme und Licht, dass sie sich im Raum ausbreiten. Dass Gundolf diese Metaphern verwendet, unterstreicht seine Überzeugung, dass Imitatio, nachdem Contagio erfolgt sei, gleichsam von selbst geschehe und nicht durch äußere Mittel forciert werden könne. Was Gundolf an dieser Stelle als Ideal formuliert, ist die Weitergabe des „rhythmus“ durch Contagio statt durch Lehre. Sein Ansatz funktioniert nur, wenn die Weitergabe auf wenige Einzelne beschränkt bleibt. Die oben zitierte Passage aus der fünften Folge der Blätter gibt genau genommen bezüglich der Weitergabe an Dritte Wolters Recht, denn als praktikabler für eine Breitenwirkung, wie Wolters sie perspektivisch verfolgt, erweist sich die Lehre.88 Um zu entscheiden, welche der beiden Umsetzungen seines Modells George favorisiert, soll im zweiten Teil der Arbeit seine Lyrik selbst befragt werden (vgl. Kap. 2.3).
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Gundolf (1908/09): Gefolgschaft und Jüngertum, S. 110. Johann Gottfried Herder: Fragmente über die neuere deutsche Literatur. In: Bernhard Suphan (Hg.): Herders sämtliche Werke, Bd. 1, Berlin: Weidmannsche Buchhandlung 1877, S. 408, zit n. Emil Staiger: Dialektik der Begriffe Nachahmung und Originalität. In: Werner Kohlschmidt (Hg.): Tradition und Ursprünglichkeit, Bern und München: Francke 1966, S. 18–38, hier S. 33f. Vgl. Blätter V, S. 1.
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1.7 Übertragung auf literarhistorische Wertungen Wie das Imitatio-Modell in literarhistorische Wahrnehmungsmuster einfließt, zeigen die Arbeiten Wolfskehls, Kommerells, Gundolfs und Edith Landmanns. Landmann, geb. Kalischer, ist zwar anders als die zuvor Genannten keine Literaturwissenschaftlerin, sondern studierte Philosophin.89 Aber ihre 1920 geschriebene Autorpoetik mit dem Titel Georgika wird von George und Gundolf begrüßt.90 Sie ist eine der wenigen Frauen, der George über Jahrzehnte eng verbunden bleibt; ihre postum als Gespräche mit Stefan George herausgegebenen Tagebuchaufzeichnungen gehören zu den zentralen Quellentexten der George-Forschung.91 Die Mimesis des Urgeists ist, wie bereits gesagt, an das dichtungstheoretische Modell des Poeta vates anschlussfähig. Landmann leitet daher den ersten Teil der Georgika mit einem historischen Rekurs auf den Vates-Gedanken in der Antike ein, nennt seine Anhänger namentlich in der neueren Literaturgeschichte und bezeichnet die Vorstellung vom Dichter-Seher als das zentrale und dem „Wesen des Dichters“ einzig gemäße Rollenmodell.92 Sie unterscheidet weiter zwischen primären und sekundären Eigenschaften von Poesie und rechnet die formale 89
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Vgl. Jürgen Egyptien: Schwester, Huldin, Ritterin. Ida Coblenz, Gertrud Kantorowicz und Edith Landmann. Jüdische Frauen im Dienste Stefan Georges. In: Castrum Peregrini 246/265 (2004), S. 73–119; ferner Michael Landmann: Erinnerungen an Stefan George. Seine Freundschaft mit Julius und Edith Landmann, Amsterdam: Castrum Peregrini-Presse 1980 und Margret Schuster: Edith Landmann als Philosophin. In: Castrum Peregrini 25 (1955), S. 34–49; Gesine Leonore Schiewer: Das Problem des Politischen in der Philosophie Edith Landmanns. In: Roman Köster, Werner Plumpe, Bertram Schefold und Korinna Schönhärl (Hg): Das Ideal des schönen Lebens und die Wirklichkeit der Weimarer Republik. Vorstellungen von Staat und Gemeinschaft im GeorgeKreis, Berlin: Akademie 2009, S. 77–94; Korinna Schönhärl: „Die Transcendenz des Erkennens“. Erkenntnistheoretische Grundlagen der ökonomischen Methodendiskussion im George-Kreis. In: Archiv für Kulturgeschichte 2 (2009), S. 445–475 und dies.: „Wie eine Blume die erfroren ist“. Edith Landmann als Jüngerin Stefan Georges. In: Bertram Schefold und Bruno Pieger (Hg.): Stefan George: Dichtung – Ethos – Staat. Denkbilder für ein geheimes europäisches Deutschland, Berlin: Verlag für Berlin-Brandenburg 2010, S. 207–S. 242. Edith Landmann (1920): Georgika. Edith Landmann (1963): Gespräche mit Stefan George. Edith Landmann (1920): Georgika, S. 1f.
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Bestimmung „gebundene Rede“ zu den letzteren. Wesentlich sei allein ihr Gehalt: „der vom Urlicht durchleuchtete sinnliche Gegenstand“.93 Die äußere poetische Form müsse man als das Ergebnis von Mimesis begreifen.94 „Nur wenn wir die gebundene Rede als den vom göttlichen Geiste beseelten Leib erfassen, […] dürfen wir in der Form der Dichtung auch ihr Wesen“ sehen.95 Ferner gehört zum Vates-Modell die zukunftsweisende Seherkraft. Der Poeta vates drücke nicht den Geist seines gegenwärtigen Zeitalters aus, sondern erahne den Geist eines zukünftigen Zeitalters, das er erschaffe.96 Aus dieser Poetik folgt eine reduzierte Sicht auf die Geschichte der Lyrik, die all jene Formen ausklammert, die nicht den Ansprüchen des Imitatio-Modells an die Creatio des Urgeists genügen. Landmann nimmt für die deutsche Literaturgeschichte vor allem auf Hölderlin Bezug.97 Eine weitere, zeitlich etwas früher ansetzende Bezugnahme im Kreis ist die Berufung auf Klopstock. Klopstock ist in der Tat der erste Dichter innerhalb der neueren deutschen Literaturgeschichte, der, nach Vorgängern im 17. Jahrhundert wie Quirinus Kuhlmann oder Johann Wilhelm Petersen, die Poeta vates-Rolle aktualisiert.98 Ideengeschichtlich befindet man sich hier im Umfeld des Pietismus. Die dort gepflegten Nachahmungskonzeptionen (stilistische Imitatio prophetischer Rede, ethische Imitatio Christi im Modus charismatischer Gruppenbildung, kollektives Auftreten durch anonym bleibende Liedverfasser im maßgeblichen Freylinghausen-Gesangbuch analog zur Anonymisierung der Bei93 94
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Edith Landmann (1920): Georgika, S. 4 und S. 11. Landmann verwendet den Begriff der Mimesis sowohl in seiner negativen als auch in seiner positiven Bedeutung. Für seine negative Bedeutung als Nachahmung der Welt der Erscheinung verwendet sie synonym und vom ImitatioBegriff dieser Studie abweichend auch den Begriff des Imitatorischen. Für die positive Bedeutung der Darstellung geistiger Urbilder beruft sie sich auf Aristoteles, der Mimesis gleichfalls nicht als Darstellung empirischer Wirklichkeit betrachtet. – Vgl. Edith Landmann (1920): Georgika, S. 16f. und S. 20f. Edith Landmann (1920): Georgika, S. 5. „[D]ie, welche den Geist der Renaissance heraufführen, sind nicht Giotto und Masaccio, sondern Dante der Vergil zum Führer durch die Hölle wählt und Franz von Assisi der den Bruder Sonne besingt. Der bildende Künstler baut das Haus des Geistes, aber seinen Leib schafft der Dichter.“ – Edith Landmann (1920): Georgika, S. 9. Vgl. Edith Landmann (1920): Georgika, S. 4f. Vgl. Gerhard Kaiser: Klopstock. Religion und Dichtung, 2., durchgesehene Auflage, Kronberg, i.T.: Scriptor 1975 [erste Auflage: 1962], S. 132f. und S. 136.
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träger in den Blättern) wären auf George und seinen Kreis übertragbar.99 Allerdings unterscheidet sich das Imitatio-Modell des Kreises von diesen Konzeptionen durch seine konsequente Diesseitigkeit und sein ästhetisch begründetes Sehertum. Noch Klopstocks Poetik liegt ein religiös begründetes Sehertum zugrunde.100 Trotzdem ist er als Wegbereiter Hölderlins für die Kreismitglieder einer der ihren.101 Mit Blick auf die stilistische und ethische Imitatio ist Klopstock ebenfalls eine zentrale Bezugsfigur. Programmatisch leitet Klopstock die von George und Wolfskehl herausgegebene Anthologie Das Jahrhundert Goethes ein.102 Mit einem Kapitel über Klopstock lässt auch Kommerell seine Studie Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik (1928) einsetzen.103 Vor allem fasziniert ihn dessen Vision einer Dichtergruppe: Klopstock, der einen religiös gefärbten Freundeskreis um sich geschart habe, sei der erste neuere deutsche Dichter, der zeige, „daß Dichtung eine Sache der Gemeinschaft“ sei.104 Überhaupt stellt Kommerell die Rolle der Contagio in der Beziehung zwischen Urgeist und abgeleitetem Wesen ins Zentrum von Der Dichter als Führer, da er die Weimarer Klassik vor 99
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Damit soll keine Strukturübertragung pietistischer Frömmigkeit auf die kunstreligiösen Interaktionsformen im George-Kreis behauptet werden; es geht ausschließlich um strukturelle Parallelen. Vgl. Kaiser (1975): Klopstock. Religion und Dichtung, S. 132f. und S. 136. – Zum Thema säkularisierter Pietismus vgl. Gerhard Kaiser: Pietismus und Patriotismus im literarischen Deutschland. Ein Beitrag zum Problem der Säkularisation, Wiesbaden: Steiner 1961. Kommerell (2[1940]): Der Dichter als Führer, S. 60. George und Wolfskehl (1902): Deutsche Dichtung III. Klopstock ist mit 16 Gedichten vertreten. – Die von George initiierte dreibändige Anthologie Deutsche Dichtung ist ein prägnantes Beispiel für die Tendenz der ‚Einverleibung‘ von Fremdem. Die Gedichte werden in der Drucktype und der Kleinschreibung des Kreises gedruckt, die Verfassernamen werden nicht (bzw. erst im Register) genannt – wie in den späteren Blätter-Heften erkennt nur der Eingeweihte die Verfasser –, in die Textgestalt wird bedenkenlos eingegriffen. Wissentlich wird ein Gedicht von Claudius Klopstock zugeschrieben, wird ein Gedicht Schellings als ein Text Schillers ausgegeben. In all diesen Punkten, auch in der Textauswahl, welche nicht repräsentativ sein will, sondern bewusst einseitig ist, zeigt sich ein Affekt gegen die philologische und die populäre Anthologie gleichermaßen. Es geht George um eine Geschichte poetischer Ideen. Im Kreis dient die Sammlung pädagogischen Zwecken: Die jüngeren Kreismitglieder schulen daran ihre Literaturkenntnisse und ihr Stilgefühl. Vgl. Kommerell (2[1940]): Der Dichter als Führer, S. 11–60. Kommerell (2[1940]): Der Dichter als Führer, S. 399.
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dem Hintergrund von Personenkonstellationen interpretiert. Ein Beispiel ist das Goethe-Kapitel mit dem Untersuchungsgegenstand der zeitgenössischen Shakespeare-Rezeption. Die Nachahmung Shakespeares durch Goethe stellt im Rahmen des Imitatio-Modells einen Sonderfall dar, weil es sich hier um die Nachahmung eines Urgeists durch einen anderen Urgeist handelt. Für den größten Teil der Bewegung der Sturm-und-DrangLiteratur sei die Shakespeare-Imitation, so Kommerell, lediglich eine äußerliche „Schreib-Mode“, Goethe dagegen werde von Shakespeare innerlich berührt.105 Diese Berührung gebe Goethe weiter – durch Contagio, nicht durch Schriftlichkeit. „Der am echtesten Goethes damalige Regung nachschwang: Franz Lerse schrieb nicht, sondern liebte schwärmte tobte mit ihm wie’s die Stunde gab“, und die Freunde schlafen, wie Kommerell einstreut, „in einem Bette zusammen ohne zu schlafen“.106 Was Kommerell an dieser Stelle aufzeigt, ist ein Beispiel geglückter ethischer Imitatio durch persönliche Berührung mit erotischen Nebentönen, die sich in einem schwärmerischen Freundschaftsverhältnis äußern. Sowohl Lerse wird von Goethe berührt als auch Goethe von Lerse. In der Gegenwart seines Freundes sei Goethe derart inspiriert worden, dass dieser angesichts der „zungenrednerischen Entzückungen des andern oft von Sorge um dessen Verstand befallen“ worden sei.107 Die Zungenrede, das Urbild inspirierter poetischer Sprache, wird nicht mehr ausgelöst durch die Berührung mit dem Heiligen Geist, sondern durch die Berührung mit dem intimen Du. Je nach argumentativem Kontext kann die Einschätzung der Leistung einzelner Urgeister im Kreis differieren. Kommerell stellt den Urgeist Goethe positiv dar. Landmann kritisiert an Goethe das klassische Bildungsideal, dessen höchster Wert die freie Entfaltung des Individuums sei, im Unterschied zu Georges Ideal der Hingabe an einen großen Menschen. Bezogen auf den Nachahmungskontext interessiert sie ausschließlich 105
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Kommerell stellt eine solche äußerliche Nachahmung als Lüge dar: „[A]ls Shakespearlinge logen sie durchaus. Nachdem sie sich ihres wenigen Stoffes, der Stoff der Zeit vielmehr Stoff des Tages war, selber beraubt hatten, boten sie den widrigen Anblick schaler und dünner Seelen in Reden und Gebärdungen von Riesen […].“ – Kommerell (1928): Der Dichter als Führer, S. 97. Kommerell (2[1940]): Der Dichter als Führer, S. 98. Kommerell (2[1940]): Der Dichter als Führer, S. 98.
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die ethische Dimension von Nachfolge, und selbst im Blick auf die kulturelle Wirksamkeit rangiert bei ihr die ethische Imitatio vor der stilistischen. Gleiches gilt für den hermeneutischen Vorgang: Ethische Imitatio sei notwendig, damit die Botschaft eines Urgeists verstanden werde und er die Zukunft gestalten könne.108 Georges Lyrik selbst interessiert sie nur insofern, als sie ein „Bild des Sein-Sollenden“ gibt. Wieder geht es ihr um die Substanz, die „Idee“ der Dichtung, und nicht um ihre äußere Erscheinung.109 Stilistische Imitatio, die ihr Augenmerk eher auf das Technisch-Handwerkliche legt, ist für sie beinahe bedenklich, da sie sich ihrem Verständnis nach an akzidentellen Äußerlichkeiten orientiert.110 Von außen betrachtet wirke der George-Kreis vielleicht wie eine „Dichterschule“, aber eigentlich sei er eine Schule des Lebens: „[E]r lehrt seine Jünger dichten, indem er sie leben lehrt.“111 Die stärker in den Bereich der Stilnachahmung fallende Exercitatio ist in Landmanns Poetik, die eben keine Regelpoetik für stilübende Jünger sein will, gegenüber der ethischen Imitatio unterrepräsentiert. Bezogen auf die gleichwohl im Imitatio-Modell enthaltene Exercitatio und auf die mit ihr verbundene Idee einer Dichterschule mit sprachpflegerischem Anspruch beginnen die Referenzpunkte in der deutschen Literaturgeschichte bei den Dichterassoziationen der Frühneuzeit. Der Barockkenner Wolfskehl zieht indirekt diesen Vergleich in seinem Kommentar zum Versteigerungskatalog der Bibliothek Victor Manheimer (1927), in welchem er Opitz zum „geistige[n] Täter“ stilisiert.112 Opitz ist 108
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„Nur wo der Dichter um sich und über seine Zeit hinaus der Schöpfer eines Volkes ist, das mit seinen Augen sieht und mit seinem Herzen sich vermählt hat, kann die von ihm geschaffene Form als ein Lebendiges von gleichem Geiste Genährtes auch von anderen von innen heraus begriffen und ergriffen werden.“ – Edith Landmann (1920): Georgika, S. 5. Edith Landmann (1920): Georgika, S. 24. „Denn Metrik und Reim sind nachahmbar, lehrbar und lernbar, und in die leere Hülse läßt sich schlechthin jeder Inhalt füllen. Ist echte Form der Leib eines höheren Geistes, so ist die falsche ein Kleid, das sich jedem irdischen Inhalt überwerfen läßt. Diese leergewordene Form als Merkzeichen der Dichtung mißverstanden hat den Begriff des Dichters als des Vates schmählich erniedrigt […].“ – Edith Landmann (1920): Georgika, S. 6. Edith Landmann (1920): Georgika, S. 81. Victor Manheimer: Sammlung Victor Manheimer. Deutsche Barockliteratur von Opitz bis Brockes. Mit Einleitung und Notizen von Karl Wolfskehl, München: B. Heller 1927, S. 56.
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ihm das historische Beispiel dafür, dass es „in Deutschland […] einmal einen wirklichen Diktator gegeben hat, daß ein Praeceptor germaniae mit unbeschränkter Machtvollkommenheit ein ganzes Kunst- und Geistesgebiet“ beherrschte.113 Wolfskehl verwendet das Wort Diktator nicht von ungefähr. Er parallelisiert an dieser Stelle Opitz mit George, dessen eigener Rede von einer „heilsame[n] diktatur“ im oben erwähnten Brief an Hofmannsthal eingedenk.114 Opitz sei als einziger deutscher Dichter vor George „zugleich Gesetzgeber und Muster“ gewesen.115 Landmann lässt ihre Studie zwar auch mit dem Bild vom Dichter als Gesetzgeber beginnen: „[D]ie ältesten Gesetzgeber waren Dichter und die ältesten Dichter Gesetzgeber“.116 Dieses Gesetz ist aber nicht wie bei Wolfskehl auf die stilistischen Gesetze der Poesie bezogen, sondern auf die ethischen Grundsätze des richtigen Lebens.117 Bei allen Gemeinsamkeiten haben Kommerell, Landmann und Wolfskehl einen graduell verschiedenen Blick auf die angesprochenen Nachahmungskonstellationen. Sie arbeiten in ihren Schriften an der Ausgestaltung und Konkretisierung dieser Gedanken mit. Das Imitatio-Modell ist nicht nur ein Instrumentarium zur Deutung kultureller Prozesse, es dient auch der Abgrenzung von zeitgenössischen Strömungen. Ein Beispiel dafür ist Gundolfs George-Buch. In der Einleitung kommt er unter anderem auf Formen fehlgeleiteter Imitatio zu sprechen. So wirft er dem Naturalismus vor, dass er keinen „ewigen Sinn“ kenne:118 Er habe keine neue Sprache geschaffen (positive Mimesis), sondern verwende Sprache nur als Mittel der Wirklichkeitsabbildung (negative Mimesis). Sein fehlendes Ethos führe dazu, dass er keine positive Sinnstiftung leiste. Der Neuromantik unterstellt Gundolf ästhetizistische Nachahmung: Sie habe die neue Sprache nur „als Kostüm, als Theater und Reizmittel“ aufgegriffen und auf diese Weise eine „neue Mode“ aus Georges neuer Sprache, nämlich das „‚Ästhetentum‘“ generiert.119 In der Abwehr 113 114 115 116 117 118 119
Wolfskehl (1927): Sammlung Victor Manheimer, Einleitung und Notizen, S. 56. George-Hofmannsthal Briefwechsel, S. 150. Wolfskehl (1927): Sammlung Victor Manheimer, Einleitung und Notizen, S. 56. Edith Landmann (1920): Georgika, S. 1. Vgl. Edith Landmann (1920): Georgika, S. 86. Gundolf (31930): George, S. 8. Gundolf (31930): George, S. 13f.
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des Ästhetizismus sind sich alle zuvor Genannten einig. Ähnlich äußert sich Wolfskehl in seinem Aufsatz Die Blätter für die Kunst und die neuste Literatur (1911). Die aber, einer neuen mode gefällig, einen neuen zuschnitt zur schau trugen, von gestern auf heute sich ‚fein gebärdeten‘ oder ‚auch‘ in antiqua drucken liessen oder ‚auch‘ tee tranken, die durften gerade nicht als beweise neuen menschentums gelten […].120
Ebenso wie Gundolf wertet Wolfskehl eine rein äußerliche Nachahmung dessen, was als Modeströmung anerkannt wird, ab. Auch Kommerell distanziert sich von der äußerlichen Übernahme einer „Schreib-Mode“.121 Pauschal kritisiert Gundolf an den verschiedenen Tendenzen – „ob neuromantisch oder neuklassisch, romanisch oder exotisch oder russisch und nordisch gefärbt“ – die „glaubenslose Handhabung der Mittel und Stoffe.“122 Naturalisten, Ästhetizisten und Eklektizisten: Sie alle werden gemäß ihrer Stellung im Nachahmungszusammenhang kritisiert. Vor eklektischem, ästhetizistischem oder individualistischem Fehlverhalten bewahrt den Jünger seine qua Contagio gewährleistete Integration ins normative Imitatio-Gefüge.
1.8 Epistemologische Konsequenzen Denkkategorien des Kreises finden nicht nur in poetologische oder literarhistorische Studien Eingang. Edith Landmann macht sie auch für ihre philosophische Arbeit fruchtbar und verbindet in ihrem Hauptwerk Transcendenz des Erkennens das ImitatioModell mit zeitgenössischer Epistemologie.123 Dabei schließt sie besonders an die Grazer Schule der Gestalttheorie an und begibt sich in eine bewusste Gegenposition zur psychologisch-empirischen Erkenntnistheorie, die sich auf die empirischen Daten der subjektiven Empfindung konzentriert.124 Transzendieren ist bei Landmann eine dem Bewusstsein eingeschriebene Verstandes-
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Wolfskehl (1910): Die Blätter für die Kunst, S. 12. Kommerell (2[1940]): Der Dichter als Führer, S. 97. Gundolf (31930): George, S. 14. Vgl. Edith Landmann (1923): Transcendenz des Erkennens. Vgl. Carl Friedrich Gethmann: Art. Erkenntnistheorie. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, S. 683–690, hier S. 686.
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leistung und realisiert sich innerhalb der Welt,125 weshalb sie auch vom „transcendenten Realismus“ ihrer Erkenntnistheorie spricht.126 Mit Alexius Meinong steht sie in persönlichem Kontakt,127 Edmund Husserl und sein Lehrer Franz Brentano, aus dessen Intentionalitätslehre128 sie ihren Transzendenzbegriff herleitet, sind weitere Bezugspunkte ihres Denkens.129 Der späte Brentano versteht unter dem transzendenten Gegenstand ein Ens realissimum, eine Substanz im Sinne der klassischen Ontologie.130 Ebenso gibt es für Landmann Universalien, die sie „Gesamtgegenstand“ nennt.131 Sie geht – gegen den Empirismus und gegen den Neukantianismus gewendet – davon aus, dass das Ding an sich erkennbar sei. George steht insgeheim im Zentrum von Transcendenz des Erkennens. „[Die] Grundidee meines Buches“, so Edith Landmann in der Überlieferung ihres Sohnes, „schoss mir durch den Kopf in einem der ersten Gespräche mit George […].“132 Vor dieser Begegnung sei sie mit ihrem philosophischen Grundansatz, den einzelnen Erkenntnisakten eine objektive, gegenständlich aufgefasste Welt der Ideen zuzuordnen, nicht weitergekommen: „Das Prinzip der Gegenständlichkeit löste, konsequent durchgeführt, die Gegenständlichkeit jedes konkreten Dings auf.“133 Erst durch George habe sie die Gewissheit erhalten, dass der synthetisierenden Persönlichkeit eine umfassende Wahrnehmung der Wirklichkeit des realen Dings möglich sei. „Die Totalität und das Zusammenwirken aller Kräfte, die seine Persönlichkeit auszeichnen, so wurde mir klar, bilden das Geheimnis auch 125 126 127
128 129 130 131 132 133
Vgl. Edith Landmann (1923): Transcendenz des Erkennens, S. 44. Edith Landmann (1923): Transcendenz des Erkennens, S. 86. Vgl. Michael Landmann: Edith Landmann 1877–1951. In: ders.: Erinnerungen an Stefan George. Seine Freundschaft mit Julius und Edith Landmann, Amsterdam: Castrum Peregrini-Presse 1980, S. 107–139, hier S. 117. – Zu Meinong vgl. Arkadiusz Chrudzimski: Gegenstandstheorie und Theorie der Intentionalität bei Alexius Meinong (Phaenomenologica 181), Dordrecht: Springer 2007. Vgl. Franz Brentano: Psychologie vom empirischen Standpunkt, 2 Bde., Leipzig: Meiner 1924 [erste Auflage: 1874 (nur Bd. 1)], S. 124. Vgl. Michael Landmann (1980): Edith Landmann, S. 118. Vgl. Albert Veraart, Art. Gegenstand. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, S. 129–134, hier S. 132. Edith Landmann (1923): Transcendenz des Erkennens, S. 88–155 und passim. Vgl. Michael Landmann (1980): Edith Landmann, S. 118. Edith Landmann (1963): Gespräche mit Stefan George, Einleitung, S. 15.
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des wahren Erkennens.“134 Es geht ihr um ein Erkennen der Wirklichkeit an sich, ohne diese durch ideelle Erfahrungsmuster ihrer Gegenständlichkeit zu berauben, aber auch, ohne in oberflächlich-naturalistische Empirie zu verfallen. Was sie beschreibt, ist nichts anderes als die Mimesis des Urgeists. Während die einzelnen Erkenntnisakte (Partialintentionen) immer nur Teilgegenstände zu erkennen vermöchten, erkenne die sogenannte Totalintention den Gesamtgegenstand. Diese Totalintention bestehe aus dem Zusammenwirken der unterschiedlichen Erkenntnisfunktionen, namentlich der „sinnlichen“ und der „rationalen“ Erkenntnis.135 Damit setzt Landmann den konkurrierenden psychologischen und logischen Typen von Erkenntnistheorien ihr synthetisierendes Konzept entgegen. Obwohl Landmann eine eigene wissenschaftliche Terminologie dafür entwickelt, besetzt sie die aus dem Imitatio-Modell bekannten Positionen: Der Gesamtgegenstand entspricht dem Urbild, die Gesamtpersönlichkeit dem Urgeist und die Totalintention schließlich dem symbolischen Sehen des Dichters. Am Ende ihrer Abhandlung tritt die Nähe zu Nachahmungskonzepten des Kreises klar hervor, denn sie spricht unversehens nicht mehr allgemein von der Gesamtpersönlichkeit, sondern ganz konkret vom Dichter: Nur wenn wir die Dichter als Weise verehren, nicht umgekehrt in sträflicher Naivetät die Urwahrheiten der Dichter auf die abgeleiteten Wahrheiten philosophischer Systeme reduzieren, werden wir auch das Bild des Philosophen, das uns heut verloren ist, wieder gewinnen.136
Landmann hält das intuitive Erkennen des Dichters den einzelnen Wissenschaften gegenüber für überlegen.137 Diese Aussage muss zunächst überraschen, da doch der für Landmanns Erkenntnisbegriff konstitutive Objektivismus gerade auf freie Erzeugnisse des schöpferischen Geistes kaum anwendbar scheint. Dichten ist für Landmann indes kein freies Spiel der Phantasie, sondern (wie im Imitatio-Modell) ein von seinem Bezug auf den Gesamtgegenstand geprägter Erkenntnisvorgang. Der Dichter 134 135 136 137
Vgl. Michael Landmann (1980): Edith Landmann, S. 118. Edith Landmann (1923): Transcendenz des Erkennens, S. 131. Edith Landmann (1923): Transcendenz des Erkennens, S. 290. Edith Landmann (1923): Transcendenz des Erkennens, S. 261.
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erkenne den Gesamtgegenstand und gestalte ihn im Symbol.138 Auch dort, wo Kunst in keinem vordergründigen Abbildverhältnis zur Wirklichkeit stehe, bleibe sie auf die Realität bezogen; sie baue kein „selbständiges Reich von Gebilden eigener Art neben dem Daseienden“ auf, sondern „transcendier[e]“, sei es „schaffend oder abbildend, auf das Daseiende“.139 Durch die hierarchische Staffelung der Erkenntnis – nur die Gesamtpersönlichkeit ist zum Sehen des Seins fähig – ist Landmanns Epistemologie elitär; im Unterschied zu Heidegger macht diese Seinserfahrung nicht jeder, der lebt, sondern nur der Weise.140 Zwar differenziert auch Heidegger zwischen einer Existenzweise, die nur im „Man“ lebt, und einer solchen, die Zugang zum Sein hat.141 Aber in seinem Konzept wird diese tiefere Seinserfahrung von jedem Menschen gemacht, der sich auf sich selbst besinnt.142 Bei Landmann konzentriert sie sich auf die Wenigen. Transcendenz des Erkennens trägt das Konzept des großen Menschen und der Mimesis des Urgeists in die zeitgenössische Epistemologie. Die Abhandlung ist ein Beispiel für eine produktive Anwendung und Weiterentwicklung des Imitatio-Modells im phänomenologisch und neukantianisch geprägten philosophischen Diskurs ihrer Zeit.
138 139 140
141
142
Edith Landmann (1923): Transcendenz des Erkennens, S. 246. Edith Landmann (1923): Transcendenz des Erkennens, S. 148. „Aber daß alle Menschheit unterschiedslos, der Weise wie der Tor, von der Erscheinung genarrt sei, […] diese Lehre überlassen wir denen, welche, um über diese Welt hinaus transcendente Welten zu erträumen, vor der Transcendenz des Erkennens selbst die Augen schließen.“ – Edith Landmann (1923): Transcendenz des Erkennens, S. 71. Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit, Unveränderter Nachdruck der fünfzehnten, an Hand der Gesamtausgabe durchgesehene Auflage mit den Randbemerkungen aus dem Handexemplar des Autors im Anhang, Tübingen: Niemeyer 2001 [erste Auflage: 1927], § 27 „Das alltägliche Selbstsein und das Man“, S. 126–130. Heidegger (182001): Sein und Zeit, § 29 „Das Da-sein als Befindlichkeit“, S. 134–140. Heidegger verwendet dafür die Begriffe der „Ungestimmheit“ und der „Stimmung“.
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1.9 Platon-Rezeption Landmanns Erkenntnistheorie widerspricht, wie sie selbst betont, nicht der platonischen Metaphysik,143 obwohl sie die Ideenlehre – und dies gilt für die von George herkommende Platonliteratur insgesamt144 – diesseitig deutet.145 Die Begegnung mit George verstärkt ihre Affinität zur platonischen Philosophie, die bereits vorher und unabhängig von George besteht. Vorbereitet wird diese Affinität ausgerechnet durch den Dichter und Schriftsteller Rudolf Borchardt, der 1905 seine 1900/01 entstandene Übertragung des platonischen Dialogs Lysis veröffentlicht.146 Mit Borchardt ist das Ehepaar Landmann so gut befreundet, dass die seit 1908 bestehende Beziehung zu George sich erst intensivieren kann, nachdem 1911 der Kontakt zu Borchardt abbricht (zum schwierigen Verhältnis zwischen George und Bochardt vgl. Kap. 5.3).147 Borchardts Platonbild ist stark von den in den Jahren 1891/92 gehaltenen Platon-Vorlesungen148 des von ihm bewunderten englischen Kunstkritikers Walter Pater geprägt,149 auf den sich Borchardt in seinem dem Lysis als Einleitung vorstehenden Gespräch über Formen ausdrücklich beruft.150 Pater deutet Platons Ideenlehre immanent: Die Idee stehe nicht hierarchisch über der sichtbaren Welt, sondern gehe aus der sinnlichen Erfahrungswelt hervor; das solchermaßen ästhetisch vermittelte Ideelle stifte in der realen Welt neue Ordnun143 144 145
146 147 148 149
150
Vgl. Edith Landmann (1923): Transcendenz des Erkennens, S. 153. Vgl. Stefan Rebenich: „Dass ein strahl von Hellas auf uns fiel“. Platon im George-Kreis. In: George-Jahrbuch 7 (2008/09), S. 115–141, hier S. 124. Vgl. Edith Landmann (1923): Transcendenz des Erkennens, S. 148. – Entsprechende Entwürfe einer immanenten Transzendenz sind ein zeittypisches Phänomen. Vgl. z.B. Peter O. Ullrich: Immanente Transzendenz. Georg Simmels Entwurf einer nach-christlichen Religionsphilosophie, Frankfurt a.M.: Lang 1981. Rudolf Borchardt: Das Gespräch über Formen und Platons Lysis deutsch, Leipzig: Zeitler 1905. Der letzte bekannte Brief von Julius Landmann an Rudolf Borchardt datiert auf den 31. Juli 1911 (DLA). Walter Pater: Plato and Platonism. A Series of Lectures, London: Macmillan 1893. Vgl. Hildegard Hummel: Reflexe der ästhetischen Konzeption Walter Paters im Werk Rudolf Borchardts. Borchardts Lysis-Übertragung. In: GermanistischRomanische Monatsschrift 37 (1987), S. 166–186. Vgl. Rudolf Borchardt: Das Gespräch über Formen (1905). In: Prosa I, hg. v. Gerhard Schuster, Stuttgart: Klett-Cotta 2002, S. 7–52, hier S. 41f.
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gen.151 Paters an Platon entwickelte Überzeugung von der „staatsschaffenden Kraft des Ästhetischen“152 nimmt Einfluss auf Borchardts dichterisches Selbstverständnis. Etwa zeitgleich mit der Herausbildung des Imitatio-Modells im Kreis reflektiert also auch Borchardt den ästhetischen und ethischen Führungsanspruch des Dichters – und erkennt dabei früher als der George-Kreis in Platon eine Bezugsfigur. Thomas Karlauf hat jüngst dargestellt, wie sich George ab 1910 mit Platon zu beschäftigen und seinen Kreis mit dem platonischen Staat zu identifizieren beginnt.153 Die erste Platonsicht des Kreises entwirft Kurt Hildebrandt in seinem Vorwort zum Gastmahl (1912), in welchem er Platon zum Dichter stilisiert.154 Zwar reicht die Konzeption von Platon als Dichter bis in die Frühromantik zurück.155 Im Kreis wird dieser Gedanke aber konkret auf eine Geistesverwandtschaft zwischen Platon und George zugeschnitten.156 In Gedichten wie Der Weisheitslehrer und Belehrung spricht George selbst in der Rolle des Dichter-
151 152 153
154 155
156
Vgl. Hummel (1987): Reflexe der ästhetischen Konzeption, S. 171. Hummel (1987): Reflexe der ästhetischen Konzeption, S. 171. Karlauf (2007): Stefan George, S. 401–405. – Zur Platon-Rezeption vgl. u.a. Kurt Weigand: Von Nietzsche zu Platon. Wandlungen in der politischen Ethik des George-Kreises. In: Stefan George Kolloquium, hg. v. Eckhard Heftrich, Paul Gerhard Klussmann und Hans Joachim Schrimpf, Köln: Wienand 1971, S. 67–99; Gert Mattenklott: „Die Griechen sind zu gut zum schnuppern, schmecken und beschwatzen“. Die Antike bei George und in seinem Kreis. In: Bernd Seidensticker und Martin Vöhler (Hg.): Urgeschichten der Moderne. Die Antike im 20. Jahrhundert, Stuttgart und Weimar: Metzler 2001, S. 234–248; Wolfgang Braungart: Hymne, Ode, Elegie. Oder: Von der Schwierigkeit mit antiken Formen der Lyrik (Mörike, George, George-Kreis). In: Achim Aurnhammer und Thomas Pittrof (Hg.): „Mehr Dionysos als Apoll“. Antiklassizistische Antike-Rezeption um 1900, Frankfurt a.M.: Klostermann 2002, S. 245–272; Ulrich Raulff: Der Dichter als Führer: Stefan George. In: ders. (Hg.): Vom Künstlerstaat. Ästhetische und politische Utopien, München und Wien: Hanser 2006, S. 127–143; Rebenich (2008): „Dass ein strahl von Hellas auf uns fiel“. Vgl. Weigand (1971): Von Nietzsche zu Platon, S. 76. Vgl. Stefan Matuschek: Die Macht des Gastmahls. Schlegels „Gespräch über die Poesie“ und Platons „Symposion“. In: ders. (Hg.): Wo das philosophische Gespräch ganz in Dichtung übergeht. Platons Symposion und seine Wirkung in der Renaissance, Romantik und Moderne, Heidelberg: Winter 2002, S. 81–96. Boehringer (1981): Das Bildnis Platons. In: ders.: Kleine Schriften (Drucke der Stefan-George-Stiftung 30), Stuttgart: Klett-Cotta 1981, S. 47 [erste Auflage: Das Antlitz des Genius Platon, Breslau: Hirt 1935].
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Philosophen.157 Boehringers Ewiger Augenblick kompiliert Gesprächsaufzeichnungen von „ “, von mündlich mitgeteilten Lehren Georges, und unterstreicht die Meisterrolle auch formal, indem er sich stilistisch am Vorbild der sokratischen Dialoge orientiert.158 Ab 1914 erscheint eine Vielzahl von Arbeiten, die vom Erlebnis George her Platon interpretieren. Insgesamt liegen über Platon mehr Schriften vor als über Hölderlin, Nietzsche und Goethe.159 Die Begründungen hierfür sind zahlreich – von der Annahme, George habe hier seinen Staat vorgeprägt gefunden, bis hin zu Cyril Scotts lakonischem Verweis auf die Knabenliebe.160 Die intensive Platon-Rezeption im Kreis setzt freilich erst in einer Phase ein, in der das Imitatio-Modell bereits rund zehn Jahre existiert: vorgeprägt im Teppich (entstanden seit 1897, erschienen 1899 mit der Jahreszahl 1900), umgesetzt seit 1899 von Gundolf, dem ersten Jünger, und theoretisch ausformuliert ab 1900/01 in den Blättern. Es erscheint daher problematisch, das Modell selbst bzw. die soziopoetische Struktur von Georges Lyrik direkt von Platon herzuleiten, wie Christian Oestersandfort es am Beispiel des Teppich-Vorspiels unternimmt.161 Dass es zahlreiche Anknüpfungspunkte zum Imitatio-Modell gibt, sei unbestritten. Grundlegend sind jedoch die Impulse, die der frühe George aus Frankreich empfangen hat. Auf diesen Aspekt wird das folgende Kapitel zu sprechen kommen.
157 158 159 160 161
Stefan George: Der Weisheitslehrer. In: SW, IX, S. 87; Stefan George: Belehrung. In: SW, IX, S. 87. Vgl. Boehringer (1945): Ewiger Augenblick. – Vgl. Weigand (1971): Von Nietzsche zu Platon, S. 72. Vgl. die Übersicht bei Ernst Eugen Starke: Das Plato-Bild des George-Kreises, Univ. Diss. Köln 1959, S. 9. Vgl. Cyril Scott: Die Tragödie Stefan Georges, Eltville a.Rh.: Hempe 1952, S. 34. „Die Platon-Rezeption des George-Kreises verläuft also poetisch und philosophisch parallel. Denn Friedemann entwickelt später seine Platon-Deutung zu einem guten Teil bereits aus der Interpretation der Dichtung Georges heraus, da die Dichtung seinen Thesen in vielem schon früh vorangeht.“ – Oestersandfort (2008): Platonisches im ‚Teppich des Lebens‘, S. 114. Oestersandforts Argumentation ist an dieser Stelle in sich widersprüchlich, denn Friedemann ist gerade ein Beispiel dafür, dass die poetischen Strukturen bei George bereits vor der philosophischen Auseinandersetzung mit Platon ausgeprägt sind.
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1.10 Rezeption symbolistischer Lyriktheorie Der österreichische Schriftsteller und Philosoph Emil Lucka (1877–1941) vertritt zur gleichen Zeit wie George andere Vorstellungen von Nachahmung.162 Der Imitatio-Theorie des Kreises stellt er in seiner populärwissenschaftlichen Abhandlung Die Phantasie (1908)163 eine Rezeptionstheorie zur Seite und grenzt sich von der Nachahmung des Kreises durch den Epigonalitätsvorwurf ab. Seine Argumentation, die sich primär um kreative und nur am Rande um reproduktive Schaffensvorgänge dreht, belegt eine konträre Anknüpfungsweise an die Poetik des französischen Symbolismus.164 Lucka sucht in seiner Phantasie-Studie Anschluss an Diltheys Hermeneutik und arbeitet unter anderem mit Selbstaussagen von Künstlern und Wissenschaftlern zur Kreativität. Wie er darlegt, verfolgt er mit seiner Studie zwei Ziele: Erstens hält er die Phantasie für einen von der Psychologie vernachlässigten Gegenstand, zweitens will er den Grundstein für die Erneuerung der Wissenschaft der Charakterologie legen. Lucka steht in seiner Zeit nicht allein, wie die Arbeiten von Julius Bahnsen, Ludwig Klages und Emil Utitz zeigen.165 Er sucht indes nicht wie die traditionelle Charakterologie nach seelischen Ursachen für körperliche Symptome, sondern nach seelischen (psychischen) Ursachen für kreative Leistungen mit dem Ziel, eine Modelltypologie des Menschen zu entwerfen. Er unterscheidet vier Bereiche der Schaffenskraft: die wissenschaftliche Phantasie, die künstlerische Phantasie, Mischformen (mystische und metaphysische Phantasie) und die nachschaffende Phantasie. Mit dem Begriff der nachschaffenden Phantasie beschreibt Lucka die Fähigkeit zu produktiver Rezeption, wobei er eine 162
163 164 165
Zu Lucka vgl. Bezirksmuseum Josefstadt (Hg.): Emil Lucka. Gedächtnisausstellung zum 100. Geburtstag des Dichters und Philosophen, 17. Mai – 8. Juni 1977, Katalog (Die Josefstadt 3), Wien: Bezirksmuseum Josefstadt 1977, S. 43–56. Emil Lucka: Die Phantasie. Eine psychologische Untersuchung, Wien und Leipzig: Braumüller 1908. Lucka bezieht sich namentlich auf Poe, Baudelaire, Verlaine. Vgl. Sandra Richter: Charakterologie im Ausgang von der Rezeption des Theophrast von Eresos bis zu Christoph Martin Wielands ‚Abderiten‘ (1781). In: Nicolas Pethes (Hg.): Medizinische Schreibweisen. Ausdifferenzierung und Transfer zwischen Medizin und Literatur (1600–1900), Berlin und New York: de Gruyter, Niemeyer 2008, S. 145–169, hier S. 145.
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positive und eine negative Ausprägung nachschaffender Phantasie kennt. Die erste Phantasietätigkeit sei notwendig für die Rezeption insbesondere solcher Arten von Kunst, die die aktive Beteiligung des Rezipienten mit einkalkulieren.166 Mit der zweiten bezeichnet Lucka dieselbe Art von Phantasietätigkeit, wenn sie sich ins Produktive wende; die auf diese Weise entstehende Kunst sei epigonal. In diesem Zusammenhang fällt sein Blick auf George: Nachschaffende Phantasie ist auch im Spiele, wenn in einer Künstlerschule alle Jünger des Meisters Weise variieren. Es ist besonders heute sehr häufig, daß sich der für verständnisvolle Aufnahme und Nachempfindung Begabte zu eigener Produktion berufen fühlt und, oft noch durch äußere Anlässe bestärkt, selbst Kunstwerke, besser gesagt, deren Karikaturen, hervorbringt. […] Ein instruktives, ans Groteske streifende Beispiel bilden die Schulnachrichten Stefan Georges, die „Blätter für die Kunst“ (Berlin bei Georg Bondi).167
Lucka erklärt die Kreislyrik gleichsam psychologisch, indem er beim Typus des Jüngers, einem Sonderfall des besonders aufnahmebereiten Rezipienten, eine überdurchschnittlich rege nachschaffende Phantasietätigkeit diagnostiziert. Bereits zehn Jahre zuvor konstatiert Lou Andreas-Salomé in Grundformen der Kunst (1898), gleichfalls ausgehend vom Beispiel Georges, eine fließende Grenze zwischen nicht-produktiver und produktiver Rezeption: „Je weicher und feiner der Beschauer veranlagt ist, desto analoger wird sein Genuß dem des Künstlers gefärbt sein, bis ihn nur noch ein Geringes, vielleicht nur ein wenig technisches Können, vom Epigonen unterscheidet“.168 Diese Überlegungen verweisen auf ein interessantes Problemfeld: Basiert das Imitatio-Modell auf Prämissen moderner Lyriktheorien? Im Folgenden sei dieser Gedanke vor allem im Blick auf die für George prägende symbolistische Lyrik ausgeführt. 166
167 168
Er verwendet zur Veranschaulichung des nachschaffenden Prinzips die Malerei des belgischen Pointillismus, die im Gegensatz zur Fotografie die Phantasietätigkeit des Betrachters anrege und „ihm, der zu eigenem Schaffen nicht befähigt ist, die Kraft schenkt, nachzuschaffen, an der Vollendung des Bildes mitzuarbeiten.“ – Lucka (1908): Phantasie, S. 133. Lucka (1908): Phantasie, S. 134f. und S. 134 Anm. 1. Lou Andreas-Salomé: Grundformen der Kunst. Eine psychologische Studie. In: Pan 4 (1898), H. 3/4 (November 1898 bis April 1899), S. 177–182, hier S. 178.
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Ein erster Bereich, in dem diese Beziehung untersucht werden kann, ist die Produktion von Lyrik. Aus der Mimesis des Urgeists im Imitatio-Modell ergibt sich ein spezifisches Verständnis von Symbolismus und umgekehrt: Aus der Auseinandersetzung mit dem französischen Symbolismus ergibt sich diese spezifische Mimesiskonzeption. In einem frühen unveröffentlichten Aufsatz Stefan George (1899)169 setzt sich Gundolf mit dem als Tadel gemeinten Schlagwort auseinander, George sei Symbolist. Er unterscheidet zwischen einem adäquaten und einem inadäquaten, trivial-handwerklichen Symbolismus und nimmt George gegen das inadäquate Verständnis in Schutz. Der symbolistische Künstler sei ein Typus, der aufgrund einer inneren Anlage in jedem Einzelding das Allgemeine erkenne und dort, wo er produktiv werde, die Natura naturans imitiere, hinter deren schöpferischen Hervorbringungen ein allgemeines naturgesetzliches Prinzip walte.170 Schon hier sind zentrale Aussagen enthalten, die gut zwanzig Jahre später in seinen George Einzug halten.171 In der Tat lassen sich Platonismus und Symbolismus gut aufeinander beziehen: „Wenn es den Platonismus nicht gegeben hätte, müßte Mallarmé ihn erfunden haben.“172 Die Reduktion der Einzelinhalte im Symbol, der Glaube, dass das Wesen eines Dings nicht in seiner Erscheinung aufgehe, und 169
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Der Aufsatz ist im Nachlass von Edgar Salin erhalten (aus dem Besitz von Karl Wolfskehl). Das mutmaßliche Entstehungsdatum ist Oktober 1899, denn in seinen Briefen an Wolfskehl erwähnt Gundolf mehrfach einen George-Aufsatz, zuerst am 4. Oktober 1899. – Vgl. STGA, Wolfskehl III, 5033–5035. „Andere [Künstler] sehen vermöge einer angebornen Anlage jedes Einzelne durch ein allgemeines gehoben […], jede Oberfläche für eine Tiefe bedeutend, endlich jedes Gewirkte für ein Wirkendes sinnbildlich; sie erfahren durch eine innere Anschauung die Gesetze wonach die Natur das Leben verfährt. […] Wenden jene Künstler ihre Art zu sehen ins Produktive, so schaffen sie, der Natur ähnlich, Sinnbilder, nicht willkürlich, sondern durch ihr geistiges Gefüge gezwungen.“ – Friedrich Gundolf: Stefan George. Unveröffentlichtes Manuskript – STGA, Edgar Salin I, Manuskripte von Friedrich Gundolf, 1112, 4 S. (Ms.), hier S. 1. „[A]uf der Geist=stufe ist die Ewigkeit […] im sinnlichen Augenblick selbst wahrnehmbar, wie für Goethe die Urpflanze in dem Einzelgewächs, oder die Gesetze der Geometrie und der Mechanik in jedem Gebäude. Nur darf man dabei der unmittelbaren Wahrnehmung nicht einen abstrahierenden, umdeutenden Denk=akt unterschieben. Das Geistige läßt sich genau so wie das Sinnliche […] magisch bannen, das Gedankliche läßt sich nur sinnbildlich verkörpern oder allegorisch bezeichnen.“ – Gundolf (31930): George, S. 171. Weigand (1971): Von Nietzsche zu Platon, S. 86.
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die Sehnsucht nach metaphysischer Einheit in der Kunst machen symbolistische Poetik an platonistisches Denken anschlussfähig. Der frühe George hat nicht Platon, sondern die Symbolisten rezipiert. Daraus folgt in Abgrenzung zu anders gelagerten Versuchen, dass die Vorstellung von einer Mimesis des Urgeists nicht erst durch die Platon-Rezeption des Kreises angeregt wird, sondern in Georges früher Poetik ihren Anfang hat. Dasselbe gilt, zieht man Luckas und Andreas-Salomés Beobachtungen über den Zusammenhang von Imitatio und Rezeption heran, für die Nachahmung der abgeleiteten Wesen. Nach Mallarmé ist es ein Grundgedanke symbolistischer Poetik, dass sie eine kreative Ergänzungsleistung des Lesers befördern will: „Einen Gegenstand benennen heißt Dreiviertel des Genusses am Gedicht unterschlagen, der darin besteht, zu erraten, nach und nach; ihn suggerieren, das ist der Traum.“173 Auch George verlangt vom Rezipienten die Dekodierung poetischer Zeichen. Aber er führt diese Strategie weiter. Das vom Rezipienten belebte ästhetische Artefakt soll wiederum bei jenem einen Wandlungsprozess initiieren. Lyrik greift über ins Soziale: „Die Realisierung von Poesie soll nicht nur das poetische ‚gebilde‘ selbst zum Leben erwecken. Sie soll auch den erwecken, der sich von ihr erfassen läßt.“174 Während die hermetische Lyrik der französischen Moderne ganz auf individuelle ästhetische Erfahrung und den einsamen Dialog zwischen Ich und ästhetischem Erfahrungsgegenstand setzt, verbindet das Imitatio-Modell des Kreises diese ästhetische Erfahrung mit einer aus religiösen Kontexten bekannten Gruppendynamik, einer Gemeinschaft der Erweckten. Rezeption führt zur Imitatio, und zwar zu einer solchen, die sich sowohl stilistisch (im Rahmen der Exercitatio) als auch in sozialen Beziehungen (im Rahmen der Contagio) manifestiert. Ein so gestalteter Umgang mit Lyrik nähert sich religiösen Praktiken an. Während religiöse Erfahrung aber im christlichen Kontext zur Imitatio Christi leitet, zielt die ‚ideale‘ Rezeption von Lyrik im Imitatio-Modell auf die Herausbildung einer Haltung, eines bestimmten Menschentyps. Man sollte 173
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Mallarmé: Sur l’évolution littéraire, zit. n. Johannes Hauck: Nachwort. In: Stéphane Mallarmé: Sämtliche Dichtungen, zweisprachige Ausgabe, München: DTV 1995, S. 312–330, hier S. 315. Vgl. Braungart (1997): Ästhetischer Katholizismus, S. 173.
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daher nicht von einem Miss- oder Halbverstehen Mallarmés durch George ausgehen, sondern von einer bewussten Entscheidung gegen die extreme Individualisierung und Hermetisierung im Kappen sämtlicher außerliterarischer Referenzsysteme beim wohl radikalsten Vertreter des französischen Symbolismus. George ist nicht weniger radikal, denn er lässt Modi ästhetischer Rezeption auf soziale Zusammenhänge übergreifen. Die PlatonRezeption des Kreises mag diese Entwicklung begleitet haben, Auslöser ist sie aber nicht; sucht man nach Gründen, so ist Georges poetologische Lyrik zu befragen und ihre frühe Berührung mit dem französischen Symbolismus.
1.11 Mimesis und Imitatio als Themen von Georges Lyrik Georges poetologische Entwicklung, die Soziogenese des Kreises und die Ideengenese von Imitatio im Kreis sind nicht voneinander zu trennen. In diesem Kapitel sollen mit Blick auf den Imitatio-Zusammenhang primär die beiden Bereiche Contagio und Exercitatio betrachtet werden. Als entscheidender Referenzpunkt für das Imitatio-Modell erweist sich der Teppich des Lebens: sowohl für die Mimesis des Urgeists als auch für die Imitatio der abgeleiteten Wesen. Am Anfang von Georges poetischer Entwicklung steht der Primat der Exercitatio – und zwar vorerst ausschließlich auf die eigene Entwicklung bezogen und nicht auf einen Jüngerkreis. Die Lyrik des französischen Symbolismus erhebt, ihrerseits auf Edgar Allan Poe aufbauend (The Philosophy of Composition, 1846), den Prozess kalkulierter Komposition, das horazische „Feile[n]“ am Gedicht,175 zum Schaffensprinzip. Für George gilt dieses Prinzip nicht ausschließlich. Obwohl er sich von der klassisch-romantischen Genieästhetik distanziert, pflegt er mit ihr verbundene Vorstellungen, um sich vom bloßen Versificator, dem dilettierenden „gelehrten beamten bürger der gedichte macht“, und vom Berufsschriftsteller („literaten“) abzugren175
Quintus Horatius Flaccus: De arte poetica liber. Die Dichtkunst. Lateinisch und deutsch, Einführung, Übersetzung und Erläuterung von Horst Rüdiger, Zürich: Artemis 1961, V. 291–294, S. 32f.
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zen.176 Im Briefwechsel mit Hofmannsthal stellt er in apologetischer Absicht klar, dass in seinem Kreis streng unterschieden werde zwischen dem „geborenen“ und dem „gemachten“ Gedicht.177 Das zweite ist gegenüber dem ersten defizitär, hat aber im Rahmen des Imitatio-Modells seine Existenzberechtigung. Im frühen Terzinengedicht Im Park178 stellt George dichterisches Schaffen als eine Mischung intuitiver und rationaler Anteile dar: Das Handwerkliche vollzieht sich vor einem Hintergrund des Unverfügbaren.179 Exercitatio bildet durch ihre Dynamik der Sammlung und Konzentration die Voraussetzung für die Creatio, die Geburt des Gedichts. Wie der Urgeist aus sich selbst heraus schöpfen könne: Diese Frage begleitet Georges Lyrik von Anfang an. Sie stellt sich schon dem Priesterkönig Algabal in Mein garten bedarf nicht luft und nicht wärme.180 Obwohl Algabal sich fragt, wie er die schwarze Blume denn zeugen solle, ist, wie Stefan Schultz bemerkt hat, die letzte Verszeile bereits ein Vokativ, also eine Anrede an etwas, das zumindest im Geist schon existiert.181 176
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In der fünften Folge der Blätter heißt es dazu, die „Gestalt des Dichters“ scheine verloren. Es gebe „nur den gelehrten beamten bürger der gedichte macht und das schlimmste: den deutschen litteraten der gedichte macht.“ – Blätter V, S. 2. George-Hofmannsthal Briefwechsel, S. 160. Stefan George: Im Park. In: SW, II, S. 11 (I, 1–3). Vgl. Ute Oelmann: Das Gedicht als „Gebilde“. Zur Poetik des jungen Stefan Georges. In: Hansgerd Delbrück (Hg.): Sinnlichkeit in Bild und Klang. Festschrift für Paul Hoffmann, Stuttgart: Heinz 1987, S. 317–326; Wolfgang Braungart: Ästhetische Religiosität oder religiöse Ästhetik? Einführende Überlegungen zu Hofmannsthal, Rilke und George und zu Rudolf Ottos Ästhetik des Heiligen. In: Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden, 3 Bde., Bd. 2, Um 1900, hg. v. Wolfgang Braungart u.a., Paderborn u.a.: Schöningh 1998, S. 15–29, hier S. 23 und Dietmar Voss: Dialektik der Grenze. Aufsätze zu Literatur und Ästhetik einer unverantwortlichen Moderne, Würzburg: Königshausen & Neumann 2001. „Im Unterreich“ ist der Titel des ersten von insgesamt drei Unterzyklen und beschreibt in vier Gedichten die von Algabal geschaffene künstliche Welt. – Zur Gartensymbolik vgl. Friedmar Apel: Die Kunst als Garten. Zur Sprachlichkeit der Welt in der deutschen Romantik und im Ästhetizismus des 19. Jahrhunderts (Beihefte zum Euphorion 20), Heidelberg: Winter 1983 und Helga Volkmann: Unterwegs nach Eden. Von Gärtnern und Gärten in der Literatur, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000. Stefan Schultz: Französisches und Deutsches bei Stefan George. In: Deutsche Beiträge zur geistigen Überlieferung 6 (1970), S. 120–139, hier S. 122f.
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Wie zeug ich dich aber im heiligtume – So fragt ich wenn ich es sinnend durchmass In kühnen gespinsten der sorge vergass – Dunkle grosse schwarze blume?182
Zwar impliziert die Frage, dass das Gelingen des Zeugungsaktes offen sei, aber die Form gibt Schultz recht: Das bei George eher seltene Versmaß mit seinen unregelmäßig gefüllten Senkungen beruhigt sich in der entscheidenden letzten Verszeile, und die Häufung dunkler Vokale verleiht dem Schluss ein solches Gewicht, dass die angerufene schwarze Blume eine fast körperliche Präsenz erhält.183 Gundolf und Morwitz machen auf das Ambivalente dieses Schöpfungsakts aufmerksam. Für Gundolf ist die schwarze Blume die Grenze von Algabals Magiermacht, Morwitz glaubt, dass Algabal sich inmitten der Künstlichkeit nach dem Organischen sehne.184 Denn bei dieser Zeugung handelt es sich um keinen natürlichen geschlechtlichen Vorgang, sondern um eine autarke, quasi-göttliche Zeugung aus sich selbst. Das „Verbot des Austausches“185 – ein wiederkehrendes Motiv des Zyklus’ – kommt Algabals Autarkiebedürfnis entgegen, verhindert aber auch die vom späteren George als schöpferisches Moment erkannte Contagio. Wie die Frage „Wie zeug ich dich“ impliziert, sucht das „sinnend“ konzentrierte Schöpfer-Ich nach der Möglichkeit einer Vereinigung, welche die Reinheit (des Ich, der entstehenden Lyrik) nicht gefährde.186 Die Suche nach den optimalen Entstehungsbedingungen für Dichtung wird prägend für Georges weitere lyrische Entwicklung.
182 183
184 185
186
Stefan George: Mein garten bedarf nicht luft und nicht wärme. In: SW, II, S. 63. Auch Dieter Kafitz deutet Algabals abschließende Frage in diesem Sinne: „Das Gedicht kann man als gelungene Umsetzung der Kunstkonzeption Georges interpretieren, quasi als sprachliche Realisierung der „dunkle[n] grosse[n] schwarze[n] blume.“ – Dieter Kafitz: Décadence in Deutschland. Studien zu einem versunkenen Diskurs der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts, Heidelberg: Winter 2004, S. 467. Vgl. Schultz (1970): Französisches und Deutsches, hier S. 122f. Margherita Versari: „Blaue Blume“ – „Schwarze Blume“. Zwei poetische Symbole im Vergleich. In: Romantik und Ästhetizismus. Festschrift für Paul Gerhard Klussmann, hg. v. Bettina Gruber und Gerhard Plumpe, Würzburg: Königshausen & Neumann 1999, S. 89–99, hier S. 98. Vgl. beispielsweise Stefan George: Am markte sah ich erst die würdevolle. In: SW, II, S. 81.
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In den Büchern der Hirten- und Preisgedichte (1895) findet sich erstmals die Vorstellung, dass Lyrik in sozialen Beziehungen verwurzelt ist. Die entfalteten Mönchs-, Herrscher-, Dienerund Minnebilder formulieren monastische und höfische Gesellschaftsideale. An den Freundschaftskult des 18. Jahrhunderts knüpfen zwölf Widmungsgedichte im Jahr der Seele (1897) an unter der Überschrift: „Eure flüchtig geschnittenen Schatten zum Schmuck für meiner Angedenken Saal.“ „[M]einer Angedenken“ kann sowohl als Genitivus subjectivus wie auch als Genitivus objectivus gelesen werden; letzteres in dem Sinne, dass die Schattenrisse dazu dienen sollen, der Freunde zu gedenken. Die angesprochenen Personen erscheinen entgegen der Gattungstradition von Widmungsgedichten nur mit ihren Namensinitialen, was neben der Diskretion eine Tendenz zur Konzentration andeutet, wie sie auch der Silhouettenvergleich impliziert. Wolfgang Braungart hat diesen Zyklus ein „poetisches Mausoleum“ genannt.187 Mit gleichem Recht darf man einen Freundschaftstempel assoziieren, denn schließlich geht die soziale Praxis des Silhouettenschneidens auf Lavaters Physiognomik zurück und verbindet sich mit seinem Freundschaftsideal. Lavater hält die physische Ähnlichkeit und Attraktivität für eine Grundbedingung von Freundschaft.188 Der Schattenriss legt das Wesen des Gezeichneten frei und formuliert zugleich ein utopisches So-sein-Sollen des Gezeichneten.189 Diese Reduktion des Individuellen kommt den Abstraktionsprozessen in der modernen Lyrik entgegen, außerdem kündigt sich hier bereits das Konzept von der Mimesis des Urgeists an.190 Was Georges poe187 188
189
190
Braungart (2005): „Was ich noch sinne und was ich noch füge“, S. 11. „Auf keinem unumstößlicheren Grund“, schreibt Lavater, „kann die Freundschaft ruhen, als auf der Wölbung einer Stirne, dem Rücken einer Nase, dem Umriß eines Mundes, dem Blick eines Auges.“ Die Koinzidenz von Innen und Außen entspricht der Auffassung Georges. – Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe, hg. v. Christoph Siegrist, Stuttgart: Reclam 1984, S. 96. Vgl. Liliane Weissberg: Literatur als Repräsentationsform. Zur Lektüre von Lektüre. In: Vom Umgang mit Literatur und Literaturgeschichte. Positionen und Perspektiven nach der „Theoriedebatte“, hg. v. Lutz Danneberg und Friedrich Vollhardt in Zusammenarbeit mit Hartmut Böhme und Jörg Schönert, Stuttgart und Weimar: Metzler 1992, S. 293–313, hier S. 300. Vgl. Claudia Schmölders: Das Profil im Schatten. Zu einem physiognomischen „Ganzen“ im 18. Jahrhundert. In: Hans-Jürgen Schings (Hg.): Der ganze
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tische Schattenrisse aber vor allem zeigen, ist ein vorhandenes Bedürfnis, soziale Zusammenhänge für die eigene Lyrik fruchtbar zu machen. Eros, Freundschaft, Contagio werden im Folgenden wichtige Inspirationsspender für ihn. Ein MeisterJünger-Verhältnis ist in diesem sozialen Gefüge noch nicht konturiert. Vom Teppich des Lebens an wird die Polarität von Meister und Jünger zum Gegenstand von Georges Rollenlyrik und damit poetologisch relevant. Schon in seinen frühen Gedichtbänden hat George die aufopfernde Hingabe dargestellt, aber in Verbindung mit dem Typus des Jüngers tritt sie erstmals im Vorspiel zum Teppich auf.191 Das im Teppich erscheinende Gedicht Der Jünger zeigt, dass die Bindung zum Meister in starkem Maße eine emotionale ist, welche selbst die sexuelle Beziehung von Mann und Frau übersteigt (I):192 Ihr sprecht von wonnen die ich nicht begehre In mir die liebe schlägt für meinen Herrn Ihr kennt allein die süsse · ich die hehre · Ich lebe meinem hehren Herrn.193
Während dieses Verhältnis im Blick auf das Imitatio-Modell die Beziehung zwischen dem Urgeist und dem abgeleiteten Wesen strukturiert, erhält mit dem Auftreten des Engels im ersten Vorspiel-Gedicht die Mimesis des Urgeists eine Referenzgröße. Das Vorspiel umfasst 24 Gedichte, denen der eigentliche Teppich folgt. Dass es von George als Einschnitt seiner künstlerischen Vita empfunden wird, deutet sich in der Überschrift „Seit der Ankunft des Engels“ an, unter der einige Vorspiel-Gedichte in den Blättern als Vorabdruck erscheinen.194 Der Engel ist nackt, un-
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193 194
Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, DFG-Symposion 1992 (Germanistische-Symposien-Berichtsbände 15), Stuttgart und Weimar: Metzler 1994, S. 242–259, hier S. 251–253. Vorläufer sind der Sklave aus Algabal, der Ritter in dem Gedicht Sporenwache, die Figur der Erinna aus den Hirten- und Preisgedichten und andere. In anderen Gedichten zeichnet George die Figur des Jüngers nicht uneingeschränkt positiv. An anderer Stelle heißt es, auf das Geschehen um die Gefangennahme Jesu anspielend, „‚Die jünger lieben doch sind schwach und feig.‘“ – Stefan George: So werd ich immer harren und verschmachten. In: SW, V, S. 31. Stefan George: Der Jünger. In: SW, V, S. 47. Das Eingangsgedicht erscheint unter eigenem Titel im ersten Heft der dritten Folge. – Vgl. Stefan George: Ankunft des Engels. In: Blätter III, 1, S. 8.
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bestimmten Geschlechts, aber doch ein sexuelles Wesen; er führt sich als Bote des „schönen Lebens“ ein und befähigt das Sprecher-Ich durch einen Kuss zur Erkenntnis und mimetischen Darstellung dieses Schönen. Das Konzept der „erotischen Inspiration“,195 das in Georges früheren Gedichtbänden schon angelegt ist, verbindet sich von nun an mit einer affirmativen Poetik, und ein neues Sendungsbewusstsein löst die Endzeitstimmung des vorangegangenen Jahr der Seele ab. In der Figur des Engels konkretisieren sich Georges Ideal einer bei der eigenen Leiblichkeit ansetzenden Ästhetisierung des Lebens und die damit verbundene Vorstellung einer im Sinnlichen wahrnehmbaren Göttlichkeit. Von nun an gibt es eine Botschaft, zu deren Verkünder der Dichter wird. Die exklusive Beziehung zwischen Dichter und Engel etabliert die vertikale Struktur des Imitatio-Modells. Das Auftreten von Jüngern erscheint vor diesem Hintergrund nur als folgerichtig. Im Vorspiel zum Teppich ist die Poetik der Imitatio angelegt, wie sie wenig später in die fünfte Folge der Blätter Einzug hält. Obwohl schon in den früheren Büchern Konzepte von Sehertum und Nachfolge entwickelt werden, ist erst mit dem Teppich der Punkt erreicht, an dem der Imitatio-Gedanke zu Ende gedacht wird. Das Jahr der Seele mag stilistisch imitierbar sein; zur ethischen Imitatio taugt das darin entworfene, in sich zerrissene Dichterbild nicht.196 Auch die Mimesis des Dichter-Sehers ist in Des sehers wort ist wenigen gemeinsam ausschließlich sprachbezogen; die neuen Regeln betreffen die Grammatik („erfand er für die dinge eigne namen“), nicht die richtige Lebenspraxis.197 Der Teppich ist in dieser Hinsicht ein Wendepunkt. Obwohl der Engel als Inspirationsfigur von außen an das Dichter-Ich herantritt, liefert der Text Anhaltspunkte dafür, dass es sich dabei um eine literarische Fiktion handelt. Das Aussehen des Engels („Und seine stimme fast der meinen glich“, „Und als ich sie zu heben mich gebückt / Da kniet auch ER“) weist ihn als 195 196
197
Oestersandfort (2008): Platonisches im ‚Teppich des Lebens‘, S. 107. Vgl. Kafitz (2004): Décadence, S. 458. – Zur Brüchigkeit von Herrschaft in Georges früher Lyrik vgl. Claudia Breger: Szenarien kopfloser Herrschaft – Performanzen gespenstischer Macht. Königsfiguren in der deutschsprachigen Literatur und Kultur des 20. Jahrhunderts (Rombach Wissenschaften 112), Freiburg i.Br.: Rombach 2004, S. 112. Stefan George: Des sehers wort ist wenigen gemeinsam. In: SW, IV, S. 51.
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ein poetisches Produkt der Selbstduplizierung aus. Girard zufolge ist es gerade diese Konstellation, die den Imitatio-Prozess initiiert. Der soziale Typus des Dandys, der sich durch Narzissmus und Indifferenz auszeichne, ziehe – und darin gleichen sich die Dandyrolle des frühen und die Meisterrolle des späten George – das Begehren anderer auf sich.198 Die enge Verbindung zwischen dem Dichter und dem Engel führt dazu, dass die Jünger in diesem Beziehungsdreieck den Kürzeren ziehen (am Ende des Vorspiels haben die Jünger das Dichter-Ich verlassen, das seinen Blick nur noch auf den Engel richtet).199 Gundolf betont 1911, dass die Voraussetzung dafür, imitiert zu werden, „ein in sich gültiges, selbstgenugsames gesetz“ sei, wodurch man zum Vorbild werde für diejenigen, die „trieb, masse, gewölk bleiben und den schwerpunkt ausser sich suchen“.200 Dieser beinahe berechnende Aspekt ostentativer Selbstgenügsamkeit ist durchaus im Vorspiel-Zyklus enthalten.201 Im folgenden Hauptteil des Teppichs finden sich Texte, die die Mimesis des Urgeists betreffen. Diese vierzehn ersten Gedichte stellen das vom Vates gesehene ursprüngliche Sein dar, wie es sich in Landschaften (Urlandschaft), Vorgängen (Gewitter) oder Typen (Der Freund der Fluren, Die Fremde, Der Täter, Der Jünger u.a.) manifestiert. Alles Geschehen ist Entfaltung eines schon Seienden, dem eine symbolische Qualität zuerkannt wird. Es handelt sich dabei nicht um Chiffren, denn die Gegenständlichkeit des Dargestellten wird gewahrt: symbolistische 198
199
200 201
Vgl. René Girard: Figuren des Begehrens. Das Selbst und das Andere in der fiktionalen Realität, übersetzt von Elisabeth Mainberger-Ruh, Münster, Hamburg und London: LIT 1999 [französisch: Mensonge romantique et vérité romanesque, Paris: Grasset 1961], S. 170. „Kein freund war nahe mehr · sie alle gingen / Nur ER der niemals wankte blieb und wachte.“ – Stefan George: Uns die durch viele jahre zum triumfe. In: SW, V, S. 33. Gundolf (1911): Wesen und Beziehung, S. 28. Marita Keilson-Lauritz macht darauf aufmerksam, dass sich im Lauf des Vorspiels eine Positionsverschiebung vollzieht und das Ich an die Stelle des Engels rückt. Aus dieser Position heraus formuliere der Dichter die Einsicht, dass die Liebe der Jünger wenig tauge und dass einzig die Treue seiner eigenen poetischen Schöpfung, des Engels, bleibe. Der Trost, den der Engel ihm zuspreche, sei eine Selbstermutigung. Ihre Analyse der Liebeskonstellationen führt zu demselben Ergebnis, dass Selbstgenügen und erotische Anziehungskraft einander bedingen. – Vgl. Keilson-Lauritz (1987): Von der Liebe, die Freundschaft heißt, S. 41f.
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Technik im Dienste des Konzepts von der Mimesis des Urgeists. An den Anfang der vierzehn Gedichte ist das titelgebende Der Teppich gestellt, welches die adäquate Rezeption dieser Lyrik thematisiert. Es deutet an, wie die ins Gedicht gebannten Symbole einigen Auserwählten („den seltnen“) verlebendigt vor Augen treten. Die Rezipienten sind nachschaffend an der Vollendung des Kunstwerks beteiligt, indem sie sich durch Exercitatio intensiv damit auseinandersetzen und für glückhafte Momente am mimetischen Sehen des Urgeists partizipieren.202 Wenn wiederholt in der George-Forschung auf Merkmale einer Ästhetik der Epigonalität aufmerksam gemacht wurde, dann gilt das am ehesten für das vorausgehende Jahr der Seele.203 Das Eingangsgedicht Komm in den totgesagten park und schau transportiert das Bewusstsein, einer sterbenden Kultur anzugehören, der jedoch Liebe entgegengebracht wird („Erlese küsse sie und flicht den kranz“).204 Zurecht hat Susanne Kaul auf die lebensbejahende Aufforderung zur Tat hingewiesen;205 dies gilt jedoch nicht für den gesamten Zyklus und am wenigsten für die Traurigen Tänze.206 In dem resignativen Wir werden nicht mehr starr und bleich wird die Fähigkeit zur Tat von der Gruppe der Sprecher zurückgewiesen. Die gleichen Endreime und die rhythmische Monotonie der vierzeiligen Strophen unterstützen die Textaussage. Wir werden nicht mehr starr und bleich Den früheren liebeshelden gleich · An trübsal waren wir zu reich · Wir zucken leis und dulden weich. […] Sie gingen um mit schwert und beil · Doch streiten ist nicht unser teil · Uns ist der friede nicht mehr feil Um ihrer güter weh und heil.207
202 203 204 205 206 207
„Da eines abends wird das werk lebendig. […] Die lösung bringend über die ihr sannet!“ – Stefan George: Der Teppich. In: SW, V, S. 36. Vgl. Meyer-Sickendiek (2001): Ästhetik der Epigonalität, S. 329. Stefan George: Komm in den totgesagten park und schau. In: SW, IV, S. 12. Vgl. Susanne Kaul: Kairos bei George. In: George-Jahrbuch 7 (2008/09), S. 1–19. Stefan George: Traurige Tänze. In: SW, IV, S. 85–118. Stefan George: Wir werden nicht mehr starr und bleich. In: SW, IV, S. 97.
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Ernst Morwitz bezieht in seinem Kommentar die Adjektive „starr und bleich“ auf das Objekt des Satzes: Die im Liebeskampf starren und bleichen mittelalterlichen Minnehelden hätten in Turnieren „mit schwert und beil“ um die Liebe gekämpft.208 Plausibler ist es, diese Eigenschaften auf das sprechende Subjekt zu beziehen. Die eigene Schwäche und die Nuanciertheit der modernen Stimmungen werden in einen Gegensatz zu den früheren starken Affekten gebracht. Dieses epigonale Gefühl, sich mit den Vorvätern nicht messen zu können und nicht mehr zur Tat fähig zu sein, lässt George in seinen späteren Gedichtbänden nicht mehr in dem Maße zu. Im Teppich des Lebens wird klargestellt: Epigonen, das sind die anderen. Im poetologischen Gedicht Lämmer hat George eine Herde von Lämmern und in diesem (von Nietzsche inspirierten) Bild jene Epigonen porträtiert. Lämmer Zu dunkler schwemme ziehn aus breiter lichtung Nach tagen von erinnerungschwerem dämmer In halbvergessner schönheit fahler dichtung Hin durch die wiesen wellen weisser lämmer. Lämmer der sonnenlust und mondesschmerzen Ihr keiner ferngeahnten schätze spürer! Lämmer ein wenig leer und eitle herzen Stolz auf die güldnen glocken eurer führer! Alternde uns! in eurem geiste junge! Lämmer von freuden die für uns erkühlen Lämmer mit schwerem schritt mit leichtem sprunge Mit einem heut kaum mehr begriffnen fühlen! Vorsichtige! vor keinen hängen scheue! Lämmer der wohlumfriedigten zisternen Lämmer zu alter doch bewährter treue Lämmer der schreckenlosen fernen!209
208
209
Ernst Morwitz: Kommentar zu dem Werk Stefan Georges, Düsseldorf und München: Helmut Küpper vormals Georg Bondi 21969 [erste Auflage: 1960], S. 146. Stefan George: Lämmer. In: SW, V, S. 41.
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Die Herde bewegt sich im Halbdunkel und folgt den ausgetretenen Bahnen ihrer Führer; die „dichtung“, um die es geht, ist „fah[l]“ und „halbvergesse[n]“. Die intellektuelle Kraft der Lämmer ist begrenzt: Sie sind rückgewandt und „ein wenig leer“, und was sie bewegt, hat sich in der Außenwahrnehmung überlebt („Lämmer von freuden die für uns erkühlen“). Die goldenen Glocken ihrer Führer werden gegen die „ferngeahnten schätze“ ausgespielt, denen das Interesse der sie von außen betrachtenden Sprechergruppe gilt. Es handelt sich dabei um die Gruppe jener, die sich nicht mehr für die Themen der epigonalen Dichter („sonnenlust und mondesschmerzen“) erwärmen können („freuden die für uns erkühlen“). Anders als die Epigonen haben sie den Anspruch, neue Wege einzuschlagen, und sei es auch um den Preis, Risiken einzugehen. Es wird deutlich, dass die Gruppe der Sprecher auf die Lämmer herabblickt. Durzak geht so weit, in Lämmer „Georges Einstellung zu seinem Kreis“ gestaltet zu sehen.210 Dies widerspricht aber dem Imitatio-Modell, das, wie gezeigt, gerade zur Entstehungszeit des Teppichs höchste Aktualität besitzt. George kritisiert in Lämmer die epigonale Lyrik in der Goethe-Nachfolge des 19. Jahrhunderts, nicht aber die Lyrik seines eigenen Kreises. Denn die ‚LämmerLyrik‘, wie George sie porträtiert, hat keine Relevanz für die Gegenwart mehr. Gerade in die stilistische Imitatio seiner selbst setzt er zu dieser Zeit aber große Hoffnungen. Auch wenn die Blätter an anderer Stelle die eigene Bewegung im Blick haben, wenn sie von den Hirten und von der Herde sprechen, gehören die Lämmer dieses Gedichts dieser Gemeinschaft nicht an. Sie folgen toten Urgeistern, deren göttliche Flamme erloschen ist. Die Gedichte des Siebenten Rings entstehen zu einer Zeit, in der das Imitatio-Modell bereits theoretisch ausgeführt ist. Texte wie Das Zeitgedicht, Sang und Gegensang und Hehre Harfe kritisieren die stilistische Imitatio der anderen als unzureichend. George fordert die Jünger auf, sich die Kraft des Eros zunutze zu machen, und stellt ihnen (zumindest theoretisch) die Objektwahl frei, obwohl nach der Logik des Modells die Contagio nicht aus dem Imitatio-Gefüge hinausführen sollte.
210
Durzak (1969): Epigonenlyrik, S. 499.
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Alles seid ihr selbst und drinne: Des gebets entzückter laut Schmilzt in eins mit jeder minne · Nennt sie Gott und freund und braut!211
Dieses Ideal autonomer Selbst-Affektation erinnert zwar zunächst an die Schöpfungsphantasien aus Algabal, ist aber insofern anders und neu, als es sich im Sozialzusammenhang bewährt: Contagio entzündet sich am sozialen Gegenüber. Der Verweis auf die innere Fülle setzt das Imitatio-Modell nicht außer Kraft. Georges Ziel ist es nicht, aus den Jüngern Urgeister zu machen, sondern ihre technisch erworbenen Fähigkeiten um eine Art von Begeisterung, ausgelöst durch Berührung und erotische Attraktion, zu ergänzen. Sie können und dürfen auch sprachlich imitieren, so lange mit der Exercitatio auch Contagio verbunden ist. George nimmt sich selbst davon nicht aus und sucht in seinen Gedichtbänden stets aufs Neue einen Inspirationszusammenhang zu etablieren. Es gibt auch Rückkopplungen zwischen der Ebene des Urgeists und derjenigen des abgeleiteten Wesens, wenn der Urgeist nämlich in einem abgeleiteten Wesen die göttliche Substanz erkennt und davon begeistert wird. Dies ist bei Maximin der Fall, der nach dem Tod des realen Maximilian Kronberger zum urbildlichen Idealtypus wird. Im zweiten von sechs Vierzeilern Zum Abschluss des Siebenten Rings212 präzisiert George diese Konfiguration.213 George bzw. das autobiografisch lesbare Dichter-Ich beantwortet die Frage nach seiner Identität mit den Worten Johannes des Täufers: „‚Ich bin nur demütiger sklav / Des der da kommen wird im morgenrot.‘“214 Der Urgeist wird zum Propheten des göttlichen Kinds Maximin. Entsprechend verwendet George im Siebenten Ring das ganze Arsenal prophetischer Rede: Preisgedichte, Visionen, Segenssprüche, Anklagen, Gerichtsankündigungen und
211 212 213
214
Stefan George: Hehre Harfe. In: SW, VI/VII, S. 131. Stefan George: Zum Abschluss des Siebenten Rings. In: SW, VI/VII, S. 186. Zur Problematik der Doppelfunktion vgl. Manfred Koch: Rilkes Engel oder Der heilige Kampf um die Sprache. In: Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden, 3 Bde., Bd. 2, Um 1900, hg. v. Wolfgang Braungart u.a., Paderborn u.a.: Schöningh 1998, S. 123–140, hier S. 124. Stefan George: Ein Gleiches: Frage. In: SW, VI/VII, S. 186.
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Mahnworte.215 In diesem Zusammenhang rückt abermals der Themenkomplex der poetischen Inspiration in den Blick. Wie die poetischen Fiktionen des Engels und Maximins deutlich machen, kündet der Prophet George letztlich von sich selbst. Diese Autoinspiration des Dichters unterscheidet sich von einem älteren, auf Transzendenz basierenden Inspirationsmodell, obwohl sie um des ästhetischen Reizes willen mit den entsprechenden Semantiken spielt.216 Die weitere Entwicklung sei kurz gestreift: Georges Stern des Bundes (1914) wird von seinen Jüngern stilistisch nicht imitiert; vielleicht sind sie zu eindeutig esoterisches ‚Meisterwort‘, als dass sie in ihrer Eigenart hätten aufgegriffen werden können, ohne parodistisch zu wirken. Außerdem steht gerade in diesem Gedichtband thematisch die ethische Imitatio im Vordergrund.217 Durch die öffentliche Nicht-Wahrnehmung Georges nach dem Ersten Weltkrieg wird die an das Imitatio-Modell geknüpfte Naherwartung einer kulturellen Renaissance enttäuscht. George ist 1918, das machen die öffentlichen Reaktionen auf seinen 50. Geburtstag deutlich, für die junge Generation historisch geworden.218 Er reagiert darauf in zweifacher Weise. Erstens nimmt er die Heilsgestalt Maximin zurück und ersetzt sie durch die vage Aussage, dass sich seine Botschaft später einmal erfüllen werde. Zweitens verspricht sich der späte George nicht mehr viel von der stilistischen Imitatio seiner selbst wie vom Dichten überhaupt, was nicht zuletzt damit zusammenhängt, dass in der dritten Kreisgeneration (mit Ausnahme Kommerells) eine genuin poetische Begabung fehlt. Über noch entstehende Stilimitationen äußert George sich kritisch: „Es gäbe ja noch Junge, die ganz brav in unserer überlieferten Form Gedichte machten. Das sei aber doch nicht mehr das, was es früher gewesen sei.“219 Er sieht seinen Kreis an einem Punkt angekom215
216 217 218 219
Vgl. Claus Westermann: Grundformen prophetischer Rede, München: Kaiser 41971 [erste Auflage: 1960], auch Rolf Rendtorff: Art. Prophetenanspruch. In: Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 5 (42002), Sp. 635–638. Vgl. Hanns Stefan Schultz: Studien zur Dichtung Stefan Georges, Heidelberg: Stiehm 1967, S. 166f. Es ist die Zeit der in Prosa geschriebenen Jahrbücher. – Vgl. Karlauf (2007): Stefan George, S. 450–454. Vgl. Karlauf (2007): Stefan George, S. 506f. Vallentin (1967): Gespräche mit Stefan George, S. 90.
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men, an dem die fortgesetzte stilistische Imitatio zur Epigonalität gerinnt. Anders steht es um die ethische Imitatio. George hofft, eine ähnliche Langzeitwirkung zu entfalten wie Goethe, der ein ganzes nachfolgendes Jahrhundert befruchtet habe.220 Goethes lezte Nacht in Italien, entstanden 1908, erstmals gedruckt im dritten Ausleseband der Blätter (1909) und in der erst im Februar 1910 erscheinenden Blätter-Folge 1908/09, bringt diese Hoffnung zum Ausdruck. Der göttliche Funke, der vom Rollen-Ich Goethe gesehen wird, erhellt als Schimmer und Sternenglanz die Nacht und spiegelt sich in einem nackten männlichen Freundespaar.221 Die Ausbreitung der göttlichen Botschaft geschieht durch erotische Contagio. Goethe ist in diesem Gedicht mit den typischen Attributen des Meisters, mit Melancholie und Einsamkeit, ausgestattet. An der Liebesnacht des Paares hat er keinen Anteil. Am Ende des Gedichts wird deutlich, dass sich seine Vision erst nach seinem Tod erfüllt – und zwar, wie die letzte Strophe suggeriert, im George-Kreis.222 Aus diesem Grund steht das Gedicht achtzehn Jahre später am Anfang von Das Neue Reich (1928). Die ausgebliebene Naherwartung wird in Georges letztem Gedichtband durch die Perspektive einer Fernwirkung ersetzt.223 Wie in der christlichen Lehre vom Gottesreich wird die Erfüllung seiner eigenen Vision in eine vage Zukunft projiziert. Mit der Abkehr von einer nahen Heilserwartung verliert auch die stilistische Imitatio ihren Sinn.
220 221
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So ist der Titel der Anthologie Das Jahrhundert Goethes zu verstehen. Vgl. Ernst Osterkamp: Probleme der Interpretation von Georges Spätwerk, Vortrag gehalten am 25. Oktober 2008 auf der gemeinsamen Jahrestagung der Stefan-George-Gesellschaft und der Rudolf-Borchardt-Gesellschaft am 25. und 26. Oktober 2008 Ästhetizismus nach dem Ende des Ästhetizismus. Lyrisches Sprechen um 1900 in Bingen. – Veröffentlicht unter dem Titel Poesie der Zeitenwende. „Goethes lezte Nacht in Italien“. In: ders. (2010): Poesie der leeren Mitte, S. 57–113. „Doch nein: ich erkenne / Söhne meines volkes – nein: ich vernehme / Sprache meines volkes. Mich blendet die freude. / Wunder hat sich erfüllt von marmor und rosen […].“ Stefan George: Goethes lezte Nacht in Italien. In: SW, IX, S. 7–10, hier S. 10. Zum Poeta vates beim späten George vgl. Barbara Beßlich: Vates in Vastitate. Poetologie, Prophetie und Politik in Stefan Georges „Der Dichter in Zeiten der Wirren“. In: Olaf Hildebrand (Hg.): Poetologische Lyrik von Klopstock bis Grünbein. Gedichte und Interpretationen, Köln: Böhlau 2003, S. 198–219.
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Exkurs: Die Religionswissenschaft Joachim Wachs In diesem Exkurs steht nicht der poetologische, sondern der soziale Aspekt des Imitatio-Modells im Vordergrund. Der Religionswissenschaftler Joachim Wach (1898–1955)224 ist vor allem an der ethischen Imitatio im George-Kreis interessiert, die seinen religionssoziologischen Pionierarbeiten zum Meister-JüngerVerhältnis reiches Anschauungsmaterial liefert.225 Er thematisiert den Kreis nicht nur auf der wissenschaftlichen Metaebene, sondern wird selbst von seinem Gedankengut affiziert.226 Ein Beleg für Wachs Orientierung am George-Kreis ist sein Buch Meister und Jünger, das aus zwei ursprünglich getrennten, aber thematisch miteinander verbundenen Essays besteht. Es ist ein Beispiel für den Eingang des Imitatio-Modells in die damals noch junge akademische Disziplin der Religionswissenschaft. Der erste Teil greift auf einen in der Freideutschen Jugend erschienenen Aufsatz aus dem Jahr 1922 zurück und behandelt vergleichend die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler und zwischen Meister und Jünger;227 der andere Essay geht aus Wachs Habilitationsvortrag in Leipzig hervor, stellt verschiedene Meisterfiguren vor und entwirft eine Typologie des Jüngertums.228 224
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226
227 228
Zu Wach vgl. Rainer Flasche: Die Religionswissenschaft Joachim Wachs, Berlin und New York: de Gruyter 1978; ders.: Joachim Wach. In: Axel Michaels (Hg.): Klassiker der Religionswissenschaft, München: C.H. Beck 1997, S. 290–302 und Kurt Rudolph: Joachim Wachs Grundlegung der Religionswissenschaft. Ein Beitrag zu ihrer Identität und Selbständigkeit. In: Horst Junginger (Hg.): The Study of Religion Under the Impact of Fascism (Numen Book Series. Studies in the History of Religions 117), Leiden und Boston: Brill 2008, S. 635–647. Vgl. Joachim Wach: Meister und Jünger / Lehrer und Schüler. In: Freideutsche Jugend. Eine Monatsschrift aus dem Geiste der Jugend (1922), H. 8/9, S. 233– 239; ders.: Art. Jüngerschaft. In: Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 3 (21929), S. 504–506; ders. und Helmut Schoeck: Religionssoziologie, Tübingen: Mohr 1951, S. 151–155 und dazu Flasche (1978): Die Religionswissenschaft Joachim Wachs, S. 41f. Georges Maximinkult erregt auch das Interesse des einflussreichen Vertreters des Kulturkatholizismus Peter Wust. – Vgl. Richard Faber: Politischer Katholizismus. Die Bewegung von Maria Laach. In: Hubert Cancik (Hg.): Religionsund Geistesgeschichte der Weimarer Republik, Düsseldorf: Patmos 1982, S. 136–158 und Braungart (1997): Ästhetischer Katholizismus, S. 59. Wach (1922): Meister und Jünger, S. 233–239. Joachim Wach: Meister und Schüler. Zwei religionssoziologische Betrachtungen, Leipzig: Pfeiffer o.J. [1924] (Abdruck einer Rede vom 3. Mai 1924), Tübingen: Mohr 1925.
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Teil 1: Das Imitatio-Modell
Wach nähert sich dem Phänomen der George-Imitatio aus religionswissenschaftlicher Perspektive, ohne wertend auf einen fehlenden christlichen Kontext zu verweisen. Dem Heidelberger Kreis um Gundolf kommt er in den zwanziger Jahren nahe: Nach seiner Berliner Promotion229 verbringt er von 1922 bis 1924 zwei Studienjahre in Heidelberg und hört bei Gundolf, Heinrich Rickert und Alfred Weber. So unterschiedlich sich diese drei Charaktere zu George verhalten, gemeinsam ist ihnen ein intensives Interesse für den George-Kreis als poetisches und soziales Phänomen. Für Webers Kultursoziologie ist der George-Kreis eine wichtige Quelle,230 und der Typus des exemplarischen Propheten bei seinem Bruder Max Weber ist gleichfalls von George inspiriert.231 Der Kreis um George ist nicht weniger als Wachs religiöses Bezugssystem.232 Er fragt bei Gundolf brieflich an, ob er die Studie „dem Manne“ zusenden dürfe, „dessen Gestalt mir bei der Abfassung so oft vor der Seele stand, dessen Werk meine heisse Liebe und Bewunderung gilt“.233 Wach erlebt während der Arbeit an seiner Studie Meister und Jünger den Bruch zwischen George und Gundolf aus nächster Nähe. Wenn er es als typische 229 230
231
232 233
Joachim Wach: Der Erlösungsgedanke und seine Deutung, Leipzig: Hinrichs 1922. Vgl. Volker Kruse: Die Heidelberger Soziologie und der Stefan George-Kreis. In: Bernhard Böschenstein, Jürgen Egyptien, Bertram Schefold und Wolfgang Graf Vitzthum (Hg.): Wissenschaftler im George-Kreis. Die Welt des Dichters und der Beruf der Wissenschaft, Berlin, New York: de Gruyter 2005, S. 259–276. – Zu Alfred Weber vgl. Eberhard Demm: Ein Liberaler in Kaiserreich und Republik. Der politische Weg Alfred Webers bis 1920, Boppard: Boldt 1990 und ders.: Von der Weimarer Republik zur Bundesrepublik. Der politische Weg Alfred Webers 1920–1958, Düsseldorf: Droste 1999 sowie ders.: Entfremdung durch „Mechanisierung“ und Bürokratisierung. Die Kulturkritik Alfred Webers und des Stefan-George-Kreises. In: ders.: Geist und Politik im 20. Jahrhundert. Gesammelte Aufsätze zu Alfred Weber, Frankfurt a.M.: Lang 2000, S. 99–109. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen: Mohr 31947 [erste Auflage: 1922], Erster Teil, Kapitel III, § 10: Charismatische Herrschaft. – Literatur zu Weber bei Kolk (1998): Literarische Gruppenbildung, S. 436 Anm. 43. Vgl. Flasche (1978): Die Religionswissenschaft Joachim Wachs, S. 77. Zit. n. Claus Victor Bock, Lothar Helbing [d.i. Wolfgang Frommel] und Karlhans Kluncker (Hg.): Stefan George. Dokumente seiner Wirkung, Aus dem Friedrich Gundolf Archiv der Universität London (Publications of the Institute of Germanic Studies University of London 18), Amsterdam: Castrum Peregrini-Presse 21974 [erste Auflage: 1974], S. 274. – Vgl. Braungart (1997): Ästhetischer Katholizismus, S. 301.
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Verlaufsform darstellt, dass der wahre Jünger seinen Meister verrät, steht ihm dieser Ablösungsprozess als Beispiel vor Augen: „[D]er Jünger verzweifelt am Meister oder an sich. Er wählt sich und nimmt von dem Abschied, der ihm über sich, über alles teuer war […].“234 In seiner Heidelberger Zeit verfasst Wach neben Meister und Jünger auch seine Habilitationsschrift Religionswissenschaft. Prolegomena zu ihrer wissenschaftstheoretischen Grundlegung (1924).235 Von 1924 an ist er am Institut für Kultur- und Universalgeschichte an der Universität Leipzig angestellt,236 wo er 1927 eine außerordentliche Professur für Religionswissenschaft erhält und dieses Fach erstmals an einer deutschen Universität vertritt.237 Noch 1930 ist Wachs Name in Gundolfs Gästebuch verzeichnet.238 Als Nichtarier – es bestehen verwandtschaftliche Beziehungen zur Familie Mendelssohn Bartholdy – wird ihm 1935 die Lehrbefugnis entzogen, und im selben Jahr nimmt er eine Gastprofessur an der Brown University in Providence, Rhode Island, an. 1945 erhält er eine Professur an der University of Chicago. Seine Lehrtätigkeit versteht er emphatisch im Sinne Georges als eine auch zwischenmenschlich bedeutsame Bildungsaufgabe.239 Er schart einen Kreis von Anhängern um sich, aus dem aber keine eigene Schule hervorgeht.240 Einen Ruf nach Deutschland auf den früheren Lehrstuhl von Rudolf Otto für Systematische Theologie an der PhilippsUniversität Marburg lehnt er 1955 kurz vor seinem Tod ab.241 Wachs bleibendes Verdienst besteht darin, die Religionswissenschaft als eigenständiges Fach unter den Geistes- und Kulturwissenschaften etabliert zu haben.242 234 235
236 237 238 239 240 241 242
Wach (1922): Meister und Jünger, S. 10. Joachim Wach: Religionswissenschaft. Prolegomena zu ihrer wissenschaftstheoretischen Grundlegung (Veröffentlichungen des Forschungsinstituts für Vergleichende Religionsgeschichte an der Universität Leipzig 1, 10), Leipzig: Hinrichs 1924, Nachdruck Waltrop: Spenner 2001. Vgl. Rudolph (2008): Joachim Wachs Grundlegung der Religionswissenschaft, S. 638. Vgl. Flasche (1978): Die Religionswissenschaft Joachim Wachs, S. 19. Das Gästebuch befindet sich jetzt im GA. Vgl. die Aufstellung der Namen der im Hause Gundolf Verkehrenden in: Bock (1965): Gundolf-Briefe, S. 262. Vgl. Rudolph (2008): Wachs Grundlegung der Religionswissenschaft, S. 636. Vgl. Flasche (1978): Die Religionswissenschaft Joachim Wachs, S. 16. Vgl. Rudolph (2008): Wachs Grundlegung der Religionswissenschaft, S. 636. Vgl. Rudolph (2008): Wachs Grundlegung der Religionswissenschaft, S. 638f.
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Die moderne Hermeneutik ist für Wach eine wichtige Methode, weil sie die Genese religiöser Gemeinschaften nicht aus ihren Dogmen, sondern aus ihren religiösen Erfahrungen und Auslegungspraktiken heraus verstehen will. In seiner dreibändigen Studie Das Verstehen. Grundzüge einer Geschichte der hermeneutischen Theorie im 19. Jahrhundert (1926–1933) stellt er die Geschichte der Hermeneutik in historischen, theologischen und philologischen Systemen vor.243 Wach situiert seine eigene Methodik in der hermeneutischen Tradition Diltheys.244 Analog zu Diltheys auf Schleiermacher fußendem Erlebnisbegriff ist für Wach die religiöse Erfahrung das Herzstück alles religiösen Lebens,245 woraus sich sein Interesse am christlichen Spiritualismus erklärt.246 Das „Prinzip der lebendigen Erfahrung“ in Schleiermachers Hermeneutik führt er auf den Pietismus zurück, den er als maßgeblich für die Entwicklung der neueren psychologischen Betrachtungsweise erkennt.247 Verstehen ist für Wach ein „spontaner, selbständiger produktiver Akt“, da „zu dem äußeren Erleben […] die innere Kraft der Phantasie“ hinzutritt.248 In der Kombination subjektiver und objektiver Verfahren, von „intuitivdivinatorische[r] Erahndung“249 mit positivem Wissen über die „grammatischen und historischen“250 Voraussetzungen eines Werks sieht Wach schon bei Schleiermacher hermeneutische Verfahren ausgeprägt, die als neue Ansätze in den Geisteswissenschaften seiner Gegenwart verhandelt werden. „So dürften sich“, schreibt Wach, „in gewissem Sinne die Urheber der modernen Biographik (Simmel, Gundolf, Bertram u.a.) auf Schleiermacher berufen, der die theoretische Begründung ih243
244 245 246 247
248 249 250
Joachim Wach: Das Verstehen. Grundzüge einer Geschichte der hermeneutischen Theorie im 19. Jahrhundert, 3 Bde., Tübingen: Mohr (Siebeck) 1926– 1933, Nachdruck in einem Band: Olms 21984 [erste Auflage: 1966]. Vgl. Joachim Wach: Wilhelm Dilthey über „Das Problem der Religion“. In: Zeitschrift für Missionskunde und Religionswissenschaft 40 (1925), S. 66–81. Vgl. Flasche (1978): Die Religionswissenschaft Joachim Wachs, S. 57. Joachim Wach: Caspar Schwenckfeld, A Pupil and a Teacher in the School of Christ. In: The Journal of Religion 26 (1946), S. 1–29. Wach (1926): Das Verstehen, Bd. 1, S. 92 Anm. 1: „Ganz im Einverständnis mit Dilthey […] setze ich die Bedeutung des Pietismus für die Theorie der Hermeneutik hoch an.“ – Zum psychologischen Verstehen vgl. S. 94 Anm. 1. Wach (1924): Religionswissenschaft, S. 154f. Wach (1926): Das Verstehen, Bd. 1, S. 97. Wach (1926): Das Verstehen, Bd. 1, S. 96.
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rer Praxis, um die man heute kämpft, vorausnimmt.“251 Dieser Ansatz trifft sich mit Wachs eigener Methode.252 Mit der Integration von lebendigem Erfahrungswissen will er das Profil einer systematischen Religionswissenschaft gegenüber der Theologie und der Religionsgeschichte sowie gegenüber der Religionsphilosophie schärfen: „Die Religionen können aus der Idee der Religion nicht deduziert werden.“253 Auch an anderer Stelle referiert er Gundolf, und zwar im Blick auf die Wahl eines wissenschaftlichen Untersuchungsgegenstands. Gundolf unterscheide in Dichter und Helden zwischen einem Stoff, der „bloße Historie“, und einem solchen, der „mitwirkende“ Gegenwart sei.254 Bei letzterem sei, so Wach, der „ästhetisch-pädagogische Gesichtspunkt“ entscheidend: Wo der Untersuchungsgegenstand das Ich des Betrachters „begeisternd erweck[e] und lenkend richt[e]“, könne er über das Verstehen hinaus Werte vermitteln.255 Wachs Sympathie für eine normative, „ästhetisch-pädagogische“ Wissenschaft, die zwischen dem Positivismus des 19. Jahrhunderts und dem „andere[n] Extrem“ eines „subjektivistischen Ästhetizismus und Eklektizismus“ vermittelt,256 trifft sich exakt mit den aus dem Imitatio-Modell bekannten Abgrenzungen. Bertram Schefold hat diese Vermittlung zwischen objektivem (normativem) und subjektivem Wissen als charakteristisch für die Wissenschaft des George-Kreises bezeichnet und sie am Beispiel des Nationalökonomen Edgar Salin direkt auf Landmanns Erkenntnistheorie zurückgeführt.257 Wenngleich Wachs wissenschaftliche Methode nicht ausschließlich daraus abgeleitet werden kann – Wach weiß sich der hermeneutischen Tradition des 19. Jahrhunderts verpflichtet –, weisen seine direk251
252 253 254 255 256 257
Wach (1926): Das Verstehen, Bd. 1, S. 96 Anm. 2. – Der zeitweise eng mit der Frühromantik verbundene Theologe wäre für den Kreis jedoch ein ideologisch inakzeptabler Bezugspunkt gewesen. Vgl. Flasche (1978): Die Religionswissenschaft Joachim Wachs, S. 130–142. Wach (1924): Religionswissenschaft, S. 131. Wach (1926): Das Verstehen, Bd. 1, S. 236 Anm. 2. Wach (1926): Das Verstehen, Bd. 1, S. 236. Wach (1926): Das Verstehen, Bd. 1, S. 236 Anm. 2. Vgl. Bertram Schefold: Die Welt des Dichters und der Beruf der Wissenschaft. In: Bernhard Böschenstein, Jürgen Egyptien, Bertram Schefold und Wolfgang Graf Vitzthum (Hg.): Wissenschaftler im George-Kreis. Die Welt des Dichters und der Beruf der Wissenschaft, Berlin, New York: de Gruyter 2005, S. 1–33, hier S. 22 und S. 32.
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ten Bezugnahmen auf Gundolf doch auf eine Beeinflussung hin. Aber er geht nicht so weit, das intuitive Erkennen dahingehend zu verabsolutieren, dass ein magisches Inspirationswissen wie die Erkenntnis des Urgeists über eine objektivierbare Methode obsiegt („man muß trennen können zwischen Arbeit und Predigt, zwischen Wissenschaft und Prophetie“).258 Aus Wachs erfahrungsbezogenem Ansatz folgt, dass er das Religiöse an dessen ästhetischer Ausprägung festmacht: Religiöse Erfahrung lasse sich nicht anders darstellen als in der ästhetischen Form.259 Diese Aussage steht im Einklang mit Georges Überzeugung, dass das Göttliche nur in der sinnlichen Erscheinung greifbar sei. Eine Parallele zur Mimesis des Urgeists besteht in dem bei Wach mit religiöser Erfahrung verbundenen Exklusivitätsanspruch. Religiöse Erfahrung werde nur von Wenigen gemacht, und von diesen einzelnen Stifterfiguren gehe alle Religion aus. Mit seinem personenbezogenen Ansatz will Wach den hermeneutischen Zugriff der Gestaltmonographie aus dem George-Kreis für die Religionswissenschaft fruchtbar machen: Den Blick auf die Geschichte des Bildes einer großen Menschengestalt oder auf die eines Werkes zu richten und sie aus sich heraus zu verstehen und zu deuten, hat uns der Kreis derer um Stefan George wieder gelehrt. […] Diese Betrachtungsart […] kann auch in der Religionsgeschichte von höchster Bedeutung werden.“260
Wenngleich Wach sich in Meister und Jünger nur implizit auf George bezieht und dagegen Buddha, Jesus, Empedokles und Sokrates mit ihren jeweiligen Jüngern untersucht, ist der Studie als Motto ein Zitat aus dem Stern des Bundes vorangestellt.261 Auch in den Haupttext gehen wiederholt George-Zitate ein.262 In Wachs Charakterisierung des Meistertypus scheint an vielen Stellen Gedankengut des Kreises durch. Beispielsweise sieht er 258 259 260 261
262
Wach (1926): Das Verstehen, Bd. 1, S. 68. Vgl. Flasche (1978): Die Religionswissenschaft Joachim Wachs, S. 79. Wach (1922): Meister und Jünger, S. 74f. „Da menschenwesen sich nur dort erhält / Wo sich das dunkle Opfer wiederholt.“ – Zitat aus: Stefan George: Wie man zurücksieht nach dem klippensteg. In: SW, VIII, S. 68. Beispielweise „Heil Ihm der jeder lächelnd schenken kann / von Ihm der hundert schwinden läßt um eine!“ (S. 12) und „Und so ihr euch verzehrt seid ihr voll Lichts“ (S. 13). – Wach (1922): Meister und Jünger, Zitate aus Der Siebente Ring. – Stefan George: Ernesto Ludovico: Die Sept. Mens. Sept. In: SW, VI/VII, S. 167; Stefan George: Flammen. In: SW, VI/VII, S. 85.
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die Differenz zwischen dem Lehrer-Schüler- und dem MeisterJünger-Verhältnis darin, dass beim Jünger im Gegensatz zum Schüler die Persönlichkeit im Vordergrund stehe. Wenn er erläuternd schreibt, das bedeute es, „wenn der Meister von seinem Jünger fordert, daß er schön sei“,263 so gilt das weniger für die Religionsstifter Jesus und Buddha als für George oder sein historisches Vorbild Sokrates. Die Schönheit des Jüngers begünstigt Contagio. Eng schließt sich Wach an George an, wenn er die Tragik des unverstandenen Meisters ausführt. [D]er Meister muß Verzicht darauf leisten, je ganz verstanden zu werden, denn ihn ganz verstehen, würde heißen Meister sein, um das große Geheimnis der Entsagung wissen, darum wissen, daß die letzte und höchste Erfüllung nur im Andern möglich ist […].264
Einsamkeit und Entsagung, „Schwermut“ und „Trauer“ sind Zeichen des Meisters.265 Diese Gedanken, die sich bis auf die biblische Szene im Garten Getsemane zurückverfolgen lassen, sind um 1900 eng mit dem Nietzsche-Bild verknüpft.266 Auch George stilisiert sich zum leidenden und unverstandenen Meister.267 Ambivalenzen und Brüche in Georges Lyrik können mit Wach als Erfüllung der Meister-Rolle verstanden werden. Nicht voreilig sollte man daher die Erfahrungen der Brüchigkeit von Herrschaft, von Einsamkeit und Scheitern in Georges Lyrik als Argument dafür heranziehen, dass der eigene Anspruch nach Wahrheitsbesitz und Deutungsmacht einer Reflexion unterzogen wird;268 umgekehrt sind gerade diese Erfahrungen für die Meisterrolle konstitutiv.269 Wach betrachtet in seinem RGG-Artikel Jünger (1929) diesen Begriff losgelöst vom Christentum als 263 264 265 266
267 268 269
Wach (1922): Meister und Jünger, S. 13. Wach (1922): Meister und Jünger, S. 9f. Wach (1922): Meister und Jünger, S. 27. Vgl. Hansdieter Erbsmehl: „Geschwistergehirn“ und „Zwillingsbruder“. Das melancholische Selbstbild des nietzscheanischen Künstlers um 1900. In: Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, 2 Bde., Darmstadt: Häusser und Giessen: anabas 2001, Bd. 2, S. 43–47, hier S. 45–47. Vgl. Braungart (1997): Ästhetischer Katholizismus, S. 300f. So argumentiert von Petersdorff (2005): Stefan George – ein ästhetischer Fundamentalist?, S. 49–58. Wolfgang Braungart weist auf den „inszenatorischen und elitären Charakter der Melancholie“ schon im 19. Jahrhundert hin. – Braungart (1997): Ästhetischer Katholizismus, S. 288.
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„Wirkung der Erscheinung eines religiösen Genius“, die am „Kreis der Folger“ gemessen werden kann.270 Die Jünger seien Gefährten und Apostel der Lehre ihres Meisters und trügen sein Bild weiter. Wachs Begriff des Jüngers kommt dessen Verwendung im George-Kreis sehr nahe und lässt Gedankengut des Kreises ins zentrale Lexikon des Protestantismus Einzug halten.271 Aktuellere Arbeiten fordern in kritischer Abgrenzung von Wach ein, die historischen Eigenarten der unterschiedlichen Gruppierungen nicht zu vergessen272 und das spezifisch Christliche am Begriff der Jüngerschaft herauszuarbeiten.273
1.12 Ergebnis Mit Wach schließen die Betrachtungen zum Imitatio-Modell, zu seiner Systematik und seiner Ausgestaltung in den Blättern, in Georges Lyrik und in den Arbeiten einzelner Wissenschaftler. Während Lucka sich mit der stilistischen Imitatio des Kreises auseinandersetzt, steht bei Wach die ethische Imitatio im Zentrum des Interesses. Wo Lucka dem Nachahmungsprogramm des Kreises kritisch gegenübersteht, entnimmt Wach dem Imitatio-Modell wesentliche Anregungen für seine religionswissenschaftliche Betrachtung des Verhältnisses von Meister und Jünger. Zur Imitatio gehören, wie gezeigt werden konnte, die Übung (Exercitatio), welche vor allem für die Einfügung in eine Kultur und für ihre Tradierung zuständig ist, und die Berührung (Contagio). Poetologische Grundüberzeugungen hinsichtlich des künstlerischen Schaffens hängen mit erkenntnistheoretischen Orientierungen zusammen: Es wurde deutlich, dass Landmanns philosophischer Objektivismus, der das Imitatio-Modell stützt, zu völlig anderen Ergebnissen führt als Luckas psycholo270
271 272
273
Joachim Wach: Art. Jünger. In: Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 3 (21929), Sp. 504–506. – Erst am Ende des Eintrags kommt Wach auf den Jüngerkreis um Jesus zu sprechen. Vgl. Gundolf (1908): Gefolgschaft und Jüngertum. Christoph Auffahrt: Art. Jünger. In: Hubert Cancik (Hg.): Handbuch religionswissen-schaftlicher Grundbegriffe, Bd. 3, Stuttgart u.a.: Kohlhammer 1993, S. 326–329, hier S. 329. Vgl. Kany (2001): Jünger, Sp. 262.
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gisch-empirischer Ansatz. Mit diesem Objektivismus lässt sich erklären, weshalb die individuelle Imitatio der abgeleiteten Wesen zugleich einem in der Mimesis des Urgeists objektivierten Ziel folgt. Mit Blick auf das Symbolverständnis der Franzosen wurde mehrfach auf die Nähe der (platonistischen) Konzeption Mallarmés zur Mimesis des Urgeists hingewiesen – und auf die Differenz in der unterschiedlichen Bewertung der Creatio. Ging es bisher primär um die theoretischen Reflexionen zur Imitatio im Kontext von Contagio und Exercitatio in Georges Lyrik und Poetik, so soll im folgenden zweiten Teil der Arbeit die poetische Adaption dieses Modells und mit ihm verbundener Dichterrollen in den stilistischen Imitationen des Kreises im Zentrum stehen.
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Teil 2: Imitatio im Kreis
Teil 2: Imitatio im Kreis: Vallentin, Gundolf, Stauffenberg, Morwitz, Kommerell 2.1 Enge stilistische Imitatio Der Erstkontakt mit Georges Lyrik führt in der Regel zunächst zu enger stilistischer Imitatio. Dahinter steckt eine Anfangsbegeisterung, die entweder zur bewussten Entscheidung für diesen Stil führt oder unbewusst, vielleicht sogar unfreiwillig, Georges Stil übernimmt (Stilzwang). Im Folgenden wird systematisch und chronologisch das Phänomen der engen stilistischen Imitatio von der zweiten Kreisgeneration an untersucht. Die stilistische Abhängigkeit des Sectarius kann über ihr Ziel hinausschießen, weil sie ohne es zu wollen parodistisch oder lächerlich wirken kann. Sie entwertet dann entweder den nachgeahmten Prätext oder den Imitierenden selbst. Im ImitatioDiskurs wird deswegen seit jeher betont, dass das Ziel einer Nachahmung nicht die Identität sein kann.1 Da ein eklektischer Zugriff im Kreis abgelehnt wird, stellt sich das Problem einer zu engen Nachahmung umso dringlicher. George reagiert auf die imitierenden Texte in zweifacher Weise. Erstens mit einer Imitatio-Theorie, die die positiven Seiten enger stilistischer Imitatio unterstreicht, zweitens mit den regulativen Elementen Exercitatio und Contagio und drittens damit, dass er sich die Entscheidung darüber vorbehält, was von den Gedichten des Kreises veröffentlicht wird und was nicht. Während George gegenüber einer engen Stilnachbildung zunächst Vorbehalte hat, fördert er nach erfolgter Theoriebildung die Entstehung eines einheitlichen Blätter-Stils. Das ImitatioModell dient der Explikation und Steuerung einer bereits bestehenden Praxis. Die anfängliche Stilunsicherheit in der ersten Zeit 1
Vgl. Terence Cave: The Cornucopian Text. Problems of Writing in the French Renaissance, Oxford: Clarendon Press 1979, S. 36.
Teil 2: Imitatio im Kreis
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der Kreiszugehörigkeit wird in den folgenden Beispielen (Gundolf, Vallentin, Claus von Stauffenberg) je von einer Anpassung an die jeweils von George favorisierten Formen von Imitatio abgelöst. In der dritten Kreisgeneration werden poetologische Konzepte von Nachahmung von ethischen bzw. anthropologischen Konzeptionen abgelöst (vgl. Kap. 1.4 und 2.3). Ein Beispiel für zu enge stilistische Imitatio ist Berthold Vallentins (1877–1933) Gedichtsammlung Die Lieder des Landenden und von Neuer Fahrt / Die Krypte der Tieferen Ergiessungen / Die Strenge Feier (1903).2 Ohne Kontextwissen ist nicht zu entscheiden, ob der Text seinen Prätext imitiert oder parodiert. Vallentin übernimmt von Georges Buchtiteln die Motive vom Dichter als Wanderer (Pilgerfahrten) und die sakrale Sprache (Hymnen), ihre rhetorische Dreiteilung und ihre Vorliebe für Alliterationen (z.B. Die Bücher der Hirten- und Preisgedichte, der Sagen und Sänge und der hängenden Gärten). Der Titel wirkt auf den unbefangenen Leser wie ein Pendant zu den George-Parodien Die Opfer des Kaisers. Kremserfahrten und die Abgesänge der hallenden Korridore. Mit einer Nachrede (1918) von Albrecht Schaeffer und Ludwig Strauß, die Titel von Georges frühen Gedichtbänden parodieren.3 Ihre Intention ist kritisch, Vallentins hingegen nicht. „Der Meister des König Schmerz“ – so Vallentins Pseudonym – tendiert zur Übererfüllung der Vorlage und wirkt damit ungewollt komisch. Gundolf nennt dessen Gedichtsammlung gegenüber George am 4. Januar 1905 ohne Kenntnis ihres Verfassers „ein in übertriebenster Blätterorthografie gedrucktes völlig unverständliches und wie eine prachtvoll bösartige Parodie wirkendes Gedichtbuch“, dessen Autor, wie er höre, „ein fanatischer Verehrer alles Blätterischen sei“.4 Gundolf kennt das Problem „fanatischer“ Nachahmung aus eigener Erfahrung. Er ist der Erste aus dem Kreis um George,
2
3
4
Der Meister des König Schmerz [d.i. Berthold Vallentin]: Die Lieder des Landenden und von Neuer Fahrt / Die Krypte der Tieferen Ergiessungen / Die Strenge Feier, Privatdruck, Berlin: Boll 1903. Hymnen, Pilgerfahrten, Algabal; Die Bücher der Hirten- und Preisgedichte, der Sagen und Sänge und der hängenden Gärten; Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod, mit einem Vorspiel. George-Gundolf Briefwechsel, S. 145.
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der die Jüngerrolle einnimmt.5 Im ersten Jahr seiner Begegnung mit George imitiert Gundolf George so eng, dass sein Freund und Mentor Karl Wolfskehl bremsend auf ihn einwirkt: „Bewundern in Thun umgesetzt heisst nicht nachahmen, fremdes herübernehmen, sondern im Eigensten auf eigenste Weise der fremden Grösse entgegenzueilen!“6 Wolfskehl redet hier der Perfektionierung das Wort, dem keimhaften Wachsen aus dem „Eigensten auf eigenste Weise“. Das Stichwort des Entgegeneilens erinnert daneben an brautmystische Vorstellungen. 1899 ist George die allzu enge Nachahmung seines Stils selbst noch nicht geheuer. Das wird an seiner Auswahl deutlich: Im vierten Jahrgang der Blätter (1899) stehen erstmals acht Gedichte von Gundolf.7 Sie sind vor seiner Begegnung mit George entstanden, verwenden konventionelle Formen und haben die für Gundolf charakteristische musikalische und schlichte Sprache. Diese ‚mittlere‘ Stilhöhe behält er bei; die Angleichung an George vollzieht sich in erster Linie in Bezug auf die Themen und die verwendeten Formen (wie z.B. die Gattung des Zwiegesprächs). Etwas anders stellt sich das Bild bei den unveröffentlichten Gedichten dar. Unter ihnen finden sich Beispiele für getreue Stilimitationen von Georges früher Lyrik, darunter das folgende Du ruhst am Sockel eines Saeulenstumpfes. Du ruhst am Sockel eines Saeulenstumpfes Zu deinen Fuessen lehnt die ernste Larve Ein Lorbeer Zeichen toenenden Triumphs Umwindet noch die zitternd reiche Harfe Nun mag sie auf dem leuchtenden Chiton Wie welkes Laub und tote Voegel liegen Des Saengers Blick voll Muedigkeit und Hohn Spricht nichts von Wuenschen und erfuellten Siegen […].8 5
6
7 8
Vgl. Ute Oelmann: „Eine Sehnsucht nach höherer Kunst“. Vom Umgang mit dem Dichter George. Zwei Fallstudien. In: Braungart (2004): Verehrung, Kult, Distanz, S. 270–290, hier S. 279f. Karlhans Kluncker (Hg.): Karl und Hanna Wolfskehl. Briefwechsel mit Friedrich Gundolf 1899–1931 (Publications of the Institute of Germanic Studies University of London 24), 2 Bde., Amsterdam: Castrum Peregrini-Presse 1976/77, Bd. 1, S. 92 (im Folgenden zit. als Gundolf-Wolfskehl Briefwechsel). Friedrich Gundolf: Gedichte. In: Blätter IV, 3, S. 91–96. Friedrich Gundolf: Du ruhst am Sockel eines Saeulenstumpfes, Versalien (hier in Normalschrift wiedergegeben), DLA, D:Wolfskehl 2.
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Dieses Gedicht, das Gundolf am 12. Juni 1899 an Wolfskehl sendet, imitiert die typische Strophe aus dem Jahr der Seele, den fünfhebigen Jambus in vier Versen mit alternierenden Endungen und Kreuzreim. Das durch den großen Abstand zwischen Hebung und Senkung hervorgerufene harte Taktieren entspricht nicht Gundolfs sonstiger weicher lyrischer Diktion, sondern ist ein Markenzeichen Georges. Für eine strenge Nachbildung von Georges Stil ist das Gedicht mit seinen insgesamt acht Strophen zu lang, trotzdem gibt es eine Reihe von Einflüssen: Die Anfangszeile erinnert an Du lehnest wider eine silberweide aus den Hängenden Gärten; einem Gedicht, mit dem es die endzeitliche Stimmung und die komplexe Gefühlslage der Protagonisten teilt. Das welke Laub und die toten Vögel erinnern an Wir werden heute nicht zum garten gehen aus dem Jahr der Seele.9 Larve, Lorbeer, Harfe und Sänger gehören wiederum zur antiken Welt der Hirten- und Preisgedichte. Der Dichter-Sänger ist ein Einsamer, der müde und höhnisch auf die verständnislose Menge blickt. Einzig eine Frau, die schweigend davongeht, ist von seinen Worten betroffen. Diese aristokratische Spielart des poète maudit entspricht frühen Dichterrollen Georges. Es bleibt offen, ob Gundolf in dieser Figur ein Bild Georges gibt und sich selbst mit der Frau am Brunnen identifiziert. Vielleicht spielt er auf Jesus und die Frau am Brunnen an, die zu seinem weiblichen Apostel unter den Samaritern wird.10 Denn Gundolfs stilistische Imitatio geht mit Bekehrungsversuchen in seinem Bekanntenkreis einher. Rückblickend spottet er in einem Brief an Fine von Kahler über seinen jugendlichen „Fanatism“: Neulich fand ich die schwarze Kellnerin im ‚Hohenzollern‘ über – dem Jahr der Seele! Ein fanatischer Jüngling hat die schöne und aufstrebende Seele des Wesens damit infiziert, und sie findet es schön!!! […] Dies ist ein Grade des Fanatism, der selbst meine Achtzehnjährigkeit übertreffen muss – ich verstieg mich seiner Zeit mit Bekehrungsversuchen nur bis zu gebildeten Bankiers, die mit mir leider verwandt waren! Der Erfolg gibt allerdings dem Schankapostel mehr Recht wie mir, dem Bankapostel. Denn Emma ward bekehrt, Onkel Julius aber nicht.11 9 10 11
Stefan George: Wie werden heute nicht zum garten gehen. In: SW, IV, S. 20. Vgl. Joh. 4, 5–42. Friedrich Gundolf an Fine von Kahler, Brief undatiert [Heidelberg, wohl August 1910] (STGA).
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Die schöne Seele der Kellnerin ist vom Jahr der Seele „infiziert“ worden, die Contagio hat funktioniert. Gundolfs leichte Fassungslosigkeit resultiert daher, dass die Objektwahl offenbar falsch ist. Die Kellnerin ist nicht dafür geeignet, bei George erotische Inspiration auszulösen (weil sie weiblich ist), es ist unwahrscheinlich, dass sie die neuen Zeichen versteht (sie gehört nicht zu den „[G]ebildeten“), und es ist offensichtlich, dass sie ein Urteil fällt, ohne eine ästhetische Erfahrung gemacht zu haben (sie findet die Lyrik „schön“). Trotzdem erinnert ihn der „fanatisch[e] Jüngling“ an seinen eigenen früheren „Fanatism“. Ein gutes Beispiel für eine ‚fanatisch‘ enge Stiladaptation ist Gundolfs Gedichtszyklus Caesar und Cleopatra, der in Schönschrift12 als gebundenes Manuskript in Georges Nachlass liegt.13 Am 17. Juli 1899 berichtet Gundolf Wolfskehl erstmals vom Plan dieses Zyklus, und schon am 9. August schickt er an George die fertige Dichtung mit der Überschrift „Caesar und Cleopatra. Kreuth und Darmstadt im Juli 1899“ und der darunter stehenden Widmung „Meinem Meister in Ehrfurcht und Dankbarkeit“. Der Zyklus gliedert sich in sechs Teile mit den folgenden Binnentiteln: „Erwartung · Ankunft“ (3 Gedichte), „Empfang · Begegnung“ (7 Gedichte), „Liebeswochen“ (12 Gedichte), „Gestörte Lustbarkeit“ (6 Gedichte), „Vor dem Scheiden“ (4 Gedichte). Wolfskehl, dem Gundolf eine Abschrift zukommen lässt, fragt bei George an, ob man Caesar und Cleopatra nicht „nach vieler Durchsicht“ als Gabe des Verlags drucken könnte.14 Gundolf gegenüber äußert er durchaus Kritik; einiges verrate ihm „zu sehr den freilich erfreulichen Jünger aus der Sängerschule Algabals“.15 Wolfskehl legt damit den Finger in eine offene Wunde. Denn Gundolf versucht, die Sphäre des Algabal zu 12 13 14
15
Keine Kurrentschrift, keine STG-Schrift, sondern Versalien. Friedrich Gundolf: Caesar und Cleopatra, Kreuth und Darmstadt im Juli 1899, STGA, F. Gundolf I, 175. Karl Wolfskehl an Stefan George, Brief vom 1. September 1899. In: Robert Boehringer und Georg Peter Landmann (Hg.): Stefan George – Friedrich Gundolf. Briefwechsel, München und Düsseldorf: Helmut Küpper vormals Georg Bondi 1962, S. 38 Anm. 5 (im Folgenden zit. als George-Gundolf Briefwechsel). Karl Wolfskehl an Friedrich Gundolf, Brief vom 1. August 1899. In: GundolfWolfskehl Briefwechsel, S. 43.
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imitieren, indem er königliche Herrschergestalten zu Handlungsträgern macht und Gewalttaten darstellt. Der folgende Text macht diese Abhängigkeiten deutlich. Ergänzend zu den thematischen Übernahmen imitiert Gundolf stilistische Eigenheiten Georges. So verwendet er den dreistrophigen Gedichttypus aus dem Jahr der Seele mit Kreuzreim, fünfhebigem Jambus und wechselnden Endungen. Die häufige Übereinstimmung von Vers- und Satzeinheit und die erlesene Sprache verstärken die Nähe zu George. Einzig das umgangssprachliche „neulich“ in der Anfangszeile, das eher zu einem neuzeitlichen Wochenmarktbesuch als zum „Sklavenmarkte“ passen will, fällt aus dem Rahmen und macht den Text zur unfreiwilligen Parodie. Sie waren neulich auf dem Sklavenmarkte Er kaufte ihr ein Mädchen schlank und zart Sie einen Knaben welcher erst erstarkte Er ward zum Dienst der Tafel16 aufgespart Sie sieht in Angst des Knaben Reiz gedeihen Und seinen Herrn dem Sklaven liebevoll Des Vaters und des Freundes Sorge weihen Und kaum verhelt sie Eifersucht und Groll Doch Caesar sieht sie seinen Liebling hassen Und wittert ihren ungestümen Gram Er hat eh er den Vorwurf noch vernahm Vor ihrem Blick den Knaben töten lassen.17
Im Folgegedicht führt Cleopatra Caesar ihre „schönste Sklavin“ zu und signalisiert damit die Autonomie und Selbstkontrolle der Herrscherin. In der Tötung des geliebten Sklaven imitiert Gundolf die Gewalttaten Algabals. Sowohl die Stärke der Affekte als auch die Maßlosigkeit der Handlungen schaffen, wie in Georges Algabal-Zyklus, eine heroische Gegenwelt zur Moderne. George ist gegen eine Veröffentlichung: „Mein Dichtwerk, Caesar und Kleopatra, hat der Meister nicht ganz so günstig beurteilt als Sie“, benachrichtigt Gundolf seinen Mentor Wolfs16
17
Gestrichen: Tempel, ersetzt durch: Tafel. Das Manuskript weist einige Bearbeitungsspuren auf. Diese Änderung ist von Gundolfs Hand, anderes hat George korrigiert und kommentiert (vgl. dazu weiter unten). STGA, F. Gundolf I, 175, S. 20.
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kehl. George kritisiere, dass Gundolf „dem Caesar und seiner Königin“ seine Heimat untergeschoben und den „grosse[n] Woog an die Pyramiden versetzt“ habe.18 Einige Bleistiftvermerke von Georges Hand im Manuskript liefern Indizien, was George stört. Sie betreffen die folgenden drei Gedichte. Scherze, in dem es darum geht, dass sich Caesar und Cleopatra verkleidet unters Volk mischen wollen, ist mit einem Fragezeichen versehen.19 Bei einem zweiten handelt es sich, wie der Vermerk „gr. W. bei Pyramiden“ belegt, um das von George inkriminierte Gedicht. In ihm gibt sich die verkleidete Cleopatra dem Markttreiben hin. Die erste der insgesamt vier Strophen lautet: Drängtest durch die Märkte an die Buden Keiftest bäurisch mit dem Bauernweib Feilschtest heiss mit den beredten Juden Stahlst dem Bäcker einen warmen Laib […].20
Dies ist ein Text, in dem die königliche Figur aus ihrer Rolle fällt. Die von Gundolf wohl als Intermezzi im königlichen Liebesspiel angelegten „Scherze“21 dieser Verkleidungsszenen werden von George nicht goutiert. Das dritte Gedicht Da du so traurig wirst beim Sang der Saiten, in welchem Cleopatra Caesars Abschied beweint, kommentiert George mit: „Fällt heraus zu christlich“. Denn Cleopatra verlangt „Bussgewand und heilige Bücher“ sowie eine „Geissel“, um ihren Schmerz zu betäuben.22 Der junge Gundolf übernimmt sich nach Georges Einschätzung an diesem Stoff. Über ein vor ihrer Begegnung entstandenes Caesar-Drama äußert er sich „belustigt“.23 Während Georges Bedenken auf die Diskrepanzen zwischen antiker und christlicher bzw. moderner Welt und damit auf ein latent parodistisches Element abheben, zielt Wolfskehls Kritik in erster Linie
18
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Friedrich Gundolf an Karl Wolfskehl, Brief vom 2. September 1899. In: George-Gundolf Briefwechsel, S. 38f. – Bereits Georges erste Reaktion auf das Projekt ist: „Schämen Sie sich!“ Ebd., S. 32 Anm. 6. STGA, F. Gundolf I, 175, S. 24. STGA, F. Gundolf I, 175, S. 27. STGA, F. Gundolf I, 175, S. 24. STGA, F. Gundolf I, 175, S. 35. George-Gundolf Briefwechsel, S. 58.
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auf die zu große Nähe zum imitierten Vorbild.24 Dies scheint George, obwohl keines der Gedichte Aufnahme in die Blätter findet, weniger zu stören; zumindest könnte er eine Veröffentlichung zumindest erwogen zu haben, wenn man den letzten Vermerk „Fällt heraus“ so deuten darf und nicht in dem Sinne, dass die christliche Motivik aus dem Rahmen fällt. Durch die Nicht-Veröffentlichung von Caesar und Cleopatra und durch die Veröffentlichung früher, von George nicht beeinflusster Gedichte sucht George vor 1900 jedenfalls Gundolfs lyrische Eigenständigkeit zu betonen. Nach 1900 wirkt George normierend auf Kreisaspiranten ein, deren Gedichte stilistisch zu sehr von seinen Vorgaben abweichen. Das zeigt wiederum das Beispiel Vallentins. Im Frühsommer 1901 veröffentlicht Vallentin als Privatdruck eine Sammlung konventioneller, relativ formstrenger Gedichte: Sonette, Distichen, Terzinen, aber auch Blankverse. Seine poetologischen Orientierungen ändern sich, als er mit den Blättern in Kontakt kommt und im Dezember 1902 bei Kurt Breysig George begegnet.25 1903 entstehen die bereits erwähnten Lieder des Landenden, daneben nimmt er Einflüsse besonders aus der französischen Lyrik auf. Im Juli 1904 besucht er erstmals George in Bingen.26 Gesprochen wird u.a. über seine unter Pseudonym erschienenen Gedichthefte: Sinfonia / Der Kaiser (1904?) und Sinfonia / Dem Andenken des Grafen Oskar Korniss (1904?).27 Es handelt sich um sehr freie Gedichte mit einer Tendenz zur lyrischen Prosa, die durch ihre Überschriften mit musikalischen Satzbezeichnungen assoziiert werden. Obwohl Vallentin seit 1902 George verehrt, schlagen seine Gedichtbände vor der di24
25 26
27
Erst in der siebenten Folge der Blätter erscheint Gundolfs Zwiegespräch Caesar und Cleopatra, das mit den früheren Versuchen nichts als den Titel gemein hat. Es behandelt allgemein den Zwiespalt von Jugend und Alter, Liebe und Pflicht. – Friedrich Gundolf: Caesar und Cleopatra. Ein Zwiegespräch. In: Blätter VII, S. 80–96. Vgl. Karlauf (2007): Stefan George, S. 432–434. Vgl. Hans-Jürgen Seekamp, Raymond C. Ockenden und Marita Keilson (Hg.): Stefan George Leben und Werk. Eine Zeittafel, Amsterdam: Castrum Peregrini-Presse 1972, S. 158. Vgl. Berthold Vallentin: Sinfonia / Der Kaiser. Vom Meister des König Schmerz, o.O. [Berlin-Steglitz]: Steglitzer Werkstatt o.J. [1904?] und Sinfonia / Dem Andenken des Grafen Oskar Korniss, vom Meister des König Schmerz, o.O. [Berlin-Steglitz]: Steglitzer Werkstatt o.J. [1904?]
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rekten Bekanntschaft mit George den falschen Ton an. Entweder tendieren sie zum Impressionismus oder sie adaptieren den Symbolismus in einer Weise, dass er parodistisch wirkt. George weist Vallentin darauf hin, dass bei den Impressionisten nur Reiz sei; von dort käme nichts mehr.28 Es bedarf der Aufnahme in den Kreis und der persönlichen Hinweise Georges, um ihn auf den rechten Weg zu bringen. Vallentin gehört innerhalb des GeorgeKreises einer anderen Richtung an als Gundolf, doch beide haben dasselbe Problem: Ihrer beider Gedichte werden erst durch George „blätterfähig“.29 Ein Vergleich zwischen den frühen Blätter-Jahrgängen mit den ersten Gedichten Gundolfs und den späten Folgen der Blätter mit Vallentins Gedichten zeigt, dass sich die Zeiten geändert haben. In die Zwischenzeit fällt die theoretische Fixierung des Imitatio-Modells. Vallentins „blätterfähig[e]“ Lyrik richtet sich infolgedessen, anders als diejenige des jungen Gundolf, ganz nach Georges poetischen Vorstellungen. In der neunten Folge der Blätter (1910) erscheint erstmals ein Gedicht von Vallentin mit dem Titel „Ode“.30 Vallentin verwendet keine antike Odenstrophe – auch von George gibt es keine klassischen Oden –, aber sein Hang zur feierlich gehobenen Sprache erhält nun ihren legitimen Rahmen durch die Gattungstradition. Vallentins Tendenz zur ausufernden Form wird von George kanalisiert, indem er ihn auf die poetische Gattung des Zwiegesprächs verweist. Sie steht formal zwischen dem Dialoggedicht und der lyrischen Szene und ist eine Wechselrede von zwei Akteuren. Typisch für die Gespräche ist die Verschiedenheit der Gesprächspartner, welche Träger von Ideen und keine individuellen Charaktere sind. Kluncker hat diese Konstellation auf die Polarität von Meister und Jünger zurückgeführt, die ein Grunderlebnis des Kreises sei.31 Tatsächlich ist es typisch, dass die Jünger in ihren Gedichten primär ihre Beziehung zum Urgeist reflektieren. Aus dieser Beziehung, aus der Partizipation am „lebensrhythmus“ des Meisters erhalten sie schließlich ge28 29 30 31
Vgl. Vallentin (1961): Gespräche mit Stefan George, S. 18f. Stefan George an Friedrich Gundolf, Brief undat. In: George-Gundolf Briefwechsel, S. 58. Berthold Vallentin: Ode. In: Blätter IX, S. 139–141. Vgl. Kluncker (1974): Blätter für die Kunst, S. 104–106.
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mäß der Imitatio-Theorie ihre Kreativität. Kluncker konstatiert ferner, dass es oft Wissenschaftler des Kreises seien, die sich dieser Darstellungsform bedienten, und führt es auf den wissenschaftlichem Denken verwandten antithetischen Zug dieser Wechselreden zurück.32 Insbesondere im Blick auf Gundolfs methodischen Ansatz ist dem zuzustimmen. Gundolf, der eine ganze Reihe von Zwiegesprächen geschrieben hat,33 entwickelt seine wissenschaftliche Prosa gern aus Antithesen. In den Blätter-Jahrgängen 1914 und 1919 erscheinen von Vallentin Zwiegespräche über Napoleon;34 sie werden später in erweiterter Form in der Sammlung Heroische Masken (1927) unter dem Signet der Blätter veröffentlicht.35 Ähnlich wie Kommerells Gespräche aus der Zeit der deutschen Wiedergeburt (1929) Themen aus seinem Buch Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik poetisch verdichten, ist bei Vallentin ein enger Bezug zwischen seiner Lyrik und seinen wissenschaftlichen Schriften Napoleon (1923)36 bzw. Napoleon und die Deutschen (1926) gegeben.37 Ein Beispiel aus der dritten Kreisgeneration zeigt, wie sich das Gesicht der stilistischen Imitationen in der Spätzeit des Kreises verändert. Gleich geblieben ist das Phänomen der anfänglichen Stilunsicherheit. Claus von Stauffenberg imitiert im ersten Jahr seiner Kreiszugehörigkeit George einerseits eng, andererseits dilettantisch, so dass der Effekt in manchen Gedichten ungewollt parodistisch ist. Erst das Kontextwissen ermöglicht die richtige Einordnung der Texte als Imitationen. Übrigens funktioniert die unfreiwillige Komik auch umgekehrt: Gerade das Kontextwissen steigert diesen Effekt, wenn man die erhabene Sprache und den Sehergestus mit dem Zusatzwissen liest, dass es sich bei ihrem Verfasser um einen Sechzehnjährigen handelt. Zwei Gedichthandschriften Stauffenbergs sind in Georges 32 33 34 35 36 37
Vgl. Kluncker (1974): Blätter für die Kunst, S. 105. In den Blättern erscheinen u.a. Caesar und Cleopatra (Blätter VII, S. 80), Caesar und Brutus (Blätter XI/XII, S. 60), Ariel und Dryade (Blätter VIII, S. 97). Blätter X, S. 91–100 und XI/XII, S. 157–174 als Zwiegespräche vom Kaiser. Berthold Vallentin: Heroische Masken, Berlin: Bondi 1927, S. 66–128. Berthold Vallentin: Napoleon, Berlin: Bondi 1923. Berthold Vallentin: Napoleon und die Deutschen, Berlin: Bondi 1926. – Kommerell weist in Der Dichter als Führer lobend auf Vallentins Napoleon-Gespräche als Alternative zur typischen Dramenform hin, für welche nach wie vor Shakespeare die Norm gebe. – Vgl. Kommerell (2[1940]): Der Dichter als Führer, S. 98.
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Nachlass erhalten.38 Diese Gedichte unterscheiden sich in zwei Aspekten signifikant von den zuvor genannten Beispielen. Erstens weist Stauffenberg sich in beiden Sammlungen vom Herbst 1923, wenige Monate, nachdem er im Mai des Jahres bei George eingeführt wurde, ausschließlich die Rolle des Herrschers, des Sehers, Führers und Lehrers, nicht aber die des Jüngers zu. Zweitens verwendet er eine große Bandbreite an Strophenformen aus allen Gedichtbüchern Georges. Weil Georges Stil tatsächlich bereits ‚historisch‘ geworden ist, ist er der jungen Generation in ganz anderer Weise verfügbar. Stauffenberg imitiert stilistisch vor allem den Siebenten Ring, daneben aber auch Hymnen und Algabal, die Hirten- und Preisgedichte und das Jahr der Seele. In Ich hört euch nach dem einen der des purpurs würdig wäre fühlt sich das Sprecher-Ich „berufen“, von dem zu künden, was es „geträumt“ hat.39 Auch wenn es sich um keine stilistische Imitatio Georges handelt, übernimmt Stauffenberg dessen Propheten- und Herrschergestus (Ich bin der herrschaft nur geboren).40 Im folgenden, wohl an seinen Bruder Alexander gerichteten Spruch imitiert er den belehrenden und apodiktischen Tonfall von Georges Sprüchen und Tafeln. An A[lexander] Du bist zu froh ob neu errungnem gute So dir nicht frage gilt dass schweigen doch dem stolzen ziemte Und tust von heiligem erwähnung wann es immer sei Ob auch nicht jeder solchen wissens würdig.41
Der Angesprochene wird ganz im Sinne Georges ermahnt, vom „neu errungne[n] gute“ der Kreiszugehörigkeit zu schweigen. Es handelt sich um eine stilistische Imitatio der vierzeiligen Ta38 39
40 41
STGA, George IV, 571 und 572. STGA, George IV, 571, Sammlung Gedichte Stauffenberg Claus und Berthold, Bl. 3r. – Widmung: Für Phes von Claus im Herbst 1923. Phes ist Claus’ Name für seinen Bruder Berthold. – Textabdruck in: Peter Hoffmann: Claus Graf Stauffenberg und Stefan George. Der Weg zur Tat. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 12 (1968), S. 520–542, hier S. 522. STGA, George IV, 571, Bl. 2r. STGA, George IV, 572, Gedichte von Claus von Stauffenberg, An Phes von Claus im November 1923, Bl. 4r. – Bei Hoffmann (1968) abgedruckt ohne Überschrift.
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feln aus dem Siebenten Ring, in denen sich ebenfalls Beispiele für ungleiche Verslängen im jambischen Metrum finden.42 Ans Jahr der Seele angelehnt ist das mit Initial überschriebene Widmungsgedicht. Wiederholt reflektiert das Sprecher-Ich den Aspekt der Würde (vgl. IV,4 und Ich hört euch nach dem einen der des purpurs würdig wäre). Daraus, dass nur Wenige auserwählt sind, spricht eine elitäre Auffassung von Entscheidung und Erwählung. Der esoterische Charakter wird durch die Ermahnung unterstrichen, nicht „von heiligem“ gegenüber Dritten zu reden. Das Kriterium der Geburt (Ich bin der herrschaft nur geboren) ist keine Frage der Volkszugehörigkeit, sondern eine individuelle Eigenschaft. In diesem Spruch sind damit Maximen ausgesprochen, die Georges Gedankenwelt näher stehen als völkischem Denken. An anderer Stelle imitiert Stauffenberg den frühen George: Liegend unter enzianen lehnt sich strukturell an Hochsommer aus den Hymnen an („Ton verklang auf den altanen“) und, wegen des griechischen Frauennamens Kallophynna, auch an die Preisgedichte.43 Daneben zeigt sich Stauffenberg ebenso wie der junge Gundolf fasziniert von der Herrschergestalt Algabal. Oft ist es mir als müsst ich pläne zeichnen Von hohen unermesslichen palästen Mit rotem marmor weissen treppenhäusern Und märchenlangen lichtbesäten gängen. Dann schreitend träum ich unter hängeweiden Von dämmerdunklen kammern weichen pfühlen, Und sklavinnen in lockenden gewändern Erwarten nur den wink von herrschers sinne. Es ist dann jedes schöne weib mein eigen, Doch meiner liebsten weich und volle brüste Bei lüsterm ampelscheine schmieg ich mich Ob alle heischen küsse jener lippen.
42
43
Vgl. Stefan George: Gespenster: An H. In: SW, VI/VII, S. 166 (fünf- bis siebenhebig); Stefan George: Ernesto Ludovico: Die Sept. Mens. Sept. In: SW, VI/VII, S. 167 (fünf- und sechshebig). STGA, George IV, 571, Bl. 3v. – Textabdruck in: Hoffmann (1968): Claus Graf Stauffenberg, S. 523.
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Und sah ich satt an meiner mädchen tanze Und kostete genugsam weisse leiber Dann heb ich mich von jenen schwellenpolstern Und schreit als herr durch der gebückten reihen.44
In Hoffmanns Stauffenbergbiographie wird lediglich die erste Strophe als Beleg für den Berufswunsch Architekt des Schülers zitiert.45 Aber die eingangs vom Sprecher-Ich erträumten Paläste füllen sich in den Folgestrophen mit einem Leben, das wie eine von den Orientfiktionen des 19. Jahrhunderts inspirierte pubertäre Haremsphantasie wirkt. Das Sprecher-Ich imaginiert sich als Herrscher in einer erotisierten Kulisse. Die Rede ist von „weichen pfühlen“, „lüsterm ampelscheine“ und „schwellenpolstern“ sowie von schönen „sklavinnen“, deren „weisse leiber“ die Berührung des Herrschers ersehnen (III,4). Ähnlich wie im Algabal wird Sexualität mit Macht verbunden, wie die Konstellation von Herrscher und Sklavinnen, Körperhaltungen der Unterwerfung („der gebückten reihen“) und die sexuelle Verfügbarkeit dieser Körper signalisieren. Allerdings fehlt dem Sprecher-Ich Algabals sadistischer Zug, der allenfalls in der Nicht-Erfüllung des Wunsches der Sklavinnen, berührt zu werden, angedeutet ist. Im Algabal klingt das aber ganz anders: Männer weinten frauen stöhnten Unter deines tempels türe · Glühend baten die gehöhnten Dass dein kleid ihr haar berühre – […].46
Stauffenberg bezieht sich auf Verse wie diese, wenn aber sein Sprecher-Ich sich treu an die „brüste“ der „liebsten“ schmiegt, scheint ein bürgerlich-romantizistisches Liebesideal durch, das dem erotischen Amoralismus Algabals fehlt. Oft ist es mir als müsst ich pläne zeichnen belegt, dass Stauffenberg am Beginn seiner Kreiszugehörigkeit noch nicht völlig mit den Werten des Kreises vertraut ist. Das sexuelle Begehren des Sprechers richtet sich auf Personen weiblichen Geschlechts, 44 45 46
STGA, George IV, 572, Bl. 3v. – Textabdruck in: Hoffmann (1968): Claus Graf Stauffenberg, S. 523f. Vgl. Peter Hoffmann: Claus Schenk Graf von Stauffenberg und seine Brüder, Stuttgart: DVA, 21992 [erste Auflage: 1992], S. 55. Stefan George: Jahre und vermeinte schulden.. . In: SW, II, S. 80.
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und die Ausübung von Herrschaft wird durch das ungehemmte Ausleben der Sexualität nicht gefährdet, sondern sogar unterstützt (II,4 und IV,4). In Georges später Lyrik erscheint das Weibliche indes als Bedrohung poetischer und sozialer Ordnungen und wird planmäßig aus dem Werk ausgeschlossen.47 Es ist bemerkenswert, dass der junge Stauffenberg nicht die Rolle des Jüngers, sondern die Rollen des Führers, Vates und Herrschers wählt. Ein Grund dafür kann sein, dass er in diesem frühen Stadium seiner Kreiszugehörigkeit die Konventionen der imitierenden Lyrik noch nicht kennt. Eine tiefere Begründung könnte auch sein, dass Stauffenberg sich selbst nicht als abgeleitetes Wesen, sondern als Urgeist empfindet.48 Im Unterschied zu seinem poetisch begabten Bruder Alexander, der über Georges Tod hinaus Gedichte in dessen Stil verfasst, stellt Claus das Dichten ein. In der dritten Generation des Kreises ist dieses vorher undenkbare Nicht-Verfassen von Lyrik nicht mehr unüblich, denn die Imitatio hat sich von ihrem ursprünglich poetologischen Kontext gelöst. Stauffenbergs künstlerische Betätigung im Kreis beschränkt sich in der Folgezeit aufs Modellstehen. Sein späterer Bildungsweg ist ein Indiz dafür, dass er sich wirklich als Urgeist begreift, der als Täter politisch handelt.49 Er schlägt die Karriere des Berufssoldaten ein, das Ende ist bekannt.50 Im Prinzip ist in der Spätphase des Kreises das Kapitel stilistischer Imitatio abgeschlossen. 1929 wird kaum noch gedichtet, doch dann entsteht eine Folge von Rollengedichten, die Georges höchste Anerkennung findet: Max Kommerells Gespräche aus der Zeit der deutschen Wiedergeburt verschaffen der Kreislyrik eine Spätblüte.51 Sie knüpfen an Georges Spätstil im Neuen 47 48
49 50
51
Vgl. Ernst Osterkamp: Frauen im Werk von Stefan George. In: Merkur 62 (2008), H. 11, S. 1004–1018. Dass George ihm keinen eigenen Namen gegeben hat, wird in der Erinnerungsliteratur als Zeichen dafür gewertet, dass er in ihm mehr die eigenständige und reife Persönlichkeit als den Jünger gesehen hat. Der Täter gehört neben dem Dichter und dem Philosophen zu den drei Grundtypen von Urgeistern und agiert im politischen Feld. – Vgl. Kap. 1.1. Vgl. Hoffmann (1992): Claus Schenk Graf von Stauffenberg, S. 83f.; dort auch das Zitat aus einem Brief von Stauffenberg an George, in dem er seinen Willen zur „tat“ äußert. Max Kommerell: Gespräche aus der Zeit der deutschen Wiedergeburt, Berlin: Bondi o.J. (21942) [erste Auflage: 1929]. – Zu Kommerell und George vgl. Groppe (1997): Macht der Bildung, S. 369–381 und Matthias Weichelt: Gewalt-
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Reich und an die Gattung des Zwiegesprächs an. Der titelgebende Begriff der Wiedergeburt bezieht sich auf die Wiederentdeckung der Antike in der Weimarer Klassik. Dieselbe kulturelle Wirkung beansprucht George für sich, da die Imitatio schließlich nicht nur auf die individuelle Neuausrichtung, sondern auch auf die „Wiedergeburt des Volks“ zielt.52 Im Begriff der Wiedergeburt schwingt ein religiöser Nebenton mit. Als ein Terminus des pietistischen Erweckungserlebnisses wird er schon früh auf ästhetische Erfahrungen übertragen, beispielsweise von Goethe, der das Überwältigende seiner Italienerfahrung als „Wiedergeburt“ beschreibt.53 Die Gespräche sind in Blankversen geschrieben und bestehen aus insgesamt acht Gedichten.54 Es sind Gespräche mit wechselnden Dialogpartnern (Goethe, Herder, Schiller, Carl August, Napoleon). Zwei von ihnen haben Herder zum Mittelpunkt, vier Goethe; das zweite, Herders Krankenzimmer in Straßburg, ist ein Dialog zwischen beiden. Die Dialoge werden umrahmt von zwei Monologen, die die Reihe eröffnen und beschließen. Ihre Sprecher sind Winckelmann und Hölderlin, beide vereint in ihrer Verehrung für Griechenland. Kommerell betrachtet die Weimarer Klassik als Konstellation großer Männer. Dabei zeigt sich Kommerell insbesondere an Goethe und Herder interessiert, deren problematisches Verhältnis55 er auch in Der Dichter als Führer thematisiert. Darin wirft er Herder vor, dass ihm der pädagogische Eros gefehlt habe.56 Aufgrund mangelnder Liebe sei er seiner Verantwortung nicht gerecht geworden und habe das Anwachsen von Goethes Ruhm nicht ertragen. Die letzte Begegnung beider in Herders Sterbe-
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same Horizontbildungen. Max Kommerells lyriktheoretischer Ansatz und die Krisen der Moderne (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 232), Heidelberg: Winter 2006. Gundolf (31930): George, S. 249. Gerhard Kaiser: Pietismus und Patriotismus im literarischen Deutschland. Ein Beitrag zum Problem der Säkularisation. Zweite ergänzte Auflage, Frankfurt a.M. 1973 [erste Auflage: 1961], Vorwort, S. XV. Die Überschriften lauten: (I.) Winckelmann in Triest, (II.) Herders Krankenzimmer in Straßburg, (III.) Köln: Japachs Saal, (IV.) Weimar: Silvester 1800, (V.) Quartier zu Niederrossla, (VI.) Tag in Erfurt, (VII.) Herders Sterbezimmer, (VIII.) Hölderlin auf der Heimkehr von Bordeaux. Vgl. Hans Dietrich Irmscher: Goethe und Herder im Wechselspiel von Attraktion und Repulsion. In: Goethe-Jahrbuch 106 (1989), S. 22–52, hier S. 28. Kommerell (2[1940]): Der Dichter als Führer, S. 88.
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zimmer, die Kommerell im zweiten der Gespräche gestaltet, steht unter keinem guten Stern.57 Dass Goethe und Herder einen so großen Raum einnehmen, signalisiert ein Autorinteresse gerade an den Spannungen, denen ein Lehrer-Schüler-Verhältnis ausgesetzt sein kann. Das ist im Blick auf den dramaturgischen Ablauf verständlich, doch möglicherweise kündigen sich hier schon Kommerells eigene Konflikte an. George ist der Meinung, Kommerell, der nach dem Ausscheiden Gundolfs die Position des Lieblingsjüngers einnimmt, sei ein „Genie“,58 und erregt damit die Eifersucht Wolters’, zu dessen Schülerkreis Kommerell zählt.59 Dennoch bewirbt Wolters die Gespräche,60 während Heidelberger Kreisangehörige wie Edgar Salin sich an der engen stilistischen Imitatio Georges stören: [N]och im Januar des gleichen Jahres [1930] waren Wolters und Edith Landmann leidenschaftlich erregt und fast gekränkt, als ich überspitzt von den Gesprächen sagte: dass ein Zwerg sich hier auf die Zehen stelle, um eine ihm nicht gemässe Form und Höhe zu erreichen und dass eine schöne Form ohne entsprechenden Inhalt zumindest auf bedenkliche innere Unsicherheit weise. Die echt dichterische Anlage des Verfassers schien mir ganz unbestreitbar, – aber hier verbogen durch den Versuch, in ihm nicht gemässer Blätter-Art zu dichten. Und ich habe – mit Wolfskehl, Liegle und mit manchen jüngeren Freunden darin einig – mich dagegen verwahrt, dass ein Blätterich das Gefühl für hohe Dichtung trübe.61
Salins rückblickende Darstellung ist vom Wissen um Kommerells späteren ‚Abfall‘ gefärbt. Trotzdem ist es glaubhaft, dass sich die Rivalität zwischen den Kreisen um Wolters und Gundolf auf die Wertung der je entstehenden Lyrik auswirkt. Kommerells Übernahme der äußeren Form wird von Salin deswegen abgelehnt, weil sie ihrem Verfasser nicht „gemä[ß]“ sei und weil sie – so das zweite Argument – „das Gefühl für hohe Dichtung“, also die Rezeption von Georges Lyrik, beeinträchtige. Salin liest aus der engen Stilnachahmung den Versuch heraus, „innere Unsicherheit“ zu überspielen, und sieht seine Vermutung durch 57 58 59
60 61
Kommerell (2[1940]): Der Dichter als Führer, S. 92. Edith Landmann (1963): Gespräche mit Stefan George, S. 203. Wolters reagiert mit der säuerlichen Bemerkung: „Da müssen wir Älteren ganz bescheiden zurücktreten.“ – Edith Landmann (1963): Gespräche mit Stefan George, S. 197. Salin (21954): Um Stefan George, S. 160. Salin (21954): Um Stefan George, S. 160.
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die nachfolgenden Ereignisse bestätigt.62 Kommerells enge stilistische Imitatio wird demnach von Kreisangehörigen und von George unterschiedlich bewertet. Beide bestreiten nicht das Vorhandensein von genuiner Begabung, aber Salin plädiert für die freie Entfaltung des Ingenium. Aus der Rückschau unterstellt Salin der engen stilistischen Imitatio Kommerells sogar, dass sie Imitatio als Mimikry nutze, um innere Zweifel zu verbergen. Die unterschiedliche Bewertung enger stilistischer Imitatio ist auf die unterschiedlichen Auffassungen von Nachahmung im Kreis übertragbar. Sie werden in Kap. 2.3 weiter differenziert und systematisiert.
2.2 Imitieren und imitiert werden Imitatio verläuft für den Jünger in zwei Richtungen: Die erste Form der Nachahmung richtet sich auf George selbst, die zweite Form bezeichnet die Nachahmung durch Dritte, bei der der Imitierende selbst zum Objekt von Nachahmung wird. Daraus ergibt sich eine Herausforderung für den ‚Mittelbau‘: Wie muss eine Lyrik beschaffen sein, die sowohl George imitiert als auch selbst für stilistische und ethische Imitatio durch Andere Anschluss bietet? Eine mögliche Antwort gibt die Lyrik von Ernst Morwitz (1889–1971). Der Jurist und Berliner Kammergerichtsrat ist besonders intensiv als Erzieher tätig. Er schart in Berlin Jugendliche um sich, die er auf ein Leben im George-Kreis vorbereitet,63 und zählt zeitlebens zu Georges engsten Freunden. In späten Jahren publiziert er den zweibändigen Kommentar zu dem Werk Stefan Georges (1960).64 Seine Prägung durch George ist derart umfassend, dass es Edith Landmann, die Morwitz 1951 in Amerika besucht, so erscheint, „wie wenn es eine begegnung, noch
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64
Salin (21954): Um Stefan George, S. 160. Zu seinen jüngeren Freunden gehören die Brüder Bernhard und Woldemar von Uxkull-Gyllenband, Hans Brasch, Adalbert Cohrs, Ottmar Hollmann, Silvio Markees und die Brüder von Bothmer. – Vgl. Michael Landmann: Figuren um Stefan George II. In: Castrum Peregrini 37 (1988), H. 183, Art. Ernst Morwitz, S. 74–79, hier S. 77. Vgl. Morwitz (21969): Kommentar zu dem Werk Stefan Georges.
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einmal, mit dem Meister selbst gewesen wäre.“65 Im Alter von achtzehn Jahren kommt Morwitz zu George, nachdem er ihm eigene Gedichte zur Begutachtung gesendet hat.66 1911 erscheinen von ihm Gedichte im Verlag der Blätter für die Kunst.67 Um diese Texte wird es im Folgenden gehen. Morwitz schreibt als Jünger, Lehrer, Geliebter. Er imitiert George, wird von seinen Schülern imitiert – und George lässt sich von ihm im Zuge wechselseitiger Contagio gleichfalls beeinflussen. Bereits optisch erweist sich der Gedichtband mit einem großzügigen Seitenspiegel, der STG-Schrift und dem BlätterSignet als Kreispublikation. Bei näherer Betrachtung fallen weitere Gemeinsamkeiten ins Auge: Die Abfolge der Gedichte orientiert sich in ihrer streng zyklischen Anlage an den Gestaltungsprinzipien von Georges eigenen Gedichtbänden. Das Buch ist in drei Teile bestehend aus vierzehn Gedichten gegliedert, die je von einer Widmung eingeleitet werden. Die Buchstabenfolge der ersten Widmung, „W. B. U. G.“, ist aufzulösen in Woldemar und Bernhard von Uxkull-Gyllenband, ein Brüderpaar, dem gegenüber Morwitz die Rolle des älteren Lehrers einnimmt.68 Im ersten Teil thematisiert Morwitz seine Funktion als Lehrer, im Mittelteil seine Position als Jünger Georges. Der dritte Teil für „ferne Brüder“ ermutigt potenzielle Jünger, sich der Bewegung anzuschließen. Dem Mittelteil ist eine leicht zu entschlüsselnde Widmung „S. G.“ vorangestellt: S. G. Dir dem täter dem befreier Ist dies lied nur schwacher dank. Leihe mir zur heldenfeier Einen ton von Deinem klang.69
Bezeichnenderweise bittet Morwitz nicht um einen individuellen Ausdruck, sondern um „Einen ton von Deinem klang“, womit sich das Sprecher-Ich zum reproduzierenden Medium 65 66 67 68 69
Michael Landmann (1988): Ernst Morwitz, S. 74. Zu Morwitz vgl. u.a. Michael Landmann (1988): Ernst Morwitz und Karlauf (2007): Stefan George, S. 377–379 und passim. Ernst Morwitz: Gedichte von Ernst Morwitz, Berlin: Bondi 1911. Vgl. Karlauf (2007): Stefan George, S. 378f. Morwitz (1911): Gedichte, S. 22.
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macht. Demütig bittet es darum, die spezifische Klangfarbe des Du übernehmen zu dürfen oder vielmehr sie passiv verliehen zu bekommen. Das Gelingen der stilistischen Imitatio ist abhängig von Erwählung und Ansteckung. Erst wenn das Ich vom Klang gefüllt ist, kann es als Resonanzkörper schwingen. Dahinter steht die Vorstellung, dass der „klang“ durch Contagio auf die Jünger übertragen werde wie auf die Apostel der Heilige Geist. Das Vorbild des vom göttlichen Geist inspirierten Gebets ist evident: Auch in diesem Konzept kommuniziert Gott mit sich selbst. Morwitz übernimmt mit den vierhebigen Trochäen und der vierzeiligen Strophe die Form der Gebete I und II aus dem Siebenten Ring.70 Das dritte Gedicht des Mittelteils, Waffe werf ich fort und schild, folgt mit seinen paargereimten Zweizeilern dem naiven Duktus des Kindergebets. Insbesondere die dritte der insgesamt acht Strophen: „Augen klar und stirnen rein / Sollen Eros wächter sein“ wirkt wie ein Nachhall von: „Vater, lass die Augen Dein / Über meinem Bette sein“. Thematisch bildet es aber mit den zwei vorangegangenen Texten eine Einheit, indem es das Motiv des Kampfes und die religiösen Anleihen des Eingangsgedichts weiterführt. In jenem sechzehn Blankverse umfassenden Gedicht wird George mit Christus gleichgesetzt, der den Sprecher überwunden und damit erlöst habe. Der Anfang lautet: Jezt da du sieger bist wirst du erlöser Da ich besiegt bin wurde ich befreit: Du nahrung meine flamme zu entfesseln Stoff meines stoffes waffe meinen waffen!71
Der Wunsch nach Einswerdung („Stoff meines stoffes waffe meinen waffen“), der in seinem hymnischen Ton an Passagen des nicänischen Glaubensbekenntnisses erinnert („Gott vom Gott, Licht vom Licht, wahrer Gott vom wahren Gott“), überhöht die Nachahmung zu einem Akt der Imitatio Christi und zum – auch
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Eine Strophe aus dem ersten Gebet lautet: „Nicht verzögre · nicht verdamme! / Dir gehör ich: nimm und fodre / Dass ich fliesse dass ich lodre / Ganz in deiner weissen flamme!“ – Stefan George: Gebete I. All den tag hatt ich im sinne. In: SW, VI/VII, S. 106. Morwitz (1911): Gedichte, S. 23.
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körperlich lesbaren72 – Wunsch nach Einswerdung mit dem Geliebten. Die paradoxen Bilder und die Aussage, dass in der Auslöschung der Individualität die wahre Befreiung liege, erinnern an die Sprache der christlichen Mystik. Flamme, Sieger, Waffe können sexuell gelesen werden.73 Dieses Gedicht schickt George am 7. November 1910 an Gundolf mit dem Kommentar, es sei an der Grenze des Sagbaren,74 dazu ein zweites unter dem Titel Schlachtgebet mit den Anfangszeilen: „O ruhe lezter nacht in deinem arm / Eh das signal mich ruft in meinen frieden!“, das später ohne Titel im Stern des Bundes erscheinen wird.75 Das bereits aus Georges zweitem Gedichtband bekannte Motiv der Waffenbruderschaft wird von George und Morwitz auf die eigene Freundschaftsbeziehung angewandt. Hinsichtlich dieser parallelen Verfertigung von Gedichten ist nicht eindeutig von Imitatio zu reden, sondern eher von einem wechselseitigen Aufeinander-Reagieren (inverse Imitatio). Es gibt offenbar imitierende Praktiken, die nicht in Georges Imitatio-Modell passen, denn nur Contagio durch abgeleitete Wesen, nicht aber Imitatio von abgeleiteten Wesen ist in diesem Modell für den Urgeist vorgesehen. Das zweite Gedicht verwendet die Bilder des Schwertkampfes und der Wunde und lässt offen, ob es sich um eine geistige Auseinandersetzung oder um eine Konfrontation mit der eigenen Homosexualität handelt (II+IV): Gegen dich mein schwert sich wandte Strebte mich in dir zu richten. Mich erfasste niebenannte Gier durch dich mich zu vernichten. […] Wunden die wir uns geschlagen Heilen vor des gottes zeichen. Soll ich danken soll ich klagen Dass sich unsre wunden gleichen?76
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Vgl. Karlauf (2007): Stefan George, S. 378. – Er liest das Gedicht als biographisches Zeugnis für den Beginn einer sexuellen Beziehung zwischen George und Morwitz. Vgl. Keilson-Lauritz (1987): Von der Liebe, die Freundschaft heißt. – Keilson deutet Metaphern wie diese in Georges Werk homoerotisch. Vgl. George-Gundolf Briefwechsel, S. 210f. Stefan George: O ruhe lezter nacht in deinem arm. In: SW, VIII, S. 75. Morwitz (1911): Gedichte, S. 24.
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Aus dem Bekämpften wird das Bejahte, denn das Motiv des Schwertkampfes mündet im dritten Gedicht im gemeinsamen Kampf, den Sieger und Besiegter nunmehr als Blutsbrüder führen („Kampf und blut das sie vermählt“). Zweimal erscheint in diesen bereits zitierten, kindlich naiv anmutenden Zeilen der folgende Paarreim: Haupt an haupt und hand in hand Treten sie des gottes land.77
Dieses Land Gottes wird in den folgenden fünf Gedichten weiter ausgeführt. Sie bilden formal eine Gruppe von je gleich gebauten vierstrophigen Texten. Das erste Gedicht imitiert Georges Maximin-Lyrik und beginnt mit einer Vision des neuen Gottes. Es zitiert dabei den Schlussvers von Templer aus dem Siebenten Ring („Den leib vergottet und den gott verleibt“).78 Drängt nun zu tag im unerhörten schwall Ihr – leztes heil verlorner zeiten! Der gott verleibt wird eure welt durchschreiten Vom weib geboren und dem weib zum fall.79
Das zweite Gedicht stellt diesem strahlenden Gott der Jugend ein anderes, ‚unerlöstes‘ Bild der Jugend zur Seite, das dritte preist erfüllte Liebe, das vierte besteht aus einem Dank an den Meister. Im fünften, abschließenden Gedicht dieser Gruppe artikuliert das Ich seinen Schmerz über den Verlust seiner erwachsen gewordenen Schüler. An diese Gruppe schließt sich eine Folge von drei Sonetten an. Darin wechselt Morwitz wieder die Perspektive vom Schüler zum Lehrer. Im ersten und dritten Teil seiner Gedichte, in denen er ausschließlich als Lehrer und Führer spricht, verwendet Morwitz eine größere Variationsbreite an Strophenformen und Metren, darunter den Hexameter.80 Möglicherweise spiegeln die jeweils gewählten Formen den jeweiligen Grad von Abhängigkeit (in imitierenden bis hin zu ‚regredierenden‘ Formen wie dem Kindergebet) bzw. von Selbstausdruck 77 78 79 80
Morwitz (1911): Gedichte, S. 25. Stefan George: Templer. In: SW, VI/VII, S. 52f., hier S. 53. Morwitz (1911): Gedichte, S. 26. Schon naht wieder der tag · schon steigt im seligen meer. In: Morwitz (1911): Gedichte, S. 47.
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und somit die jeweils angenommene Sprechhaltung des Jüngers oder des Lehrers. Doch auch dort, wo Morwitz als Lehrer spricht, finden sich Beispiele für stilistische George-Nachahmungen; sie sind aber deutlich freier schon in ihrer formalen Anlage und führen im folgenden Beispiel sogar zu einer thematischen Umdeutung des bei George Vorgefundenen. Nachts im ruhelosen sinnen folgt in Sujet und Reimstruktur Jedem werke bin ich fürder tot. Beide Gedichte seien vergleichend einander gegenübergestellt. Jedem werke bin ich fürder tot. Dich mir nahzurufen mit den sinnen · Neue reden mit dir auszuspinnen · Dienst und lohn gewährung und verbot · Von allen dingen ist nur dieses not Und weinen dass die bilder immer fliehen Die in schöner finsternis gediehen – Wann der kalte klare morgen droht.81 (George) Nachts im ruhelosen sinnen Schwör ich euch nicht mehr zu nahn: Nicht begierig zu gewinnen Euch in netze einzuspinnen Fäden traum und knoten wahn. Doch wenn die sonne über den strassen steht Durch die euer fuss voll verschwendender anmut geht Lockt mich ein ruf von innen aus schatten und tor Stürm ich verwandelt · stürz ich bezaubert vor. Eide vergess ich. Wer ist der gott dem ich schwor? Hier ist der gott der durch euch mich zum künder kor Hier seine sonne die über den strassen steht Strassen verklärt und entzündet durch mein gebet.82 (Morwitz)
Während Georges Sprecher-Ich nachts die Nähe zu einem begehrten Du imaginiert, welche sich tagsüber als Illusion erweist, versucht das Ich bei Morwitz umgekehrt gerade nachts, sich von 81 82
Stefan George: Jedem werke bin ich fürder tot. In: SW, III, S. 85. Morwitz (1911): Gedichte, S. 9.
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den geliebten Schülern fortzureißen. Bei George klagt der Sprecher über die reine Fiktionalität der innigen Gemeinschaft; die schönen Träume fliehen, „[w]ann der kalte klare morgen droht“.83 Morwitz führt in zwei folgenden, auch metrisch von der ersten abgesetzten Strophen die Situation anders weiter, und zwar in Gegenbewegung zu Georges Text. Der sonnige Tag und die Gegenwart der Geliebten bezaubern das Ich und machen alle nächtlichen Distanzierungsversuche zunichte. Morwitz kehrt motivisch insofern die Blickrichtung um, als seine Liebe dem Tageslicht standhält. In Georges Gedicht wird das Aussichtslose der Liebe (in der Rollenverteilung des Zyklus: der Liebe eines Mannes zu einer Frau) dadurch betont, dass diese Liebe nur in den nächtlichen Wunschträumen des Ich einen Raum hat. Dem Leser signalisieren die Aufwertung der „schöne[n] finsternis“ und die Abwertung des „kalte[n]“ Morgens die verkehrte Wahrnehmung des Sprechers. Während das sprechende Ich in Georges Gedicht als krankhaft verstrickt erscheint und die Wahrheit des Morgenlichts flieht, sind in Morwitz’ Text zwar die nächtlichen Imaginationen ebenso trugbildhaft, aber ihre Verkehrtheit besteht eben darin, dass sie raten, die Liebe aufzugeben. Das gottgesandte Sonnenlicht repräsentiert eine höhere Instanz, die sowohl die Nacht als auch die nächtlichen Trugschlüsse der geschworenen „Eide“ entkräftet und das SprecherIch zum Verkünder des Eros und der Jugend macht. Dass das Gebet des Ich, nachdem es von der göttlichen Sonne erleuchtet wurde, nunmehr seine Umgebung „entzündet“, deutet an, dass Morwitz hier in seiner Position als Lehrer spricht. Die eigentliche Quelle seiner Inspiration ist die erotische Anziehung durch das Brüderpaar, das – so weit reicht der lebensweltliche Bezug dieses Gedichts – als das von Morwitz betreute und in der Nachbarschaft wohnende Paar der Brüder Bernhard und Woldemar von Uxkull identifiziert werden kann. Erotische Inspiration geht demnach sowohl von der Schüler- als auch von der Lehrerposition aus, und selbst die stilistische Imitatio ist für beide Richtungen offen: In den Blättern erscheinen Gedichte der beiden Uxkulls und Morwitz’ in der Druckanordnung aufeinander bezogen. 83
Stefan George: Jedem werke bin ich fürder tot. In: SW, III, S. 85.
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Was die stilistisch imitierenden Elemente im vorliegenden Beispiel anbelangt, so betreffen diese nur den Beginn des Gedichts. Man könnte von einer Variation, Adaption oder thematischen Fortspinnung eines gegebenen Themas sprechen.84 Zwar verwendet Morwitz andere Strophenformen, aber das beinahe identische Reimwort „auszuspinnen“ bzw. „einzuspinnen“ und die dichte Aufzählung „Dienst und lohn gewährung und verbot“ bzw. „Fäden traum und knoten wahn“ sowie die nächtliche Dialogsituation mit dem imaginierten Liebesobjekt machen die stilistische und thematische Abhängigkeit deutlich. Da das Begehren in Jedem werke bin ich fürder tot aus dem Zyklus der Hängenden Gärten eindeutig erotisch ist, bringen die Allusionen an jenes Gedicht eine zusätzliche Dimension in das LehrerSchüler-Verhältnis. Die Strukturen des Begehrens gestalten sich gegenläufig: Nicht Morwitz ist derjenige, der das Begehren der Schüler auf sich zieht, sondern er ist derjenige, der sein Begehren ausspricht und damit psychologisch gesehen bzw. im Sinne Girards für Imitatio unattraktiv wird. Vom Standpunkt des Imitatio-Modells aus betrachtet ist der Eros dagegen legitim, da er ein Transportmittel für den Austausch bzw. die Weitergabe des „lebensrhythmus“ ist. Morwitz setzt sich in Gedichten wie diesen, ähnlich wie George, mit seiner Rolle als Meister bzw. Lehrer auseinander, aber er reflektiert und bezweifelt in höherem Maße seine eigene ‚Lehrbefugnis‘. Immer wieder befallen den Sprecher Selbstzweifel. Er sieht sich als Leidenden für seine Schüler, die seine Liebe und seine Entbehrungen nicht wahrnehmen und deren Schönheit für ihn eine Quelle der Wonne und des Schmerzes ist. Gesten der Hingabe und der Entsagung sind zwar aus Georges Lyrik vertraut. Ein signifikanter Unterschied aber ist, dass bei Morwitz Mahnungen, Lehrsprüche und Anforderungen an seine Schüler fehlen. Nur an einer Stelle spricht er den Wunsch aus, sie zu belehren. Er will ihnen dabei helfen, ihr göttliches Potenzial zu entfalten („Dass ich euch lehre was euch zu göttern erhöht!“),85 von dem er bereits jetzt überwältigt ist. Pointiert 84
85
Der Begriff Gegenentwurf wäre zu stark und ginge am Kern der Sache vorbei, da beide Gedichte eine in ihrer Ambivalenz vergleichbare Gefühlslage ausdrücken. Morwitz (1911): Gedichte, S. 17.
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gesagt behält Morwitz auch in seiner Lehrerstellung die Eigenschaften eines Jüngers bei. Etwas anders gestaltet sich das Verhältnis im dritten, an „ferne Brüder“ gerichteten Teil der Sammlung. Ihnen gegenüber wahrt Morwitz eine größere innere Distanz. Das einleitende Widmungsgedicht lautet: Euch · ferne Brüder · die noch auf erlösung warten Wird keine hilfe durch traum und gedicht! Nehmt diese schau vom wunder des schmerzlich Erharrten Nur als ruf zu eurer hier-winkenden pflicht!86
Die Anrede „Nehmt diese schau […] als ruf“ an die dem Imitatio-Zusammenhang noch Fernstehenden zeigt, dass Morwitz ihnen gegenüber als Führer auftritt. Indem er sie als noch unerlöste Brüder begreift, deutet er an, dass sie von dem Moment an, an dem sie sich ins Imitatio-Modell einreihen, ihm hierarchisch gleichgeordnet sind. Während die ersten beiden Teile die Imitatio im Liebesverhältnis zwischen Meister und Jünger bzw. Jünger und Schüler aufzeigen, erscheint im dritten Teil der Wirkungsbereich erweitert und das Moment der Lehre stärker konturiert. Daher ist es folgerichtig, dass Morwitz verstärkt imperativische Rede nutzt. Der Sphäre der Imagination („traum und gedicht“) spricht Morwitz die Fähigkeit zur Erlösung ab. Das gilt auch für seine eigene Lyrik: „Nur“ als „ruf“ führe sie zu einer nicht näher benannten „pflicht“. Seine Lyrik hat, so könnte man daraus folgern, keine poetische Eigenqualität, sondern ist funktional gebunden. Sie dient einzig der Verbreitung von Georges Botschaft. Die Abwertung von Traum und Gedicht zugunsten der Pflicht deuten eine Vita activa an. Auf der anderen Seite macht Morwitz deutlich, dass das „wunder“ der „erlösung“ passiv „[e]rharr[t]“ werden müsse. Obwohl die fernen Brüder durch Exercitatio dazu beitragen können, bleibt die Erwählung durch George ein Gnadenakt. Was das Sprecher- Ich anbelangt, so ist es zwar zur „schau“ fähig und hat das „wunder“ erfahren, kann es aber mit seiner Lyrik nicht adäquat weitergeben. Gemäß der Vorstellung des Imitatio-Modells geschieht die Weitergabe an Außenstehende deswegen durch Lehre; das Charisma des Urgeists geht nur durch persönliche Berührung 86
Morwitz (1911): Gedichte, S. 38.
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auf den anderen über. Morwitz verwendet zwar die Dichterrolle des Vates, aber es ist die untergeordnete Prophetenrolle Johannes des Täufers. Anders als George kündet er nicht von sich selbst. Morwitz imitiert in Gedichte George sowohl ethisch als auch stilistisch. Dabei setzt die ethische Imitatio der stilistischen gewisse Grenzen. Denn eine vollständige stilistische Angleichung oder gar Aemulatio oder die Annahme von Sprechrollen des Urgeists würde das Abhängigkeitsverhältnis auflösen. Morwitz übernimmt zwar partiell die Rollen des Lehrers und Propheten, aber weil er als abgeleitetes Wesen keinen direkten Zugang zum „Göttlichen“ haben kann, nimmt die Person Georges selbst den Platz ein, den beim Urgeist die Substanz hat. Das deutungsoffene poetische Symbol wird in den Gedichten der Jünger nicht aus Unvermögen durch die Person Georges und die Position im Imitatio-Modell ersetzt, sondern aufgrund der Struktureigenschaften jenes Gefüges. Das kann sich negativ auf die Qualität der Texte auswirken, weil es keine ästhetischen Dunkelheiten gibt: keine offenen Stellen, kein Geheimnis, keine mallarmésche Suggestion. Ebenfalls folgt daraus eine Beschränkung des lyrischen ‚Rollenverhaltens‘ und des Repertoires an möglichen Themen.87 Weil Morwitz sich als abgeleitetes Wesen definiert, kann er nur begrenzt schöpferisch tätig werden. Wodurch Morwitz aber George selbst beeinflusst (der ihn imitiert) und wodurch wechselseitige Contagio möglich wird, ist Morwitz’ Homosexualität. Sie begünstigt offenbar das Phänomen der inversen Imitatio. Dieses Einverständnis wird befördert durch eine aufgrund der Homosexualität gegebene ähnliche Erlebniswelt. Der körperliche Austausch führt zum Austausch von Versen, in denen Morwitz’ Gedichte auf Georges und Georges Gedichte auf diejenigen von Morwitz stilistisch und motivisch reagieren. Im Verhältnis zwischen George und Morwitz wird die Grenze zwischen Contagio als einem geistigen Konzept und einer sexuellen Konkretisation überschritten. Bevor nach diesen mit dem Imitatio-Modell konform gehenden Imitationen die graduell abweichenden Texte untersucht werden (vgl. Kap. 2.4 und 2.5), systematisiert der folgende Ab87
Ähnlich auch Durzak (1969): Epigonenlyrik. – Durzak konstatiert die thematische Verengung auf George und das Kreisleben, ohne nach den strukturellen Gründen zu fragen.
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schnitt die bereits mehrfach angesprochenen Differenzen im Kreis und die damit verbundenen intertextuellen Übernahmen verschiedener Motive und Themen.
2.3 Perfektionierung, Idealisierung, Regulierung Dieses Kapitel hat den Eingang poetologischer Vorstellungen auf Bildungskonzeptionen des Kreises und die Rückwirkung ebendieser Bildungskonzepte auf die im Kreis entstehende Lyrik zum Gegenstand. Auf welche Weise seine Anhänger ihre Verbundenheit mit George ausdrücken, sagt viel über ihr jeweiliges Verständnis von Nachahmung aus. Ethische Bildungskonzeptionen finden in poetologischen Konzepten ihre Fortsetzung und umgekehrt. Ausgehend von dem Metapherngebrauch lassen sich in einer ersten pauschalen Einteilung zwei Richtungen unterscheiden: eine organische und eine plastische. In der ersten dominieren Keim- und Wachstumsmetaphern, in der zweiten dominieren Metaphern aus den Bereichen der bildenden Kunst und der Architektur wie Meißeln, Formen und Bauen. Für beide Vorstellungsbereiche – sie seien unter den Begriffen Keim versus Form subsumiert – stellt Georges Lyrik Anknüpfungspunkte bereit. Bei George sind Reflexionen über die Entstehung von Form poetologisch motiviert, bei seinen Jüngern nicht. Ihre Gedichte sind, auch wenn sie poetologische Metaphern verwenden, keine poetologische Lyrik, sondern selbstreflexiv in anderer Hinsicht: Sie reflektieren den eigenen Bildungsprozess. Je nachdem, welche Motive sie verwenden, deuten sie diesen als einen Prozess von innen nach außen (Keimen) oder als einen Prozess von außen nach innen (Formen). Innerhalb dieser zwei Klassen gibt es weitere Subkategorien. Die folgende Terminologie berücksichtigt Georges Eigenbegrifflichkeit, geht aber analytisch darüber hinaus. Sie beschreibt die verschiedenen poetischen und pädagogischen Konzepte und zugleich die entstehenden Texte. Sie dient zudem der Beschreibung von Extrempositionen innerhalb der dritten Kreisgeneration, die ihrem Selbstverständnis nach Georges Maßgaben folgen, de facto aber seine eigene Position überschreiten. In der organischen Richtung bestehen Differenzen je nachdem, ob Wachstum als weitgehend autark oder als gerichtet be-
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griffen wird. Ersteres bezeichnet die Überzeugung, dass sich die Lyrik bzw. der Mensch aus einem genetischen Bauplan heraus entfaltet. Der vitalistische Leitdiskurs der klassischen Moderne folgt diesem Gedanken, dass das Leben sich ohne Einwirkung von außen seine Form gebe. Auf den Bildungsprozess bezogen ist dem Verständnis des Kreises nach nur eine Minderheit für ein solches Wachstum ausgestattet. Es betrifft nur die Urgeister, die sich aufgrund ihrer besonderen Anlage selbst perfektionieren und in keinem Abhängigkeitsverhältnis zu anderen stehen. Dieses Modell kennt nur einen Akteur. Das zweite Bildungskonzept innerhalb dieser Klasse betrifft bereits die abgeleiteten Wesen und beschreibt Bildung als ein Miteinander zweier Akteure. Die innere Form des Bildungsnehmers entfaltet sich mithilfe eines Bildungsgebers, der den Wachstumsprozess fördernd begleitet und optimale Rahmenbedingungen schafft. In der Kreislyrik findet sich für diese vorzugsweise George zugeschriebene Tätigkeit häufig das Bild des Gärtners. Diesem Konzept entspricht im Imitatio-Modell das Verhältnis zwischen Urgeist und Jünger. Entscheidend ist für die Abgrenzung von den zwei nachfolgenden Konzeptionen, dass in beiden Fällen Bildung als ein von innen nach außen wirkender Prozess aufgefasst wird, in dem sich eine im Individuum angelegte individuelle Form entfaltet. Die plastische Richtung, der die unbelebte Natur als Bildspender dient (Stein, Ton, Metall), konstituiert sich aus zwei Unterkategorien. Zwei Auffassungen von Formgebung, die in der vorliegenden Studie als platonistisch und aristotelisch bezeichnet werden, unterscheiden sich darin, ob durch den Akt des Formens ein schon vorhandener Kern freigelegt oder ob eine gegebene Gestalt von außen appliziert wird. Der Begriff Idealisierung bezeichnet hier nicht das tatsächliche Erreichen eines Ideals, sondern lediglich die bestmögliche Annäherung an dieses Ideal unter Berücksichtigung sämtlicher limitierender Faktoren. Der Bildungsgeber fördert diesen Idealisierungsprozess. Bei der organischen Auffassung von Idealisierung dient Imitatio der Entfaltung eines je individuellen Ideals, bei der plastischen Auffassung von Idealisierung wird Imitatio als Freilegen eines platonistisch aufgefassten Ideals verstanden. Beide gehen davon aus, dass die ideale Form, auf welche hin sich das Individuum entwickelt bzw. gebildet wird, implizit bereits im Individuum enthalten ist. Der Urgeist ist dieser Vorstellung zufolge aufgrund
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seiner Fähigkeit zum mimetischen Sehen fähig, diese innere Form zu erkennen und die Entwicklung dorthin zu begleiten. Idealisierung setzt sowohl die Aktivität des Bildungsgebers als auch des Bildungsnehmers voraus. Im aristotelischen Formen wird demgegenüber auf individuelle Prädisposition keine Rücksicht genommen. Die zu erreichende Form wird unabhängig davon definiert. In diesem als Regulierung bezeichneten Extrem ist der Bildungsnehmer nur noch passiv am Erreichen des Bildungsziels beteiligt. Alle vier Bildungskonzepte sind im folgenden Schaubild zusammengefasst. Die Zuordnung zu den drei Kreisgenerationen ist eine vereinfachte Zusammenfassung der in Kap. 1.5 beschriebenen Entwicklung. Das dunkelgrau Unterlegte spiegelt die Positionen im Imitatio-Modell und die Wechselwirkung von Urgeist und Jünger. Lediglich die beiden als Idealisierung bezeichneten Bildungskonzepte entsprechen dem Verständnis von Nachahmung für die abgeleiteten Wesen ersten Grades im ImitatioModell.
Abb. 3: Wechselwirkung der Akteure
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Den vier genannten Kategorien sind im Schaubild vier Namen zugeordnet, die stellvertretend für die entsprechenden Richtungen stehen. Wolfskehls Position ist diejenige der ersten Generation, die noch keine Theorie der Imitatio kennt. Wolfskehl versteht unter poetischem und geistigem Wachstum die Vervollkommnung als autarke Entfaltung einer inneren Form. Perfektionierung ist im späteren Imitatio-Modell dem Urgeist vorbehalten. Gundolf paraphrasiert mit Bezug auf die Entwicklung des Urgeists in der programmatischen Einleitung seines GoetheBuchs den Goethevers „Geprägte Form, die lebend sich entwickelt“ (es handelt sich um den letzten Vers von AIMN aus dem Zyklus Urworte. Orphisch). Goethes Werden betrachtet er als Entfaltung der in ihm keimhaft angelegten Form.88 Indem er Goethes Rede vom „Dämonischen“ (S. 3) aufgreift, deutet er eine übernatürliche Begnadung an, welche den „Urgeist“ (S. 26) schaffe und welche zugleich als schöpferische Kraft in diesem Menschen beschlossen sei. Sein autarkes Wachsen sei abhängig von äußeren Faktoren: [D]ie Art wie diese Gestalt, die von innen her sich nach einem notwendigen Gesetz auswirkt, in die fremde äußere Wirklichkeit tritt, sich mit ihr durchdringt, sich ihr anpaßt oder ihr ausweicht, – denken wir immer an den Weg der Pflanze vom Samen bis zur Reife – wird bezeichnet durch Tyche, das Zufällige […].89
Diese Bildungskonzeption ist dem Prinzip der offenen Gestalt im Sinne der pflanzlichen Morphogenese vergleichbar und zeigt, dass auch bei der Perfektionierung geistiges Wachstum nicht völlig unabhängig von äußeren Umwelteinflüssen verstanden wird. Sie haben aber bei den Urgeistern weitaus weniger Gewicht als bei den Alltagsmenschen. Gundolf steht – um zur organischen Idealisierung zu kommen – Wolfskehl nahe, denkt aber bereits in den Kategorien des Imitatio-Modells. Weil Gundolf zwischen schöpferischen Geistern und abgeleiteten Wesen differenziert, greift Wolfskehls autonomes Bildungsideal nicht mehr. Natürlich können minder begabte Individuen sich bilden und entwickeln, aber sie sind dazu auf den Kontakt zum Urgeist angewiesen. Der Prozess der 88 89
Gundolf: Goethe, Berlin: Bondi 111922 [erste Auflage: 1916], S. 1–9. Gundolf bezieht sich wiederum auf Goethes Zyklus, wenn er als bedingende Kräfte TYXH und ANAKH nennt. – Gundolf (111922): Goethe, S. 15f.
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Idealisierung ist zwar auch nach Gundolfs Auffassung die Ausbildung angelegter Merkmale. Das abgeleitete Wesen strebt nach Entfaltung seiner inneren Form und wird dabei vom Urgeist gelenkt. Der Bildungsgeber erkennt aufgrund seiner besonderen Erkenntnisfähigkeit die Form, auf die das jeweilige Individuum hin angelegt ist, und trägt es als Idealform an den Bildungsnehmer heran. Die Bindung zwischen den beiden Akteuren ist eine emotionale, die über ein pragmatisches Trainerverhältnis hinausgeht. In Gundolfs Konzeption muss es den magischen Moment der Contagio gegeben haben, der den Wunsch zur Nachfolge und zur imitierenden Annäherung an das Ideal weckt. Die Unterschiede zwischen dieser und der folgenden Spalte sind trotz des Perspektivwechsels vom Keimen ‚von innen nach außen‘ hin zum Formen ‚von außen nach innen‘ vergleichsweise gering. Edith Landmann geht stärker als Gundolf vom Objekt aus. Zugrunde liegt die Idee einer präexistenten Form (ähnlich dem Platonismus in Plotins Enneaden). Diese platonistische Auffassung von Form ist dialektisch. Form ist etwas objektiv Gegebenes, das unabhängig vom Individuum existiert – daher die Perspektive von außen nach innen –, aber sie wird erst im Individuum realisiert. Auch in dieser Auffassung von Idealisierung gibt es zwei Akteure, aber ihre Interaktion ist verglichen mit Gundolf distanzierter. Der Bildungsgeber gibt das zu erreichende Ziel vor, der Bildungsnehmer sucht es durch Exercitatio zu erreichen. Beide wirken zusammen im Freilegen der inneren Form. Das klingt bei Landmann etwa so: George aber geht unter der Jugend herum wie ein Bildhauer in einem Steinbruch, er prüft und sichtet, wo ein Block sich finde, aus dem seine Statue sich formen lasse, er tut prüfend die ersten Schläge und läßt liegen, was nicht schön genug hervorgeht. Wo aber ein Material sich als tauglich erweist, da arbeitet er an ihm als Künstler, mit nicht ermüdender Geduld, durch Jahre. Nicht an der Ausbreitung seiner Lehren liegt ihm, sondern daran, Menschen zu formen nach seinem Bilde, von Grund aus.90
Das Bildungskonzept von Wolters kennt weder Exercitatio noch Contagio, sondern (konträr zu Landmann) die Lehre. Bildung bedeutet gemäß dieser aristotelischen Auffassung, dass nur der Bildungsgeber agiert: Wie ein Architekt entwirft er ein abstrak90
Edith Landmann (1920): Georgika, S. 83f.
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tes Modell, das er auf ein passiv bleibendes, zu formendes Wesen überträgt. Form bezeichnet hier gemäß der aristotelischen Formursächlichkeit ein abstraktes theoretisches Muster. Mit einem solchen Verständnis von Bildung als Regulierung ist Breitenwirkung möglich, weil die individuelle Beschaffenheit des Bildungsnehmers keine Rolle mehr spielt und kein Bildungsgeber das jeweilige Ziel des Bildungsprozesses individuell anpassen muss. In den drei vorhergehenden Positionen geht es um das innere Gesetz, die individuelle Idealform des Bildungsnehmers, in der vierten Position geht es um ein schriftlich fixiertes Gesetz, um eine theoretische Vorgabe des Bildungsgebers. Allenfalls ließe sich diese Extremposition im Rahmen des Imitatio-Modells mit dem Verhältnis zur „Herde“, den abgeleiteten Wesen zweiten Grades, in Verbindung bringen. Das Imitatio-Modell berührt diese Breitenwirkung nur am Rande, weil sie kein schöpferisches oder ethisches Potenzial mehr birgt. Georges Lyrik stellt sowohl für den organischen als auch für den plastischen Bildungsgedanken Anknüpfungspunkte bereit. Keimen und Formen sind bei George in stärkerem Maße als in den Gedichten des Kreises poetologische Begriffe, greifen aber im Zuge der Entstehung des Imitatio-Modells auf soziale Bildungsprozesse über. Zunächst soll es um die organische Metapher des Keimens und ihre poetologischen und pädagogischen Kontexte in Georges Lyrik und in der Lyrik seines Kreises gehen. In einem zweiten Schritt soll dasselbe mit der Metapher des Formens geschehen. Keimen ist ein Zentralbegriff in Georges Lyrik. Viele seiner Naturgedichte thematisieren den Keim-Monat, die Schwellenzeit zwischen Winter und Frühjahr. Häufig wird damit menschliches Wachstum verknüpft („Sei rebe die blümt“91). In Neuen adel den ihr suchet heißt es: „Stammlos wachsen im gewühle / Seltne sprossen eignen ranges“, die an „der augen wahrer glut“ erkannt werden können.92 Der neue Adel ist nicht von der biologischen Abstammung abhängig, sondern von der Präsenz der Substanz, „der augen wahrer glut“. Der geistige Keim ist dem körperlichen vorgelagert, auch wenn er sich körperlich konkretisiert. Daher wäre es unsinnig, bei Georges Keimmetaphorik, 91 92
Stefan George: Sei rebe die blümt. In: SW, V, S. 84. Stefan George: Neuen adel den ihr suchet. In: SW, VIII, S. 85.
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wie Norton es tut, von Klonen zu sprechen. Beim Klonen wird nur der Körper reproduziert, aber nicht das, was George unter Substanz versteht. Gentechnik brächte dieser Auffassung zufolge keine Idealisierung, weil der Keim eine unverfügbare individuelle Anlage ist, die allenfalls im Wachsen befördert werden kann. Zur Ambivalenz Georges gehört aber auch, dass diesem Gedicht das berüchtigte Mit den frauen fremder ordnung folgt („Mit den frauen fremder ordnung / Sollt ihr nicht den leib beflecken“). Betrachtet man jedoch den Kontext im dritten Buch aus dem Stern des Bundes, so relativiert sich diese Aussage. In Dies ist reich des Geistes: abglanz heißt es, dass das geistige Reich durch Erwählung gegründet werde und nicht durch biologische Abstammung.93 Die weltzeit die wir kennen schuf der geist wertet nochmals die biologische Geburt zugunsten der geistigen Geburt ab. Das „weib im stoffe“ wird zwar als „kein mindres heiligtum“ als der Mann bezeichnet, aber „der geist / Der immer mann ist“ wohne nicht in der Frau, weshalb sie unfähig zur Staatsgründung sei. Die Contagio zur Durchsetzung der neuen Zeichen des Urgeists und zur Errichtung einer neuen, geistigen Kultur könne demzufolge nur von Mann zu Mann erfolgen: „Das weib / Gebiert das tier · der mann schafft mann und weib“.94 Schaffen wird dem Gebären entgegengesetzt und als ihm überlegen gekennzeichnet. Diese Auffassung deutet auf eine Dialektik von Keimen und Formen, wie sie für Georges Werk typisch ist und wie sie im ergänzenden Miteinander von Exercitatio und Contagio deutlich wird.95 In den Gedichten der Kreisangehörigen lässt sich schon an der jeweils dominierenden Metaphorik – plastisch oder organisch – ablesen, wie sie sich im Blick auf die Imitatio positionieren. Ausgehend von Der Freund der Fluren96 wird George in vielen Gedichten seiner Jünger als Gärtner oder Ackerbauer 93
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„Durch die sendung durch den segen / Tauscht ihr sippe stand und namen / Väter mütter sind nicht mehr.. / Aus der sohnschaft · der erlosten · / Kür ich meine herrn der welt.“ – Stefan George: Dies ist reich des Geistes: abglanz. In: SW, VIII, S. 83. Stefan George: Die weltzeit die wir kennen schuf der geist. In: SW, VIII, S. 96. Formen und Keimen werden teilweise auf engstem Raum nebeneinander gestellt: „Neugestaltet umgeboren / Wird hier jeder […]“ (3f.) – Stefan George: Dies ist reich des Geistes: abglanz. In: SW, VIII, S. 83. Stefan George: Der Freund der Fluren. In: SW, V, S. 38.
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imaginiert, der ihr Wachstum begleitet.97 Dahinter steht die Idee gerichteten Wachstums, denn die Landschaft der Weinstöcke und Kornfelder ist eine kultivierte Natur. Unmittelbar vor Der Freund der Fluren schildert das Gedicht Urlandschaft die Anfänge von Ackerbau und Viehzucht in mythischer Vorzeit („Erzvater grub erzmutter molk“).98 Die Vorsilben urbzw. erz- suggerieren eine Nähe zu den Wurzeln des Lebens. Aber die Landschaft wird vom Menschen urbar gemacht: Schon die ersten Menschen sind als Kulturschaffende tätig. In diesen Gedichten zeigt sich, dass Keimen und Formen bei George dialektisch aufeinander bezogen sind. In Der Freund der Fluren sind diese Vorgänge auf die Menschenbildung übertragbar, denn sie bilden ein Verweissystem, das auf christliche und antike Bildungskonzeptionen referiert. Der „Freund der Fluren“ geht durch die Felder, prüft die Frucht, bindet die schwachen Reben an stärkere, um ihnen Halt zu geben, bricht einer „ranke überkräfte“,99 stützt junge Bäume und spendet Wasser. Seine Tätigkeit im Weinberg erinnert an Georges heimische Rheinlandschaft und zugleich an die christliche Vorstellung von Christus als Gärtner. Es ließen sich Bezüge zum Gleichnis vom Weinstock finden, in welchem das Brechen der Reben dem Verwerfen der unwürdigen Jünger gleichkommt.100 Georges Weinbauer prüft die „gelben körner“ nur „mit der lippe“, um zu testen, ob sie schon reif sind (I,4). Dieses Bild hat antike Wurzeln: Platon vergleicht in seinem Dialog Euthyphron die Bildung der Jugend mit der Sorge für junge Pflanzen.101 Edith Landmann nennt ihre Monographie Georgika in Anspielung auf Vergils Buch über den Landbau und die (Bienen-) 97
98 99 100 101
George greift mit seinem Gärtnergedicht ein Motiv aus Wolfskehls Gedicht Erfüllung von 1896 auf („Segnend schreitet der Meister übers gefilde / Blaugewandet mit dem blick der milde“). – Vgl. Salin (1954): Um Stefan George, S. 169. Stefan George: Urlandschaft. In: SW, V, S. 37. Stefan George: Der Freund der Fluren. In: SW, V, S. 38. Korn und Rebe wecken Assoziationen an die Eucharistie. „Denn ganz recht ist es, zuerst für die Jugend zu sorgen, daß sie aufs beste gedeihe; wie auch ein guter Landmann immer zuerst für die jungen Pflanzen sorgt, und hernach für die übrigen.“ – Platon: Euthyphron, 2d. In: Platon, Ausgewählte Werke, Nach der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher, Bd. 1 (Klassiker des Altertums, 1. Reihe 23), München: Georg Müller 1913, S. 1.
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Staatskunst.102 Die Gegenstände der ersten Gesänge Vergils, Ackerbau, Baumpflege und Weinbau, werden auch in Georges Der Freund der Fluren berührt.103 George wird in Landmanns Georgika einmal als „Landmann, der säet“104 bezeichnet. Der mit dem Titel ihrer Studie gegebene Bezug auf Vergil und die Staatskunst verweist darauf, dass formende Einwirkung von außen das Wachsen des Keims begleitet.105 Der Freund der Fluren hat für die folgende Passage aus Edgar Salins Erinnerungsbuch unverkennbar Pate gestanden. Hier schlägt das Bild aber unversehens um und wird mit der im Schaubild Wolters zugeordneten Position überblendet. Etwas von der Sorgsamkeit des erfahrenen Gärtners lag in der Art von Georges Umgang mit seinen Freunden und mit den Menschen, – des Gärtners, der in der einzelnen Pflanze die Gattung und die Eigenheit bedenket, der das ihr zuträgliche Erdreich kennt und die förderliche Nahrung, der sie im Schatten wie in der Sonne hegt und sie für Wind und Wetter kräftigt, der dem Unkraut wehrt und mit dem gleichen Messer gefährliche Schösslinge schneidet und der, trauernd vielleicht – doch ohne Erbarmen, die Pflanze ausreißt, die schlechte Frucht treibt oder durch ihre Krankheit die heilen Nachbarstämme gefährdet.106
Das ‚gute Wachsen‘ meint nicht mehr die optimale Zurichtung des als wertvoll erkannten Einzelnen, sondern umfasst plötzlich auch Zucht eines Stammes nach den Kategorien heil oder krank, gut oder schlecht, Pflanze oder Unkraut. Gutes Wachstum rückt in die Nähe einer rassentheoretischen Neuinterpretation des Bildungsgedankens von „auswahl und zucht“.107 Zwar beschreibt bereits Cicero pädagogisches Wirken als Cultura animi (‚Beakkerung des Geistes‘): Nicht alle bebauten Geister trügen Frucht, sie müssten zugerichtet werden wie Böden, indem das Unkraut 102
103 104 105
106 107
Edith Landmann (1920): Georgika. – Außerdem verknüpft sie in der anonym erschienenen Schrift auf diese Weise ihren eigenen Namen (Landmann) mit demjenigen Georges. Der „Freund der Fluren“ kümmert sich um die Körner, Reben und Bäume. Edith Landmann (1920): Georgika, S. 84. Im Miteinander von Keimen und Formen bei Landmann zeigt sich, dass ihre Auffassung und diejenige Gundolfs sehr eng beieinander liegen. Landmann spricht auch gelegentlich vom Keimen, Gundolf vom plastischen Formen. Die Bildungskategorien im vorstehenden Schema sind idealtypisch zu verstehen. Salin (1954): Um Stefan George, S. 34. George versteht darunter im Kontext des Briefes das auswählende Abwägen dessen, was für die individuelle Bildung notwendig sei, und Zucht im Sinne von Selbstdisziplin. – Vgl. George-Hofmannsthal Briefwechsel, S. 158.
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herausgerissen werde.108 Das Unkraut bezeichnet aber den Wildwuchs im Kopf des einzelnen Heranwachsenden und kein unwertes Leben innerhalb der Gruppe der Heranwachsenden. Schaeffer und Strauß decken mit ihrer parodistischen Verzeichnung der Tätigkeit des Dichter-Gärtners im Garten, „[w]o emsig er zu seiner kinder heil / Die kranken blumen knickt mit scharfem beil“, das Unverhältnismäßige dieser gartenpflegerischen Zurichtung auf.109 Die Zurichtung ist keine Pflege an der einzelnen Pflanze, sondern die Pflege des gesamten Gartens (Kreises) auf Kosten ganzer Pflanzen (Kreismitglieder). Georges Verstoßung einzelner Kreismitglieder wird in der Metapher des Gärtners verschleiert. George erscheint in der Lyrik des Kreises häufig als Gärtner oder Ackerbauer. Diese Figuren sind anders als in manchen außerhalb des Kreises entstehenden kritischen Texten positiv konnotiert. Die Cultura animi wird meist auf das eigene Individuum bezogen, manchmal aber auch auf eine größere Gruppe. Am Beispiel des Gedichts Der boden wird von gärtnern umgegraben wird weiter unten zu zeigen sein, wie in den 1920er Jahren in Gundolfs Heidelberger Umfeld völkisches Denken in die Darstellung des zu beackernden Bodens einfließt. Die organische Auffassung von Idealisierung ist bei Morwitz aufgrund des Stellenwerts, den die Contagio in seinem Denken hat, prädominant. Bernhard von Uxkull, einer der beiden Zöglinge von Morwitz, schreibt zwischen seinem 14. und 19. Lebensjahr unter dessen Anleitung Gedichte, die George sehr schätzt.110 Morwitz ist eine Mittlerfigur zwischen seinem Schüler und George und rückt für Uxkull im Hinblick auf die Gärtnerfunktion in eine ähnliche Position wie George für Morwitz selbst. Daher wendet Uxkull die Figur des Gärtners sowohl auf Morwitz als auch auf George an. In Jugend II redet er Morwitz 108
109
110
Vgl. Franz Rauhut: Die Herkunft der Worte und Begriffe „Kultur“, „civilisation“ und „Bildung“. In: ders. und Ilse Schaarschmidt (Hg.): Beiträge zur Geschichte des Bildungsbegriffs, eingeleitet und mit einem Anhang versehen von Wolfgang Klafki (Kleine pädagogische Texte 33), Weinheim: Beltz 1965, S. 11–22, hier S. 11f. Albrecht Schaeffer und Ludwig Strauß: Die Opfer des Kaisers. Kremserfahrten und die Abgesänge der hallenden Korridore. Mit einer Nachrede, Leipzig: Insel 1918, S. 26. – Vgl. auch Schaeffer (1923): George, S. 304. Vgl. Bernhard Victor Graf Uxkull-Gyllenband: Gedichte, hg. v. Ernst Morwitz, Düsseldorf, München: Helmut Küpper vormals Georg Bondi 1964, S. 9 (Vorwort).
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an: „Du gärtner hast es meisterhaft verstanden / Den garten dir zu pflanzen und die saat“ und schließt mit der Versicherung, dass die Saat beim Sprecher auf fruchtbaren Boden gefallen sei.111 Die von George besonders geliebten Gedichte des SternwandelZyklus beginnen ebenfalls mit zwei Gärtner-Gedichten, die nun jedoch auf George bezogen sind. Schon in der Anfangszeile der Widmung klingt das Gärtnermotiv an („Der landmann säet und die knechte ernten“), es wird zum Hauptmotiv des ersten Gedichtes mit drei vierzeiligen Strophen in fünfhebigen Jamben und umarmendem Reim. Der Ackerbauer schreitet durch seine Felder, betrachtet die verdorrten und die reifen Früchte und segnet sie: „So schreitet wohl der landmann durch sein feld … / So schreitet wohl ein fürst durch seine gärten“.112 Das gemessene Wort „schreiten“, das hier anaphorisch verwendet wird, hebt die profane Handlung in eine sakrale Sphäre – und zitiert zugleich George, der seinen „Freund der Fluren“ „in den fähren […] schreiten“ sieht.113 George lässt offen, wer sich hinter dieser Figur verbirgt. In den Gedichten der Jünger besetzt er selbst diese Position. Eine Variation des Wachstumsmotivs findet sich bei Hermann Speer. Speer, der ältere Bruder des späteren NS-Architekten Albert Speer, studiert in den 1920er Jahren in Heidelberg und steht über Gundolf in Kontakt mit George. Speer firmiert im Heidelberger Kreis unter dem Namen „der Schwarze“114 und ist ein Freund des blonden Jünglings Heinz Zimmermann, dem George das Gedicht Der Tänzer gewidmet hat.115 George ist mehr an Zimmermann als an Speer selbst interessiert.116 An diesem stört ihn, dass er „absichtlich und bewusst“ agiere und sich „viel auf seine Bedeutung“ einbilde.117 Speer schickt George in den Jahren 1920 und 1921 handgeschriebene Gedichtzyklen, die 111 112 113 114 115
116 117
Bernhard Graf Uxkull (1964): Gedichte, S. 13. Bernhard Graf Uxkull (1964): Gedichte, S. 28. Stefan George: Der Freund der Fluren. In: SW, V, S. 38. Vgl. Seekamp, Ockenden und Keilson (1972): Zeittafel, S. 312. Vgl. Günter Baumann: Dichtung als Lebensform. Wolfgang Frommel zwischen George-Kreis und Castrum Peregrini (Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft 153), Würzburg: Königshausen & Neumann 1995, S. 55 Anm. 44. Vgl. Michael Landmann: Aussprüche von Stefan George. In: Castrum Peregrini 25 (1955), S. 62–67, hier S. 66. Salin (21954): Um Stefan George, S. 54f.
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Georges Stil stark imitieren. Zu einer ersten persönlichen Begegnung kommt es im März 1921.118 Im Mai 1922 sendet er George ein weiteres Gedicht mit dem Titel Der boden wird von gärtnern umgegraben. Es spricht kein Ich, sondern ein „Wir“: Der Sprecher ist Teil einer Gemeinschaft. In seinem in STG-Schrift abgefassten Begleitschreiben erläutert er: Bald nach dem ich Ihnen meine gedichte zugeschickt hatte entstanden diese verse. Sie gehören zum zweiten (vom 12. märz) und ergänzen es indem sie das erlebnis des aufwachens in diesem in die tätigkeit des aufwachsens und was dazu gehört umbiegen überleiten über=winden.119
Die etwas manierierten Wortspiele „aufwachen“–„aufwachsen“ und die emphatische Dreierformel „umbiegen überleiten über=winden“ sind typische Gundolfismen, wie sie in Heidelberg auf Speer abgefärbt haben könnten. Geistiges Reifen wird nicht als passiver, naturhafter Vorgang dargestellt, sondern als „tätigkeit“. Das innere Wachstum besteht unter anderem im „umbiegen“ und „überwinden“, woraus deutlich wird, dass es nicht um freie Entfaltung, sondern um strenge Selbstformung des Individuums geht. Der boden wird von gärtnern umgegraben Stählerne spaten heben sich und mischen Die obern mit den untern schichten · wischen Glatt drüber hin … und unsre lungen laben Sich an dem würzigen geruch der erde Und unsre hand greift prüfend in die rillen Des braunen ackers · hier fühlt sie die stillen Freuden an guter krume – lang entbehrte. Nur wenig schritte weiter steht ein baum Wir pflücken nicht wir heben bloss die hände Und rühren sacht die weissen blüten: sende Nach vollem flor auch reichen früchte=traum. Die berge ragen über unsern tätigen garten Sie schützen ihn und schatten seine beete. Sie regeln licht und wind dass das gesäte Bald aufgeht und wir brauchen nur zu warten.120 118 119 120
Vgl. Raulff (2009): Kreis ohne Meister, S. 18. Hermann Speer an Stefan George, Brief vom 8. Mai 1922 (STGA). STGA, George III, 12021, Beilage.
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Dass eine Gruppe von Arbeitern den Garten bearbeitet, deutet die Gruppenbezogenheit von Kultivierung an. Auch in Georges Die Hüter des Vorhofs ist eine Gruppe im Garten tätig, welche von einem Sprecher-Ich durch Ackerbau erzogen wird. Mit diesem Text teilt derjenige Speers das metrische Schema. An Der Freund der Fluren erinnert wörtlich zitierend der prüfende Griff in die Rillen. Die jambischen Fünfheber mit weiblichen Endungen und vier Versen sind wiederum eine typische Strophenform aus dem Jahr der Seele; allerdings nicht kreuzweise reimend wie dort, sondern umarmend. Welcher Boden genau beackert wird, wird nicht gesagt. Es könnte, weil Speer im Begleitbrief seine eigene Lyrik kommentiert, der Boden der Dichtung sein – „Vers“ leitet sich von lat. Versus, dem Hin und Her des Pfluges ab –, es könnte aber auch im weiteren Sinne der Boden des Volkes sein oder, im engeren Sinne, das eigene Selbst. Für die poetologische Interpretation spricht, dass Speer neben den Fortschritten seiner universitären Bildung ausführlich seine dichterische Entwicklung thematisiert. Daraus wird sein Wunsch deutlich, als angehender Dichter wahrgenommen zu werden. Sein Ziel ist, wie er erläuternd zu seiner Einsendung von Der boden wird von gärtnern umgegraben schreibt, „landschaft als scene“.121 Szene kann beides bezeichnen: sowohl eine Kulisse als auch einen Vorgang. Der Vorgang der Landschaftskultivierung wirkt statuarisch und hat unverkennbar Verweisfunktion. Eine solche „verweisende Bedeutung des literarischen Gartens“ und eine damit verbundene „Gleichnishaftigkeit“ hat Thomas Koebner als typisch für die Jahrhundertwende bezeichnet.122 Eine metaphorische Verwendung des Gartens findet sich schon in der Barocklyrik, wo der Hortus conclusus eine Anlehnung an den Paradiesgarten oder an den Garten des Hohelieds ist. In Speers gleichfalls geschlossenem, weil von Bergen geschütztem Garten wird indes gearbeitet, und Arbeit charakterisiert den Menschen erst nach dem Sündenfall. Wenn man nach biblischen Bezügen sucht, so könnte man das Gleichnis von den Arbei121 122
Hermann Speer an Stefan George, Brief vom 8. Mai 1922 (STGA). Vgl. Thomas Koebner: Der Garten als literarisches Motiv um die Jahrhundertwende. In: ders.: Zurück zur Natur. Ideen der Aufklärung und ihre Nachwirkung, Studien (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte. 3. Folge, 121), Heidelberg: Winter 1993, S. 123.
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tern im Weinberg heranziehen, aber im Unterschied zu jenem Gleichnis, in dem am Ende eine Auseinandersetzung wegen schlechten Lohns entbrennt, herrscht zwischen den Arbeitern bei Speer harmonisches Einvernehmen. Eine christliche Konnotation des Gartens ist bei Speer offenbar nicht gemeint. Sein Garten steht in einem anderen Verweiszusammenhang, nämlich in der Darstellung Georges als Gärtner und der daran anknüpfenden Auffassung von innerem Wachstum. Diese Intention wird nicht zuletzt durch das Begleitschreiben evident, da Speer seinen eigenen Reifeprozess durch die mitgelieferten Gedichte zu illustrieren sucht. Um „landschaft als scene“ wahrzunehmen, ist eine gewisse Distanz zur Natur notwendig. Diese Art der Landschaftsdarstellung ist im Jahr der Seele vorgebildet. Der Blick von außen setzt einen Reflexionsakt voraus, welcher die wahrgenommene Landschaft mit Bedeutung füllt. Speer nutzt diese symbolistische Technik, um seine innere Entwicklung zu beschreiben; poetischer Fortschritt wird zum Indikator der Reife insgesamt. Für die zweite, völkische Interpretation sprechen insbesondere die ersten zwei Strophen. Das Bild des Umgrabens und die Freude an der braunen Ackerkrume erinnern an die Verherrlichung der heimischen Scholle und des Bauerntums in völkischer Literatur, zumal die Vermischung der oberen mit den unteren Schichten durch stählerne Spaten allegorisch für das Aufgehen der verschiedenen Stände in der Volksgemeinschaft stehen kann. Poetologisch bedeutsam ist wiederum der Boden als Humus, aus dem Dichtung und Leben werden. Die dritte, ethische oder pädagogische Interpretation wird vor allem durch das Begleitschreiben gestützt, denn in ihm geht es Speer um die Bildungsarbeit am eigenen Ich. Er legt Rechenschaft über den Fortgang seiner universitären Studien ab, die er ganz auf die Erfordernisse des Kreises zuschneidet. So belegt er neben einem Griechischkurs einen Deklamationskurs mit folgendem Argument: „Die ‚übungen im gesundheitlichen sprechen‘ wurden nötig als es sich zeigte dass beim vorlesen von dichtungen die sprachmittel einfach nicht ausreichten und einen dadurch verwirrten.“123 Die Arbeit im „tätigen Garten“ (IV,1) entspricht dem, was Speer in seinem Brief „die tätigkeit des auf123
Hermann Speer an Stefan George, Brief vom 8. Mai 1922 (STGA).
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wachsens“124 nennt. Der Gärtner ist nicht George, sondern der arbeitende Jünger. Der Jünger ist hier der Akteur im Bildungsprozess, und sein Wirkungsfeld lässt sich auf alle drei Bereiche beziehen: auf das eigene Ich ebenso wie auf die Lyrikproduktion und die gesamte Kultur. Seiner Zugehörigkeit zum Heidelberger Umfeld Georges gemäß folgt Speer der Auffassung vom keimenden Wachsen. Weil er keinen engen Kontakt zu George hat, spielt die persönliche Beziehung zum Urgeist nicht mit hinein. Der Garten wird allenfalls von den Bergen geschützt, die allein durch ihr Dasein das lokale Klima regulieren. Speer artikuliert in diesem Gedicht ein Ideal der Selbstbildung, das sich im Gruppenvollzug aktualisiert und im Wissen um das Dasein des Meisters sein Genüge findet. Speer ist damit keinem der vier genannten Bildungskonzepte klar zuzuordnen. Je nachdem, welche Lesart man favorisiert, lassen sich Argumente für eine Zuordnung zur Perfektionierung, Regulierung oder Idealisierung finden. Diese Uneindeutigkeit erklärt sich aus Speers prekärer biografischer Situation. Seine Gedichte und Briefe zeugen von einer klaren Einsicht in das Imitatio-Modell. Eigentlich steht er Gundolfs Position nahe. Weil aber zwischen ihm und George keine Contagio stattfindet, muss Speer seine Rolle anders definieren. Dabei laviert er zwischen einem Ideal der Selbstbildung und einem gruppenbezogenem Bildungsideal. Die Dominanz der Keim- und Wachstumsmetaphorik ordnet ihn alles in allem der organischen Richtung zu. Innerhalb der plastischen Richtung wird George in seiner menschenbildnerischen Funktion oft als Bildhauer apostrophiert.125 Das Konzept äußerer Formgebung ist in der dritten Generation im Umfeld von Wolters vorherrschend, und dementsprechend gibt es in den entstehenden Gedichten Wortfelder aus den Bereichen der Architektur und der Bildhauerei. Im Rahmen des Imitatio-Modells kann damit sowohl das Einwirken auf die Jünger als auf die abgeleiteten Wesen zweiten Grades beschrieben werden. Auch dieses pädagogische Konzept hat seine Ansatzpunkte in Georges Lyrik und Poetik. In vielen seiner Gedichte findet sich die entsprechende Bau-, Form-, Meißel- und
124 125
Hermann Speer an Stefan George, Brief vom 8. Mai 1922 (STGA). Vgl. Kluncker (1974): Blätter für die Kunst, S. 169.
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Architekturmetaphorik.126 In Georges frühem Gedicht Die Spange gibt es bereits die Schmiedemetapher, hier aber noch im rein poetologischen Kontext. Spricht er von der Formung von Menschen, so folgt George der oben skizzierten platonistischen Auffassung von Idealisierung und lässt den Bildungsprozess als Zusammenwirken von Bildungsgeber und Bildungsnehmer erscheinen. In einem Gedicht aus dem zweiten Buch des Stern des Bundes formuliert das Sprecher-Ich ein Gebet aus acht Blankversen in einer Strophe mit dem Wunsch nach Einswerdung mit seinem Gott. Es entspricht einer Formgebung von außen nach innen, denn George verwendet das biblische Bild von Gott als Töpfer.127 Das Sprecher-Ich ist anders als im biblischen Gleichnis an der Formung beteiligt. Es erteilt dem Töpfer die Erlaubnis, „schmiegt“ sich seinen Händen an und „stimmt“ sich aktiv in seinen Herzschlag ein. Signifikant ist, dass es sich um Ton handelt und nicht um Stein. Herz, Mark und Atem suggerieren, dass das Ich in seiner gesamten Körperlichkeit und Geistigkeit an der Umwandlung beteiligt ist. Was kann ich mehr wenn ich dir dies vergönne? Dass ich als thon mich schmiege deinen händen Nach deines herzens schlag mein sinnen stimme? Dass mich dein mark in mir dir leise ähnelt Dein blick dein schritt mir eingibt wo ich gehe? Du tränkst mit deiner farbe meine träume Du hilfst den laut mir bilden wenn ich bete Dein odem rinnt in meinem wort der sterne.128
Auf klanglicher Ebene fallen die dominierenden i-Laute auf. Ihre Helligkeit erweckt den Eindruck einer nach oben gerichteten Bewegung. Vielleicht schwingt untergründig in „mark in mir“ der Name „Maximin“ mit. Bis hin zur semantischen Verwirrung geht das Spiel zwischen Ich und Du („Dass mich dein mark in mir dir leise ähnelt“). Der Wunsch nach Einswerdung ist sprachlich bereits erfüllt. Den drei Fragen folgen drei Aussagesätze, die die Ähnlichkeit bezeugen: Träume, Gebete und Gedichte sind 126 127 128
Vgl. Braungart (2005): „Was ich noch sinne und was ich noch füge, Was ich noch liebe trägt die gleichen züge“, S. 7. Vgl. Jer. 18, 2–6. Stefan George: Was kann ich mehr wenn ich dir dies vergönne? In: SW, VIII, S. 64.
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gesättigt von der Farbe, dem Laut und dem Atem des Anderen. Diese Verwandlung berührt den Willen („mein sinnen“), den unbewussten Trieb („meine träume“), das äußere Handeln („dein schritt in mir“) und das Somatische („dein mark in mir“). Wer das angesprochene „Du“ letztlich ist, bleibt offen. In den Stilnachahmungen des Kreises besetzt George diese Position. Das folgende Gedicht von Wolters geht über das von George verwendete Bild des Töpfers deutlich hinaus, indem es die Bildung von außen als gewaltsame Zurichtung bezeichnet. Sein Gedicht Du zarter stamm, dich trifft mein meissel folgt der aristotelischen Auffassung von Formung. Das Bild von Stamm und Meißel betont das passive Erleiden der Form. Die fünfhebigen Jamben von Georges Was kann ich mehr wenn ich dir dies vergönne? sind hier zu vierhebigen verkürzt, die betonten Silben fallen wie Meißelschläge. Anders als im oben zitierten Gedicht Georges dominieren harte Konsonanten. Der sprechende „Herr der Wende“ bezieht sich wörtlich auf das Eingangsgedicht aus dem Stern des Bundes. Du zarter stamm, dich trifft mein meissel Und formt den kern durch wunde schale Ich der dich liebt bin deine geissel Und meine gaben deine male. […] Du bist gebannt, bist werk der hände Die du nicht kennst doch liebst im bilde Nun fühl wie dich der Herr der Wende In liebe formt doch ohne milde.129
Die Meißelarbeit am Menschen wirkt deshalb so gewaltsam, weil sie nicht ein vorhandenes inneres Bild freilegt, sondern es erst erstellt. Zwar ist von Liebe die Rede, aber die Aufforderung: „Nun fühl …“ klingt beinahe sadistisch. Nach Entsprechungen in Georges Lyrik muss man suchen. Im Stern des Bundes sind es zum Beispiel Verse wie diese: „Bangt nicht vor rissen brüchen wunden schrammen · / Der zauber der zerstückt stellt neu zusammen.“130 Doch sie wirken trotz der Zerstückelungsphantasie 129 130
Friedrich Wolters: Geistige Bindung I. In: ders.: Wandel und Glaube, Berlin: Bondi 1911, S. 54f. Stefan George: Bangt nicht vor rissen brüchen wunden schrammen. In: SW, VIII, S. 37.
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anders, zumal sie die Angst vor Verletzung nehmen wollen. Auch Vernichtungsphantasien wie das folgende „Vernichte mich! lass mich dein feuer schlingen!“131 wirken anders, da sie als Bitte geäußert werden, mit Contagio verbunden und als libidinös besetzte Ekstase lesbar sind. Letzteres kann auch für das Sprecher-Ich des Gedichts von Wolters gelten, aber es geht aus dem Text nicht hervor, ob das angesprochene Du in diesen Akt eingewilligt hat oder nicht. Das Neue Reich bietet mit seinen Kriegs- und Krisenszenarien am ehesten Entsprechungen. In Der Brand des Tempels werden dem Hunnenführer die Worte in den Mund gelegt: „Ich bin gesandt mit fackel und mit stahl / Dass ich euch härte“.132 In einem anderen Gedicht aus dem Zyklus Der Meister bezeichnet Wolters George als Schmied: Schmiede uns bis deine streiter stählern Aus den feuern deiner esse springen Lass dein glühn in unsre spröde dringen Lass dein hämmern unsre wünsche schmälern!133
In Wolters’ George-Zyklus geht es nicht nur um die Regulierung des Einzelnen, sondern um Formung und Stählung eines neuen Geschlechts. Eine diesbezügliche Selbstaussage Georges findet sich in Der Dichter in Zeiten der Wirren, das „dem Andenken des Grafen Bernhard Uxkull“ gewidmet ist.134 Darin heißt es, durch das Schicksal werde die junge Generation „[g]estählt“. Die Schläge gehen aber – und das ist entscheidend – nicht vom Dichter aus. Er sieht seine Aufgabe im Gärtnern: „Der Sänger aber sorgt in trauer-läuften / Dass nicht das mark verfault · der keim erstickt.“135 George favorisiert offensichtlich die Gärtnerrolle.136 Nähert man sich vor dem Hintergrund dieser skizzierten Haltungen wieder Georges Lyrik, so kommt man zu dem Schluss, 131 132 133 134 135 136
Stefan George: Da ich mit allen fibern an dir hänge. In: SW, VIII, S. 63. Stefan George: Der Brand des Tempels. In: SW, IX, S. 61–69, hier S. 67. Friedrich Wolters: Der Meister. In: Blätter X, S. 74–78, hier S. 76. Stefan George: Der Dichter in Zeiten der Wirren. In: SW, IX, S. 27–30. Stefan George: Der Dichter in Zeiten der Wirren. In: SW, IX, S. 29. Darauf weisen Aussagen wie diese: „George […] war überzeugt, man könne nichts anderes tun, als behüten und schirmen, wo Wertvolles noch im Keim vorhanden ist oder Neukeimendes sich zeigt.“ – Ludwig Thormaehlen: Erinnerungen an Stefan George, Hamburg: Hauswedell 1962, S. 224.
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dass George in Bezug auf die Frage, ob sich der Bildungsprozess von innen nach außen oder von außen nach innen vollzieht, uneindeutig ist. Denn obwohl in seiner auf ethische Imitatio ausgerichteten Lyrik eine Metaphorik des keimhaften Wachsens dominiert, ist seine Lyrik selbst auf der Ebene der Textstruktur hochgradig artifiziell und geformt. George verwendet für das Dichten oft Metaphern, die das bewusste Formen eines materiellen Stoffs bezeichnen: Die [G]eschnittenen Schatten,137 Standbilder138 und Tafeln.139 Ernst Lissauer hat George (in einer Besprechung der Lyrik Albrecht Schaeffers) einen „Bildhauer am Wort“ genannt und dies an Der Freund der Fluren illustriert, mithin an einem Gedicht, das in seiner Acker- und Saatmetaphorik der organischen Auffassung nähersteht. Die im Gedicht porträtierte Figur wirkt auf Lissauer „wie eine im Museum aufgestellte bronzene Statue“.140 Georges Gedichte scheinen ihm keine Wirklichkeit, sondern bereits Geformtes abzubilden. Eben aufgrund ihres formorientierten Charakters ist Georges Lyrik offen für die platonistische Auffassung von Bildung, während die verwendeten Themen und Motive organisches Wachsen betonen. Die martialischen Meißel-, Schmiede- und Hämmermetaphern führen in der Richtung um Wolters ein Eigenleben.
Exkurs: Kreispädagogik und NS-Rassenhygiene im Vergleich Abschließend soll die eingangs aufgeworfene Frage diskutiert werden, inwieweit George-Nachfolge und Bildungskonzepte des Kreises der NS-Rassenhygiene zuarbeiten. Pauschalurteile werden der Auslegungsvielfalt und der Systematik der meisten Varianten der in Abb. 3 zusammengefassten Modelle nicht gerecht. Diese Studie kommt zu dem Schluss, dass von den vier genannten Bildungsmodellen allein die Extremposition der Regulierung an rassische Konzepte anschlussfähig ist. Vor allem der 137 138 139 140
Stefan George: Verstattet dies Spiel: Eure flüchtig geschnittenen Schatten zum Schmuck für meiner Angedenken Saal. In: SW, IV, S. 69–83. Stefan George: Standbilder. In: SW, V, S. 54–59. Stefan George: Tafeln. In: SW, VI/VII, S. 163–187. Ernst Lissauer: Albrecht Schaeffers Gedichte. In: Das literarische Echo 34 (1931/32), S. 432–434, hier S. 433.
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Name Kurt Hildebrandts (1881–1966) steht dafür beispielhaft.141 Hildebrandt gehört zum Umfeld von Wolters. Er verfasst zwei Bücher, Norm und Entartung des Menschen (1920) und Norm und Verfall des Staates (1920),142 in denen er den idealen Menschen und den idealen Staat durch Zucht und soziale Ungleichheit schaffen will.143 Das erste Buch ist Vallentin, das zweite Wolters zugeeignet. Stefan Breuer hat die These aufgestellt, dass Hildebrandts eugenische Arbeiten mit den Grundwerten des Kreises konform gegangen seien. Er betrachtet die nationalistischen und antisemitischen Aussagen Hildebrandts, seine Arbeiten zur Eugenik und seine Position im Nationalsozialismus und kommt zu dem ernüchternden Ergebnis, „daß der ästhetische Fundamentalismus in der Auslegung, die Kurt Hildebrandt ihm gegeben hat, zum Wegbereiter und zur Stütze der nationalsozialistischen Herrschaft geworden“ sei.144 Breuer widerspricht damit Rainer Kolk, der die Frage stellt, ob in Hildebrandts Schriften nicht eine „eindeutige Absage an basale Werte des Kreises“ angelegt sei.145 Die Sachlage scheint eindeutig, zumal Breuer belegen kann, dass Hildebrandts Schriften sowohl von Wolters als auch von Gundolf befürwortet worden seien (andere Kreisangehörige wie Edith Landmann oder Robert Boehringer hätten sie dagegen entschieden abgelehnt).146 Dennoch ist Hildebrandts Argumentation als Verkürzung von Georges Ansatz zu werten. Gundolfs Zustimmung zu Hildebrandt zeigt vor allem zweierlei. Erstens, dass Gundolf hinter seine eigene theoretische Position zurückfällt und die Konse141
142 143 144 145
146
Zu Hildebrandt vgl. Stefan Breuer: Ästhetischer Fundamentalismus und Eugenik bei Kurt Hildebrandt. In: Bernhard Böschenstein, Jürgen Egyptien, Bertram Schefold und Wolfgang Graf Vitzthum (Hg.): Wissenschaftler im GeorgeKreis. Die Welt des Dichters und der Beruf der Wissenschaft, Berlin und New York: de Gruyter 2005, S. 291–310 und Kolk (1998): Literarische Gruppenbildung, S. 458–465. Kurt Hildebrandt: Norm und Entartung des Menschen, Dresden: Sibyllen 1920; ders.: Norm und Verfall des Staates, Dresden: Sibyllen 1920. Vgl. Breuer (2005): Ästhetischer Fundamentalismus und Eugenik, S. 300. Breuer (2005): Ästhetischer Fundamentalismus und Eugenik, S. 307. Kolk begründet seinen Vorbehalt damit, dass George die individuelle Erziehung vorziehe gegenüber einem Modell, welches das Volk durch eugenischen Zuchtwillen präformiert. Die vorliegenden Überlegungen unterstützen seine Sichtweise. – Vgl. Kolk (1998): Literarische Gruppenbildung, S. 465. Vgl. Breuer (2005): Ästhetischer Fundamentalismus und Eugenik, S. 292f.
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quenzen dieser Sichtweise nicht bedenkt. Denn Gundolf sieht gemäß seiner eigenen Nachahmungstheorie die persönliche Liebesbindung der Contagio als entscheidend an, nicht aber die entpersönlichte Form der auf den Staat oder die Rasse wirkenden Eugenik im Sinne der NS-Ideologie. Zweitens zeigt die Tatsache beiderseitiger Zustimmung von Wolters und Gundolf, dass sie, obwohl sie darin differieren, ob die Angleichung von außen nach innen oder von innen nach außen zu fördern sei, darin übereinstimmen, dass ein objektiv vom Meister gegebenes Gesetz auszubilden sei. Bei Gundolf ist dieses Gesetz aber keine abstrakte Norm wie bei Wolters – bei Wolters nimmt diese Position die Lehre ein –, sondern diese Norm ist von der je individuellen Anlage des Einzelnen und seiner Substanz abhängig, die sich im symbolischen Sehen des Urgeists objektiviert. Thormaehlen berichtet in seinen Erinnerungen an Stefan George (1962) von einem Richtungsstreit um 1925, in dem es darum gegangen sei, ob man durch Geistübertragung Anhänger gewinnen könne. Dieses von Morwitz vertretene Modell habe George abgelehnt. Wie viele Aussagen Thormaehlens über jüdische Kreismitglieder ist auch diese mit Vorsicht zu genießen. Er stellt die Überlegung so dar, als habe Morwitz eine Art pädagogisches Inspirationsmodell vertreten. Eine solche okkulte Vorstellung widerspricht dem Denken des Kreises. Es ist wahrscheinlicher, dass Morwitz einfach einer Verabsolutierung des Leiblich-Biologischen entgegenwirken und demgegenüber deutlich machen wollte, dass das reine Blut keine Sache der biologischen Rasse, sondern des Geistes sei.147 Thormaehlen referiert anschließend, wie George selbst sich Bildung vorgestellt habe: An eine Möglichkeit, im Pädagogischen, im Staatlichen, im Geistigen nach einem vorgesetzten Ziel zu ‚machen‘, zu ‚bilden‘, glaubte er nicht. Nur wo ein innewohnendes Gesetz, ein eingeborener Drang zum Eigenblühen vorhanden ist und sich bemerkbar macht, könne gefördert werden […].148
Sofern Georges Position korrekt wiedergegeben ist – und die Analyse seiner diesbezüglichen Gedichte unterstreicht diese 147
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Die Gedichte von Morwitz, die in Kap. 2.2 behandelt werden, zeigen, dass er sich mit seinen Nachahmungskonzeptionen im Rahmen des Imitatio-Modells bewegt. Thormaehlen (1962): Erinnerungen an Stefan George, S. 224.
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Vermutung –, ist seine Auffassung eben nicht dem nationalsozialistischen Denken verwandt. Denn die Eugenik im Nationalsozialismus gibt ein äußeres Ziel, die reine Rasse, vor und will nach diesem vorgesetzten Ziel züchten. Man könnte einwenden, dass das nationalsozialistische Denken trotzdem der platonistischen Idealisierung verwandt sei, weil auch das Imitatio-Modell die Angleichung an eine von George gegebene, also von außen gesetzte Norm proklamiere. Dieser Widerspruch lässt sich aber auflösen, wenn man die jeweiligen Ziele, die imitiert werden sollen, miteinander vergleicht. Der wichtigste Unterschied zur NS-Rassenhygiene liegt, um das nochmals zu betonen, darin, dass Imitatio für den größten Teil des Kreises von der Interaktion zwischen Einzelpersonen und nicht von theoretisch fixierbaren oder biologisch messbaren Faktoren abhängt. Die intuitive Einschätzung des Urgeists ist die Urteilsinstanz, nach der entschieden wird, ob der jeweilige Adept es wert ist, in den Bildungsprozess einbezogen zu werden oder nicht. Im rassischen Denken wird die Veredelung nach abstrakten theoretischen Kriterien in Gang gesetzt. Georges Norm ist, obwohl von seinem Ethos geprägt, individuell: Es ist die vom Urgeist symbolisch erkannte innere Form der jeweiligen Person, die sich in der Mimesis des Urgeists objektiviert und dem Einzelnen als Zielvorgabe präsentiert wird. Sie bewahrt in sich das subjektive Element, das als „eingeborener Drang zum Eigenblühen“ zur Entfaltung drängt. Anders als in der rassischen Eugenik kann diese Substanz nicht vererbt werden.149 Für Hildebrandt ist das zu erreichende Bildungsziel nicht der konkrete, seinem eigenen idealen Selbst ähnlich gewordene Mensch, sondern die gezüchtete gute Rasse („Der Stoff des Schönen ist das edle Blut, die Rasse“).150 Da er biologisch ‚entartete‘ Rassenlinien in seinem idealen Staat ausschalten will, muss er dafür von vornherein die Qualität bestimmter Rassen festlegen. George stellt dagegen immer wieder klar, dass geistiger Adel nicht
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150
Morwitz überliefert indes Vorbehalte Georges gegen Mischehen, weil die männlichen Nachkommen aus solchen Verbindungen seiner Erfahrung nach „menschlich unzuverlässig“ seien. George bedenkt hier die Konsequenzen seiner eigenen Theorie nicht in allen Einzelheiten. – Vgl. Morwitz (21969): Kommentar zu dem Werk Stefan Georges, S. 419. Hildebrandt (1920): Norm und Verfall des Staates, S. 228.
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vererbbar sei.151 Die individuelle Substanz eines Menschen ist vielmehr die notwendige Voraussetzung dafür, dass der Bildungsprozess im Imitatio-Modell beginnt. Zwar geschieht die Umgestaltung auch körperlich und manifestiert sich also vielleicht auch im Blut,152 aber sie ist nicht biologisch auf die nächste Generation übertragbar: George hat keine biologischen, sondern geistige Erben.
2.4 Imitatio und Spiel Bisher wurde nur Lyrik betrachtet, die durch das imitierende Aufgreifen von Georges neuen Zeichen erstens eine Verbesserung der Dichtersprache und davon ausgehend der ästhetischen Kultur (stilistische Imitatio), zweitens eine Verbesserung des Menschen und davon ausgehend der ethischen und politischen Kultur (ethische Imitatio) erreichen will. In diesem Kapitel geht es um Gedichte, die zwar gleichfalls imitieren, aber aufgrund ihres spielerischen Charakters nicht sinnvoll ins Bildungsziel des Imitatio-Modells eingebunden werden können. Sie betreiben – um ein Wort Gundolfs aufzugreifen, „Dichtung und Gefühle“ als „Sport“ und „Spiel“.153 Was Gundolf in seinem Brief an Ludwig Strauß als herbe Kritik an dessen George-Parodien formuliert, umschreibt recht gut seine eigene poetische Praxis im Blick auf seine Gelegenheitslyrik. Gundolf imitiert in den folgenden Beispielen teils den Stil der Blätter, teils andere, zum Teil bedeutend ältere Stile in humoristischer Absicht. Auf der Textebene ließe sich nicht entscheiden, ob es sich um Imitationen oder Parodien handelt. Nach allem, was sich mithilfe von Kontextwissen erschließen lässt, will Gundolf seine Prätexte nicht kritisieren; gerade beim frühen Gundolf ist von einer affirmativen Einstellung zur Blätter-Lyrik und derjenigen Georges auszugehen. Es handelt sich also gemäß der eingangs getroffenen Definition nicht um Parodien, sondern um Imitationen. Aber ihre Funktion ist nicht 151 152 153
„Neuen adel den ihn suchet / Führt nicht her von schild und krone“. – Stefan George: Neuen adel den ihr suchet. In: SW, VIII, S. 85. Vgl. Boehringer (31955): Leben von Gedichten, S. 5. Vgl. George-Gundolf Briefwechsel, S. 320f. Anm. 2.
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eindeutig: Erstens leisten sie keine Imitatio im Sinne des (späteren) Imitatio-Modells, denn Gundolf spielt.154 Eine spielerische Imitatio erfüllt jedoch nicht die im Modell verlangten Voraussetzungen des Ethos und der Substanzialität. Zweitens schwingt neben dem Moment der Verehrung noch eine gegenläufige und dem Verfasser vielleicht sogar unbewusste Motivation mit. Besonders in der Anfangszeit seiner Kreiszugehörigkeit gibt es Anzeichen dafür, dass Gundolf der Überwältigung durch Georges Lyrik und Autorität durch spielerische Distanzierung entgegenarbeitet. Auch der Urgeist spielt, zumindest verwendet Gundolf den Spielbegriff in seiner George-Monografie von 1920. Aber dieses Spielen lässt sich mit der vom Urgeist geforderten Mimesis in Einklang bringen. Gundolf nimmt den Begriff um anzudeuten, dass der Dichter, wenn er sich selbst perfektioniert hat, über die neuen Zeichen souverän verfügt. In diesem Sinne stellt Gundolf bei George ein Spielen fest, wenn er schreibt, dass Traumdunkel im Siebenten Ring „Lockerung, Zuflucht, Spiel“ sei. Er bezeichnet diese Gedichtgruppe als „Diastole“, welche der vorangegangenen „Systole“, der Gruppe der Gestalten, folge. Doch das lösende Spiel ist ein ernstes Spiel und hat ethische Gefestigtheit zur Voraussetzung, denn „je sicherer er die göttliche Gestalt schaut desto freier und ferner kann er spielen“.155 Das Spiel des Meisters ist ein anderes als das des Jüngers. Beim Urgeist bezeichnet das Spiel die freie Entfaltung der Sprachmittel, welche durch Mimesis gewonnene neue Einsichten voraussetzt. Bezieht man diese Aussage auf das abgeleitete Wesen, so bedeutet dies, dass es dann die Zeichen des Urgeists im Spiel imitieren darf, wenn es „der flamme trabant“156 bleibt. Diese Voraussetzung ist bei Gundolf gegeben. Doch trotz seiner ethischen Entscheidung für George überlagern sich verschiedene Motivationen. Eine davon ist der Versuch, sich zu emanzipieren. Außerdem hat die unernste Imitatio eine Eigendynamik, die sich nicht mit einem Bekenntnis zu George in Einklang bringen lässt. Sie entfaltet eine Zentrifugal154
155 156
Man könnte ihn nach Huizingas Homo ludens einen Poeta ludens nennen. – Vgl. Johan Huizinga: Homo Ludens. Versuch einer Bestimmung des Spielelements der Kultur, Amsterdam: Pantheon 1939. Gundolf (31930): George, S. 234f. Stefan George: Wer je die flamme umschritt. In: SW, VIII, S. 84.
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kraft und strebt mehr oder minder offen aus dem ImitatioModell hinaus. George toleriert Gundolfs Gelegenheitsproduktion nicht nur, sondern sieht sich aufgrund seiner eigenen Vergangenheit als Satiriker sogar als deren Spiritus rector: „Ja, da ist mein Geist auf ihn übergegangen, nur machte ich das früher ab.“157 Diese Einschätzung ist psychologisch erhellend. Sie zeigt, dass George Gundolf auch dort, wo er eigene Wege geht, im Gravitationsfeld des Imitatio-Modells verorten und Contagio am Werke sehen will. Betrachtet man die betreffenden Texte selbst, so fallen eher die Unterschiede ins Auge. Um die Differenzen herauszuarbeiten, sei kurz referiert, was sich über Georges frühe Satiren erfahren lässt. Die ersten schriftstellerischen Versuche Georges sind satirischer Natur.158 In Wolters’ offizieller und von George autorisierter ‚Blättergeschichte‘ erscheinen diese satirischen Anfänge jedoch deutlich abgeschwächt. Dieser Darstellung zufolge habe sich der junge George gerade deshalb von seinem Darmstädter literarischen Freundeskreis entfernt, weil dessen Produktion sich „nur in satirischen Glossen über Mitschüler“ erschöpfte.159 George habe einen eigenen Kreis um sich gebildet, um die „ernsteren Formen der Dichtung“ zu pflegen. Wolters verschweigt, dass George an den „satirischen Glossen“ durchaus partizipierte. Georges Schulfreund Arthur Stahl schreibt ihm am 8. Juli 1888, er vermisse bei ihren Zusammenkünften Georges Lesungen mit seiner „eigenen Stimme“, die eine „namentlich für die Satiren […] eigentümliche Schärfe“ habe, und attestiert George ein „ausgesprochene[s] Satirentalent“.160 Gelegentlich kokettiert George gegenüber Vertrauten der zweiten Generation wie Edith Landmann und Maximilian Kronberger mit seinen satirischen
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159 160
Edith Landmann (1963): Gespräche mit Stefan George, S. 48. Vgl. Edith Landmann (1963): Gespräche mit Stefan George, S. 48; Robert Boehringer: Mein Bild von Stefan George, Düsseldorf und München: Helmut Küpper vormals Georg Bondi 21968 [erste Auflage: 1967], S. 23; Kluncker (1974): Blätter für die Kunst, S. 23 Anm. 13 und 14. Friedrich Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst. Deutsche Geistesgeschichte seit 1890, Berlin: Bondi 1930, S. 16. Arthur Stahl in einem Brief an George vom 8. Juli 1888, zit. n. Stefan George: SW, I, Die Fibel. Auswahl erster Verse, Nachwort, S. 98.
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Anfängen.161 Im Gespräch mit Angehörigen der dritten Kreisgeneration ist auch der späte George witzig, polemisch und zynisch.162 Er zitiert Heinrich Heine, Friedrich Theodor Vischer oder Gundolfs Gelegenheitsdichtungen und bleibt somit der Gesprächskultur seines Darmstädter Schülerzirkels in gewisser Weise verpflichtet.163 Doch es gibt einen entscheidenden Unterschied zu Gundolf: Georges ironische Bemerkungen richten sich stets gegen die anderen, nicht gegen sich selbst, und keinem der anderen wäre es erlaubt, in gleicher Weise zu agieren. Der junge George versucht sich an der Herausgabe einer Schülerzeitschrift Rosen und Disteln. Im gleichnamigen Eingangsgedicht der ersten (und einzigen) Nummer wird die Zielsetzung der Zeitschrift klar: Der „Dichtung ernste Rosen“ sollen gesammelt werden, während „alles Thörichte“ die Disteln des „Witzes und des Spottes“ verdient.164 Bereits hier kündigt sich – und insofern hat Wolters nicht ganz unrecht – Georges späteres Dichtungsverständnis an, das „ernste“ Lyrik favorisiert und von den unernsten Schreibweisen wiederum nur die „ernste“, nämlich die satirische gelten lässt. Die spätere Mimesis des Urgeists und das lehrhafte Moment sind bereits vorgeprägt. Aber wo der spätere George die Diskrepanz zwischen Realzustand und Idealzustand durch Imitatio zu verringern sucht, geht der satirische George destruktiv damit um. Dies geschieht etwa in einer Verssatire, die George als Schulaufsatz über das Thema Traum abliefert. Er habe, berichtet er Edith Landmann, einen Traum fingiert „in der Art des Gil Blas, einen Geist, der ihn nachts durch die Strassen führt und die Dächer abhebt; da sei denn allerhand auch nicht Wohlanständiges 161
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Vgl. [Maximilian Kronberger]: Maximilian Kronberger. Nachlass. Zürich: Bürdeke in Komm., o.J. [1937] (Privatdruck) [neue Ausgabe: Gedichte, Tagebücher, Briefe, hg. v. Georg Peter Landmann, Stuttgart: Klett-Cotta 1987], S. 51. In den späten 1920er Jahren wird „zynisch“ – in Georges Prägung zu „zyn“ abgekürzt – zu einem Modewort und findet in zahlreichen Neologismen (etwa „zynische Staatsstütze“) Eingang in den Kreisjargon. Vgl. Michael Landmann (1980): Stefan George, S. 17; Edith Landmann (1963): Gespräche mit Stefan George, S. 106 und die Dialoge bei Boehringer (1945): Ewiger Augenblick. In Stefan George. Lehrzeit und Meisterschaft. Gedenk- und Feierschrift zum 100. Geburtstag des Dichters am 12. Juli 1968, hg. v. Stefan-George-Gymnasium Bingen, Heidelberg: Stiehm 1968, S. 185–188, sind vier Seiten der Zeitschrift faksimiliert, hier S. 185.
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vorgekommen. Jeder Schüler und Lehrer habe sein Portrait erkennen können, der eine, der schon Romane schrieb, ein andrer, der bis in die Nacht hinein mehr noch lernte als für die Schule nötig war, andere, die literarische Kränzchen hielten, andere, die sich schon für die Burschenschaft vorbereiteten und im Trinken übten.“165 Der Dichter grenzt sich bereits hier von als defizitär empfundenen literarischen Tätigkeiten und sozialen Gruppierungen ab. Was noch fehlt, ist ein positiver Gegenentwurf. Einige Verse aus der betreffenden Satire lauten: Es mag verwunderlich erscheinen Dass ich die Göttin du genannt Indessen: Gott, Hausburschen, Miezen Pflegt man im Deutschen nicht zu siezen.166
Einzelne Strophen dieser Schülersatire, die ihm seinerzeit einen Tadel des Klassenlehrers einträgt,167 sind durch George mündlich überliefert. Dass der späte George diese Verse zitiert, ist nicht ohne Ironie. Das gilt besonders für das folgende Beispiel, das die Diskrepanz zwischen äußerer Erscheinung und innerem Vermögen bei einem dichtenden Mitschüler verspottet.168 Da wurde mir mit einmal klar Dass hinter langem Dichter-Haar Und hinter hoher Dichter-Stirn Nicht immer wohnt ein Dichter-Hirn.169
Bei der späteren Herausgabe seiner Jugendlyrik im Gedichtband Die Fibel berücksichtigt George die umfangreiche Gruppe der Satiren nicht. Sie werden sogar planvoll vernichtet, denn in der ersten Sammelhandschrift zur Fibel fehlen die Seiten 9 bis 123.170 165 166 167 168
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Edith Landmann (1963): Gespräche mit Stefan George, S. 48. Edith Landmann (1963): Gespräche mit Stefan George, S. 48. Vgl. Edith Landmann (1963): Gespräche mit Stefan George, S. 148. George selbst und seinem Kreis wäre es nicht eingefallen, sich über Georges eigene Selbstinszenierung zu mokieren; einfach aus dem Grund, weil bei ihm das Verhältnis von innen und außen als kongruent empfunden wurde. Boehringer (21968): Mein Bild von Stefan George, S. 23. – Eine weitere Strophe ist wiedergegeben bei: Michael Landmann: Stefan George. In: ders.: Erinnerungen an Stefan George. Seine Freundschaft mit Edith Landmann, Amsterdam: Castrum Peregrini-Presse 1980, S. 5–61, hier S. 17. Vgl. Ute Oelmann (Hg.): Nachwort. In: SW, I, S. 96–102, hier S. 98.
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Gemäß der Maxime, ins Gedicht gehöre „nur Aufbauendes“, eliminiert George (fast) alle frühen „Zynismen“.171 Das pessimistische späte Nova apocalypsis steht denn auch in den Blättern unter den Gedichten Wolfskehls.172 Eine vergleichbare Entwicklung nimmt ein anderer Prophet der Moderne, Rudolf Pannwitz, dessen dichterische Laufbahn gleichfalls mit satirischer Schülerlyrik beginnt.173 Genau besehen ist es nur ein kleiner Schritt vom Satiriker zum Propheten. Beide Dichterrollen äußern Zeitkritik vor dem Hintergrund eines Ideals, beide haben einen eindeutigen Adressatenbezug und sprechen als Autorität. Wendet man sich nun Gundolfs Gelegenheitslyrik zu, wird evident, dass von einer Geistübertragung, wie George es darstellt, keine Rede sein kann. In der Tat schwingt in Georges Worten ein Vorbehalt mit. Wenn er einschränkt, „nur machte ich das früher ab“,174 deutet er an, dass diese Art von Lyrik eigentlich dem Jugendalter vorbehalten sei. Edgar Salin zeigt in seinem Erinnerungsbuch unverhohlen seine Abneigung gegen Verse wie Gundolfs Weltgeschichte für Kinder, obwohl sie von George protegiert werden: „Wenn aber der Meister selbst sich am leichten Reimspiel des Jüngers erfreute, – wie durften wir Jüngeren einen ausschliesslichen Maasstab anlegen, dessen wir ja nur durch die meisterlichen Gedichte inne waren“?175 Die dritte Generation hat wenig Verständnis für einen Jünger, der spielt. Das Etikett ‚leichtes Reimspiel‘ vereint zwei Vorwürfe in sich: den der Leichtigkeit und den des Spiels. Diesen Vorwürfen wird weiter unten nachzugehen sein, weil George in anderen Zusammenhängen dieselben Kritikpunkte auf Gundolfs Lyrik anwendet und Gundolf selbst sie wiederum für seine Hofmannsthal- und Hérédia-Parodien nutzt (vgl. Kap. 2.5, 4.1 und 4.2). Die folgenden zwei Beispiele für Imitatio und Spiel datieren auf die ersten Monate seiner Freundschaft mit George. Es handelt sich um einen scherzhaften Gedichtzyklus „im 171 172 173 174 175
Edith Landmann (1963): Gespräche mit Stefan George, S. 191. – Eine Ausnahme ist etwa das Gedicht Einer Sklavin aus der Fibel. In: SW, I, S. 78. Vgl. Nova apocalypsis. In: Blätter XI/XII, S. 32. – Dieses Gedicht lehnt sich stilistisch an Wolfskehl an. Vgl. die Sammlung „Epigramme. Gelegentliches. Scherzhaftes, 18. 10. 1897 bis 9. 4. 1898“ im Nachlass Pannwitz, DLA (A:Pannwitz). Edith Landmann (1963): Gespräche mit Stefan George, S. 48. Salin (1954): Um Stefan George, S. 69.
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Georgeton“176 und um ein karikaturistisches George-Porträt, die jeweils Seitenstücke einer ernsten und bewundernden Vertiefung in Georges Gedichtbücher bzw. in eine Porträtaufnahme Georges sind.177 Die erste Aufgabe, die George Gundolf stellt, nachdem sie sich im April 1899 kennenlernen, ist die Übertragung der Shakespeare-Sonette.178 Parallel zu dieser Beschäftigung verfasst Gundolf Nonsens-Sonette, die als spielerische Stilimitationen symbolistischer Blätter-Lyrik gelten können. Es handelt sich um den Zirkel der zwoelf Sonette vom Taschensumpf, die er während eines Urlaubs in Kreuth verfasst. In ihnen behandelt Gundolf den gemeinsamen Fang von Kleintieren mit seinem Bruder Ernst für das Terrarium und Aquarium der Wolfskehls, wobei mit dem Taschensumpf eben das Behältnis zur provisorischen Unterbringung der Tiere gemeint ist.179 Die drei ersten Sonette des Zyklus schickt er an das Ehepaar Wolfskehl am 12. Juli, dem Geburtstag Georges und Caesars. Im Anschreiben nimmt Gundolf auf das wichtige Datum Bezug („Seien dies dem Heute genügende Reime“). Gleichzeitig schwingt die Sorge mit, ob eine solche Gabe erwünscht sei: Er sendet die Sonette „trotz manchen Bedenkens“ und fürchtet, dass die Wolfskehls sie „geschmacklos ja thoericht“ finden und sich weitere Sendungen „sehr bald verbitten“ könnten.180 Am selben Tag verfasst Gundolf einen weiteren Brief, um seine Adresse mitzuteilen, und sendet noch ein drittes Taschensumpfsonett zusammen mit der Bitte, sie wegzuwerfen, wenn sie „thöricht“ seien.181 Offenbar bleibt eine Rüge aus, denn der Zyklus erreicht tatsächlich die angestrebte Zahl von zwölf Sonetten. Die Hälfte der ehemals zwölf Seiten ist seit der Karl Wolfskehl-Ausstellung von 1968 offenbar verschol-
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Manfred Schlösser (Hg.): Karl Wolfskehl 1869–1969, Leben und Werk in Dokumenten, Eine Ausstellung der Hessischen Landes- und Hochschulbibliothek vom 20. Oktober bis 14. Dezember 1969, Darmstadt: Agora 1969, S. 95. Abbildungen des Porträts und des Gedichtzyklus (Auszug) finden sich im Bild- und Textanhang. George-Gundolf Briefwechsel, Einleitung, S. 9. Vgl. Wolfskehl-Gundolf Briefwechsel, Bd. 1, S. 248 Anm. 37. Friedrich Gundolf an Karl und Hanna Wolfskehl, Brief vom 12. Juli 1899 (DLA). Friedrich Gundolf an Karl und Hanna Wolfskehl, Brief vom 12. Juli 1899 (STGA).
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len;182 im Nachlass haben sich nur die ersten zwei Sendungen mit insgesamt drei Sonetten erhalten. Optisch lehnt sich das kalligraphische Manuskript an lechtersche Buchgestaltung und an Schönschriften des George-Kreises an (vgl. Abb. 5). In der Vorrede imitiert Gundolf den feierlichen und etwas gespreizten Duktus von Georges Kunstprosa. Hier zum Vergleich die Landschaftsschilderungen bei Gundolf neben einem Ausschnitt aus der Vorrede der Bücher der Hirtenund Preisgedichte: Nichts weiss ich wuerdig geschrieben zu werden, es sey denn: vortrefflich geht es uns und herrlicher Ausfluege voll erfreuen wir uns neuer weiten. Felsen koennen nicht umhin uns zu ueberstarren noch zarte Anger und Auen uns mit der Anmut des Duftes und der Farben freundlich zu erquicken.183 (Gundolf) [D]abei kamen ihr begreiflicherweise ererbte vorstellungen ebenso zu hilfe als die jeweilige wirkliche umgebung: einmal unsere noch unentweihten täler und wälder · ein andresmal unsere mittelalterlichen ströme · dann wieder die sinnliche luft unserer angebeteten städte.184 (George)
Für den Stil Georges wie für die Blätter-Lyrik insgesamt ist die Alliteration oder Assonanz typisch.185 Gundolf verwendet diese Stilmittel beispielsweise mit „weiß ich wuerdig“ und „Anger und Auen“ im eben zitierten Beispiel oder im Titel vom Zirkel der zwoelf Sonette vom Taschensumpf. Für die Sonettform und vor allem für die Zyklenbildung finden sich zahlreiche Beispiele in den Blättern, die Gundolf während des Urlaubs intensiv liest. Im bereits erwähnten zweiten Brief vom 12. Juli 1899, dem „heiligen Tag“, schreibt Gundolf: „Als einzige Lektüre habe ich die ‚Blätter‘ und des Meisters Werke mit […]. Den Reichtum jener Werke lerne ich mit jedem Tag mehr erkennen und finden“.186 Stilistische Imitatio wird von Lectio, dem zwei182 183 184 185 186
Von zwölf Seiten ist noch im Ausstellungskatalog die Rede. – Vgl. Schlösser (1969): Karl Wolfskehl 1869–1969, S. 96. Friedrich Gundolf an Karl und Hanna Wolfskehl, Brief vom 12. Juli 1899 (DLA). Versalien, hier in Normalschrift wiedergegeben. Stefan George: Vorrede der Bücher der Hirten- und Preisgedichte. In: SW, III, Vorrede unpag. Vgl. Kluncker (1974): Blätter für die Kunst. Friedrich Gundolf an Karl und Hanna Wolfskehl, Brief vom 12. Juli 1899 (STGA).
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ten Bestandteil barocker Exercitatio, begleitet und durch wachsende Vertrautheit mit dem Stil unterstützt. Wenige Tage nach den ersten Taschensumpfsonetten und damit zeitlich parallel beginnt er mit dem weiter oben besprochenen Gedichtzyklus Caesar und Cleopatra, in welchem er, nun aber in ernster Absicht, Georges Stil imitiert.187 Ebenso wie für diesen Zyklus ist auch für den Taschensumpf-Sonettzyklus Georges Algabal ein Prätext. Das gewalttätige Geschehen im ersten Sonett erinnert, auch der Sprache nach, an Algabal („Was blieb zur Ruh, als seinen Tod zu heischen? / Da schied er selbst mit wenig herben Spuren!“). Die Motivik des zweiten Texts spielt auf Georges Reisegedichte an: „Verheissung schien der Fund der letzten Fahrt“ (2. Sonett, I,1) erinnert z.B. an die Anfangszeile von Neuer Ausfahrtsegen, einem der wenigen Sonette Georges: „Als noch verheissung mich ins ferne schickte“.188 Weitere Stilmittel sind Metaphern aus der sakralen Sphäre („Der ungewohnten Tuempel seltne Wunder“), Partizipialkonstruktionen („Der sich dem Wunsch versprechend offenbart“) und die parataktische Reihung von Sätzen. Gundolf spielt mit kalkulierten Brüchen zwischen den Darstellungsmitteln und dem Darstellungsgehalt oder, wie im folgenden Beispiel, zwischen der Trivialität des dargestellten Erlebnisses und der daraus sentenzartig abgeleiteten Lehre: Doch glaubten wir dass uns ein Genius schuetze Und viel gewaehre auch in fremden Feuchten Da uns vom ersten Sumpf die Stunden scheuchten. Wer einmal fand der glaubt an jede Pfuetze.
Dennoch sind die Sonette insgesamt keine engen George-Imitationen, sondern imitieren eher allgemein den gehobenen Stil der Blätter. Insofern könnte man anstatt vom „Georgeton“189 besser von einer stilistischen Imitatio der Blätter-Lyrik sprechen. Gundolfs Beweggründe dafür, den als normativ erkannten Stil zu gleicher Zeit ernst als auch im Spiel zu verwenden, lassen 187 188 189
Vgl. Friedrich Gundolf an Karl Wolfskehl, Brief vom 17. Juli 1899, Abschrift (DLA). Stefan George: Neuer Ausfahrtsegen. In: SW, II, S. 47. Vgl. Schlösser (1969): Karl Wolfskehl 1869–1969, S. 95.
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sich nicht mit letzter Genauigkeit bestimmen. Teils dienen sie der Entspannung, sind lösende „Diastole“ parallel zur Arbeit an den Shakespeare-Sonetten, teils dienen sie, möglicherweise ebenfalls befördert durch die Übersetzertätigkeit, dem Selbstausdruck gemäß der Definition von Huizinga, der Spiel als „ein freies Handeln“ definiert.190 Spiele haben Regeln. Die Pointe bei Gundolf ist, dass er die ‚Stilregeln‘ Georges befolgt, aber die Regeln auf einen trivialen Gegenstand anwendet (was komisch wirkt). Der spielerische Umgang mit dem von ihm Verehrten wird noch an einem anderen Beispiel deutlich. Hier verwendet Gundolf das Mittel der Karikatur.191 Bei Kommerell kündigt ein karikaturistisches George-Porträt den Beginn seiner inneren Distanzierung an. Edith Landmann berichtet, wie George ihr 1928 eine Zeichnung von sich zeigt, die Kommerell gemacht habe: „[E]ine nach meinem Eindruck grauenvolle Karikatur, die er aber sehr amüsiert betrachtete.“192 George scheint die Zeichnung nicht als einen Akt latenter Aggression wahrzunehmen, obwohl sie von der Erzählerin als ein solcher empfunden wird. Gundolfs George-Karikatur entsteht dagegen ebenso wie die zwölf Taschensumpf-Sonette in der Zeit seiner ersten Begeisterung (vgl. Abb. 4). Im November 1899 porträtiert Gundolf auf einem großformatigen Briefumschlag seine Heroen Caesar und George sowie möglicherweise Shakespeare.193 Zur Ikonographie des Dichters gehören lange Haare, eine hohe Stirn und eine große Nase; ein weiteres Attribut ist der Lorbeer.194 Alle diese Elemente tauchen in seiner Zeichnung auf. Andrea Schütte hat mit Blick auf die Gelehrtenikonographie festgestellt, dass Nasen häufiger vergrößert wurden, um den gelehrten Charakter zu ver-
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Vgl. Huizinga (1939): Homo Ludens, S. 12. Gundolf war nicht nur ein begabter Verfasser von Scherzversen, sondern auch ein begnadeter Karikaturist. Eine große Anzahl von Zeichnungen ist erhalten. Anders als bei seinem ebenfalls zeichnerisch begabten Bruder Ernst handelt es sich dabei durchweg um karikaturistische oder humoristische Aperçus (meist Randzeichnungen oder Beilagen von Briefen). Edith Landmann (1963): Gespräche mit Stefan George, S. 192. Friedrich Gundolf: Über Bühnenanweisungen, Umschlag, STGA, Edgar Salin I, 1110. Ähnliche Zeichnungen liegen im noch unerschlossenen Teilnachlass Else Limmer-Leuchs im DLA (A:Usinger). Vgl. Schmölders (1994): Das Profil im Schatten, S. 255 Anm. 33.
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stärken.195 Dasselbe tut Gundolf. Georges eigene Nase ist nicht überdurchschnittlich groß, aber Gundolf hilft zeichnerisch nach. Seine Bildvorlage ist die bekannte Fotografie von Curt Stoeving, die George im Profil, mit ausgeprägtem Wulst und vorstehendem Mund zeigt.196 Über diese Fotografie schreibt Gundolf am 1. September 1899 an George: „Der Abzug ist nicht besonders trefflich geraten, aber ich bin doch glücklich und dankbar wenigstens ein getreues Bild meines Meisters zu besitzen, ohne allzuviele subjektive Einmischung des Porträtisten“.197 Seine flüchtigen George-Zeichnungen illustrieren, wie ein spielerisches Element seine vorbehaltlose Verehrung für George durchkreuzt: Die Züge des Meisters werden von ihm verfremdet und ins Karikaturistische gezogen. Drei Skizzen zeigen sein Profil erst in natürlicher Wiedergabe, dann verzerrt mit fliehender, schließlich mit wulstiger Stirn. Vielleicht ist Gundolf selbst das Frevelhafte seines Tuns bewusst, denn ein Porträt ist mit heftigen Strichen übermalt. Dennoch schenkt er Wolfskehl den Umschlag mit dem Zusatz: „fürs Archiv“. Nicht nur seine karikaturistische Zeichnung wird damit konserviert, sondern auch – und vor allem – Gundolfs Aufsatz Über Bühnenanweisungen, dessen Manuskript sich in jenem Umschlag befand.198 Wolfskehl hat wahrscheinlich Korrektur gelesen, wie Anmerkungen im Manuskript nahelegen. Der Aufsatz selbst ist neben der Karikatur ein Beispiel für die relative Eigenständigkeit, die Gundolf in der Anfangszeit seiner Jüngerschaft an den Tag legt. Gundolfs kurze Abhandlung Über Bühnenanweisungen, in der er ausgedehnte Nebentexte in Dramen als gattungsfremd kritisiert, trübt vorübergehend das Verhältnis zwischen ihm und George, weil Gundolf den Text unter der Ägide Wolfskehls in der Wiener Rundschau vom 15. November 1899 abdrucken lässt (der Umschlag datiert auf den 11. November 1899). George schreibt an Wolfskehl am 18. November: 195
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Andrea Schütte: Nasus, ¯ ¯ı (m.) – die Nase. Exkurs zur Selbstmodellierung des Gelehrten im Bild. In: Jürgen Fohrmann (Hg.): Gelehrte Kommunikation. Wissenschaft und Medium zwischen dem 16. und 20. Jahrhundert, Wien, Köln und Weimar: Böhlau 2005, S. 129–153. Vgl. Boehringer (21968): Mein Bild von Stefan George, Tafelteil, Tafel 75. Friedrich Gundolf an Stefan George, Brief vom 1. September 1899. In: GeorgeGundolf Briefwechsel, S. 37. Vgl. Gundolf (1899): Über Bühnenanweisungen.
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Was mich offen gestanden nicht sehr angenehm berührte war dass ich den Friedrich Gundolf noch ganz warm aus den ‚Blättern‘ kommend in diese neusüchtige misch-zeitschrift Wiener Rundschau einspringen sah. ich hätte ihm mehr ‚keuschheit‘ zugetraut […] Hatten Sie denn dazu gar kein wort zu reden?199
Um den 20. Oktober 1899 war der dritte Band der vierten Folge der Blätter erschienen; drei Wochen später erscheint nun Gundolfs Text in der Wiener Rundschau. George reagiert eifersüchtig und alarmiert, weil Gundolf dasselbe ‚promiskuitive‘ Verhalten an den Tag zu legen droht wie der gleichfalls in diversen Zeitschriften publizierende Hofmannsthal.200 Möglicherweise steht hinter beidem, der karikaturistischen Zeichnung wie der Veröffentlichung in einem anderen Medium als den Blättern, der Versuch, internen Spannungen zu begegnen, die sich aus der Verehrung für George ergeben. Spielerische Nachahmung und Karikatur steuern einer ungebremsten Verehrung entgegen und reagieren, vermutlich unbewusst, auf die Vereinnahmungsversuche seitens George. Für Wolfskehls Kinder entsteht später eine Reihe von Gedichten, in denen Gundolf zwar den Gestus des Lehrers übernimmt, aber doch den humoristischen Charakter über dem lehrhaften dominieren lässt. Ein bisher noch unveröffentlichtes Beispiel ist Der Kinder Tischzucht Reimenweis. (auf Dedikationsblatt) für Natzel und Ditzel.201 Hinter den Namen Natzel und Ditzel verbergen sich die Schwestern Renate und Judith Wolfskehl, die auch die Widmungsträgerinnen von Gundolfs Weltgeschichte für Kinder sind.202 Gundolfs reimender Knigge für Kinder mit Basiswissen über Tischsitten und mit einfachen 199 200
201
202
Stefan George an Karl Wolfskehl, Brief vom 18. November 1899. In: GeorgeGundolf Briefwechsel, S. 44. Obwohl George den revueartigen Charakter der Wiener Rundschau (1896– 1901) anprangert, gibt er seine Vorbehalte offenbar auf, denn in derselben Zeitschrift erscheint ein Jahr später Gundolfs Würdigung Stefan George: Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod. Zu Gundolfs kontinuierlicher Publikationstätigkeit in verschiedenen Zeitschriftenorganen vgl. die bibliografische Aufstellung bei Salin (21954): Um Stefan George, S. 314 Anm. zu S. 72, 1. Friedrich Gundolf: Der Kinder Tischzucht Reimenweis (auf Dedikationsblatt) für Natzel und Ditzel, DLA (A:Wolfskehl). – Es wird zwar Wolfskehl zugeschrieben, ist aber in Gundolfs Hand geschrieben und auch unter inhaltlichen Gesichtspunkten seiner Autorschaft zuzuweisen. Vgl. Salin (21954): Um Stefan George, S. 313 Anm. zu S. 69.
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Teil 2: Imitatio im Kreis
Ernährungsregeln knüpft an Traditionen didaktischer Literatur, vor allem an die Tischzuchtenliteratur des Mittelalters an – eine Textsorte, die von Beginn an auch ihre Parodie provoziert. Die Tischzucht ist planvoll aufgebaut. Auf dem ersten Blatt reihen sich unter der Überschrift „Was das Kind isst“ in einfachen Verspaaren aus vierhebigen, reimenden Trochäen die kindgerechten Nahrungsmittel, auf dem zweiten Blatt folgt eine Liste „Was das Kind nicht isst“ und auf dem dritten Blatt schließlich eine Abhandlung „Wie das Kind isst“. Damit erinnert es an die Form des Lehrtraktats. Die Art der Widmung „auf Dedikationsblatt“ spielt auf Gundolfs und Wolfskehls gemeinsame philologische Sammelleidenschaft an. Einen Eindruck vom Charakter dieser Verse gibt der Schluss der Tischzucht: Iss deinen Teller immer leer, Hast du genug so nimm nichts mehr. Natz, Ditz: die Tischzucht endet hier Lebt nach dem was – befolgt das wie.203
Wie in der althergebrachten Gebrauchslyrik – dem Spruchkatechismus oder den gereimten Zusammenfassungen von Heiligenviten – soll die Versform dem Memorieren von Inhalten dienen. Schon der altertümliche Begriff „Tischzucht“ spielt auf diese didaktische Tradition und ihre grobianische Parodie an, die durch ihre humoristische (bzw. satirische) Form das Behalten der Tischsitten erleichtert. Diese mittelalterlichen Traditionen kann Gundolf bei Wolfskehl als bekannt voraussetzen. Dasselbe gilt für seine versifizierte und bebilderte Weltgeschichte für Kinder, die in gleicher Weise didaktischer Lyrik im Stile von Joachim Heinrich Campes Geschichtliches Bilderbüchlein oder die älteste Weltgeschichte in Bildern und Versen (1831) folgt.204 Viele ihrer Sentenzen werden in Heidelberg und München zu geflügelten Worten.205 Gundolf hat dazu den Segen des Meisters. Die Weltgeschichte lässt George sogar als „lösendes Satyrspiel“ im An203 204
205
Gundolf (o.J.): Der Kinder Tischzucht Reimenweis, S. 3. Joachim Heinrich Campe: Geschichtliches Bilderbüchlein oder die älteste Weltgeschichte in Bildern und Versen, Nachdruck der Ausgabe 1831, mit einem Begleittext von Reinhard Stach, Andernach: Kari 2000. Salin (21954): Um Stefan George, S. 69.
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schluss an eine eigene Lesung vortragen.206 Sie findet am 22. Oktober 1902 in Berlin statt, und nach dem offiziellen Teil mit achtzig Gästen wird Gundolfs Opus beim gemeinsamen Imbiss im kleinen Kreis gelesen.207 Dieser Rahmen ist Gundolfs heiterer Lyrik gemäß, wohingegen George sich mit seinem Kreis ein ihm adäquateres Forum schafft und sich von der gehobenen bürgerlichen Salonkultur abwendet. Gundolf tritt in seinen späteren Scherzdichtungen nicht als Jünger in Erscheinung, sondern zumeist als umschwärmter Professor. Einerseits spricht er belehrend von oben herab, anderseits verringert er den Abstand zwischen Autor und Adressat durch das Moment des Spiels. Verspielte Belehrung ist etwa der Gestus der folgenden Merkverse, mit denen Gundolf einer Freundin die gebräuchlichsten Metren erklärt. Er beschreibt nicht nur den Charakter der verschiedenen Versfüße wörtlich genommen als Tanzschritte, sondern wendet die wechselnden Metren an und komplettiert seine Aussagen durch graphische Notationen am Versende. Der Jambus hinkt erst kurz dann lang – / (Wie Shakespeare seine Dramen sang). Lange tritt Trochaeus an / – Mit dem Kurzfuss schlackst er dann. Daktylus trampelt mit langem Getänzel / – – Ringelt dann zweimal sein kürzliches Schwänzel. Plattfuss zweimal langsam spondän / / Ist im deutschen höchst unmondän. Anapäst kurzkurzlang hupft empor – – / Welcher nie oder selten kommt vor.208
Zum selben Genre gehören auch seine Fine-Fibel an Fine von Kahler mit aufmunternden Sprüchen gegen ihre depressiven Verstimmungen,209 die Literärgeschicht und die Geschichte der Philosophie in nuce.210 Nach der Aussage von Arnold Grabowsky, 206 207 208 209 210
Salin (21954): Um Stefan George, S. 258. Salin (21954): Um Stefan George, S. 199. Friedrich Gundolf: „Der Jambus hinkt erst kurz dann lang“ [für Lili Waetzoldt], STGA, F. Gundolf I, 398. Friedrich Gundolf: Fine-Fibel, STGA (ohne Signatur, datiert auf den 17. Februar 1912). Erstere neu herausgegeben und kommentiert von Ernst Osterkamp (Hg.): Friedrich Gundolf. Die deutsche Literärgeschicht reimweis kurz fasslich herge-
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einem Schüler und Verehrer Gundolfs, hat er letztere „für einen Doktoranden“ verfasst.211 Genauer hätte es heißen müssen: für eine Doktorandin, nämlich für seine damalige Freundin und spätere Frau Elisabeth Salomon zur Vorbereitung auf ihr Examen.212 Wieder verbindet Gundolf das Nützliche mit dem Angenehmen: Die Reime sollen den sperrigen Stoff leicht memorierbar machen und gleichzeitig das Herz der Empfängerin rühren. „Wissenschaftliches als Scherz-Dichtung“ nennt Elisabeth Gundolf in ihrem Nachlassverzeichnis der Schriften Gundolfs die Literatur-, Philosophie- und Weltgeschichte ihres Mannes und rubriziert sie damit unter seinen wissenschaftlichen Arbeiten.213 Diese Versdichtungen bieten einen Querschnitt der Literatur-, Philosophie- und Weltgeschichte im Taschenformat, handlich abbreviiert und geeignet für didaktische Zwecke. Die Widmungsempfänger sind Frauen (Literärgeschicht: Fine von Kahler, Geschichte der Philosophie: Elisabeth Salomon) oder Kinder (Weltgeschichte: Renate und Judith Wolfskehl).214 Ihr Überblickscharakter und der typisierende Ansatz entsprechen Gundolfs wissenschaftlichem Denken.215 Betrachtet man beispielsweise die Literärgeschicht, so wird deutlich, dass er in ihr seine Methode – Enthistorisierung, Typisierung, Dekontextualisierung, Konzentrierung – beibehält. So verführerisch es ist, in den Versen primär ihren subversiven Charakter zu sehen, so wäre es doch übertrieben, aus ihnen ein bewusstes Opponieren gegen George herauszulesen.216 Gundolf teilt schließlich bis auf
211 212 213 214 215
216
richt, Heidelberg: Manutius 2002; Friedrich Gundolf: Geschichte der Philosophie in nuce, DLA. Die Philosophiegeschichte ist mehrfach und in verschiedenen Archiven überliefert. Arnold Grabowsky: Heidelberg, Schlossberg 55: Erinnerungen an Friedrich Gundolf. In: Castrum Peregrini 79 (1967), S. 32–35, hier S. 33. Vgl. Elisabeth Gundolf: Gundolf. Ungedruckte Schriften. Bibliographie, kommentiertes Nachlassverzeichnis, DLA (A:Klibansky). Vgl. Elisabeth Gundolf (o.J.): Gundolf. Ungedruckte Schriften. Hinzu kommt ein Mutterrecht für Anfänger. „Gundolf strebte nach philosophisch humanistischem Überblick, einer Übersicht auf Grund geistgliedernder Koordinaten.“ – Thormaehlen (1962): Erinnerungen an Stefan George, S. 209. Osterkamp vermutet, Gundolf habe sich damit der von George gestellten Aufgabe entzogen, eine Literaturgeschichte zu schreiben. – Vgl. Ernst Osterkamp: Nachwort. In: ders. (Hg.): Friedrich Gundolf. Die deutsche Literärgeschicht Reimweis kurz fasslich hergericht, Heidelberg: Manutius 2002, S. 87–105, hier S. 101.
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wenige Ausnahmen (Luther) Georges Wertungen. Der Einschätzung, Gundolf verlasse im Lämmer-Kapitel seiner Literärgeschicht die Perspektive des Kreises, wenn er „den Kanon und auch noch die Epigonen bedenkt“,217 ist entgegenzuhalten, dass George selbst die Epigonen zum Thema seines gleichnamigen Gedichts Lämmer gemacht hat und dass Gundolf dessen spöttisch-distanzierten Ton für seine Lämmer-Episode übernimmt. Auch Gundolfs skeptische Beurteilung der neueren Philosophiegeschichte deckt sich mit der Perspektive des Kreises.218 Das subversive Moment liegt in Gundolfs Entscheidung, diese Texte im Genre der „Scherz-Dichtung“ zu verfassen. Die Überblicksdarstellungen in Knittelversen travestieren die hohe Wissenschaft und nicht zuletzt Gundolfs eigenen methodischen Ansatz. Sie drohen daher aber sein öffentliches Bild zu entwerten, weshalb Gundolf seine Versdichtungen nicht über den engeren Freundeskreis hinaus verbreitet sehen will. Als Elisabeth Salomon ihm im Juni 1921 aus Wien schreibt, ihr Schwager, der Wiener Psychoanalytiker Siegfried Bernfeld, habe die Literatur- und Philosophiegeschichte sowie Mutterrecht für Anfänger im geselligen Kreis vorgelesen, reagiert er ungehalten und verbietet die Anfertigung der von den Zuhörern erbetenen Abschriften.219 Diese Tatsache ist ein Indiz dafür, dass Gundolf seine Gelegenheitswerke als einer poetischen Sphäre zugehörig empfindet, die nicht zu seiner Funktion als Wissenschaftler im George-Kreis passt. Die Texte werden schon dadurch fragwürdig, dass er als ein Angehöriger des Kreises George einmal nicht imitiert. Seine enger werdende Beziehung zu Elisabeth Salomon trägt dazu bei, dass sich Georges Wohlwollen ihm gegenüber verrin217 218
219
Vgl. Christoph König: Wir vom Archiv 6, S. 16, FAZ Nr. 160 vom 18. August 1997, S. 27. In der Geschichte der Philosophie zeichnet Gundolf den Fortschritt des Faches als Rückschritt: „Jed das wird ob jed ob wird wie: der Fortschritt der Philosophie.“ Schrittweise werde vom Fach, ausgehend von der Ontologie über die Metaphysik zur Erkenntnistheorie, jeglicher metaphysische Anspruch aufgegeben. „Die Genehmigung zu Abschriften der Scherzgeschichten Litteratur erteil ich nicht, wünsche auch nicht daß es mir ungekannten vorgelesen wird. Ich habe sehr triftige Erfahrungen, das nicht zu wünschen.. und bitte Euch sehr herzlich, euch privatissime dran zu erfreuen.“ – Friedrich Gundolf an Elisabeth Salomon, Brief vom 17. Juni 1921 (DLA).
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gert.220 Der Meister tadelt Anfang 1920 Gundolfs apodiktische Typisierungen als unzulässige „Vereinfachungen“ und untermauert seinen Vorwurf mit der Bemerkung, dass er schließlich auch die „Philosophie in drei Seiten“ presse.221 Diese abwertende Äußerung zur Philosophiegeschichte, die ja für Elisabeth Salomon verfasst worden ist, zeigt, dass seine Einstellung der nonkonformen, spielerischen Lyrik gegenüber abhängig vom Grad des Vertrauens ist, das er Gundolf entgegenbringt. Sie ist weiter ein Anzeichen für den Generationenwechsel hin zur dritten Kreisgeneration, in der Gundolfs Einfluss schwindet. Die Textbeispiele aus dem Zeitrahmen von 1899 bis 1919 zeigen, dass Gundolf von Anbeginn seiner George-Jüngerschaft an zeitgleich zu ernsten Stilimitationen auch spielerische Imitationen verfasst und diese Parallelproduktion beibehält. Damit entzieht er sich den Zwängen einer strikten, ausschließlich dem „Aufbauende[n]“222 dienenden Poetik. Georges Jugendsatiren folgen zwar gleichfalls nicht dieser späteren poetologischen Maxime. Dennoch sind sie nicht mit den in diesem Kapitel behandelten Texten von Gundolf vergleichbar.223 Sie richten sich gegen reale Personen und prangern menschliche Eitelkeiten an, das Lachen geht auf Kosten anderer und die Autorität des Verfassers bleibt gewahrt. Gundolf hingegen wirft seine Autorität als Dichter, Kreisangehöriger und Wissenschaftler absichtlich in die Waagschale, um aus der Diskrepanz zu den verfassten Gebrauchsversen komisches Kapital zu schlagen. Gundolfs Gelegenheitsproduktion ist nicht mit Georges satirischer Lyrik gleichzusetzen, obwohl George es gegenüber Edith Landmann 220
221 222 223
Vgl. Gunilla Eschenbach: Philine und Diotima, Hetäre und Heldin. Rollenzuschreibungen für Elisabeth Salomon. In: Frauen um Stefan George, hg. v. Ute Oelmann und Ulrich Raulff (Castrum Peregrini, Neue Folge 3), Göttingen: Wallstein 2010, S. 253–270. Edith Landmann (1963): Gespräche mit Stefan George, S. 96. Edith Landmann (1963): Gespräche mit Stefan George, S. 191. Satirische Verse von Gundolf gibt es nur wenige, auch der folgende Dreizeiler ist zwar für eine satirische Zeitschrift bestimmt, aber doch eher harmlos: Das neue Musikdenkmal im Tiergarten will er, wie er an Wolfskehl schreibt, „nach befund“ anonym an den Simplicissimus geben. – Friedrich Gundolf an Karl Wolfskehl, Brief um den 16. Dezember 1903. In: Wolfskehl-Gundolf Briefwechsel, S. 199. Die im Briefwechsel nicht wiedergegebenen Verse lauten: „Sie setzten’s fest mit Steiße-fleisse. / Daß Keiner’s beisse reiße, schmeiße / Und leise heisse: Weisse Sch…“ – STGA, Wolfskehl III, 5251a.
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so darstellt, als handle es sich der Sache nach um dasselbe. Ein Indiz dafür, dass Gundolf sein deviantes Verhalten bewusst ist, ist die Adressatenwahl jener Gedichte. Es handelt sich durchweg um Kontakte, die ihm nach dem Bruch mit George erhalten bleiben und die andere Facetten seiner Persönlichkeit berühren als das soziale Miteinander im Kreis.
2.5 Problematisierung von Imitatio Die folgenden Beispiele Georges, Gundolfs und Kommerells zeigen, wie brüchig das Imitatio-Modell in der praktischen Umsetzung ist. Zuerst soll es um Georges an Gundolf gerichtete Verse gehen. Ihr Thema ist jeweils unzureichende Imitatio, obwohl Contagio stattfindet; obwohl Gundolf ihm nahesteht und ihn stilistisch und ethisch imitiert. Gemäß der Theorie des Imitatio-Modells dürfte das eigentlich nicht geschehen. George reagiert, indem er Gundolf in Gedichten dazu auffordert, mehr von seinem Geist anzunehmen. Das Verhältnis gestaltet sich nach dem Bildungskonzept der Idealisierung: Der Bildungsgeber misst das reale Verhältnis zwischen den Akteuren am gewünschten idealen Verhältnis und bietet dem Bildungsnehmer Contagio an. Die Umsetzung kann er nicht weiter beeinflussen, wenn der Persönlichkeitskern des anderen dem entgegensteht. George hat das aus seiner Sicht Problematische an Gundolfs Temperament in den Gedichten König und Harfner und Sang und Gegensang dargestellt.224 Das Thema beider Texte ist gescheiterte, weil oberflächliche Imitatio. George wirft Gundolf vor, Nachahmung als Spiel zu betreiben. Beide Male verbindet sich die poetologische Kritik an Gundolfs nur spielerischem Aufgreifen der neuen Zeichen mit persönlichem Leiden an der Oberflächlichkeit seiner Gegenliebe. Sang In zittern ist mir heut als ob ich in dir läse Bei unsrem glück noch viel von fremdem geist.. Als gälte dir für schaum und flüchtiges gebläse Was mir den atem schwellt · in adern kreist. 224
Stefan George: König und Harfner. In: SW, VI/VII, S. 46f.; Stefan George: Sang und Gegensang. In: SW, VI/VII, S. 71.
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Was sich für dich verströmt kannst du nicht in dich saugen? Befreie mich von meiner lauten angst! War das vielleicht Mein blick – der deiner toten augen? War das Mein hauch als du gebrochen sangst?225
Sang wird gefolgt von dem Gedicht Gegensang, beide sind in der gemeinsamen Überschrift Sang und Gegensang zusammengefasst und bilden eine untergeordnete Gruppe im größeren Zyklus Gezeiten. Schon diese Überschrift spielt auf die Imitatiothematik an. Der Begriff Gegensang kann zwar schlicht als antwortender Gesang oder als Echo verstanden werden. Es schwingt aber auch die antike Bedeutung von gr. , Gegengesang, mit und deutet damit eine (verzerrte) Nachahmung an. Gegensang nimmt das Ende des gesamten Zyklus vorweg, der mehrfach die Metapher des Wasserspiegels bringt. Im zentralen Gedicht Der Spiegel226 bewahrheitet sich die in Sang geäußerte Befürchtung des Sprecher-Ichs, dass die Nachahmung bzw. die Suche nach tiefem Einverständnis – denn Imitatio ist, wie eingangs gesagt, ein hermeneutischer Vorgang (vgl. Kap. 1.3) – mit dem angesprochenen Du scheitert. „Ihr träume wünsche kommt jezt froh zum teiche! / […] Ihr glaubt nicht dass das bild euch endlich gleiche?“ Die Antwort der Wünsche: „[W]ir sind es nicht!“227 wird in Gegensang vorweggenommen, indem es den in Sang geäußerten Vorwurf des gebrochenen Gesangs radikalisiert. Es ist der gestorbene Gesang einer toten, im Wasser oder im Moor „versunknen Seele“, deren „ersterbender und sanfter klang“ rühren will, dem aber das Ich nicht lauschen darf, wenn es nicht „des weges irr“ werden will.228 Soweit zur Stellung von Sang im Kontext, der bereits signalisiert, dass es um Themen wie Ähnlichkeit, Spiegeln und Erkennen geht. In Sang wird stärker als in den beiden anderen Gedichten die poetologische Ebene berührt. Auf sie verweisen die Metaphern Hauch, Atem und Gesang. Sie bezeichnen aber, vor allem in Verbindung mit der Angst vor „fremdem geist“ (I,2) und der Frage: „Was sich für dich verströmt kannst du nicht in dich saugen?“, 225 226 227 228
Stefan George: Sang und Gegensang. In: SW, VI/VII, S. 71. Stefan George: Der Spiegel. In: SW, VI/VII, S. 75. Stefan George: Der Spiegel. In: SW, VI/VII, S. 75. Stefan George: Sang und Gegensang. In: SW, VI/VII, S. 71.
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zugleich den Aspekt der Contagio. Wie die letzten zwei Verse andeuten, erschrickt das Sprecher-Ich über das tote und gebrochene Echo seines Gesangs. Im Wesen der Contagio liegt es, sowohl poetologisch, als inspirierender Anhauch, als auch in Form von erotischer Attraktion somatisch wirksam zu sein. Zumal in diesem Gedicht hat die vom Sprecher-Ich ersehnte Intensität der Berührung eine stark körperliche Qualität und den Charakter eines Liebesverhältnisses. Erotisches Begehren ist verquickt mit dem Verlangen, imitiert zu werden. Umgekehrt zieht das Sprecher-Ich aus ungenügender, „gebrochen[er]“ und „flüchtig[er]“ Imitatio einen Rückschluss auf fehlende Gegenliebe. Im gleichfalls an Gundolf adressiertem Rollengedicht König und Harfner fällt der Vorwurf des Königs noch heftiger aus: Mein heilig sinnen drob ich mich verzehre Zerschellst du in der luft zu bunten blasen Und schmilzest mein erhabnes königsleid In eitlen klang durch dein verworfen spiel.229
Dieses Rollengedicht, das auf David und Saul referiert, hat durch das Harfenspiel und die emotionale Bindung der beiden Akteure sowohl stilistische als auch ethische Imitatio zum Gegenstand. Entgegen der biblischen Geschichte ist nicht David hier im Recht, sondern der König. Das „verworfen spiel“ bezeichnet ein ethisches Defizit. Es hat einen oberflächlichen Reiz, bleibt aber, wie der Vergleich mit Seifenblasen zeigt, ohne Bestand („zerschellst du in der luft zu bunten blasen“). Zwischen David und Saul gibt es einen Bezug, weil David offenbar Motive dessen aufgreift, was Saul zuvor gedacht („[m]ein heilig sinnen“) und gefühlt („mein erhabnes königsleid“) hat. Davids Spiel ist somit ein Beispiel fehlgeleiteter, ästhetizistischer Nachahmung. Es gefährdet den imitativen Dialog. Gundolf, an den dieses Gedicht adressiert ist, der „Spassmacher“230 und Poeta ludens, so anziehend er im geselligen Umgang sein mag, übertritt für George eine Grenze, wenn er sein „leichte[s] Reimspiel“231 auf das Gebiet der „heilig[en]“ und „erhabne[n]“232 Poesie überträgt. 229 230 231 232
Stefan George: König und Harfner. In: SW, VI/VII, S. 46f., hier S. 47. Edith Landmann (1963): Gespräche mit Stefan George, S. 96 Anm. 1. Salin (1954): Um Stefan George, S. 69. Stefan George: König und Harfner. In: SW, VI/VII, S. 46f., hier S. 47.
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Gundolf selbst hat in Am Meer II aus der neunten Folge der Blätter (1910) die Imitatio-Thematik aus der Perspektive des abgeleiteten Wesens problematisiert. Das Meer ist nicht, wie im vitalistischen Diskurs, der Ursprung allen Lebens und der Inbegriff einer All-Einheit, sondern im Gegenteil das Paradox eines ‚abgeleiteten Elements‘. Es wird bezeichnet als „Spieglung und nie gestalt“, als eine Leerform, die ihre Farbe nur durch die Spiegelung des Himmels und seine Kontur nur durch eine ihrerseits ständig wechselnde Uferlinie erhält. Damit ist das Meer das Gegenteil dessen, was der Kreis positiv mit Leben verbindet. Der Lebensbegriff des Kreises ist durch Qualitäten näher bestimmt, die Festigkeit und Dauer suggerieren (vgl. Kap. 1.2). Solche Qualitäten kommen dem Meer, wie Gundolf es schildert, nicht zu. Die Substanzlosigkeit und die reflektive Eigenschaft des Meeres überträgt er im Folgenden auf die abgeleiteten Wesen. Auf diesen wogen fahren keine frachten · An diesen strand verwies mich kein August. Wir tragen die wir da sind zu betrachten Die stätten der verbannung in der brust: Flut die den himmel wiegt und äfft und dünen Die ungesättigt steter schaum befrisst Und schmächtig gras und trüber wind – die bühnen Der seele die im schaun zu sein vergisst. Stets gegenüber – keinem ding gemein · Spieglung und nie gestalt · ein ewig baden Und nie ein trunk – und immer ferne sein Und immer zur vereinigung geladen.233
Das Gedicht besteht aus drei Strophen à vier Versen, die kreuzweise reimen und in deren fünfhebigen Jamben männliche und weibliche Reime wechseln. Obwohl es eine aus Georges Lyrik bekannte Strophenform ist, ist die Sprache schlichter und dem normalen Sprachgebrauch angepasst. Die Erwartung des Lesers, auf die Überschrift Am Meer folge ein Stück beschreibender Naturlyrik, wird gebrochen, denn gleich der erste Vers verweist auf die metaphorische Ebene: Ein Meer, auf dem keine Schiffe fahren, kann kein reales Meer sein. Das Meer ist in diesem Gedicht kein fruchtbares, vitales Element, sondern steril, „ungesättigt“ 233
Friedrich Gundolf: Am Meer II. In: Blätter IX, S. 89.
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und bloße Nachäffung des Himmels. In Analogie gilt dasselbe für diejenigen, „die wir da sind zu betrachten“ (I,3). Gundolf folgt dem traditionellen (nicht dem symbolistischen) Metapherngebrauch, weil das Konkretum hinter dem ‚eigentlich Gemeinten‘ zurücktritt. Eine sinnliche Wahrnehmung von Meer und Dünen fehlt, alles ist in hohem Grad reflektiert. Mit der Bühnenmetapher – Meer und Dünen werden als „bühnen der seele“ (II,3+4) bezeichnet – könnte negative Mimesis assoziiert werden (vgl. Abb. 2, negative Mimesis, Typ A). Im Kontext des Gedichts ist es eher so zu verstehen, dass das Sprecher-Ich auf dieser Bühne seinen innerpsychischen Zustand ausagiert. Diese Art der metaphorischen Darstellung passt zum Thema des Textes, dem Defizienzbewusstsein des abgeleiteten Wesens. Gedankliche Reflexion wird als Mangel dargestellt. Der „seele die im schaun zu sein vergisst“ (II,4) ist der Zugang zur Substanz versperrt. Sie bleibt, so die Textaussage, hungrig und durstig, obwohl sie „immer zur vereinigung geladen“ (III,4) sei. Modern gesprochen misslingt es dem abgeleiteten Wesen, eine eigene Identität auszubilden und sich selbst zu perfektionieren. Die Verse gipfeln in der Klage „Stets gegenüber – keinem ding gemein / Spieglung und nie gestalt“ (III,1+2). Am Meer II problematisiert Reflexion in ihrer doppelten Bedeutung von Nachdenken und Widerspiegeln: Zum einen bezeichnet sie das einseitige Überwiegen des Intellekts gegenüber einer vorreflexiven Unmittelbarkeit, zum andern bezeichnet sie das Leiden am spiegelnden Part, der dem abgeleiteten Wesen zukommt, und an der bloßen Funktion, etwas Vorhandenes zu wiederholen. Der mit der Imitatio verbundene positive Idealisierungsgedanke wird nicht thematisiert und damit implizit hinterfragt. Gundolf stellt eine im doppelten Sinne auf Reflexion ausgerichtete Lebensform als defizitär dar, nimmt sie aber als gegeben hin. Kommerell dagegen begehrt in seinem Gedicht Das Urteil der Gewalten (früherer Titel: „Die Sprüche der Gewalten“)234 dagegen auf. Es entsteht im Juni 1930 und gilt als autobiografisches Dokument seiner Abkehr von George.235 Auch dieser Text konstituiert sich durch die Opposition von Geist und Leben. 234 235
Max Kommerell: Gedichte, Gespräche, Übertragungen, Olten: Walter 1973, S. 120–122. Vgl. Boehringer (21968): Mein Bild von Stefan George, S. 172.
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Aber das authentische Leben spielt sich gerade nicht in der Nähe Georges ab, im Gegenteil: Kommerell stellt die Zeit seiner Kreiszugehörigkeit als Identitätsverlust in einer künstlichen, hermetisch abgeriegelten Gegenwelt dar, von der das Sprecher-Ich sich erst mithilfe der „Gewalten“ des Wassers und des Windes befreit. Die Elemente Luft und Wasser sind bewegt und fluktuierend und in dieser Eigenschaft, anders als in Am Meer II, positiv belegt. Sie verheißen dem Ich ein freieres Leben als das in der Eingangsstrophe geschilderte. Jegliche Bewegung ist in dieser in der Vergangenheitsform stehenden Strophe determiniert: Die Sanduhr berechnet die Lebenszeit, Horoskop und Glaskugel sehen die nähere Zukunft voraus und der Zauberstab kontrolliert die Gegenwart. „Sanduhr Tierkreis Stab und Glas“ sind Gegenstände, mit denen ein Zauberer kontrolliert, herrscht und Gewalt ausübt, und evozieren einen ähnlichen magischen Raum wie Hofmannsthals Der Prophet.236 Ein Entkommen gibt es in diesem Gedicht nur um den Preis des Lachens. Die ersten drei Strophen lauten: Sanduhr Tierkreis Stab und Glas Hölzer streng im Brand verriechend Ließen mich gelähmt und siechend. Nun allmählich ich genas Und nach reinerm Dasein arte Rüttelt unwirsch mir der Wind Des Gebirgs am falschen Barte: „Fort vom Kinne das! Sei Kind! Ein Gelächter ist der Zoll!“ Ich erschaudere und lasse Die verzauberte Grimasse Lachen – Echo weiß wie toll.237
Es folgen zehn weitere Strophen, in denen das Sprecher-Ich von einer Reise auf dem Rücken des Windes berichtet, die zurückführen in die Heimat, in einen vergessenen Buchenhain, in dem ein Steinmal steht. Die Bitte, auf dem Wind reiten zu dürfen 236 237
„In einer Halle hat er mich empfangen / […] Ein Zaubertrunk hält jeden Sinn befangen“ (I,1 und II,3). – Dieses Gedicht ist auf George gemünzt. Kommerell (1973): Gedichte, S. 120–122, hier S. 120. Eine abweichende (wohl frühere) Version bei Boehringer (21968): Mein Bild von Stefan George, S. 172.
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(IV), spielt mit dem poetologischen Motiv des geflügelten Dichterrosses. Ziel der Reise ist ein Naturheiligtum, das als ein offener Raum unter freiem Himmel im Gegensatz zum geschlossenen Zimmer des Zauberers steht. Diesem heiligen Ort entspringt eine Quelle, die ebenso wie vor ihr der Wind zu sprechen beginnt: „Schlürfe mich – und wieder wirst / Du was du beim Ursprung warest!“238 Die sprechende Quelle weist in den Bereich des Märchens und damit auf eine ebenfalls mit Ursprünglichkeit assoziierte Gattung. Die Strophenform – vierhebiger Trochäus, abwechselnd binnenreimend und kreuzweise gereimt – unterstreicht mit ihrem vitalen Gestus die Textaussage. Die vormals aufgenötigte Imitatio wird als Verzerrung und Verkleidung dargestellt. Das eigene verzerrte Lachen wird im Echo des Gebirges in nochmaliger Brechung zurückgeworfen, so dass das Ich darüber erschrickt. Der falsche Bart verweist auf eine Verkleidung und möglicherweise auf eine angemaßte Prophetenrolle. Bezogen auf Kommerells während seiner Kreiszugehörigkeit verfasste Lyrik ist damit jene gemeint, die den gemessenen Altersstil des späten George imitiert. Bereits in den Gesprächen erteilt Herder dem ‚Rokoko-Goethe‘ den Rat: „Erst kehret um und seid noch einmal kind!“239 Dieselbe Aufforderung („Sei Kind!“) ergeht nun, nach der Abkehr vom Kreis, vonseiten des Windes ans Sprecher-Ich. Wieder Kind zu werden, bedeutet ein Zurück zum Ausgangspunkt und mithin eine zweite Naivität, aber auch und in diesem Kontext vor allem eine Abkehr von einem nicht dem eigenen Wesen gemäßen Stil. Das Endziel der poetologischen Kehre ist die Perfektionierung des eigenen Selbst, der wiedergefundene Selbstausdruck. Wieder Kind zu werden, bedeutet unter anderem zu spielen. Nach seiner Trennung vom Kreis erschließt sich Kommerell die Bereiche der Komik, Satire und des Spiels. Seine Distanzierung von George setzt sich in seiner wissenschaftlichen Arbeit fort; etwa, indem er seine Frankfurter Antrittsvorlesung nach der Habilitation über Hofmannsthal, den „erste[n] aller Abtrünnigen“, hält.240 238 239 240
Kommerell, Gedichte (1973), S. 122. Kommerell (1929): Gespräche, S. 11. Jens Malte Fischer: Nimmundlies (XI). Max Kommerell: „Kasperlespiele für große Leute“. In: Merkur 58 (2004), H. 11, S. 1054–1059, hier S. 1056.
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Dass Kommerell das regulierende Bildungskonzept, wie er es in der Umgebung von Wolters erlebt, als Zwang empfindet, zeigt sich vor allem in den genannten Attributen des Zauberers. Das eigene Gesicht bezeichnet das Ich als „verzauberte Grimasse“ (III,3) und deutet damit an, dass es von dem nur durch seine Werkzeuge repräsentierten Zauberer verzerrt worden sei. Der Begriff der Verzauberung, der sowohl Faszination als auch Selbstentfremdung ausdrücken kann, wird hier ausschließlich in seiner negativen Bedeutung verwendet. Geformtwerden nach einer Norm wird als Deformation dargestellt, und zwar auf eine besonders drastische Weise, weil der andere in seiner Handlungsfreiheit gelähmt ist und der Akteur ihm in diesem Zustand seine Form aufzwingt.241 Das gellende Lachen, das der Wind als Wegezoll verlangt, deutet auf die Notwendigkeit hin, das vorher Verehrte zu verhöhnen und so den Zauber zu brechen. Wie ein Gegenstück zu Kommerells Das Urteil der Gewalten liest sich Gundolfs spätes unveröffentlichtes Gedicht Das Wort ward stark durch den der litt. Es gehört zu einer handschriftlichen Sammlung von Gedichten und Gedichtentwürfen mit dem Titel „Übergänge“, datiert auf März bis April 1931. In diesen Texten herrscht insgesamt eine depressive Grundstimmung mit einer bisweilen an Trakl erinnernden Verfallsmotivik.242 Nachdem Gundolf sich schon in seinem bei Bondi erschienenen Band Gedichte (1930) von George losgesagt hat, um sich öffentlich von Wolters und seiner ‚Blättergeschichte‘ zu distanzieren,243 findet er in diesem späten Gedicht noch härtere Worte für den verbliebenen Kreis. Das Wort ward stark durch den der litt kann als Gundolfs Vermächtnis und endgültige Lossagung von der Lebensform des Kreises gelesen werden.
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Kommerell begründet damit seinen Ausstieg aus dem Kreis: „Das ganze Umeinanderleben […] beruhte auf einer so vollständigen Aufgabe des persönlichen Selbstgefühles, wie ich sie höchstens für einen Jüngling, niemals für einen Mann angemessen und erträglich nennen kann.“ – Vgl. Max Kommerell: Briefe und Aufzeichnungen 1919–1944, aus dem Nachlass hg. v. Inge Jens, Olten und Freiburg: Walter 1967, S. 182. Vgl. z.B.: „Aus dem reinen Himmel fallen / Vogelleichen in den Schnee. / Bleiches Fernlicht lacht metallen / Auf verendet Reh.“ – Friedrich Gundolf: Übergänge (1931), DLA (A:Gundolf). Vgl. Friedrich Gundolf an Julius Landmann, Brief vom 16. November 1930. In: George-Gundolf Briefwechsel, S. 390f., hier S. 390.
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Das Wort ward stark durch den der litt Und mit dem Schweigen tötlich [sic] stritt. Heut trägt es schwache Brüder breit Auf samtenen Schwingen durch die Zeit. Eh Aug und Herz gereift zum Fang Des Weltwilds, flattert Wohlgesang Durch den gepflegten Hain und preist Die Götter schönlich und vergreist: Sie wissens jetzt! Die Jugend und Die Liebe und der Heldenbund Sind Schattens Schatten, braver Trab.. Des aufgeflogenen Wesens Grab. Ihr hütet übertreu was war: Nicht einer der beschworenen Schar Folgt euren Rufen. Leise lacht Der Teufel aus der nahen Nacht.
Nicht alles an diesem Gedicht lässt sich entschlüsseln. Welches „Wort ward stark“ – so stark, dass es nicht nur „den der litt“, sondern auch „schwache Brüder“ trägt? Was ist mit dem Neologismus Weltwild gemeint?244 Die hier vorgeschlagene autobiografische Interpretation bezieht das Gedicht auf Gundolfs Bruch mit George und auf den späten George-Kreis. Das sich selbst in die dritte Person setzende Sprecher-Ich (I,1) rechnet kritisch mit der eigenen Vergangenheit ab, die für es selbst und eine Gruppe von Brüdern abgeschlossen sei, für ein angesprochenes „Ihr“ (IV,1) jedoch noch zur Gegenwart zähle. Diese Gegenwart habe, so die Aussage des Gedichts, keine Zukunft (IV). Die beiden Zeitschichten, die das Gedicht strukturieren, „Heut“ (I,3) und „Eh“ (II,1), bezeichnen die Zeit vor und nach dem durch die Heirat besiegelten Bruch. Ihnen sind zwei verschiedene Redeweisen zugeordnet: das „Wort“, das „auf samtenen Schwingen“ die Schwachen zu tragen vermöge, auf der einen Seite, und der „flatter[nde] Wohlgesang“, der der vergangenen Zeitschicht zugeordnet und als kraftlos („schönlich und vergreist“, II,4) bezeichnet wird, auf der anderen Seite. Das hymnische Preislied der Götter sei weniger zukunftsweisend als 244
Ein Lesefehler ist angesichts des klaren Schriftbilds auszuschließen.
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das Wort. Man ist geneigt, beim Gedichteinstieg an den Beginn des Johannesevangeliums zu denken: „Das Wort ward Fleisch“ (Joh 1,14). Denkbar wäre im vorliegenden Text eine Identifikation mit dem leidenden, von Gott verlassenen Christus.245 In Strophe I,3 klingt Luk 22, 32 an („Und wenn du dereinst dich bekehrst, so stärke deine Brüder“), Jesu Worte an Petrus vor dessen dreimaligem Verrat. In beiden biblischen Geschehnissen geht es um die Tragfähigkeit von Ideen in Extremsituationen, in beiden wird die Erfahrung von Gottverlassenheit bzw. die Erfahrung eigenen Versagens zur Voraussetzung dafür, anderen Menschen Kraft zu spenden. Erst das Wort desjenigen, der die existenzielle Erfahrung von Schuld und Gottverlassenheit gemacht habe, habe die Kraft, andere „Brüder“ zu stärken. Diese Fernwirkung bleibe denjenigen versagt, die dem falschen Dreiklang von „Jugend“, „Liebe“ und „Heldenbund“ (III) huldigten. Es liegt nahe, diese Aussage auf Gundolfs eigene Situation zu übertragen, zumal er in seinen späten Gedichten oft zu biblischer Sprache von Gesetz und Gnade, Schuld und Opfer greift, um das Verlassenwerden durch George in Worte zu fassen. Ein nicht näher bezeichnetes „Weltwild“ gehört der präsentischen Zeitstufe an. Es sei ein Gut, das erst mit einer gewissen menschlichen Reife erlangt werden könne (II,1). Der Begriff suggeriert kreatürliches Leben und wird dem in der dritten Strophe aufgezähltem Wertekanon entgegengesetzt. Das, was im „gepflegten Hain“ verehrt werde, sei lediglich „des aufgeflognen Wesens Grab“ (III,4). Jene Werte seien nur „Schattens Schatten“, also negative Mimesis in zweiter Potenz und Imitate („braver Trab“) des wirklichen Lebens. Die in der ersten Strophe angedeuteten tragenden Werte seien andere. Ohne damit die autobiografische Lesart auf die Spitze treiben zu wollen, sei die Vermutung geäußert, dass das diesen falschen Ideen gegenübergestellte „Weltwild“ die geliebte Frau beschreibt. Mit ihr assoziiert Gundolf kreatürliches Leben: „[I]ch fühle nur daß ich dich unerschöpflich lieben muss wie das Leben wodurch ich da bin, du süsseste und mit all deinen wilden Flammen und Flügeln guteste 245
Man könnte in I,2 auch an Jakobs Kampf mit dem Engel denken (1. Mose 32,25–30), aber anders als bei jenem Kampf hüllt sich das Gegenüber in Schweigen.
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aller Kreaturen.“246 Das frühere, nur scheinbare Leben im „gepflegten Hain“ hat der Sprecher gegen ein anderes, authentischeres eingetauscht (II). Die letzte Strophe adressiert explizit die Jüngerschar. Sie trifft das Verdikt: „Ihr hütet übertreu was war“ (IV,1). Niemand hört ihr Rufen und folgt ihr nach, nur der leise lachende Teufel antwortet aus der einbrechenden Dunkelheit. Gundolf, so kann man diese Verse deuten, prognostiziert dem Kreis keine Zukunft. Seine Botschaft habe nicht die Autorität eines göttlichen Worts, weshalb eine Nachfolge nach dem Muster der Imitatio Christi ausbleibe. Diese letzte Strophe erinnert an Georges Gedicht Ihr tratet zu dem herde, richtet sich aber im Unterschied zu jenem gegen den Kreis selbst. Die erste von insgesamt drei Strophen lautet: Ihr tratet zu dem herde Wo alle glut verstarb · Licht war nur an der erde Vom monde leichenfarb.247
Das Gedicht endet mit dem Rat: „Tretet weg vom herde · / Es ist worden spät“, nachdem die angesprochene Gruppe „[m]it suchen tasten haschen“ (II,3) versucht hat, die Glut wiederzubeleben.248 Wie dieses allegorische Bild aufzulösen ist, ist umstritten; Wolfgang Braungart deutet es als entleertes Ritual.249 Diese Deutung ist auf Das Wort ward stark durch den der litt übertragbar. Dirk von Petersdorff sieht in Georges Text eine poetologische Selbstreflexion.250 Man kann die erloschene Flamme aber auch auf das epigonale ausgehende 19. Jahrhundert beziehen. Diese Deutung wird durch die Stellung des Gedichts im Jahr der Seele gestützt, denn es gehört zur Gruppe der Traurigen Tänze, in welchen Liebeskummer, dichterisches Verstummen und Epigonalitätsproblematik wiederkehrende und sich überkreuzende Motive sind. In diesem Sinn verwendet Gundolf das Motiv in 246 247 248 249 250
Friedrich Gundolf an Elisabeth Salomon, Brief vom 12. Oktober 1925 (DLA). Stefan George: Ihr tratet zu dem herde. In: SW, IV, S. 114. Stefan George: Ihr tratet zu dem herde. In: SW, IV, S. 114. Eine ausführliche Interpretation des Gedichts als entleertes Ritual gibt Braungart (1997): Ästhetischer Katholizismus, S. 292–294. Vgl. Dirk von Petersdorff: Fliehkräfte der Moderne. Zur Ich-Konstitution in der Lyrik des frühen 20. Jahrhunderts, Tübingen: Niemeyer 2005, S. 96–98.
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seinem Zyklus Einige Gedichte über den Wechsel der wärmenden Dinge (1900), der das Thema des erloschenen Ofens im jeweiligen Personalstil Goethes, Platens, Hölderlins und Hofmannsthals variiert.251 Diese Bezugnahme überrascht, wenn man sie mit Gundolfs Erläuterungen in seiner George-Studie vergleicht. Dort schreibt er, dass man den Inhalt von Ihr tratet zu dem herde nicht rational fassen könne und betont, dass das Gedicht keine esoterische oder allegorische Bedeutung habe: Er nennt es „in jedem ‚Sinn‘ unverständlich“.252 Vermutlich spielt Gundolf die allegorische Ebene an dieser Stelle deshalb herunter, weil die Allegorie nicht dem mimetischen Sehen des Urgeists entspricht, welchem eben kein rationaler Abstraktionsvorgang zugrunde liege, sondern welches intuitiv und visionär sei. Seine eigenen Gedichte lassen indes vermuten, dass er das Gedicht sehr wohl als Allegorie auffasst. Man kann dieses Nicht-Verstehen mit Braungart psychologisch deuten: Gundolf habe abwehren wollen, was nicht sein dürfe: dass das heilige Feuer erloschen sei.253 Für diese Annahme spricht der Vergleich mit Das Wort ward stark durch den der litt. Datiert ist das Gedicht auf den 23. April 1931, wenige Monate vor seinem Tod am 12. Juli 1931. Was Kommerell schon 1930, im Jahr seiner Ablösung von George unternimmt, bleibt Gundolfs letzten Lebensmonaten vorbehalten: Erst jetzt verurteilt er den Kreis. Die utopische Hoffnung des Imitatio-Modells, Keimzelle einer neuen Bewegung zu sein, ist seiner Ansicht nach zerstört. Vitalität und Authentizität seien nur außerhalb des Kreislebens zu finden, Georges Anhänger seien bereits epigonal. Die Zeit sei über sie hinweggegangen und habe die Werte, denen sie im fortgesetzten Ritual huldigten, ihres Sinnes entleert. Beide Texte, Das Urteil der Gewalten und Das Wort ward stark durch den der litt, haben 251
252
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Abgedruckt bei Pott (2006): Parodistische Praktiken. – Dass das Ofenfeuer bei den Dichtern nicht mehr richtig brennen will, will besagen, dass sie keine ‚fortzündende‘ Kraft für die Gegenwart mehr haben, dass keine Contagio mehr stattfindet. Gundolfs Parodien kritisieren nicht die Dichter selbst, sondern ihre Epigonen. Ausgenommen ist vielleicht Hofmannsthal, der als noch lebender Dichter eigentlich noch Zeugungskraft haben müsste. Diese wird ihm nach seinem Abfall von George durch Gundolf abgesprochen. – Vgl. Kap. 4.1. „Die bloße Möglichkeit solcher Gedichte, hinter denen der Mystiker so wenig etwas finden wird wie der Vernünftler in ihnen“, zeige, dass hier ein neuer, ursprünglicher „Zauber“ am Werk sei. – Gundolf (31930): George, S. 142f. Braungart (1997): Ästhetischer Katholizismus, S. 162.
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den Charakter einer Widerrufung, eines Abschwörens von dem zuvor Geglaubten. Während Kommerells Text eine poetologische Selbstbesinnung und einen Neuanfang beschreibt, ist Gundolfs Gedicht ein Abgesang ohne Perspektive in die Zukunft.
2.6 Ergebnis Das chronologische Vorgehen hat gezeigt, wie sich die im ersten Teil skizzierten Phasen des Imitatio-Modells in den poetischen Texten spiegeln. Als Unterkategorien für eine Systematisierung der verschiedenen Nachahmungskonzepte wurden die Begriffe Perfektionierung, Idealisierung und Regulierung eingeführt. Die von Wolters repräsentierte Richtung ist der Regulierung zuzuordnen, der normierten Formgebung von außen nach innen, die von Gundolf repräsentierte Richtung ist der Idealisierung zuzuordnen, der fördernd begleiteten individuellen Entfaltung von innen nach außen. Diese verschiedenen bildungstheoretischen Prämissen setzen sich in den Poetiken fort. Sie lassen sich als Opposition von plastisch versus organisch beschreiben. Abhängig davon, ob keimhaftes Wachsen oder Formung von außen vertreten werden, differieren die entstehenden Gedichte. Im Blick auf die stilistische Imitatio bergen beide Auffassungen Konfliktpotenzial. Die enge stilistische Imitatio eines von außen gegebenen Musters kann als einengend empfunden werden. Dies ist bei Kommerell der Fall, der sich in seinen Gesprächen völlig Georges Stil unterordnet. Wie die Beispiele von Gundolf, Vallentin und Stauffenberg zeigen, stellt sich gerade in der Zeit der Anfangsbegeisterung das Problem einer „fanatischen“ Imitatio, die zu eng am imitierten Vorbild bleibt und im Ergebnis einen parodistischen Effekt haben kann. Noch während der Zeit seiner Kreiszugehörigkeit stellt Gundolf die Problematik einer ausschließlich spiegelnden Existenz heraus. Sowohl Kommerell als auch Gundolf sagen sich nach ihrer Ablösung von George vom Status des abgeleiteten Wesens und vom ImitatioZusammenhang los. George selbst hat in mehreren Gedichten das Erschrecken vor dem eigenen, verzerrten Spiegelbild thematisiert, weshalb Gundolfs eigene Problematisierung der Nachahmung ihrerseits als fortgesetzte Imitatio, als Aufgreifen von in Georges Lyrik aufgefundenen Themen begriffen werden kann.
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Generell zeigt sich, dass Georges Gedichte, wenn sie zur ersten Gruppe poetologischer Lyrik gehören, oft neben der Contagio die Mimesis des Urgeists behandeln, wohingegen die imitierenden Gedichte der Jünger in diesem Fall ausschließlich die Contagio durch den Urgeist kennen, weil diese im Imitatio-Modell für die abgeleiteten Wesen die alleinige Inspirationsquelle ist. Spielerische Imitatio findet sich nur bei Angehörigen der ersten und zweiten Kreisgeneration (Gundolf, Wolfskehl). Gundolf bezieht sich in seiner Gelegenheitslyrik mit Vorliebe auf Traditionen funktionaler Lyrik wie beispielsweise den reimenden Lehrtraktat und die Tischzuchtenliteratur und auf Strophenformen, die eine Tradition in scherzhafter Lyrik haben wie den Knittelvers; mithin auf Textsorten, die eher zu den volkstümlichen als zu den hohen Formen gelehrter Dichtung gehören. Gundolf komisiert sich selbst und seine Tätigkeit in Forschung (indem er fast vergessene poetische Formen wählt) und Lehre (indem er auch in diesen Texten pädagogische Lehrinhalte vermittelt). Es besteht keine Differenzqualität zwischen Text und literarischem Prätext, weil Gundolf die Gattungsmerkmale der jeweiligen pädagogischen Lyrik eins zu eins übernimmt. Die Differenzqualität zwischen Text und außerliterarischem Prätext – Gundolfs Professorenamt, seine Zugehörigkeit zum George-Kreis – konstituiert den komischen Effekt. Seinem Selbstbild nach hält Gundolf an seinem Bekenntnis an George fest, aber de facto befindet er sich mit seiner spielenden Lyrik außerhalb des Imitatio-Modells. Er sucht sich damit nicht nur poetische, sondern auch soziale Freiräume. Diese spiegeln sich in der Adressatenpluralität seiner Gedichte aus universitären und bürgerlichen Kreisen, sehr häufig sind die Empfänger die mit ihm befreundeten Frauen. Diese Sphären sind Georges Empfinden nach nur bedingt mit dem Ethos des Kreises in Einklang zu bringen. All diese Kontexte bleiben seine soziale Heimat, nachdem durch den endgültigen Bruch mit George 1926 die Brücken zum Kreis abgebrochen sind. Ernst Morwitz’ Gedichte (1911) sind ein idealtypisches Beispiel für Dichten im Imitatio-Zusammenhang. Morwitz leistet stilistische und ethische Imitatio und situiert sich im ImitatioModell zwischen Urgeist und den abgeleiteten Wesen zweiten Grades: Gegenüber George ist er in der Position des Jüngers, gegenüber seinen Schülern nimmt er die Rolle des Lehrers ein. In
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der dritten Kreisgeneration schließlich, nach dem Einstellen der Blätter, spiegeln die entstehenden Gedichte das gegenüber den Anfängen um 1900 gewandelte Verhältnis von stilistischer und ethischer Imitatio. Das ‚Imitatio-Gefälle‘, das zwischen Gundolfs Arbeiten vor und nach 1899 und zwischen Vallentins Arbeiten vor und nach 1904 besteht, auch die Lyrik des sechzehnjährigen Claus von Stauffenberg verdeutlichen, wie diffus die Kenntnisse über Georges Stilvorgaben in der Anfangszeit ihrer jeweiligen Kreiszugehörigkeit sind. Anfangs dichten die einzelnen Adepten kaum besser als die „Herde“ und haben noch keinen Einblick in seine Poetik. Die weitere poetische Entwicklung Vallentins und Gundolfs zeigt aber auch, wie George die jeweiligen Anlagen fördert und zwischen den Extremen zu enger oder fehlgeleiteter Imitatio vermittelt. Die Gedichte von Claus von Stauffenberg haben eine große Varianz an Strophenformen bei gleichzeitiger Verengung auf den Tätertypus, was insofern ungewöhnlich ist, als er sich selbst dadurch nicht über George definiert. In der Regel aber sprechen die Jünger als Imitierende George als Gärtner oder Bildhauer an, der sie formt, und legen in ihren Gedichten Zeugnis vom Fortschritt ihres Könnens und ihrer sittlichen Reife ab. George verwendet in seiner Lyrik die Metaphern von Keim und Form gleichermaßen und bleibt unentschieden, ob er Imitatio von außen nach innen oder von innen nach außen wirken lassen will. Die Nachahmungspraktiken vor allem im Umfeld von Wolters zeigen, dass Imitatio primär als Unterordnung unter eine gegebene Form begriffen wird. Die individuelle Beziehung zwischen Urgeist und Jünger, welche die Kreislyrik der zweiten Generation dominiert, wird in der dritten Generation von einer Staatskonzeption abgelöst. Aus dieser Verengung der Nachahmung heraus entstehen die Konflikte, die bei einzelnen Kreisangehörigen zur Entfremdung (Wolfskehl) oder zum Bruch führen (Gundolf, Kommerell). Im Vergleich zwischen den Imitatio- und Idealisierungskonzepten im Kreis und nationalsozialistischer Rassenhygiene wurde deutlich, dass die dahinter stehenden Grundannahmen nicht dieselben sind. Im George-Kreis gibt es keine äußeren Kriterien für die Zugehörigkeit. George allein trifft die Wahl aufgrund des Potenzials, das ein Mensch ohne Indikation biolo-
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gischer Merkmale hat oder eben nicht hat, der Nationalsozialismus hingegen macht das Potenzial an erkennbaren biologischen Merkmalen fest. Hildebrandt, der Eugeniker des Kreises, denkt einerseits regulierend. Denn als Rasseneugeniker glaubt er von vornherein zu wissen, in welche biologische Richtung die Entwicklung der Rasse gehen soll. Nach diesem Wissen definiert er eine entsprechende biologische Norm. Andererseits gehen Hildebrandts Ausführungen mit dem Imitatio-Modell konform, weil er ein „irrationales schöpferisches Prinzip“ anerkennt.254 Dieses Prinzip biologisiert er allerdings, indem er die von George geistig gedachte schöpferische Eigendynamik als spontane Mutationen bezeichnet. Er folgt damit zwar einer Prämisse des Imitatio-Modells, weil er akzeptiert, dass man einen Urgeist nicht züchten kann. Trotzdem verlegt er die von George geistig aufgefasste Substanz in die genetische Ausstattung des Menschen. Aus diesem Grund argumentiert Hildebrandt inkonsequent. Auf der einen Seite ist er davon überzeugt, dass Höherentwicklung eines Volks durch das Imitatio-Modell möglich ist, d.h. durch das unvorhersehbare Auftreten einzelner Urgeister und deren Schöpferkraft. Auf der anderen Seite glaubt er, dass Selektion und Zucht nach biologisch-genetischen Kriterien die Höherentwicklung fördert. Durch dieses Changieren wird er unangreifbar: Er kann in den Jahren von 1933 bis 1945 dem NSStaat zuarbeiten und sich nach 1945 davon distanzieren.
254
Vgl. Breuer (2005): Ästhetischer Fundamentalismus und Eugenik, S. 301.
Teil 3: Imitatio außerhalb des Kreises
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Teil 3: Imitatio außerhalb des Kreises: Hardt, Meinke, Schaeffer, Strauß 3.1 Dilettantische Imitatio George wird auch außerhalb des George-Kreises imitiert. Diese Versuche führen aus der Perspektive des Kreises heraus nicht zum gewünschten Erfolg, sondern gehören zu den fehlgeleiteten Formen von Imitatio. Nachahmung vollzieht sich hier ohne Erwählung und Contagio in durchaus eigenständiger Weise. Sie verbleibt damit außerhalb des Imitatio-Zusammenhangs (vgl. Abb. 2). Die Einsendungen eines literarisch nicht weiter bekannt gewordenen Rostocker Medizinstudenten namens Heinrich Hardt, der sich ohne Vermittlung durch Kreismitglieder direkt an George wendet, geben für die Spielarten fehlgeleiteter Imitatio ein erstes Beispiel. Von Hardts Biographie ist nichts bekannt. Aus den Gedichten geht hervor, dass er am Ersten Weltkrieg teilgenommen und Georges Lyrik vermittelt durch seine Schwester Elisabeth kennengelernt hat.1 Am 2. Dezember 1920 wendet er sich mit einer umfangreichen Gedichtsammlung von zweiundsechzig beschriebenen Seiten an George, in der er von seiner Verehrung des „Meisters“ spricht und um Aufnahme in den Kreis bittet: „[M]ich mit Fug zu deinem Kreis zu zählen / wär des Herzens höchster Jüngerstolz“.2 Um dieses Ziel zu erreichen, greift er Kernthemen von Georges Lyrik auf: das Ringen um die dichterische Form, ethische Imitatio und Zeitkritik. Dar1
2
Das zweistrophige Widmungsgedicht Meiner Schwester Elisabeth beginnt: „Als seherin hast du für mich geschaut / Als du in fernen mir den meister wiesest“ – STGA, George IV, 2250, S. 49. STGA, George IV, 2250, S. 2. – Es handelt sich um ein kalligraphisches Manuskript aus 15 kleinen, querformatigen Doppelblättern, die in ein weiteres Doppelblatt eingelegt sind. Datiert ist das Konvolut auf den 2. Dezember 1920. Es ist in lila Tinte beidseitig beschrieben. Hardt verwendet Versalien; sie werden hier in Normalschrift wiedergegeben.
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über hinaus verarbeitet er in seinen Gedichten Kriegserlebnis (S. 8–14, S. 43, S. 48, S. 54), Studium (S. 39–42) und Liebesbeziehungen zu Frauen (S. 15, S. 23, S. 34). Hardt imitiert George sowohl stilistisch (Orthografie, Interpunktion, Vokabular, Strophen- und Reimformen) als auch ethisch, da es in den meisten Gedichten um die Frage der richtigen Lebensführung geht. Vielfach taucht das Motiv der Hinwendung zu George durch Abwendung von anderen Sozialzusammenhängen auf: von seiner Familie, seinen Kommilitonen oder von wissenschaftlichen oder religiösen Autoritäten. In einem Gebet an den „Meister unser“ bittet er George darum, ihn zu stärken, damit er seinen „Preis“ singen könne.3 George ist sein Erwecker und Führer, dem er unbedingte Gefolgschaft schwört: Ich bin zu ungeheurem Leben aufgewacht Führ Höchster wie du willst ich werde folgen In Ätherlicht in Herrlichkeit in Nacht..4
Gebete, Sprüche und Widmungsgedichte sind seine bevorzugten Formen; stilistisch imitiert er fast ausschließlich George, nur manchmal scheinen andere Einflüsse durch. Einige Gebete imitieren das geistliche Lied,5 eine Kriegsimpression erinnert an Liliencron.6 Dieser ersten Sammlung folgen sieben weitere Zusendungen von Einzelgedichten,7 in denen er versichert, treu zu bleiben, obwohl er keine Antwort erhält. Stilistisch ist Hardt vom Jahr der Seele und vom Stern des Bundes am nachhaltigsten beeinflusst. Auf den Siebenten Ring bezieht er sich mit einem Zitat aus dem Gedicht Nordmenschen. Georges Vierzeiler lautet:
3 4 5
6
7
STGA, George IV, 2250, S. 4. STGA, George IV, 2250, S. 5. „O Himmel ich will haben / An Meisters Seite statt! – / Den vollsten Becher reichend / Wird er mich schauen an.. / Von tiefstem Dank erbleichend / Werd ich erwachen dann / Zu aller Seligkeiten / Urgrund Genuss und Ziel / Entschwebend in die Weiten / Da nie ein Frühreif fiel.“ – STGA, George IV, 2250, S. 25. „Nasskalt noch nächtig der Morgen / Ritt an den Feind. / Endloses Traben .. / Ein Wiehern nur hin und wieder – / Kreuzweg! […]“ – STGA, George IV, 2250, S. 54. STGA, George IV, 2251–2258.
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Wol nehmt ihr jedes ziel mit sicherm trott Und zuckt der strahl: so klärt auch euch das schöne. Doch steht euch rausch nicht an – wer den verpöne War nie geeinigt mit dem Höchsten Gott.8
Hardt fühlt sich offenbar von dieser Kritik angesprochen, denn er antwortet darauf: Ich bin ein „Nordmensch“ Doch ich kenn den Rausch Auch seine Qualen Meister du Gestrenger..[…].9
Der folgende, gleichfalls fünfhebige Vierzeiler greift das Versmaß und den (bei George seltenen) Einsatz des Gedankenstrichs von Nordmenschen auf, löst aber den Vorwurf mangelnder Rausch- und Gotteserfahrung abermals vom Typus des nordischen Menschen und überträgt ihn stattdessen auf den negativ gewerteten Typus des Intellektuellen. Und seis der grösste Intellektuelle – Fehlt ihm der wahre Geist – ach nur zu schnelle Führt er die Brüder aussichtslos auf Wegen Die nimmer sehn den wahren Gott sich regen.10
Der Schlussvers greift sowohl das Ende von Nordmenschen als auch das Ende von Breit’ in der stille den geist („Wenn sich der gott in dir regt“) auf. Hardts Texte wirken in ihrem Unvermögen, den hohen Ton zu treffen, unfreiwillig komisch. Wiederkehrende stilistische Brüche sind konventionalisierte Reime („Herzensgrund“–„Schmerzensmund“) oder der Eingang von Alltags- oder Dialektsprache („Wechselsang“–„Paragraphenklang“, „Vers“–„Meers“).11 Sie lassen viele der Texte wie Parodien wirken. Gegen die „Weltanschauung“ setzt Hardt in einem Wortspiel die „Gottanschau“, wobei sich der Gott für ihn in George offenbart („wer IHN erschaut ist nimmer mehr ge-
8 9 10 11
Stefan George: Nordmenschen. In: SW, VI/VII, S. 167. STGA, George IV, 2256. STGA, George IV, 2250, S. 30. STGA, George IV, 2250, die genannten Beispiele auf S. 19, S. 16 und S. 7.
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willt / zu teilen fruchtlos wandelnde Verneinung“).12 Ein vier Verse umfassender Spruch Otto Weininger richtet sich an den Verstorbenen mit der Bitte, ihn zu unterweisen, „wie man in Abgrundtiefen tauche!“13 Weiningers (und Georges) Ablehnung der Frau macht sich Hardt in Gedichten wie Lass andere in Weibes hütten dringen zu eigen. Darin findet sich dasselbe Dichterbild wie in Georges Im Park. Hardt kombiniert das Motiv des entsagenden, abgesonderten Dichters mit demjenigen des Ringens um die vollendete Form. Lass andere in Weibes Hütten dringen, Oft ungewollt sie füllend mit dem Seim.. Mir ward zuteil der grossen Form Gelingen Die ich in dich du Schale trage heim! Schon muss ich dich um neue Blätter bitten Du Speicherin die ganz die Quelle fing Und alles was errungen und erlitten In uns rückflutend labend niedersink!14
Die etwas inkonsequent durchgeführte Schalenmetapher – einmal sind es auch „Blätter“ (II,1) – bezeichnet das Speichermedium (II,2) für das, was aus der „Quelle“ fließt. Indem die Schale die poetischen Ergüsse „rückflutend labend“ wieder abgibt, wirkt es regulierend auf den Säftehaushalt des SprecherIchs. Das negative Gegenbild ist die geschlechtliche Weise des Füllens und Verströmens, das Hardt in den zwei Eingangsversen entwirft. Eigenheiten Georges sind die Genitivkonstruktionen (I,1 „in Weibes Hütten“), die substantivierten Verben (I,3 „der grossen Form Gelingen“), das archaische „Seim“ (I,2), die Partizipialkonstruktionen (I,2+II,4) und die zwei Imperative (I,1+II,4). Der fünfhebige Jambus verbunden mit einer vierzeiligen, kreuzgereimten Strophenform entspricht der gängigen Strophe im Jahr der Seele. Doch damit hören die Gemeinsamkeiten auf. Hardts unverblümte Darstellung des Koitus (I,2) wirkt peinlich unbeholfen; sprachliche Unebenheiten wie das Reimpaar „fing“-„niedersink“ und der unklare Sprecherbezug 12 13 14
STGA, George IV, 2250, S. 56. STGA, George IV, 2250, S. 47. STGA, George IV, 2250, S. 44.
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lassen Zweifel aufkommen, ob der thematisierte große Wurf wirklich gelungen ist. Hardt spricht zwar in den meisten Gedichten in der Rolle des Jüngers, aber manchmal auch in den Rollen des Dichters und Zeitkritikers. Texte wie die eben zitierten wären den ersten beiden Gruppen poetologischer Lyrik zuzuordnen, weil sie Mimesis für sich beanspruchen und die eigene Lyrik kommentieren. Unverbunden stehen neben diesen ambitionierten Gedichten solche wie jenes mit dem Titel Leibesdienst, das ganz ohne Doppeldeutigkeit die Freundin zu gesunder Ernährung aufruft: Liebste lass uns würdig essen Jeder baue und erhalte Seinen Körper angemessen! Sinn der Nahrung stets verhallte Wenn wir ‚Tier‘ sie grob verschlungen Unsern Gaumentrieb zu stillen – Uns zum Heile ist bedungen: Sie beleibet unsern Willen!15
An dieser Stelle fällt Hardt in den von George so skeptisch gesehenen „Volkston“. Obwohl Hardt seiner umfangreichen Gedichtsammlung acht weitere poetische Huldigungen folgen lässt, erfolgt keine Reaktion. In der ersten seiner acht Einsendungen, einem Gedicht mit dem Titel Stefan George, hofft der Absender noch auf ein persönliches Kennenlernen. Um seiner GeorgeNachfolge Ausdruck zu verleihen, greift er zu biblischer Sprache: Er äußert den Wunsch, den Meister „von Angesicht“ zu sehen, „zitter[t] nach einem Wort“ aus seinem „Mund“ und möchte sich „taufen“ lassen. George ist für ihn der „Fels“. In der letzten von insgesamt vier Strophen formuliert Hardt konkret sein Anliegen: Nur einen winzigen Teil hab ich vernommen Was du mit Griffel neu wie zeitlos schriebst Schon sprang der Funke – und zutiefst beklommen Ist mir. Ob du mich wiederliebst?16
Wenig überraschend schweigt George, und in seiner fünften Einsendung gibt Hardt die Hoffnung auf Jüngerschaft durch Er15 16
STGA, George IV, 2250, S. 60. STGA, George IV, 2251.
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wählung auf. Obwohl er nicht den Status eines durch George legitimierten Jüngers erreicht, hält er an seiner Entscheidung für George fest. Fandest du: sich will verquicken Fremde Frucht erlauchtem Namen Deute mir mit stummem Blicken. Ich trau schweigend meinem Samen. […]17
Wie schon in Lass andere in Weibes Hütten dringen vom „Seim“ spricht Hardt hier von seinem „Samen“. Diese Metapher deutet an, dass Hardt zu den Nachahmungskonzepten des Keimens tendiert, wobei freilich seine kaum verhüllte Spermafixierung eine spezielle Unterart der Keimmetaphorik darstellt. In der Aussonderung der „fremde[n] Frucht“ könnten eugenische Vorstellungen mitschwingen, zumal es sich bei Hardt um einen Medizinstudenten handelt. In der letzten Sendung mit zwei eng aufeinander bezogenen Gedichten ersetzt Hardt seine frühere Auffassung von Jüngerschaft (affektive Beziehung der Akteure, Wachsen aus dem Keim) durch eine solche, in welcher nicht mehr die persönliche Bindung zum Meister den Ausschlag gibt. Diese Umorientierung entspricht eher der woltersschen Auffassung von Nachfolge ohne Contagio, bei der Georges Botschaft in eine weite, auch politische Öffentlichkeit getragen wird. Am Beispiel von Hardts Gedichten wird deutlich, dass seine Hinwendung zur Regulierung eine Möglichkeit ist, der Tatsache zu begegnen, dass die Erwählung durch George ausgeblieben ist. Die Metaphorik des folgenden Gedichts zeigt deutlich den Perspektivenwechsel an. Nun geht es dem Sprecher darum, Teil einer schlagkräftigen gesellschaftlichen Bewegung zu sein. Das eine militärische Schlachtformation bezeichnende Bild des Keils indiziert, dass sich das Sprecher-Ich einer vorgegebenen Form unterordnet: Dir! Du des Keiles Spitzenkämpe Leitschwert du und Gassenhauer Preis und Ruhm sei deiner Stärke!
17
STGA, George IV, 2255.
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Schweiss des Ringens nass und sauer Der dir floss lezt unsre Werke! Der Welt Bestaunst du solchen Pfeil Der pfeifend vorwärts fliegt Der fliehet keinen Stamm Der jeden Felsen schnitt? Schreckt euch der Kämpen Keil Der sehrend seitwärts biegt Der durch den tiefsten Schlamm Mit blanker Schwertfront ritt? Das ist das neu geschlecht Sein Waffen sein Visier! Es kündet neues Recht! Und seine Söhne? Wir!18
Der „Kämpen Keil“ ist eine Bewegung, die sowohl legislative („neues Recht“) als auch exekutive Gewalt hat. Die Beziehung zum „Leitschwert“ und – Hardt lässt keine Stilblüte aus – zum „Gassenhauer“ George spielt keine Rolle mehr, da die ethische Imitatio sich davon unabhängig vollzieht. Hardts Bildlichkeit nimmt Nachfolge wörtlich, indem sie sie auf die Gefolgschaft eines Anführers in der Schlacht bezieht. Dass die Recken nicht durch Schmutz befleckt werden, sondern „durch den tiefsten Schlamm / [m]it blanker Schwertfront“ reiten, deutet an, dass sie ein hehres Ziel verfolgen und gleichsam nicht von dieser Welt sind. An einer Stelle scheint noch der zuvor präsente Ton geistlicher Lyrik durch („Preis und Ruhm sei deiner Stärke!“). Der Welt, das aus insgesamt drei Strophen in dynamischen jambischen Dreihebern mit durchweg männlichen Reimen besteht, ist mit seinem interessanten Reimschema und seiner auch im Neuen Reich angewandten Strophenform des Alexandriners mit ausgeprägter Mittelzäsur strukturell vergleichsweise gelungen. Es unterscheidet sich von der Mehrzahl der früheren Einsendungen außerdem durch die Abwesenheit eines klar konturierten sprechenden Ich. Vielleicht hat das Erscheinen des Neuen Reichs daran einen gewissen Anteil, weil dieser erste Gedichtband nach mehrjährigem Stillschweigen Georges es Hardt ermöglicht, 18
STGA, George IV, 2258.
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seine imitierenden Gedichte neu zu justieren und auf den aktuellen Stil und die aktuellen Themen Georges hin auszurichten. Dennoch fallen seine Texte im Vergleich mit denjenigen ab, die in näherer Umgebung Georges entstehen und Modifikationen seiner ästhetischen und ethischen Überzeugungen aus erster oder wenigstens zweiter Hand erfahren. Dafür bietet sich ein Vergleich mit den etwa gleichzeitig entstehenden Gedichten Speers an. Speer hat den Standortvorteil Heidelberg, Hardt bezieht demgegenüber sein Wissen einzig aus Georges Lyrik, so dass ihm keine adäquate Nachahmung gelingt. Er verstößt gegen die Etikette, indem er umfangreiche Gedichtsammlungen schickt wie z.B. ein Konvolut von mehr als sechzig Seiten, wohingegen Speer es bei wenigen Texten bewenden lässt, um seinen Zuwachs an technischem Können und an innerer Reife zu belegen.19 Die verschiedenen Bildungskonzepte des Kreises werden von Hardt nacheinander aufgegriffen. Seine Orientierung hin zur Regulierung hat kompensatorische Funktion: Sie ermöglicht es, trotz der ausbleibenden Aufnahme in den Kreis seinen Wunsch nach Gefolgschaft zu stillen. Insgesamt sind seine Einsendungen Beispiele dilettantischer Imitatio, die den Maßstäben des Imitatio-Modells nicht genügen und allenfalls Zeichen der von Wolters gewünschten, von George als Schwundstufe betrachteten Breitenwirkung sind.
3.2 Ästhetizistische und eklektizistische Imitatio Hanns Meinke (1884–1974) ist im Gegensatz zu Speer und Hardt und vielen anderen Einsendern seinem Selbstverständnis nach Dichter.20 Seine in diesem Kapitel vorgestellten Stilnach19 20
Hermann Speer: Verse aus dem Jahr 1921, STGA, George IV, 2621. Es handelt sich um zehn Gedichte. Zu Meinkes Biografie vgl. Hartmut Heinze: Der Dichter Hanns Meinke (1884–1974). In: Neue Deutsche Hefte 182 (1984), H. 2, S. 442f. und Hanns Meinke: Ausgewählte Dichtungen, zusammengestellt und mit einem Nachwort versehen von Helmut Röttger, Kastellaun: Henn 1977. Albert Soergel hat Meinke in seiner Literaturgeschichte Dichtung und Dichter der Zeit einen umfangreichen Artikel gewidmet. – Vgl. Albert Soergel: Art. Hanns Meinke. In: Dichtung und Dichter der Zeit. Eine Schilderung der deutschen Literatur der letzten Jahrzehnte, Neue Folge, Im Banne des Expressionismus, Leipzig: Voigtländer 51927, S. 280–284.
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bildungen gehören zu den Typen A und C negativer Imitatio, da sie nach dem Verständnis des Kreises ästhetizistisch und eklektisch sind und daher nicht zur Idealisierung führen. Meinkes dichterische Anfänge sind von der Romantik und vor allem vom literarischen Symbolismus geprägt, den er sich unabhängig von George erschließt. Seine Vorbilder sind E.T.A. Hoffmann, Edgar Allan Poe, Oscar Wilde, Charles Baudelaire, Arthur Rimbaud und Paul Verlaine. Meinkes Masken des Marsyas (Privatdruck 1910) bestehen aus sechs Widmungsgedichten an jene Dichter; ihnen sind sechs Porträts als von Meinke selbst angefertigte Holzschnitte vorangestellt. Die Beschäftigung mit diesen Autoren geht nicht über eine intuitive, gefühlsgeleitete Aneignung hinaus. Es findet keine intellektuelle Auseinandersetzung mit ihren Texten und jeweiligen Poetiken statt. Meinke verbreitet seine Werke zunächst in kostbaren Handschriften, dann als Pressendrucke, die er zumeist an Freunde verschenkt.21 Im bürgerlichen Leben ist Meinke Volksschullehrer. Noch im Lehrerseminar lernt er Rudolf Pannwitz kennen, durch welchen er in Kontakt mit dem Charon und der Schulreformbewegung um Berthold Otto kommt.22 Nach dem Bruch zwischen Pannwitz und Otto zur Linde weigert Meinke sich, Stellung zu beziehen, und wird aus dem Kreis der Charontiker ausgeschlossen.23 Seine Auseinandersetzung mit George erstreckt sich über viele Jahre und reißt auch nach Georges Tod nicht ab; Zeugnisse direkter Kontaktversuche datieren auf die Jahre 1911 bis 1932.24 Im Jahr 1933 konvertiert er zum katholischen Glauben und widmet die Gedichtsammlung Anno Santo (1933) „dem Heiligen Vater Pius XI zur Eröffnung der Porta
21
22 23 24
Vgl. Herbert Meinke (Hg): Ein Kind im großen Garten. Katalog zur Ausstellung vom 12. 5.–26. 5. 1984 [Zum hundertsten Geburtstag], Berlin: Antiquariat Herbert Meinke 1984, S. 8. Über die Hälfte aller Charonmitarbeiter und sieben Zehntel aller Charon-Leser sind Volksschullehrer. – Vgl. Beiblätter zum Charon 5 (1908), H. 5, S. 43. Herbert Meinke (1984): Ein Kind im großen Garten, S. 7. Meinkes Gedichtmanuskripte wurden mit Ausnahme von Herbstgruß (1932) erst 1977 bei den Erben Berthold von Stauffenbergs auf dem Dachboden des Lautlinger Schlosses aufgefunden. Sie waren zusammen mit anderen Archivalien einer Beschlagnahmung durch die Gestapo entgangen, weil sie nicht im eigentlichen Nachlass von Stefan George lagen. – Vgl. Wilhelm Hoffmann an Herbert Meinke, Brief vom 26. Juli 1984, ADK (Meinke-Archiv 492).
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Sacra“.25 Dem Katholizismus bleibt er während des „Dritten Reichs“ treu. Weder er noch seine Familie treten in die NSDAP ein. Der späte Meinke betrachtet sich als Reinkarnation Echnatons,26 beschäftigt sich mit islamischer Dichtung und übersetzt Rumi.27 Eine Konstante in Meinkes Poetik ist eine magische Sprachauffassung, die er zeitweise in Formen institutionalisierter Religiosität überführt. Seine Atemzüge des Kindes Magus Merlin (1924) bestehen aus „Runen, Bildern, Raetseln, Weihworten, Bannsprüchen, Beschwörungen, Geluebten [sic], Inschriften und Widmungen“28 und mithin aus Formen, in denen Sprache eine magische Handlung ist. So erklärt sich auch sein Pseudonym Merlin, das er erstmals 1911 für seine Kontaktaufnahme mit George verwendet und dann beibehält. Meinke erläutert später, dass ihn ein Bild von Edward Burne-Jones, Der verzauberte Merlin (anderer Titel: Merlin und Viviane an der Schlehenhecke, 1886), dazu angeregt habe.29 Die Figur Merlins, die auf dem Bild im Wald von Broceliande dargestellt ist, nennt Borchardt ein antizipiertes George-Porträt30 und konstatiert eine innere Verwandtschaft zwischen George und dem keltischen Druiden. Meinke beansprucht die Dichterrolle des Poeta vates auch für sich und stellt, assoziativ vermittelt durch das Gemälde 25 26 27
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29 30
Hanns Meinke: Anno Santo, Hamburg: Verlag der Blätter für die Dichtung 1936 [entstanden 1933]. Mündliche Auskunft von Herbert Meinke, Gespräch vom 20. Februar 2010. Hanns Meinke: Chymische Hochzeit Merlins und Rumis. Sufische Ghaselen aus dem Diwan-i-Schems-i Täbrizi Dschelal ed-Din-Rumis in deutscher Umdichtung, Chemnitz: Adam 1926. – Mitte der 1950er Jahre wird er aufgrund dieser Leistungen zum Ehrenmitglied der tanzenden Derwische. Hanns Meinke: Atemzüge des Kindes Magus Merlin in Runen / Bildern / Raetseln / Weihworten / Bannsprüchen / Beschwörungen / Geluebten / Inschriften und Widmungen. Ein nordisches Rubajat, Berlin: Merlin-Presse im Weißen Ritter 1924. Hanns Meinke: Kommentierter Katalog. In: Weißer Ritter. Almanach auf das Jahr 1924, Berlin: Der Weiße Ritter Voggenreiter 1923, S. 18. „Die Kunst ahmt die Natur nicht nach, sie erahnt sie. Und die Natur ahmt die erahnende Kunst nicht nach, sie bestätigt sie.“ – Rudolf Borchardt: Stefan George (1868–1933), aus dem Nachlass hg. u. übers. v. Gerhard Schuster. In: Kai Kauffmann: Das wilde Fleisch der Zeit. Rudolf Borchardts Kulturgeschichtsschreibung. Mit Rudolf Borchardts Nachlasstext „Stefan George. 1868–1933“ in italienischer Sprache und deutscher Übersetzung, Stuttgart: Klett-Cotta 2004, S. 196–245 und S. 233–245, hier S. 233.
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von Burne-Jones und unabhängig von Borchardt, eine Nähe zwischen sich und George her. Damit ist schon angedeutet, dass Meinke nicht primär um Aufnahme in den Kreis der Jünger bittet, sondern, in der Rolle als Vates, als Dichter anerkannt werden will. Nachdem er George Weihnachten 1911 anonym den Sonettenzyklus Shakespeares Schatten „Vom Kinde Magus Merlin“ zugesandt hat, bekommt er Besuch von Vallentin, der ihn im Auftrag Georges anhand des Poststempels und der Initialen H.M. identifiziert hat.31 Daraufhin sendet Meinke am 20. Januar 1912 ein Gedicht an George, in dem er Bezug auf die gegenseitige Kontaktaufnahme nimmt. Mit diesen Versen nähert er sich auch stilistisch George an. Was ich nur zagend als ein zeichen sandte Jungen erblühens dunkler wälder=schlüfte In Deinen weihrauch mischend wildnis=düfte – Ich weiss nicht was Dein aug darin erkannte. Es sollte nichts als aus dem dunkel läuten Scheues geheimnis demutvolle grüsse – Verwehtes unkraut vor des gärtners füsse – Nur einer stunde rätsel kaum zu deuten. Doch da Dein blick nach dem verborgnen suchte Nah ich mich selber dass sich nicht bemühe So Hoher – ob die stirn mir auch erglühe In scham dass ich so wirren zauber buchte. So bärtig kind wie das des nam ich raubte Honig= und harzarom an haaren händen Nah ich mich Dir mit scheu geneigtem haupte. DU wirst mich wieder in die wildnis senden.32
Vordergründig handelt es sich um reine Huldigungslyrik. Seine anonyme Zusendung Shakespeares Schatten vergleicht Meinke mit „verwehte[m] unkraut“ (II,3), und weil Unkraut üblicherweise ausgerissen wird, passt dieser Vergleich zur Unterwerfungsgeste des Sprechers, der gleichsam gebückt „vor des gärt31 32
Vgl. Hanns Meinke: Stefan Georges Spruch „H. M.“. In: Castrum Peregrini 48 (1961), S. 37–43, hier S. 41. STGA, George IV, 2440.
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ners füsse“ tritt (II,3). Er passt aber weniger zur anspruchsvollen Form des Sonettenkranzes: Da das vorgebliche Unkraut zu kunstvollen Kränzen gewunden ist, ist eine ordnende Gärtnerhand eigentlich nicht mehr notwendig. Wenn Meinke noch dazu vorgibt, Shakespeares Schatten sei rein intuitiv entstanden (II,4), unterstreicht er erst recht sein dichterisches Ingenium. Der Strauß von Wildkräutern ist eine poetische Visitenkarte, und die Bescheidenheitsrhetorik kann nicht verdecken, dass Meinke sich damit bei George als eigenständiger Dichter einführt. Diese Eigenständigkeit wird durch den Merlin-Bezug bekräftigt. Auf ihn bezieht sich der Vers „So bärtig kind wie das des nam ich raubte“ (IV,1), weil Merlin der Sage nach als Kind des Teufels und einer Jungfrau behaart und weise zur Welt kommt.33 Die in allen Strophen angesprochene Naturnähe passt zum Merlinbild der deutschen Romantik, die den zwischen Himmel und Hölle geteilten Charakter als poetologische Identifikationsfigur betrachtet und literarisch verbreitet hat.34 Meinke bezeichnet seine Gedichte als „wirren zauber“, „geheimnis“ und „rätsel“ einer „stunde“ (II+III) und betont so das magische Moment seiner Poetik. Trotzdem ist George in diesem Gedicht das überlegene Gegenüber („[s]o Hoher“; III,3). Der Gärtner als Antonomasie für George (II,4) greift wieder einmal auf Der Freund der Fluren zurück. Aus Meinkes Aussage, er mische in Georges Weihrauch seine Wildnisdüfte (I,3), kann man schließen, dass er seine und Georges Poetik als komplementär zueinander begreift. Es gibt zwei widerstreitende Autorintentionen. Einerseits bietet Meinke George natürlichen Wildwuchs an, der sich nach der ordnenden Hand des Gärtners sehnt, und folgt damit dem Idealisierungsgedanken des Imitatio-Modells. Andererseits betont er seine Eigenständigkeit, was wiederum für eine dem Perfektionierungsdenken nahestehende Auffassung spricht.
33
34
Vgl. Dorothea und Friedrich Schlegel: Geschichte des Zauberers Merlin, Köln: Diederichs 21986 [erste Auflage: 1984], S. 19f. – Meinke wird dieser Vers später zum Verhängnis, weil George die Dichterrolle wörtlich nimmt und nicht amüsiert ist, dass sich hinter dem „kind“ ein fast Dreißigjähriger verbirgt. Vgl. Klaus Günzel: Im Banne Merlins oder Der Prophet und die Romantiker. Nachwort zu: Dorothea und Friedrich Schlegel: Die Geschichte des Zauberers Merlin, Köln: Diederichs 21986 [erste Auflage: 1984], S. 150–159, hier S. 154–158.
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Georges Reaktion ist erhellend: Er lässt Meinke über den Verlag das erste Jahrbuch für die geistige Bewegung zukommen. Vermutlich hält er Meinke für eine poetische Begabung, der noch das richtige Ethos vermittelt werden müsse. Meinke antwortet, er danke für die Belehrungen; bisher habe er gedacht, Borchardt gehöre zum Kreis.35 Weder die Blätter noch das Jahrbuch habe er bisher gekannt.36 Für die unterschiedlichen Kreise fehlt ihm das Sensorium, so wie er sich schon vorher im Konflikt zwischen Pannwitz und zur Linde vor einer Positionierung scheute. Der weltanschauliche Gehalt des Jahrbuchs bewegt Meinke wenig. Er sendet in der Folgezeit bis auf eine Ausnahme, Terrestra Commedia (1912), vor 1908 entstandene Werke an George;37 nicht wissend oder nicht zur Kenntnis nehmend, dass Décadence und Ästhetizismus im Kreis längst nicht mehr en vogue sind. Mehrere Handschriften sendet er übers Jahr verteilt: Die drei Sonettenkränze,38 das Buch der Beschwörungen,39 Terrestra Commedia. Bruchstücke von einem Epos40 und Leonardo.41 Der Sprecher im Prosagedicht Buch der Beschwörungen ruft himmlische und teuflische Mächte an und erinnert damit (neben der Reminiszenz an Rimbaud) an Merlin in seiner Doppelnatur als Heilsbringer und Satanssohn. Im DLA ist ein Manuskript mit handschriftlichen Bemerkungen von Pannwitz erhalten, der mehrfach Passagen moniert, an denen ihm Abhängigkeiten z.B. von Alfred Mombert und Otto zur Linde auffallen.42 Terrestra Commedia besteht aus expressionistisch gefärbten Terzinen und gemahnt schon dem Titel nach an Dante. Die lyrische Szene Leonardo schließlich orientiert sich an Mallarmés Hérodiade – ähnlich wie Hérodiade betrachtet der Protago-
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Hanns Meinke an Berthold Vallentin, Brief vom 2. März 1912 (STGA). Hanns Meinke an Stefan George, Brief vom 28. Februar 1912 (STGA). Nach den Datierungen der Werke in den Widmungsexemplaren im STGA. STGA, George IV, 2448. STGA, George IV, 2446. STGA, George IV, 2442. STGA, George IV, 2441. Die Passage „Zu zeugen: den / GOTT: wo ist der Schoos? der Schoos? / das Glied gezückt bin ich“ kommentiert Pannwitz mit: „[D]ann lass es doch reden und nicht zur Linde und Mombert!“ – Vgl. das Exemplar von Hanns Meinke: Buch der Beschwörungen, DLA (A:Meinke).
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nist in erotischem Begehren sein nacktes Spiegelbild43 – und wird später zum Grundstock einer geplanten Merlin-Trilogie.44 Meinke demonstriert mit diesen Werken eine Stilpluralität und vor allem eine Produktivität, die über das hinausgehen, was George unter „maass“ versteht. In seinen 1962 im Castrum gedruckten Erinnerungen erwähnt Meinke neben seiner ersten, anonymen Einsendung nur noch zwei weitere Gedichtsendungen,45 tatsächlich sind es allein 1912 fünf. Im Oktober 1912 schenkt Meinke George Das Haus des Lebens, einen Sonettenkranz, der von Dante Gabriel Rossettis Sonettzyklus The House of Life (1881) inspiriert ist,46 in einer Prachthandschrift auf Kalbspergament47 und erläutert im Begleitschreiben: Der empfänger hat es mir zurück gegeben weil er ‚nichts damit anzufangen wusste und nichts davon verstand‘ […] Möge der juchtenduft des lederdeckels nicht stören! fast zögere ich es herzuschreiben: ich habe ihn aus den stulpen der hohen kniestiefel geschnitten in denen ich oft durch wald und wiesen an seine gartenhecke, an sein helles fenster geschritten bin. Ein freundliches Lächeln – ja? H.M.48
„Des Kuriosums wegen“ erwähnt er diesen Vorgang auch im Almanach auf das Jahr 1924 im Weißer Ritter Verlag, der seine Werke vertreibt.49 Noch 1962 spottet Morwitz in einem Brief an Robert Boehringer anlässlich der gedruckten Erinnerungen von Meinke: „Er verschweigt, dass er Gedichte eingebunden in das Leder seiner Schuhe sandte, die er bei Fensterpromenaden vor dem Haus der bewidmeten Person trug – absolut ver-
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47 48 49
Meinke schreibt darüber an Pannwitz: „Wie es weiter gehen wird weiss ich noch nicht, aber weiter, denke ich, wird es sicher. Wahrscheinlich schafft er sich wirklich noch einmal ausser sich, sich als gefährten und geliebten, und geht daran zugrunde.“ – Hanns Meinke an Rudolf Pannwitz, Brief vom 29. August 1909 (DLA). Vgl. Hanns Meinke: Leonardo. Ein Dramen-Bruchstück vom ersten Teil einer trilogischen Dichtung Merlin (1921), DLA (A:Meinke). Meinke spricht von einem längeren Gedicht und von „Abschiedsstrophen“. – Meinke (1961): Stefan Georges Spruch „H. M.“, S. 42f. „Das ‚Haus des Lebens‘ ist eigentlich inspiriert durch Rossetti, ich las dass der einen Sonettencyklus dieses Titels gedichtet hat den ich selbst nicht kannte (später erst die paar in übertragung St. Georges) und ich baute es für mich auch.“ – Hanns Meinke an Rudolf Pannwitz, Brief vom 16. Mai 1912 (DLA). Das Exemplar ist im STGA nicht erhalten. Hanns Meinke an Stefan George, Brief vom 12. Oktober 1912 (STGA). Meinke (1923): Kommentierter Katalog, S. 18.
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rückt!“50 Beim Empfänger des Gedichtbands handelt es sich um Hermann Johannes Meisner,51 dem auch die Briefe des Sommers 1908 gewidmet sind.52 Weitere Gedichte und Briefe sendet er an George in den Jahren 1915, 1916, 1918 und 1932, ohne erhört zu werden. Meinke erklärt sich Georges Schweigen mit einem offen im Zimmer liegenden Brief von Pannwitz, den Vallentin bei seinem Sondierungsbesuch wohl zu Gesicht bekommen habe: „Lass die Leute ruhig zu Dir kommen. Wenn Stefan George der Papst ist, dann sind wir die Jungfrau Maria.“53 George selbst hat den Grund für seinen Vorbehalt gegen Meinke in ein Gedicht gefasst und dieses an Meinke gesandt. Es ist der einzige Fall, dass George in dieser Form auf eingesandte Gedichte von NichtKreismitgliedern antwortet. Über Gundolf lässt George seine Antwort auf die Sonettenkränze übermitteln:54 Ein weiser ist wer beim getöse Vieler Im stillen farb und tongestäb kann führen .. Doch weiser noch wem – auch als bestem spieler – Manchmal es frevel deucht: an harfen rühren.55
Der Vierzeiler setzt die bereits bekannte Kritik am Typus des Spielers fort, und wohl aufgrund des paradigmatischen Charakters integriert ihn George ins Neue Reich. Zwar sei anzuerkennen, dass Meinke sich dem literarischen Treiben der Großstadt fernhalte und in der Stille der Provinz die Privatpresse bediene 50 51
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55
STGA, George IV, 2447. Dabei: Ernst Morwitz an Robert Boehringer, Brief vom 23. Januar 1962, Auszug in Abschrift. „Der Hermann Johannes ist mir auch wieder so merkwürdig noch. Ich habe ihm jetzt auch endlich seinen sonettenkranz abgeschrieben, das Haus des Lebens, auf echtem pergament, eine kleine kostbarkeit, und in ein Stück aus meinen alten juchtenstiefeln gebunden (es ist aber sehr fein!) er wird ja nicht viel davon haben aber sich doch ein bisschen freuen.“ – Hanns Meinke an Rudolf Pannwitz, Brief vom 29. Mai 1909 (DLA). Vgl. Meinke (1977): Ausgewählte Dichtungen, S. 67–76. Meinke (1961): Stefan Georges Spruch „H. M.“, S. 42. Vgl. Meinke (1961): Stefan Georges Spruch „H. M.“, S. 42. – Meinke zitiert eine frühere Fassung, die geringfügig von der gedruckten Version abweicht („Ein weiser ist wer beim getöse vieler / sein ton- und farbenstäbchen treu mag führen – / doch weiser noch wer auch als bester spieler / manchmal es frevel nennt an harfen rühren.“) Stefan George: H. M. In: SW, IX, S. 78.
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(1f.). Aber es fehle ihm an Ehrfurcht vor der Dichtkunst, deren ‚heilige Harfen‘ er missbrauche. „Manchmal“ wäre es offenbar besser zu schweigen (4). Worin der Frevel genau besteht, bleibt im Vagen. Aber das Motiv des frevelhaften Harfenspiels hat George in König und Harfner weiter ausgeführt.56 Der König muss mit ansehen, wie das mühsam Erreichte spielerisch aufgegriffen und im „verworfen spiel“ unfreiwillig entwertet wird (vgl. Kap. 2.4). Meinke kann vor George nicht bestehen, weil er Spieler bleibt, wenn auch einer der besten (3). George, so Claus Victor Bock, habe die Gefahr gesehen, das „zwingende Spiel“ – Bock bezieht sich damit auf eine Wortfügung in Meinkes Vorwort zu den gedruckten Sonettenkränzen – könne bei Meinke zum „Spielzwang“ ausufern.57 Dass George mit diesem Spruch auf Meinkes Annäherungen reagiert, deutet darauf hin, dass er zu diesem Zeitpunkt noch hofft, mit einem Wink in die richtige Richtung auf diesen einwirken zu können. Georges Vierzeiler greift Meinke in einem sechsstrophigen Gedicht auf, das er Ende 1915 nach dreijähriger Sendepause schickt. Obwohl er sich ins Dunkel „verspielt“ habe, sei er für den Klang von Georges „Harfe“ (III/IV) offen gewesen und wolle sich von nun an ganz in den Dienst des Heiligen stellen. Meinke verwendet die Metapher des Kranzwindens, um seine poetologische Konversion zu illustrieren: Was „in Charons kahn“ als „sich lösende girlande“ über Bord ging, habe er nochmals „neu und rund und recht“ gewunden (VI).58 Er distanziert sich von seiner charontischen Phase möglicherweise deshalb, weil er fürchtet, durch seine Zeitschriftenmitarbeit bei George diskreditiert zu sein (zum Charon vgl. Kap. 5.1). Das hier nur auszugsweise wiedergegebene Gedicht Der Nachtschwimmer aus dem Zyklus Die Kentauren, erschienen im Maiheft des Charon 1908, zeigt Meinkes frühere Imitatio cha56 57
58
Stefan George: König und Harfner. In: SW, VI/VII, S. 46f., hier S. 47. [Claus Victor Bock]: Hanns Meinke. In: Castrum Peregrini 118 (1975), S. 72–78, hier S. 73. – Bock bezieht sich auf Meinkes Vorrede in der gedruckten Fassung seiner Sonettenkränze, in der er sie selbst als zwingendes Spiel charakterisiert. – Vgl. Hanns Meinke, Die drei Sonettenkränze: Der Frühlingskranz, Das Haus des Lebens, Der Ring der Wiederkunft, Darmstadt: Darmstädter Werkkunst Verlag 1921. Hanns Meinke: Geleitspruch, STGA, George IV, 2444. Datiert auf den 30. Dezember 1915.
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rontischer Lyrik.59 Die Darstellung des Meers wirkt mit seinen Quallen, Anemonen, Korallen und anderen ornamentalen Formen wie von Ernst Haeckel inspiriert. „Anlass“ für dieses Gedicht ist „ein mittelmässiges Gedicht aus dem Eigenen das diesen Titel“ trägt, wie Meinke an Pannwitz schreibt, damit seine Lektüre der Homosexuellenzeitschrift erwähnend (zum Eigenen vgl. Kap. 3.3).60 Freie Rhythmen und eine mythologische Bildlichkeit sind typisch für charontische Lyrik. […] Dass vergeudend nochmal seine Lust floss – Das Meer: die Geliebte, die Geliebte besaamend. So senkt sichs in Quallen und Anemonen Korallen Muscheln Polipen Schlangen Wasserleichen die in versunkenen Schiffen wohnen Haifischeiern und grünen Schleim Cheiron – Cheiron in Alles hinein – Fruchtwimmelnder Riesenschoss der Geliebten! Er fühlt sich Welt im Welten-Meer des Wassers – Der Tropfenwelten Bruder – und verbrüdert auch Den Ur-Einwohnern jener Tropfenwelten An Winzigkeit im Weltentropfen-Meer. […]61
Meer und Sperma vereinigen sich in einem mythischen Zeugungsakt. Auflösungs- und Besamungsphantasien, mit klopstockscher Emphase (Frühlingsfeyer) vorgetragene Verbrüderung mit den Pantoffeltierchen im Wassertropfen passen zur Idee des „Urspermas“, in dessen Besitz sich der Charon wähnt.62 Diese Meeresdarstellung entspricht dem vitalistischen Lebensbegriff der Charontiker und ihrer Poetik des autarken Wachstums; die Differenzen etwa zu Gundolfs Am Meer II sind evident. Meinke ist, wie sich zeigt, nicht nur ein Spieler, sondern auch ein Eklektiker, der sich mühelos verschiedene Schreibwei59 60 61 62
Hanns Meinke an Rudolf Pannwitz, Brief vom 23. November 1908 (DLA). Hanns Meinke an Rudolf Pannwitz, Brief vom 16. Mai 1912 (DLA). Hanns Meinke: Die Kentauren. Der Nachtschwimmer. In: Charon 5 (1908), H. 5, S. 108–110, hier S. 110. Vgl. Carola von Edlinger: Kosmogonische und mythische Weltenwürfe aus interdiskursiver Sicht. Untersuchungen zu Phantasus (Arno Holz), Das Nordlicht (Theodor Däubler) und Die Kugel (Otto zur Linde) (Studien zur deutschen und europäischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts 46), Frankfurt a.M. u.a.: Lang 2002, S. 272.
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sen aneignet. Diese Eigenschaft disqualifiziert ihn als Jünger. Seine stilistischen Nachahmungen gehören sowohl zum Typ C negativer Imitatio (Eklektizismus) als auch zum Typ A (Ästhetizismus). Im Tierreich bezeichnet Mimikry die Eigenart bestimmter Spezies, äußere Merkmale und das Verhalten anderer zu imitieren und so den Eindruck zu vermitteln, eine andere Art zu sein. Kommerell überträgt in seiner Untersuchung Das Volkslied und das deutsche Lied (1932/33) das biologische Phänomen auf poetologische Zusammenhänge. Mimikry bezeichnet bei ihm den Sonderfall einer ästhetizistischen Imitatio, die sich ihrer inneren Distanz zum imitierten Gegenstand voll bewusst ist. Kommerell nennt dieses imitierende Verfahren eine „Mimik aus List“. Heines Nachahmung des Volkslieds sei ein solches Reden in „Gänsefüße[n]“, eine „rein künstlerisch[e]“ Anwendung eines Formzitats „in der Weise des Unglaubens“.63 Deswegen sei Heine auch kein „rhythmischer Urgeist“.64 Imitatio muss für Kommerell aus einer affektiven Bindung heraus entspringen und dasjenige imitieren, „was zugleich als etwas Verwandtes bejaht, und als etwas Fremdes vermißt wird“.65 Von der Mimikry unterscheidet sich authentische Imitatio durch den Liebesaffekt: Solche Sehnsucht ist ein halbes Haben, solche Mimik ist im Scheinen wesenhaft. Jede auf ein Höheres gerichtete Liebe ist in diesem Sinn mimisch: sie eignet sich etwas von dem geliebten Andern zu.66
Girard sieht in seiner Imitationstheorie das Begehren, welches die Nachahmung auslöst, grundsätzlich problematisch. Für Kommerell ist die dahinter stehende Autorintention entscheidend: Ein ‚Haben-Wollen‘ aus Liebe führt im Gegensatz zu Girard, der als den imitationsauslösenden Impuls den Neid annimmt, nicht zur Gewalt. Kommerells Ausführungen belegen, dass er noch nach seinem Bruch mit George den Nachahmungskonzeptionen des Kreises verbunden bleibt.
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Max Kommerell: Das Volkslied und das deutsche Lied. Zuerst in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1932/33, Klostermann 1936, wiederabgedruckt in: Max Kommerell: Dame Dichterin und andere Essays, hg. u. mit einem Nachwort versehen v. Arthur Henkel, München: DTV 1967, S. 7–64, hier S. 53–59. Kommerell (1967): Das Volkslied und das deutsche Lied, S. 56. Kommerell (1967): Das Volkslied und das deutsche Lied, S. 53. Kommerell (1967): Das Volkslied und das deutsche Lied, S. 53.
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Seine Unterkategorie ästhetizistischer Imitatio, die Mimikry, ist auf Meinke übertragbar. Ein Beispiel ‚ungläubiger‘, rein ästhetisch und auch strategisch motivierter Imitatio sind Meinkes Maximin-Gedichte. Es handelt sich um einen vierteiligen Zyklus auf den Namenstag Maxim, den er im Oktober 1912 an George schickt.67 Ob dieses Sujet sich eignet, den Vorwurf des Frevels zu zerstreuen, ist fraglich. Schon in der Aufmachung scheint ein spielerisches Element durch, da die Blätter des kalligraphischen Manuskripts mit einem Siegel geheftet sind, das den Namen Maximin trägt. Es handelt sich um vier Gedichte: Widmung an St.G, Herbstkranz Gelb und Rot, Herbstkanz Lila und Braun und Paradisischer [sic] Wandel. Meinke imitiert nicht nur graphische (STG-Schrift) und stilistische Einzelheiten, sondern auch einschlägige Themen und Strophenformen. Mit den fünfhebigen Versen im Paarreim und mit der Feuerthematik lehnt er sich an Flammen aus dem Siebenten Ring an. Die beiden ersten Verse ähneln vage dem Eingang zum Vorspiel im Teppich: „Ich forschte bleichen eifers nach dem horte / Nach strofen drinnen tiefste kümmernis“ wird bei Meinke zu: „Ich suchte aus vergessenem kalender / Aus toten tagen rote freudenspender“. Die reichen Blumengaben des Engels werden in seinen Gedichten zu Kränzen und Kerzen. Die beiden letzten, als Zitat kenntlich gemachten Verse „[…] der HERR der fackeln sprichts – / UND SO IHR EUCH VERZEHRT SEID IHR VOLL LICHTS“68 greifen die Schlussverse aus Flammen auf.69 In den folgenden zwei Gedichten geht es um das Winden der besagten Kränze. Ausnahmsweise ist das Kranzwinden bei Meinke nicht poetologisch, sondern wörtlich zu verstehen, denn im Begleitbrief heißt es: „[V]iel lieber noch hätt ich die ‚leibhaften‘ kränze und kerzen gesandt – doch fürchtete ich damit vielleicht doch allzu lästig zu fallen.“70 Meinke überführt poetische Motive in seine Lebenswelt, die er damit ästhetisch überhöht. Paradisischer Wandel schließlich verwendet die aus dem Jahr der Seele geläufige Form (drei Strophen, vier kreuzreimende Verszeilen mit je fünf He67 68 69 70
Hanns Meinke: Zwei Kränze zum zwölften Oktober als dem Tage Maxim, STGA, George IV, 2443. STGA, George IV, 2443, S. 5f. unpag. Stefan George: Flammen. In: SW, VI/VII, S. 85. Hanns Meinke an Stefan George, Brief vom 11. Oktober 1912 (STGA).
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bungen).71 Thematisch wirkt es wie eine Kontrafaktur von Wir schreiten auf und ab im reichen flitter, mit dem es das Strophenund Reimschema teilt.72 In beiden Gedichten geht es um den Spaziergang eines Liebespaars im Herbst. Die fallenden Buchenblätter der ersten Strophe von Wir schreiten auf und ab im reichen flitter werden bei Meinke vom goldenen „flitter“ von Birken abgelöst. In der zweiten Strophe der Vorlage verschränken sich die Arme des Paares, hier durchschlingen sich deren Namen (II,4). Auch in der dritten Strophe finden sich Analogien zum mutmaßlichen Prätext: Die Tropfen aus Licht („strahlenspuren auf uns tropfen“) werden von Meinke durch Tautropfen ersetzt. Ähnlich wie in Georges Parkgedichten wird die Landschaft durch Jugendstilelemente wie Baldachin, Damast, Silberschalen, Brillanten u.a. artifizialisiert. Meinke interessiert primär die ästhetische Dimension des Maximin-Kults; die Botschaft von Selbstopfer, Eros und Tat erscheint bezeichnenderweise nur im Zitat. Im letzten Gedicht des Zyklus gerät ihm die MaximinVerehrung vollends aus dem Blick. Meinke imitiert nur den Stil, das Ethos bleibt ihm verschlossen. Rudolf Pannwitz nennt Meinke 1919 einen „letzthin nur Empfindenden und Genießenden“ und umreißt damit eine kulinarische Haltung gegenüber der Kunst.73 Meinke sei ein Imitator par excellence, „ungeniert im Uebernehmen und Anempfinden, dadurch sofort und immer genial, aber nie ganz echt und reif […].“74 Pannwitz verbindet mit dem Begriff „genial“ nicht im Sinne einer Genieästhetik Originalität und Schöpferkraft, sondern ein Talent zur sofortigen Stiladaptation.75 Er teilt Georges 71 72 73
74 75
Die vierzeilige, reimende Strophenform dominiert auch in den Blättern. – Vgl. Kluncker (1974): Blätter für die Kunst, S. 141. Stefan George: Wir schreiten auf und ab im reichen flitter. In: SW, IV, S. 15. Rudolf Pannwitz: Maßstäbe und Beispiele lyrischer Synthese [Zu: Benno Geiger, Hanns Meinke, Otto zur Linde, Stefan George und Theodor Däubler]. In: Das junge Deutschland 2 (1919), zu Meinke S. 177f., hier S. 177. Pannwitz (1919): Maßstäbe und Beispiele lyrischer Synthese, S. 177. Meinke bedankt sich bei Pannwitz für die Besprechung: „Ja – das Porträt von H. M. ist wohl treffsicher“ und freut sich darüber, dass „dieser H. M. von dem sich noch manches andere sagen liesse nun wirklich in die ‚literatur‘ hinein kometenschweift.“ Wichtiger ist Meinke indes, Pannwitz über „einen hübschen strammen Jungen von 25 jahren“ zu informieren, dem Urbild zum Gedicht Der schöne Schnitter (vgl. Kap. 3.3.) – Hanns Meinke an Rudolf Pannwitz, Brief vom 4. September 1919 (DLA).
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ambivalente Einschätzung des virtuosen Spiels, wenn er es einerseits „genial“ und andererseits „ungeniert“ nennt. Damit scheint eine negative ethische Wertung durch, die auch dort anklingt, wo er den mit ihm befreundeten Meinke einen „letzthin nur Empfindenden und Genießenden“ nennt.76 Meinke stellt sich in einer poetologischen Selbstcharakteristik gegenüber Pannwitz aus dem Jahr 1912 differenzierter dar. Er sieht sich zwar gleichfalls als Genießenden, daneben aber auch ethisch als Dankenden und Schaffenden: „Zu geniessen, Alles, glühend, mit jeder Fiber, jeder Pore, Augen, Ohren, Nase, Zunge – und nun –: was ich ‚mache‘: etwa Dank für das Genossene! […] Also: wurzelnd im Geniessen, aber wipfelnd im danksagenden Machen.“77 Im Unterschied zu Pannwitz sieht er seine Poetik mit dem Begriff „Anempfinden“78 nicht adäquat beschrieben: „An=Empfinder bin ich wohl nie. Nach=Empfinder dagegen schlechterdings von Allem was mir nahe kommt.“79 Zuletzt wehrt er sich gegen den von Pannwitz geäußerten Vorwurf, in seiner Lyrik dominiere die Form über dem Gehalt. Er bezweifelt, dass es so etwas wie Gehalt in Dichtung überhaupt gebe, und sieht ihn in der Form selbst aufgehoben.80 Egal, wie man sie bewertet: Meinkes Poetik des Sich-Verschenkens und Verströmens widerspricht dem, was George unter „maass“ versteht, und seine imitierende Stilpluralität steht Georges Poetik der Imitatio entgegen, welche eben nur die Nachahmung eines Stils erlaubt. George kann Meinke nicht formen, weil er keine Substanz vorfindet. Seine Lyrik gehört daher im Gefüge des Imitatio-Modells zu den abgelehnten Formen von Nachahmung. Meinke erhält, obwohl er zunächst eines Besuchs für wert befunden wird, keinen Zugang zum Kreis. Sein Desinteresse an dogmatischen Festlegungen rettet 76 77 78 79 80
Pannwitz (1919): Maßstäbe und Beispiele lyrischer Synthese, S. 177. Hanns Meinke an Rudolf Pannwitz, Brief vom 16. Mai 1912 (DLA). Pannwitz (1919): Maßstäbe und Beispiele lyrischer Synthese, S. 177. Hanns Meinke an Rudolf Pannwitz, Brief vom 16. Mai 1912 (DLA). „Worin liegt ihr Gehalt? ist überhaupt Gehalt da?? – Es sind Rufe aus den Irrgängen einer seltsamen Kindheit. Ihr Gehalt (angenommen er wäre da) läge nicht im Inhalt an sich, sondern darin, dass ein Kind oder halbes Kind dies jubelt oder klagt – oder auch nur still vor sich hin sagt […].“ – Hanns Meinke an Rudolf Pannwitz, Brief vom 16. Mai 1912 (DLA). – Der Brief macht wahrscheinlich, dass Meinke zu einer Vorstufe des späteren Meinke-Artikels Stellung nimmt. Eine frühere Veröffentlichung des 1919 publizierten Texts von Pannwitz hat sich nicht nachweisen lassen.
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ihn aber – positiv gewendet – vor einer Vereinnahmung durch die unterschiedlichen Gruppen und ihre Führer (Pannwitz, zur Linde, George).
3.3 Homosexuell motivierte Imitatio Gert Mattenklott zufolge reagieren heterosexuelle Männer auf Epigonen wie auf Homosexuelle „nervös und wie kulturneurotisch verspannt“, weil sie „andersrum“ seien „zur herrschenden Kultur“.81 Die Behauptungen über heterosexuelle Männer und über Homosexuelle seien dahingestellt: Interessant ist die von ihm konstatierte Analogie zwischen Epigonalität und Homosexualität. Im Textmaterial der vorliegenden Studie gibt es einige Indizien, die Mattenklotts Beobachtung stützen. Für den Charon ist beispielsweise die Imitatio des Kreises gleichbedeutend mit Epigonalität und in der Tat poetologisch ‚steril‘, sie ruft bei ihm ähnliche Abwehrreaktionen hervor wie die gleichfalls inkriminierte Homosexualität (vgl. Kap. 5.2). Bezogen auf den George-Kreis ist Mattenklotts Epigonalitätsbegriff zu differenzieren. Epigonalität wird im Kreis schließlich abgelehnt – sie gehört neben Eklektizismus und Ästhetizismus in den Bereich negativer Imitatio (Typ B) –, Imitatio hingegen bejaht. Bezeichnenderweise ist die Epigonalitätsthematik in Georges Lyrik mit einer heterosexuellen, unbefriedigenden Liebeskonstellation verknüpft wie in der Gruppe der Traurigen Tänze aus dem Jahr der Seele. Im Vorspiel des Teppichs wird die heterosexuelle Liebe vom homoerotischen Eros des Engels abgelöst.82 Parallel dazu weicht die Epigonalitäts- der Imitatio-Thematik: Der Engel wird zum Führer des Dichters, der wiederum Jünger um sich schart.83 Dieser Paradigmenwechsel charakterisiert auch den Beginn des Teppichs. Während die ersten drei Gedichte die beiden Aufgaben des Dichters im Imitatio-Modell – Schau des Urbilds (Der Teppich, Urlandschaft) und Förderung ethischer Imitatio (Der Freund der Fluren) – the81 82 83
Mattenklott (1986): Epigonalität, S. 93. Zu homoerotischen Motiven im Teppich vgl. Keilson-Lauritz (1987): Von der Liebe, die Freundschaft heißt, S. 39–46. Vgl. neben vielen anderen die Gedichte Nr. III, VII, X und XXII.
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matisieren, beziehen sich die folgenden drei Gedichte in kritischer Distanz rückblickend auf das epigonale und weibliche Paradigma im Jahr der Seele. Lämmer behandelt die Gruppe der Epigonen, in Die Fremde versinkt die Frau als dämonische Hexe im Torf, und das von den Charontikern zurecht als sprachlich missglückt inkriminierte84 Gewitter endet mit der demütigenden Verhaftung einer zügellosen „falschen gattin“ durch ihren Mann.85 Nichtdomestizierte weibliche Sexualität stellt für George eine Bedrohung dar. Er assoziiert den lustvollen heterosexuellen Geschlechtsakt mit Zersetzung und Niedergang (Die Fremde) sowie, im übertragenen Sinn, mit Epigonalität oder Ästhetizismus. Im Siebenten Ring kehrt George einen Topos der Homosexualitätskritik, ‚weibisches‘ Verhalten, um und wendet ihn auf die Gruppe der Ästhetizisten an, indem er eine effeminierte Haltung, ein „arkadisch säuseln“ und „schmächtig prunken“, mit dem ‚männlichen‘ Ethos der Tat konfrontiert.86 Er assoziiert also mit Epigonalität und Ästhetizismus das bekämpfte Weibliche. Die von Mattenklott diagnostizierte kulturneurotische Verspanntheit beruht, wie es scheint, auf Gegenseitigkeit: Epigonalität ist in beiden Gruppen, im Charon und im GeorgeKreis, mit der jeweils abgelehnten Form sexueller Ausrichtung konnotiert; bei Heterosexuellen mit Homosexualität und bei Homosexuellen mit weiblicher Sexualität. Imitatio wird dagegen unterschiedlich bewertet. Von Georges Kritikern wird sie mit Epigonalität gleichgesetzt, für George bedeuten die Ankunft des Engels im Teppich und die Entwicklung des Imitatio-Modells das Ende der Epigonalitätsproblematik. Dem Imitatio-Komplex stellt er in seiner Lyrik mann-männliche Figurationen von Führung und Gefolgschaft zur Seite. Die Charontiker ebenso wie Borchardt und Schröder verbinden ihre Kritik an der imitierenden Praxis im Kreis mit dem Vorwurf der Homosexualität (vgl. Kap. 5.2 und 5.3), der George-Kreis differenziert nach dem bekannten Muster: Nur eine Imitatio, die 84 85 86
Paulsen (1912): Otto zur Linde, S. LX. Vgl. Stefan George: Der Teppich; Urlandschaft; Der Freund der Fluren; Gewitter; Die Fremde; Lämmer. In: SW, V, S. 36–41. „Nun da schon einige arkadisch säuseln / Und schmächtig prunken: greift er die fanfare · / Verlezt das morsche fleisch mit seinen sporen / Und schmetternd führt er wieder ins gedräng.“ – Stefan George: Das Zeitgedicht. In: SW, VI/VII, S. 6f., hier S. 7.
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sich der Liebesgemeinschaft entzieht, ist dem Sterilitäts- und Ästhetizismusvorwurf ausgesetzt. Erotische Attraktion hält die Akteure im Imitatio-Modell zusammen. Der Eros befördert die Mimesis des Urgeists ebenso wie den Prozess der Idealisierung des abgeleiteten Wesens. An die Stelle der biologischen Zeugung tritt das Prinzip der geistigen Sohnschaft, anknüpfend an Platons Dialog Lysis und die darin formulierte (entweder übergeschlechtlich oder homosexuell interpretierbare) Liebe zum Gleichen.87 Allerdings – und mit diesem essenziellen Punkt sei dem Missverständnis vorgebeugt, das Phänomen der Imitatio gehe typischerweise mit Homosexualität einher – ist die Contagio im Imitatio-Modell sexuell, aber nicht zwangsläufig homosexuell konnotiert. Die pädagogische Funktionalisierung der sexuellen Anziehung ist nicht zwangsläufig an männliche Akteure gebunden. Erst in Georges Lyrik konkretisiert sich der Bezug auf eine rein auf Männer bezogene Gemeinschaft.88 Die Keimmetaphorik seiner Gedichte legt eine Assoziation mit dem männlichen Prinzip nahe, denn die Weitergabe des Samens ist das Metier des Manns: Contagio, die geistige Befruchtung, erfolgt in Georges poetischem Kosmos von Mann zu Mann. Daher fühlen sich Frauen wie Edith Landmann zwar durch Contagio mit George verbunden, aber dennoch aufgrund ihres Geschlechts aus der engen Liebesgemeinschaft ausgeschlossen.89 In Georges Lyrik lässt sich nachweisen, dass ethische Imitatio und mann-männlicher Eros positiv miteinander verknüpft sind (analog dazu sind Epigonalität und Weiblichkeit negativ miteinander verknüpft). Wie gestaltet sich nun ihr Verhältnis in der George-Nachahmung außerhalb des Kreises? Als Hypothese sei formuliert, dass die imitierende Nachahmung Georges homosexuell motiviert sein kann (aber nicht muss), und zwar nicht nur, weil seine Lyrik homosexuell ist,90 sondern auch, weil damit die Hoffnung verbunden ist, in der Zweierbeziehung von Meister und Jünger die eigene Sexualität ausleben zu können. In der Tat ist es für Homosexuelle, die nur 87 88 89 90
Vgl. Keilson-Lauritz: (1987): Von der Liebe, die Freundschaft heißt, S. 93. Vgl. Osterkamp (2008): Frauen im Werk von Stefan George. Vgl. Schönhärl (2010): „Wie eine Blume die erfroren ist“. Vgl. Keilson-Lauritz: (1987): Von der Liebe, die Freundschaft heißt.
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eine vage Kenntnis vom Kreis haben, nicht einfach, das spezifische Konstrukt des Imitatio-Modells und die Rolle, die Homosexualität im Imitatio-Gefüge des Kreises spielt, zu durchschauen. Meinke scheitert, weil er homosexuelle Praktiken im Rahmen des Modells für etwas Systembedingtes hält. Er erkennt nicht, dass Contagio dem Imitatio-Modell zufolge der ästhetischen und ethischen Ausrichtung dient. Bei Meinke ist die poetologische und imitierende Lyrik ein Mittel zum Zweck der sexuellen Vereinigung, während bei George die mehr oder minder sublimierte Sexualität ein Mittel zum Zweck der poetischen Inspiration und der Persönlichkeitsbildung ist. Das folgende Gedicht illustriert, wie Meinke die ethische Imitatio als Vorwand verwendet, um seinen Wunsch nach sexueller Erfüllung auszudrücken. Es handelt sich um ein Widmungsgedicht in Blankversen An Stefan George (vollständig abgedruckt im Bild- und Textanhang) aus dem Jahr 1918.91 In diesem Gedicht deutet Meinke an, dass es für ihn zwei Leben gebe. In dem einen ist er Familienvater, dessen „verspielter same“ herrlich heranwachse (19–22), in dem anderen ist er in „keuscher kindheit“ verblieben und sehnt sich danach, sich George hinzugeben (33f). „[W]ahrhaft ‚leben‘ sind nur jene stunden“ (62), in denen er seine Verkleidung als Ehemann und Vater ablegen kann (60–65). Verkleidung und doppelte Identität haben Signalfunktion und lassen auf homoerotische Schreibabsichten rückschließen. Meinke folgt George ethisch nach („alles was Du singst / Ich leb es echt und nah im schooss der erde“, 54f.), akzeptiert aber dennoch seine biologische Vaterrolle und den „edeln schooss traumsichrer wahl“ (20). Meinke signalisiert damit sowohl poetische und biologische Zeugungsfähigkeit als auch Formbarkeit, da er George gegenüber die Rolle des Kindes einimmt (17f.+65). Bevor er auf den weiblichen Schoß zu sprechen kommt, redet er von sich selbst als Brache, die gepflügt werden und mehr als nur verwehten Samen aufnehmen wolle (14–17). George könnte „ungeahntes“ hervorbringen und geistige Vaterfreuden erleben, wenn er bereit wäre, Meinke zu befruchten. Meinke bietet sich George regelrecht an:
91
STGA, George IV, 2445 und ADK, Meinke-Archiv 53 (frühere Fassung, unvollst., hs. Ms.).
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Warum nicht willst Du selber mich versuchen? In mir ist aufgespeichert und beschlossen Der ganzen jugend stosskraft trieb und seim. (hier setzt auf meine hand sich eine biene Betastete und flog nach blumen weiter) Soll dass [sic] verschlossene an seiner fülle Verstocken: wie zu volle rosenknospe Den kelch nicht sprengt und so in sich verdirbt? Nichts braucht es als des Meister [sic] hand in liebe. (35–43)92
„[S]tosskraft trieb und seim“ (37) und das Sprengen des Kelchs (42) können sexuell verstanden werden, auch das Schmecken des verborgenen Honigs (35) ist erotisch konnotiert. George selbst verknüpft in Das lockere saatgefilde lechzet krank93 das saatbereite Feld mit sexueller Hingabe.94 In den ersten vier Versen werden der „stoss“ der Stürme und „der pflüge zähne“ angerufen, in der zweiten Hälfte die erschauernde nackte Brust, das duftende Haar und der Hauch eines feuchten Munds. Falls Meinke auf diesen Text anspielt, wird der erotische Unterton noch stärker. Im Kontext des Gedichts ist es eher unwahrscheinlich, dass sich Meinke mit der parenthetisch gefassten Bienenepisode auf das horazische Gleichnis der honigsammelnden Biene bezieht. Wahrscheinlicher ist, dass die Biene in ihrer Funktion als Blütenbestäuberin eine ‚jungfräuliche‘, also geistige Befruchtung meint. Meinkes Gedicht will Begehren schüren und laviert zwischen sublimierter geistiger und körperlicher Befruchtung. Eine vergleichbare doppelte Semantik wendet George im Vorspiel zum Teppich an, einem Gedichtband, auf den Meinke sich mehrfach bezieht.95 Auf das bedeutsame erste Gedicht, in dem George mit der Figur des Engels den männlichen Eros in sein Werk einführt, nimmt Meinke gleichfalls Bezug. Das Attribut des Engels sind 92 93 94
95
STGA, George IV, 2445, Bl. 3r Stefan George: Das lockere saatgefilde lechzet krank. In: SW, VI/VII, S. 79. Das Gedicht hat mit seinen frei gefüllten Fünfhebern, den versübergreifenden syntaktischen Bezügen und den weit auseinander liegenden Reimen (abcd/ abcd) eine für George ungewöhnliche Form – dies spricht für die Vermutung, dass kontrollierte Sexualität ihr Abbild in strenger Form findet und umgekehrt ausgelebte Sexualität zu gelösteren Strophenformen führt. „ICH LASS DICH NICHT · DU SEGNETEST MICH DENN!“ (71) ist z.B. ein Zitat im Zitat, denn George verwendet denselben Bibelvers im zweiten Gedicht des Teppich-Vorspiels. Auf das Gedicht Teppich spielt Meinke ebenfalls an, wenn er vom „gewebe / Des grossen teppichs“ spricht (9f).
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Rosen, sie werden im Text dreimal genannt; das letzte Mal am Ende der simultanen Annäherung und Berührung von Engel und Dichter.96 Meinke beschreibt nun die ersehnte Begegnung mit George als Berührung zweier Rosenkelche (48). Er übernimmt aus beiden Vorspielgedichten das Motiv der „erotischen Inspiration“97 und besetzt die Position der inspirationsspendenden Instanz mit George selbst. Expliziter als in seinen früheren Einsendungen bietet er nicht seine Lyrik an, sondern den eigenen Leib. Er entwirft einen regelrechten Verführungsplot, indem er die Phantasie des Empfängers durch eine anspielungsreiche Sprache und durch Fiktionen anregt wie jene, dass das Sprecher-Ich gerade „nackt auf morgenfrischer matte“ liege (51). Er wendet eine Strategie der „homoerotischen Camouflage“ (Detering) an, indem er auf der Oberfläche von ethischer und ästhetischer Imitatio redet, aber einen homoerotischen Subtext mitfließen lässt.98 Meinke missversteht George indes (oder versteht ihn nur zu gut), weil er Imitatio und Bildung im Kreis mit ausgelebter Sexualität verbindet. Zwar bekundet auch Meinke den Willen, durch Contagio sittlich geformt zu werden, aber in der Sinnlichkeit seiner Verse tritt der erotische Subtext deutlich hervor. Ähnliches gilt für die Zusendung eines nicht näher bekannten Anton Schönke, der eine homoerotische Begegnung in Form einer Tagebuchnotiz offen thematisiert.99 George selbst will den pädagogischen Eros allerdings nur als Mittel zum Zweck verstanden wissen und kritisiert homosexuelle Kreisangehörige wie Ernst Glöckner, wenn sie offen über ihre Sexualität schreiben.100 Als zweites Fazit lässt sich festhalten, dass das Verhältnis von Imitatio und Homosexualität außerhalb des Kreises falsch gewichtet werden kann, wenn die ethische Dimension des Imitatio-Modells nur als Camouflage aufgefasst wird. Für George spielt sie 96 97 98
99 100
Stefan George: Gib mir den grossen feierlichen hauch. In: SW, V, S. 11. Oestersandfort (2008): Platonisches im ‚Teppich des Lebens‘, S. 107. Heinrich Detering: Das offene Geheimnis. Zur literarischen Produktivität eines Tabus von Winckelmann bis zu Thomas Mann. Durchgesehene und mit einer Nachbemerkung versehene Studienausgabe, Göttingen: Wallstein 2002, S. 30. – Detering verwendet in seinen Studien die Prätexte, um die camouflierten Texte zu entschlüsseln. Er geht dabei von der Beobachtung aus, dass die Autoren selbst diese Entschlüsselung intendieren. STGA, George IV, 2560–2563. Vgl. Karlauf (2007): Stefan George, S. 539.
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eine weitaus wichtigere Rolle, zumal die Mehrheit seines Kreises heterosexuell ist.101 Mattenklott argumentiert rezeptionsästhetisch, man kann den Sachverhalt aber auch produktionsästhetisch deuten. Imitierende Verfahren können gesellschaftlichen Außenseitern durch Anschluss an eine größere Gruppe Sicherheit geben. Dafür gibt wiederum Meinke ein Beispiel. Im Begleitschreiben zu seinem Buch der Beschwörungen, das er 1912 an George sendet, erwähnt Meinke mit Sagitta einen dezidiert homosexuellen Schriftsteller. Er schreibt: „Das Buch der Beschwörungen ist aus meinem schwersten sommer 1907 an einen unbekannten ‚Sagitta‘ gerichtet von dem ich an fremdem ort zwei gedichte las die mich festhielten.“102 Unter dem Pseudonym Sagitta („Der Pfeil“) veröffentlichte John Henry Mackay seine homoerotischen Gedichte und Erzählungen.103 Meinke deutet in dieser Passage mit seinem „schwersten sommer“ entsprechende Neigungen an.104 Dass er seine Einsamkeit unterstreicht („Immer nur mit mir allein“), könnte auf eine durch seine Homosexualität bedingte Außenseiterrolle hinweisen.105 Wie aus Meinkes Schreiben hervorgeht, führt ihn die Erfahrung sexueller Normabweichung zu Dichtern und Schriftstellern, bei denen er auf gleichgerichtetes Begehren hoffen kann. Am Beispiel der Homosexuellenzeitschrift Der Eigene106 lässt sich zeigen, wie die imitierende Anknüpfung an Georges 101 102 103 104
105 106
Schätzungsweise 80 Prozent der Kreismitglieder sind heterosexuell. Dennoch ist der Kreis als solcher homosozial. Hanns Meinke an Stefan George, Brief vom 28. Februar 1912 (STGA). Sagitta publizierte u.a. in der Homosexuellenzeitschrift Der Eigene. Vgl. Meinkes Briefe aus dem Jahr 1908, abgedruckt in: Meinke (1977): Ausgewählte Dichtungen, S. 67–76. Sie thematisieren Meinkes unerfüllte Liebe zu Hermann Johannes Meisner. Briefe von und an Mackay sind in Meinkes Berliner und Marbacher Nachlass erhalten. Vgl. Hans Mayer: Außenseiter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007 [erste Auflage: 1975]. Zur Zeitschrift vgl. Marita Keilson-Lauritz: Die Geschichte der eigenen Geschichte. Literatur und Literaturkritik in den Anfängen der Schwulenbewegung am Beispiel des Jahrbuchs für sexuelle Zwischenstufen und der Zeitschrift Der Eigene (Homosexualität und Literatur 11), Berlin: Rosa Winkel 1997; Joachim S. Hohmann: „Der Eigene“, seine Urheber und ihre Geschichte. Anmerkungen zu einem Stück vergessener (Literatur-)Geschichte. In: Der Eigene. Ein Blatt für Männliche Kultur. Das Beste aus der ersten Homosexuellenzeitschrift der Welt, hg. u. mit einem Nachwort versehen von Joachim S. Hohmann, Berlin: Foerster 1981.
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Lyrik durch den dezidiert homosexuellen Kontext ihren Charakter verändert. Die stilistische George-Imitatio wirkt wie eine Aemulatio, eine intendierte Überbietung dessen, was ihre Verfasser bei George vorfinden. Sie imitieren Georges Lyrik nicht im Sinne des Imitatio-Modells, sondern demaskieren die bei George sublimierten homoerotischen Schreibabsichten. Die vom homosexuellen Verleger Adolf Brand107 herausgegebene literarische Zeitschrift steht in ihrer programmatischen Ausrichtung, die die ästhetische Erneuerung der Gesellschaft durch den männlichen Eros zum Ziel hat, in gewisser Weise dem GeorgeKreis nahe.108 Durchschnittlich 25 bis 50 Prozent der Beiträge sind Gedichte.109 In der Regel handelt es sich um reimende Lyrik in konventionellen Strophenformen, experimentelle Formen sind selten.110 In einigen Fällen darf man von einer bewussten Anknüpfung an George ausgehen.111 Neben imitierender Lyrik findet sich auch die bloße Namenserwähnung Georges, wobei George nicht als Homosexueller, sondern als Dichter erscheint.112 Eine überdurchschnittlich hohe George-Rezeption 107
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Zu Brand vgl. Marita Keilson-Lauritz (Hg.): Emanzipation hinter der Weltstadt. Adolf Brand und die Gemeinschaft der Eigenen, Katalog zur Ausstellung vom 7. Oktober bis 17. November 2000 in Berlin-Friedrichshagen, BerlinFriedrichshagen: Müggel-Verlag Lang 2000. Vgl. Detering (2002): Das offene Geheimnis, S. 12. Vgl. Keilson-Lauritz (1997): Die Geschichte der eigenen Geschichte, S. 159. Marita Keilson-Lauritz beobachtet eine positive Bewertung der Beherrschung der Form und fragt: „Nur der Form?“ Sie vermutet, dass Formbeherrschung und Kontrolle homoerotischer Wünsche miteinander in Beziehung stehen könnten. – Keilson-Lauritz (1997): Die Geschichte der eigenen Geschichte, S. 241. Vgl. die Gedichte von Siegfried Lang: Mir träumte …. In: Der Eigene 10 (1924), H. 1/2, S. 70; von Wulf Konrad Schwerdtfeger in: Der Eigene 6 (1906), S. 122–127; Eduard Oskar Püttmann: Der Jünger. In: Der Eigene 7 (1919), H. 4, S. 4, das bis in Einzelheiten hinein auf das gleichnamige Gedicht Georges reagiert mit der Anfangszeile „Meinem Herrn, dem hehren, will ich dienen“; Hermann Skalde: Eros. In: Der Eigene 10 (1924), H. 7/8, S. 339 bis in die Kleinschreibung; zwei Gedichte in fünfhebigen Jamben und vierzeiligen Strophen mit dem Titel Ostern von Franz Nieberth in: Der Eigene 6 (1906), S. 108 und ein Gedicht von Johannes Hermann: Nun glaubt ich mich von allem Leid genesen. In: Der Eigene 6 (1906), S. 11. – Johannes Hermann ist möglicherweise ein weiteres Pseudonym von Hanns Meinke. Vgl. den diesbezüglichen Eintrag unter diesem Namen im Findbuch Charon-Kreis I, ADK. Werner Rothe: Die Flucht in die Einsamkeit. Ein Beitrag zur Psychologie Friedrich Nietzsches. In: Der Eigene 11 (1926), H. 3, S. 69–71. Das Bild von Nietzsche als Machtmensch sei falsch: „Alles, was tief ist, liebt die Maske.“ Rothe zi-
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ist nicht feststellbar.113 In der Tat ist Der Eigene ein Sprachrohr der emanzipatorischen Homosexuellenbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts und verfolgt damit im Ergebnis andere Ziele als George.114 Das wird insbesondere bei einem Vergleich der jeweiligen Gewichtung des pädagogischen Eros deutlich. Das Erzieherische in der Knabenliebe stellen erstens die Jugendbewegung (Hans Blüher) und mit ihr die Reformpädagogik (Gustav Wyneken) und zweitens die Homosexuellenbewegung der Jahrhundertwende (Adolf Brand, John Henry Mackay, Magnus Hirschfeld) heraus. Für die Verständigung über die Art der Beziehung eines älteren Mannes zu einem Jungen ist Platons Symposion der zentrale Bezugstext. Im George-Kreis wird Platons Dialog in der Übersetzung Hildebrandts 1912 zum „veritablen Kultbuch“.115 Der pädagogische Eros entspricht dem Imitatio-Modell, das Sexualität in ein Konzept der Idealisierung einbindet. Auch für die jugendbewegte Diskussion ist das Symposion zentral.116 Jugendbewegung und Reformpädagogik idealisieren und sublimieren ein erzieherisches Ideal mit platonischem pädagogischen Eros, die frühe Homosexuellenbewegung hingegen schließt bei Betonung allgemein erzieherischer Aspekte manifeste Sexualität mit ein. Innerhalb der ersten Richtung wird George nachhaltig rezipiert,117 sowohl Blüher als auch Wyneken zitieren ihn in ihren Schriften zum pädagogischen
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tiert Georges Nietzsche-Gedicht; St. Ch. Waldecke [d.i. Ewald Tscheck]: Der schöpferische Mensch, nennt George als Jean Paul-Verehrer. In: Der Eigene 9 (1922), H. 6, S. 168–172. Auch Rilke wird beispielsweise imitiert, häufiger jedoch bestimmte homoerotische konnotierte Werkformen und Dichter der Freundschaftsliteratur. – Vgl. Keilson-Lauritz (1997): Die Geschichte der eigenen Geschichte, S. 297. Vgl. Joachim S. Hohmann: Zum Geleit. In: ders. (1981): Der Eigene. Ein Blatt für die männliche Kultur. Raulff (2009): Kreis ohne Meister, S. 498. Vgl. Ulfried Geuter: Homosexualität in der deutschen Jugendbewegung. Jungenfreundschaft und Sexualität im Diskurs von Jugendbewegung, Psychoanalyse und Jugendpsychologie am Beginn des 20. Jahrhunderts (stw 1113), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S. 118–121 und S. 127f. Vgl. Carola Groppe: Stefan George, der George-Kreis und die Reformpädagogik zwischen Jahrhundertwende und Weimarer Republik. In: Bernhard Böschenstein, Jürgen Egyptien, Bertram Schefold und Wolfgang Graf Vitzthum (Hg.): Wissenschaftler im George-Kreis. Die Welt des Dichters und der Beruf der Wissenschaft, Berlin und New York: de Gruyter 2005, S. 311–327 und Raulff (2009): Kreis ohne Meister, S. 432f.
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Eros.118 George wahrt Distanz,119 steht aber dieser Bewegung näher als der Homosexuellenbewegung, die mit einer weitaus größeren Offenheit über Homosexualität und sexuelles Begehren spricht und diesem über die pädagogische Funktionalisierung hinaus ein Eigenrecht zuerkennt.120 Die folgenden Gedichte aus dem Umkreis des Eigenen betonen den spezifisch sexuellen Gehalt mann-männlicher Erotik. Es handelt sich dabei um Texte aus dem Eigenen, die stilistisch und/oder thematisch George imitieren. In welchen Punkten sie ihn nachahmen und wo sie sich von ihm abgrenzen, soll in den Gedichtanalysen herausgearbeitet werden. Ernst Burchards Beichte handelt davon, dass ein „Junge“ eine homosexuelle Beziehung zu einem älteren Mann beendet, weil er die Liebe zum anderen Geschlecht entdeckt. Dieses Gedicht imitiert stilistisch Der Einsiedel von George, ein Text, der wie Beichte aus der Ich-Perspektive des älteren Mannes spricht, der sein Ziehkind an die Welt verliert. Der „Sohn“ entscheidet sich bei George gegen die Vita contemplativa des Einsiedlers und für die Vita activa und scheidet damit aus dem zuvor gegebenen Imitatio-Zusammenhang aus. Einen möglichen homosexuellen Subtext in diesem Verhältnis zu erkennen bleibt dem sensiblen Leser vorbehalten.121 In Beichte wird diese Nebenbedeutung explizit. Setzt man Georges Gedicht als Prätext voraus – und eine solche Beziehung liegt nahe, wenn man die Eingangszeile „Nun hat 118
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Vgl. Hans Blüher: Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft, Bd. 1, Der Typus Inversus, Jena: Diederichs 1917 und Bd. 2, Familie und Männerbund, Jena: Diederichs 1919; Gustav Wyneken: Eros, Lauenburg a.d.E.: Saal 1921. Bei der Aussage Ulfried Geuters, George habe 1921, nach dem Gerichtsverfahren gegen Wyneken wegen sexuellen Missbrauchs zweier Knaben und dem Urteil einer einjährigen Gefängsnisstrafe eine handschriftliche Sammlung von Aufzeichnungen und Skizzen „Gustav Wyneken in die verbannung“ geschickt, handelt es sich um eine Fehlzuschreibung. Die betreffende Handschrift von Tage und Taten lehnt sich zwar optisch an die STG-Schrift an, aber auf der ersten Innenseite ist handschriftlich vermerkt: „Von Anni Reiner-Hochschild“. Eine persönliche Widmung Georges fehlt. – Geuter (1994): Homosexualität in der deutschen Jugendbewegung, S. 197f. Anm. 53 und ADJ, Nachlass Wyneken, 1145, 1161. Vgl. Groppe (2005): Stefan George, der George-Kreis und die Reformpädagogik; Karlauf (2007): Stefan George, S. 397–401; Raulff (2009): Kreis ohne Meister, S. 431. Stefan George: Der Einsiedel. In: SW, III, S. 55.
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mein Junge mir gebeichtet“122 mit Georges Vers „Ich ließ mir allen seinen Kummer beichten“ vergleicht –, so kann man von einer bewussten Aemulatio reden. Die in Georges Gedicht unterdrückte Sexualität wird in eine offene überführt. Während Georges asketischer „Einsiedel“ seine Zuneigung sublimiert, lässt Burchards Text wenig Zweifel daran, dass das Männerpaar eine sexuelle Beziehung geführt hat. Die religiöse Konnotation des Titels Beichte wird von Burchard gleich im ersten Vers profaniert, wohingegen George in seinem Gedicht Der Einsiedel die Beziehung zwischen dem Einsiedler und dem „sohn“ als eine geistig-spirituelle darstellt. In Georges Gedicht ist nur angedeutet, dass mit der sexuellen Reifung des Sohnes eine Entfremdung beginnt, Burchards Text spricht dagegen deutlich aus, dass der geliebte „Junge“ sich in ein Mädchen verliebt hat und daher vom Sprecher-Ich Abschied nimmt. Dieser Ablösungsprozess beschreibt eine Zeiterscheinung, die Ulfried Geuter zum Gegenstand seiner Studie zur Homosexualität in der deutschen Jugendbewegung gemacht hat.123 Geuter betrachtet die pubertäre Homosexualität als ein von der erwachsenen Homosexualität abzugrenzendes narzisstisches Übergangsphänomen der Frühadoleszenz. Auch George bindet mit Vorliebe Jugendliche in Nachahmungskonzepte ein, die noch vor einer klaren sexuellen Entscheidung stehen. Die poetologische Bedeutung der Knabenfigur für George kommt in Burchards Gedicht nicht zum Tragen. Bei George initiiert der schöne Jüngling die Mimesis des Urgeists und eröffnet ihm einen Zugang zum ursprünglichen Sein und zur ursprünglichen kreativen Energie. Eine ähnliche Funktion nimmt in Rilkes Lyrik um 1900 die Figur der Mädchen ein.124 Diese emphatische Deutung der Frühadoleszenz als einer Phase der Ganzheit, die dem schöpferischen Ursprung nahestehe, entspringt der Lebensphilosophie, welche „das ‚werdende Leben‘ des Kindes in die Posi-
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Ernst Burchard: Beichte. In: Der Eigene 4 (1903), H. 3, S. 158. Geuter (1994): Homosexualität in der deutschen Jugendbewegung. Vgl. Lieder der Mädchen und Gebete der Mädchen zur Maria (beide entstanden 1898), veröffentlicht in Mir zur Feier (1899) sowie die lyrische Szene Spiel (ebenfalls 1898), In: Sämtliche Werke, Bd. 3, Jugendgedichte, hg. v. Rilke-Archiv in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke und besorgt durch Ernst Zinn, Frankfurt a.M.: Insel 1987, S. 233–251 und S. 365–386.
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tion ständiger potenzieller Welterneuerung“ setzt.125 Burchards Text imitiert, variiert und expliziert die bei George vorgefundene latent-erotische Situation. Gleiches gilt für das Gedicht eines nicht identifizierten Verfassers namens U. Veem mit dem Titel Am See, welches stilistisch mit fünfhebigen Jamben bei vierzeiligen, kreuzgereimten Strophen, mit dem typischen Zusammenfall von Satz und Verszeile und dem vorgestellten Genitiv George imitiert. Auch in diesem Gedicht wird die erotische Situation explizit.126 Die folgenden Gedichte imitieren George zwar nicht, sollen aber trotzdem analysiert werden, weil sie die im Kreis praktizierten Nachahmungsformen der Imitatio und Imitatio veteris travestieren. Gemeint ist Walther Ehrenfrieds (1872–1939) als „Liederkreis“ überschriebener Gedichtzyklus Glaukos.127 Ehrenfried gehört in den Umkreis von Mackay und ist als Sammler und Sachverständiger für ein Kunsthaus tätig. In seinem Zyklus erweckt das Sprecher-Ich eine antike Knabenstatue zum Leben, indem es in einem nächtlichen Traum eine Begegnung mit dem Knaben imaginiert, den es sich als einen Schüler von Sokrates denkt. Sokrates erscheint in diesen Texten als erotischer Philosoph, der seine Schüler zur Weisheit und zur sexuellen Aktivität anleitet. Die Anknüpfung an die griechische Kultur, die seit Winckelmann mit einer Verherrlichung der ‚greek love‘ assoziiert werden kann, geschieht in diesem Zyklus in eindeutiger Absicht. Das Sprecher-Ich taucht träumend in die griechische Welt ein, um an ihren sinnlichen Nächten teilzuhaben. Die griechische Philosophie wird banalisiert, weil sie aus der Perspektive eines philosophisch desinteressierten, aber sexuell erfahrenen Knaben geschildert wird. In sieben Gedichten, von denen das erste und das letzte den Rahmen bilden – in der Rahmenhandlung spricht das Ich nur mit dem „Knabenhaupt [a]us weißem Stein“ – tritt das Ich in ein imaginäres Zwiegespräch mit einem halbwüchsigen griechischen Knaben. Der Eingangstext, Anklang, stellt den Knabenkopf vor. Im zweiten Gedicht, Glaukos, beginnt dieser Kopf zu reden und fragt das Sprecher-Ich: „Was 125 126 127
Groppe (2005): Stefan George, der George-Kreis und die Reformpädagogik, S. 314. Vgl. U. Veem: Am See. In: Der Eigene 6 (1906), S. 180. Walther Ehrenfried: Glaukos. In: Der Eigene 6 (1906), S. 166–170.
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zogst Du mich aus meinen Welten, Törichter, wenn Du mich nicht liebst?“128 Im folgenden Gastmahl verführt das SprecherIch den Knaben dazu, nicht nur über den Eros zu reden, sondern auch aktiv zu werden. Das vierte Gedicht, Sokrates, knüpft direkt an die Aufforderung „Knabe komm, wir wollen gehen!“129 des vorangegangenen Gedichts an. In diesem nun fragt der Knabe, warum Sokrates wohl Alkibiades abgewiesen habe, und beendet die Unterhaltung anspielungsreich: „Sind wir töricht oder weise, Ich und Du?“130 Der folgende Text setzt das Liebesgespräch fort. Der Knabe erzählt von seinen Siegesphantasien in Olympia – einem homoerotischen Wunscherfüllungsort und einem Ort des Wettstreits der nackten Körper –, und als das Sprecher-Ich eifersüchtig reagiert („Wehe, Knabe, dann will jeder / Dich umarmen, Männer, Greise“, III,1f.), versichert der Knabe, er werde dem Sprecher-Ich mehr bieten als nur einen Kuss. Die Art der travestierenden Behandlung des Stoffes zeigt anschaulich das anschließende sechste Gedicht: Auf der Strasse „Warum kamst Du nicht zum Schwimmen?“ „Sokrates hat mich erwischt!“ „O Du Ärmster!“ „Und mir seine Schusterregeln aufgefrischt. Wußte, daß ich Eile hatte, Fragte aber Kreuz und Quer, Über Dich und mich und Eros, Schließlich wußt ich garnichts mehr.“ „Nächstens schwätzt er Deinen Alten!“ „Ach, wir nehmen uns in acht! Gehst Du ringen?“ „Selbstverständlich!“ „Also dort und dann heut Nacht!“131
Das den Zyklus abschließende Gedicht Morgen erweckt das Ich unsanft aus seinen Träumen und der Kopf wird wieder zu Stein. So bleibt die Antike von der Gegenwart getrennt. Zwar schwingt hier die unglückliche Liebe Pygmalions mit, aber ins128 129 130 131
Ehrenfried (1906): Glaukos, S. 167. Ehrenfried (1906): Glaukos, S. 167. Ehrenfried (1906): Glaukos, S. 169. Ehrenfried (1906): Glaukos, S. 170.
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gesamt schwelgt Liederkreis in homoerotischen Phantasieräumen der griechischen Antike wie dem olympischen Sport, der Knabenerziehung, dem Ringkampf und dem Symposion. Die alltagssprachliche Schilderung dieser Episoden überführt die Themen in die Gegenwart. Exercitatio wird ausschließlich auf körperliche Übung bezogen (Ringkampf, Schwimmen, Olympia), denn die geistige Übung (Sokrates) wird als „Schusterregel“ abgewehrt. Die Erotik zwischen einem Erwachsenen und einem Schüler wird gleichfalls nicht auf ihre geistige Dimension im platonischen Eros hin befragt, sondern sexuell ausgelebt. Georges Antikenverehrung bewegt sich primär auf der ästhetischen Ebene und deutet Sexualität nur an. Ehrenfried hingegen stellt in seinem Traum von der Antike Homosexualität unverblümt dar und lässt Contagio in sexuelle Erfüllung münden.132 Burchard und Veem imitieren George nur partiell, in der Darstellung homosexuellen Begehrens gehen sie ebenso wie Ehrenfried über ihn hinaus. Eine Kritik an George ist allenfalls indirekt daraus ableitbar. Explizit wird die Kritik an Georges Nicht-Thematisierung von Homosexualität in einer nicht im Eigenen, sondern in einer Faschingsnummer der bürgerlichen Zeitschrift Die Gesellschaft veröffentlichten George-Parodie. Verfasst wurde sie von dem Schriftsteller und Verleger Franz Evers. Ihr Titel lautet: Am Tag der Heimkehr meiner englischen Tante (von Georg Stefan). Evers’ Parodie ist kein Ausdruck eines ‚schwulen Selbsthasses‘, sondern eine persönliche Abrechnung und Kritik an dem verdeckten Homosexuellen George. Evers hat zuvor mit Wolfskehl über die Übernahme der Werke Georges in seinem Verlag korrespondiert. George, der Anfang Oktober 1897 bei Richard Moritz Meyer Erkundigungen über den Verlag Kreisende Ringe einholt, nimmt nach dessen Warnung davon Abstand. Ab November 1898 erscheinen seine Werke bei Georg Bondi. Offenbar will George keinen Verleger, der so eng mit der HomosexuellenSzene verbunden ist. Dass der mit Max Spohr zusammenarbeitende Verleger Evers öffentlich auf Georges sexuelle Neigung an132
Daneben gibt es positive Anknüpfungen an Georges Griechenbild im Eigenen. So heißt es im zweiten Jahrgang des Eigenen (1898) in einem Gedicht mit dem Titel Die neuen Hellenen „Hoher Strahl des Griechentums!“ als mutmaßliche Reminiszenz an „Dass ein stral von Hellas auf uns fiel“ in der vierten Folge der Blätter (1897). – Blätter IV, 1–2, S. 4. – Vgl. Keilson-Lauritz (1997): Die Geschichte der eigenen Geschichte, S. 226f.
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spielt, geschieht vor allem aus Ärger darüber, dass George sich für Georg Bondi und gegen die emanzipatorische Homosexuellenbewegung entschieden hat.133 Meinke, um nochmals auf ihn zurückzukommen, ist im Eigenen mit fünf Gedichten und einem Prosagedicht mit dem Titel Wächterruf vertreten.134 Meinkes Lyrik kennt sowohl die manifeste als auch die sublimierte Homosexualität. Es fällt auf, dass Meinke in den Gedichten, in denen die sexuelle Erfüllung ausbleibt, stilistisch George imitiert und dort, wo sie stattfindet, konventionelle, aber nicht George-typische Strophenformen verwendet. Seine ersten beiden Gedichte stehen im siebten Jahrgang des Eigenen (1920) unter dem Titel Der schöne Schnitter.135 Formal bildet die Strophenform des ersten Gedichts – sechs Vierzeiler in fünfhebigen Jamben, die kreuzweise und mit wechselnden Endungen reimen – die typische George-Strophe nach.136 Anders als bei George wird die sexuelle Anziehung zwischen dem Ich und einem angesprochenen männlichen Du schon in der ersten Strophe explizit: Du lieber Schnitter: dieser Tage Wenig War meiner stummen Liebe überviel. Ich sah, Du Ernteengel straff und sehnig, Durch grauen Drillch der starken Muskeln Spiel. Die schweren Garben warfst Du mir im Schwunge Wie große goldne Kränze zu – ich fing Die Schätze singend mit gebundner Zunge. Ein Goldnetz loser Halme uns umhing […]137
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Franz Evers: Am Tag der Heimkehr meiner englischen Tante (von Georg Stefan). In: Die Gesellschaft 15 (1899), 14, S. 255. – Das Wort Tante ist eine Bezeichnung für Homosexuelle. Zur gescheiterten Zusammenarbeit vgl. KeilsonLauritz (1987): Von der Liebe, die Freundschaft heißt S. 75 Anm. 219; Karlauf (2007): Stefan George, S. 244 sowie, vor allem zur Beziehung zwischen Wolfskehl und Evers, den Briefwechsel Evers-Wolfskehl 1896–1908 und undat. (DLA). Die Mitarbeit beschränkt sich auf die Jahrgänge 1920–1921. – Vgl. KeilsonLauritz (2000): Emanzipation hinter der Weltstadt, S. 208. Olaf Yrsalun [d.i. Hanns Meinke]: Der schöne Schnitter. In: Der Eigene 7 (1920), H. 10, S. 7. Der Rhythmus erinnert an Der Einsiedel. – Vgl. Stefan George: Der Einsiedel. In: SW, III, S. 55. Yrsalun (1920): Der schöne Schnitter, S. 7.
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Während in diesem Gedicht das Begehren ungestillt bleibt, wird es im Folgegedicht Was ich so gerne geglaubt, das aus fünf Strophen in daktylischen Dreihebern besteht (und damit keine Assoziationen an Georges Stil weckt), erfüllt.138 Der schöne Schnitter ist Erlebnislyrik. In einem Schreiben an Rudolf Pannwitz berichtet Meinke über den „Ernteengel“: Dieser H[ans] M[einke], der schon tagelang einen hübschen strammen Jungen von 25 jahren, früheren Gardekürassier – garnicht aus seinen gedanken verbannen kann und in den ferien 3 tage lang mit in der scheune garben abgebunden hat, bloss weil ER sie ihm zureichte – der ihm eine kornmiete auf dem Feld bauen half […] dieser bewusste ‚Willi Schütte‘ ist ein wundervoller mensch. […] Aber ich werde ganz streng geduldig philistertreu meine kinder gross ziehen […].139
Im elften Jahrgang des Eigenen erscheinen von Meinke noch Zwei Gedichte und Echo.140 Die metrische Disposition des ersten der Zwei Gedichte ähnelt mit den frei gefüllten Vierhebern mit Zeilenbrechung und Binnenreim der Strophenform von Georges Kreuz der straße, an das auch einzelne Wendungen erinnern.141 In beiden Texten scheitert die Begegnung zweier Liebender. Für seine eindeutig homoerotischen Gedichte verwendet Meinke das Pseudonym Olaf Yrsalun142 und versteckt sich somit dort, wo die Homosexualität nicht durch andere Schreibstrategien maskiert ist, hinter einer fingierten Identität. Stilistische Orientierung an George ist bei Meinke, wie es scheint, an 138
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Adolf Brand verwendet übrigens in einer der Folgenummern in Die beiden Schnitter denselben Titel und dasselbe Motiv und entwirft eine Szenerie wie aus Brokeback Mountain entsprungen: „Der Blonde blickt den Schwarzen klagend an: / Wie Liebe oft so bitter schmerzen kann! / Von seiner Wimper eine Träne rinnt: / Dem Andern lacht daheim ja Weib und Kind.“ – Adolf Brand: Die beiden Schnitter. In: Der Eigene 7 (1919), H. 3, S. 33. Hanns Meinke an Rudolf Pannwitz, Brief vom 4. September 1919 (DLA). Hanns Meinke: Zwei Gedichte und Echo. In: Der Eigene 9 (1921), H. 1, S. 5f. „Steigende Wasser – mein Boot verschwemmt. / Am Weissdorn blasser schon hängt mein Hemd. / Sehnende Hände teilen die Flut: / Wasser löscht Brände? Kein Eis löscht Blut!“ In: Der Eigene 9 (1921), H. 1, S. 5. – George bringt graphisch nur zwei Hebungen pro Zeile: „Kreuz der strasse.. / Wir sind am end. / Abend sank schon.. / Dies ist das end. / Kurzes wallen / Wen macht es müd? / Mir zu lang schon.. / Der schmerz macht müd. […]“ Bei George geht es um die Trennung, bei Meinke um die Vereinigung zweier Liebender. – Stefan George: Kreuz der strasse. In: SW, VI/VII, S. 141. Die Bedeutung des Namens ist unbekannt. Im Nachnamen ist das Wort Irrsal enthalten. Es könnte sexuelle Verstrickungen andeuten. Der Name evoziert zudem ein Bild vom Nordischen, das zu Meinkes erotischem Kosmos passt.
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ein Ideal ‚hoher Minne‘ gebunden, weil sie speziell in jenen Gedichten aufscheint, in denen die sexuelle Wunscherfüllung ausbleibt. Der Eigene gibt beiden Textsorten, den imitierenden wie den nicht imitierenden, ein Forum. Unabhängig davon, ob sich die Nachahmung Georges auf seinen Stil oder Themen seiner Lyrik, auf die im Kreis praktizierte Imitatio oder auf das Griechenbild des Kreises bezieht, kann sie bei Homosexuellen anders als bei Heterosexuellen verlaufen, denn sie ist Folge einer homosexuellen Rezeption. Dafür stehen die Zusendungen Anton Schönkes und Hanns Meinkes beispielhaft.143 Eine dezidiert homosexuelle Rezeption ist indes, so lautet das Ergebnis, eine reduzierte Wahrnehmung des Imitatio-Zusammenhangs, weil sie die poetologische und die ethische Dimension allenfalls als Vorwand versteht. Ebenso verkürzt wäre eine Rezeption, die diese Zusammenhänge völlig ausblendet. Der homoerotische Subtext ist zweifellos gegeben, aber die Nachahmungstheorie des Kreises ist mehr als nur Camouflage. Georges primäres Anliegen ist es nach allem, was sich erschließen lässt, nicht, der Homosexualität eine poetische Sprache zu verleihen oder gelebte Homosexualität im Schutzraum des Kreises zu ermöglichen. Zwar ist die erzieherische Funktion der Knabenliebe ein wichtiger Bestandteil seiner Gedankenwelt. Aber die Knabenliebe an den Anfang zu setzen, würde heißen, die Verhältnisse falsch zu gewichten. Das Hauptanliegen des ImitatioModells ist die poetische, ästhetische und ethische Ausrichtung von Individuum und Gesellschaft an den vom Urgeist gesetzten Normen. Die Imitatio der abgeleiteten Wesen soll diesen Normen folgen und zugleich die je individuellen Möglichkeiten zur Entfaltung bringen. Nicht Georges Homosexualität, sondern seine Ethik, Poetik und Ästhetik liegen diesem Nachahmungsprogramm zugrunde. Homosexualität ist im Imitatio-Modell selbst nicht angelegt. Dass Imitatio, Contagio und Exercitatio homosexuell ausgelegt werden, ist vielmehr eine Frage der Umsetzung dieses Modells. In der geschlossenen Männerwelt des Kreises zu Georges Lebzeiten wird an dieser Umsetzung festge143
Zu Schönke vgl. STGA, George IV, 2560–2563. – Unter den Gedichten, u.a. mit einem Widmungsgedicht an Ernst Bertram, findet sich ein Tagebuchblatt vom 3. September 1923, das eine nächtliche erotische Situation zwischen zwei Männern thematisiert.
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halten. Dass das Imitatio-Modell aber auch anders konkretisiert werden kann, dokumentiert der Kreis junger Mädchen und Frauen in Überlingen um die Witwe von Friedrich Wolters, Gemma Wolters-Thiersch, bis zu ihrem Tod 1994.144 Gegenstand dieser Studie ist die Konstruktion des Imitatio-Modells auf der Basis von Georges Poetik und dessen poetologische Umsetzung. Die monosexuelle soziale Umsetzung ist vom ImitatioModell nicht vorgeprägt und daher auch methodisch getrennt anzugehen. George selbst hat die Quelle der Contagio seinen Jüngern freigestellt und sein Hauptaugenmerk darauf gerichtet, dass die Resultate ein gesteigertes menschliches Leben („Du musst zu innerst glühn – gleichviel für wen!“)145 und eine gesteigerte lyrische Ausdruckskraft seien („Des gebets entzückter laut / Schmilzt in eins mit jeder minne · / Nennt sie Gott und freund und braut!“).146 Darum billigt George beispielsweise das Erscheinen von Gundolfs Liebesgedichten an Agathe Mallachow in den Blättern147 und hat ein von Fine von Kahler inspiriertes Gedicht „als ein schönes ‚Staats‘gedicht lieb“,148 obwohl er Gundolfs zahlreiche sexuelle Kontakte zu Frauen nicht gutheißt. Dass er eifersüchtig auf Heiratsabsichten seiner Jünger reagiert, gehört zur sozialen Realität des Kreises, tangiert aber nicht prinzipiell das System der Imitatio, dem es primär um die Entstehung von gültiger Lyrik geht.149
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Vgl. Raulff (2009): Kreis ohne Meister, S. 204–208. Stefan George: Belehrung. In: SW, IX, S. 87 (5). Stefan George: Hehre Harfe. In: SW, VI/VII, S. 131 (II, 2–4). Friedrich Gundolf: Die Zwei und das Eine. In: Blätter X, S. 33–40. „Zur Belohung schicke ich Ihnen für Ihren beglückenden Brief ein Gedicht nicht an Sie, aber von Ihnen voll, (an d. Meister) ich glaube es ist eines meiner allerschönsten – und G. hat es als ein schönes ‚Staats‘gedicht lieb. Dies will ich Ihnen deshalb nicht verschweigen, weil das in seinem Mund etwas Besonderes heißen will: denn er findet sonst fast all meine Dichtungen […] zu ‚privat‘ […].“ – Friedrich Gundolf an Fine von Kahler, Brief vom 26. Januar 1912 (STGA). Das betreffende Gedicht findet sich unter der Signatur Kahler III, 4087a, S. 4f. Für nähere Informationen zur sexuellen Ausrichtung der Kreismitglieder vgl. – nicht immer gesichert – Bernd-Ulrich Hergemöller: Mann für Mann. Biographisches Lexikon zur Geschichte von Freundesliebe und mannmännlicher Sexualität im deutschen Sprachraum, Hamburg: MännerschwarmSkript 1998, Art. George, Stefan, S. 272–274 mit zahlreichen Verweisen.
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3.4 Emanzipierte Imitatio Die emanzipierte Imitatio setzt die im vorangegangenen Kapitel bereits angedeutete Spielart der George nur in Teilen folgenden Imitatio fort. Was sich bei Meinke und anderen Autoren außerhalb des Kreises abzeichnet, eine Imitatio, die nur einzelne Züge aufgreift und sich einer umfassenden Nachfolge entzieht, tritt im Fall der George-Imitationen und -Parodien von Albrecht Schaeffer und Ludwig Strauß offen hervor. Beide beginnen ihre dichterische Laufbahn mit stilistischer Imitatio und finden schließlich zu einer Haltung emanzipierter Nachfolge. Insbesondere von Schaeffer wird diese bedingte Form der Imitatio auch poetologisch reflektiert. In frühen Widmungsgedichten an George artikuliert er den Wunsch nach Imitatio und die gleichzeitige Furcht vor Selbstverlust, indem er das Phänomen der ästhetischen Überwältigung durch Georges Lyrik thematisiert. Schaeffers George-Parodien bauen dagegen eine kritische Distanz zu ihren Prätexten auf. Nach dem Verständnis des Imitatio-Modells erfordert Georges Lyrik eine Entscheidung und ; Schaeffer setzt dies mit Unfreiheit und Selbstaufgabe gleich. Die Genese dieses Ideals der emanzipierten Imitatio und die bisher noch nicht aufgearbeitete Druck- und Rezeptionsgeschichte der George-Parodien werden nachfolgend beleuchtet. Außerdem wird die Beziehung Elisabeth Salomons zu Strauß und Schaeffer anhand bisher unbekannter Quellen neu bestimmt, da bis heute in der Forschung ungeklärt ist, inwieweit Elisabeth Salomon, genannt Elli, das Vorbild für Schaeffers gleichnamige Romanfigur gegeben hat. Schaeffer und der jüdische Dichter Ludwig Strauß lernen einander im Ersten Weltkrieg kennen, als sie 1916 beide in der Berliner Pressestelle der Kriegsbeschädigtenfürsorge arbeiten.150 Katharina Kippenberg hält große Stücke auf Schaeffer, der seit 1914 auf die Vermittlung von Stefan Zweig im Insel-Verlag publiziert und als Lektor tätig ist. Dank Schaeffers Einsatz veröffentlicht Strauß 1916 ebenda den Novellenband Der Mittler und 1918 seinen ersten Gedichtband Wandlung und Verkündigung. Ebenso wie Schaeffer steht Strauß in jungen Jahren stark unter dem Einfluss Georges, an den er im Mai 1911 einige Gedichte 150
Vgl. Bulang (1995): Ludwig Strauß und Albrecht Schaeffer, S. 228.
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zur Begutachtung schickt.151 Im Juni 1914 lernt Strauß Elisabeth Salomon in Heidelberg kennen, und über ihre Vermittlung 1917 Friedrich Gundolf, den er 1917/18 in Berlin zusammen mit Elisabeth Salomon häufig sieht. Dennoch findet er ebenso wenig wie Schaeffer Zugang zum engeren Kreis. Später halten beide an einem Ideal emanzipierter Gefolgschaft fest. In einem Brief vom 8. April 1922 berichtet Schaeffer von einem abendlichen Streitgespräch mit Alfred Weber über die Stellung Georges (als weitere Anwesende nennt er unter anderem Else Jaffé und Hans Carossa): Weber hatte Stefan George in Heidelberg einmal gesehn, wie er, von Krankheit genesen, des Wegs ging zwischen zwei Jüngern, über deren Schultern er die Arme gelegt hatte. Dies konnte nur theatralisch sein, und so war George vernichtet. Im Übrigen leugnete er, der Professor, natürlich nicht sein Talent, aber seine Größe. […] Es kam allerlei Merkwürdiges und Tiefes zutage, – so etwa die Erscheinung des mangelnden Schicksals. D.h. daß George von seiner Zeit nicht das Schicksal des feuerwerfenden Profeten, des Zeitverächters und Verneiners bereitet wurde; daß im Gegenteil seine Verurteilungen oder Anklagen nur zu ästhetischem Genuß gelesen werden. Er sei weder verbrannt, gesteinigt oder gekreuzigt worden, warf Weber ihm vor; auch nicht, wie Carossa einwarf, nach Holland verbannt. Ein aneinander Vorbeigehn von Schicksal und Mensch, das vielleicht typisch ist für unsere Zeit, wenn man etwa an Ludendorff denkt, oder andrerseits an den Kaiser, einen Menschen von geringer Bedeutung, der nun vor der Welt das Schicksal des Verbannten trägt. Wieweit die Schuld hieran nun George oder seiner Epoche zuzurechnen sei, ließ Weber keineswegs unentschieden, – und was meinst Du hierzu? Übrigens fand W[eber] auch (der mir menschlich recht gut gefiel), keinen Inhalt an Lehre oder Religion bei George, d.h. keine faßlichen, bestimmten Sätze und Gesetze, sondern nur: Haltung. Ich versuchte nachzuweisen, daß auch Christus – der beständig zum Vergleich dienen mußte –, nur eine neue Haltung zum mosaischen Gesetz eingenommen habe, die erst von den Jüngern zur Lehre ausgestaltet wurde. Nun, die Erbärmlichkeit der Jünger war allemal A und O der Beweiskette; aber auf meinen Vorschlag, die wahre, die echte Lebens-Wirkung des Mannes nicht in den Marionetten der „Blätter“ zu sehn, sondern – in mir selbst etwa, oder in Otto Braun, in allem, was in der deutschen Jugend heute wahrhaft lebendig sei: darauf gab es zwar eine Erwiderung – ohne Gewicht –, aber keine Antwort.152
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Vgl. Ludwig Strauß an Stefan George, Brief vom 20. Mai 1911 (STGA). Albrecht Schaeffer an Ludwig Strauß, Brief vom 8. April 1922 (DLA).
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Die Art seiner Argumentation zeigt, dass Schaeffer das Imitatio-Modell genau kennt und partiell bejaht: George hat für ihn den Status eines Urgeists, und auch die Ausbreitung der Botschaft durch eine neue Haltung, die erst durch die Jünger zur Lehre ausgestaltet werde, folgt dieser Theorie. Schaeffer erkennt Georges Wirkung „in allem, was in der deutschen Jugend heute wahrhaftig lebendig“ sei, und erklärt damit die kulturelle Sendung des Urgeists für erfüllt. Der entscheidende Gegensatz besteht aber darin, dass Schaeffer Georges „echte Lebens-Wirkung“ außerhalb des Kreises und damit jenseits der beiden Vermittlungswege Contagio und Exercitatio ansiedelt; die Kreisangehörigen, die er abschätzig als „Marionetten“ bezeichnet, spielen für ihn keine Rolle bei diesem Missionserfolg. Das Schlagwort der emanzipierten Imitatio trifft Schaeffers Einstellung gegenüber George in den 1920er Jahren recht gut. 1923 spricht Schaeffer von diesem als seinem Lehrer, dem er alles verdanke,153 und distanziert sich gleichwohl in einigen Aspekten von ihm: „Bei George läßt sich einmal nichts unterschlagen, und unterschlüge der Anbeter dies, so dürfte ihm der Verurteiler mit vollem Recht das übrige Ganze unterschlagen.“154 Schaeffer spricht in der Position des Richters und Kritikers und erweckt damit den Anschein, dass ihn sein Richteramt zu einer objektiven Sicht auf George befähige und ihm erlaube, über George ein Urteil zu fällen. Vor allem kritisiert Schaeffer die Theorie einer Weitergabe der Substanz („lebensrhythmus“) durch Lehre, indem er einwendet, dass „den Ur-Rhythmus“ nur auffange, „wessen Saiten dazu gestimmt“ seien.155 In den folgenden Passagen greift Schaeffer wörtlich eine Kernaussage der Blätter zum Imitatio-Modell auf:
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154 155
Albrecht Schaeffer an Geheimrat Merck, Neubeuern, 24. September 1923. Abgedruckt in: Albrecht Schaeffer 1885–1950. Gedächtnisausstellung zum 75. Geburtstag des Dichters im Schiller-Nationalmuseum Marbach am Neckar vom 6. Dezember 1960 bis 31. März 1961 (Sonderausstellungen des Schiller-Nationalmuseums Katalog Nr. 8), im Auftrag der Deutschen Schillergesellschaft herausgegeben von Bernhard Zeller, Ausstellung und Katalog von Rosemarie Lorenz und Werner Volke, Stuttgart: Turmhaus-Druckerei 1960, S. 8. Albrecht Schaeffer: Stefan George. In: ders.: Dichter und Dichtung. Kritische Versuche, Leipzig: Insel 1923, S. 297–501, hier S. 473. Schaeffer (1923): Stefan George, S. 495.
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So ward dies aus dem Rhythmus des Urgeists? Diese erstarrten Marionetten hängen an den Fäden, die sie ihm ohne sein Wissen um alle Gelenke geknüpft haben, und wie er sich bewegt, so zucken sie; das ist ihre Beseelung mit Urgeist. […] [E]s ist ein Irrtum des Lehrers Georgeschen Wesens, daß der Rhythmus eines Urgeistes von Mehreren, einer Gemeinschaft ‚angenommen‘ werden könnte.156
George ist in diesem Bild ein unfreiwilliger Marionettenspieler, da die Jünger „ohne sein Wissen“ an ihm hängen wie Schmarotzer und jede noch so kleine Bewegung imitieren. Stilistische Imitatio zeitige, so Schaeffer, nur „Fratzen“ und „Hohlspiegelbilder […] Georgeschen Wesens“.157 Das System von Hohlspiegeln, das Schaeffer im Imitatio-Modell ausgeprägt sieht, steht metaphorisch für den unfreiwillig parodistischen Verzerrungseffekt, den die imitierende Wiederholung haben kann. In einem Zeitschriftenbeitrag aus dem Jahr 1919 verteidigt er seinen Freund Strauß gegen Oskar Loerke, der ihm Epigonalität vorgeworfen hat,158 mit Argumenten, die exakt die Ansichten des Kreises wiedergeben; er bejaht die imitierende Stilübung und spricht vom zweifelhaften Wert der Originalität.159 Man gewinnt den Eindruck, dass Schaeffer das Imitatio-Modell gar nicht grundsätzlich für falsch erklärt, aber die Gruppe der Imitierenden elitärer fasst als George selbst. Produktive Rezeption könne nur durch schöpferische Geister erfolgen, nicht durch abgeleitete Wesen. Diese Gedankenfigur ist für Schaeffer ein Ausweg aus dem Zwiespalt, der seinen frühen Gedichten Vier Sonette an Stefan George (1908)160 zugrunde liegt, weil sich Imitatio und eigene Meisterschaft darin nicht ausschließen. Weil er aber den Perfektionierungs- mit dem Idealisierungsgedanken verbindet, also einerseits autarkes Wachstum und andererseits Abhängigkeit vom Urgeist behauptet, erfüllt sein Verständnis von Imitatio nicht mehr die Voraussetzungen des Imitatio-Modells. Schaeffers Vier Sonette an Stefan George gehören zu seinen frühesten erhaltenen Gedichten überhaupt. Gewidmet ist das 156 157 158 159 160
Schaeffer (1923): Stefan George, S. 498. Schaeffer (1923): Stefan George, S. 496. Oskar Loerke: Vielerlei Zungen (Sammelrezension). In: Die Neue Rundschau 29 (1918), H. 12, S. 1228–1240. Saint-Georges [d.i. Albrecht Schaeffer]: Wandlung und Verkündung. In: Das hohe Ufer 1 (1919), H. 4, S. 110f. Albrecht Schaeffer: Vier Sonette an Stefan George, DLA (A:Schaeffer).
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Manuskript „s[einem] l[ieben] K[urt] K. L[evy]“, einem Klassenkameraden von Schaeffer.161 Die Texte spiegeln die Faszination von Georges Lyrik und die gleichzeitige Angst vor Selbstverlust, denn sie kreisen um die Frage, ob man George nachfolgen kann, ohne die eigene poetische Sprache zu verlieren. Dieses Problem stellt sich umso dringlicher, als Schaeffer in dieser Zeit seine eigene Sprache jenseits vom „Nachahmen und Nachmachen […] Vollmöllerscher, Hofmannsthalscher, Georgescher, Rilkescher Verstechnik“ erst noch finden muss.162 Ob George die Texte je zu sehen bekam, ist nicht bekannt und vor dem Hintergrund der Überlieferungssituation eher unwahrscheinlich.163 Sie sind ein erhellendes Gegenstück zu Schaeffers Parodien auf George von 1918, weil sie zeigen, dass dieselben widerstrebenden Impulse, die zur parodistischen Gestaltung drängen, schon in den zehn Jahre früher entstandenen Texten wirksam sind, und dies, obwohl es sich der bewussten Autorintention nach um reine Huldigungslyrik handelt. Die vier Gedichte folgen einer klaren Dramaturgie: In den ersten zwei Sonetten geht es auf einer Metaebene um die Eigenschaften der Widmungsgedichte selbst und um die Affekte, die den Schreibprozess initiieren und begleiten. Sie argumentieren im Wesentlichen produktionsästhetisch, während es in den folgenden zwei Gedichten um rezeptionsästhetische Fragen – den Effekt der Überwältigung durch Georges Lyrik (Sonett 3) und die Konsequenz des Selbstverlusts (Sonett 4) – geht. Wie sich das im Einzelnen darstellt, sei genauer beschrieben. Damit ihn meiner offnen Andacht Schauer Ergreifen kann: von dieser Andacht nicht, Von meines Haders, von der Zweifel Trauer, Die um mich bogen duesterer und rauher
161 162
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So die schriftliche Auskunft seines Freundes und Nachlassverwalters Walter Ehlers. – Walter Ehlers an Bernhard Zeller, Brief vom 8. Juli 1957 (DLA). Albrecht Schaeffer: Abkunft und Ankunft. In: Albrecht Schaeffer. Das Werk. Eine Bibliographie zusammengestellt und hg. v. Walter Ehlers. Mit zwei biographischen Aufsätzen des Dichters und kritischen Glossen von ihm im Text. Hamburg: Verlag der Blätter für die Dichtung 1935, S. 8. Sie sind in Georges Nachlass nicht erhalten.
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Und senkten schon ihr schliessendes Gewicht, Sollst du ihm reden, froestelndes Gedicht, Das heut aus dumpfer Krankheit Eisenbauer Ein klagender, ein Abendvogel bricht. Noch schwebt dein Singen, der schon fern im Daemmer Sich zugewandt – glueckseliger Flieger! – dessen Erhoehtem Tempel, der mir Trost versprach, Wie einer Glocke suchendes Gehaemmer, Wie Rauschen aus den wankenden Cypressen, Wie eine Quelle, die ein Herz zerstach.164
Dieses erste Sonett arbeitet mit einer klaren Bildlichkeit: Der klagende „Abendvogel“ steht metaphorisch für das Gedicht selbst, das als „froestelndes Gedicht“ anthropomorphisiert wird (II,2+4). Die Hinwendung zu George erscheint als ein Ausbruchsversuch aus „Hader“, „Trauer“ und „Zweifel“ (I), wobei jedoch das Komma in der zweiten Verszeile die semantischen Bezüge uneindeutig macht: Stünde es direkt hinter dem Wort „Andacht“, so wäre das abwehrende „nicht“ mit der folgenden Verszeile verbunden und es ergäbe sich die imperativische Selbstdisziplinierung, jene negativen Affekte aus der poetischen Huldigung fernzuhalten. So, wie es hier steht, wird genau das umgekehrte Verständnis nahegelegt, dass nämlich das Gedicht jene Zweifel ansprechen müsse, um von einer bedingten Andacht zu einer unbedingten, „offnen Andacht“ durchzustoßen. Dieser syntaktischen Unentschlossenheit entspricht der Gesang des Vogels im zweiten Terzett, der in den Wie-Vergleichen als suchend und wankend erscheint. Die Dunkelheit des letzten Vergleichs „Wie eine Quelle, die ein Herz zerstach“ erhellt sich, wenn man das neunte Vorspiel-Gedicht als Referenztext heranzieht. In diesem poetologischen Gedicht ist damit das Herz der Felsen gemeint („Als jäher strahl ins herz der felsen stach / Wie eine rote quelle sprang und rann.“). Intertextuelle Anspielungen sind für Widmungsgedichte typisch. Sie haben den Charakter intimer Rede und wollen Nähe herstellen, und dies ist schließlich auch die Intention dieses Gedichts. Das Bild der durch den Felsen brechenden Quelle variiert das Motiv des seinem Käfig ent164
Schaeffer (1908): Vier Sonette an Stefan George, S. 1.
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fliehenden Vogels. Beide Fluchtbewegungen lassen sich direkt mit der psychischen Verfassung des Sprecher-Ichs in Bezug setzen. Das zweite Sonett knüpft direkt an das vorangegangene an. Erloester Saenger doch, mein Lied, aus Banden Zwiefacher Schwere, Leibes und der Seele, (Wohl zu verachten weisst du jenes scheele Und niedre Sucht, doch ihr noch dunkles Branden, Das durch der heiligen Heimatinseln Schaeren Verworren laermt, anstatt mit lindem Schmiegen Sich um den Fuss der Thronenden zu biegen, Dankbarer spiegelnd die befreiten Sphaeren, Entliess dich widerwillig), wenn du laengst Auf deines Meisters Schwelle mit Erklingen Dein schwaches Leben aufgabst und die Fahrt: Dann auf den weissen, des Triumphes Hengst Bin ich wohl kuehner, singend mich zu schwingen Die Hymne klarer und ersehnter Art.165
Schaeffer kontrastiert das „Lied“ im ersten Vers mit der „Hymne“ im letzten Vers und somit mit einer Gattung, die dem Bereich der erhabenen Dichtung zugeordnet ist. Blickt man auf den langen Klammervermerk, so werden dort zwei Seelenzustände beschrieben: Der eine, der erlöste („Erlöster Sänger doch, mein Lied“, I,1), „verachtet“ die „Schwere“ und „niedre Sucht“ (I), schmiegt sich lind „um den Fuss der Thronenden“ und spiegelt „dankba[r]“ die „befreiten Sphären“ (II). Der ‚Seelenaufschwung‘ führt bei Schaeffer indes zum Tod (III,3). Das Sprecher-Ich schlägt dieselbe Richtung ein wie dasjenige im Vorspiel zum Teppich,166 in welchem der Engel den Weg von gefährlichen Meerfahrten in friedliche Binnengewässer weist. Der andere, unerlöste Zustand wird geschildert als ein „dunkles Branden“ (I), welches „verworren laermt“ und den Sängervogel nur „widerwillig“ entlässt (II und III,1). Anders, als man es erwarten könnte, ist dieser zweite psychische Zustand einer „heiligen“ Poesie zugeordnet: Das Branden um die „heiligen Heimatin165 166
Schaeffer (1908): Vier Sonette an Stefan George, S. 2. Vgl. die Motiventsprechungen insbesondere zu den Gedichten Nr. 3, 5 und 9.
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seln“ (II,2) steht für eine Lyrik, die eben nicht „spiegelnd“ (II,4) imitiert, sondern den Gesetzen des Selbstausdrucks folgt. Der Tod des Lieds und der gärende Zustand erscheinen als Vorbedingungen für eine befreite Hymnik, wie sie im zweiten Terzett in der virilen Schöpfungsmetapher des Hengstes in Aussicht gestellt wird. Wieder spiegelt sich in den unklaren Satzbezügen und in der über drei Strophen sich hinstreckenden Parenthese diese Ambivalenz; einzig die Sonettform bewahrt die Zeilen vor dem Auseinanderbrechen. Was sich in all jenen Texten abspielt, ist eine dynamische Bewegung hin zu einer erhöhten Instanz – sei es zum „erhöhten Tempel“ des ersten Sonetts oder zum „Fuss der Thronenden“ im zweiten Sonett. Der Konversionsakt selbst wird aber durch die Brüche im Text unterlaufen. Dieser Konflikt setzt sich im dritten Sonett fort. Vor dunklem Spiegel, fremder Bilder voll, Die lautlos fallen – ineinander wob Sie magisch eine Hand zu jachem Strahlen Von edler Farben sternigem Geroll: Harrten wir staunend, am Kaleidoskop Wie Kinder erst, und sahen nur das Malen. Und war uns doch, als ob nur Echo scholl Aus nieerschauten Edens Jugendtalen: Jedoch der Ruf ist uns noch unvernommen, Schon atmen wir erregter, doch beklommen, Der Bilder Fluten, mehr der Melodieen … Sagt, war es Schrei kristallener Fanfaren? Was fuehrte nur uns fromme Kinderscharen, Uns jetzt so heimatlich zu seinen Knieen. Und wir erkennen, wo wir Blinde waren:167
Eine als „fromme Kinderscha[r]“ bezeichnete Gruppe steht vor einem „Spiegel, fremder Bilder voll“ (I) und betrachtet staunend das kaleidoskopartige Spiel der „Bilder Fluten“ (III,3). Ein Spiegelbild wirft dieser Spiegel nicht zurück und der Urheber der Bilder bleibt unsichtbar: Was fehlt, ist ein auffindbares Subjekt. 167
Schaeffer (1908): Vier Sonette an Stefan George, S. 3
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Die akustische Steigerung von Strophe zu Strophe von „lautlos“ über „Echo“ und „Ruf“ bis hin zum „Schrei“ begleitet indes einen Anziehungsprozess, der beim Sprecher-Ich eine Mischung aus Faszination und Beklommenheit auslöst (III,2). Inhaltlichmotivisch knüpft Schaeffer an Georges Selbstcharakteristik als Rattenfänger im ersten Zeitgedicht an.168 In den Metaphern der Kindheit und Blindheit deutet Schaeffer an, dass es sich um einen unmündigen Zustand handelt, der zwar „heimatlich“ (IV,4) anmutet, aber auch die Gefahr der Fremdbestimmung birgt („Was führte nur uns fromme Kinderscharen“). Ein Bezugspunkt ist das Höhlengleichnis aus Platons Ion, demzufolge der Mensch nur die Schatten der Idee (bei Schaeffer: das „Echo“ aus „nieerschauten Edens Jugendtalen“) wahrnehmen könne, bis er vom Philosophen, der seine eigene Erleuchtung den anderen, noch in der Höhle befindlichen Menschen mitteile, zum Sehen befreit werde.169 Die separat stehende Verszeile „Und wir erkennen“ signalisiert eine neue Dynamik des Erkennens, das sich aber, so die Pointe des letzten Sonetts, als Desillusionierungsprozess erweist. Er schlummert, – hoert, wie träumt er koestlich laut. Die Kuehle seines Marmorbettes floesst Ihm Träume ein, die strahlend aufgebaut Vasen erscheinen, in die unser Leben, Ja, unser eigenes, tiefaufgeloest Mit roten Weines milder Wollust taut. In seinen tiefen Traumesaugen schaut Von Golde er ein siebentoriges Theben, Darin er Koenig ist und Priester. Wo Ihm Himmlische sich neigen mit Gebaerden Voll Opfers und von Gaben gross und froh. 168
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„Der pfeifer zog euch dann zum wunderberge / Mit schmeichelnden verliebten tönen · wies euch / So fremde schätze dass euch allgemach / Die welt verdross die unlängst man noch pries. […] Nun […] greift er die fanfare […] / Und schmetternd führt er wieder ins gedräng.“ – Stefan George: Das Zeitgedicht. In: SW, VI/VII, S. 6f. Möglicherweise bezieht sich die Rede vom dunklen Spiegel auch auf das Pauluswort „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkennen wir stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin“ (1 Kor 13,12).
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Die Auen seiner Abgeschiedenheit Betretet scheu, denn ihr seid ganz von Erden, Und sucht mit dienen seine Goettlichkeit.170
Im vierten Text erblickt der Sprecher endlich den Meister selbst, aber er hat die Augen geschlossen. Die Bezeichnung „König und Priester“ (III,1) bezieht sich auf den Priesterkönig Algabal aus Georges gleichnamigen Zyklus, und die mit dem Leben der Jünger gefüllten „Vasen“ erinnern an „den abendlichen weinpokal“,171 in welchen Algabal den Namen des freiwillig gestorbenen Lyders eingravieren lässt. In diesem Gedicht findet Schaeffer den Gedanken vorgeprägt, dass die Annäherung an George im Selbstopfer münde (Sonett 2). Ob sich das Sprecher-Ich abwenden oder zusammen mit der angesprochenen Gruppe den Tempel betreten wird, um in der Selbstauslöschung zu enden, bleibt letztlich offen. Zwar könnte die Annäherung an George die Distanz verringern, aber faktisch wird diese am Schluss zementiert: „[D]enn ihr seid ganz von Erden, / Und sucht mit dienen seine Goettlichkeit“. Schaeffer legt dem Imitatio-Modell eine Opfertheorie zugrunde. Sowohl im zweiten als auch im vierten Sonett ist vom Tod die Rede, das eine Mal vom Tod der eigenen Lyrik, das andere Mal vom Tod des Sprecher-Ichs selbst, sobald die Begegnung mit George eintritt. Im ersten Fall handelt es sich um das Problem des Stilzwangs, das andere Mal um das Problem der Selbstaufgabe beim Einwilligen in die Bedingungen des Nachahmungszusammenhangs. Mögliche Konsequenzen einer GeorgeNachfolge sind, so die Textaussage, der Verlust der Sprache und das Selbstopfer. Die Alternative einer autonomen Lebensführung deutet Schaeffer im letzten Sonett an. Sie wäre mit dem Austritt aus der Traumwelt verbunden und mit dem Wiedereintritt in die in den ersten zwei Sonetten als belastend empfundene Realität. Zwei gegenläufige Interessen durchkreuzen sich: Schaeffer will Georges Jünger und gleichzeitig ein Dichter eigenen Ranges sein, und der verehrte Meister kann (nach Girard) kein Vorbild sein, ohne zugleich zum Hindernis zu werden, da er eben jene Selbstständigkeit verhindert, nach der der Jünger strebt. Rilke baut aus dieser Einsicht heraus eine Gegenposition 170 171
Schaeffer (1908): Vier Sonette an Stefan George, S. 4. Stefan George: Wenn um der zinnen kupferglühe hauben. In: SW, II, S. 66.
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auf (vgl. Kap. 5.1), Schaeffer führt in seinem Sonettzyklus keine Lösung herbei. Spuren produktiver George-Rezeption sind auch in der Lyrik von Ludwig Strauß zu finden. Zwar besteht der Großteil seiner frühen Gedichte aus konventioneller Liebeslyrik, doch in Gedichten wie Entschlafene Landschaft (1911) finden sich Lesespuren aus dem Jahr der Seele.172 In seinem Essay Erfahrungen über die Existenz der Dichtung (1913) äußert Strauß die aus dem Imitatio-Modell bekannte Vorstellung, dass der Dichter Künder eines Gesetzes sei und der Aufnehmende sich der Dichtung „hingeben“ und ihr „Material“ werden müsse.173 Damit entspricht seine Aussage dem eingangs zur Hermeneutik des Kreises Gesagten (vgl. Kap. 1.3). Rolf Bulang hält das Kapitel George bei Strauß nach der Veröffentlichung der Parodien für abgeschlossen; er habe sich danach „nur noch als Germanist mit ihm beschäftigt“.174 Dieter Breuer sieht in Strauß’ Hinwendung zur zionistischen Bewegung und zur politischen Tat ab 1919 eine Wegbewegung von George.175 Doch die Hinwendung zur „Tat“ ist durchaus mit dem späten George vereinbar, auf den sich Strauß denn auch in seinem Essay Tat und Dichtung (1923) beruft.176 Seine Beschäftigung mit Hölderlin, die Bulang als Zei172
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Drei Strophen mit jambischen Fünfhebern, die kreuzweise reimen, sind eine für George typische Gedichtform; auch die Partizipkonstruktionen und die verknappte Sprache sind charakteristische Merkmale sowie die Abwesenheit eines im Text präsenten Sprecher-Ichs. – Vgl. Ludwig Strauß. Gesammelte Werke in vier Bänden, Bd. 3, Lyrik und Übertragungen, hg. v. Hans-Otto Horch und Tuvia Rübner (Veröffentlichungen der deutschen Akademie für Sprache und Dichtung 73), Göttingen: Wallstein 2000, Bd. 3.2, S. 590. „So muß ein Mensch sich auch der Dichtung hingeben, ihr Material werden, damit sie wirklich sei. […] So ist der Dichter der Verkündiger eines Gesetzes, welches den Menschen die Aufgabe stellt, in ihrer Persönlichkeit die Dichtung wirklich werden zu lassen.“ – Ludwig Strauß: Erfahrungen über die Existenz der Dichtung. In: Gesammelte Werke in vier Bänden, Bd. 2, Schriften zur Dichtung, hg. v. Tuvia Rübner (Veröffentlichungen der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung 73), Göttingen: Wallstein 1998, S. 9–13, hier S. 11f. Rolf Bulang: Ludwig Strauß und Albrecht Schaeffer. Umriß einer Freundschaft. In: ders.: Hartmut Erlemann: Ludwig Strauß-Bibliographie, Tübingen: Niemeyer 1995, S. 227–250, hier S. 235. Vgl. Dieter Breuer: Zur Poesieauffassung von Ludwig Strauß. In: Hans Otto Horch (Hg.): Ludwig Strauß 1892–1992. Beiträge zu einem Leben und Werk mit einer Bibliographie, Tübingen: Niemeyer 1995, S. 77–87, hier S. 85. Ludwig Strauß: Tat und Dichtung. In: Gesammelte Werke in vier Bänden, Bd. 2, Schriften zur Dichtung, hg. v. Tuvia Rübner (Veröffentlichungen der
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chen einer Abkehr von George versteht,177 könnte mit gleichem Recht für das Gegenteil gelten. Ein starkes Indiz für eine Kontinuität vor allem seiner ethischen Imitatio ist der noch 1933 erschienene Lyrikband Nachtwache, der sich in Georges Nachlass mit folgender handschriftlicher Widmung des Verfassers befindet: Gläubig strahlt von Stern zu Stern, Leuchtende Figuren: Reines Zeichen wärt ihr gern Dort von hiesigen Fluren. Bleibt ihr ungesehen, flammt Lasser178 nicht noch trüber – Eure Art und euer Amt Heischen: strahlt hinüber.179
Als leuchtende Zeichen unverrückter Treue sollen die Texte die räumliche Trennung überbrücken, unabhängig davon, ob sie zur Kenntnis genommen werden oder nicht. Die stellare Metaphorik bezieht sich auf den Titel Nachtwache, erinnert aber auch an den Stern des Bundes oder an die Buchillustration von Melchior Lechter im Siebenten Ring. Im letzten Teil des Bandes steht unter der Rubrik „Sprüche und Widmungen“ eine Gruppe mit „Sprüchen an Lebende“ – dieselbe Gruppe gibt es im Neuen Reich – und eine Gruppe von neun zeitkritisch motivierten „Zeitsprüchen“. Der achte jener „Zeitsprüche“ ist dialogisch gebaut und besteht aus unterschiedlich langen Zeilen im jambischen Versmaß, die wie rhythmisierte Prosa wirken und doch reimen. Altertümliche Wortprägungen wie „Richte“ in Anlehnung an das mittelhochdeutsche Wort rihte (Richtung, Vorbild) oder auch „dang“ entsprechen Georges Vorliebe für Archaismen.180 „Die Frager“ verlangen vom „Rufer“ Auskunft darüber,
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Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung 73), Göttingen: Wallstein 1998, S. 32–45, hier S. 41f. Vgl. Bulang (1995): Ludwig Strauß und Albrecht Schaeffer, S. 235. D. i.: nachlassender. Ludwig Strauß: Nachtwache. Gedichte 1919–1933, Hamburg: Deutscher Buch-Club 1933 – Widmungsexemplar an Stefan George (STGA). Interessant dabei ist, dass das Wort „dang“ bei George selbst nicht auftaucht, wohl aber in den Parodien von Schaeffer und Strauß („Schon pfeift der dudler den die menge dang“). – Schaeffer; Strauß (1918): Opfer des Kaisers, S. 9
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warum die Prophezeiungen der früheren „Rufer“ bisher nie eingetroffen seien. Sie erhalten zur Antwort, dass es nicht an den Propheten, sondern an der tauben und blinden Mitwelt gelegen habe.181 Man fühlt sich an das oben wiedergegebene Schreiben von Schaeffer an Strauß erinnert, das zur Verteidigung Georges gegenüber Alfred Weber dasselbe Argument anführt. Es muss offenbleiben, ob Strauß an George denkt, wenn er am Schluss von einem einzelnen Dichter-Seher spricht; auch Hölderlin wäre eine denkbare Bezugsfigur.182 Dieselbe Konstellation des verblendeten Volkes und des verkannten Sehers findet sich in Georges Alles habend alles wissend seufzen sie, auf dessen knappen Schlussvers „Keiner sieht“183 sich das Ende bei Strauß intertextuell beziehen könnte („Der Seher wies die Richte, / Doch ging im Weg kein Volk, das hörte und das sah.“).184 Noch in Strauß’ letztem Gedichtband Heimliche Gegenwart (1952) stehen Verse, die als Hommage an das Jahr der Seele gelesen werden können.185 Auf dem Krankenlager kurz vor seinem Tod empfindet Strauß es als späte „Vergebung seines Jugendstreiches“, dass Robert Boehringer den Abzug einer George-Fotografie aus seinem Privatbesitz für das im Aufbau befindliche George-Archiv akzeptiert.186 Fritz Felheim, der in dieser Sache vermittelt, berichtet ferner, dass Strauß damals „trotz seiner 26 Jahre […] noch ein reiner Tor“ gewesen sei, der nicht vorausgesehen habe, welche Konsequenzen die Veröffentlichung der „als private Gaudi“ entstandenen Parodien haben würde.187 Felheims Zeugnis macht glaubhaft, dass Strauß mehr noch als Schaeffer die Parodien als 181
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Ludwig Strauß: Nachtwache. Gedichte 1919–1933. In: Gesammelte Werke in vier Bänden, Bd. 3, Lyrik und Übertragungen, hg. v. Hans-Otto Horch und Tuvia Rübner (Veröffentlichungen der deutschen Akademie für Sprache und Dichtung 73), Göttingen: Wallstein 2000, Bd. 3.1, S. 319. In Tat und Dichtung nennt Strauß diese zwei Dichter, um den Zusammenhang von politischer Lyrik und nationalem Führungsanspruch zu illustrieren. – Vgl. Strauß (1923): Tat und Dichtung, S. 41f. Stefan George: Alles habend alles wissend seufzen sie. In: SW, VIII, S. 29. Strauß (2000): Nachtwache, S. 319. Vgl. Hans Otto Horch und Tuvia Rübner: Anhang, Nachwort. In: Ludwig Strauß. Gesammelte Werke in vier Bänden, Bd. 3, Lyrik und Übertragungen, hg. v. Tuvia Rübner und Hans Otto Horch (Veröffentlichungen der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung 73), Bd. 3.2, Göttingen: Wallstein 2000, S. 814f. Fritz Felheim an Robert Boehringer, Brief vom 2. April 1953 (STGA). Fritz Felheim an Robert Boehringer, Brief vom 2. April 1953 (STGA).
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Spiel verstanden wissen wollte, das eine fortgesetzte GeorgeNachfolge nicht tangiere. In diesem Fall liegt bei Strauß das Missverständnis vor, dass der Imitatio-Zusammenhang Freiraum für spielerische Distanzierung lasse. Die Initiative, die Parodien anlässlich von Georges 50. Geburtstag zu publizieren, geht offenkundig von Schaeffer aus, obwohl Felheim berichtet, dass Schaeffers Verleger Anton Kippenberg den Vorstoß unternommen habe.188 Durch die in den Nachlässen von Katharina Kippenberg, Albrecht Schaeffer und Ludwig Strauss überlieferten Korrespondenzen lässt sich die Art und Weise der Zusammenarbeit rekonstruieren. Mitte Februar 1918 entstehen die letzten Parodien und das Autorenduo trifft die endgültige Anordnung und Druckauswahl.189 Anlässlich eines gemeinsamen Abendessens am 18. Februar 1918 in Berlin macht Schaeffer dem Verlegerehepaar Kippenberg das Projekt mit dem Argument schmackhaft, es handle sich dabei um eine Huldigung und nicht um eine Verspottung Georges. An Strauß berichtet er brieflich am Folgetag, die Texte hätten „nur solange Befremden erreg[t] bis ich sagte, wir hätten aus Liebe parodiert und nicht aus Niedertracht.“190 Aus dem Kontext des Schreibens geht hervor, dass es sich dabei primär um ein strategisches Argument handelt und dass Schaeffer selbst die Parodien durchaus als bewusste „Verunglimpfung“ betrachtet.191 Am 24. Februar 1918 schickt er an den Verlag die druckfertige Satzvorlage. Was die Type anbelangt, so empfiehlt Schaeffer, man solle eine ähnliche Schrift verwenden wie die STG-Schrift oder die einfache Antiqua, in der Otto von Holten Georges Baudelaire-Übersetzung gesetzt habe. Er rät davon ab, direkt bei von Holten anzufragen, da auf diesem Wege etwas zu George durchsickern könne.192 Die Titelei soll nach Schaeffers Vorstellungen Melchior Lechters Titelschrift und das gleichfalls von Lechter entworfene Verlagssignet der Blätter, den gotischen Schrein mit der Monstranz, karikieren. Walter Tiemann, der bekannte buchkünstlerische Gestalter des Insel-Verlags, „könnte“, so Schaef188 189 190 191 192
Fritz Felheim an Robert Boehringer, Brief vom 2. April 1953 (STGA). Vgl. Albrecht Schaeffer an Ludwig Strauß, Brief vom 15. Februar 1918 (NLI). Albrecht Schaeffer an Ludwig Strauß, Brief vom 19. Februar 1918 (NLI). Albrecht Schaeffer an Ludwig Strauß, Brief vom 19. Februar 1918 (NLI). Vgl. Albrecht Schaeffer an Katharina Kippenberg, Brief vom 2. Februar 1918 (IA).
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fer, „das Innere der Monstranz geschickt herausnehmen, nur die Umrisse, sodaß sie für jedermann deutlich erkennbar sind, belassen, und aus dem Inneren ein Kasperletheater machen, nicht wahr?“193 Seiner ersten Ehefrau Irma Schaeffer (geb. Bekk) gegenüber erläutert Schaeffer die Idee in einer handschriftlichen Skizze: Das „Quadrat mit der Spitze der Monstranz oben und dem Fuß unten“ solle erhalten bleiben, „damit man es erkennt“, um sodann durch die Zutat der Vorhänge und der Handpuppen zum Kasperletheater travestiert zu werden. Wenige Tage später erhält er eine ausführliche Antwort von Katharina Kippenberg und die Zusage, dass der Parodienband im Verlag trotz der Papierknappheit in Angriff genommen werden soll. Sie schreibt am 6. März 1918: Lieber Herr Schaeffer! Die parodistische Huldigung und huldigende Parodie von Stefan George ist eingetroffen und von uns mit heiterem Lächeln gelesen worden. Es ist ebensoviel Witz wie Grazie darin, und in den Anfangsund Schlussgedichten sind Schalkhaftigkeit und Verehrung auf das glücklichste gemischt. Strauß ist ein vorzüglicher Wegweiser; jeder muss nun wissen, was es mit den hallenden Korridoren, den Kremserfahrten und dem nicht zu Biere gehenden Kaiser auf sich hat. Bitte bedanken Sie sich aber nun ganz extra bei meinem Mann, dass er für den Druck noch Papier herausgeklaubt hat. Die Sache liegt nämlich so, dass unser Hauptargument bei den zuständigen Stellen für Lieferung von Papier die Unmöglichkeit ist, die Armee geistig weiter zu versorgen. Niemand kann von diesem Buch diesen Zweck vernünftigerweise behaupten, und wir müssen sehr vorsichtig sein, dass uns nicht vorgehalten wird: ja Kinder, wenn Ihr für solche Scherze noch Papier habt, dann kann es doch mit dem Mangel nicht so schlimm sein. Wir dürfen auch nur 100 Exemplare drucken, und keines darüber, und in der Hauptsache sie als Privatdruck herausgehen lassen, vielleicht nur einige in den Handel bringen, um die Kosten zu decken. Dieser Privatdruck soll aber, darauf können Sie sich verlassen, ganz nach Ihren Wünschen gemacht werden. Tiemann ist bereit und zückt schon den Bleistift, um die Skizze zu entwerfen. Man wird unter Gelächter ihn lechter über lechtern sehen, lecht er sich einmal dafür ins Zeug. Auch eine gute Type wollen wir schon finden.194
Die verwendete Antiqua ist schließlich diejenige, die von Holten für die zweite Ausgabe des Teppich von 1901 verwendet. 193 194
Albrecht Schaeffer an Katharina Kippenberg, Brief vom 2. Februar 1918 (IA). Katharina Kippenberg an Albrecht Schaeffer, Brief vom 6. März 1918 (IA).
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Wie aus dem Schreiben deutlich wird, ist der Band von vornherein als Privatdruck angelegt, was die Aussage Eduard Rosenbaums, eines damaligen Freundes von Schaeffer und Strauß, unterstreicht, dass dem Insel-Verlag „auch nicht so ganz geheuer dabei“ gewesen sei.195 Am 12. April 1918 hofft Schaeffer, bald Korrekturen von den „Automobilunfällen des Kaisers“ zu erhalten,196 und am 26. April vermeldet er: „Von den kaiserlichen Automobilrennen ist der erste Druckbogen inzwischen druckfertig geworden und sieht sehr gut aus.“197 Allerdings ist Schaeffer mit der Umschlaggestaltung durch Tiemann unzufrieden, schwebt ihm doch eine Karikatur der lechterschen Schrift sowie des Blätter-Signets vor. Offenbar lehnt Tiemann eine karikaturistische Verzerrung ab. Er begründet die nicht-karikierende Schrift mit der Länge des Titels. Aus Platzgründen sei eine einfache Antiqua besser geeignet.198 „Die Schrift von Tiemann“, so Schaeffer, „ist genau die Lechtersche“ und keine „Karikaturschrift […], die der Lechterschen durch Unleserlichkeit ähnelt.“199 Ähnlich enttäuscht ist Schaeffer über seinen gleichfalls nicht realisierten Plan eines karikierten Verlagssignets. Er lenkt jedoch ein und gibt sich damit zufrieden, die Titelei „in der Type der Bücher, nur in der Lechterschen Blockform zu drucken; das Ganze, auch das Verlegerzeichen, nicht anders als bei allen Büchern der Insel. Sonst werden wir doch nicht zur perfekten Zeit fertig.“200 Es genüge, schreibt er am selben Tag seiner Frau, wenn sich das parodistische Element auf die Texte selbst beschränke.201 Nachdem diese Fragen geklärt sind, geht alles ganz schnell. Katharina Kippenberg quittiert den Empfang der Korrekturfahnen: „Die morgendlichen Abreibungen des Kaisers haben wir glücklich von Strauss bekommen“.202 Am 29. Juni kann Schaeffer eine Empfängerliste schicken, am 6. Juli verhandelt er über die Anzahl von Belegexemplaren der „Trabrennen“.203 Aus 195 196 197 198 199 200 201 202 203
Eduard Rosenbaum an Robert Boehringer, Brief vom 5. April 1961 (STGA). Albrecht Schaeffer an Katharina Kippenberg, Brief vom 12. April 1918 (DLA). Albrecht Schaeffer an Katharina Kippenberg, Brief vom 26. April 1918 (DLA). Vgl. Albrecht Schaeffer an Ludwig Strauß, Brief vom 25. Mai 1918 (NLI). Albrecht Schaeffer an Irma Bekk, Brief vom 30. Mai 1918 (DLA). Albrecht Schaeffer an Katharina Kippenberg, Brief vom 2. Juni 1918 (DLA). Albrecht Schaeffer an Irma Bekk, Brief vom 2. Juni 1918 (DLA). Katharina Kippenberg an Albrecht Schaeffer, Brief vom 27. Juni 1918 (IA). Albrecht Schaeffer an Katharina Kippenberg, Karte vom 6. Juli 1918 (DLA).
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dem beschwingten Ton und den immer neuen Verballhornungen des Titels spricht eine diebische Freude an dem Projekt. Sie nimmt ein jähes Ende, als klar wird, dass der Kreis um George keinen Spaß versteht. Rosenbaum erinnert sich, er sei „beim Lesen sehr erstaunt [gewesen], dass beide ernsthaft und naiv glaubten, die Gabe würde dem Dichter gut gefallen.“204 Für diese Naivität spricht, dass Strauß die Parodien zusammen mit seinem Gedichtband Wandlung und Verkündigung an Gundolf schickt, damit er sie an George weiterleite.205 Gundolf antwortet Strauß mit einem harten Absageschreiben, und Schaeffer, der mit Vallentin befreundet ist, erhält von diesem einen vergleichbaren Brief. Wolfskehl erwirkt beim Verleger Anton Kippenberg, dass das Buch nicht in den Handel kommt.206 Als Boehringer Anfang der 1950er Jahre für das im Aufbau befindliche Stefan GeorgeArchiv danach recherchiert, finden sich Exemplare dieser raren Publikation übrigens bei den Kreisangehörigen Salin207 und Michael Stettler.208 Einige der Texte werden zehn Jahre später anlässlich des sechzigsten Geburtstags von George in der bürgerlich-konservativen literarischen Zeitschrift Der Kunstwart (1887–1932) wieder abgedruckt.209 Wohl um der Faschingsstimmung Rechnung zu tragen, erscheinen die Parodien im Februar-Heft und nicht erst, wie es sich für den Geburtstag angeboten hätte, im Juli. Sie stehen unter der Rubrik „Lose Blätter“ zusammen mit den zwei George-Parodien Hanns von Gumppenbergs und gefolgt von einigen Parodien Robert Neumanns (die allerdings nicht mehr George treffen). Die Redaktion kommentiert die Beiträge von Schaeffer und Strauß wie folgt: „Der aufmerksame Leser wird in ihren Versen eine nicht geringere Meisterschaft [als 204 205
206 207 208 209
Eduard Rosenbaum an Robert Boehringer, Brief vom 15. April 1961 (STGA). Vgl. Bulang (1995): Ludwig Strauß und Albrecht Schaeffer – Umriß einer Freundschaft, S. 231. – Felheim berichtet, dass Strauß bei Vallentin angerufen und um Übermittlung an George gebeten habe. Da das Absageschreiben aber von Gundolf kam, scheint die oben genannte Variante wahrscheinlicher. – Vgl. Fritz Felheim an Robert Boehringer, Brief vom 2. April 1953 (STGA). Vgl. Gundolf-George Briefwechsel, S. 320 Anm. 1. Vgl. Fritz Felheim an Robert Boehringer, Brief vom 22. August 1954 (STGA). Vgl. Fritz Felheim an Robert Boehringer, Brief vom 2. April 1953 (STGA). Der Kunstwart 41 (1927/28), H. 5, S. 314f., darin: Der Herr und der Parther, Der Sklave, Die Katze, Wer leibt dem träuft die glorie süß doch minder, Getümes nicht! uns ziemt das große hohle.
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bei Robert Neumann], ja noch etwas Zartes, Pietätvolles, Herzliches spüren, was über Neumann hinausgeht.“210 Sie versteht die Parodien als Liebeserklärung. Doch wie die zitierten Briefpassagen zeigen, überlagern sich in den Parodien verschiedene Autorintentionen. Sie wollen Spiel und Huldigung sein, aber auch Kritik üben. Die beiden programmatischen Gedichte am Eingang und am Schluss sollen den parodistischen Charakter abmildern und die Aufnahme des Bandes als Hommage an George steuern. Das einleitende Widmungsgedicht stammt von Strauß. Die programmatische Huldigung lautet: Wer vom Kern zur Grenze reicht, Wird die Grenze bald verletzen; Zwischenwohnern ist es leicht, Sich am Fehler zu ergetzen. Aber die erstürmten Pfad Fromm und glücklich folgend gingen, Nun ein Fest ist nach der Tat, Dürfen lachend sies besingen. Was der Grenze nahe hielt, Zerren wir im Scherz nach drüben; Was die Grenze überspielt, Lässt den Spott sich rechtlich üben. Wolle nun das Narrenspiel Um der Werke Ernst verstatten: Licht, das schief wie trunken fiel, Zwerg- und Riesenhafte Schatten.211
Auf der einen Seite trifft die Kritik den Kreis: Die Autoren distanzieren sich in der ersten Strophe vom „kern“212 ebenso wie von den außenstehenden Kritikern. Sie setzen sich in der zweiten Strophe als gereifte Autoren in Szene, die nostalgisch auf frühere Zeiten treuer Anhängerschaft zurückblicken. Die Parodien erklären sie zum lässlichen Scherz derjenigen, die „[f]romm und glücklich folgend“ den schon geebneten Weg ge210 211 212
Der Kunstwart 41 (1927/28), H. 5, S. 340. Schaeffer; Strauß (1918): Opfer des Kaisers, S. 3. Schaeffer; Strauß (1918): Opfer des Kaisers, S. 3.
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hen. An dieser Stelle bezieht sich Strauß auf Georges Lämmer, in dem die Epigonen den von ihren Führern gebahnten Pfaden folgen, und nimmt so für die nachfolgenden Parodien die Sprechhaltung des George-Epigonen ein. Darin kommt eine gewisse Nostalgie zum Vorschein, die andeutet, dass Georges Stil bereits als klassisch bzw. als überholt empfunden wird. Dass Strauß und Schaeffer ihre frühere George-Nachfolge aus der Retrospektive „lachend […] besingen“, deutet an, dass sie ihre Parodien nicht nur auf die Grenzüberschreitungen in Georges eigener Lyrik (I), sondern auch selbstkritisch auf ihre eigene frühere George-Jüngerschaft bezogen wissen wollen (II). Die dritte Strophe kündigt an, dass das Folgende als scherzhafte und partiell auch verspottende Huldigung zu begreifen sei, lässt aber offen, ob sich die inkriminierte Grenzüberschreitung bei George selbst oder nur bei seinen Anhängern findet. In der vierten Strophe werden die in den vorangegangenen drei Strophen angedeuteten Vorwürfe der Grenzverletzung (III,3) und des Verfehlten (I,4) zurückgenommen, weil es heißt, die Parodien stellten „der Werke Ernst“ in ein schiefes Licht (IV,3). Schaeffer antwortet Strauß nach der Lektüre am 19. Februar 1918, es sei „das Beste“, was Strauß bisher geschrieben habe: „Es hat so was Goethisches, finden Sie nicht? namentlich die Strophe: ‚Was der Grenze nahe hielt..‘ ist guter alter Goethe.“213 Dieses Einleitungsgedicht Huldigung bietet Schaeffer zusammen mit einer eigenen Nachrede wenige Tage später Katharina Kippenberg als programmatische Texte „ernsten Charakters“ an.214 Beide Gedichte können und wollen nicht verschleiern, dass sie George nicht nur scherzhaft, sondern auch kritisch begegnen. Die Intention einer Huldigung wird nicht recht deutlich, weshalb der Verlag darauf drängt, dass die Verfasser ihre freundliche Absicht noch klarer darlegen mögen.215 De facto üben die folgenden Texte an Georges Lyrik sowohl poetologische als auch ethische und stilistische Kritik. Sie lösen die erklärte Absicht einer Huldigung nicht ein. Selbst wenn Schaeffer und Strauß ihrem Selbstverständnis nach George weiterhin ethisch imitieren wollten, sprengen sie mit ihren Parodien das System, weil emanzi213 214 215
Albrecht Schaeffer an Ludwig Strauß, Brief vom 19. Februar 1918, Albrecht Schaeffer an Katharina Kippenberg, Brief vom 24. Februar 1918 (IA). Vgl. Katharina Kippenberg an Albrecht Schaeffer, Brief vom 6. März 1918 (IA).
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pierte Imitatio im Imitatio-Modell nicht vorgesehen ist. Die emanzipierte Imitatio ist ebenso ein Widerspruch in sich wie die fromme Parodie. Dies ist auch der Grund, weshalb Gundolf seine eigene Lyrik, wenn sie einmal unernst ist, nicht wertschätzen kann. Gegenstand der Parodien sind insbesondere die Gewaltphantasien im Algabal-Zyklus, die Manierismen in Das lied des Zwergen (Kleine fische will ich angeln) sowie die dunkle Sprache im Siebenten Ring (Sumpf-Zauber nach dem Gedicht Hexenreihen) und im Stern des Bundes (Der sondre fürst des dunkels raunte so). Im Einzelnen verteilen sich die Parodien auf die Gedichtbände wie folgt: Algabal (2 Strauß, 6 Schaeffer), Sänge eines fahrenden Spielmanns (1 Schaeffer), Jahr der Seele (2 Strauß, 1 Schaeffer), Teppich des Lebens (1 Strauß, 2 Schaeffer), Siebenter Ring (3 Strauß) und Stern des Bundes (2 Schaeffer).216 Der ästhetizistische Algabal ist der meistparodierte Band. Insgesamt zeigt sich, dass Strauß und Schaeffer primär den ästhetizistischen, immoralistischen und manieristischen George parodieren, der sich einer affirmativen Rezeption widersetzt, den Richter, Seher und nationalen Führer George dagegen nicht. Seinem Essay Stefan George stellt Schaeffer die These voran, dass George aus seiner Gebrochenheit heraus gedeutet werden müsse.217 Er begründet dies mit einer Interpretation des Gedichts Die blume die ich mir am fenster hege aus dem Jahr der Seele, das in einem Gewaltausbruch kulminiert.218 Schaeffer registriert eine Inkongruenz zwischen dem starken Affekt und dem lakonischen Tonfall, in dem das Sprecher-Ich von seiner Vernichtung der verblühten Blume berichtet. Schaeffer konzentriert sich in seiner Analyse auf den Aspekt der fehlgeschlagenen Affektkontrolle: „Was sich kundgeben sollte, war ruhige Objektivität der Anschauung, aber was sich kundgiebt, ist die Geste unfreiwilliger Eisigkeit“.219 An dieser Stelle bringt er zur Veranschaulichung einen Ausschnitt aus Strauß’ Parodie Der Herr der 216
217 218 219
Zuordnung der Verfasser nach einer Beilage einer Gedichtabschrift von Fritz Felheim, Jerusalem, Ende 1952, fußend auf Angaben von Ludwig Strauß. – Vgl. auch Fritz Felheim an Robert Boehringer, Brief vom 12. Dezember 1952 (STGA). Schaeffer (1923): Stefan George, S. 297–501. Stefan George: Die blume die ich mir am fenster hege. In: SW, IV, S. 31. Schaeffer (1923): Stefan George, S. 304.
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Wende,220 in der Strauß auf die Unverhältnismäßigkeit in der ‚Wahl der Waffen‘ abhebt. Das Verspaar „Wo emsig er zu seiner kinder heil / Die kranken blumen knickt mit scharfem beil“221 kombiniert motivisch Der Freund der Fluren mit „Erwähl ich scharfe waffen und ich knicke / Die blasse blume mit dem kranken herzen“ aus Die blume die ich mir am fenster hege. Die Evidenz des parodistischen Texts erspart Schaeffer an dieser Stelle eine lange Argumentation. Schaeffer geht von einem unbewussten Bruch aus. Er übersieht, dass George bewusst mit Ambivalenzen arbeitet und dass diese Spannung gerade seine Modernität ausmacht. Zum Beispiel unterlaufen die Schlussverse von Die blume die ich mir am fenster hege die von Schaeffer inkriminierte „Eisigkeit“ und implizieren Bedauern und Schmerz über den Verlust. Georg Lukács schreibt in seiner Dramentheorie 1920, „das Formschaffen“ sei „die tiefste Bestätigung des Daseins der Dissonanz“.222 Das gilt auch für George. Schaeffer und Strauß legen die Spannungen, die im Werk enthalten sind, offen; sie parodieren das, was in sich gebrochen ist, während Georges Jünger in ihren Imitationen das Positive verstärken. Die Züge, die sie parodieren, sind eben jene, die die Kreisangehörigen tendenziell ausblenden. Im Kreis versteht man die Parodien in erster Linie als Taktlosigkeit. Strauß’ seit August 1917 belegter persönlicher Kontakt zu Gundolf reißt infolge der Parodien ab.223 In seinem letzten Brief an Strauß vom 4. Juli 1918 fertigt Gundolf beide Publikationen (Gedichtband und Parodien) ab, indem er dem Verfasser fehlende Substanz und daraus resultierenden Ästhetizismus unterstellt:
220 221 222 223
Der Titel ist ein Zitat aus dem Eingangsgedicht zum Stern des Bundes. Schaeffer (1923): Stefan George, S. 304, Schaeffer; Strauß (1918): Opfer des Kaisers, S. 26. Georg Lukács: Die Theorie des Romans, 2., u. e. Vorw. vermehrte Auflage. Neuwied a.Rh.: Luchterhand 1963 [erste Auflage: Berlin 1920], S. 70. Die im Nachlass von Ludwig Strauß überlieferten sieben Briefe und Karten von Friedrich Gundolf datieren auf den 17. August 1917, o Dat. [nach dem 17. August 1917], den 24. September 1917, den 9. November 1917, den 12. März 1918, den 19. März 1918 und zuletzt auf den 4. Juli 1918 mit dem Absagebrief infolge der Zusendung der Parodien. Die übrigen Mitteilungen dienen lediglich der Vereinbarung von Treffen in Berlin. – NLI, Ludwig Strauss archive, ARC, Ms. Var. 424/236.
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Dichtung und Gefühle sind kein Sport, das wissen Sie selbst, aber Sie tun und lassen nicht nach diesem Wissen, sonst könnte Ihnen der Ton Hölderlins und Georges nicht so leicht fallen. Was hilft alle Gewandtheit im Gebrauch der Worte, wenn das Gefühl für ihr Gewicht fehlt!224
Der Fluchtpunkt von Gundolfs Argumentation ist in beiden Fällen der Vorwurf der Leichtigkeit, wobei die Sportmetapher die Kritik des Kreises an stilistischer Imitatio, welche ausschließlich an der Technik interessiert sei, variiert. Die „kalte Absage“ von „Georges erstem Jünger“ als Reaktion auf die „kaiserlichen Liftabstürze“ referiert Schaeffer am 11. Juli 1918, am Vorabend des Geburtstags, an Katharina Kippenberg.225 Diese antwortet bestürzt: Sehr betroffen hat mich Ihre Mitteilung, dass Friedrich Gundolf eine kalte Absage an Strauss geschickt hat. Also haben sie Scherz und Verehrung nicht verstanden. Könnte Strauss Gundolf nicht noch einmal auf die Schlussgedichte aufmerksam machen, um die Sache in das rechte Licht zu setzen? Niemals auch hätte der Insel-Verlag sich zu einer Verspottung Georges verstanden, und uns liegt viel daran, dass keine Missverständnisse entstehen.226
Schaeffer erkennt demgegenüber, dass Gundolf die Sache nicht missversteht, sondern dass sein Einwand prinzipieller Natur ist: Was den Gundolf angeht, so hat er die Sache natürlich ‚verstanden‘ das heißt, daß WIR George ehren wollten, ist ihm klar. Nein, Gundolfs literarische Arbeiten in hohen Ehren, aber als Jünger Georges sind diese Menschen ganz unfrei, unsicher und gar nicht in Rechnung zu ziehn. Denn wenn er etwa im Brief an Strauß das Handhaben der Georgeschen, aus Not und Schicksal erschaffenen Sprachinstrumente mit Entrüstung tadelt, so weiß er leider nicht, was er tut, er, der mit dem ganzen Verse schreibenden Georgekreis nichts tut als seine Sprachinstrumente zu handhaben und damit George, zwar ohne Humor noch Satire, aber doch ganz sanft zu parodieren.227
Schaeffer macht darauf aufmerksam, dass auf der Textebene enge Imitatio und Parodie kaum voneinander zu trennen sind. Das 224
225 226 227
Friedrich Gundolf an Ludwig Strauß, Brief vom 4. Juli 1918 (NLI). – Das Konzept von Gundolfs Brief ist abgedruckt in: George-Gundolf Briefwechsel, S. 320f. Anm. 2. Albrecht Schaeffer an Katharina Kippenberg, Brief vom 11. Juli 1918 (DLA). Katharina Kippenberg an Albrecht Schaeffer, Brief vom 12. Juli 1918 (IA). Albrecht Schaeffer an Katharina Kippenberg, Brief vom 15. August 1918, zit. n. Bernhard Zeller (Hg.): Die Insel. Eine Ausstellung zur Geschichte des Verlages unter Anton und Katharina Kippenberg (Marbacher Katalog 15), Stuttgart: Klett 1965, S. 225.
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gilt insbesondere für Schaeffers und Strauß’ Parodien, weil ihnen ihre intime Textkenntnis aus den Zeiten früher George-Begeisterung zugute kommt. Obwohl sie eigentlich parodieren, können sie sich mit dem Unschuldskleid der stilistischen Imitatio bedekken und sich an der Verwirrung freuen, die sie beim Gegenüber stiften. Ihr Versteckspiel ist so gelungen, dass noch Karlhans Kluncker in seiner Studie über die Blätter mit Blick auf die Opfer des Kaisers von Defiziten im „‚Lernniveau‘ außerhalb des Kreises“ spricht und die parodistische Absicht der Verfasser dabei übersieht.228 Was Gundolf allerdings in seiner „kalte[n] Absage“229 kritisiert, ist nicht die Tatsache einer „freiwilligen und unfreiwilligen Wiederholung“ an sich oder ihre mangelnde Qualität, sondern ihre Verwendung „im Scherz und Spiel“.230 Damit bezieht sich Gundolf kritisch auf das oben zitierte Eingangsgedicht, in welchem die Verfasser ebendies als Motivation zu erkennen geben. Schaeffer argumentiert nicht ethisch, sondern stilistisch, wenn er die Gemeinsamkeiten zwischen den stilistischen Imitationen der George-Jünger und den eigenen Texten betont. Nur unter strukturalen Gesichtspunkten kann Schaeffer die Imitationen der Blätter als „sanft[e]“ Parodien bezeichnen; zieht man als Distinktionskriterium das Moment der ethischen Entscheidung heran, liegen zwischen dem gläubigen und dem emanzipierten (in den Augen des Kreises: dem verworfenen) Jünger Welten. Doch auch Schaeffer greift zu einem ethischen Argument, wenn er die imitierende Lyrik des Kreises als „unfrei“ bezeichnet und damit seine eigene Position der kritischen Verehrung und der emanzipierten Imitatio stärkt. Vallentin äußert sich, wie Schaeffer zunächst über Dritte erfährt, „sehr mißfällig“ über die Opfer des Kaisers.231 Bald darauf erhält er ein direktes Schreiben: Von Vallentin ein Brief mit dem Gehalt des Gundolfschen, aber weniger steif und grob im Ton: die Veröffentlichung bleibe für seine Art, Kunstwerke zu sehn, die menschlich [zei]hliche, für das primär naturhafte Fühlen eine Unmöglichkeit und schlimmste Blasfemie. Nun, daß grade im primär naturhaften Fühlen V[allentin] mir überlegen
228 229 230 231
Kluncker (1974): Blätter für die Kunst. S. 182. Albrecht Schaeffer an Katharina Kippenberg, Brief vom 11. Juli 1918 (DLA). Friedrich Gundolf an Ludwig Strauß, Brief vom 4. Juli 1918 (NLI). Albrecht Schaeffer an Irma Bekk, Brief vom 15. Oktober 1918 (DLA).
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sei, ist kaum anzunehmen. Übrigens scheint mir Etwas von Gekränktheit irgendwie durchzublicken, was mich hoffen läßt, ihn zu versöhnen.232
Vallentin unterscheidet zwei mögliche Modi der Rezeption. Der eine Modus, der die Gedichte als „Kunstwerke“ betrachte, könne die Parodien verschmerzen, der andere, „primär naturhafte“ Modus, müsse sich dagegen getroffen fühlen. Das „primär naturhafte Fühlen“ umschreibt einen Rezeptionsvorgang, der die Gedichte wörtlich, also unreflektiert aufnimmt und dem dadurch ihr Doppelsinn entgeht. Darüber hinaus deutet die Unterscheidung zwischen Sehen und Fühlen an, dass es sich bei letzterem weniger um eine intellektuelle, die Gedichte unter formalen und ästhetischen Gesichtspunkten aus betrachtende, sondern mehr um eine emotionale, mithin ethische Wahrnehmungsweise handelt. Vom Standpunkt des Jüngers aus betrachtet trifft die Parodien der Vorwurf der Blasphemie, und so müssen Schaeffer und Strauß erleben, dass sie ihren Kontakt zu Gundolf und Vallentin für immer verlieren. Auch die alte Duzfreundschaft zwischen Strauß und Elisabeth Salomon findet ein Ende: „[N]ach der Geschichte mit den Parodien“ habe sie Ludwig Strauß, wie Felheim berichtet, „freundlich gesagt, dass sie nach der von ihm begangenen Taktlosigkeit ihn nicht mehr sehen möge“.233 Gundolf beendet gleichfalls den Kontakt und bleibt auch „viele Jahre später“ gegenüber einem von Strauß unternommenen „Annäherungs-Versuch“ anlässlich eines Vortrags in Aachen unversöhnlich.234 Etwa zeitgleich mit dem Entstehen der George-Parodien arbeitet Schaeffer an seinem Roman Elli oder Sieben Treppen (1919), in dem er die Thematik des Selbstopfers im Umfeld Georges auf die weibliche Hauptfigur überträgt.235 Katharina Kippenberg gegenüber skizziert er das Buchprojekt am 12. Januar 1918 als „das Schicksal einer Frau, die gleichsam über eine Treppe von sieben Männern von einer Höhe über ihr in eine sehr betrübliche Tiefe hinuntergelangt, nicht ohne im Kern ihres op232 233 234 235
Albrecht Schaeffer an Irma Bekk, Brief vom 17. Juli 1918 (DLA). Fritz Felheim an Robert Boehringer, Brief vom 2. April 1953 (STGA). Fritz Felheim an Robert Boehringer, Brief vom 12. Dezember 1952 (STGA). Albrecht Schaeffer: Elli oder Sieben Treppen. Beschreibung eines weiblichen Lebens, Leipzig: Insel 1919.
236
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fernden Wesens dieselbe zu bleiben.“236 In der Forschung hat sich die Sicht durchgesetzt, dass es sich dabei um einen „Kolportageroman“ handle.237 Diese Auffassung wird von den Quellen nicht gestützt; man sollte vorsichtiger von Einflüssen reden. Entweder lernt Schaeffer Elisabeth Salomon auf den Jours im Hause Vallentin oder vermittelt über Strauß kennen. Felheim schreibt 1953 an Boehringer: Dr. Strauss hatte Elli Salomon 1914 in Heidelberg im Juni kennen gelernt; Dr. Strauss hat sich mit Gundolfs späterer Frau geduzt, war 1917/18 mit ihr und Gundolf viel in Berlin zusammen. Elli S. hätte ein unbezwingliches Bedürfnis gehabt epater le bourgeois und wollte so gerne den Anschein erwecken, dass sie ein ‚lockeres Leben‘ führe, während sie nach bürgerlichem Masstabe die strengsten Ansichten hatte.238
Diesem Bericht ist zu entnehmen, dass Elisabeth Salomon nach außen hin ein Bild vermittelt, das auf sexuelle Freizügigkeit schließen lassen könnte. Das Gundolf Archive in London bewahrt zwei an sie gerichtete Gedichte Schaeffers, die stark auf eine einseitige Verliebtheit seinerseits hindeuten. Diese Indizien sprechen für die Behauptung, Schaeffer habe sich mit Elli oder Sieben Treppen an ihr gerächt. Seine Auseinandersetzung mit dem George-Kreis findet in diesem Roman ihren Niederschlag, ohne dass man direkt von einem Schlüsselroman sprechen könnte. Dass Salomon den Roman gekannt hat, geht aus einem Lektürevermerk ohne weiteren Kommentar in ihrem Tagebuch vom 18. Oktober 1919 hervor.239 Insgesamt sind die realen Bezüge aber so vage, dass es nicht verwundert, kaum nennenswerte Äußerungen darüber zu finden. In den zahlreichen Briefen, die Robert Boehringer und Fritz Felheim in den 1950er Jahren wechseln, findet sich davon keine Spur, obwohl der Briefwechsel um die zwei Kernthemen George-Parodien (aufgrund Felheims Freundschaft mit Strauß) und Elisabeth Salomon kreist (Felheim wirkt an den Verhandlungen mit der Witwe zur Herausgabe der Gundolf-George Korrespondenz mit). Der Bezug zwischen dem gefallenen Mädchen aus Schaeffers Roman und der realen 236 237 238 239
Albrecht Schaeffer an Katharina Kippenberg, Brief vom 12. Januar 1918 (IA). Karlauf (2007): Stefan George, S. 516. Fritz Felheim an Robert Boehringer, Brief vom 2. April 1953 (STGA). Elisabeth Salomon, Tagebücher (GA).
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Elisabeth Salomon, ab 1926 verheiratete Gundolf, ist, so darf man vermuten, von einzelnen Kreisangehörigen vielmehr instrumentalisiert worden, um Georges starke Abwehrreaktion auf diese Verbindung plausibel erscheinen zu lassen.240 Im Kontext der Parodien auf George interessieren weniger die einzelnen Leidensstationen der Protagonistin als diejenigen Passagen zu Beginn des Romans, die Mechanismen der Initiation und Nachfolge im Kreis offenlegen. Schaeffers Roman zeigt dieselbe Ambivalenz gegenüber dem George-Kreis wie die Parodien, variiert durch das Motiv der enttäuschten Liebe zu der mit dem Kreis assoziierten begehrten Frau. Was Elli oder Sieben Treppen mit Vier Sonette an Stefan George verbindet, ist die Frage, inwieweit das Eintreten in die Welt Georges – denn um sie handelt es sich bei der eingangs erwähnten „Höhe“241 – zum Selbstopfer führen muss. Ellis erster Geliebter ist der junge Gelehrte Ludwig Studassohn. Studassohn lebt in derselben Pension wie die Literaturstudentin analog zu Gundolfs und Salomons Heidelberger Wohnsituation. Peter Härtling hat die Figur eine „Huldigung“ an Gundolf genannt,242 aber dass die Wirtin den Namen ihres Pensionsgasts bei der ersten Begegnung als „Judaslohn“ missversteht, deutet vielmehr auf eine negative, antisemitische Personencharakteristik hin. Bei ihrer ersten Begegnung lädt Studassohn Elli in sein Zimmer ein, wo er mit drei Freunden die Neuerscheinung eines Buches feiert, und obwohl keine Namen genannt werden, sind Bezüge zum Teppich des Lebens in der Prachtausgabe von Melchior Lechter greifbar. Elli sitzt dabei und versteht ihre Sprache nicht. Ihr ergeht es wie dem Studenten Anselmus in E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der goldene Topf; sie ist von der ihr fremden Welt ebenso fasziniert: [Bevor Elli] die in goldenen, ineinander verschränkten Lettern schwer leserliche Aufschrift entziffert hatte, waren ihre Augen wieder auf die Photographie gefallen, die sie schon vorher bemerkt hatte, Kopf und Brust eines Mannes, der die Stirn in die Hand gestützt hatte […] und
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Dafür spricht, dass die Assoziation von Elli mit Elisabeth Salomon von Befangenen kolportiert wurde, deren Motivation Eifersucht (Fine von Kahler) oder antisemitisches Ressentiment sein konnte (Ludwig Thormaehlen). Albrecht Schaeffer an Katharina Kippenberg, Brief vom 12. Januar 1918 (IA). Härtling (1966): Vergessene Bücher, S. 87–93.
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dessen schmal gepreßter Mund und vorgestelltes Kinn an – an wen erinnerten? An einen Heiligen, meinte sie, erst später erkennend, daß sie Dante meinte.“243
Es handelt sich dabei für Eingeweihte unmissverständlich um ein George-Porträt. Studassohn leistet apostolische Dienste, indem er Elli das Buch mitgibt. Sie verfällt zuerst der Dichtung und dann dem Charme ihres Lehrers, dem sie, ihre eigenen Studien vernachlässigend, wissenschaftliche Hilfsdienste leistet. Die Selbstaufgabe führt so weit, dass sie den Namen Inge annimmt, auf den Studassohn sie tauft. Nachdem schon von Heirat die Rede ist, wird sie von ihm verstoßen und das Schicksal, Ellis Abgleiten in die Gosse, nimmt seinen Lauf. Die Art und Weise, wie der George-Kreis in diesem Roman literarisch verarbeitet wird, bekräftigt das schon in Schaeffers Sonetten bemerkte Nebeneinander von Verehrung und Distanz. Was in den frühen Sonetten noch unter der Oberfläche schlummert, wird zehn Jahre später in Die Opfer des Kaisers (1918) manifest; hier klingt die Opferthematik bereits im Titel an. Ebenso wie in seinen Vier Sonetten an Stefan George führt auch in seinem Roman Elli oder Sieben Treppen die Initiation in Georges Welt zu Identitätsverlust und, da die Protagonistin die Ausstoßung aus dem Kreis nicht verkraftet, in letzter Konsequenz zum Tod.
3.5 Ergebnis Die im dritten Teil der Studie behandelten, außerhalb des Kreises entstandenen Texte setzen sich affirmativ oder adversativ mit den theoretischen Positionen des Kreises zur Imitatio auseinander. Generell gilt, dass diejenigen Personen, die George oder Kreisangehörige nicht kennen und auch die Blätter oder die Jahrbücher nicht wahrnehmen, langsamer auf Wandlungen seiner Poetik reagieren als diejenigen, die diese Schriften beziehen oder in Kontakt zu Angehörigen des Kreises stehen. Das gilt sowohl für Hardt als auch für Meinke. Meinke identifiziert sich 1912 noch mit dem frühen, vom französischen Ästhetizismus geprägten George. Nachdem er mit seinen stilistisch vielfältigen Zusendungen keinen Erfolg hat, versucht er es mit enger Nach243
Schaeffer (1919): Elli oder Sieben Treppen, S. 25.
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bildung des George-Stils und mit dem Anschluss an den Maximin-Kult. Während George auf Meinkes Einsendungen anfangs noch reagiert, bleiben Hardts dilettantische Gedichte von vornherein unbeantwortet. Meinke, der über viele Jahre hinweg Gedichte an George sendet, spricht immer deutlicher aus, dass es ihm auch um eine sexuelle Begegnung geht. Die um die ethische Imitatio verkürzte stilistische Imitatio zum Zwecke homosexueller Erfüllung erkennt den Zusammenhang zwischen Contagio und Idealisierung nicht. Natürlich ist die Contagio nicht nur ein geistiges Prinzip – Homosexualität kann im Kreis gelebt werden –, aber die sexuell konkretisierte Contagio ist kein Endzweck, sondern hat eine funktionale Rolle bei der Idealisierung. Wird der homosexuelle Subtext in Georges Lyrik und im Imitatio-Modell in imitierenden oder parodierenden Gedichten außerhalb des Kreises an die Oberfläche geholt, wie bei Meinke oder bei dem homosexuellen George-Parodisten Evers, so handelt es sich um ein Missverständnis. Von einem anderen Missverstehen des Imitatio-Modells zeugen die George-Parodien von Schaeffer und Strauß. Bei beiden Autoren schlägt anfängliche stilistische Imitatio um in Parodie. Unbeschadet dessen beanspruchen beide für sich fortgesetzte ethische Imitatio. Sie erkennen Georges Ethos an, nicht aber seinen Stil, obwohl beides im Imitatio-Modell die unmittelbare Folge der Mimesis des Urgeists ist. Gerade der Verzicht auf stilistische Imitatio ist für sie ein Zeichen von wahrer Jüngerschaft. Schaeffer und Strauß haben eine pragmatische Auffassung von Stil. Sie halten Stil für etwas Handwerkliches, weshalb sie Georges Stil auch kritisch betrachten. Aus Georges Perspektive ist der Stil eines Urgeists nichts, was er sich aussuchen kann, sondern eine innere Notwendigkeit. Ebenso wenig liegt es aus seiner Perspektive im Ermessen der abgeleiteten Wesen, welche Anteile der neuen Zeichen (Stil und Ethos) weiterzugeben seien und welche nicht. Emanzipierte Imitatio ist daher im System des Imitatio-Modells nicht vorgesehen, sondern fällt unter das Verdikt des Ästhetizismus (Typ A fehlgeleiteter Imitatio, nämlich stilistische Imitatio ohne Ethos im Spezialfall der Parodie), obwohl in der Binnenwahrnehmung Schaeffers und Strauß’ gerade das Gegenteil vorliegt, nämlich ethische Imitatio ohne stilistische Imitatio. Noch in einer weiteren Hinsicht sprengen Schaef-
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fer und Strauß das System. Sie verfolgen das Ziel, letztlich selbst zu Urgeistern zu werden, wofür die Abkehr von stilistischer Imitatio die Vorbedingung ist. Sie haben als Ziel ihrer Imitatio die eigenverantwortliche Creatio im Blick. Im Rahmen des Imitatio-Modells kommt der Rang eines Urgeists nur Wenigen zu, und es ist nicht vorgesehen, dass ein Jünger nach beendeten Lehrjahren eigene Wege geht. Weil Schaeffer und Strauß das Imitatio-Modell nicht verstehen oder besser: nicht akzeptieren, werden sie vom Kreis unter die „Verworfenen“ gerechnet und aus dem zuvor bestehenden sozialen Verkehr ausgeschlossen.
Teil 4: Kritik an Lyrik und Poetik
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Teil 4: Kritik an Lyrik und Poetik außerhalb des Imitatio-Modells: Hofmannsthal, Hérédia, Schröder, Rilke 4.1 Kritik am abgefallenen Dichter Stand im vorigen Kapitel die Kritik an George und dem Kreis im Vordergrund, so geht es nun um die poetologischen Abgrenzungen des Kreises selbst. Diese Abgrenzungen folgen, wie zu zeigen sein wird, den Denkmustern des Imitatio-Modells und berühren sämtliche Spielarten negativer Imitatio (vgl. Abb. 2). Die Vorbehalte des Kreises gegenüber Hugo von Hofmannsthal, um welche es zunächst gehen soll, werden vor dem Hintergrund des Modells verständlich. Hofmannsthal, so die Kritik, bewegt sich außerhalb des Nachahmungsgefüges. Sein dissidentes Verhalten wird von George und von Gundolf mit kritischen bzw. parodistischen Texten sanktioniert. Dabei zeigen sich signifikante Unterschiede: George erkennt Hofmannsthal den Status eines Urgeists zu, weshalb sein Schaffen für ihn zum Typ B negativer Mimesis gehört. Er sei ein proteischer Dichter, der keinen festen Standpunkt habe und sich sowohl stilistisch als auch ethisch nicht festlegen wolle. Gundolf hingegen zählt Hofmannsthal zu den abgeleiteten Wesen. Hofmannsthal sei abhängig von George und vermöge ohne ihn nicht zu dichten. Gundolf greift den von George geäußerten Proteismusvorwurf auf und ergänzt ihn um den Epigonalitätsvorwurf. Sowohl George als auch Gundolf verwenden die Metaphern des Spiels und des Theaters, um darin proteische Substanzlosigkeit und fehlendes Ethos auszudrükken. Insbesondere Gundolf verbindet ethische Argumente mit poetologischen und ist in seiner Abwehr deutlich schärfer als George. Sicher spielt hier ein gewisser Konkurrenzdenken mit hinein, da Gundolf sich an der lyrischen Begabung Hofmannsthals messen muss und Hofmannsthal noch immer eine wichtige Bezugsperson für George ist. Bevor zwei seiner Hofmanns-
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Teil 4: Kritik an Lyrik und Poetik
thal-Parodien mit Blick auf die darin geäußerte Kritik am proteischen Dichter und am abgefallenen Jünger näher betrachtet werden, seien Georges Vorbehalte gegenüber Hofmannsthal skizziert. Georges Gedicht Der Verworfene1 wird im Kreis auf Hofmannsthal bezogen. Als Entstehungshintergrund gilt für den Kreis eine Berliner Aufführung seiner beiden Theaterstücke Die Hochzeit der Sobeide und Der Abenteurer und die Sängerin am 18. März 1899 am Deutschen Theater Berlin unter Otto Brahm, die George besucht, aber als Zugeständnis an eine undichterische Sphäre ablehnt.2 George selbst lässt sich auf diese Deutung nicht festlegen: Halb sei Jean Pauls Figur Roquairol aus dem Titan das Vorbild für den Verworfenen gewesen und halb ein Dichter seines Kreises, äußert er sich gesprächsweise auf die entsprechende Nachfrage Michael Landmanns.3 In der Tat handelt es sich bei der Dreiergruppe, die Der Verworfene zusammen mit Der Erkorene und Der Jünger im Teppich bildet, um Typen und nicht um Individuen. Trotzdem ist auffällig, dass Motive dieses Gedichts im Briefwechsel zwischen George und Hofmannsthal wiederkehren und von Gundolf in seiner wenig später entstandenen Hofmannsthal-Parodie Sendung (1900) aufgegriffen werden. Beides spricht dafür, dass Georges Kritik zumindest teilweise Hofmannsthal trifft. Der zentrale Vorwurf des Texts lautet, dass der „Verworfene“ das Leben im „spiel“ vorweggenommen habe. In Jean Pauls Titan spielt die ambivalente Figur des Roquairol mehrfach Theater und antizipiert in ihrer Rolle das spätere Geschehen. Ob daher die Theatermetaphorik eher auf Hofmanns1 2
3
Stefan George: Der Verworfene. In: SW, V, S. 49. Vgl. Martin Stern: „Poésie pure“ und Atonalität in Österreich. Stefan Georges Wirkung auf Jung-Wien und Schönberg. In: Herbert Zeman (Hg.): Die Österreichische Literatur. Ihr Profil von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart (1880–1980), Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt 1989, S. 1457– 1468, hier S. 1469 Anm. 37. – Nach dieser Aufführung kommt der Briefwechsel zwischen George und Hofmannsthal für drei Jahre zum Erliegen. George erklärt rückblickend sein Schweigen: „[U]m nach all Ihrer mühe und anstrengung mit der aufführung Ihnen nur unerfreuliches darüber zu sagen – brauchten Sie mich dazu? mir erschien damals das handhaben von spielern ohne einen begriff vom vers ein grösseres wagnis als das von solchen die das deutsche nicht recht verstehn […].“ – George-Hofmannsthal Briefwechsel, S. 161. Vgl. Michael Landmann (1980): Stefan George, S. 22.
Teil 4: Kritik an Lyrik und Poetik
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thal oder auf Roquairol Bezug nimmt, ist schwer zu entscheiden. Die Ablehnung des Spiels ist jedenfalls grundsätzlicher Natur, weil es aufgrund seines scheinhaften Als-ob Georges Substanzbegriff widerspricht. Der Verworfene Du nahmest alles vor: die schönheit grösse Den ruhm die liebe früh-erhizten sinns Im spiel · und als du sie im leben trafest Erschienen sie verblasst dir nur und schal. Du horchtest ängstlich aus am weg am markte Dass keine dir verborgne regung sei.. In alle seelen einzuschlüpfen gierig Blieb deine eigne unbebaut und öd. Du fandest seltne farben schellen scherben Und warfest sie ins wirre blinde volk Das überschwoll von preis der dich berauschte.. Doch heimlich weinst du – in dir saugt ein gram: Beschämt und unstät blickst du vor den Reinen Als ob sie in dir läsen.. unwert dir So kamst du wol geschmückt doch nicht geheiligt Und ohne kranz zum grossen lebensfest.
Dem adressierten Du, dem eine frühe Begabung (I,1–3) zuerkannt wird, wirft der Sprecher Gier (II,3) und mangelnde Haltung (I,1–3) vor. Die fehlende Substanz (II,3f.) und die Orientierung am Beifall der Menge (III,3) entsprechen dem Hofmannsthal-Bild des Kreises. Verstärkt wird dieser implizite Bezug auf Hofmannsthal dadurch, dass der „Verworfene“ mit einer Gruppe von „Reinen“ konfrontiert wird und den Konsequenzen dieser Begegnung ausweicht. Kunst wird vom Verworfenen als Reizmittel gegenüber anderen eingesetzt (III) und als Reizmittel konsumiert (I). Die zweite Strophe unterstellt dem Interesse an den Seelenregungen anderer Suchtcharakter zur Kompensation innerer Leere. „So kamst du wol geschmückt doch nicht geheiligt“ (IV,3): Der Ornatus ist korrekt, aber ohne innere Würde. Edith Landmann nimmt in Georgika Bezug auf dieses Gedicht und setzt den Verworfenen mit dem Typus des proteischen Dichters gleich: „Wer sich der Urform des Menschseins“ entziehe, „um in genießerischem Schwelgen an allen Formen der
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Menschheit teilzuhaben“, der sei ein „Verworfener, ein Proteus, ein Nichts, kein Dichter, sondern die Karikatur des Dichters.“4 Anders als in Landmanns vehementer Abwehr schwingt in Georges Gedicht Mitgefühl mit dem Verworfenen mit. Der Kummer, die Scham, das heimliche Weinen des Verworfenen und sein Unvermögen, am „lebensfest“ teilzunehmen, zeugen von einem gewissen Verständnis, oder wenn nicht von Verständnis, dann doch zumindest von Verstehen. Hofmannsthal kommt im 1902 wieder einsetzenden Briefwechsel mit George auf den Vorwurf der Anbiederung an die Menge zu sprechen: Auch wenn er sich der „hergebrachten socialen Formen“ bediene, stehe seine Haltung derjenigen Georges an „Zurückhaltung“ in nichts nach.5 George weist diese Behauptung zurück. Hofmannsthal habe sich mit vielen eingelassen und sei der Zusammenarbeit mit ihm stets ausgewichen. Dabei hätten Hofmannsthal und er „durch jahre in unsrem schrifttum eine sehr heilsame diktatur […] üben können“.6 In seinem Antwortschreiben stellt Hofmannsthal klar, dass er die ihm angetragene Funktion nicht anstrebe.7 Zugleich wehrt er sich dagegen, mit den Kreisen, in denen er verkehrt, gleichgesetzt zu werden. Da er „im Gedränge umherwand[le]“, ohne sich festzulegen, könne er kein „Parteigänger“ genannt werden.8 Im Gegenzug kritisiert er die „mittelmäßigen Poeten“, mit denen sich George umgebe, welche ihre eigene Mediokrität verbergen würden, indem sie George imitierten.9 George verteidigt in seinem Antwortbrief das Imitatio-Modell: Wenn Sie es als schön preisen sich von den vielfarbigen thatsächlichkeiten treiben zu lassen bedeuten sie mir nichts ohne auswahl und zucht. Was das bessere sei bleibe ganz unberedet · nur soviel ist gewiss: dass in allgemeinem wie besonderem sinn etwas geschehe ermöglicht nur die eine art der führung · wol weiss ich: durch alle haltung und führung wird kein meisterwerk geboren – aber ebensogut wird ohne diese manches oder alles unterdrückt.10
4 5 6 7 8 9 10
Edith Landmann (1920): Georgika, S. 16. George-Hofmannsthal Briefwechsel, S. 149. George-Hofmannsthal Briefwechsel, S. 150. Vgl. George-Hofmannsthal Briefwechsel, S. 154f. George-Hofmannsthal Briefwechsel, S. 155f. George-Hofmannsthal Briefwechsel, S. 154. George-Hofmannsthal Briefwechsel, S. 158.
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Gegen Hofmannsthals Flanieren „im Gedränge“ setzt George die Worte „haltung und führung“, „auswahl und zucht“.11 Die Entstehung von Kunst werde nur durch Exercitatio vorbereitet und nicht durch die „lauliche reizbarkeit und weichtierhafte eindrucksfähigkeit die heut ‚Berliner naturalismus‘ morgen ‚Wiener symbolismus‘ untergeht“.12 Landmanns philosophische Frontstellung gegen den österreichischen Empirismus des späten 19. Jahrhunderts, demzufolge das Ich nur als Komplex von Sinnesdaten greifbar wird, ist in Georges poetologischen Überzeugungen um 1900 und seiner Abwehr der „weichtierhafte[n] eindrucksfähigkeit“ vorgeprägt. Gundolf fasst die unterschiedlichen Positionen der beiden Dichter schließlich in der Opposition von Substanz und Substanzlosigkeit zusammen, wenn er in seinem George-Buch schreibt, dass Hofmannsthal keinen „seelischen Gehalt und Boden“ habe.13 Der Proteismusvorwurf berührt sowohl das Feld des sozialen Handelns (im Vorwurf, sich in zu vielen unterschiedlichen Kreisen zu bewegen, anstatt sich zu positionieren) als auch das Gebiet des literarischen Schaffens (im Vorwurf, sich allen Sinneseindrücken auszusetzen, anstatt zu selektieren). George ist der Ansicht, dass das Flanieren die Mimesis des Urgeists verunmögliche, Gundolf wiederum, der Hofmannsthal nicht als Urgeist, sondern als Jünger sehen will, kritisiert, dass Hofmannsthals Flanieren die Contagio durch George verunmögliche. Hofmannsthal dagegen sieht gerade in seiner Eindrucksfähigkeit eine Vorbedingung für das Entstehen von Dichtung. Diesen Gedanken entfaltet er im Gespräch über Gedichte (1903/04),14 einer Besprechung vom Jahr der Seele, die Hofmannsthal bereits 1898 plant,15 aber erst nach der Wiederanknüpfung der Beziehungen mit George vollendet. Er wendet den Proteismusvorwurf darin ins Positive. Ausgehend vom Jahr der Seele stellt er grundsätzliche poetologische Reflexionen an. „Wir besitzen unser Selbst nicht: von außen weht es uns an, es 11 12 13 14
15
George-Hofmannsthal Briefwechsel, S. 158. George-Hofmannsthal Briefwechsel, S. 159. Gundolf (31930): George, S. 14. Hugo von Hofmannsthal: Das Gespräch über Gedichte. In: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden, Bd. 7, hg. v. Herbert Steiner, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch 1979, S. 495–509. Vgl. George-Hofmannsthal Briefwechsel, S. 136.
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flieht uns für lange und kehrt uns in einem Hauch zurück […]. Wir sind nicht mehr als ein Taubenschlag.“16 Der Hauch sei Träger unverfügbarer Erinnerungen, die plötzlich wiederkämen und die poetische Stimmung auslösten. Diesen Gedanken fortspinnend, entwickelt er eine Poetik des Hauchs.17 Anders als in der Tradition dieser Inspirationsmetapher kommt der Hauch zwar von außen, hat aber seinen Ursprung im Subjekt. Selbst die scheinbar objektive Landschaftsdichtung ist für Hofmannsthal subjektiv aufgeladen und trägt „den zitternden Hauch der menschlichen Gefühle“.18 Obwohl auf das Jahr der Seele zielend, spricht Hofmannsthal hier von sich selbst. In einem zweiten Teil des Gesprächs über Gedichte wenden sich die Dialogpartner Clemens und Gabriel der Lyrik Goethes zu. Clemens führt Goethe als Vertreter des plastischen Formens ein und fragt: „Spottete er nicht der Schweifenden? Der ewig Sehnenden?“19 Durch diesen Einwand formuliert Hofmannsthal eine Antithese zum vorher Gesagten, die neben dem allgemeinen Bezug auf eine formalistische Lyriktradition auch Georges Position beschreibt, der „das strenge sich-aufeinenpunktstellen“ verlangt.20 Der im Gespräch führende Gabriel wehrt die von Clemens’ Frage implizierte Gleichsetzung von Ethik und Poetik ab. Er reklamiert Goethe für beides: für die Form ebenso wie für den Hauch. „Die Lieder seiner Jugend sind nichts als ein Hauch. […] Meinst du wirklich, er habe immer und immer den geformten Gedanken ans Licht der Sonne gehoben“?21 In den Entwürfen zum Gespräch über Gedichte grenzt sich Gabriel noch dezidierter als in der gedruckten Fassung von einem einseitigen Formideal ab.22 Goethe leistet nach Hofmannsthals Auffassung
16 17 18 19 20 21 22
Hofmannsthal (1979): Das Gespräch über Gedichte, S. 497. Vgl. Hans-Jürgen Schings: Lyrik des Hauchs. Zu Hofmannsthals „Gespräch über Gedichte“. In: Hofmannsthal-Jahrbuch 11 (2003), S. 311–339. Hofmannsthal (1979): Das Gespräch über Gedichte, S. 498. Hofmannsthal (1979): Das Gespräch über Gedichte, S. 508. George-Hofmannsthal Briefwechsel, S. 159. Hofmannsthal (1979): Das Gespräch über Gedichte, S. 508. Das plastische Formen wird dort mit Ästhetizismus assoziiert: „Ja ja sie sind wie Edelsteine, wie Perlen. Der plastische Gedanke ist schön. Aber wir können nicht von ihnen leben.“ – Hugo von Hofmannsthal. Sämtliche Werke, Bd. 31, Erfundene Gespräche und Briefe, hg. v. Ellen Ritter, Frankfurt a.M.: S. Fischer 1991, S. 326.
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in seiner Lyrik die Synthese von Reflexion und Intuition, von gedanklicher Formung und lyrischer Offenheit. Schon Claude David hat darauf hingewiesen, dass Hofmannsthal im Gespräch über Gedichte mehr seine eigene Poetik beschreibt als diejenige Georges.23 Aber der Text ist zu nuancenreich und zu sehr auf eine Synthese hin angelegt, als dass man ihn als Profilierung auf Kosten Georges verstehen sollte. Der Dialog beginnt bei George und endet bei Goethe, und die Lyrik beider wird als normativ dargestellt. Man darf vermuten, dass es Hofmannsthals Intention ist nachzuweisen, dass Georges poetische Praxis im Jahr der Seele viel komplexer sei als seine Theorie, weil seine Lyrik eben jene Sensibilität aufweise, die George theoretisch aufgrund der von Hofmannsthal in seinen Briefen an George angezweifelten Gleichsetzung von poetischer Offenheit mit ethischer Haltlosigkeit ablehne. Immerhin sind sich die Gesprächspartner Clemens und Gabriel in ihrer uneingeschränkten Bewunderung für das Jahr der Seele einig. So verstanden ist das Gespräch über Gedichte eine weitreichende, wenn auch nicht unbedingte Konzession an den Dichter George, dem Hofmannsthal dieselbe Syntheseleistung zuspricht wie Goethe. Trotz einer um Vermittlung und Ausgleich bemühten Autorintention unterscheidet sich der von Hofmannsthal im Gespräch über Gedichte entwickelte Symbolbegriff von demjenigen Georges und bietet einen Angriffspunkt für den Proteismusvorwurf seitens des Kreises. Hofmannsthal spricht von der temporären Auflösung der Grenze zwischen Subjekt und Objekt im Symbol, Georges Symbolverständnis hingegen hebt diese Grenze nicht auf. Die Mimesis des Urgeists lässt sich nicht auf ein Aufgehen in den Dingen ein, sondern objektiviert das intuitiv Erfasste im poetischen Symbol. Oder, wie Gundolf schreibt: „Der dichter zieht die dinge heran, um in ihnen zu zeugen“.24 Dieses Bild impliziert, dass sich das Subjekt des Dichters nicht ‚weiblich hingebend‘ dem Objekt gegenüber verhält, sondern ‚männlich zeugend‘, und aktiv entscheidet, was es an sich heranlässt und was nicht. Hofmannsthal, so könnte man den Gedanken weiter ausführen, scheitere an der positiven Mimesis des Urgeists, weil die Voraussetzung dafür erstens das Vorhandensein 23 24
Vgl. David (1967): Stefan George, S. 155f. Gundolf (1910): Das Bild Georges, S. 20.
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von Substanz bzw., um im Bild zu bleiben, von Samen wäre, und weil er zweitens eine auswählende Weitergabe dieses Samens unterlasse. Vor diesem Hintergrund überrascht Gundolfs erste vorbehaltlos positive Reaktion auf den „wunderschönen Dialog“, wie er ihn in einem Brief an George nennt, in dem er Hofmannsthals „erstaunliche Begabung und Gescheitheit“ lobt.25 Dieses spontane Lob verrät einiges über Gundolf selbst, denn was George Hofmannsthal vorhält, betrifft in Teilen auch Gundolfs Persönlichkeit (vgl. Kap. 2.4). Dieser Aspekt ist ein wichtiger Hintergrund für das Verständnis der nachfolgenden Hofmannsthal-Parodien Gundolfs. Hofmannsthal ist für ihn nicht nur eine Reizfigur, weil er sich in einem Konkurrenzverhältnis zu diesem sieht, sondern auch deshalb, weil Hofmannsthal eine Projektionsfigur für Gundolfs eigene Problematik ist. Auf eine Wiedergabe von Gundolfs Sendung, die Sandra Richter gefunden und 2006 erstmals veröffentlicht hat, sei verzichtet und stattdessen auf den Textabdruck verwiesen.26 Gundolf wirft Hofmannsthal in dieser Parodie vor, dass er keine Substanz besitze, seinen Meister verlassen und so seine Inspirationsquelle verloren habe – eine Kausalkette, die ihre Plausibilität aus dem Imitatio-Modell bezieht. Der Titel Sendung ist mehrfach konnotiert. Sendung im Sinne von Fortsendung signalisiert den Akt der Verwerfung, Sendung im Sinne von Auftrag bezeichnet die gescheiterte Mission des Dichters und den Auftrag der Muse, den Inspirationsentzug. Die Muse begründet ihr Vorgehen damit, dass Hofmannsthal sein Gebet „zu Sankt George“ (XVIII) zugunsten einer Orientierung am literarischen Markt aufgegeben habe. Überdies habe er sich einen UrgeistStatus angemaßt.27 Vielleicht verbirgt sich hinter der Überschrift auch eine Anspielung auf Wilhelm Meisters theatralische Sendung. Über dessen Protagonist schreibt Gundolf, er sei ein „eindrucksfähiges, reproduktives Geschöpf (auch daher Theater)“.28 Ein solcher Charakter ist für den Kreis Hofmannsthal. Hier er25 26 27 28
George-Gundolf Briefwechsel, S. 150, vgl. auch S. 154. Pott (2006): Parodistische Praktiken. Entsprechend fragt die Muse: „Warum kommst du von reinen Gipfeln her / Und dünkst Dir Meister jenen Meister lassend […]?“ (1f.). Bock (1965): Gundolf-Briefe, Friedrich Gundolf an Gustav Roethe, Brief vom 27. August 1914, S. 141–143, hier S. 142.
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scheinen diese Eigenschaften unter negativem Vorzeichen als fehlende Ich-Stärke wie in Der Verworfene und als fehlende schöpferische Produktivität. Gundolfs Parodie nimmt in vielerlei Hinsicht auf Der Verworfene Bezug. Sendung prangert ebenso wie Georges Text Verkleidung, Spiel, Verschwendung, Orientierung am Erfolg, innere Leere und Abkehr von den „Reinen“ an. Darüber hinaus greift Gundolf einzelne Details wie z.B. das Blickmotiv auf. Während es in Der Verworfene heißt: „Beschämt und unstät blickst du vor den Reinen“,29 ersetzt die Parodie den beschämten durch den berechnenden Blick („zwinkerte ob seine Worte reizten / Der strengen Muse zweifelhafte Mienen“) und wertet damit stärker ab als George.30 Weitere literarische Prätexte für Gundolfs Parodie sind Werke Hofmannsthals. Zwei dieser intertextuellen Verweise seien herausgegriffen, weil sie zeigen, dass Gundolf für seine Kritik an Hofmannsthals Substanzlosigkeit und seinem Ausweichen vor einer Zusammenarbeit mit George auf Selbstaussagen Hofmannsthals zurückgreift und damit den Adressaten seiner Kritik mit seinen eigenen Worten schlägt. Ein erster Prätext ist Hofmannsthals Distichon Dichtkunst: Fürchterlich ist diese Kunst! Ich spinn’ aus dem Leib mir den Faden, Und dieser Faden zugleich ist auch mein Weg durch die Luft.31
Gundolf macht daraus in seiner Parodie die „Spinneweben vom Terzinengeiste“, aus denen die „Reiche“ des ausgestoßenen Dichters bestehen,32 und verbindet damit die Wertung, dass diese Reiche überlebt seien. Die Frauengestalt, die sich Hofmannsthal in der Parodie nähert, wird als „Leib von Luft“ bezeichnet, der mit „vielen Bändern“ umwickelt sei („Ihm schien sie Muse denn es war verloren / Ihr Leib von Luft in vielen Bändern“),33 was sich auf das zitierte Distichon und dessen Wortspiel mit „Leib“ und „Luft“ bezieht. Hofmannsthal bezeichnet 29 30 31
32 33
Stefan George: Der Verworfene. In: SW, V, S. 49. Pott (2006): Parodistische Praktiken, S. 67. Hugo von Hofmannsthal. Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift, Bd. 1, Gedichte 1, hg. v. Eugene Weber, Frankfurt a.M.: S. Fischer 1984, S. 86. Pott (2006): Parodistische Praktiken, S. 68. Pott (2006): Parodistische Praktiken, S. 65.
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damit lediglich den nicht-stofflichen Charakter der Sprache im Gegensatz etwa zum Material der bildenden Künstler. Gundolf dagegen verbindet mit dem Element der Luft, wie weiter unten noch deutlicher wird, den Vorwurf der Substanzlosigkeit. Die Worte „schien“ und „verloren“ sind negativ bzw. uneindeutig; auch die Tatsache, dass der Dichter die Muse nicht gleich erkennt, ist eine wertende Aussage.34 Mit dem Reimpaar „Kräfte“-„Geschäfte“ (XVIII) spielt Gundolf nicht nur auf die ökonomischen Bedingungen des Marktes, sondern auch auf Hofmannsthals in den Blättern 1896 erschienene Inschrift und deren Mahnung „Entzieh Dich nicht dem einzigen Geschäfte!“ an.35 Hofmannsthal verstoße, so die Aussage der Parodie, gegen seine eigenen Worte, indem er vor der wahren Herausforderung (George) fliehe und sich im literarischen Tagesgeschäft verliere.36 In Der Verworfene gibt es dafür keine Vorlage, wohl aber für die Aufzählung der künstlerischen Mittel („Du fandest seltne farben schellen scherben / Und warfest sie ins wirre blinde volk“).37 George verwendet darauf nur zwei Verse, bei Gundolf füllt die direkte Rede des Dichters, in der er seine Utensilien aufzählt, ganze sieben Strophen (XI– XVII). Die „farben“ des Verworfenen werden ergänzt um den „Pinsel“ (als Reimwort zu „Insel“ und „schmächtiges Gerinnsel“). Pinsel und Farben als die Mittel der Malerei bezeichnen die nur wirklichkeitsabbildende Sphäre des Theaters (Typ A negativer Mimesis), „Köcher“ und „Bolze“ (XI) spielen auf die zahlreichen ‚Pfeile im Köcher‘, auf literarische und feuilletonistische Schnellschüsse an. Hofmannsthal erscheint als ein Proteus, der je nach Bedarf Medium, Genre und Thema wechselt. Gundolf beendet seine Parodie mit dem Epigonalitätsvorwurf, indem er Hofmannsthal den „glühend späten Sohn verglühter Sonnen“38 34
35 36
37 38
Was die Bänder anbelangt, so bezieht sich Gundolf möglicherweise auf Georges Gedicht Weihe, in dem es von der Muse heißt: „Mondfarbne gazeschleier sie umschlingen“. – Stefan George: Weihe. In: SW, II, S. 10. Hofmannsthal (1984): Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 67. – Abgedruckt in: Blätter IV, S. 112. Diese Sicht wird von Borchardt und Schröder geteilt. Beide sehen in Hofmannsthals späterer Entwicklung ein Nachlassen seiner frühen schöpferischen Potenz. – Vgl. Ernst Osterkamp: Rudolf Borchardt: „An Hofmannsthal“. In: Literatur in Wissenschaft und Unterricht 17 (1984), H. 1, S. 1–19, hier S. 5. Stefan George: Der Verworfene. In: SW, V, S. 49. Pott (2006): Parodistische Praktiken, S. 69.
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nennt und ihn damit zum epigonalen Trabanten erloschener Sterne macht. Insgesamt wird Hofmannsthal gleich in dreierlei Weise aus dem Imitatio-Zusammenhang ausgeschlossen: Er ist Epigone, Proteus und Abgefallener in einer Person. Im November 1909 gewinnt im Zuge des Erscheinens des gemeinsam von Borchardt, Schröder und Hofmannsthal herausgegebenen Jahrbuchs Hesperus Gundolfs Parodie wieder an Aktualität. Hanna Wolfskehl fragt brieflich an, ob man „dies ausserordentliche Satyricum“ so lancieren könne, „dass es bis Rodaun wiederhallte“.39 Gundolf ist einverstanden, aber George legt offenbar sein Veto ein. Stattdessen verfasst Gundolf einen Essay Formen der Lüge (Umrisse), der ohne Namensnennung in vier Charakterskizzen problematische Charaktere darstellt.40 Unter der Überschrift „Der Reizsame (Der Phantastische)“ heißt es darin: Roquairol dürften wir ihn nennen nach seinem dämonischen ahn – nur ist er ein enkel und wo jener vernichtend war ist er nur verfälscher und entwerter. Im geist hat er alle erregenden lagen · alle gebärden der leidenschaft und der grösse · alle erhebenden und zermalmenden schicksale vorweggenommen · in allen schauspielen schon als kind sich gesucht · in alles sich verwandelt nur um sich selber zu entfliehen […].41
Gundolf lehnt sich eng bis zur Paraphrase an Der Verworfene an. Die Tatsache, dass dieser kurze, allgemein gehaltene Text an die Stelle der Sendung tritt, stützt die Vermutung, dass Roquairol tatsächlich als typologische Vergleichsfigur für Hofmannsthal, den „Verworfenen“, dient. Indem Gundolf nur Typen skizziert und nur eingeweihte Leser verstehen, wer getroffen werden soll, macht er sich unangreifbar. In seinem Aufsatz Das Bild Georges (1910) blickt Gundolf auf die Zeit vor dem Bruch zwischen Hofmannsthal und George zurück. Was George von den Franzosen lernte, ist handwerkliches, was Hofmannsthal von George empfing, ist die seelische substanz selbst, die ihn aus dem geschmackvollsten und reifsten epigonen Goethes – der 39 40 41
Hanna Wolfskehl an Friedrich Gundolf, Brief vom 10. November 1909. In: Gundolf-Wolfskehl Briefwechsel, Bd. 1, S. 81. Zur Tradition dieses Typus in der Charakterologie des Theophrast vgl. Richter (2008): Charakter und Figur, S. 149. Friedrich Gundolf: Formen der Lüge (Umrisse). In: Blätter IX, S. 100–104, Der Reizsame (Der Phantastische), S. 103f., hier S. 103f.
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war er noch im Gestern – zum ersten dichterischen verbreiter des neuen geistes machte.42
Gundolf verwendet an dieser Stelle einen systematisierten Epigonalitätsbegriff im Sinne des Imitatio-Modells, der die Nachahmung toter Urgeister bezeichnet. Er tut dies, um Hofmannsthals stilistische Nachahmung Goethes vor dem Eintritt in den Imitationszusammenhang von seiner späteren, mit Contagio verbundenen stilistischen Nachahmung Georges abzugrenzen. Erst die Contagio habe aus dem epigonal Imitierenden den ersten Apostel gemacht. Er unterstellt Hofmannsthal, kein Urgeist zu sein, sondern nur an Georges Substanz teilgehabt zu haben. In beiden Prosatexten führt Gundolf noch einmal die Gedanken aus, die bereits seine „ahnungsvolle Schülerarbeit“43 aus dem Jahr 1900 formuliert. Sowohl die Parodie als auch die später verfassten polemischen Essays folgen, wie gezeigt, der Logik des ImitatioModells. Dasselbe gilt für Gundolfs bisher unpublizierte Hofmannsthal-Parodie Sehr grausam ward ich da ich viele Kinder (1900), die gleichfalls poetologische und ethische Kritikpunkte mischt. Sehr grausam ward ich da ich viele Kinder Voll Rausch und manche auch mit Klugheit zeugte Im Anfang mit Bedacht, doch bald geschwinder Dass ich zu keinem mehr mich lächelnd beugte Und nur noch lachte wenn man mir sie pries Es waren ja so viele und ich äugte – Traumvater – schon nach neuem Paradies Von Zeit und Jugend frei und ohne Alter Und wo sich eine jüngste Blume wies Begierig taumelnd sinnlos wie ein Falter Und doch ganz wissend, sieben Tage lang Dem Kaiser gleich doch vielmals wohlgestalter Und ohne jene Hexe die ich sang. All dies ist auch schon tot und ich verneine Was ihr mir stört. Denn was war jener Drang? 42 43
Gundolf (1910): Das Bild Georges, S. 34. So bezeichnet Gundolf die Sendung in einem Brief an Karl Wolfskehl vom 11. November 1909. – Gundolf-Wolfskehl Briefwechsel, Bd. 2, S. 83.
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Nur ein ganz leichtes bleibt und dieses eine Nennt ihr verkrüppelt, wie kein andres Kind Und sagt es hätte minder grade Beine Und schlimmen Blick und auf dem Haupte Grind Das ich doch liebe krumm und auch mit Schorf Und blieb von allen die mir Kinder sind Die Liebe nur zum Kind aus Günselsdorf.44
Auch diese Parodie ist ein Terzinengedicht. Anders als in Sendung wird Hofmannsthals Abfall nicht direkt, sondern nur indirekt durch den Verweis auf die danach (in den Augen des Kreises) qualitativ gesunkene Produktion thematisiert. Während Sendung die entzogene Dichterweihe im Dialog des Dichters mit der Muse entfaltet, handelt es sich bei Sehr grausam ward ich da ich viele Kinder um einen inneren Monolog. Das SprecherIch ist Hofmannsthal selbst, der über seine vielen „Kinder“ nachdenkt. Er habe so viele gezeugt, dass sie ihm gleichgültig geworden seien. Wenigstens spricht Gundolf Hofmannsthal die poetische Zeugungsfähigkeit nicht grundsätzlich ab. Indem er den Dichter sagen lässt, dass seine früheren „Kinder“ aus einer Mischung von Rausch und Klugheit (I) bzw. Taumel und Wissen gezeugt worden seien (IV), impliziert er, dass in Hofmannsthals Frühwerk noch ein ausgewogenes Verhältnis von Intuition und Bewusstheit geherrscht habe. Dieses habe sich danach verschoben: „Begierig taumelnd sinnlos“ und nicht mehr kontrolliert und zielgerichtet sei sein Schaffen geworden. Dies ist bis in die Wortwahl identisch mit Georges Kritik.45 Hofmannsthal habe die für George zentrale Forderung nach „auswahl und zucht“46 nicht erfüllt und seinen Samen wahllos verschwendet. Mit den Zeilen „sieben Tage lang / Dem Kaiser gleich […] / Und ohne jene Hexe die ich sang“ spielt Gundolf auf das lyrische Drama Der Kaiser und die Hexe an, in welchem der Kaiser sieben Jahre dem sinnlichen Bann der Hexe verfällt und erst durch siebentägige Enthaltsamkeit den Zauber bricht. Aus die44 45 46
Parodie [auf] H[ugo] v[on] H[ofmannsthal] II, GA, W 7. Vgl. Stefan George: Der Verworfene, II,3. In: SW, V, S. 49. George-Hofmannsthal Briefwechsel, S. 158.
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ser Dichtung nimmt er auch den Vergleich zwischen unreflektierten Taten mit Kindern.47 Der Kaiser und die Hexe (geschrieben 1897) erscheint im Januar-Heft der Insel, dann in einer eigenen Luxusausgabe mit Titelzeichnung und Vorsatz von Heinrich Vogeler im August 1900.48 Wolfskehl bezeichnet den Text gegenüber Gundolf als schlecht, woran auch die Prachtausgabe mit derselben Drucktype, in der der Teppich erschienen ist, nichts ändere: Hugos des Nochsozarten oder dass das Leben Hexenkaiserei, ist jezt im lange verheissenen Prunkwerke auf dem Plan erschienen. der Versuch schlechten büchern durch gute Lettern – es sind Otto v. Holtens heilige teppichschriften – aufzuhelfen […] ist nicht zu tadeln, nur dass er misslungen ist. denn den Versen ist mit keinem Papier und keinem Zeichen beizukommen.49
Am Schluss des Gedichts deutet Gundolf an, dass Hofmannsthal zuletzt nur eine poetische Missgeburt zustande gebracht habe. Außen- und Innenwahrnehmung widersprechen einander: Zu seinem frühen Schaffen, das von außen gelobt wird, hat das Sprecher-Ich keine innere Beziehung mehr, zu seinem jüngsten „Kind aus Günselsdorf“ dagegen, dessen Gestalt bei Außenstehenden blankes Entsetzen hervorruft, empfindet er Liebe. Das Motiv des Hexenkindes (krumm gewachsen, mit Grind auf dem Kopf und mit bösem Blick) spielt auf Der Kaiser und die Hexe an, mehr noch auf Hofmannsthals lyrische Szene Was die Braut geträumt hat. Ein Gelegenheitsgedicht.50 Die Protagonisten sind neben der Braut drei Kinder: „Erstes Kind: Amor, Zweites Kind: Mizi, Drittes Kind: Ein Kind aus Günselsdorf“.51 Sowohl das 47
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Vgl. Hugo von Hofmannsthal: Der Kaiser und die Hexe. In: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe, Veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift, Bd. 3, Dramen I, Kleine Dramen, hg. v. Götz Eberhard Hübner, Klaus-Gerhard Pott und Christoph Michel, Frankfurt a.M.: S. Fischer 1982, S. 177–208, S. 678–720 (Erläuterungen), S. 197. Vgl. Hofmannsthal (1982): Sämtliche Werke, Bd. 3, Erläuterungen, S. 681. Gundolf-Wolfskehl Briefwechsel, Bd. I, S. 84. Hugo von Hofmannsthal: Was die Braut geträumt hat. Ein Gelegenheitsgedicht von Hugo von Hofmannsthal. In: Über Land und Meer. Deutsche Illustrierte Zeitung, 42 (Januar 1900), S. 224–226. Vgl. Hugo von Hofmannsthal: Was die Braut geträumt hat. In: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe, Veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift, Bd. 3, Dramen I, Kleine Dramen, hg. v. Götz Eberhard Hübner, Klaus-Gerhard Pott und Christoph Michel, Frankfurt a.M.: S. Fischer 1982, S. 81–91 und S. 495–503 (Erläuterungen).
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Motiv der vielen Kinder als auch die unfreiwillige Komik des Namens Günselsdorf, ein Vorort von Wien, macht Gundolf sich für seine Parodie zunutze. Hofmannsthal selbst hat sich später von diesem Gelegenheitswerk distanziert und es nicht in die Auswahlausgabe Die Gedichte und Kleinen Dramen (1911) aufgenommen.52 Diese Zurückhaltung setzt sich nach Hofmannsthals Tod bei seinen Erben fort. Stefan Zweig erwirbt das Autograph und bietet es 1930 Katharina Kippenberg für den Insel-Almanach an.53 Sie bezeichnet es in ihrem Schreiben an Gerty von Hofmannsthal mit der Bitte um Abdruckgenehmigung als „eine kleine, sehr zarte und anmutige Dichtung“,54 doch die Witwe antwortet abschlägig, sie wolle „im Einvernehmen mit meinen Kindern keinesfalls den Wiederabdruck […] autorisieren, da sie uns dafür aus vielerlei persönlichen und sachlichen Gründen nicht geeignet scheint.“55 Was die Braut geträumt hat verfasst Hofmannsthal für eine Soirée im Haus des Wiener Industriellen Marcus Moritz Benedict, mit dessen Tochter Minnie er seit dem Herbst 1895 eine intensive Beziehung führt und sich zeitweise mit Heiratsabsichten trägt. Bei der Aufführung ist Hofmannsthals spätere Frau Gerty Schlesinger anwesend.56 Was genau die sachlichen und vor allem die persönlichen Gründe sein mögen, bleibt ungesagt, aber Gundolfs Anspielungen zielen vermutlich nicht nur auf poetische Schwächen, sondern auch auf amouröse Verstrickungen. Sprachliche Reminiszenzen zwischen Was die Braut geträumt hat und Der Kaiser und die Hexe könnten ihn motiviert haben, beide Stücke zur Zielscheibe seiner Parodie zu
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Hugo von Hofmannsthal: Die Gedichte und kleinen Dramen, Leipzig: Insel 1911. – Vgl. Hofmannsthal (1982): Sämtliche Werke, Bd. 3, Erläuterungen, S. 497 und S. 502. Er nennt das Stück zwar „nicht hochwertig“, erkennt darin aber den Zauber eines Jugendwerks. – Stefan Zweig an Katharina Kippenberg, Brief vom 5. Mai 1930 (IA). Katharina Kippenberg an Gerty von Hofmannsthal, Brief vom 26. Mai 1930 (IA). Gerty von Hofmannsthal an Katharina Kippenberg, Brief vom 3. Juni 1930 (IA). Vgl. Hofmannsthal (1982): Sämtliche Werke, Bd. 3, Erläuterungen, S. 496 und S. 501.
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machen.57 Beide entstehen in einer Zeit der Unproduktivität und einer damit einhergehenden Schaffenskrise Hofmannsthals, welcher Der Kaiser und die Hexe als Reflexion dieser Krise betrachtet hat.58 Formal lehnt sich Gundolf in beiden Parodien an Hofmannsthals Terzinengedichte an. Welche Funktion hat die Wahl dieser Form? Hat sie bloßen Signalcharakter, indem sie auf den parodierten Autor hinweist, oder äußert Gundolf schon auf einer strukturalen Ebene Kritik? Wenn Gundolf in Sehr grausam ward ich da ich viele Kinder Hofmannsthal sprechen lässt, er habe seine Kinder zuerst „mit Bedacht“, dann aber immer „geschwinder“ gezeugt, und wenn das SprecherIch am Ende von Sendung Hofmannsthals poetische Landschaften als „Reiche“ aus „Spinneweben vom Terzinengeiste“59 beschreibt, so kommt darin ein grundsätzlicher Vorbehalt zum Ausdruck. Ganze Reiche aus Terzinen zu spinnen zeugt von einer poetischen Überproduktivität, wie ihn auch die zweite Parodie mit der Überzahl von Kindern zum Ausdruck bringt. Die offene Form der Terzine erlaubt eine poetische ‚Weitschweifigkeit‘, wie sie die von George bevorzugten Strophenformen nicht zulassen. In Gundolfs Sendung verliert das fingierte Herausgeber-Ich am Ende selbst den Überblick über die Anzahl der vorangegangenen Terzinen. Die strophenübergreifende Reimverkettung der Terzine erweckt den Eindruck des Fließenden und lässt sich mit Hofmannsthals in Sendung kritisiertem zu weichem Charakter in Beziehung setzen. Auch die vielen Und-Konjunktionen, die Hofmannsthal in beiden Texten in direkter Rede in den Mund gelegt werden, entsprechen einerseits dem polysyndetischen Stil der Wiener Schule und haben daher einen gewissen Wiedererkennungseffekt, illustrieren
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Vgl. zu den sprachlichen Übereinstimmungen Hofmannsthal (1982): Sämtliche Werke, Bd. 3, Erläuterungen, S. 485. – Es sind ferner zwei Texte, in denen die mann-weibliche Sexualität im Zentrum steht. Vgl. Hofmannsthal (1982): Sämtliche Werke, Bd. 3, Erläuterungen, S. 705. – Hofmannsthal sieht den Fehltritt des Kaisers nicht im Erotischen, sondern in einem Zu-Viel am Reden. Er nimmt dies als Bild für den Verstoß gegen die Wortmagie, welches sich beim Übergang vom Zustand der Präexistenz in den Zustand des Sozialen vollzieht. Pott (2006): Parodistische Praktiken, S. 68.
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andererseits aber auch die von George abgelehnte „weichtierhafte eindrucksfähigkeit“.60 Ethische und poetologische Kritik verbindet Gundolf mit Stilkritik gemäß der Anschauung des Imitatio-Modells, dass all diese Bereiche miteinander verbunden seien und dass es keine wahre Kunst ohne Ethos gebe. Schon in Hofmannsthals früher, gültiger Lyrik sieht Gundolf demnach den Keim zu dessen späterer Fehlentwicklung angelegt. Damit wäre er grundsätzlicher in seiner Ablehnung als andere Kreisangehörige61 – und gleichzeitig träfe der Vorwurf der Leichtigkeit im Produzieren auch das „leicht[e] Reimspiel“ des Parodisten selbst.62
4.2 Kritik am epigonalen Dichter Gundolfs Parodien auf José Maria De Hérédia, insgesamt sieben Sonette,63 verspotten Elisabeth Salomons Aufzeichnungen zufolge ihre Schwäche für diesen Dichter.64 Auch sie können, wie schon die Hofmannsthal-Parodien, als partielle Selbstkritik interpretiert werden. Wie der gesamte Titel Maskenzug. Satyrische Sonette. Aus Wollust, Wortkunst, Wette: Dass Reiz, Rutine, Requisit Dem Reimross regt romantischen Ritt andeutet, will Gundolf die „Rutine“ in Hérédias’ „Wortkunst“ entlarven. Die Gattungsbezeichnung „Satyrische Sonette“ bezieht sich sowohl auf den satirischen als auch auf den ‚satyrischen‘ Gehalt der Sonette, auf welchen letzteren der „Reiz“ und die „Wollust“ des Untertitels anspielen. Die Gedichte parodieren Hérédia zwar in kritischer Absicht, tun dies aber im Rahmen eines Spiels, und zwar, wie der Titel vermuten lässt, als Einlösung einer „Wette“. Am 8. Juni 1916 schreibt Gundolf an Elisabeth Salomon, er werde ihr demnächst das siebte Sonett schicken, welches sie nach Erhalt
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George-Hofmannsthal Briefwechsel, S. 159. Salin berichtet, dass im Kreis auch später noch Hofmannsthals frühe Lyrik gelesen worden sei. – Vgl. Salin (21954): Um Stefan George, S. 115. Salin (21954): Um Stefan George, S. 69. Abdruck bei Pott (2006): Parodistische Praktiken. Vgl. die Erläuterung im kommentierten Nachlassverzeichnis: „als Spott für Ellis Vorliebe für ihn [= Hérédia].“ – Elisabeth Salomon: Gundolf. Ungedruckte Schriften. Bibliographie, DLA (A:Klibansky KXXII).
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verbrennen möge.65 Neun Tage später schreibt er abermals: „Zum Heredius Hereditarius hab ich wie ich schon schrieb noch einen sehr heiklen Nachtrag, den ich dir in Heidelberg ans Herz legen werde.“66 Die Sonette skizzieren phantasievoll in historischer Einkleidung verschiedene Spielarten der Verführung, weshalb Gundolf den Inhalt nicht der Post anvertrauen möchte. Tatsächlich stechen aus den insgesamt sieben Sonetten die Nummern sechs und sieben durch ihren erotischen Inhalt hervor. Nur sie sind, wie weiter unten noch auszuführen sein wird, an Elisabeth Salomon gerichtet, da die Entstehungszeit der vorigen in die Zeit vor ihrer Bekanntschaft fällt. „Heredius Hereditarius“ als pars pro toto für den gesamten Zyklus zitiert die Überschrift des ersten Sonetts. Die Bezeichnung ist aus dem Namen Hérédia generiert und heißt frei übersetzt etwa soviel wie ‚Erbdichter‘. Mit dieser Namensetymologie bewertet Gundolf dessen Lyrik als epigonal. Auch der offizielle Titel Maskenzug passt zur Epigonalitätsthematik, weil er die Verfügbarkeit unterschiedlicher Zeiten und Stile suggeriert. In den Eingangsversen des Zyklus spricht der Poeta hereditarius: „Durch mich hindurch ziehn alle · und entleert / Des eignen willens bin ich was sie waren“. Der Dichter hat keine Substanz und wird deshalb zum Sprachrohr fremder Gefühle. Der Titel ist der Erotik dieser Texte angemessen, weil die Maskierung im Karneval die erotische Annäherung der Paare erleichtert. Es gibt in diesen Gedichten also erstens einen erotischen Subtext, zweitens einen parodistischen Subtext, nämlich Kritik an einer enthusiastischen Hérédia-Rezeption, und drittens einen ernsten poetologischen Gehalt, der speziell in den ersten fünf Gedichten präsent ist und der über den parodistischen Effekt hinaus die Epigonalitätsproblematik berührt. Diese ersten fünf Texte entstehen bereits im Fasching des Jahres 1910, wie aus einem Schreiben Gundolfs an Wiesi de Haan hervorgeht. Ihr schickt er die fünf Sonette und nennt sie im Begleitschreiben eine 65
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„Zu dem Maskenzug schick ich Dir demnächst noch ein siebentes als Ergänzung, das du aber (als Belohnung für die Erfüllung Deines Wunsches) verbrennen magst.“ – Friedrich Gundolf an Elisabeth Salomon, Brief vom 8. Juni 1916 (DLA). Friedrich Gundolf an Elisabeth Salomon, Brief vom 17. Juni 1916 (DLA).
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„ernste Frucht“ des Faschingstreibens.67 Die ernsthafte Dimension erhellt sich, wenn man dem Zyklus eine Passage aus Gundolfs George gegenüberstellt. Die Verwechslung von erstarrten Buchstaben und flutendem Geist, der Kult der alten Formen, das ist die spätere, populäre ‚Romantik‘. Der Historismus, der nur Vergangenes sieht, das Epigonentum, das nur Vergangenes treibt, sind ihre Erben, ohne ihre Höhe und ihr Feuer, mehr und mehr dem toten Stoff verfallend und den leeren Formen. Altertum, Mittelalter, Renaissance oder Rokoko – einst die verschiedenen Inkarnationen, die werdenden und ‚entwerdenden‘ Leiber des wandelnden Geschichts=all=gottes – kehren als gespenstische Larven zurück, und ihre abgetragenen Kleider werden neckische Prunkkostüme für den Karneval der Schöngeisterei […].68
Diese Passage wirkt wie eine Paraphrase dessen, wovon seine Sonette implizit handeln: Als „gespenstische Larven“ kehren in den verschiedenen Liebespaaren die früher einmal lebendigen Formen zurück. Der ‚Erbdichter‘ verwendet den toten Stoff und die leeren Formen, weil ihm der Zugang zur Substanz verschlossen ist. An diesem Punkt muss Gundolf sich angesprochen fühlen. Wie die Überschrift der Sonette besagt, fällt es ihm leicht, in diesem Stil zu dichten, denn er spricht von „Rutine“, mit der er sein „Reimross“ zum „romantischen Ritt“ aufzäume. Sein routiniertes Schreiben in den Stilen anderer nährt den Verdacht, dass er ohne Contagio keine Substanz hätte. Die „ernste“,69 ja tragische Konsequenz lautet, dass Gundolf sich zwar im Spiel einen poetischen Freiraum außerhalb des Imitatio-Zusammenhangs erobert, aber in dieser Freiheit den eigenen Substanzverlust sieht.
4.3 Kritik am falschen Urgeist Rudolf Alexander Schröder (1887–1962) wird zur Zielscheibe einer umfangreichen Sammlung satirischer Epigramme, in denen Gundolf und Wolfskehl seine Person und sein literarisches Schaffen sowie seine Tätigkeit als Innenarchitekt verspotten 67 68 69
Friedrich Gundolf: Maskenzug, STGA, F. Gundolf II, 3166. Beilage in: Friedrich Gundolf an Wiesi de Haan, Brief vom 8. Februar 1910 (STGA). Gundolf (31930): George, S. 5f. Friedrich Gundolf an Wiesi de Haan, Brief vom 8. Februar 1910 (STGA).
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(erstmals ediert und erläutert im Bild- und Textanhang). Neben persönlichen Angriffen berühren ihre zahlreichen poetologischen Kritikpunkte die schon bekannten Themenkreise der Epigonalität, des Eklektizismus und des Proteismus und kreisen vor allem um den Vorwurf, dass Schröder sich den Status eines Urgeists anmaße. Hinzu kommen zahlreiche Anspielungen auf Schröders Sexualität. Dem vorausgegangen ist Schröders Besprechung des dritten Auslesebands der Blätter im Oktoberheft der Süddeutschen Monatshefte 1909, in welcher er seinerseits einen Verriss mit Hinweisen auf Georges Homosexualität verbindet.70 Die Süddeutschen Monatshefte werden ebenso wie die Insel von Schröders reichem Cousin Alfred Walter Heymel finanziell unterstützt und setzen sich aktiv für seine Dichtungen ein.71 Josef Hofmiller, Mitbegründer und Herausgeber der Zeitschrift, publiziert im Juliheft 1909 einen panegyrischen Aufsatz über Schröder, in welchem er Schröder als „antikem Wesen und antiker Dichtung [näher] als irgend ein Heutiger“ bezeichnet. Hofmillers lobend hervorgehobene „Scheu vor allem Gewaltsamen und gleichsam Rezitativischen im Ausdruck der Empfindung“ richtet sich vermutlich implizit gegen George.72 Schröder, der sich in einem Schreiben an Hofmiller für die „unverdient gütige Anerkennung und Ermunterung einer bis dato quasi unter dem Ausschluss der Oeffentlichkeit sich vollziehenden Produktion“ bedankt, nennt im selben Brief die Produktion des George-Kreises die „kümmerliche Karikatur“ eines „unfruchtbaren Praeraffaelitismus“.73 Hofmiller ist es auch, der Schröder bereits im April 1908 auffordert, einen „orientierenden Aufsatz über Stefan Georges bisheriges Gesamtschaffen für uns zu schreiben“.74 Zwischen dieser Aufforderung und dem Erscheinen der Besprechung liegen Borchardts Rezension Stefan Georges „Siebenter Ring“ 70 71 72 73 74
Rudolf Alexander Schröder: Blätter für die Kunst. Eine Auslese aus den Jahren 1904–1909. In: Süddeutsche Monatshefte 10 (1909), H. 6, S. 439–449. Veröffentlicht wird sogar ein Werkverzeichnis, um seine Bekanntheit zu steigern. – Vgl. Süddeutsche Monatshefte 12 (1911), H. 5, S. 547f. Josef Hofmiller: Schröder. In: Süddeutsche Monatshefte 10 (1909), H. 7, S. 93–105, hier S. 97. Rudolf Alexander Schröder an Josef Hofmiller, Brief vom 22. Juni 1909 (DLA). Josef Hofmiller an Rudolf Alexander Schröder, Brief vom 29. April 1908 (DLA).
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im Hesperus (1909)75 und Gundolfs Antwort in den Preußischen Jahrbüchern.76 Vor diesem Hintergrund gerät der eigentlich als Einführung geplante Aufsatz zur polemischen Abrechnung. Besonders vehement ist Schröders Reaktion auf Georges Gedicht Goethes lezte Nacht in Italien, das auf den Goethe-Verehrer Schröder geradezu blasphemisch wirkt. Ähnlich wie Borchardts Intermezzo (vgl. Kap. 5.3) suggeriert sein Aufsatz, dass die Homosexualität das Entscheidende sei im Kreis. Schröder schreibt: Wir würden geschwiegen haben, wenn nicht die neueste Veröffentlichung Georges mit Händen, die rein zu nennen wir nicht mehr vermögen, ein Heiligtum antastete, dessen Sauberhaltung eine Angelegenheit der deutschen Nation ist.77
Das Nationalheiligtum, an dem George sich vergreift, ist Goethe, und beschmutzt wird dieses Heiligtum durch das Thema der Homoerotik, das im männlichen Freundespaar des Gedichts angedeutet wird. Diesen „nicht sehr sauberen Gegenstand“78 unterstreicht Schröder durch die Bezugnahme auf Maximin und den Siebenten Ring. Borchardts Intermezzo, das wenige Monate später in den Süddeutschen Monatsheften vom November 1910 erscheint,79 wird in seinen Anschuldigungen so deutlich werden, dass es zu zahlreichen Abonnementskündigungen führt.80 Die öffentliche Resonanz auf Schröders Text bleibt dagegen gering, was Hofmiller bedauernd damit begründet, dass Schröder zu unbekannt sei.81 75 76 77 78 79
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Rudolf Borchardt: Stefan Georges ‚Siebenter Ring‘. In: Prosa I, hg. v. Gerhard Schuster, Stuttgart: Klett-Cotta 2002, S. 68–104. Friedrich Gundolf: Rezension von Martin Buber ‚Die Legende des BaalSchem‘. In: Preußische Jahrbücher 31 (Juli-September 1908), S. 149–151. Schröder (1909): Blätter für die Kunst, S. 439. Schröder (1909): Blätter für die Kunst, S. 443. Borchardt (2002): Intermezzo, S. 105–138. – Vgl. Kai Kauffmann: Stilmuster. Rudolf Borchardt und Rudolf Alexander Schröder, die ‚Insel‘-Zeitschrift und das ‚Hesperus‘-Jahrbuch. In: Jugendstil und Kulturkritik. Zur Literatur und Kunst um 1900, hg. v. Andreas Beyer und Dieter Burdorf, Heidelberg: Winter 1999, S. 195–212, hier S. 210. Vgl. Gerhard Schuster (Hg.): Lord und Bettler. Unbekannte Texte von Rudolf Borchardt zum 125. Geburtstag. In: Akzente 2 (2002), S. 97–192, hier S. 153 [= Einleitung zu Borchardts Erklärung, der Vorstufe zum Intermezzo]. „Aber wenn ich sehe, wie unbekannt diese Werke sind, wenn ich mir überlege wie ganz anders indes Ihre Kritik jenes Georgeschen Gedichtes aufgenommen hätte werden müssen, hätten die Leute nur eine Ahnung gehabt wer Sie eigent-
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Der Kreis nimmt zu Schröders Tabubruch jedoch umgehend Stellung; nicht zuletzt, weil ausgelebte Homosexualität zu der Zeit ein Straftatbestand ist (§175 Strafgesetzbuch). Er reagiert mit einer Gegendarstellung in den Süddeutschen Monatsheften im Februar 1910 durch Albert Heinrich Rausch. Rausch, der unter dem Pseudonym Henry Benrath veröffentlicht, ist in seiner Lyrik stark von George beeinflusst und wird in den 1920er Jahren als Verfasser homoerotischer Novellen und Erzählungen hervortreten. Bezeichnenderweise ist bei Rausch viel vom „reine[n] Zutrauen“, das Georges „tief-sittliche Erscheinung“ bei allen Menschen wecke, und vom „reine[n] Klang“ seines Namens die Rede.82 Damit verteidigt Rausch den George-Kreis gegen die Vorwürfe, die, ausgelöst durch den Siebenten Ring, im Raum stehen, und gegen Schröders öffentliche Einlassung. Eine bisher unbekannte Reaktion auf Schröders Aufsatz sind Gundolfs und Wolfskehls Xenien Ein und funfzig auf den ARSCH.83 Sie stehen in der Tradition einer auf Martial zurückgehenden Epigrammdichtung und weisen wegen der gemeinsamen Xenienproduktion von Goethe und Schiller dazu in die Weimarer Klassik.84 Ein Witz liegt darin, dass sie Schröders Nationalheiligen Goethe dort imitieren, wo er nicht klassisch (und nicht besonders sauber) ist. Unter formalen Gesichtspunkten handelt es sich eigentlich nicht um Xenien, da sie nicht in Distichen geschrieben sind. Inhaltlich lässt sich diese Bezeichnung aber durchaus rechtfertigen. Eine Art Vorstufe zu den Xenien
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lich sind.“ – Josef Hofmiller an Rudolf Alexander Schröder, Brief vom 23. Juli 1910 (DLA). Albert H. Rausch: Stefan George. In: Süddeutsche Monatshefte 11 (1910), H. 2, S. 295f. Friedrich Gundolf und Karl Wolfskehl: Ein und funfzig auf den ARSCH, DLA (A:Wolfskehl, Slg. Salin). Von der Verfasserin erstmals vorgestellt auf der Vierten Hombroicher Forschungsklausur über Rudolf Borchardt, 28. September – 1. Oktober 2006. – Salin berichtet in seinem Erinnerungsbuch von einer Zusammenarbeit Wolfskehls mit dem Hölderlin-Forscher Norbert von Hellingrath. In Wolfskehls Nachlass befinde sich eine „höchst amüsante Schüttelreim-Parodie, die er mit Wolfskehl zusammen gegen Rudolf Alexander Schröder verfasst“ habe. Dieser Text ist nicht auffindbar, möglicherweise liegt bei Salin eine Verwechslung vor. – Salin (21954): Um Stefan George, S. 321 Anm. 114/2. Vgl. Frieder von Ammon: Ungastliche Gaben. Die „Xenien“ Goethes und Schillers und ihre literarische Rezeption von 1796 bis in die Gegenwart, Tübingen: Niemeyer 2005.
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bildet ein Blatt mit insgesamt vier satirischen Epigrammen auf Insel-Autoren, das Wolfskehl am 31. Januar 1903 an Gundolf nach Berlin schickt. An dritter Position befindet sich die Urfassung der ersten Schröder-Xenie: Alex. Rud. Schr. Ja dich entschuldigen deine Initialen Das Beste was der AX tut ist nicht malen.85
Die zum Schmähwort permutierten Namensinitialen erscheinen in griechischen Buchstaben. Schon vor seiner Besprechung in den Süddeutschen Monatsheften ist Schröder für Gundolf und Wolfskehl ein rotes Tuch. Seine kritische Rezension des von George und Wolfskehl herausgegebenen Bandes Jean Paul. Ein Stundenbuch für seine Verehrer86 im ersten Jahrgang der Insel (1900)87 trifft den Kreis empfindlich,88 aber eine von Gundolf geplante Replik wird auf Intervention Georges hin zurückgehalten.89 Der Spottname „ARSch“ für Schröder entsteht zu jener Zeit.90 Die Xenie von 1903 leitet sechs Jahre später in leicht veränderter Form die Folge ein. Als Überschrift fungiert das lateinische Sprichwort „Cacatum non est pictum“ („hingeschissen ist nicht gemalt“), das sich auf Schröders Tätigkeit als Maler und Raumgestalter bezieht.91
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Kopien zur Edition des Briefwechsels Gundolf-Wolfskehl, DLA (D:Wolfskehl 2). Die anderen Überschriften lauten: „Verfallene Romantik“, „Der Alchimist“ und „A.W.H.“ und beziehen sich möglicherweise auf die Neuromantiker und Franz Blei sowie sicher auf Alfred Walter Heymel. Stefan George und Karl Wolfskehl (Hg.): Deutsche Dichtung, Bd. 1, Jean Paul. Ein Stundenbuch für seine Verehrer, Berlin: Bondi 1900, erste öffentliche Ausgabe 1903; Neuausgabe von Ute Oelmann (Hg.): Deutsche Dichtung, hg. v. Stefan George und Karl Wolfskehl, 3 Bde., Stuttgart: Klett-Cotta 1989, 1991, 1995, Bd. 1. Rudolf Alexander Schröder: Jean Paul, Ein Stundenbuch für seine Verehrer [Rez.]. In: Insel 1 (1900), H. 4, S. 244–250. Vgl. Kolk (1998): Literarische Gruppenbildung, S. 297. Gundolf-Wolfskehl Briefwechsel, Bd. 1, S. 282f. Anm. 397. Erster Nachweis: Karl Wolfskehl an Friedrich Gundolf, Brief vom 17. Oktober 1901. – Vgl. Gundolf-Wolfskehl Briefwechsel, Bd. 1, S. 135. 1899 absolviert Schröder mit der Einrichtung des Münchner Wohnhauses von Heymel seine erste innenarchitektonische Arbeit, die ihm viel Anerkennung einbringt. – Vgl. Reinhard Tgahrt und Werner Volke (Hg.): Rudolf Borchardt, Alfred Walter Heymel, Rudolf Alexander Schröder. Eine Ausstellung des Deut-
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Cacatum non est pictum. Ja dich entschuldigen deine initialen Das beste was der ARSCH kann ist nicht malen.
Gundolf und Wolfskehl mischen poetologische Kritik mit drastischen Angriffen ad personam, tun es aber in einem Genre, das diese Lizenz erteilt. Überschreitungen der Regel, dass Satire nicht persönlich werden dürfe, sondern nur allgemeines Fehlverhalten zu ahnden habe, sind in der Gattungstradition vorgeprägt.92 Dennoch machen ihre Verfasser die Texte nicht öffentlich, sondern nutzen sie primär als Ventil. In ähnlicher Weise verfasst Wolfskehl, nachdem es zum Bruch mit Ludwig Klages gekommen ist, Xenien auf die Kosmiker,93 schicken sich Schröder und Borchardt gegenseitig Spottverse über die „Georginen“.94 Zeitweilig verfolgt Borchardt zwar den Plan, dem gemeinsam mit Hofmannsthal und Schröder herausgegebenen Jahrbuch Hesperus Xenien beizugeben, muss diesen Gedanken aber fallen lassen.95 Die Xenien gegen Schröder stehen auf sechs Einzelblättern im Oktavformat. Sie tragen, obwohl in Reinschrift, zahlreiche Spuren redaktioneller Bearbeitung: Nachbesserungen, Strei-
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schen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach am Neckar (Marbacher Katalog 29), Stuttgart: Klett 1978, S. 93–100. Vgl. Franz Schwarzbauer: Die Xenien. Studien zur Vorgeschichte der Weimarer Klassik (Germanistische Abhandlungen 72), Stuttgart und Weimar: Metzler 1992, S. 201f. Vgl. Sang aus dem Satyrspiel aus dem Nachlass Wolfskehl, DLA (A:Wolfskehl) mit handschriftlichen Erläuterungen. „Was die Georginen anbetrifft, so haben sie eine Zeit lang meinen kostbaren Schlaf beeinträchtigt. Jetzt habe ich ein paar Verslein auf sie gemacht, die ich Ihnen einschicke. Es ist der Einfall eines Abends, also verlangen Sie nicht zuviel.“ In einem Folgebrief nennt Schröder seine „‚Georgika‘ […] törichte Scherze“. – Rudolf Alexander Schröder an Rudolf Borchardt, Briefe vom 25. April 1910 und vom 2. Mai 1910. In: Rudolf Borchardt, Rudolf Alexander Schröder: Briefwechsel 1901–1918. Text, bearbeitet von Elisabetta Abbondanza (Edition Tenschert bei Hanser 8), München: Hanser 2001, S. 298 und 300. „Xenien? Sie wissen nicht, wie viele ich daliegen habe. Neulich machte ich Schroeder […] einen solchen Vorschlag für seinen und unsern Hesperus, halb schertzhaft. […] Ich fürchte nur, diese lieben Menschen werden es mit niemandem verderben wollen; in der gentle art of making enemies bleibe ich einsam. – Rudolf Borchardt an Anton Kippenberg, Brief vom 17. Oktober 1907. In: Rudolf Borchardt: Briefe 1907–1913. Text, bearbeitet von Gerhard Schuster (Edition Tenschert bei Hanser 3), München: Hanser 1995, S. 140.
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chungen und Zusammenfassungen in Gruppen. Diese Änderungen sind alle von Wolfskehls Hand, während Gundolf der Schreiber der Xenien ist. Die Redaktionsspuren im Manuskript könnten ein Indiz dafür sein, dass an eine Verbreitung gedacht wurde; zumindest zeigen sie, dass intensiv an den Versen gearbeitet worden ist. Die Permutation von Rudolf Alexander Schröders Initialen zu ARSCH gibt das Thema der Variationen vor. Kritisiert werden im Wesentlichen vier Aspekte: Schröder als Person, seine Werke und Übertragungen, seine Kritik an George und allgemein sein Dichtungsverständnis. Auf Schröders Rezension in den Süddeutschen Monatsheften spielen viele der Xenien an: Die Nummern 3, 13, 17, 24, 26, 28, 29, 31, 32, 33, 36 und 39 bis 42 greifen wörtlich einzelne Passagen seiner Besprechung auf. Eine Entstehung der Texte zeitnah am Erscheinen des Artikels ist wahrscheinlich. Den zeitlichen Rahmen Ende 1909/Anfang 1910 sprengt einzig eine in Wolfskehls Hand nachträglich an den Rand geschriebene Xenie mit der Überschrift „Bremer BeiTröge“, die sich vermutlich auf die Gründung der Bremer Presse bezieht. Die Xenien lassen sich in folgende Gruppen zusammenfassen: 1–4 5–6 7–15 16 17–21 22–26 27–29 30–34, 36 35, 37–43 44–49 50–53
Anagrammatische Buchstabenvertauschung (1–3: Schröders Produktion allgemein, 4: Hesperus) Homosexualität, Hesperus Schröders Produktion allgemein Homosexualität Schröders Werk allgemein Schröders Bearbeitungen und Übersetzungen Schröders Lyrik Schröders Sehergestus Schröders George-Rezension Schröders Anhängerschaft Fazit
Alle drei Untergruppen poetologischer Lyrik werden abgedeckt: Produktion, Rezeption und dichterisches Selbstverständnis.96 Insgesamt handelt es sich um 54 Xenien, wobei Streichungen und andere Markierungen im Manuskript nahelegen, dass eine 96
Vgl. Pott (2004): Poetiken, S. 14.
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abschließende Auswahl vorgenommen werden sollte, um letztlich auf die im Titel genannte Zahl 51 zu kommen. Als Proömium fungiert die schon bekannte Xenie von 1903. Die anschließenden drei Xenien schöpfen verschiedene Möglichkeiten aus, die sich aus den anagrammatischen Buchstabenvertauschungen ergeben, und folgen damit einer schon in der mittelalterlichen Gelegenheitsdichtung beliebten Form der Namensexplikation.97 Die zweite Xenie R.....A........SCH..... spielt auf Schröders Produktivität an, die selbst Schröders Freunden zeitweise bedenklich vorkommt.98 Die dritte Überschrift wiederholt den Vorwurf des vorangegangenen Zweizeilers. Semper idem, „immer das Gleiche“, bezieht sich einerseits auf die Buchstabenvertauschungen, die immer zum gleichen Ergebnis führen, anderseits auf Schröders Werke. Außerdem findet sich hier („Wenn schon verdreht […]“) ein erster wörtlicher Bezug auf Schröders Kritik in den Süddeutschen Monatsheften, weil er von „eigenwillig Verdrehten [sic] Stellen“ in Georges Shakespeare-Übertragungen spricht (vgl. den Kommentar im Bild- und Textanhang). Die vierte Xenie, Das Trio, bezieht sich auf die gemeinsame Herausgeberschaft des Jahrbuchs Hesperus durch Borchardt, Schröder und Hofmannsthal. R.....A........SCH..... Bist du auch RASCH du machst uns doch nichts weis. Die kleinste wendung offenbart dich steiß. Semper idem Wenn schon verdreht warum denn nicht gleich SCHRA? Bei dir reimt sich doch alles auf A-a. Das Trio Es nüzt nichts dich zu bergen in der SCHAR Des alten ARSCH wird Jedermann gewahr.
97
98
Vgl. Wolfgang Harms: Funktionen etymologischer Verfahrensweisen mittelalterlicher Tradition in der frühen Neuzeit. In: Mittelalterliche Denk- und Schreibmodelle in der deutschen Literatur der Frühen Neuzeit, hg. v. Wolfgang Harms und Jean-Marie Valentin (Chloe, Beihefte zum Daphnis 16), Amsterdam, Atlanta: Rodopi 1993, S. 1–17, hier S. 11. Vgl. Tgahrt (1978): Rudolf Borchardt, Alfred Walter Heymel, S. 93.
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Mit sexuellen Anspielungen rächen sie sich im Folgenden an Schröders Anfeindungen gegen George. In dieser Hinsicht sind die Xenien 5 und 6 die derbsten, da sie Schröder selbst Homosexualität unterstellen.99 Weitere Xenien mit solchen Anspielungen sind die Nummern 16, 28 und 39. Xenie 5 verwendet als Vorlage das Sprichwort „Du kannst dahin gehen, wo der Zimmermann das Loch gelassen hat“. Der Zimmermann spielt auf den Innenarchitekten Schröder an. Die Xenie greift das Motiv von Jesus als Zimmermann auf und ersetzt ihn wiederum durch Gott: Gott habe das Loch erschaffen, damit Schröder den Anschluss nicht verpasst. Zum einen soll das Loch wieder den „ARSchröder“ bezeichnen, zum anderen deutet es anale Praktiken an. Auf diese sexuelle Nebenbedeutung verweist die von Wolfskehl vorgenommene Änderung der Überschrift von „Zimmermann“ in „Zimmer-Mann“. Sie deutet auf das Chambre separée und auf die Szenen, die sich dort möglicherweise ‚von Mann zu Mann‘ abspielen. Eventuell ist gar an „zimmern“, vulgärsprachlich für geschlechtlichen Kontakt (wie „nageln“), gedacht. Möglich wäre aber auch ein Bezug auf die Herrenzimmer, die Schröder in seiner Tätigkeit als Innenarchitekt gestaltet.100 Auch ein Zimmer-Mann Du freilich kannst den anschluß nie verpassen Da wo der Liebe Gott das loch gelassen. Seetechnisch Nur eines platter Sachse wüsst ich gern Hast einen Steven du der du ganz Stern?
Die sexuellen Anspielungen setzen sich in der folgenden Xenie fort. „Stern“ ist Jägersprache für Hinterteil, das plattdeutsche „Steven“ verweist auf Schröders Bremer Herkunft. In der Seemannssprache ist Steven die Bezeichnung für die Bugspitze von Schiffen. Womöglich spielen Gundolf und Wolfskehl an dieser Stelle auf einen topischen Ort für homosexuelle Begegnungen, 99
100
Zu Schröders homosexueller Anlage vgl. Rudolf Borchardt: Aufzeichnung Stefan George betreffend. Aus dem Nachlass hg. und erläutert von Ernst Osterkamp (Schriften der Rudolf-Borchardt-Gesellschaft 6/7), [Ebersberg]: RudolfBorchardt-Gesellschaft München 1998, S. 51 und Anm. S. 144. Schröder wird im Oktober 1910 in Brüssel eine Medaille für die Gestaltung zweier Herrenzimmer zuerkannt.
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nämlich auf die in einer Hansestadt wie Bremen gegebene Hafen- und Matrosensphäre an. Mit der anzüglichen Frage „Hast einen Steven du?“ unterstellen sie Schröder Impotenz. „[P]latter Sachse“ ist in dreifacher Weise zu verstehen: körperlich (Impotenz), geographisch (niedersächsische Herkunft) und poetologisch (Belanglosigkeit des literarischen Werks). Darüber hinaus greifen die Verfasser damit Schröders Bemerkung in den Süddeutschen Monatsheften auf, George schreibe nur platte Prosa („Ist eine plattere, ungeschicktere Prosa denkbar?“),101 und wenden den Vorwurf gegen den ‚platten‘ Niedersachsen selbst. Poetologische und personenbezogene Kritik durchdringen sich, womit die Verse sich nicht nur in die Gattungstradition der Xenie ordnen, sondern auch den notwendigen Zusammenhang von Stil und Ethos bekräftigen. In der folgenden Xeniengruppe kritisieren Wolfskehl und Gundolf abermals Schröders Produktivität. Sie vergleichen Schröders schnelle Folge von Veröffentlichungen mit kräftigem Stuhlgang. Eine historische Parallele findet sich in Schillers Xenie auf Friedrich Schlegel mit der Überschrift Geschwindschreiber, wobei hier das Lehrer-Schüler-Verhältnis zusätzlich hineinspielt.102 In den folgenden Xenien wird Schröders Schaffen als epigonal und eklektisch charakterisiert. Dabei bekennt sich Schröder, der sich selbst als „Wiederholer“ bezeichnet,103 im positiven Sinne zum epigonalen Schreiben.104 Kritisiert wird von Gundolf und Wolfskehl namentlich der Eklektizismus, indem sie zu der bereits von Quintilian verwendeten Metaphorik der Stoffverdauung greifen: Zur Sache Wie auswahlreich ist ARSCH dein werk zu schauen Stoffwechsel kommt von vielerlei verdauen. 101 102
103 104
„Ist eine plattere, ungeschicktere Prosa denkbar?“ – Schröder (1909): Auslese, S. 443. „Was sie gestern gelernt, das wollen sie heute schon lehren / Ach! was haben die Herren doch für ein kurzes Gedärm!“, Xenion 330, Musen-Almanach, S. 281, zit n. Schwarzbauer (1992): Die Xenien, S. 255. Rudolf Alexander Schröder: Zu den Weltlichen Gedichten (1940). In: ders.: Fülle des Daseins (1958), S. 580–586, hier S. 582. Vgl. Ingeborg Scholz: Deutsche Lyrik im Spannungsbogen zwischen Kunst und Religion. Werner Bergengruen und Rudolf Alexander Schröder (Volkskunde und Germanistik 6), Bonn: Verlag für Kultur und Wissenschaft 2002, S. 47f.
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Dabei spielen die Verfasser mit der doppelten Wortbedeutung von „Stoffwechsel“ (literarisch und organisch). In die gleiche Richtung zielt die folgende Xenie: Meister vom Stuhl. Das seheramt gib ab bleib beim sonnet Der Pythia dreyfuß ist doch kein closet
Wiederum beziehen sich diese Verse auf Schröders George-Rezension. Dort heißt es über Goethes lezte Nacht in Italien: „O armer Goethe, wie redest du durch den Mund dieser geschwätzigen Pythia!“105 Beides, den Bezug auf die griechische Seherin und den Vorwurf der Geschwätzigkeit greifen Gundolf und Wolfskehl auf. Das Seheramt bezieht sich konkret auf Schröders im Oktober 1910 in den Süddeutschen Monatsheften publizierte Deutsche Oden, die die antike Odenstrophe wählen, sich in die horazische Tradition stellen und den Anspruch haben, für die gesamte Nation zu sprechen. Schröder nimmt darin mehrfach den Sehergestus an. Sonett reimt sich auf Klosett: Schröder, so lautet die Empfehlung, solle auf die Rolle des Sehers besser verzichten und beim Sonettschreiben bleiben. Abermals zeigt sich, dass die poetologische Auseinandersetzung dort am schärfsten ausfällt, wo eine grundsätzliche Nähe der Dichtungskonzeptionen besteht. Möglicherweise darf man den Verfassern auch eine Anspielung auf die Longin zugeschriebene Schrift Vom Erhabenen unterstellen: So wie die Pythia auf dem Dreifuß den göttlichen Dampf einatme, der aus dem Erdspalt komme, heißt es dort, flössen „von der Größe der Alten in die Seelen ihrer Nacheiferer Ausströmungen heiliger Münder ein.“106 Schröder, so könnte man die Aussage der Xenie verstehen, werde nicht von den Alten begeistert (obwohl er sie imitiert), sondern von ganz anderen „schwaden“ (Nr. 38) umhüllt. Es würde zu weit führen, jede der insgesamt 54 Xenien in gleicher Ausführlichkeit darzustellen. An dieser Stelle sei nochmals auf den Kommentar im Textanhang verwiesen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Gundolf und Wolfskehl fast alle
105 106
Schröder (1909): Auslese, S. 442. Zit. n. Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern: Francke 21954 [erste Auflage: 1948], S. 402.
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Kritikpunkte negativer Mimesis und negativer Imitatio auffahren und Schröder fehlendes Ethos, fehlende Substanz (negative Mimesis, Typ B), Epigonalität, Eklektizismus, Dilettantismus (negative Imitatio, Typ B bis D) vorwerfen sowie vor allem sein Selbstverständnis, ein Poeta vates zu sein. Hinzu kommen zahlreiche intertextuelle Anspielungen auf Schröders Mitarbeit am Hesperus und seine George-Rezension. Besonders erhellend ist ihr Umgang mit Schröders Sexualität. Nur vom Urgeist darf offenbar homosexuelles Begehren ausgehen, weil er noch durch körperlich realisierte Contagio seine Substanz weitergibt. Wo das nicht geschieht, sondern sinnliches Begehren im Vordergrund steht, werden homosexuelle Praktiken von Gundolf und Wolfskehl geahndet. Im Dienste geistiger Befruchtung hat die körperliche Konkretisation von Contagio einen anderen Status als der bloße homosexuelle Akt im Hinterzimmer, wie Gundolf und Wolfskehl ihn Schröder unterstellen.
4.4 Kritik am proteischen Dichter Ähnlich gelagert in ihrer Mischung von poetologischer und personenbezogener Kritik, auch in ihrer aufs Sexuelle fokussierten Argumentation, sind die folgenden vier Texte. Wolfskehls vier Rilke-Parodien zielen auf den frühen Rilke, obwohl dieser Rilke zum Zeitpunkt ihrer Entstehung längst der Vergangenheit angehört. Sie sind, wie ihre Überlieferung zeigt, ein unmittelbarer Lesekommentar, eine spontane Unmutsäußerung, die er mit Bleistift direkt neben den gedruckten Text schreibt. Die Parodien beziehen sich zwar auf Rilkes Frühwerk, nämlich auf Die frühen Gedichte (1909) mit den überarbeiteten Fassungen von Mir zur Feier (1899) und Die weiße Fürstin (1898, hier in der zweiten Fassung von 1904), aber bei der Ausgabe handelt es sich immerhin um die vierte Auflage von 1918.107 Zu dieser Zeit ist Rilke bereits ein reifer Dichter, dessen Auflagenhöhen diejenigen Georges in den Schatten stellen.108 Dennoch hält Wolfskehl im Briefwechsel
107 108
Rainer Maria Rilke: Die frühen Gedichte, Leipzig: Insel 41918. Kopien im DLA, das Originalexemplar befand sich 1964 im Besitz von Ilse Hindenburg. Vgl. Karlauf (2007): Stefan George, S. 249.
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mit Gundolf daran fest, dass Rilke „ganz einfach nicht das Gewicht“ habe, als dass man ihn gleichberechtigt neben George, die „unverrückliche Norm“, stellen könne.109 Dass Rilke ein poetisches Leichtgewicht sei, behaupten auch Wolfskehls Parodien. Der Vorwurf der Leichtigkeit wiederholt die im Rahmen dieser Studie bereits gegenüber Schröder, Hofmannsthal, Meinke und Strauß geäußerte Kritik. Wolfskehl verbindet sie mit fehlendem Ethos und fehlender Substanz und wirft Rilke damit Proteismus vor. Außerdem unterstellt er ihm in sexueller Metaphorik, dass er nicht geistig befruchten bzw. nicht schöpferisch wirken könne. Die flüchtige, mit mehreren Verbesserungen versehene Handschrift erweckt den Eindruck von Spontaneität. Es handelt sich um Einzeltextparodien, die sich in Reimschema und Strophenformen exakt an ihre Vorlagen halten. Drei der vier Parodien übernehmen die Perspektive des Sprechers und spinnen dessen Rede direkt weiter. Aus dem Zyklus Lieder der Mädchen parodiert Wolfskehl Es müßte mich einer führen und aus Gebete der Mädchen zu Maria die aufeinander folgenden Gedichte Mir wird mein helles Haar zur Last sowie Und in allen alten Jahren (vgl. Abb. 7). Wolfskehl vereindeutigt die in den Vorlagen nur verhüllt ausgesprochene Phase der Schwelle zur körperlichen Reife. Das unbestimmte, religiös überhöhte Verlangen in Rilkes Mädchengedichten wird auf rein sexuelle Triebhaftigkeit reduziert. Wolfskehls Mädchen sprechen von erotischen Abenteuern (Ob ich die mir noch erliste) und leiden unter sexueller Frustration. Oder soll ich, bitte schreibt beispielsweise den inneren Monolog der Gedichtvorlage trivialisierend weiter, indem es aus der nur vage angedeuteten Enttäuschung des Mädchens die Wuttirade einer frustrierten Frau macht, die nicht bereit ist, die Sehnsucht nach einem Liebhaber mit übermäßigem Essen (1–4) oder mit körperlicher Askese (8–11) zu kompensieren. Weibliche Sexualität wird als ungeistig und triebhaft dargestellt und dadurch abgewertet. Wolfskehls Parodien erschöpfen sich nicht in diesem komischen, aber letztlich billigen Effekt, sondern üben darüber hinaus poetologische Kritik und Stilkritik.
109
Karl Wolfskehl an Friedrich Gundolf, Brief vom 21. März 1931. In: WolfskehlGundolf Briefwechsel, Bd. 2, S. 238f.
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Oder soll ich, bitte, Kochlöffelgleich Stehn in Behagens Mitte Butterweich Krumm Könnte man sich ärgern Dass das Leben stumm Und dass man bei dem Kärgern Kleinlichern [?] und ärgern Liebestrost sucht Das ist so dumm.
„Butterweich“ meint in dieser Parodie nicht nur das Stehen im Butterberg materiellen Überflusses, sondern auch die Eingängigkeit von Rilkes Sprache. Dass „Butterweich“ auf „Kochlöffelgleich“ reimt, ist vermutlich eine Kritik an Rilkes Vorliebe für gesuchte Vergleiche und Reime in den inkriminierten Texten. Evident wird der letztgenannte Aspekt in der Parodie auf Du wacher Wald, inmitten wehen Wintern. Sind die verschlossen oder ganz verschwunden Wie leicht gerät man an die falsche Tür Doch Wald in deinen winterharten Sunden. Ich neige Klinke die ich mir erkür Ganz platt und wie ein abgeworfner Sattel Mit dem der Reiter sich den Nacken brach So liegst du Wald! ein ausgespiener DattelKern – dass i lach! N[onsen]s
Wolfskehl isoliert die Metapher der verschwundenen Türen („und weiß: vor deinen Tiefen waren Türen – / und sind nicht mehr“, II,3+4) und führt sie ebenso wie die gesamte Bildlichkeit mit seinen Wie-Vergleichen „wie ein abgeworfner Sattel“ und „ein ausgespiener Dattelkern“ ad absurdum. Im Schlussvers hält mit dem dialektal gefärbten Kommentar „dass i lach!“ eine explizite Wertung Einzug in den Text. Auch die Schlussbemerkung „Nonsens“, die als ergänzender Kommentar hinzutritt, fasst die in der Parodie selbst implizit vorgenommene negative Wertung in einem Wort zusammen. Eine Variante solcher Metaphernkritik ist die Parodie auf
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Mir wird mein helles Haar zur Last. In diesem Gedicht stellt Rilke einem dunklen „Limonenast“, Bild erwachender Sexualität, die „Mädchenmyrten“ der Jungfrau Maria gegenüber. Wolfskehls Spott trifft nicht nur die Ausführlichkeit, mit der Rilke das Blühstadium dieses Astes schildert – von der sechszeiligen ersten Strophe gelten dem Limonenast allein vier –, sondern die krude Metaphorik selbst (I). Anstatt seine Kritik in der parodistischen Darstellung selbst zu artikulieren, macht Wolfskehl sie in Form einer fingierten Selbstkritik des Verfassers explizit. In fiktiver Autorrede lässt er Rilke sagen, dass man es mit der Stimmigkeit seiner Metaphern nicht immer genau nehmen müsse (II). Doch die Botanik freilich hat Auch ihren schlimmen Schluss Mit Dorn und Myrte Blum und Blatt Trieb ich viel Unfug – übersatt Bin ich der Wahrheit, blank und glatt Entfährt mir süsser Stuss. Drum fragt nicht viel Ob Un-Ernst Spiel Und ob die Rose blau Mein buntgefärbter Federkiel Ist leicht wie manche Frau.
Die poetologische Dimension von Wolfskehls Parodien wird in diesem Text deutlich greifbar. Ihn stört eine gewisse Verselbstständigung der klanglichen Ebene, welche zu Bildreihungen führt, die unter dem Aspekt sprachlicher Ökonomie überflüssig sind. In den beiden Schlussversen vergleicht er Rilkes „leicht[en]“ und „buntgefärbte[n] Federkiel“ mit einem leichten Mädchen und schlägt damit den Bogen zu Rilkes Mädchengedichten. Rilke selbst macht in den Figuren der Mädchen „chiffrierte Aussagen“ über sein eigenes poetisches Selbstverständnis.110 Wolfskehl legt den Charakter der Gedichte als Rollenlyrik offen, indem er in dieser Parodie erstens die Figur des Mädchens durch Rilke selbst ersetzt und zweitens Rilke ein ähnlich promiskuitives Verhalten, auf sein Dichtungsverständnis übertra110
Pagni (1984): Rilke um 1900, S. 28.
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gen, unterstellt. Er kritisiert vor allem den „Un-Ernst“ mit den Symptomen mangelnder Wahrhaftigkeit und Mühelosigkeit (4–6). Problematisch ist nicht die Leichtigkeit an sich, sondern ihre scheinbare Bedeutungsschwere. Was als „Spiel“ (8) tolerabel wäre, wird fragwürdig, wenn es Ausdruck von Übersättigung (4) ist. Mit „buntgefärbter Federkiel“ spielt Wolfskehl auf das Moment der Überladenheit an und bereitet das Bild des – übermäßig stark geschminkten – leichten Mädchens vor. Der Dichter befindet sich in diesem parodistischen Rollengedicht eben nicht auf der Schwelle zu einem höheren Künstlertum, sondern auf der Schwelle zur Prostitution. Im Sinn des Imitatio-Modells zielt Wolfskehls Parodie auf fehlende Substanz (im Vorwurf der Leichtigkeit) und auf fehlendes Ethos (im Vorwurf ungeistiger Sexualität). Wer sich solche Vorwürfe gefallen lassen muss, kann trotz schriftstellerischen Erfolgs kein Urgeist sein.
4.5 Ergebnis Gundolf und Wolfskehl imitieren in den Gedichten dieses vierten Teils der Studie George zwar nicht stilistisch, wohl aber ethisch, indem sie Dichter, die George gefährlich sind, parodistisch und satirisch desavouieren. Ihre Kritik vollzieht sich vor dem Hintergrund des Imitatio-Modells. Die Textsorten variieren: Wolfskehls Rilke-Parodien sind Einzeltextparodien, Gundolfs Parodien auf Hérédia und Hofmannsthal sind Textklassenund Stilparodien und ihre Spottverse auf Schröder satirische Epigramme bzw. Xenien. Wer sich keinem Meister anschließt (Hofmannsthal) oder den Anspruch hat, selbst Urgeist zu sein (Schröder), wird zur Zielscheibe der Kritik. Die Texte zielen stets auf das, was als unzulässige Abweichung empfunden wird: epigonales (Hérédia) oder proteisches (Rilke) Imitieren bzw. eklektisches (Schröder) Aufgreifen unterschiedlicher Stoffe. Implizit scheint in allen Texten die Wertung durch, dass nur George ein wahrer Urgeist sei, der positive Mimesis leiste und sowohl einen neuen Stil als auch ein neues Ethos vermittle. Imitation und Parodie verhalten sich zueinander wie die Kehrseiten einer Medaille, beide sind textlicher Niederschlag ethischer Loyalität zu George. Dennoch sind die parodistischen und satirischen Verse letztlich nicht in Einklang zu bringen mit dem Dichtungsideal
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des Kreises.111 Denn sie sind nicht aufbauend, sondern destruktiv, sie sind nicht ernst, sondern Spiel. In Georges Lyrik gibt es keine Anknüpfungspunkte dafür; wo George andere Dichter kritisiert, behält er seinen eigenen Stil bei. Weil Gundolf selbst daran leidet, ein abgeleitetes Wesen zu sein und leichter zu imitieren als zu schaffen, sind seine Vorwürfe an poetische Defizite Hérédias, Schröders und Hofmannsthals auch ein Stück Selbstkritik.
111
Zu diesem Schluss kommt auch Pott (2006): Parodistische Praktiken, S. 53.
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Teil 5: Abgrenzung vom Imitatio-Modell
Teil 5: Abgrenzung vom Imitatio-Modell: Rilke, zur Linde, Pannwitz, Borchardt, Schröder 5.1 Kritik an der Mimesis des Urgeists Am 14. November 1897 wird Rilke zum Zeugen von Georges erster halböffentlicher Lesung aus seinem kurz zuvor als Privatdruck erschienenen Jahr der Seele im Salon des Berliner Malerehepaars Reinhold und Sabine Lepsius. Rückblickend schildert er dieses Erlebnis in einem Brief an den Literaturhistoriker Hermann Pongs, damals noch Privatdozent für Deutsche Sprache und Literatur in Marburg und später prominenter Germanist im Nationalsozialismus, wie folgt:1 Von Stefan George war das Jahr der Seele mir von Anfang an bedeutend gewesen; es erschloß sich mir aber erst als Überwältigung, seit ich den Dichter im Lepsius’schen Kreise seine gebieterischen Verse hatte sagen hören.2
Möglicherweise findet sich in diesen Worten ein Nachhall der Besprechung dieser Lesung im Pan im Rahmen des Beitrags Grundformen der Kunst von Lou Andreas-Salomé, als deren Begleiter Rilke die Lesung besuchte. Für sie habe „ein Gedicht noch niemals eine so siegreiche und überwältigende Umwandlung erlebt, wie Stefan Georges Gedichte in seinem mündlichen Vortrag.“3 Es scheint ihr, „als machte eben diese Persönlichkeit nebst der von ihr geschaffenen Lyrik erst vereinigt das eigentliche, wahre Kunstwerk aus.“4 George ist ihrer Auffassung nach 1
2
3 4
Vgl. Hartmut Ferenschild: Art. Hermann Pongs. In: Internationales Germanistenlexikon 1800–1950, hg. u. eingel. v. Christoph König, Berlin und New York: de Gruyter 2003, S. 1421f. Rainer Maria Rilke an Hermann Pongs, Brief vom 17. August 1924. In: Rainer Maria Rilke. Gesammelte Briefe in sechs Bänden, hg. v. Ruth Sieber-Rilke und Carl Sieber, Bd. 5, Briefe aus Muzot, Leipzig: Insel 31937 [erste Auflage: 1935], S. 301–310, hier S. 307f. Andreas-Salomé (1898): Grundformen der Kunst, S. 181. Andreas-Salomé (1898): Grundformen der Kunst, S. 181.
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ein Mittler, der an der Wirkung seiner Lyrik ebenso großen Anteil hat wie der Priester in der katholischen Messe an der Transsubstantiation von Brot und Wein. Während Andreas-Salomé diesen Sachverhalt neutral darstellt, setzt Rilkes Kritik an diesem Punkt an. Im Folgenden werden drei poetologische Gedichte analysiert, in denen Rilke den Status und die Mimesis des Urgeists problematisiert. Zunächst soll es um diejenigen zwei Texte gehen, die unter dem unmittelbaren Eindruck des Leseabends entstanden sind. Rilkes Intention ist es, sich der Überwältigung durch Georges Lyrik nachträglich zu entziehen, indem er die ästhetische Erfahrung, die er gemacht hat, nur der Performanz, nicht aber den Gedichten selbst zuschreibt. In Rilkes An Stephan George vom 29. November 1897,5 gut zwei Wochen nach der Lesung verfasst, wirkt das Erlebnis der „Überwältigung“6 nach. Rilke wehrt sich, indem er die Authentizität der von Lou Andreas-Salomé gelobten „überwältigende[n] Umwandlung“7 infrage stellt: In seiner Parodie erweist sich die vermeintliche Verlebendigung der Gedichte als optische Täuschung. Die Statuen, die in Rilkes Sonett Georges Lyrik repräsentieren, scheinen nur so lange zu leben, wie die Weihrauchschwaden die klare Sicht auf sie vernebeln. Er sieht eine Dominanz der performativen Außenseite über die Innenseite am Werk („nur wenn des Weihrauchs Wellen sie verwischen, / scheint ihrer Lippen Lichte sich zu rühren“).8 Er wehrt damit den Unbedingtheitsanspruch Georges ab. Die Offenbarungen seiner Lyrik seien nicht authentisch, weil sie nicht in der ästhetischen Faktur selbst zu verorten seien; es gebe keine neue Botschaft, sondern nur eine geschickte Vermarktung. Nimmt man Rilkes Äußerung Pongs gegenüber ernst, kennt er das Jahr der Seele bereits vor der Lesung und damit vor der ersten öffentlichen Ausgabe des Bandes. Mögliche Quellen wären entweder der Privatdruck selbst oder die Nummern des dritten Blätter-Jahrgangs vom Januar und August 1896. Im Jahr 5
6 7 8
Rainer Maria Rilke: An Stephan George. In: Sämtliche Werke, hg. v. Rilke-Archiv in Verb. m. Ruth Sieber-Rilke besorgt durch Ernst Zinn, 6 Bde., Wiesbaden und Frankfurt a.M.: Insel 1955–1966, Bd. 3, Jugendgedichte, S. 596f., hier S. 597. Rilke (1939): Briefe, Bd. 2, S. 462. Andreas-Salomé (1898): Grundformen der Kunst, S. 181. Rilke (1987): An Stephan George, S. 597.
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1896 ist indes noch kein Einfluss auf Rilkes Lyrik nachweisbar.9 Erst im Zusammenhang mit der Lesung durch George ändert sich dies.10 Auf den gleichen Tag wie die George-Parodie datiert z.B. Wir werden lauter Danken in uns haben („Wir werden lauter Danken in uns haben / wenn wir am Abend aus dem Garten treten […]“),11 das wie ein Nachhall von Georges Wir werden heute nicht zum garten gehen aus dem Jahr der Seele wirkt.12 Weil Rilke Pongs gegenüber – mit genügend zeitlichem Abstand und im Bewusstsein eigenen Könnens – die „Überwältigung“ durch das Jahr der Seele positiv darstellt, ist seine poetologische Kritik, die er in An Stephan George äußert, intentional als Schutz gegen einen von George ausgehenden Stilzwang und als Mittel der Selbstpositionierung zu deuten. Bisher wurde in den wenigen Aufsätzen zu An Stephan George nur dieses Widmungsgedicht nach seiner Erstveröffentlichung in der Literaturzeitschrift Corona berücksichtigt.13 In der von Zinn besorgten Rilke-Ausgabe ist erstmals daran anschließend das poetologische Gedicht Und meine Träume warten wandentlang publiziert, in dem Rilke seine Autorpoetik formuliert. Viel spricht dafür, darin eine Ergänzung zum vorangegangenen Widmungsgedicht zu sehen. Einen ersten Anhaltspunkt gibt die von Zinn eruierte Datierung auf den 13. Dezember 1897. Am 29. November schreibt Rilke An Stephan George, ohne dass die innere Auseinandersetzung mit George zum Abschluss käme: Wenige Tage später, am 7. Dezember 1897, verfasst er einen Brief an George, den dieser noch im Dezember beantwortet.14 Ob die zwei Strophen von Und meine Träume warten wandentlang vor oder nach dem Erhalt dieses Antwortschreibens verfasst wurden, ist nicht zu rekonstruieren. Jedenfalls ste9 10
11 12 13 14
Die stilkritische Untersuchung von Günter Heintz, die das Gegenteil beweisen soll, vermag nicht zu überzeugen. – Vgl. Heintz (1986): Stefan George, S. 28–30. Heintz konstatiert, und dies überzeugender, einen stilistischen und motivischen Einfluss auf Rilkes Die frühen Gedichte (erstmals erschienen 1899, in der zweiten Fassung 1904), die großteils zwischen November 1897 und Ende 1898 entstehen. Rainer Maria Rilke: Wir werden lauter Danken in uns haben. In: Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 596. Stefan George: Wir werden heute nicht zum garten gehen. In: SW, IV, S. 20. Rainer Maria Rilke: An Stephan George. In: Corona. Zweimonatsschrift 6 (1936), H. 6, S. 706. Vgl. Rilke (1937): Briefe, Bd. 1, S. 47f. und 62f. mit den Nachweisen S. 492.
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hen sie in Zusammenhang mit dem Briefwechsel und zeigen, wie sich Rilkes Abgrenzung von George festigt. An Stephan George Wenn ich, wie du, mich nie den Märkten menge und leiser Einsamkeiten Segen suche, – ich werde nie mich neigen vor der Strenge der bleichen Bilder in dem tiefen Buche. Sie sind erstarrt in ihren Dämmernischen, und ihre Stirnen schweigen deinen Schwüren, nur wenn des Weihrauchs Wellen sie verwischen, scheint ihrer Lippen Lichte sich zu rühren. Doch, daß die Seele dann dem Offenbaren die Arme breitet, wird ihr Lächeln lähmen; sie werden wieder die sie immer waren: Kalt wachsen ihre alabasterklaren Gestalten aus der scheuen Arme Schämen.15 *** Und meine Träume warten wandentlang und sind so rührend in der scheuen Schöne. Sie schweigen noch; sie harren bis ich töne, denn allen ihren Harfen bin ich Klang. Dann singen sie – und ihre Worte sind ganz wie [die] Deinen, nur ein wenig blasser: Sie sind die Bilder tief im stillen Wasser und Deine neigen sich am Rand im Wind.16
Dass beide Gedichte zusammengehören, unterstreicht Rilke, indem er einzelne Wörter („neigen“, „schweigen“, „rühren[d]“, „Bilder“, „scheuen“) und Motive aus An Stephan George aufgreift und neu semantisiert. So festigt er den Gegensatz zwischen Georges und seiner eigenen Poetik. Das Ende des einen und der Beginn des anderen Gedichts sind so eng aufeinander bezogen, dass man ungeachtet der veränderten Reim- und Strophenform von einem direkten Anschluss sprechen kann. Georges Statuen 15 16
Rilke (1987): An Stephan George, S. 596f. Rilke: Und meine Träume warten wandentlang. In: Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 597.
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bleiben leblos und kalt, Rilkes „Träume“ dagegen erwachen zum Leben; alles ist bereit, das Ich in einen poetischen Zustand der Allverbundenheit zu versetzen. In den letzten zwei Versen von Und meine Träume warten wandentlang, die, wie im vorhergehenden Gedicht, durch den Doppelpunkt ein Resümee beinhalten, greift Rilke das Wortmaterial aus der ersten Strophe von An Stephan George wieder auf. Auf die Strenge „der bleichen Bilder in dem tiefen Buche“ antworten die „rührend“ scheuen „Bilder tief im stillen Wasser“, womit Rilke die Gedichte aus dem Jahr der Seele gegen seine eigenen stellt. Die Medien des Steins und der Schrift bei George werden von der Musik und vom Wasser als dem Ort des Unbewussten und Lebensspendenden übertroffen. Der Vorwurf des Unbelebten und Statuarischen einer formalistischen Kunst ist ein Topos der Ästhetizismuskritik. Rilke kombiniert ihn in An Stephan George mit dem Motiv der Umarmung aus dem Pygmalionmythos. „Doch, daß die Seele dann dem Offenbaren / die Arme breitet, wird ihr Lächeln lähmen“: Der hermeneutische Liebhaber wird enttäuscht. Georges performative Poetik, zu der sowohl die Inszenierung des Textes in der Aufführungssituation als auch, auf der Seite des Rezipienten, die über das Normalmaß hermeneutischer Einfühlung hinausgehende Mischung von Exercitatio und Contagio gehören, wird von Rilke als Manipulation empfunden. Er verweigert sich dem Nachvollzug des Rituals („Ich werde nie mich neigen vor der Strenge […]“). Im Blick auf das Imitatio-Modell setzt seine Kritik bei der Figur des Urgeists als Mittler zum Göttlichen an, bezieht sich aber auch auf die Lyrik selbst. Sie wird als leblos bezeichnet und eben nicht, wie es Georges Anspruch ist, als mimetische Darstellung der Substanz. Rilkes Gedicht entsteht zwar vor 1900, also vor der theoretischen Herausbildung des Imitatio-Modells, aber zeitgleich mit den ersten Gedichten des Teppich-Vorspiels, die im November 1897 in der IV. Folge der Blätter erscheinen.17 Daher ist ihm bewusst, welche Konsequenzen gerade im Blick auf den Nachahmungsgedanken der Anspruch des Dichters auf höhere Erkenntnis hat. Eudo C. Mason sieht in An Stephan George „einen überraschenden, wohl unwillkürlichen Nachhall Georgescher Töne“ 17
Stefan George: Seit der Ankunft des Engels. In: Blätter IV, 1–2, S. 5–7.
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und berührt damit das Moment des Stilzwangs.18 Rotermund legt Wert auf den Aspekt der Kritik: „Die Stilnachbildung und die Kritik am Werk des Imitierten ergibt jene Diskrepanz, welche die Parodie konstituiert.“19 Heintz plädiert dafür, besser von einer ironischen Entgegnung zu sprechen: „Wenn sich Rilke im Stil des frühen und mittleren George von diesem distanziert, ist das eine Weise ironischer, nicht parodistischer Entgegnung.“20 Ironie setzt aber eine größere innerpsychische und textlich-strukturelle Distanz zum kritisierten Gegenstand voraus, als sie bei Rilke gegeben ist. Heintz geht davon aus, dass Rilke sein Widmungsgedicht zusammen mit dem Brief an George schickte,21 aber das ist eher unwahrscheinlich. In seinem Brief nimmt Rilke nirgends Stellung dazu, George geht in seinem Antwortschreiben nicht darauf ein, und da Rilke um eine nähere Verbindung zum Kreis der Blätter bittet, hätten diese Verse kontraproduktiv gewirkt. Mason, Rotermund und Heintz scheuen sich also, unter strukturalen Gesichtspunkten von einer George-Parodie zu sprechen, sondern reden stattdessen von (bewusstem oder unbewusstem) „Nachhall Georgescher Töne“, von „Stilnachbildung“ und vom „Stil des frühen und mittleren George“. Gemäß der Definition dieser Arbeit handelt es sich schon allein aufgrund der kritischen Autorintention um eine Parodie. Darüber hinaus wird ein kritisches Element auf der strukturalen Ebene des Textes sichtbar, die nicht nur als Resultat eines von George ausgehenden Stilzwangs erklärt werden kann. Die schematische Anwendung der folgenden Elemente deutet vielmehr auf eine gewollt parodistische Überzeichnung hin: Der auftaktige Fünfheber und die vierzeilige Strophe mit Kreuzreim sind typisch für das Jahr der Seele. Das harte Taktieren in der Abfolge von Hebung und Senkung in Rilkes Text wirkt bewusst übertrieben. Konsequent und gleichfalls schematisch hält sich Rilke an die George-typische 18
19
20 21
Eudo C. Mason: Rilke und Stefan George. In: Joachim Müller (Hg.): Gestaltung, Umgestaltung, Festschrift zum 75. Geburtstag von Hermann August Korff, Leipzig: Koehler & Amelang 1957, S. 249–278. Erwin Rotermund: George-Parodien. Wiederabgedruckt in: ders.: Artistik und Engagement. Aufsätze zur deutschen Literatur, hg. v. Bernhard Spies, Würzburg: Königshausen & Neumann 1994, S. 150–161, hier S. 159. Heintz (1986): Stefan George, S. 27f. Heintz (1986): Stefan George, S. 26.
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Entsprechung von Versgruppengliederung und Gedankengliederung. Georges Wortmusikalität wird mit zahlreichen Assonanzen und Alliterationen in jeder einzelnen Verszeile von Rilke auf die Spitze getrieben („Wenn ich, wie du, mich nie den Märkten menge / und leiser Einsamkeiten Segen suche“). Ähnlich penetrant verwendet er den Nominalstil und – ein beliebtes Stilmittel von George-Parodisten – die spezifische Genitivbildung, bei der durch die Umstellung von Akkusativ und Genitiv ein Artikel eliminiert wird. In der konsequenten, geradezu übersteigerten Verwendung dieser Stilmittel geht Rilkes Gedicht auch auf der Ebene der Textstruktur über eine stilistische Imitatio hinaus und weist es als einen parodistischen Text aus, der die inhaltlich geäußerte Kritik durch Stilkritik untermauert. Abgemildert wird die strukturale Identität durch die (nachträglich eingefügte?) Zeile „sie werden wieder die sie immer waren“, denn ohne sie wäre die Form des Gedichts mit drei Strophen à vier Versen und der rhetorischen Zuspitzung nach einem Doppelpunkt in der vorletzten Verszeile exakt der Lyrik Georges abgeschaut.22 Das Gedicht Und meine Träume warten wandentlang folgt Rilkes eigener Diktion und formuliert ein poetologisches Gegenprogramm. Traum, Harfe, Gesang, Klang und Tönen sind poetologische Metaphern. Rilke erkennt dem Primat des Musikalischen, des Immateriellen und Flüchtigen, die höhere Poetizität zu und ersetzt damit Georges im vorangegangenen Gedicht auf die Plastik ausgerichtetes Ideal. Die Schwingungen, die sich im Innern unbewusst bilden, finden in den Gedichten einen Resonanzraum („sie harren bis ich töne / denn allen ihren Harfen bin ich Klang“). Rilke spricht in Metaphern, die später für seine Sonette an Orpheus (1922) zentral werden. Exercitatio am Text wehrt er ab, weil sie einer Stillstellung der bewegten Traumsphäre gleichkäme. Er propagiert vielmehr das träumerische Gleiten zwischen dem Ich und den Dingen. Zugleich sucht er diese Poetik auf der Ebene der Textstruktur umzusetzen, indem sich die oft durch Enjambements verbundenen Verse glatt aneinanderfügen. Sein polysyndetischer Stil mit den vielen Und-Kon22
Die in der Forschungsliteratur auftauchende Gattungsbezeichnung Sonett wird daher in dieser Analyse vermieden. Die Genese aus der typischen GeorgeStrophe im Jahr der Seele heraus erscheint plausibler.
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junktionen, die Euphonie der Silbenbewegung und der geringe Abstand zwischen Hebung und Senkung tragen zum fließenden Gesamteindruck bei. Die Abgrenzung von George ist ein wichtiger Schritt in Rilkes poetischer Entwicklung. In seinem wenig später entstandenen Vortrag Moderne Lyrik (1898) spricht Rilke über „das Verblassen und Erstarren im Aesthetizismus, das reglose Knieen vor dem unerbittlichen Gnadenbild“23 und greift damit das Thema von An Stephan George wieder auf. Georges bewusst gemeißelte Verse, so lautet der Vorwurf, blockierten das Einschwingen in den Gesamtklang und in die Dimensionen des Unbewussten. Nur derjenige, der „zu jenem tiefsten Grunde seines Tönens hinabreicht“,24 könne Künstler werden.25 George hingegen wage es nicht, „über die Randsäulen seines engen weißen Marmortempelchens in die Landschaft zu sehen.“26 Aus dieser Einsicht heraus, verbunden mit seiner eigenen, hier nur angedeuteten Poetik, kritisiert er im Medium der Parodie Georges Anspruch auf Mimesis und auf Verbindung mit der Substanz. Ähnliches geschieht im folgenden Gedicht, entstanden 1906 und damit zu einer Zeit, in der das Imitatio-Modell bereits voll ausgeprägt ist. Es reagiert gleichfalls auf George, indem es das Thema seines Gedichts Lämmer aufgreift und wiederum eine Poetik entwirft, die dem Mimesisgedanken des Kreises entgegen steht. Es berührt die Produktionsseite von Lyrik, behandelt aber nicht wie An Stephan George die Lyrik selbst als dichterisches Produkt, sondern eher die Bedingungen für die Entstehung von Dichtung. Damit ist es der ersten Gruppe poetologischer Lyrik zuzurechnen. Um eine Parodie handelt es sich freilich nicht. Eudo C. Mason hat es einen polemischen Gegenentwurf zu Georges Lämmer genannt. Rilke habe sich „charakteristischerweise mit den unmündigen Lämmern identifiziert, während 23 24 25
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Rainer Maria Rilke: Moderne Lyrik. In: Sämtliche Werke, Bd. 5, S. 360–394, hier S. 377. Rilke (1955): Moderne Lyrik, S. 361. Dieses unbewusste Moment im Schaffensprozess kennzeichnet Rilkes Position zu jener Zeit. – Vgl. Angelika Jacobs: „alles ist zur Stille um-gestaltet“. Rilkes lyrische ‚Spiele‘ im Kontext des Symbolismus. In: Germanistische Mitteilungen. Zeitschrift für deutsche Sprache, Literatur und Kultur 54 (2001): Rilkes Poetik und die Folgen (Acta Austriaca-Belgica 3), S. 41–65. Rilke (1955): Moderne Lyrik, S. 377f.
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George sie mit wohlwollender Geringschätzung zum Symbol für die beschränkten Alltagsmenschen macht.“27 Der erste Teil der Aussage ist sicher zutreffend, aber die soziologische Gleichsetzung der Lämmer mit Alltagsmenschen ist unscharf und wird sowohl Georges als auch Rilkes Gedicht nicht gerecht. Sie reflektiert nicht die poetologische Dimension beider Texte und ihre Reflexion des Imitatio-Zusammenhangs. Dabei kommt die poetologische Intention in den letzten zwei Versen von Rilkes Gedicht deutlicher zum Vorschein als in Georges.28 Wir sind ja. Doch kaum anders als den Lämmern gehn uns die Tage hin mit Flucht und Schein; auch uns verlangt, sooft die Wiesen dämmern, zurückzugehn. Doch treibt uns keiner ein. Wir bleiben draußen Tag und Nacht und Tag. Die Sonne tut uns wohl, uns schreckt der Regen; wir dürfen aufstehn und uns niederlegen und etwas mutig sein und etwas zag. Nur manchmal, während wir so schmerzhaft reifen, daß wir an diesem beinah sterben, dann: formt sich aus allem, was wir nicht begreifen, ein Angesicht und sieht uns strahlend an.29
Eine poetologische Lesart hat zunächst zu berücksichtigen, dass den beiden Gedichten nicht dieselbe Lämmerherde zugrunde liegt. George stellt in den Lämmern die Epigonen in der Tradition des 19. Jahrhunderts dar. Diese Lämmer sind dadurch gekennzeichnet, dass sie abends heimziehen und ihren Führern folgen. Die sprechende Gruppe in Rilkes Gedicht, die sich mit den Lämmern streng genommen nur vergleicht, verhält sich völlig anders. Sie blickt, anders als die Sprecherinstanz bei George, fast sehnsüchtig auf die Gruppe der ihren Hirten folgenden Lämmer: „[A]uch uns verlangt, sooft die Wiesen dämmern, / zurückzugehn. Doch treibt uns keiner ein.“ (I,3–4). Aber dieses Verlangen wird nicht gestillt. Der Unterschied in der Darstellung der unselbstständigen Lämmer bei Rilke und George be27 28 29
Mason (1957): Rilke und George, S. 277 Anm. 40. Zur poetologischen Dimension von Georges Lämmer vgl. Kap. 1.11. Rilke (1955): Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 10.
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steht darin, dass Rilkes Sprecher sich in eine andere, führerlose Lämmerherde einreiht. Rilke spricht nicht aus der Position des Urgeists oder des Hirten, sondern aus der Position der Herde. Damit bestreitet er implizit, dass sich eine solche Unterscheidung überhaupt sinnvoll treffen lasse. Er beansprucht für sich keine höhere Erkenntnis, sondern ist ein abgeleitetes Wesen wie andere auch. Sein Gedicht reflektiert die Bedingungen des Schaffens in einer Situation, die dem Imitatio-Modell zufolge gar keine Creatio bewirken kann. Rilke geht es nicht nur um den Verzicht auf stilistische oder ethische Imitatio, sondern auch um einen Verzicht auf Mimesis. Für ihn ist die existenzielle Conditio humana aller Menschen gleich. Auch der Künstler ist ihr unterworfen. Kunst entsteht nicht aus einem direkten oder mittelbaren Zugang zum Göttlichen heraus, sondern aus der Konfrontation mit den existenziellen Bedingungen des Lebens selbst. Die Geborgenheit innerhalb eines vertikal um Führung und Gefolgschaft organisierten Sozialmodells wird von der Gruppensolidarität unter gleichermaßen in ihrer Erkenntnisfähigkeit beschränkten Wesen ersetzt. Anders als in Georges LämmerGedicht spielen bei Rilke die christlichen Assoziationen von Hirte und Herde mit hinein. Indem die Herde völlig auf sich gestellt und alleingelassen ist, berührt Rilke den Topos vom Deus absconditus. Er dehnt damit seine epistemologische Position des Nicht-Erkennen-Könnens (entgegen der Möglichkeit einer Mimesis des Urgeists) auf transzendente Gehalte aus. Rilke stimmt mit George darin überein, dass man nicht hinter diesen Zustand zurückfallen kann, entwirft als Reaktion auf diese Verlusterfahrung jedoch eine ganz andere Poetik. Schon der Gedichteinstieg ist ein Einspruch gegen die Auffassung des Kreises, nur die Urgeister oder die mit ihnen verbundenen Menschen hätten Substanz. Obwohl der Text offen lässt, welche Gruppe genau gemeint ist, darf man wegen des entsprechenden Vorlagenbezugs das Wir des Gedichts als Gruppe von Dichtern fassen, die unter den Bedingungen der Moderne wie Orientierungs- und Transzendenzverlust schaffen. Obwohl diese modernen Dichter substanziell sind („Wir sind ja“), ist ihr Dasein von „Flucht und Schein“ geprägt. Zwischen Rilkes Dichtern und den Urgeistern im Sinne Georges liegen Welten, von einer mimetischen Erkenntnis des Seins und von der großen „Tat“
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ist keine Rede. Obwohl die modernen Dichter „schmerzhaft reifen“ und „beinah sterben“, ist dies die Vorbedingung für das Entstehen von Dichtung, die in den zwei letzten Versen in Aussicht gestellt wird.30 Damit distanziert sich Rilke in demselben Bild, das George für die Abgrenzung vom epigonalen Schreiben verwendet, von der Mimesis des Urgeists und der damit verbundenen Sinnstiftung im Imitatio-Modell. Rilkes Gedicht ist also noch in einem anderen Sinne, als Mason es versteht, eine kritische Antwort auf Georges Lämmer. Gegen Georges poetischen Dezisionismus setzt Rilke eine Ethik des Aushaltens, und gegen den Dichter als Mittler zum Göttlichen setzt er ein Dichterbild, das exklusive Erkenntnis und einen daraus resultierenden Führungsanspruch bestreitet.31
5.2 Kritik an der Imitatio Eine ebenso dezidierte, in ihrer Vehemenz allerdings stärkere Abgrenzung vom Imitatio-Modell nimmt etwa zeitgleich mit Rilke Otto zur Linde (1873–1938) vor.32 Er verfolgt das Gegenmodell des von Nachahmung unabhängigen Selbstausdrucks, den er im Unterschied zur Perfektionierung des Kreises nicht nur ausgewählten Urgeistern, sondern ausnahmslos allen Menschen zugesteht. Sein Ansatz ist ein poetischer Egalitarismus, der prinzipiell jeden für zum Dichten befähigt hält. Die Dichtervereinigung Charon wird 1904 von Otto zur Linde und Rudolf Pannwitz mit der Herausgabe der Zeitschrift Charon gegrün30 31
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„[F]ormt sich aus allem, was wir nicht begreifen / ein Angesicht […]“ (III,3–4). Das setzt sich in anderen Texten Rilkes fort. Der Briefwechsel in Gedichten mit Erika Mitterer (1924–1926) ist z.B. dadurch geprägt, dass ihm die junge Dichterin stilistische und ethische Imitatio anbietet, während er dieses Angebot ablehnt und ihr stattdessen sein Ideal des natürlichen Wachstums zu vermitteln sucht. Literatur über Otto zur Linde: Flora F. Fall: Die beiden großen Erneuerungsbewegungen der deutschen Dichtung um die Jahrhundertwende, Stefan George und Otto zur Linde, Diss. Wien 1935; Hans Hennecke: Einführung zur Auswahl „Charon“ von Otto zur Linde, München: Piper 1952; Werner Kugel: Weltbild und Lyrik Otto zur Lindes, Diss. Köln 1952; Parr (2000): Interdiskursive As-Sociation; Helmut Friedbert Röttger: Otto zur Linde. Die Strukturen der Persönlichkeit und der geistigen Welt, Diss. Bonn 1967; Maria Sadnikar: Die Sprache Otto zur Lindes, Diss. Wien 1934; von Edlinger (2002): Kosmogonische und mythische Weltenwürfe, S. 211–293.
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det.33 Als Monatsschrift für „Dichtung, Philosophie, Darstellung“ erscheint sie von 1904 bis 1914, stellt während des Krieges ihr Erscheinen ein und wird von 1920 bis 1922 unter dem Titel Charon-Nothefte in insgesamt dreizehn Heften fortgesetzt. Neben den im Untertitel genannten Schwerpunkten Philosophie und Dichtung – zur Lindes prägender akademischer Lehrer ist der Neukantianer Heinrich Rickert34 – nimmt die Pädagogik einen starken Raum ein. Hauptbeiträger sind die Herausgeber; hinzu kommen Berthold Otto und seine Tochter Franziska, Otto zur Lindes Ehefrau Verena zur Linde, Karl Röttger und Rudolf Paulsen. Paulsen ist der Sohn des Philosophen und Pädagogen Friedrich Paulsen, der während Berthold Ottos Berliner Studienzeit sein Lehrer ist. Otto, Herausgeber der Wochenschrift Der Hauslehrer (1901 bis 1917, ab 1917 unter dem Titel Deutscher Volksgeist) und Gründer der „Hauslehrerschule“ in Berlin-Lichterfelde (1906) wird zum Begründer einer Reformpädagogik, die bis in die 1950er Jahre als sogenannte Ottoschule existiert.35 Er nimmt Einfluss auf den Charonkreis, da zahlreiche seiner Mitglieder wie Karl Röttger, Franz Lichtenberger, Rudolf Paulsen und Erich Bockemühl Anhänger der Lehren Ottos sind.36 Um den engen Mitarbeiterkreis bildet sich eine in erster Linie von Volksschullehrern getragene charontische Bewegung.37 Aber auch andere Autoren veröffentlichen im 33
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Literatur zum Charon: Rolf Parr: Art. Charon/Gesellschaft der Charonfreunde [Berlin]. In: Wülfing (1998): Handbuch literarisch-kultureller Vereine, S. 61–76; ders.: Charon, Charontiker, Gesellschaft der Charonfreunde. Aspekte eines Modells zur Beschreibung literarisch-kultureller Gruppierungen um 1900. In: Zeitschrift für Germanistik Neue Folge 4 (1994), H. 3, S. 520–532 und ders. (1996): Interdiskursive As-Sociation. Pannwitz dagegen, der 1901 und 1902 in Marburg studiert, bleibt vom Neukantianismus unbeeinflusst und hält sich selbst für Kants völligen Überwinder. – Vgl. Ulrich von Bülow: Im ‚Pannwitz-Bunker‘. Anmerkungen zum Nachlaß von Rudolf Pannwitz. In: „der geist ist der könig der elemente“. Der Dichter und Philosoph Rudolf Pannwitz, hg. v. Gabriella Rovagnati, Overath: Brücken & Sulzer 2006, S. 217–236, hier S. 220f. Vgl. Jürgen Henningsen: Art. Berthold Otto. In: Hans Scheuerl (Hg.): Klassiker der Pädagogik, 2 Bde., Bd. 2, Von Karl Marx bis Jean Piaget, München: C.H. Beck 1991, S. 127–139, hier S. 128 und S. 136. Vgl. Karl Kreitmair: Berthold Ottos Leben und sein pädagogisches Wirken, Nachwort. In: Berthold Otto: Ausgewählte pädagogische Schriften, hg. v. Karl Kreitmair, Paderborn: Schöningh 1963, S. 253–269, hier S. 268. Vgl. Parr (1994): Charon, Charontiker, Gesellschaft der Charonfreunde, S. 522.
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Charon, beispielsweise der junge Ludwig Strauß unter dem Pseudonym Franz Quentin oder Else Lasker-Schüler, die im Februarheft 1905 mit einem Gedicht vertreten ist.38 Ab 1905 erscheinen Schriften im Charon-Verlag: zunächst Zeitschriftenbeiträge in Buchausgaben, dann auch separate Publikationen. 1911 konstituiert sich die Gesellschaft der Charonfreunde mit Sitz in Berlin-Großlichterfelde. Pannwitz ist nur bis zum vierten Jahrgang Mitherausgeber und beendet seine Mitarbeit im Juli 1908 aufgrund weltanschaulicher Differenzen. Die eigene Standortbestimmung wird von den Charontikern in theoretischen Beiträgen lustvoll polemisch betrieben. Gegen die Arno Holz-Schule wenden sie sich, weil sie die dort praktizierte Stilnachahmung ablehnen und stattdessen zumindest dem eigenen Anspruch nach „ohne Schulbetrieb, ohne Poetik, also ganz naiv volksdilettantisch“ dichten;39 gegen den George-Kreis wenden sie sich aus demselben Grund und weil sie ihre „Wirklichkeitsschönheit“ vom „Nurschönen des Georgeästhetentums“ abgrenzen.40 Ihr Programm ist ein ästhetischer Naturalismus, der sich an der Wirklichkeit und nicht, wie der George-Kreis, an einem ästhetischen Ideal orientiert, das der empirischen Wirklichkeit vorgelagert ist. Ebenso wie der George-Kreis versteht der Charon sein Wirken als erzieherisch. Fritz Hennig stellt emphatisch die Frage: „Glaubt ihr wirklich, gute Verse und Bilder seien so wichtig? Glaubtet ihr wirklich, die Charon-Tat seien gute Verse?“ Das „neue Menschentum“ sei wichtiger „als alle Kunst.“41 Beide Richtungen werden von der Reformpädagogik rezipiert, aber nur der Charon steuert bewusst diese Zielgruppe an.42 Die Entwicklung des George-Kreises begleitet der Charon kritisch mit: In den ersten Jahrgängen der Zeitschrift (ab 1904) ist Ästhetizismuskritik vorherrschend, sodann treten ihr die Imitatiokritik (ab 1907) und die Kritik an Bildungskonzepten 38 39 40 41 42
Else Lasker-Schüler: Maria. In: Charon 2 (1905), H. 2, S. 32. Otto zur Linde: Ueber individuelle Kunst und die Gemeinschaft der Volksgenossen. In: Charon 10 (1913), H. 1, S. 17. Rudolf Paulsen in: Beiblätter zum Charon 5 (1908), H. 1, S. 3–5, hier S. 4f. Fritz Hennig: Der Charon. In: Beiblätter zum Charon 10 (1913), H. 4, S. 63–66, hier S. 65. Zu Georges reservierter Haltung gegenüber den Reformschulen vgl. Groppe (2005): Stefan George, der George-Kreis und die Reformpädagogik.
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(ab 1908) sowie ein dezidierter Anti-Platonismus (ab 1913) zur Seite. Damit zeichnet die theoretische Auseinandersetzung im Charon die Entwicklungskurve entsprechender Vorstellungen im George-Kreis nach, wobei die Ästhetizismuskritik nicht von den anderen Vorwürfen abgelöst, sondern vielmehr um diese erweitert wird. Für die charontische Poetik ist der Begriff des „Eigenrhythmus“ zentral.43 Er meint die Befreiung des Verses aus metrischen Stukturen und ist ein Zeugnis der Whitman-Rezeption in Deutschland.44 Daneben wird der Begriff in bildungstheoretischen Programmatiken der Charontiker angewandt. Aus dieser Einstellung folgt die von Berthold Otto beförderte Theorie der Jugendsprache („Altersmundart“)45 und die Aufnahme von Märchen und Erzählungen Jugendlicher in den Charon, die als Zeugnisse ursprünglicher, nicht normierter Ausdrucksfähigkeit gewertet werden.46 1907 schreibt Paulsen provokant: „Dichter ist jeder, sobald man ihm die Hemmungen des anerzognen Stils und des blinden Autoritätsglaubens beseitigt hat“.47 Dieses dichtungstheoretische Konzept ist ein Gegenentwurf zum ImitatioModell des Kreises, das „haltung und führung“, „auswahl und zucht“ verlangt.48 Während im Imitatio-Modell der „lebensrhythmus“ der Urgeister weitergegeben wird und die abgeleiteten Wesen durch Anschluss an den Meister und daraus folgender Contagio daran teilhaben (vgl. Kap. 1.5), folgt die Theorie des „Eigenrhythmus“ der Überzeugung, dass der individuelle „le43 44
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Otto zur Linde: Arno Holz und der Charon, Groß-Lichterfelde: Charonverlag 1911, S. XL. Vgl. Frank Trommler: Theorien und Programme der literarischen Bewegungen. In: ders. (Hg.): Jahrhundertwende: Vom Naturalismus zum Expressionismus 1880–1918 (Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte 8), Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1982, S. 51–85, hier S. 65. Der Begriff der Altersmundart geht auf Otto zurück und geht von der Beobachtung aus, dass die sprachliche Entwicklung des Kindes mit dem sechsten Lebensjahr noch nicht abgeschlossen, sondern bis ins vierzehnte Lebensjahr zahlreichen Änderungen unterworfen sei. – Vgl. Kreitmair (1963): Berthold Ottos Leben, S. 253. Z.B. die Märchen von Berthold Ottos Tochter Helene. – Vgl. Rudolf Pannwitz: Grundriss einer Geschichte meiner Kultur 1881–1906, Regensburg: Habbel 1921, S. 41f. Rudolf Paulsen: Wie ich zum Charon kam. In: Beiblätter zum Charon 4 (1907), H. 2, S. 14–19, hier S. 16. George-Hofmannsthal Briefwechsel, S. 158.
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bensrhythmus“ jedes Menschen wertvoll sei, so wertvoll wie derjenige des Urgeists, und erst durch falsche Erziehung verschüttet werde. Die Kritik des Charon an stilistischer Imitatio richtet sich wie gesagt nicht nur gegen George, sondern auch gegen die Holz-Schule, obwohl und gerade weil diese aufgrund der gemeinsamen Whitman-Rezeption der eigenen Programmatik verwandt ist. Denn Holz sucht seine Lyriktheorie praktisch zu verbreiten, indem er seine Schüler dazu anhält, nach seiner Theorie zu dichten, weshalb im Ergebnis ihre Werke aussehen wie von Holz selbst. In seinem Gedicht Grosser Dichtermittwochnachmittag in meiner Feuerstuhlbude hat Holz das gemeinsame Feilen am Text porträtiert. Er spricht ihnen allen den Meisterstatus zu, nimmt aber durch das Accelerando ins Diminutive diese Aussage wieder zurück: Der ‚Meister‘, der ‚Meester‘, der ‚Maëstro‘, der ‚Maëstrino‘ … und … der ‚Maëstrillo‘!49
Gemeint sind mit den ‚fünf Meistern‘ neben Holz selbst Reinhard Piper, Robert Reß, Georg Stolzenberg und Rolf Peter Martens. Obwohl sich beide Schulen in der Ablehnung Georges als ästhetizistisich einig sind, verläuft ihre gegenseitige Abgrenzung voneinander mit größerer Vehemenz, zumal beide eine Theorie des freien Verses verbreiten und jeweils für sich die alleinige Urheberschaft beanspruchen. Zur Linde kritisiert im Rahmen einer weitausgreifenden Polemik die Stilimitationen der Holz-Schule, Holz’ eigene Lyrik und seine Lyriktheorie. Gerade aufgrund der Verwandtschaft ihrer Poetiken ist das wechselseitige Distinktionsbedürfnis so ausgeprägt. Die Auseinandersetzung erreicht auch deswegen eine höhere Eskalationsstufe, weil Holz sich auf einen Disput einlässt, während zur Linde vom George-Kreis zwar registriert, aber „in hochmütiger Beschränkung“ (Pannwitz) nicht als ernstzunehmender Gegner anerkannt wird.50 49 50
Arno Holz: Werke in sieben Bänden, hg. v. Wilhelm Emrich und Anita Holz, Bd. 3, Phantasus 4/[5], Neuwied a.Rh.: Luchterhand 1961, S. 56. Rudolf Pannwitz: Maßstäbe und Beispiele lyrischer Synthese III. Otto zur Lindes Mythen. In: Das junge Deutschland 2 (1919), H. 9, S. 207–211, hier S. 207.
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Die Charontiker richten sich vor allem gegen den Aspekt des normierten Formens, weil er dem Ideal des autarken Wachsens entgegen steht. Pannwitz schreibt im Nachwort zu seiner Charonpublikation Kultur, Kraft, Kunst (1906), dass das „bewußt reguliert[e] Formen“ zum „mechanischen Formen“ führe und kunstfeindlich sei.51 Kunst gedeihe nur „ungepflanzt, ungepflegt, auf jedem Boden, wenn man sich hütet, sie zu pflegen, sondern alle fleißigen, täppischen Gärtnerhände so fern hält als möglich.“52 Das Eingreifen eines Gärtners, welches die organische Idealisierung im Kreis vorsieht, wird von Pannwitz abgelehnt. Den Bezug auf George macht Pannwitz explizit: Das ist eben das zum Lachen und Weinen, daß ein Stefan George nach all dem Aufwande an Originalitätspflichtbewußtsein doch ein Vermittler romanischer Formen und romanischer ‚Formstrenge‘ bleibt. Eben diese Nachahmung, diese Gesetzgeberei, die wir ganz loswerden müssen, um endlich echt zu werden, um endlich Form zu bekommen.53
Gegen Stilnachbildung setzt der Charon das Prinzip des Selbstausdrucks, nach dem „jeder reden darf, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Sobald Regeln kämen, wäre ein Weg zu Ende und dann ists aus.“54 1921 schreibt Pannwitz, er habe bei zur Linde gelernt, „was man bei george nur zur einen hälfte lernen kann – nämlich […] rythmik die den prozess der psyche widerbildet also nicht gebilde sondern gewächse hervorbringen.“55 Formen und Wachsen begreift er als zwei komplementär aufeinander bezogene Gestaltungskräfte und bezieht sie auf die Antipoden George und zur Linde. Er verkürzt damit die Positionen des Kreises auf den Aspekt des äußeren Formens, obwohl doch nicht zuletzt das Idealisierungskonzept des Imitatio-Modells eine Synthese leistet. Der Formalismusvorwurf verbindet sich mit Imitatio-Kritik, wenn Pannwitz die Stilimitationen des George-Kreises als „mechanisches Weiterschnurren des gut geölten Rädchens“ bezeichnet.56 1906 adressiert zur Linde ein Ge51 52 53 54 55 56
Rudolf Pannwitz: Kultur, Kraft, Kunst. Charon-Briefe an Berthold Otto, Leipzig: Charonverlag K.G. Th. Scheffer 1906, Nachwort, S. 119–128, hier S. 121. Pannwitz (1906): Kultur, Kraft, Kunst, Nachwort, S. 123. Pannwitz (1906): Kultur, Kraft, Kunst, Nachwort, S. 123. Paulsen (1908): Beiblätter zum Charon, S. 4f. Pannwitz (1921): Grundriss einer Geschichte, S. 37. Pannwitz (1906): Kultur, Kraft, Kunst, S. 120. – Zur Opposition von Leben und Maschine um 1900 vgl. Lubkoll (2002): Rhythmus, S. 83–85 und passim.
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dicht an seinen Mitstreiter Otto, das die Imitierenden aus dem „Volk der Dichter“ ausschließt: Dies aber ist Fahrtvater Charons Botschaft an das Volk der Dichter: So du willst tun was andre tun, bist du ein Affe-mensch, doch nie ein Mensch-dichter.57
Eine festes Reim- und Strophenform und ein metrisches Schema fehlen passend zum Text und gemäß der Theorie des „Eigenrhythmus“. Programmatisch formuliert zur Linde eine Ethik der Nicht-Imitatio: Der imitierende ‚Nachäffer‘ befinde sich am unteren Ende der Menschheitsentwicklung zum Homo dictans. Zur Lindes poetologische Abwehr des Nachahmungsgedankens korreliert mit einem philosophischen Ansatz, der das Einzelne gegenüber dem Allgemeinen betont. Für zur Linde ist „das Einzelwesen immer umfassender“ als die „Gattung“, woraus er folgert, dass es keine normierte Sprache gebe, sondern nur „jedes Menschen eigene Sprache.“58 Aus diesem Grund ist Platon für den Charon ein rotes Tuch. Zur Linde kritisiert den Bau des platonischen Staates mit seiner „Betonung der homosexuellen Nüanze“ und wendet sich damit implizit gegen die antike Knabenliebe.59 Die antike Ablehnung der Frau setzt sich für die Charontiker im George-Kreis fort. Christus ist für zur Linde die positive Gegeninstanz, denn „wo hat Christus je von einer Frau gesagt: ‚sie hatte wie die anderen ein Mal‘“?60 An dieser Stelle zitiert zur Linde ohne Namensnennung aus Algabal und verweist so implizit auf einen Adressaten seiner Kritik. Die mit dem pädagogischen Eros des Kreises einhergehende Misogynie wird von ihm als unethisch wahrgenommen. In seinem Aufsatz Ueber individuelle Kunst und die Gemeinschaft der Volksgenossen geht Otto zur Linde auf Nachahmung ein. Anstelle von Imitatio spricht er in polemischer 57 58 59 60
Otto zur Linde: Bruchstück. In: Charon 3 (1906), H. 8, S. 240. Otto zur Linde: Anmerkung. In: Beiblätter zum Charon 4 (1907), H. 2, S. 16 (Anm.). Otto zur Linde: Ueber individuelle Kunst und die Gemeinschaft der Volksgenossen. In: Beiblätter zum Charon 11 (1914), H. 1, S. 1–11, hier S. 2. Otto zur Linde: Charonziele. In: Beiblätter zum Charon 5 (1908), H. 5, S. 43–47, hier S. 44.
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Absicht von Mimikry. Dieser Begriff ist bereits negativ gefärbt und betont den uneigentlichen, ja berechnenden Charakter von Nachahmung. Statt zur Idealisierung (und nur in einer letzten Schwundstufe zur Leerformel gerinnend) führt Imitatio in zur Lindes Darstellung ausschließlich zur Dekadenz: Mimikry ist immer dort zu argwöhnen: wo ein furchtsames Dogma sein hässliches Haupt hebt. Wo das furchtsame Dogma langsam ‚feist‘ wird, und dann sich ‚aggregiert‘ und ein Herdendogma wird, statt ein Volksideal. Dreifünftel aller ‚Kultur‘ ist immer solche Mimikry der Minderrasse.61
Zur Linde will eine „individuelle Kunst“ und verneint, dass diese auf die gesamte Kultur übertragen werden könne. Eine qua Imitatio gewonnene Leitkultur führe eben nicht zur Verbesserung, sondern zu ästhetisch unbefriedigenden Ergebnissen, und diene rein zu Herrschaftszwecken.62 Der Begriff „Minderrasse“ ist ideologisch belastet, wird aber von zur Linde in zeittypischer Anwendung darwinistischer Metaphorik auf kulturelle Phänomene im übertragenen Sinne verwendet.63 Zur Linde betont einseitig den Dekadenzgedanken, der, als Endpunkt einer kulturellen Entwicklung verstanden, auch dem Imitatio-Modell des Kreises innewohnt. Er lehnt jegliche Imitation als kulturelle Gleichschaltung ab. Paulsen, Nationalsozialist der ersten Stunde, interpretiert nun aber zur Linde wie folgt: „Der Selbstdenker als Volksdenker: das ist der volksorganische Denker, der die Synthese leistet: Individualsozialismus.“64 Es geht ihm nicht um das individuelle Heranwachsen, sondern um das gesamte Volk. Er bezieht sich an dieser Stelle auf Berthold Ottos philosophisches Hauptwerk Volksorganisches Denken, das das Denken jedes Einzelnen als „organisch“ aus der jeweiligen Sprachgemeinschaft herauswachsend versteht und auf Gedanken der jüdischen Sprachpsycholo-
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Zur Linde (1913): Ueber individuelle Kunst, S. 3. „Und überall ist dort die Mimikry: wo Ideale und die scheinbaren ‚Schöpfer‘ solcher Ideale zu Herrscherzwecken missbraucht werden, anstatt zum Dienst am Volkstum.“ – Zur Linde (1913): Ueber individuelle Kunst, S. 3. Vgl. zur Rezeption darwinistischer Metaphorik Hermann Josef Schnackertz: Darwinismus und literarischer Diskurs. Der Dialog mit der Evolutionsbiologie in der englischen und amerikanischen Literatur, München: Fink 1992, S. 9–25. Rudolf Paulsen an Friedrich Georg Muth, Brief vom 4. März 1941 (DLA).
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gen Moritz Lazarus und Hajim Steinthal fußt,65 deren Zeitschrift für Völkerpsychologie Otto auf dem Gymnasium kennenlernt.66 Die ästhetischen und sprachtheoretischen Reflexionen Ottos überträgt Paulsen auf das Ideal der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft. Bereits 1912 verteidigt Paulsen das Führerprinzip: „[D]ass irgendwer vorangeht, dass andre geführt werden, das ist keine Bosheit der Führenden, ist auch nicht unsozial, sondern Balanze des Einzelethos gegenüber der Gesamtheit.“67 Auch am George-Kreis kritisiert er nicht das Imitatio-Modell, sondern das ‚Undeutsche‘: Die Blätter für die Kunst oder deren Umgebung erklären, für den Deutschen wäre, dass er eine Geste bekäme, wichtiger als zwölf eroberte Provinzen. Ich halte ja nichts dagegen, dass man dort so spricht und denkt. Nur, das Unrecht ist, dass man sich dort als Deutsche aufspielt und mit dem Wort deutsch sogar eine gewisse Verschwendung treibt.68
Das unverkennbare Distinktionsbedürfnis kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es Anknüpfungspunkte und strukturelle Analogien gibt. Der ganze Bereich der Selbstdokumentation durch Erlebnisberichte, Briefe und Tagebücher eint den Charon und den George-Kreis. Die in den Charon-Heften abgedruckten autobiografischen Zeugnisse der Charontiker, die von der radikalen Umwälzung ihrer bisherigen Wertvorstellungen berichten, haben Bekenntnischarakter und wirken normierend darauf, wie die neu Hinzustoßenden ihren Beitritt wahrnehmen. Der Eintritt in die charontische Bewegung wird analog zu Berichten von Angehörigen des George-Kreises als Auslöschung und Neugeburt beschrieben.69 Idealtypisch ist der Erlebnisbericht Rudolf Paulsens Wie ich zum Charon kam.70 Paulsen verwendet Metaphern, die angesichts einer auf Eigenbewegung beruhenden Poetik überraschen. Paulsen schreibt, zur Linde habe ihn „ge65 66 67 68 69 70
Vgl. Willy Potthoff: Einführung in die Reformpädagogik, Freiburg i.Br.: Potthoff, vierte, aktualisierte Auflage 2003 [erste Auflage: 1992], S. 58–65, hier S. 63. Vgl. Kreitmair (1963): Berthold Ottos Leben, S. 258. Paulsen (1912): Otto zur Linde, S. LXXIV. – Paulsens Prosastil imitiert, nebenbei bemerkt, die unverkennbare Sprache zur Lindes. Rudolf Paulsen: Vom deutschen Schrifttum. In: Beiblätter zum Charon 8 (1911), H. 5, S. 63–66, hier S. 64. Zu George vgl. Karlauf (2007): Stefan George, S. 382–386. Paulsen (1907): Wie ich zum Charon kam, S. 14–19.
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schaffen“, indem er ihn aus seinen „Schlacken herausgeläutert“ habe. Das „grausam[e]“ Formen diene indes einzig dem Zweck, das wahre Ich des Schülers freizulegen. Paulsen formuliert damit das Ideal des platonistischen Bildens, wie es im Kreis anzutreffen ist. Er […] hat mich geschaffen. Er hat mich aus meinen Schlacken herausgeläutert, denn ich war schon da. Aber ein Neuer bin ich doch bei dieser Chemie geworden. Er schlug mir nämlich erst mal alles entzwei oder zerriss es, also meine Gebäude in der Dichtkunst, meine Kappen und Mäntelchen in meinem Wesen, er zeigte mir die Miserabilität meiner meisten Gedichte, kurz er war äusserst grausam; als das aber alles vorbei war, da sass ich im wohnlichen Charonhaus und machte Gedichte, von deren Wert nicht nur ich überzeugt war.71
Paulsen durchläuft bei zur Linde eine ähnliche Schule wie ein hoffnungsvoller Adept es im Kreis täte. Dazu gehören Techniken der Exercitatio wie das Einüben der richtigen Lesetechnik. Gelesen werden solle „ledern“, ohne eigene Betonung; nur dann könne der Rhythmus des Gedichts wirksam werden.72 Demnach scheint das angestrebte Ideal ähnlich geklungen zu haben wie das quasi-liturgische, undeklamatorische Lesen Georges. Im Jahr 1911 organisiert die Charon-Ortsgruppe Groß-Lichterfelde drei Leseabende, und Paulsens Rückblick legt einen vergleichbar kultischen Gestus nahe. Wir […] bemühten uns, weniger uns als Rezitatoren zur Geltung zu bringen, als vielmehr die Worte der Dichtung wirken zu lassen. Wenn dann hinterher die Zuhörer sagten, es sei ‚wie in der Kirche‘ gewesen, so meinten sie das meist als Tadel.73
Paulsen betont, „dass eine Masse Arbeit dazu“ notwendig sei, ein Charondichter zu werden.74 Programmatische Differenzen zum George-Kreis bestehen hingegen in der Kritik des ImitatioGedankens und der damit verbundenen Abwehr von Autorität. Eben diese beiden Punkte werden von Paulsen unterminiert, wenn er von Führung und Gefolgschaft spricht, von äußerer Formung und von dem Bemühen, die eigene Individualität zurückzunehmen. Der charontische Individualismus verkehrt sich 71 72 73 74
Paulsen (1907): Wie ich zum Charon kam, S. 18. Zur Linde (1911): Arno Holz und der Charon, S. XXIV. Rudolf Paulsen: Mein Leben. Natur und Kunst, Berlin: Junker und Dünnhaupt 1936, S. 30f. Paulsen (1912): Otto zur Linde, S. LIX.
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damit in sein Gegenteil. Sein Konzept des individuellen Wachsens wird von Paulsen völkisch reinterpretiert und auf die NSIdeologie übertragen. Auch hier findet sich eine Parallele zu Entwicklungen im George-Kreis mit dem Regulierungsdenken von Angehörigen der dritten Kreisgeneration. Noch ehe die theoretische Abgrenzung von George in den Beiblättern beginnt, stehen im Charon satirische Gedichte, die eine entsprechende Positionierung vornehmen.75 Paulsen erinnert sich an „mehrere Attaquen auf die Aestheten […], bei denen das derbe deutsche Musenmädel die blutleeren Gesellen tüchtig durchwalkte.“76 Er bezieht sich auf das satirische Gedicht An die Ästheten von Otto zur Linde im Maiheft 1904 und auf das gleichnamige Zeitgedicht von Pannwitz im Juniheft 1905. Zur Lindes An die Ästheten bildet den Auftakt einer kritischen Auseinandersetzung der Charontiker mit dem GeorgeKreis. Anders als Gundolf, Wolfskehl und Borchardt, die auf antike satirische Formen wie Xenien und Jamben zurückgreifen, verwendet zur Linde eine einfache Liedstrophe mit vier Hebungen pro Verszeile und Kreuzreim. Diese eingängige Form ist eher untypisch für zur Lindes Lyrik. Eine Vorliebe für regelmäßige Jamben brandmarken schon die Gebrüder Hart im dritten Heft von Kritische Waffengänge (1882) als Zeichen eines poetischen Dilettantismus.77 Somit greift Otto zur Linde für den Zweck der satirischen Abrechnung auf lyrische Formen zurück, die struktural nichts mit seiner eigenen Poetik zu tun haben. Die abgenutzten Formen sind für die Adressaten seiner Kritik gerade gut genug. An die Ästheten verwendet eine sexuelle Metaphorik, deren Derbheit der Herabsetzung des Gegners ebenso wie dem Herausstreichen der eigenen Virilität dienen soll. In der zweiten Strophe spielt zur Linde auf den Pygmalionmythos an und auf die Selbstbezüglichkeit ästhetizistischer Kunst. Die Muse wird zum Pin-up-Girl und der Musenkuss zur autoerotischen Handlung.
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In einer programmatischen Nachrede im ersten Heft heißt es lediglich, dass der Charon die reine Wirklichkeit abbilden und keinen bestimmten Stil kultivieren will. – Charon 1 (1904), H. 1, S. 15. Paulsen (1907): Wie ich zum Charon kam, S. 16. Heinrich und Julius Hart: Ein Lyriker à la mode. In: Kritische Waffengänge (1882), H. 3, S. 52–58.
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Das ist die Onanie der Kunst Die ihrer Lenden Kraft misstraut; Krank: ohne Lebens Liebe-gunst Verschwelgt sie vor gemalter Braut.78
Geradezu topisch ist die Verbindung von Ästhetizismuskritik mit dem Vorwurf sexueller Devianz. Ästhetizistische Kunst als „Unnatur“ (XIII,4) ist für den Charon gleichbedeutend mit geschlechtlicher Perversion. Zu einem Zeitpunkt, an dem George sich längst selbst kritisch über den Ästhetizismus äußert,79 wird dieses Stereotyp von Otto zur Linde weiter gepflegt. In der dritten Strophe führt er zu diesem Zweck die Schminkmetapher ein. Sie passt sowohl zur Ästhetizismus- als auch zur Nachahmungskritik.80 Die Scheiben des Spiegels, vor dem „[d]er Jünger Schwatzschar“ (IV, 2) entzückt posiert, sind bunt gefärbt. Indem es kein klarer Spiegel, sondern ein bunter ist, radikalisiert zur Linde den Narzissmythos. Der Betrachter sieht sich selbst farbiger, als er wirklich ist.81 Die Spiegelmetapher verweist auf den mimetischen Charakter von Kunst und auf ihre Erkenntnisfunktion: Beides wird der ästhetizistischen Kunst abgesprochen. Zur Linde kritisiert ihre Selbstbezüglichkeit und ihre Scheinhaftigkeit. Mit der Metapher des gefärbten Spiegels wirft er dem Ästhetizismus vor, die Wirklichkeit verzerrt wiederzugeben („Die Welt ist nicht wie ihr sie macht“, IX, 4).82 Zur Linde spricht George ab, dass mit ethischer und stilistischer Imitatio irgendet78 79 80
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Otto zur Linde: An die Ästheten. In: Charon 1 (1904), H. 5, S. 73f., hier S. 73. In der sechsten Folge der Blätter (1902/03) erscheinen die ersten Zeitgedichte. Bereits Erasmus von Rotterdam vergleicht die sklavische Imitatio des ciceronianischen Stils mit der Überschminkung des eigenen Gesichts. – Vgl. Leander Scholz: Das humanistische Kommunikationsmodell. In: Gelehrte Kommunikation. Wissenschaft und Medium zwischen dem 16. und 20. Jahrhundert, hg. v. Jürgen Fohrmann, Wien, Köln und Weimar: Böhlau 2005, S. 67–99, hier S. 95. Die Substitution des klaren Spiegels durch einen gefärbten hat offenbar eine lyrische Tradition. Als Zufallsfund wiedergegeben seien die folgenden (anonym überlieferten) Verse: „Je suis un Narcisse nouveau / qui s’aime et qui s’admire; / Mais dans le vin, et non dans l’eau, / Je m’observe et me mire: / Lorsque je vois le coloris / qu’il donne à mon visage, / De l’amour de moi meme èspris / J’avate mon image.“ In: Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, D-Hs, Cod. hans., 4, IV, 38, 4, Matthesoniana Poëtica et Musica Autographica, Konv. 3, Gedankensplitter erbaulich, philosophisch, literarisch, Pos. 17. Die Kursivierung ist wohl bewusst gesetzt, um den in den Blättern verwendeten Begriff der „mache“ zu exponieren.
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was Substanzielles übertragen werde, es werde ein bloßer Personalstil dupliziert. Die Spiegelmetapher bezieht sich demnach sowohl auf die Produktions- als auch auf die Rezeptionsseite seiner Kunst. In der folgenden Strophe spricht zur Linde die für seine Poetik zentrale Überzeugung aus, dass das dichterische Subjekt im Objekt sterben müsse („Das Sterben vorm Objekt, das ist mein dichterisches Erschaffen des Objekts.“),83 und vertritt darin dieselbe Auffassung wie Hofmannsthal in seinem Gespräch über Gedichte (vgl. Kap. 4.1). Denn was ich mache dess’ bin ich Und sterb ihm. Dieses Was: nicht gut Ist’s, wahr, noch schön. Und ist durch mich, Drum ohne mich. Es ist und tut. Es ist und tut, mag Kunst auch zeugen, Ist Vater, nicht das Kind. Wenn schon Wir vor dem Kind uns betend beugen: Sei’s Christus; der hat keinen Sohn.84
Imitatio hat für zur Linde ihren Ort in religiösen Sinnzusammenhängen, nicht in ästhetischen. An dieser Stelle scheint seine christliche Grundhaltung durch. Außerdem sagt er sich von einer klassizistischen Kunst des Guten, Wahren und Schönen los.85 Die abschließende dreizehnte Strophe läuft auf die Pointe hinaus, dass die ästhetizistischen „Eunuch[en]“ selbst reine Kunstprodukte seien und daher, sobald sie künstlerisch produktiv zu werden versuchten, ein inzestuöses Verhältnis mit ihrer eigenen „Mutter“ eingingen. Aus charontischer Perspektive sind
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Zur Linde (1911): Arno Holz und der Charon, S. LIV. Zur Linde (1904): An die Ästheten, S. 74. Womöglich ist die folgende Passage aus Gundolfs Aufsatz, wenngleich ohne Namensnennung, eine Reaktion darauf: „Man hat ihm [George] nachgesagt dass er durch einen monumentalen solipsismus den dingen in seinem rhythmus ihr eigenleben nehme. Aber in keinem kunst-gebild haben dinge ein eigenleben und Georges solipsismus erscheint nur stärker, weil er die kunstwerdung der objekte strenger vollendet hat als unsre dichter vor ihm. Nur in der bekenntnisbegriffs- oder tendenzpoesie gibt es ein eigenleben der dinge – also in halb rohstoff gebliebner.“ – Gundolf (1910): Das Bild Georges, S. 20.
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die Ästhetizisten keine biologischen und im übertragenen Sinne auch keine literarischen Konkurrenten, da sie weder zur erfüllenden Vereinigung noch zur Zeugung von lebensfähigen Nachkommen fähig seien. Euch schuf die Kunst sich selbst entwindend, Eunuch, des Mädchens Nabelschnur: Der mit der Mutter neu sich bindend Den Kreis läuft schöner Unnatur.86
Zur Lindes Zeugungsmetaphorik lässt sich ebenso wie die Spiegelmetapher auf seine Nachahmungskritik beziehen. Er bezeichnet das Entstehen ästhetizistischer Kunst als einen poetischen Klonvorgang, bei dem sich die Kunst in einem geschlossenen System selbst dupliziere. Der Vorwurf ist nur triftig, wenn man Georges Substanz-Vorstellung ausklammert oder behauptet, sie funktioniere nicht. Der Stellenwert dieses Gedichts für die Gruppenkonstitution der Charontiker geht aus einer Episode in der ersten Begegnung von Rudolf Pannwitz mit Hanns Meinke hervor. Pannwitz rezitiert diese Verse in einem bedeutsamen Moment, um den anderen an den Charon zu binden. Noch während seiner Ausbildung am Lehrerseminar liest Meinke sowohl im Jahr der Seele und im Teppich als auch in der Charon-Zeitschrift. Auf seiner ersten Stelle als Lehrer in Schlegeln bei Märzwiese (Kreis Crossen/ Oder) lernt Meinke Bekannte von Pannwitz kennen, der in Crossen aufgewachsen war, und erfährt dessen Berliner Adresse. Danach nimmt er brieflichen Kontakt auf.87 Sein erstes Zusammentreffen schildert er als Bekehrungserlebnis. Am „Spätnachmittag, bei beginnender Abenddämmerung“, holt Meinke Pannwitz vom Bahnhof ab und hat seinen „schottischen Schäferhund Philo“ an seiner Seite, den er „an einem lila Seidenbande von einer der Tüllhauben meiner längst verstorbenen Großmutter“ führt.88 Pannwitz rezitiert noch auf dem Weg das Gedicht An die Ästheten, mit Erfolg: Meinke lässt ab von seinem lilaseidenen Ästhetizismus, besucht am 28. Dezember 190489 Otto zur Linde 86 87 88 89
Zur Linde (1904): An die Ästheten, S. 74. Vgl. Meinke (1961): Stefan Georges Spruch „H. M.“ Meinke (1961): Stefan Georges Spruch „H. M.“, S. 40. Vgl. Hanns Meinke an Rudolf Pannwitz, Brief vom 29. Dezember 1904 (DLA).
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in Charlottenburg und wird „über Nacht ein Charontiker […] und damit ein Antipode Stefan Georges und seines Kreises.“90 Offenbar ist sich Meinke vor seiner Begegnung mit Pannwitz der Opposition zwischen George und dem Charon ebenso wie derjenigen zwischen George und Borchardt nicht bewusst.91 Erst mit dem Eintreten in den ‚inner circle‘ greifen die Distinktionsmechanismen. Nach dem ersten Besuch von Pannwitz schickt Meinke ihm ein Charon betiteltes freirhythmisches eigenes Gedicht mit der Bemerkung: „Aus der ‚neuen periode?‘?“ [sic] und signalisiert damit, dass er die Begegnung als einen poetischen Einschnitt betrachtet.92 Es wird ferner deutlich, wie wichtig auch für die Charontiker die persönliche Kontaktaufnahme ist. Nicht zuletzt ist Meinkes Schilderung deswegen interessant, weil sie zeigt, welchen Gebrauchswert satirische Lyrik im Charon hat: An die Ästheten hat persuasive und didaktische Funktion und wird unmittelbar zur Korrektur von Fehlverhalten eingesetzt. Etwas anders steht es um ein Gedicht gleichen Titels von Pannwitz. Es hat neben den satirischen Anteilen die Funktion einer retrospektiven Selbstkritik. Denn beim frühen Pannwitz finden sich zahlreiche Berührungspunkte mit George. Sie sind in erster Linie biographischer Natur. Er unterrichtet in seiner Berliner Studienzeit 1904 die Kinder von Reinhold und Sabine Lepsius,93 ist bekannt mit Gertrud Kantorowicz und steht seit 1903 mit Wolfskehl in Briefkontakt.94 Pannwitz ist mit dem Totengedicht, das George schätzt,95 einmalig in den Blättern vertreten.96 Offensichtlich erwägt er im Vorfeld der Zeitschriftengründung, sein Totengedicht von der Veröffentlichung zurückzuziehen. 90 91 92 93 94
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Meinke (1961): Stefan Georges Spruch „H. M.“, S. 40. Vgl. den weiter oben erwähnten Brief von Hanns Meinke an Berthold Vallentin vom 2. März 1912 (STGA). Hanns Meinke an Rudolf Pannwitz, Brief vom 24. Dezember 1904 (DLA). Erwin Jaeckle: Rudolf Pannwitz. Eine Darstellung seines Weltbildes, Diss. Zürich, Tübingen: Laupp 1937, S. 678. Vgl. Marco Meli: „Du selbstherrscher und ich treibendes element“: Rudolf Pannwitz’ ästhetische und philosophische Auseinandersetzung mit Stefan George und Friedrich Nietzsche. In: „der geist ist der könig der elemente“. Der Dichter und Philosoph Rudolf Pannwitz, hg. v. Gabriella Rovagnati, Overath: Brücken & Sulzer 2006, S. 113–133, hier S. 120. Vgl. Meli (2006): „Du selbstherrscher und ich treibendes element“, S. 120. Rudolf Panwitz: Das Totengedicht. In: Blätter VII, S. 142–144.
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Der von ihm zu Rate gezogene Charon-Mitarbeiter Heinrich Goesch antwortet:97 Lieber Herr Pannwitz! Ich rate Ihnen, das Gedicht den B. f. d. K. zu lassen. Der einzige Schade, in den Geruch der Perversität zu kommen, kann Ihnen kaum zustoßen. Übrigens sind Wolfskehl, Heiseler und ich glaube auch Klages übrigens auch Hofmannsthal nicht pervers. Im übrigen kann es dem Charon nur nutzen wenn er als ein Glied der großen Kunstbewegung […] schon äußerlich dadurch legitimiert wird, daß ein Herausgeber auch von jener anderen Seite anerkannt wird. Daß übrigens George, der ganz allein über die Aufnahme bestimmt, den von Ihnen bezeichneten Grund hat, will ich gern glauben. Er scheut ja nicht mehr davon zurück die Knabenliebe zu verherrlichen (Tage u Taten, Eine Erinnerung des Sophokles, Zeitgedichte: Leo XIII).98
Obwohl die Blätter, anders als z.B. Der Eigene, keine homosexuelle Programmatik haben, werden sie aufgrund der Inhalte von Georges Lyrik damit assoziiert. Während Goesch den „Geruch der Perversität“ als geringes Übel darstellt, hält Pannwitz diese Konnotation für problematisch. Vielleicht sieht er sich deshalb dazu genötigt, eine öffentliche Abgrenzung vorzunehmen. Im zweiten Jahrgang des Charon (1905) erscheint Pannwitz’ umfangreiches, 161 Blankverse umfassendes „Zeitgedicht“ mit der Widmung An die Ästheten.99 Pannwitz nennt jenes Gedicht viele Jahre später in einem Brief an Hofmannsthal die „jugendeselei des unanständigen angriffs worin doch viel not und tiefe war“.100 Tatsächlich ist Pannwitz’ Text anders als zur Lindes anteilig eine poetologische Selbstreflexion. Eingangs lässt das Spre97
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Goesch ist in den ersten drei Jahrgängen des Charon unter dem Pseudonym T. P. Heinrich vertreten und Koautor des Buches Das Georgesche Gedicht (Berlin: Edelheim 1902 zus. m. Hermann Kantorowicz unter dem Pseudonym Kuno Zwymann), welches Pannwitz intensiv rezipiert. – Vgl. Pannwitz (1921): Grundriss einer Geschichte, S. 31; Stefan Knödler: Rudolf Borchardts Studienfreund Heinrich Goesch (1880–1930). Vortrag gehalten am 23. Mai 2009 auf der Sechsten Forschungsklausur über Rudolf Borchardt in München, 21. Mai – 23. Mai 2009. Heinrich Goesch an Rudolf Pannwitz, Brief undat. [1904?] (DLA). Rudolf Pannwitz: Zeitgedicht. In: Charon 2 (1905), H. 6, S. 106–110. Rudolf Pannwitz an Hugo von Hofmannsthal, Brief vom 11. August 1917. In: Hugo von Hofmannsthal, Rudolf Pannwitz, Briefwechsel 1907–1926. In Verbindung mit dem Deutschen Literaturarchiv hg. v. Gerhard Schuster. Mit einem Essay von Erwin Jaeckle, Frankfurt a.M.: S. Fischer 1994, S. 26.
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cher-Ich einen vergangenen Zustand noch einmal aufleben, um sich dann von ihm zu distanzieren. Dennoch wird das verführerische Potenzial dieses Zustands deutlich. Die Eingangsszenerie ist eine abendliche Landschaft von Kiefern und Sand. Das Gedicht beginnt mit den Worten: „Nun ists wie damals: auf die Heide geh ich“ (1). Im Folgenden wird ein vergangener Seelenzustand entfaltet: „Damals / War mirs Verheissung, fiebersüsser Traum“; der „[d]ie Gleichung fände zwischen sich und sich / Und im vertieften Selbst sich spiegelte, / Geheimnissüchtig, aber allverknüpft. / Das war der schwere Trug.“ Das Ich täuscht sich darin, dass die Lösung des Lebensrätsels greifbar scheint – „allverknüpft“ erinnert an Hofmannsthals traumähnlichen Zustand der Präexistenz. Ebenso wie beim frühen Hofmannsthal besteht bei Pannwitz die negative Kehrseite dieses Gefühls der Allverbundenheit in der Unfähigkeit, mit den Dingen in eine echte Beziehung zu treten. So schlägt das schöne Anfangsbild von weißgekleideten, spielenden Kindern und von spazierenden Paaren am Ende des Gedichts um, wenn die Dämmerstunde zur Nacht wird und die „geduckten Kiefern“ im „stumpfsten Blau“ wie verloren „zwischen Wald und Stadt“ stehen (149f.). Die farbenprächtig entworfene Landschaftsszenerie wird in ihr Gegenteil verkehrt: Sie entspricht dem Typus des „unheimlichen Gartens“, dem Gegenbild des ästhetizistischen Gartenparadieses, der das „schlechte Gewissen des Künstlers gegenüber seinem Ästhetizismus“ offenbart.101 Im Mittelteil wendet sich der Sprecher einem „ihr“ zu. Nun erst beginnen die eigentlichen „Attaquen“ gegen die „Ästheten“ von denen Paulsen spricht.102 Diese Menschen, so der Vorwurf, lebten ein Scheinleben und zehrten wie Vampire von fremdem Blut. Durch den Abendmahlsvergleich spielt Pannwitz auf kunstreligiöse Vorstellungen an (43). Jener Bezug setzt sich im Motiv der Kelche fort, mit denen sich die Ästhetizisten berauschen, wobei diese Trunkenheit den Schaffensrausch, den poeti-
101
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Thomas Koebner: Der Garten als literarisches Motiv. Ausblick auf die Jahrhundertwende. In: Park und Garten im 18. Jahrhundert. Colloquium der Arbeitsstelle 18. Jahrhundert, Gesamthochschule Wuppertal, Würzburg und Veitshöchheim, 26.–29. September 1976, Heidelberg: Winter 1978, S. 141–192, hier S. 160. Paulsen (1907): Wie ich zum Charon kam, S. 16.
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schen Enthusiasmus, zum bacchischen Enthusiasmus travestiert. Sie bleiben „[g]etrennt von der Natur“ im Bereich einer Kunst, die ihren metaphysischen Anspruch auf Welterklärung nicht einlösen kann. Die Genese ästhetizistischer Kunst wird von Pannwitz als parasitäres Ausnutzen fremden Erlebens, als Rausch „von fremdem Geist“ (56) kritisiert. Der Vampirismusvorwurf wird in der folgenden Passage fortgeführt. Nun geht es um abgeleitete Emotionen, um Gefühle aus zweiter Hand. Und so zum zweitenmal und dauernder Getrennt von der Natur mischt ihr Gebilde; Wes ihr bedürft – demütigen Gewands – Entkleidend, die es tragen: alle Wesen, So dass sie schamlos nackt in weissen Sälen Gedrängt und sinnlos beieinander stehn Und ihr in Wollust schwelgt, der sonst versagten, In weichen Mänteln und an warmen Öfen.
Die Ästhetizisten, so Pannwitz, erregten sich an ihren eigenen Kunstprodukten, verschlössen sich der Natur, schafften eine eigene, blutleere Kunst und eine künstlich aufgeheizte sexuelle Atmosphäre. Nur unter diesen Voraussetzungen sei ihnen die („sonst versagt[e]“) Wollust möglich. Ein weiterer Aspekt seiner Kritik berührt die „sinnlos[e]“ Überproduktion, die entstehe, wenn nur technisch, nicht erlebnisbezogen geschaffen werde. Ästhetizistische Kunst nennt Pannwitz „schamlos“ und verurteilt sie somit nicht nur ästhetisch, sondern auch moralisch. Er stellt ihre Vertreter als eine elitäre und dekadente Inzestgemeinschaft dar. Das „demütige Gewand“, welches an die biblische Kleiderallegorese erinnert,103 wird mit negativ konnotierten „weichen Mänteln“ und erzwungener Entblößung kontrastiert. Pannwitz erweitert somit den aus der antiformalistischen Tradition bekannten negativen Statuenvergleich um den Vorwurf der sexuellen Perversion. Ästhetizistische Kunstprodukte vergleicht er mit nackten Statuen, die dem voyeuristischen Blick ihrer Schöpfer ausgesetzt seien. Die Ästhetizisten benötigten extreme visuelle Reize und haptische Stimulation, um sich ihrer eigenen 103
Der alttestamentliche Gott macht Adam und Eva nach dem Sündenfall Kleider, um ihre Scham zu verbergen. In der Johannesoffenbarung tragen die Erlösten ein weißes Kleid.
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Existenz zu vergewissern. Erst aus der Ekstase der „Reue“ (70) komme etwas „wie ein Glanz des grossen Pan“ (76) auf sie. Pannwitz suggeriert, dass die Ästhetizisten von christlichen Moralvorstellungen abhängig seien, die sie für ihre Grenzüberschreitungen benötigten, welche nie mehr als ein Abglanz des dionysischen Rauschs seien. Die Statuenmotivik und der Vorwurf des nur performativ erreichten Scheinlebens erinnern an Rilkes An Stephan George (vgl. Kap. 5.1). In der folgenden Passage schaltet sich das Sprecher-Ich wieder ein und betrauert den Verlust eines „Du“ (95) an eine Schattenwelt, die diejenigen festhalte, die nicht lebendig genug seien, um vom Tod ins Leben zurückgeführt zu werden. Das Ich selbst rechnet sich denjenigen zu, die diese Rückkehr aus dem ästhetizistischen Kunstreich erfolgreich vollzogen hätten (120–122). Dennoch schließt das Gedicht melancholisch mit dem Bild des verströmten Lebens und einer vagen Todessehnsucht (154–161). So geh ich heim und kann nun wieder ruhn, Da vieles ausgeströmt ist und vergangen. So ist ein Träumen vor dem Schlaf, ein Schlafen Dies ganze Jahr, und es kann enden erst, Wenn meine grosse flacherhobne Woge Von einer liebenden verschlungen wird, Dass wir zum Strand und über die Dünen rollen Oder uns bohren in den Purpurschlund Vielleicht auch ohne Ahnung stumm verfliessen.
Die beiden satirischen Gedichte zeigen, dass die poetologische Abgrenzung von George bzw. von den mit ihm assoziierten Bereichen der Imitatio und des Ästhetizismus zuerst im Medium der Lyrik erfolgt. Beide Herausgeber verfassen je ein Gedicht An die Ästheten, um das Programm ihrer Zeitschrift von demjenigen der Blätter abzugrenzen. Formal verwenden sie Strophenformen, die der charontischen Verslehre nicht entsprechen (Blankverse bzw. metrisch gegliederte und reimende Strophen).104 Formbewusstsein und pädagogisches Bilden werden als unna104
Allerdings umfasst zur Lindes Betonung der eigenen Bewegung auch die Freiheit, in konventionellen Strophen- und Reimformen zu dichten (sonst hätten Meinkes Sonette kaum im Charon veröffentlicht werden können).
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türlich verworfen. Zur Linde verfolgt mehr noch als Pannwitz das nativistische Prinzip des autarken Wachsens. Beide schreiben daher der Gegenseite, dem George-Kreis, das ‚schlechte‘ aristotelische Regulierungsmodell zu; ob es aus Georges Sicht stimmt oder nicht. Wie das Beispiel der nachfolgenden CharonGeneration (Paulsen) zeigt, kann auch die Theorie des „Eigenrhythmus“ in völkisches Denken überführt werden, und zwar dann, wenn sie nicht mehr auf den Einzelnen, sondern auf den Volkskörper bezogen wird. Wie sich zeigt, führen von den beiden entgegengesetzten Polen zur Linde und George aus Wege in den NS-Staat, aber jeweils unter Umdeutung und Verengung ursprünglicher Konzeptionen. Eine anders, nämlich weniger poetologisch als politisch motivierte Abgrenzung vom Imitatio-Modell nehmen Borchardt und (wie oben angedeutet) Schröder vor. Gemeinsam ist ihnen und den Charontikern, dass sie die Imitatio des Kreises mit Homosexualität assoziieren und ethisch verwerfen.
5.3 Kritik an Imitatio und Homosexualität Sowohl Borchardt als auch Schröder verbinden ihre Kritik am Imitatio-Modell mit dem Vorwurf, George habe den Nationalsozialismus vorbereitet. Sie deuten die nationalsozialistische Bewegung als insgeheim von Homosexuellen geleitet. Die ethische Imitatio des Kreises stellen sie so dar, als diene die gesamte Imitatio-Theorie einzig dem Zweck, George junge Männer zuzuführen. Borchardts Position ist spätestens seit der Veröffentlichung seiner berüchtigten Aufzeichnung Stefan George betreffend bekannt,105 von Schröder gibt es deutlich weniger diesbezügliche Aussagen. 1935 schreibt Schröder rückblickend über seine beiden kritischen Rezensionen über George, „niemand“ habe es „lebhafter bedauert“ als er selbst, wenn seine Ablehnung „gelegentlich in offenem Widerspruch zutage treten 105
Borchardt (1998): Aufzeichnung Stefan George betreffend. – Borchardt spricht vom „Gift des Contagium“ (S. 86), betrachtet den „Sexus“ als „Motor der ganzen phantastischen Maschine“ (S. 89) und sieht ihn ebenso wie die gesamte „päderastische Jugendbewegung“ als Wegbereiter des Nationalsozialismus (S. 94).
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mußte.“106 Aber im selben Jahr verfasst er einen George-Jambus, der seine abgeklärte und verbindliche Haltung Lügen straft und selbst Borchardts gegen George gerichteten Jambus Unterwelt hinter Lugano (1935) an Drastik noch überbietet. Bevor dieser bisher unbekannte Text vorgestellt wird (vgl. Bild- und Textanhang), seien die wesentlichen Linien in Borchardts sich über Jahrzehnte hin erstreckender Auseinandersetzung mit George herausgearbeitet. Borchardts Verhältnis zu George ist eine komplexe Mischung aus Anziehung und Abwehr.107 Der junge Borchardt bewegt sich im Umfeld Georges, ist mit dem Ehepaar Landmann und mit Wolters befreundet und steht mit Vallentin und Boehringer in Kontakt. Als George Anfang 1906 Boehringer vor dem Umgang mit Borchardt warnt und dieser davon erfährt, richtet er einen Brief an George, in dem er ihm offene Feindschaft signalisiert.108 Dass aber diese Feindschaft einer „verwundeten Liebe“ entspringt und George für ihn noch immer „das grösste Herz“ ist, „das unter uns schlägt“, wird aus einem Brief an seinen Bruder Philipp Borchardt deutlich.109 Entsprechend ambivalent gestaltet sich in der Folgezeit seine Haltung gegenüber George. Sie durchläuft verschiedene Stadien und schlägt erst unter dem Eindruck der politischen Ereignisse nach 1933 in Verbitterung um. Im Zentrum von Borchardts Kritik steht das Imitatio-Modell. In seiner 1907 gedruckten Rede über Hofmannsthal (gehal106
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Rudolf Alexander Schröder: Aus den Münchner Anfängen des Insel-Verlags. In: ders.: Aufsätze und Reden, 2 Bde., Bd. 2, Werke und Wirkungen, Berlin: S. Fischer 1939, S. 433–461, hier S. 451. Zum Verhältnis Borchardt-George vgl. Kolk (1998): Literarische Gruppenbildung, S. 296–311; Ernst Osterkamp: Nachwort. In: Borchardt (1998): Aufzeichnung Stefan George betreffend; Dieter Burdorf: Kopf statt Ohr. Rudolf Borchardt als Kritiker Stefan Georges. In: Wolfgang Braungart, Ute Oelmann und Bernhard Böschenstein (Hg.): Stefan George. Werk und Wirkung seit dem Siebenten Ring, Tübingen: Niemeyer 2001, S. 353–377; Kai Kaufmann: Von Minne und Krieg. Drei Stationen in Rudolf Borchardts Auseinandersetzung mit Stefan George. In: George-Jahrbuch 6 (2006/07), S. 55–79. Rudolf Borchardt an Stefan George, Brief vom 14. Januar 1906. In: Rudolf Borchardt. Briefe 1895–1906, bearbeitet von Gerhard Schuster, München: Edition Tenschert bei Hanser 1995, S. 398. Rudolf Borchardt an Philipp Borchardt, Brief undat. [nach 22. Februar 1907]. In: Rudolf Borchardt. Briefe 1907–1913, bearbeitet von Gerhard Schuster, München: Edition Tenschert bei Hanser 1995, S. 23–29, hier S. 28.
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ten 1902) lobt er den Dichter George, kritisiert aber die stilistische Imitatio seines Umfelds, indem er von „talentlosen Nachahmern“ spricht.110 Er widerspricht dem Grundgedanken des Modells, wenn er sagt, man könne nicht allein oder durch eine Gemeinde Kultur stiften.111 In Intermezzo (1910) reduziert er absichtlich stilistische Imitatio auf die äußere Nachahmung von Georges Physis durch junge Dichter, die sich „auf Profil erziehen“.112 Schließlich erklärt er das ganze Imitatio-Modell für verlogen, weil Georges Homosexualität das auslösende Moment sei. Ethische Imitatio lässt Borchardt in einem fragwürdigen Licht erscheinen, indem er George das Ethos abspricht: Er verführe, so Borchardt, die deutsche männliche Jugend zur Homosexualität.113 In der Folgezeit findet Borchardt zu einer differenzierten Haltung, die den Dichter George würdigt, aber den Menschen George und seinen Kreis ablehnt.114 Angesichts der politischen Verhältnisse 1935 radikalisiert sich Borchardts Sicht auf George abermals. Er macht George dafür verantwortlich, Ahnherr der nationalsozialistischen Bewegung geworden zu sein.115 Ihren direkten Niederschlag findet seine George-Kritik in dem Jambus Unterwelt hinter Lugano.116 110 111 112 113 114
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Rudolf Borchardt: Rede über Hofmannsthal (1902/1907). In: Reden, hg. v. Marie Luise Borchardt, Stuttgart: Klett 1955, S. 45–103, hier S. 61. Borchardt (1955): Rede über Hofmannsthal, S. 65. Rudolf Borchardt: Intermezzo (1910). In: Prosa I, hg. v. Gerhard Schuster, Stuttgart: Klett-Cotta 2002, S. 105–138, hier S. 124. Borchardt (2002): Intermezzo, S. 107. Borchardts unveröffentlichter Aufsatz „Der Krieg“ von Stefan George (1917) ist wieder freundlicher, und auch seine Würdigungen zu Georges 60. Geburtstag geraten weitgehend positiv. – Vgl. Rudolf Borchardt: „Der Krieg“ von Stefan George. In: Prosa VI, hg. v. Marie Luise Borchardt, Ulrich Ott und Gerhard Schuster, Stuttgart: Klett-Cotta 1990, S. 318–321 und S. 586–590; Die Gestalt Stefan Georges (1928, Prosa I [2002], S. 425–444) und Baccalaureus über Faust (1928, Prosa I [2002], S. 415–424 und S. 570–573). Vor allem seine Aufzeichnung Stefan George betreffend (wohl 1936) zielt in diese Richtung. – Vgl. Borchardt (1998): Aufzeichnung Stefan George betreffend. Vgl. Ulrich Ott: Die „Jamben“ als politische Dichtung. In: Dichterische Politik. Studien zu Rudolf Borchardt, Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik 4 (2002), hg. v. Kai Kauffmann, S. 147–161; Günther Freymuth: Rudolf Borchardts „Jamben“. In: Antike und Abendland 19 (1973), H. 2, S. 163–187, hier S. 186; Werner Kraft: Rudolf Borchardts „Jamben“. In: Hochland 61 (1969), S. 414–435; Vinzenz Buchheit: Rudolf Borchardts Jambus „Urlaub“. In: Antike und Abendland 23 (1977), S. 113–121; Günther Freymuth: Rudolf
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Georges Anhängern, den „[f]römmelnden Stümpern der Zunft“, wirft Borchardt vor, sich „[i]m Neophyten-Gewühl [d]es Rattenfängerlands Teutoburg […] zum Mysterien-Meister durchzuliebeln“.117 Lavater, dessen Schatten auftritt, muss mit ansehen, wie seine Physiognomik und sein religiös aufgeladener, schwärmerischer Freundschaftsgedanke im Kreis pervertiert worden seien und, im Bund mit dem Teufel, zu Rassentheorie und offenem homosexuellen Vollzug geführt hätten. Borchardt sieht George hier nicht mehr als Dichter und wendet die Verführungskraft seiner Lyrik einseitig ins Sexuelle. George habe seine lyrischen Fähigkeiten eingesetzt, um Deutschlands Jugend an sich zu ziehen und seine erotischen Phantasien auszuleben.118 Das Bild des Rattenfängers, das Borchardt darauf anwendet, spielt auf das erste Zeitgedicht an. An anderer Stelle nimmt Borchardt Georges Keimmetaphorik auf und wirft ihm vor, die Saat für das „Dritte Reich“ gelegt zu haben: Höre wie alles gedieh, Vom Neuen Reich zum Jugendbund, Manlius und Maximin, und in Indirekter Fechsung Statt von Papa und Mama Neudeutschland von der Tante stammt.119
Mit den Schlüsselwörtern „Manlius“, „Maximin“, „[i]ndirekter Fechsung“, und „Tante“ spielt er auf Georges Homosexualität an, verbindet diese aber nicht wie die Charontiker mit dem Vorwurf der Sterilität, sondern mit dem Vorwurf der Unnatürlich-
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Borchardts Hofmannsthal-Jambus. In: Literatur und Kritik 13 (1973), S. 240–246; Ernst Osterkamp: Poetische Selbstreflexion als politische Kritik. Zur Deutung von Rudolf Borchardts Schmähgedicht „Nomina odiosa“. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 26 (1982), S. 357–382 und Ernst A. Schmidt: Notwehrdichtung – Moderne Jambik von Chénier bis Borchardt (mit einer Skizze zur antiken Jambik), München: Fink 1990. Außerdem Lars Korten: „Gefährlich für jeden der sie nicht hütet“. Rudolf Borchardts ‚Jamben‘ 1935/36. Materialien und Dokumente zu ihrer Neuedition. In: Titan 1 (2005) und Ernst A. Schmidt: Rudolf Borchardts Antike. Heroisch-tragische Zeitgenossenschaft in der Moderne (Schriften der Philosophisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 38), Heidelberg: Winter 2006, S. 86–100. Rudolf Borchardt: Unterwelt hinter Lugano. In: Gedichte II – Übertragungen II, hg. v. Marie Luise Borchardt und Ulrich Ott unter Beratung von Ernst Zinn, Stuttgart: Klett-Cotta 1985, S. 34–36, hier S. 34. Vgl. Kauffmann (2003): Rudolf Borchardt, S. 260. Borchardt (1985): Unterwelt hinter Lugano, S. 35.
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keit. Die Frucht der homosexuellen Vereinigung sei üppig gediehen, aber widernatürlich und teuflisch. Aus der Contagio sei, so Borchardt, der Nationalsozialismus hervorgegangen. In diesem negativen politischen Sinn wird George nun doch zum Dichter der Zukunft. Unmittelbarer Auslöser für Schröders Pendant, Arschaisch hast du, Stefan, dich gebrüstet einst, ist die politische Situation im Deutschen Reich, konkret die Verabschiedung der Nürnberger Rassengesetze am 15. September 1935. Zugleich ist 1935 das Horaz-Gedenkjahr. Schröder arbeitet zu dieser Zeit an seinen Übertragungen der horazischen Oden und Epoden.120 Die Entstehungszeit von Schröders George-Jambus lässt sich anhand der Überlieferungssituation gut eingrenzen. Es ist bekannt, dass während eines Besuchs Schröders bei Borchardt in Saltocchio eine Reihe von Jamben entstand.121 Schröder berichtet, Borchardt und er hätten „einander gegenüber gesessen und […] nach alter Gepflogenheit gegenseitig mit Gedichten beworfen“.122 Diese Aussage ist nicht zwangsläufig so zu verstehen, als habe es sich um „mündlich und zumal umgangssprachlich improvisierte Verse“ gehandelt.123 Schröder könnte diese Formulierung gewählt haben, um auf die Prägung „truces vibrare iambos“ aus Catull, carm. 36,5 anzuspielen,124 die Borchardt als Motto über sein Gedicht Jamben gesetzt hat.125 Den Zusatz „nach alter Gepflogenheit“ kann man gleichfalls so verstehen, als spiele Schröder auf die antike Tradition der Jambendichtung an und nicht nur auf eine private Gepflogenheit zwischen Borchardt und ihm. Borchardts Jamben sind mehrfach ediert wor120 121 122
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Vgl. Schmidt (2006): Rudolf Borchardts Antike, S. 91. Vgl. Osterkamp (1982): Poetische Selbstreflexion, S. 358. Rudolf Alexander Schröder: Erinnerungen an Rudolf Borchardt. Zum 9. Juni 1947. In: Fülle des Daseins. Eine Auslese aus dem Werk von Rudolf Alexander Schröder. Bürger, Weltmann, Christ, Mittler, Dichter, hg. v. Siegfried Unseld, Berlin, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1958, S. 132–147, hier S. 141. Gerhard Schuster: „Es ist zu einsam frei sein wollen“. Rudolf Borchardts Millay-Erlebnis 1933–1937. In: ders. (Hg.): Die Entdeckung Amerikas. Rudolf Borchardt und Edna St. Vincent Millay. Gedichte, Übertragungen, Essays, München: Lyrik Kabinett 2004, S. 11–41, hier S. 26. Lat. vibrare ist u.a. mit „(schwingend) werfend“ übersetzbar. Hier steht: „Truces iambi…“. – Vgl. Rudolf Borchardt: Jamben. In: Gedichte II – Übertragungen II, hg. v. Marie Luise Borchardt und Ulrich Ott unter Beratung von Ernst Zinn, Stuttgart: Klett-Cotta 1985, S. 19–21, hier S. 19.
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den,126 Schröders Jambik war dagegen bisher nicht bekannt. Nach Schröders Erinnerungen seien seine damals entstandenen Verse von so klarer politischer Haltung gewesen, dass er sie nicht mit über die Grenze habe nehmen können.127 In der Forschung herrscht die Meinung, dass mit Ausnahme seiner 1937 publizierten Ballade vom Wandersmann128 nichts von diesen politischen Texten erhalten sei bzw. dass Schröder sie aus Selbstschutz vernichtet habe.129 Dennoch ist das vorliegende, in Schröders Handschrift in seinem Nachlass erhaltene Gedicht in keiner Weise mit der Ballade vom Wandersmann vergleichbar. Es belegt: Auch Schröder hat wie Borchardt in der Tradition des Archilochos geschrieben. Schusters Einschätzung, Schröder habe „sich in Schüttelreimen leer[ge]schimpft und Versfolge auf Versfolge mit der Taktsicherheit eines Metronomen ablaufen“ lassen, während Borchardt „komplizierte metrische Mischformen“ verwendet und mit „artifizieller Komprimierung des Mitgeteilten“ gearbeitet habe,130 ist mit Blick auf diesen Text zu relativieren. Ein starkes Indiz für eine Entstehung zur selben Zeit wie Borchardts Jamben ist das Papier, auf dem Schröders GeorgeJambus überliefert ist, denn es handelt sich um ein Blatt mit Fahnenkorrekturen zu Schröders Horaz-Übertragungen.131 Die Schlussredaktion von Schröders Die Gedichte des Horaz erfolgte, wie bekannt, in Borchardts Villa Bernardini in Saltocchio bei Lucca,132 und damit ist als Entstehungszeitraum der 28. Oktober bis 13. Dezember 1935 sehr wahrscheinlich. Überliefert 126
127 128 129 130 131 132
Editionen zuerst: Rudolf Borchardt: Jamben. hg. v. Marie Luise Borchardt unter Mitarbeit von Ernst Zinn und Ulrich Ott, Stuttgart: Klett 1967 (ohne das Ahasver-Gedicht), dann vollständig in: Gedichte II – Übertragungen II, S. 15–61 (Anm. 387–396) und Rudolf Borchardt: Jamben, hg. und mit einem Nachwort versehen von Elisabeth Lenk (Bibliothek Suhrkamp 1386), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004. Eine Edition von Lars Korten und Gerhard Schuster ist in Vorbereitung. Siehe dazu: Korten (2005): „Gefährlich für jeden der sie nicht hütet“, darin auch eine Auswahlbibliographie zur bestehenden JambenLiteratur. Schröder (1958): Erinnerungen an Rudolf Borchardt, S. 141. Rudolf Alexander Schröder: Die Ballade vom Wandersmann, Berlin: S. Fischer 1937. Schuster (2004): „Es ist zu einsam frei sein wollen“, S. 27. Schuster (2004): „Es ist zu einsam frei sein wollen“, S. 26f. Die betreffende Passage ist ein Auszug aus Schröders Kommentar zum Carmen saeculare. Korten (2005): „Gefährlich für jeden der sie nicht hütet“, S. 19.
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sind die Zeilen auf zwei separaten Seiten im DIN-A4 Format. Mit dem Blattwechsel ist das Versmaß unterbrochen, so dass von einem Textverlust ausgegangen werden muss. Auf Horaz bezieht sich bereits die Form des Jambus: Arschaisch hast du, Stefan, dich gebrüstet einst, Arschilochäisch komm ich dir.
Schröder variiert die zweite archilochische Strophe, bei der ein daktylischer Hexameter regelmäßig mit einem Hemiepes, der zweiten Hälfte des daktylischen Pentameters, abwechselt. In Schröders Text alternieren jambischer Sechsheber und jambischer Vierheber. Im Kommentar zu seinen Horaz-Übertragungen begründet Schröder den Nichtabdruck zweier Epoden mit ihrer „Häufung des Schmutzes“: Die „politische“ und „literarische Invektive“ einerseits und „das den archilochischen Stil am drastischsten“ wiedergebende „erotische Schmähgedicht“ andererseits habe man „hier aus naheliegenden Gründen nicht gebracht.“133 Diese Skrupel des Übersetzers und Herausgebers Schröder hegt der Dichter Schröder nicht. Seine Schreibweise „Arschilochäisch“ greift den obszönen Neologismus „Arschaisch“ des Eingangs auf und stellt den Bezug zum Vorwurf der Homosexualität gleich am Anfang her. Schröder bezieht sich vielleicht auf dieses Gedicht, wenn er in einem Brief an Borchardt vom 6. Juni 1936 von seinem Vortrag zur Lage des Humanismus in Deutschland berichtet und meint, er hätte „durch den unsichtbaren Maulkorb hindurch, den ich wie jeder hier trage, am liebsten nur von Archilochos geredet & zwar unter französischer Aussprache dieses werten, allerwertesten Mannes.“134 Schröder spielt an dieser Stelle auf die euphemistische Umschreibung ‚Allerwertester‘ für Hintern an. Die französische Aussprache von Archilochos ist eine Art phonetischer Namensexplikation. Das Etikett ‚Arsch-Dichter‘ ist in diesem Fall positiv konnotiert, da Schröder damit lobend zum Ausdruck bringt, dass der antike Schmähdichter zeige, wie man adäquat antworte, 133 134
Rudolf Alexander Schröder: Gesammelte Werke in fünf Bänden, Bd. 5, Vergil/ Horaz, Berlin und Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1952, S. 1018. Vgl. Rudolf Alexander Schröder an Rudolf Borchardt, Brief vom 6. Juni 1937. In: Rudolf Borchardt und Rudolf Alexander Schröder (2001): Briefwechsel 1919–1945. S. 430.
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wenn einem der Mund durch einen Maulkorb verschlossen sei. Das übergeordnete Thema seines „[a]rschilochäisch[en]“ Jambus ist, wie bei Borchardt, die Pervertierung deutscher Kunst und Kultur: Noch vor George hätten Wagner, Nietzsche und Böcklin im 19. Jahrhundert die Saat gelegt, die nun im anti-humanistischen Neuen Deutschland aufgegangen sei. Der Name Georges wird von zwei Namen flankiert, die für Dekadenz (Algabal) und geschlechtliche Perversion (Manlius) stehen und die zugleich, als literarische Figuren, auf Georges Œuvre verweisen. Die Namen Manlius und Maximin als Chiffren für Homosexualität tauchen schon in Borchardts Intermezzo auf, wo er schreibt, er wolle die Jugend vor der Verehrung „der neuen Heiligen Manlius und Maximin beschützen“.135 Dantesk? Ja, was die Hölle anbetrifft vielleicht: Elagabal und Manlius Bevölkern sie; was beide brennt und jückt, das löscht Kein Maximin noch Minimax.
Georges Dante-Identifikation weist Schröder zurück und will lediglich eine Nähe zu denjenigen Figuren aus der Divina Commedia gelten lassen, die die Höllenkreise bevölkern. Mit dem Kalauer Maximin-Minimax (letztere eine Firma für Feuerlöscher) kombiniert Schröder das Motiv des brennenden Höllenfeuers mit dem Motiv der brennenden Lust. Mit dem Laxaröl, das einerseits die schwer verdauliche Kost begleiten und andererseits den Darm öffnen soll, wird der eingangs angedeutete Bezug zum Analverkehr expliziert. Urväter buken dir die Küchlein, lieber Schorsch, Die du dann an den Mann gebracht, In Laxaröl, damit der Darm hübsch offen bleib. Wer waren sie? Ich wüsste, traun, Gleich drei zu nennen: Richard, Arnold, Friedrich Den Mann des grossen Nitschewo Und den der seinen Tizian verallemannt Und den der Tristan trist ansang.
Gemeint sind mit den adressierten „Urväter[n]“ Friedrich Nietzsche (in Verballhornung des Namens der „Mann des gros135
Borchardt (2002): Intermezzo, S. 107.
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sen Nitschewo“), Arnold Böcklin und Richard Wagner. Carl August Klein zählt 1892 in den Blättern die „hauptstützen“ einer „neuen kunst“ auf: „Richard Wagner der komponist Friedrich Nietzsche der orator der maler Arnold Böcklin und der zeichner Max Klinger. zu ihnen tritt ein dichter.“136 Will man verstehen, was Wagner, Böcklin und Nietzsche gemein haben, muss man ihren prägenden Einfluss auf die deutsche Dichtung um 1900 in Betracht ziehen. Die Zeitgedichte Nietzsche und Boecklin bringt George im Siebenten Ring unmittelbar vor dem Zeitgedicht Porta Nigra und stellt so eine vergleichbare Ahnenreihe auf. Die Figuren sind Repräsentanten einer „neuen kunst“, welche Pathos, Monumentalität und Kunstreligiosität in sich vereint. Böcklin wird im fünften Zeitgedicht uneingeschränkt gefeiert. Um nachvollziehen zu können, was nun Schröder mit Böcklin assoziiert, ist die Schrift des mit ihm eng befreundeten Kunsthistorikers Julius Meier-Graefe von Bedeutung. MeierGraefe parallelisiert in seinem Buch Der Fall Böcklin (1905) – in Analogie zu Nietzsches Der Fall Wagner – ebenfalls Nietzsche, Wagner und Böcklin (S. 268). Schlagworte seiner Kritik sind Massensuggestion (S. 124), Dilettantismus (S. 182) und Handwerklichkeit (S. 167), Publikumstäuschung (S. 182), Tendenz zur Kultbildung (S. 99) und Ausschaltung einer rationalen Kunstbetrachtung: „Die Allegorie wird Wirklichkeit, ein Seher aus dem Künstler, das Publikum zur Gemeinde“ (S. 100). In diesen Tendenzen ahnt er die Kulturlosigkeit (S. 270) eines zukünftigen „heranrauschenden Deutschtums“ (S. 256).137 Böcklin steht bei Schröder als Chiffre für eine solche, von den Nationalsozialisten goutierte Kunst. Wagner und Nietzsche sind feste Größen in der Kultur des NS-Staats.138 Auch Borchardt nimmt eine ähnliche Zuschreibung vor. Er ordnet in seiner Aufzeichnung Stefan George betreffend George drei Menschentypen zu: den Homosexuellen, die für Borchardt jeglicher Kultur abträglich sind, den Abenteurern, die eine Lehre ohne Inhalt vertreten und Anhänger um sich scharen, und schließlich den Bezauberern. Als Bei136 137 138
Carl August Klein: Über Stefan George. Eine neue Kunst. In: Blätter I, 2, S. 45–50, hier S. 50. Julius Meier-Graefe: Der Fall Böcklin und Die Lehre von den Einheiten, Stuttgart: Julius Hoffmann, 1905. Vgl. Fred K. Prieberg: Musik im NS-Staat, Frankfurt a.M.: S. Fischer 1982.
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spiele für letztere nennt er stellvertretend die „Seelenverführer“139 des 19. Jahrhunderts Nietzsche, Wagner und Liszt.140 Die Kreise um Liszt und Wagner haben in der Tat strukturelle Gemeinsamkeiten mit dem George-Kreis. Sie zelebrieren einen kunstreligiös motivierten Meister-Jünger-Kult und weihen sich dem Ziel einer neuen Kunst. Nietzsche entfaltet eine ähnliche Wirkung, auch wenn erst nach seiner geistigen Umnachtung die Gemeindebildung einsetzt. Neben die deutschen stellt Schröder die ausländischen Einflüsse: Den ganzen neudeutsch frechen Blumenmädchenball Hast du in deinem Porc pourri Nebst fleurs du mal und deines schlecht gewappneten Nam=Vetterleins Arom vermengt Erlesenen Düften aus der amsterdamschen Gracht,
Schröder betont bereits den schlechten Geruch, der am Ende des Gedichts im Motiv des Arschlochs gipfelt. Georges Lyrik ist für ihn eine ‚schweinische‘ Mischung („Porc pourri“) von deutschen, französischen und holländischen Elementen, wobei die dialektale Anrede „lieber Schorsch“ auf Georges provinzielle Herkunft anspielt. Wolfskehl stellt im ersten Jahrbuch einen ähnlichen Traditionsbezug her: Sie [die Blätter] […] haben die deutsche und die ihr gleichlaufende geistige bewegung des auslandes dauernd miteinander verbunden, als erste die französischen symbolisten bei uns eingeführt und die für uns noch wichtigere neue schönheitliche erhebung Hollands […].141
Die von Wolfskehl positiv gewertete Aufnahme französischer und holländischer Einflüsse in den Blättern wird von Schröder abschätzig als Potpourri bezeichnet. Im Folgenden leitet Schröder zu Goethes Faust über. Da an dieser Stelle Text verloren ist, lässt sich manches nur andeuten. Ulrich Ott hat auf die Bezüge zur Sterbeszene Fausts in Borchardts Jambus Pater Patriae aufmerksam gemacht,142 und Anklänge an Faust finden sich auch in 139 140
141 142
Vgl. Borchardt (1998): Aufzeichnung Stefan George betreffend, Nachwort, S. 171–206, hier S. 200. Vgl. Borchardt (1998): Aufzeichnung Stefan George betreffend, S. 97–101, und Burdorf (2001): Kopf statt Ohr, S. 361 sowie Kauffmann (2003): Rudolf Borchardt, S. 292. Wolfskehl (1910): Die Blätter für die Kunst, S. 10. Ott (2002): Die „Jamben“ als politische Dichtung, S. 157.
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Arschaisch hast du, Stefan, dich gebrüstet einst. Dass Goethe vom George-Kreis in den homosexuellen Sumpf gezogen werde, kritisiert Schröder wie gezeigt schon 1908.143 Nun antwortet er darauf mit den obszönen Paralipomena zu Goethes Faust, und zwar mit der Figur der „ältesten Mama“ (23). In den unterdrückten Szenen zur Walpurgisnacht reitet die Hexe Baubo auf einer trächtigen Sau. Die von Schröder gestrichene Variante „jener schweinschen Mama“ (vgl. Bild- und Textanhang) ist ein starkes Indiz für einen solchen intendierten intertextuellen Bezug. Zu den von Goethe unterdrückten Szenen gehört ferner die Anbetung des Teufelsarschs: „Was duftet aus dem kolossalen Mund! / So wohl kanns nicht im Paradiese riechen / Und dieser wohlgebaute Schlund / erregt den Wunsch hinein zu kriechen.“144 In dieser Szene ist die motivische Vorlage für das Schlusstableau von Schröders Jambus zu sehen. Das Bild des Teufelsarschs verdichtet die vorigen Themenkreise der Hölle, der Pforte, des schlechten Geruchs und des Analverkehrs. Kunstvoll greift Schröder mit diesen Motiven und zusätzlich mit dem Bild der Deutschen, die durch das „hakenkreuzgeschwängert[e]“ (28) Tor einziehen, ein Gedicht von George auf: das Zeitgedicht Porta Nigra mit der Gestalt des Lustknaben Manlius, der unter dem Torbogen jener römischen Pforte seinem Gewerbe nachgeht. Manlius ist in Porta Nigra ein Schatten der Vorzeit, der, als Sprecher des Gedichts, sein Urteil über die Gegenwart spricht; Schröder bricht umgekehrt nun den Stab über den Schatten Georges. Die Schlussverse Georges lauten: Er möchte über euch kein zepter schwingen Der sich des niedrigsten erwerbs beflissen Den ihr zu nennen scheut – ich ging gesalbt Mit perserdüften um dies nächtige tor Und gab mich preis den söldnern der Cäsaren!145
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Schröder (1909): Blätter für die Kunst, S. 439. Erstdruck in der Weimarer Ausgabe (sog. Sophienausgabe), der Standardausgabe zur Entstehungszeit des Jambus. – Vgl. Johann Wolfgang von Goethe: Faust, hg. v. Erich Schmidt. In: Goethes Werke, hg. im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen, 1. Abteilung, Bd. 14, Faust. Erster Theil. Zu Faust. Lesarten, Paralipomena etc., Weimar: Böhlau 1887, S. 308f. Stefan George: Porta Nigra. In: SW, VI/VII, S. 16f.
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In Vers 28f. greift Schröder das Bild der Pforte auf. Anders als in Porta Nigra riecht es dort derart unangenehm, dass das Sprecher-Ich es sich auszusprechen scheut („Und duftend – nun, ich sag nicht wie“). So wie die römischen Legionen durch die Porta Nigra marschierten und sich in ihrem Schatten mit Knaben vergnügten, ziehen 1935 die Deutschen durch ein anderes Tor: Breit ist und hoch die Pforte hakenkreuzgeschwängert, Und duftend – nun, ich sag nicht wie. […] Sein Arschloch [winkt]. Duckt euch. Hinein!
Im Neologismus „hakenkreuzgeschwängert“ verbinden sich das nationalsozialistische Symbol und der Begriff ‚kreuzgeschwängert‘ für Analverkehr. Auch das Hakenkreuz selbst kann als Koitus-Geometrie verstanden werden. Schröder lässt die Massen von Deutschen, verführt durch den homoerotischen Männerbund, dem nationalsozialistischen Führer bildlich gesprochen in den Arsch kriechen. Vermutlich werden hier, wie in Borchardts Unterwelt hinter Lugano, Teufelsgestalten und NSFührer mit der Figur Georges motivisch verquickt. In seiner Aufzeichnung Stefan George betreffend erwähnt Borchardt in der Kette von Entweihungen die „blasphemischen Evangeliumsparallelen der Maximinreihe zu dem Trierer Lustknaben der Legionäre dem Wahnwitz der Templerstrophen der gemeinen Schmähung der Mutter“ bis hin zum offenen homosexuellen Vollzug.146 Ungefähr dieser Argumentation folgt auch Schröders Jambus. Den Imitatio-Komplex stellt Schröder in grotesker Verzerrung als perverse Imitatio Diaboli dar. Zugleich imitiert er selbst, nämlich die Epoden des Horaz. Mit seiner Horaz-Imitatio stellt sich Schröder in die Tradition eines politischen und sittlichen Dichtens,147 das er bei George und dessen (scheinbaren) geistigen Nachfolgern pervertiert sieht. Sowohl Schröder als auch Borchardt sehen den Weg, der vom George-Kreis in den Nationalsozialismus führt, überraschenderweise nicht bei der woltersschen Regulierung, dem äußeren Formen, sondern bei einer körperlich konkretisierten Contagio angelegt. Warum das 146 147
Borchardt (1998): Aufzeichnung Stefan George betreffend, S 67. Vgl. Rudolf Alexander Schröder: Horaz als politischer Dichter (1935). In: ders.: Aufsätze und Reden, 2 Bde., Bd. 1, Vorbilder und Weggenossen, Berlin: S. Fischer 1939, S. 88–115.
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so ist, verbleibt im Vagen. Möglicherweise dient der Verweis auf die strafbare und tabuisierte Homosexualität dazu, Georges Ethos zu diskreditieren. Möglicherweise schwingt bei Schröder auch eine Art von Autoaggression mit, die verdrängte Seiten der eigenen Persönlichkeit betrifft. Die einseitig sexuelle Auffassung des Imitatio-Modells stützt den Vorwurf umfassender Perversion, der George, daneben aber und in erster Linie das „Dritte Reich“ treffen soll.
5.4 Ergebnis Die vier Autoren Rilke, Pannwitz, zur Linde und Schröder eint, dass sie sich gegen George wenden, indem sie das ImitatioModell attackieren. Die Beweggründe sind verschieden: der Anspruch, ein gleichrangiger Dichter zu sein (Rilke), die Ablehnung des Modells überhaupt (Otto zur Linde), die desillusionierte Abkehr von einer vorausgegangenen Verehrung (Pannwitz) oder die Gleichsetzung des Modells mit dem nationalsozialistischen Männerbund (Schröder).148 Charakteristischerweise tun sie das nicht nur in Prosatexten, sondern im poetischen Medium selbst, und zwar in Textsorten, die entweder den Personalstil Georges in ihre Kritik einbeziehen (Rilke), aus der Gattungstradition zusätzliche Autorität schöpfen (Schröder) oder durch eine verbrauchte, epigonale Form den Gegner abwerten und den Vorwurf des sinnentleerten technischen Formens struktural untermauern (zur Linde). Das Medium der poetologischen (parodistischen und satirischen) Lyrik erweist sich als unmittelbarer, direkter, schneller und evidenter als der theoretische Text. Rilke ist in dieser Reihe chronologisch betrachtet der Erste. Seine Gedichte An Stephan George sowie Und meine Träume warten wandentlang entstehen vor der Herausbildung des Imitatio-Modells, setzen aber mit ihrer Kritik an der Mimesis des 148
Achim Aurnhammer hat untersucht, wie im Berliner Frühexpressionismus Hofmannsthal-Verehrung graduell in Parodie umschlägt, und eine vergleichbare prozesshafte Dynamik festgestellt. – Vgl. ders.: Verehrung, Parodie, Ablehnung. Das Verhältnis der Berliner Frühexpressionisten zu Hofmannsthal und der Wiener Moderne. In: Cahiers d’Études Germaniques 24 (1993), S. 17–50.
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Urgeists an der Stelle an, an der das Imitatio-Modell seinen Ausgang nimmt. Rilke stellt die Geltung infrage, indem er behauptet, dass die mimetische Darstellung des Ideals bei George nicht funktioniere: Die neuen Zeichen des Urgeists seien tote Zeichen und keine äquivalente Umsetzung der Substanz. Deren schöpferische Energie sei in Georges formalistischem Zeichensystem vielmehr stillgestellt. Der ästhetische Gegenstand müsse mit zusätzlichen Hilfsmitteln aufbereitet werden, um diese Leblosigkeit zu kompensieren. Eines dieser Hilfsmittel sei die Person des Dichters in der Aufführungssituation der Lesung, ein anderes die sakrale Aura, mit der er sein Werk umgebe. Die performative Außenseite, so Rilke, täusche darüber hinweg, dass die ästhetische Faktur des Werkes selbst nicht zu berühren vermöge. Doch der Anspruch des Dichters, ein Mittler zum Göttlichen zu sein, werde von seiner Lyrik nicht eingelöst. Pannwitz’ satirisches Gedicht An die Ästheten berührt dieselben Kritikpunkte und betont gleichfalls die Leblosigkeit einer Kunst, die nur über zusätzliche visuelle und haptische Reize zu wirken vermöge. Wie Rilke und Pannwitz konstatiert zur Linde, dass Georges Lyrik bzw. diejenige seiner „Schule“ auf performative Zusätze angewiesen sei. Der mit der Schminkmetapher implizierte Vorwurf der Selbstaufgabe ist ein Topos der Nachahmungskritik, dem schon im Ciceronianismus-Anticiceronianismusstreit die Forderung nach Selbstausdruck und Authentizität entgegengehalten wird.149 Eine Variante der Schminkmetapher ist das Bild des bunten Spiegels. Es stellt eine Unterart der metaphorischen Rede vom ‚lügenden Spiegel‘ dar und kann sich auf die um 1900 omnipräsente Narzissthematik berufen. In Uminterpretation der Spiegelmetapher unterstellt es der ästhetizistischen Lyrik eine fehlende Erkenntnisfunktion von Kunst und kombiniert diese Kritik mit der Nachahmungsthematik.150 Zur Linde verbindet einen ausgeprägten Individualstil mit einem ebenso ausgeprägten Sendungsbewusstsein. Unter diesen Voraussetzungen kommt es in seinem Schülerkreis zur Imitatio, obwohl er sich Nachahmung in seinen theoretischen Schriften streng verbittet. Dass die charontische Theorie des „Eigenrhyth149 150
Vgl. Cave (1979): The Cornucopian Text, S. 48–51. „Doch wenn ich soll vor Spiegeln gehen / Vor bunten, saget nicht, ich wärs / Der mich aus seinen Scheiben äfft.“ – Zur Linde (1904): An die Ästheten, S. 74.
Teil 5: Abgrenzung vom Imitatio-Modell
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mus“ zur Imitatio führt und sich als übertragbar auf Konzeptionen des Völkischen erweist, zeigt, wie auch eine ‚antiautoritäre Poetik‘ diktatorische Züge annehmen kann. Zur Linde und Pannwitz lassen als zusätzlichen Prätext den Vorwurf der Perversion einfließen und verbinden den Vorwurf poetischer Sterilität mit demjenigen sexueller Devianz. Diese Mehrschichtigkeit der Argumentation ist typisch für die behandelten Texte. Viele Metaphernbereiche der GeorgeKritik sind auf mehrere der Oberthemen – Ästhetizismus, Imitatio, Idealisierung, Homosexualität – gleichzeitig anwendbar. Ein Beispiel ist die poetologische Metapher des Gebärens für Creatio. Die Vorwürfe der widernatürlichen Zeugung (Borchardt) oder der Totgeburt (zur Linde) sind zum einen poetologisch zu verstehen:151 Den Tot- oder Fehlgeburten wird im Charon ein Natürlichkeitsideal gegenübergestellt, das metaphorisch an den Geschlechtstrieb gekoppelt ist, woraus ex negativo eine gedankliche Brücke zur poetischen Sterilität (Ästhetizismuskritik) und zum Homosexualitätsvorwurf geschlagen werden kann. Georges Homosexualität steht im Zentrum der von Schröder geäußerten Kritik. Im Blick auf seinen George-Jambus aus dem Jahr 1935 ist zu sehen, wie die Erfahrung des Nationalsozialismus die posthume George-Kritik prägt. Imitatio wird sowohl poetologisch als auch sexuell verstanden und zugleich politisiert: Ethik, Ästhetik und Politik des „Dritten Reichs“ werden als pervers infolge maligner Imitatio dargestellt. Ethische George-Imitatio erscheint vor dem Hintergrund der Zeitgeschichte als ideeller Wegbereiter in den gleichgeschalteten NS-Staat.
151
Auch Schaeffer vergleicht die Auswahlbände der Blätter mit einem „Siechenhause“, in dem eine „Anatomie ihre spiritualisierten Fötusse, und ein Wöchnerinnenheim ihre Früh- und Mißgeburten ausgesetzt“ habe. – Schaeffer (1923): Stefan George, S. 496.
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Fazit
Fazit Diese Arbeit untersucht poetische und poetologische Texte von George, von den Mitgliedern seines Kreises sowie von ferner stehenden Anhängern oder Gegnern. Die Texte reflektieren die Bedingungen dafür, Neues zu schaffen, und zwar entweder in affirmativer oder in adversativer Bezugnahme auf die Nachahmungskonzeptionen des George-Kreises. Im Kreis selbst werden theoretische und praktische Reflexionen zur Imitatio zu einem theoretischen Rahmen modelliert, in dem sämtliche im Kreis entstehenden Gedichte und Schriften sowie die Selbstwahrnehmungen der Kreismitglieder ihren Bezugspunkt finden. Die fundamentale Bedeutung, die poetischen und sozialen Nachahmungskonstellationen für die Gruppenkonstitution des Kreises zukommt, spiegelt sich in den untersuchten Texten. Sie werden in dieser Studie auf ihre Kongruenz oder Divergenz zu diesem Imitatio-Modell hin überprüft. Es zeigt sich ein hoher Grad an Übereinstimmung zwischen theoretisch formulierter Poetik und praktizierter Lyrik. Dessen ungeachtet enthalten viele der imitierenden Texte den Verfassern teils unbewusste Brüche und Differenzen. Die beiden Größen Exercitatio und Contagio, die das Zusammenwirken von technischer Übung und persönlicher Berührung im Kreis beschreiben, werden von Kreisangehörigen unterschiedlich gewichtet. Dasselbe gilt für den Stellenwert der stilistischen Imitatio und für die bildungungstheoretische Einbettung der ethischen Imitatio. Die verschiedenen Ansichten lassen sich teils aus den unterschiedlichen Persönlichkeiten und ihrer jeweiligen Beziehung zu George, teils aus der Chronologie der Kreisgeschichte heraus erklären. Vor 1900 entwickelt George poetologische Vorstellungen, die statt einer Creatio ex nihilo ein Schaffen auf der Basis der Tradition und vor allem auf der Basis von sozialen Beziehungen proklamieren. Um 1900, mit der Entstehung des eigentlichen George-Kreises, findet er in der stilistischen Imitatio darüber hinaus ein Mittel, um das von ihm gesehene Neue zu verbreiten.
Fazit
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Die Abwehr einer ausschließlich stilistisch orientierten Imitatio um 1910 verdeutlicht, dass das soziale Gruppenmodell des Kreises nicht nur durch eine gemeinsame Ästhetik und Poetik, sondern vor allem durch eine auf Georges Person zugeschnittene Ethik konstituiert wird, die sich auf alle Lebensbereiche erstreckt. Das ab der fünften Blätter-Folge (1900/01) exponierte, schon im Teppich des Lebens (1899) vorbereitete Imitatio-Modell bringt Imitatio in Zusammenhang mit Fragen der Kulturerneuerung. Imitatio besteht in diesem Modell sowohl aus technisch-stilistischer Übung als auch aus der Berührung von der Energie des Urgeists. Sie gelingt nur im Zusammentreffen von beidem. Dies funktioniert aber nur, wenn die Weitergabe auf wenige Einzelne beschränkt bleibt. Daneben steht ein Ideal der Breitenwirkung durch Lehre, das auf die gesamte Kultur zielt, aber nicht mehr den Anspruch hat, über rezeptive Vorgänge hinaus schöpferische Vorgänge zu initiieren. Creatio wird in diesem Modell nur dem Urgeist zugestanden und den abgeleiteten Wesen nur, insofern sie an seiner Energie partizipieren. Stilistische und ethische Imitatio wirken zusammen. Die Reduktion auf den einen oder anderen Aspekt in polemischer Absicht oder aufgrund mangelnder Einsicht in die spezifische Nachahmungstheorie des Kreises wird ihrer Komplexität nicht gerecht oder muss zu Missverständnissen führen. Die Autoren Schaeffer und Strauß meinen, George fortgesetzt ethisch zu imitieren. Gerade der Verzicht auf stilistische Imitatio ist für sie ein Zeichen von wahrer Jüngerschaft. Aus Georges Perspektive liegt es aber nicht im Ermessen der abgeleiteten Wesen zu entscheiden, welchen Stil sie weitergeben und welchen nicht. Auch die von Lucka vertretene und anhand von Rezeptionsvorgängen entwickelte Konzeption schöpferischer Nachahmung ist im Imitatio-Modell nicht angelegt. Meinke folgt einer anderen Poetik als der Kreis. Für ihn entsteht die neue Kunst nicht wie für George durch die Herausbildung einer neuen Haltung, sondern in einem Akt des SichVerströmens, einer dankbaren Hingabe an das Schöne. In der Wahrnehmung des Kreises ist Meinke ein Ästhetizist und Proteus, er selbst erkennt gerade in seiner sinnlichen Offenheit und Sensibilität eine Quelle der Inspiration. Ähnlich argumentieren unabhängig voneinander Rilke und Hofmannsthal, welche die Hingabe ans Objekt als Voraussetzung ihres Schaffens bezeich-
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Fazit
nen. George und sein Kreis werfen ihnen vor, dass mit dieser Haltung keine positiven Ausstrahlungen auf die Kultur zu erwarten seien. Um das Neue zu erkennen, zu gestalten und zu verbreiten, sei eine ganz andere Konzentration notwendig. Während es diesen Autoren um Abgrenzung von einer partiell als faszinierend empfundenen Sphäre ankommt, dominiert bei anderen der Impuls der Abwehr. Die Ansatzpunkte ihrer Kritik unterscheiden sich abhängig von ihrer eigenen Poetik. Die Charontiker um Otto zur Linde lehnen die Exercitatio ab. Sie reduzieren das Imitatio-Modell auf den Aspekt der Stilübung und sehen in den Bildungskonzeptionen Georges vor allem den Aspekt des äußeren Formens am Werk. Dagegen setzen sie ihre Poetik des „Eigenrhythmus“, den jeder Mensch besitze und individuell kultivieren müsse. Im Nachahmungsgefüge des Kreises wird umgekehrt durch die Contagio der meisterliche „lebensrhythmus“ weitergereicht. Borchardt und Schröder stören sich nicht an der stilistischen, wohl aber an der ethischen Imitatio. Sie heben in ihrer Kritik des Gruppenmodells vor allem auf die Contagio ab, die sie in ihren polemischen und satirischen Texten ausschließlich als Umsetzung homosexueller Bedürfnisse begreifen. Sie haben bei aller Traditionsgebundenheit den Anspruch, unabhängig von einem Vorbild schöpferisch tätig zu sein. Ebenso wie auch Hofmannsthal, Rilke und zur Linde verfolgen sie ein Ideal der Perfektionierung, wie es im Imitatio-Modell nur den Urgeistern gebührt. Einige derjenigen Autoren, die in ihren Anfängen den Kontakt zum Kreis suchen wie Schaeffer, Pannwitz und Strauss, verfolgen das Ideal, eigenständig zu werden, und sehen in der GeorgeImitation nur eine Vorstufe zu eigener Meisterschaft. Sie sehen in der stilistischen Imitatio primär den technischen Aspekt bzw. distanzieren sich später von einer zuvor damit verbundenen emphatischen George-Nachfolge. Fernstehenden Kreisaspiranten ohne Aussicht auf Erhörung wie Hardt, denen ein solches Selbstbewusstsein fehlt, bleibt nur die Exercitatio. In seiner Komplexität wird das Imitatio-Modell nur von den Kreisangehörigen selbst oder von dem Kreis Nahestehenden wie Hermann Speer adäquat erkannt und umgesetzt. Die unterschiedlichen Jüngergruppen unterscheiden sich vor allem darin, wie sie zwischen Anpassung und Selbstausdruck gewichten. Die erste Kreisgeneration favorisiert den Gedanken der Perfektio-
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nierung und bleibt poetologisch selbstständig. Die Lyrik der zweiten und dritten Kreisgeneration unterscheidet sich je nachdem, ob ihre Verfasser die Lehre als Aufgabe für sich annehmen oder sich stärker über ihre Beziehung zu George definieren. Ferner unterscheiden sie sich darin, ob sie der Bildung von innen nach außen und damit dem Perfektionierungsgedanken folgen oder ob sie sich eher von außen bilden lassen, was im Extrem bis zu Gedanken von Regulierung führen kann. Alles in allem sind sie sich darüber einig, dass es George auf die ideale Förderung der jeweiligen Person und ihrer Fähigkeiten, der entstehenden Lyrik und ausgehend davon der allgemeinen Kultur ankommt und dass ein Auftreten in der Gruppe dabei hilfreicher ist als die Ausbildung eines Individualtalents. Erstaunlich ist dennoch die Pluralität innerhalb einer als Einheit auftretenden Gruppe. Die meisten Differenzen im Kreis bezüglich der Auslegung des Imitatio-Modells entstehen nicht aus einer programmatischen Uneindeutigkeit Georges heraus, sondern sind in den individuellen ideologischen oder politischen Ansichten der Kreisangehörigen zu suchen. Bei der Analyse der Texte wird deutlich, wie eng soziale Praktiken und poetologische Überzeugungen aufeinander bezogen sind und wie tief die von George geförderte Mischung von poetischer Praxis und sozialer Lebenspraxis in Lyrik und Poetik des Kreises eingreift. Während kritische Stimmen die strukturalen Ähnlichkeiten zwischen Imitation und Parodie betonen und die Imitationen des Kreises als unfreiwillige Parodie bezeichnen, entscheidet in der Perspektive des Kreises die den Texten zugrunde liegende Intention. Denn es geht bei der stilistischen Nachahmung nicht primär um den Nachweis einer technischen Qualifikation, sondern um den Nachweis einer Transformation: einer geschichtlichen Dynamik hin zum „schönen Leben“, die sich in Stilnachahmungen manifestiert und von Stilnachahmungen befördert wird. Die daraus folgende Poetik und Lyrik der Imitatio ist in der neueren deutschen Literaturgeschichte singulär. Das Hören, Lesen, Abschreiben, Auswendiglernen, Hersagen, Deuten und Übersetzen von Gedichten lässt soziale und ästhetische Prozesse auf dasselbe Ziel hinauslaufen, nämlich auf die Bildung einer Gruppe von Menschen zu einer ‚gebildeten‘ Elite im wörtlichen Sinn. Imitatio ist im Rahmen dieses Modells ein dynamischer Vorgang, der die jeweils aktuellen künstlerischen Tendenzen
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Fazit
durch ihre Wiederholung zur kulturellen Errungenschaft werden lässt. Einer marxistischen Literaturtheorie gilt die Parodie und nicht die Imitation als innovativ, da sie im dialektischen Umschlag das Neue vorbereite und poetische Ordnungen destruiere. Die Geschichtsdeutung des Kreises sieht dagegen im Imitatio-Gedanken das größere Innovationspotenzial. Nachahmung stifte Kultur, weil sie helfe, das Neue zu verbreiten. Das Imitatio-Modell des Kreises hat ein zwiespältiges Verhältnis zur Moderne. Einerseits richtet es sich gegen eine pluralistische und demokratische Gesellschaft, andererseits ist der Exerzitiencharakter, der dem Imitatio-Modell innewohnt, ein Wesensmerkmal der Moderne selbst. Mit dem Moment der Übung zum Zweck der geistigen und körperlichen Optimierung gibt es Parallelen zu einem ganz anderen Phänomen der Moderne, dem Sport. Die Entwicklung des modernen Körperkults fällt in ebendiese Zeit.1 Der Bezug auf den Sport der Antike verbindet sich in Georges Lyrik mit einem Ideal des ästhetischen männlichen Körpers. Es ist kein Zufall, dass Gedichte wie Der Ringer aus den Hirten- und Preisgedichten (1895) zeitlich mit der ersten neuzeitlichen Olympiade (1896) zusammenfallen. Warum nutzte die Jugendbewegung zur Gemeinschaftsbildung sowohl den Sport als auch den Stern des Bundes? Gibt es Koinzidenzen zwischen dem Amateurgedanken der Olympischen Bewegung und der Imitatio der abgeleiteten Wesen im GeorgeKreis? Exercitatio, so wie der Kreis sie versteht, hat ebenso wie die Contagio eine körperliche Dimension. Ähneln sich die Argumente im Kreis und im zeitgenössischen Sportdiskurs, wie Bildung von Körper und Geist aufeinander bezogen sei? Eine weitere Koinzidenz besteht zum Gemeinschaftsmusikgedanken in der Jugendbewegung.2 Gedichte wie Wer je die flamme umschritt gehören zu ihrem einschlägigen Liedgut.3 Wenn 1
2
3
Aktuell kündigt sich ein neues Forschungsinteresse an der Bedeutung des Sports für Poetiken der Moderne an. – Vgl. Anne Fleig: Körperkultur und Moderne. Robert Musils Ästhetik des Sports, Berlin: de Gruyter 2008. Vgl. Rainer Bayreuther: Die Situation der deutschen Kirchenmusik um 1933 zwischen Singbewegung und Musikwissenschaft. In: Archiv für Musikwissenschaft 68 (2010), S. 146–163. Vgl. Dieter Martin: Musikalische Rezeption. In: Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch zu Leben und Werk Stefan Georges, zu den Mitgliedern seines Kreises und zu dessen Wirkung, hg. v. Achim Aurnhammer, Wolfgang Braun-
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Konrad Ameln, Hugo Kauder und Rudolf Pannwitz diesen Text in Kanontechnik setzen, findet der Imitatio-Gedanke seinen unmittelbaren Ausdruck in der musikalischen Form. Dasselbe gilt für das Kunstlied. Die Vertonung der Sänge eines fahrenden Spielmanns durch den mit George befreundeten Komponisten Cyril Scott folgt sowohl den ästhetischen Prämissen der Gemeinschaftsmusik als auch dem Imitatio-Modell. Musik ist keine selbstständige Größe, sondern eine (aus dem Wort) abgeleitete Kunstform.4 Ein Thema, das eigene Bearbeitung verdiente, wäre eine Untersuchung der zeitgenössischen George-Vertonungen unter dem zentralen Aspekt der Imitatio. Die Einbettung von ästhetischen in sozialen Sinnbezügen im Imitatio-Modell entspricht dem Grundgedanken der Gemeinschaftsmusik. Ebenso wie die Lyrik des Kreises ist diese Musik sowohl antimodern als auch Teil der musikalischen Avantgarde ihrer Zeit. Wie diese zeitgleichen Ausprägungen des Imitatio-Denkens erschöpft sich das Imitatio-Modell des Kreises nicht in einer ästhetischen Opposition gegen die Moderne, sondern ist eine Ausprägung der Moderne selbst. Im Gegensatz zum konservativen oder epigonalen Schreiben fehlt dem Kreis jedwede neophobe Einstellung. Zwar ist Neuheit kein Wert an sich, aber kulturelle Hebung geht im Denken des Kreises stets von der Wiederholung des als vorbildhaft empfundenen Neuen aus. Die zu imitierenden neuen Zeichen werden als neu im existenziellen Sinne, als Erneuerung und Heilmittel für das Individuum und die Kultur betrachtet. Imitatio gewinnt somit den Charakter einer religiösen Übung, für welche die technische Aneignung eine Vorbedingung ist. Zwar folgt der Kreis oberflächlich betrachtet dem historiografischen Narrativ ‚großer Männer‘ und beschäftigt sich mit heroischen Gestalten wie Caesar, Dante, Goethe, Napoleon.
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gart, Stefan Breuer und Ute Oelmann, 3 Bde., Berlin und New York: de Gruyter 2011, Bd. 3, Kap. 4.4 [in Vorbereitung] und ders.: „Wer je die Flamme umschritt“. Stefan George am Lagerfeuer. In: Festschrift Wilhelm Kühlmann, hg. v. Ralf Georg Bogner und Christian von Zimmermann, Berlin und New York: de Gruyter / Edition Niemeyer 2011 [im Druck]. Vgl. Gunilla Eschenbach: Musik als emotiver Verstärker in Stefan Georges „Sänge eines fahrenden Spielmanns“. In: Dieter Martin und Thomas Seedorf (Hg.): Lied und Lyrik um 1900 (Klassische Moderne 16), Würzburg: Ergon 2010, S. 129–139.
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Aber was er selbst realisiert, ist kein poetischer Sozialdarwinismus, sondern ein Gruppenmodell, das auch die „kleineren“, die „ganz kleinen“ und die „kleinsten“ einbezieht.5 Obwohl das Hauptaugenmerk des Kreises auf den Urgeistern liegt, berührt sein Nachahmungsprogramm diese nur indirekt; es will die Gruppe in die Höhe des Urgeists emporziehen. Das ImitatioModell und der mit ihm verbundene Idealisierungsgedanke konturieren sich damit deutlich gegenüber einem älteren, im Denken des 19. Jahrhunderts verwurzelten darwinistischen Konkurrenzmodell, das nur die Heroen überleben lässt. Imitatio hat nicht die Perfektionierung des einzelnen großen Menschen, sondern die Optimierung der Gruppe zum Ziel. Damit stehen die Nachahmungskonzepte des Kreises modernen Anschauungen des späteren 20. Jahrhunderts nahe. Allerdings ist diesem Modell kollektiver Höherentwicklung auch eine geschichtliche Dekadenzvorstellung eingeschrieben: Wenn die neuen Zeichen Allgemeingut werden, hat die Imitatio ihren Zweck erfüllt. Schöpferische Impulse laufen sich bei allgemeiner Verbreitung tot. Epigonalität als Endpunkt stilistischer Imitatio ist ein Zeichen von Erschöpfung. Eine neue Kulturstufe wurde erreicht, aber gleichzeitig verbraucht sich das vormals Neue in seiner fortwährenden Nachahmung. Es wäre eine Aufgabe für die Philosophie, die geschichtsphilosophischen Aspekte des Imitatio-Modells herauszuarbeiten. Vor diesem Hintergrund gewinnt Georges ambivalente Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus und namentlich sein oft zitiertes Eingeständnis einer „ahnherrschaft der neuen nationalen bewegung“ eine neue innere Logik.6 Will George seinen Anspruch aufrechterhalten, ein Urgeist zu sein, so kann er gar nichts anderes behaupten als dass es seine Saat sei, die nun auf breiter Fläche aufgehe. Im Blick auf das Imitatio-Modell stellt seine Wirkung innerhalb einer Massenbewegung aber bereits eine Dekadenzstufe dar, mit der Missverständnisse und popularisierende Verkürzungen einhergehen. Entsprechend ist die Fortführung der eben zitierten Passage aus seinem Absage5 6
Stefan George an Hugo von Hofmannsthal, Brief vom Juli 1902. In: GeorgeHofmannsthal Briefwechsel, S. 158–162, hier S. 159f. Vgl. Karlauf (2007): Stefan George, S. 621–627 und Raulff (2009): Kreis ohne Meister, S. 52f.
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schreiben an die neuen Machthaber zu werten, in dem er einen Ehrenposten in der Deutschen Akademie für Dichtkunst ausschlägt: „Die gesetze des geistigen und des politischen sind gewiss sehr verschieden – wo sie sich treffen und wo geist herabsteigt zum allgemeingut das ist ein äusserst verwickelter vorgang.“7 Obwohl diese Diffusion ins Allgemeine in der Verlaufsdynamik des Imitatio-Modells den folgerichtigen Schlusspunkt setzt, muss sich George von einer Verflachung seiner Ideen abgrenzen. Das Imitatio-Modell kann somit dazu beitragen, Georges Position und diejenige seiner Jünger im Jahr 1933 differenzierter als bisher zu beschreiben. Die Überführung der mit dem Imitatio-Modell verknüpften idealisierenden Bildung in regulierende Vorstellungen von biologischer Auswahl und Zucht durch einzelne Vertreter des Kreises kann als eine solche Dekadenzerscheinung gewertet werden. Eine rassische Auslegung der Bildungskonzeptionen im Kreis muss als Verkürzung und Verfälschung von Georges Ansatz gewertet werden, wo er in den Bannkreis der völkischen Bewegung gerät. Von Gewinn wäre es, die nach 1933 einsetzende Biologisierung des Imitatio-Modells, wie sie am Beispiel Kurt Hildebrandts nur angedeutet werden konnte, bei den jüdischen Kreismitgliedern zu betrachten. Denn gerade sie werden sich nolens volens ihrer biologischen Rassenzugehörigkeit bewusst. Sowohl jüdische als auch nichtjüdische Angehörige des GeorgeKreises rechtfertigen sich in Argumentationsmustern des Imitatio-Modells. Eine solche Untersuchung könnte wiederum die Lyrik und die jeweiligen Metaphernbereiche zu ihrem Gegenstand nehmen – ein denkbares Ergebnis wäre z.B. eine Entmetaphorisierung des Blutes in den jeweiligen Gedichten oder ein bewusstes Aufgreifen einer politisch belasteten Metaphorik, um Georges Sprache (vom Neuen Reich, vom Führer, vom Opfer, vom Boden) vor einer Vereinnahmung durch die Sprache des Nationalsozialismus zu retten. Die meisten kunstreligiösen Entwürfe der Zeit gehen vom ästhetischen Artefakt als solchem aus (vgl. Mallarmé oder Kandinsky und Schönberg in den Nachbarkünsten); Transzendenzerlebnisse werden im einsamen Dialog des Rezipienten mit der Hermetik selbstreferenzieller Werke gesucht. George hat dem7
Zit. n. Raulff (2009): Kreis ohne Meister, S. 53.
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gegenüber das kunstreligiöse Transzendenzerlebnis nicht als primär ästhetisch erfahrene Überwältigung des Einzelnen, sondern als im Gruppenerlebnis situierte soziale Erfahrung konzipiert. Creatio wird durch Wirklichkeitsbezug relativiert. Dass die entstehende Lyrik durch Handwerklichkeit, durch Förderung der eigenen Imitierbarkeit und durch didaktische Funktionalisierung ihren kunstwerkhaften Status selbst abschafft und doch Transzendenzerfahrungen ermöglicht, ist in den literarischen Strömungen des frühen 20. Jahrhunderts ohne Vergleich.
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Bild- und Textanhang
Abb. 4: Friedrich Gundolf: Über Bühnenanweisungen [Umschlag mit GeorgePorträt und durchgestrichener -Karikatur, dabei: Caesar und Shakespeare(?)]
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Abb. 5: Friedrich Gundolf: Zirkel der zwoelf Sonette vom Taschensumpf [Auszug]
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Hanns Meinke: An Stefan George [Bl. 1r] AN STEFAN GEORGE 19 ~ AUGUST ~ 181 HANNS MEINKE [Bl. 1v leer] [Bl. 2r] 1 Kein eingangsspruch nur dies: DA BIN ICH WIEDER. So wie ein scheues tier des waldes witternd Die fährte sucht verwandter art · und wieder Und wieder kehrt zum strich gestreifter gräser 5 So wend ich DEINE blätter.. aber DU? Willst Du nicht einmal leibhaft mir begegnen In dieser erdenspanne? denn vielleicht Wenn immer wieder DU vorüber gehst Gehn niemals niemals wieder im gewebe 10 Des grossen teppichs unsre lebensfäden So nah einander dass ein wunsch ein wink Sie kreuzen könnte.. weiter: weisst Du denn Was ungeahntes Du aus meinem boden Erwachsen lassen könntest? niemals noch [Bl. 2v] 15 Bin ich gepflügt · ich bin urjunge brache Und treibe bunt nur üppig blühend unkraut Das wind auf mich gesät.. Ich bin doch kind: Was rechnen jahr? ich will zweihundert werden. Was rechnet „vatersein“? verspielter same 20 (aber in edeln schooss traumsichrer wahl) Erwächst so schön dass ich erschüttert kniee Vorm wunder – doch mich selbst fühl ich nicht anders.
1
D. i. August 1918.
Hanns Meinke: An Stefan George
Abb. 6: Hanns Meinke: An Stefan George [Auszug]
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Hanns Meinke: An Stefan George
Warum nicht willst Du selber zu mir reden? Ich unterwerfe jeder prüfung mich. 25 Heisst dies nicht treue: durch der jahre wechsel Doch immer wieder einmal leise singen Vor der verschlossnen tür? auch dieses wird Der letzte sang nicht sein. Dein schweigen kann [Bl 3r] Mich traurig machen aber nicht verstummen. 30 Nur dann steift hochmut meinen nacken · legt In meine sanften augen kühles glitzern Wenn fremde frager mich betasten · ganz In keuscher kindheit geb ich nur den flammen Der Sonne mich und ihrem Sohne: DIR. Warum nicht willst Du selber mich versuchen? In mir ist aufgespeichert und beschlossen Der ganzen jugend stosskraft trieb und seim. (hier setzt auf meine hand sich eine biene Betastete und flog nach blumen weiter) 40 Soll dass [sic] verschlossene an seiner fülle Verstocken: wie zu volle rosenknospe Den kelch nicht sprengt und so in sich verdirbt? Nichts braucht es als des Meister [sic] hand in liebe. [Bl. 3v] DER aber zürnt wohl so: „vermessner knabe 45 Kennst du nichts als dies eine: ich Ich ICH?“ Das aber singt so stark und süss aus mir Weil es hinaus begehrt ins DU: hinüber In bruderkelch die volle narde neigt Doch ach – nicht neigt – der kelch ist ja verschlossen. 50 Nur tastend an die bangen wände klopft. 35
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Dies schrieb ich nackt auf morgenfrischer matte Von gänseblümchen · tausend schön · gestirnt Umgrast von fohlen die in freiem spiel Die mähnen schütteln.. alles was Du singst Ich leb es echt und nah im schooss der erde Allein: in einsamkeit: der letzte faun Der tief im dornendickicht sich verschlafen
Hanns Meinke: An Stefan George
[Bl. 4r] Und nun erwacht die fremde welt bestaunt Erschrocken vor so fremdem menschenwesen. 60 Ich borgte für die kupferbraunen glieder Von ihren lumpen unerkannt zu leben Doch wahrhaft „leben“ sind nur jene stunden Da jubelnd ich sie von mir werfen kann In sonne luft und gräsern mich zu baden 65 Getreues schoosskind des uralten Pan.
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Nun schreib ich fiebernd auf mein schönstes blatt Dies lange lied beim schein der kleinen kerze Die mit dem späten blassen mondlicht kämpft. So kämpft mein lied mit Deinem kühlen Geist So ring mit Dir ich: Jakob mit dem Engel: ICH LASS DICH NICHT · DU SEGNETEST MICH DENN!
Hanns Meinke Streckenthin-Pritzwalk: Sonntag 4. 8. 1918.
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Friedrich Gundolf und Karl Wolfskehl: Ein und funfzig auf den ARSCH [Bl. 1r] Ein und funfzig auf den ARSCH
Abb. 7: Friedrich Gundolf und Karl Wolfskehl: Ein und funfzig auf den ARSCH, Bl. 1. Titel von Wolfskehls Hand. Tatsächlich handelt es sich um 54 Xenien. Drei davon (Denn schon, Deutsche oden, Neu-vermehrte, heylsame Dreck-Apothecke) wurden verworfen; eine vierte, NACH-MACHER, wurde gleichfalls zur Disposition gestellt (vgl. die redaktionellen Streichungen und Klammern im Text). Kursivierung der Titel ist Herausgeberzusatz. Nummerierung, Klammern und Streichungen folgen der Handschrift.
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[Bl. 2r] 1 Cacatum non est pictum. Ja dich entschuldigen deine initialen Das beste was der ARSCH kann ist nicht malen. „Cacatum non est pictum“: lateinisches Sprichwort „Hingeschissen ist nicht gemalt“. Bezieht sich auf Schröder als Maler/Gestalter.
2 R.....A........SCH..... Bist du auch RASCH du machst uns doch nichts weis. Die kleinste wendung offenbart dich steiß. „R…A…SCH…“: Anagramm der Namensinitialen von Schröder. Vorwurf der Vielschreiberei und der Stilmonotonie.
3 Semper idem Wenn schon verdreht warum denn nicht gleich SCHRA? Bei dir reimt sich doch alles auf A-a. „Semper idem“: lat. „Immer das Gleiche“. Bezieht sich auf die Buchstabenvertauschungen, die immer zum gleichen Ergebnis führen. Andere Bedeutung: Schröder schreibt immer das Gleiche. „[V]erdreht“: Wörtlicher Bezug auf Schröders Kritik in den Süddeutschen Monatsheften, in denen Schröder die „eigenwillig Verdrehten [sic] Stellen“ in Georges Shakespeare-Übertragungen kritisiert (S. 448).
4 Das Trio Es nüzt nichts dich zu bergen in der SCHAR Des alten ARSCH wird Jedermann gewahr. „Das Trio“: Anspielung auf die die drei Herausgeber des Hesperus (Rudolf Borchardt, Rudolf Alexander Schröder, Hugo von Hofmannsthal). „Jedermann“: Anspielung auf Hofmannsthals Jedermann.
5 Auch ein Zimmerm -Mann Du freilich kannst den anschluß nie verpassen Da wo der Liebe Gott das loch gelassen. „Da wo der Liebe Gott das loch gelassen“: Nach dem Sprichwort „Du kannst dahin gehen, wo der Zimmermann das Loch gelassen hast“. Gott hat den After geschaffen, damit Schröder nicht den Anschluss verpasst: Anspielung auf den Analverkehr. „Zimmer-Mann“: Vorwurf geheimer sexueller Praktiken im ‚Hinterzimmer‘. Andere Bedeutung: Anspielung auf Schröder als Raumgestalter. Schröder wird im Oktober 1910 in Brüssel eine Medaille für die Gestaltung zweier Herrenzimmer zuerkannt.
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6 Seetechnisch Nur eines platter Sachse wüsst ich gern Hast einen Steven du der du ganz Stern? „[P]latter Sachse“ hier in dreifacher Bedeutung: literarisch (Vorwurf der Plattheit), geographisch (Schröders niedersächsische Herkunft) und körperlich (Vorwurf der Impotenz). Wörtlicher Bezug auf Schröders Kritik in den Süddeutschen Monatsheften („Ist eine plattere, ungeschicktere Prosa denkbar?“). „Steven“: Bootsspitze, Seemannssprache. Hier: Umschreibung für Penis. „Stern“: Hinterteil, Jägersprache.
7 Zweite Hand Wenn nur dein initial nicht gleich verriete Du seist in dem Parnaß zur Aftermiete. „Aftermiete“: veralt. Untermiete. Vorwurf der Epigonalität bzw. der Verwendung abgenutzter Formen aus zweiter Hand (vgl. veralt. „Afterkunst“).
8 Gesunde Verhältnisse Verwundert dich die abgunst der Neun Musen? Kein weib liebt einen ARSCH an seinem busen. Vorwurf fehlender Inspiration.
9 Grimmen Wirst du von schaffensdranges urgewalt dick Es bleibt doch stets dasselbe: Peristaltik. „Grimmen“: Bauchweh. „[S]chaffensdranges urgewalt“: Wortspiel mit der zweifachen Bedeutung von „Drang“; Bezug auf den Topos vom dichterischen Trieb. „[U]rgewalt dick“ – „Peristaltik“: Anlehnung an Schüttelreim.
10 Kein Erfolg [Bl. 3r] Denn Dem sein getöne klingt noch missgestimmt Wenn er den Musenquell als einlauf nimmt. „Dem sein“: Streichung und Ergänzung von Wolfskehls Hand. Bewusster grammatikalischer Fehler. „Musenquell als einlauf“: Travestie des antiken Topos vom Musenquell. Nachträglich eingefügt, Nummerierung der folgenden Xenien entsprechend geändert.
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1011 Keine Hexerei Vor allem der geschwindigkeit applaus: Du drückst – schon ist ein neues werk heraus. Anspielung auf Schröders rege Publikationstätigkeit.
1112 Simia Maimon Wer hätte nicht an den Mandrill gedacht Als du einmal den Mon montag blau gemacht. „Simia Maimon“: lat. Bezeichnung einer Meerkatzengattung mit auffälliger blauer Färbung am After. Vorwurf der Epigonalität (nachäffen).
1213 Sächsisch Wies unablässig strömt aus deiner rinne O ARSCH du machst das dichten selber dinne. Vorwurf der Vielschreiberei. „Sächsisch“: Bezug auf den dialektal gefärbten Begriff „dinne“. Wörtlicher Bezug auf Schröders Kritik in den Süddeutschen Monatsheften an Georges „Diktion, die wie ein dürftig Rinnsal über holprichte Steine sickert“ (S. 439f).
1314 Früh erschlafft Daß doch dein sphinkter besser funktionier! Es bliebe unbesch|rieben viel papier. „[S]phinkter“: griech. Schließmuskel. Vorwurf der Vielschreiberei (Schreiben als Dauerdurchfall). „[U]nbesch|rieben“: Der Mittelstrich deutet die alternative Fortführung „unbesch…“ an.
1415 Origo Zwar wirst du nie ganz fertig aber doch Pfeifest du ewig auf dem lezten loch. „Origo“: lat. Ursprung. „Zwar wirst du nie ganz fertig […] Pfeifest du ewig auf dem lezten loch“: Ugs. „Auf dem letzten Loch pfeifen“, am Ende seiner Kraft sein („fertig sein“). Andere Bedeutung von „dem lezten loch“: der After.
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1516 Umkehr Dein schwacher geist beweist zu jeder frist Daß du ein äußerst willig (sitz-)fleisch bist. „Umkehr“: Christlicher Begriff für Buße. Andere Bedeutung: Umkehrung, Inversion als medizinischer Begriff für die Umkehrung des Geschlechtstriebs, Homosexualität. „Dein schwacher geist […] ein äußerst willig (sitz-)fleisch“: Wortspiel. „Das Fleisch ist willig, aber der Geist ist schwach.“ Umkehrung des Bibelspruchs „Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach“, hier in doppelter Inversion. „[W]illig […] fleisch“: sexuelle Anspielung.
1617 Panisch Daß dies organ im sangeschor nicht fehle Schmetterst dein lied du aus der untern Kehle. Vgl. die Xenien Nr. 10 und 15. „[I]m sangeschor“: Wörtlicher Bezug auf Schröders Kritik in den Süddeutschen Monatsheften; Schröder nennt den George-Kreis „diesen Gesangverein“ (S. 448).
1718 Merde Du machst Cambronnes donnerwort zur tat Du denkst: kommt ewig ewigkeit kommt auch unrat. Meinst wie Cambronne lag Lorbeer dir bereit: Zeit bringt wohl Rat – doch Unrat Ewigkeit? Streichung und Ergänzung von Wolfskehls Hand. „Merde“ und „wie Cambronne“: Der französische General wurde durch dieses Wort unsterblich. „Zeit bringt wohl Rat – doch Unrat Ewigkeit?“: Wortspiel mit dem Sprichwort „Zeit bringt Rat“. Technik der Analogiebildung wie bei Xenie Nr. 16.
1819 Gesamtwerk Auf deinen nachlaß bin ich nicht begierig: Was ARSCH du lässest ists nicht furz ists schmierig. Spiel mit doppelter Bedeutung von „lassen“: Kritik an Schröders künftigem literarischen Nachlass.
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[Bl. 4r] 1920 Eulenspiegels Historia Die früchte so dein garten tut bescheren Sind besten falles Tills prophetenbeeren. Nummerierung überschrieben: „35“, entweder als Ersatz für die gestrichene Xenie 35 oder mit Bezug auf die 35. Historie. „Tills prophetenbeeren“: Till Eulenspiegel verkauft Kügelchen eigenen Kotes an Juden unter dem Vorwand, es seien Prophetenbeeren, mit denen man die Ankunft des Messias vorhersagen könne (35. Historie). Kritik an Schröders angemaßtem Sehergestus.
(2021 Denn schon. Naturdung nennt man sonst was ärsche scheißen Natur ists nicht dein werk mags kunstdung heißen.) „Naturdung“: Wortspiel mit Bezug auf die Natürlichkeitsästhetik.
2221 Zur Sache Wie auswahlreich ist ARSCH dein werk zu schauen Stoffwechsel kommt von vielerlei verdauen. „Stoffwechsel“: Vorwurf des Eklektizismus und der Bearbeitung vieler heterogener Stoffe; daneben Bezug auf den biologischen Stoffwechsel.
(2322 NACH-MACHER Du bist vor viel beladenen zu preisen Was andre blos verdauen darfst du scheißen.) „NACH-MACHER“: Vorwurf der Epigonalität, Spiel mit doppelter Bedeutung von „machen“.
24 Gleiches Ende Ambrosia und Nektar Wein und Brot Homer Sistina hier wird alles Kot. Vorwurf der angemaßten Anknüpfung an griechische, deutsche und römische Traditionen. Anspielung auf Schröders Sonette An die sixtinische Madonna (im Hesperus erschienen 1909), seine Deutschen Oden (ab 1907, vollständig 1928) und seine Übertragung der Odyssee (1908–1910). „Gleiches Ende“: Wörtlicher Bezug auf Schröders Kritik in den Süddeutschen Monatsheften: „Hätte George ein wirkliches Verhältnis zur antiken Literatur, so würde es ihm nicht einmal einfallen, Catull und Horaz, ja, auch nur Ovid oder Statius als Gleiche zu behandeln“ (S. 444). Fäkale Nebenbedeutung (vgl. Xenie 22). Sprung in der Nummerierung.
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25 Der Deutsche Maíonid Die steisgeburt mißlang doch sei zufrieden Bist nicht Homer doch bist voller – Homeriden. Streichung und Ergänzung von Wolfskehls Hand. „Der Deutsche Maíonid“: Homer war ein Maionier. Wortspiel mit Homeriden (Rhapsoden, die Homer vortragen) und Hämorrhoiden. „[S]teisgeburt“: Anspielung auf das Gesäß, poetologische Gebärmetapher. Die Steisslage des Fetus erhöht das Geburtsrisiko.
26 Arsch / der / non Ars ne cum arte latinorum confundatur (Der teutschen Sprache Stammbaum und fortwuchs des Spaten. Nürnberg 1691) Auch durch Horaz wirst du nicht römische kunst Plattdeutscher ARS bist bleibst voll üblem dunst. Bezug auf Kaspar Stielers Wörterbuch Der Teutschen Sprache Stammbaum und Fortwachs oder Teutscher Sprachschatz (Nürnberg 1691), das vor der Verwechslung von dt. Arsch und lat. Ars (dt. Kunst) warnt. Hier erweitert durch plattdeutsch Ars. Bezug auf Schröders Horaz-Imitatio mit den Deutschen Oden. Wörtlicher Bezug auf Schröders Kritik in den Süddeutschen Monatsheften; Schröder schreibt, George ziehe den Namen Goethes in „dunstige Niederungen“ herab (S. 439).
2627 Dem Lyriker Nur von der liebe darfst du niemals sprechen Du würdest unnütz es gäb kot-erbrechen. [Bl. 5r] 2728 Gar zu arg Wohl öffnest du dein loch zu süßem mist Ich glaub dirs ARSCH daß du gern //umschweif bist// „[U]mschweif“: Vorwurf der Vielschreiberei. Anspielung auf Analverkehr (vgl. die auffällige Textmarkierung). Wörtlicher Bezug auf Schröders Kritik in den Süddeutschen Monatsheften; Schröder schreibt, dass die deutsche Sprache sich „so mancher […] Ausschweifung willig bequemt“ (S. 447).
2829 Ein Buch Gesänge – Warum? Warum? Lass deinem „Unmut“ alle zügel schießen Nur deine Rücksicht möcht ich nicht genießen.
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Streichung und Ergänzung von Wolfskehls Hand. „Ein Buch Gesänge“: Bezug auf Schröders Erstpublikation Unmut. Ein Buch Gesänge (1899), erschienen als eine der ersten Buchpublikationen der Insel.1 „[A]lle zügel schießen“: Wörtlicher Bezug auf Schröders Kritik in den Süddeutschen Monatsheften; Schröder schreibt, dass Goethe „die syntaktischen Zügel etwas lockerer handhabt“ (S. 447).
2930 Effemonate An deinen eigenen Geräten Turne Lass andern den Koturn dir die Kot-urne „Effemonate“: Bezug unklar, möglicherweise abwertende Anspielungen auf das Nachäffen und auf die Süddeutschen Monatshefte. „Kothurn“: erhöhter Stiefel für die Darsteller in der griechischen Tragödie. „Kot-urne“: Schröder soll vom Klo aus künden. Vgl. die Xenien 30–32 und 12.
3031 Meister vom Stuhl. Das seheramt gib ab bleib beim sonnet Der Pythia dreyfuß ist doch kein closet „Das seheramt gib ab“: Kritik am angemaßten Sehergestus (in den Deutschen Oden). Schröder soll sich auf Sonette beschränken, vgl. die Xenien 20, 30–32. „Der Pythia dreyfuß“: Wörtlicher Bezug auf Schröders Kritik in den Süddeutschen Monatsheften: „O armer Goethe, wie redest du durch den Mund dieser geschwätzigen Pythia!“ (S. 442).
3132 Second Sight Du glaubst prophetisch klinge dein gedicht Weil du vor aller welt ganz zweitgesicht? „Second Sight“: Spiel mit doppelter Bedeutung von „zweites Gesicht“, vgl. die Xenien 30–32. Wörtlicher Bezug auf Schröders Kritik in den Süddeutschen Monatsheften: „Herr George ermangelt der Einsicht in das […] ursprünglich Seherische“ (S. 441).
3233 Der Dichter der ‚Mitlebenden Zeit‘ Sie sagen dass dein sang voll feuer ist Auch sonst brennt man in wüsten trocknen mist. „Der Dichter der ‚Mitlebenden Zeit‘“: Wörtlicher Bezug auf Schröders Kritik in den Süddeutschen Monatsheften; Schröder verurteilt Georges Angriffe „gegen die mitlebende Zeit“ (S. 439). Schröders Deutsche Oden erheben ebenso wie Georges Zeitgedichte den Anspruch, für die ganze Nation zu sprechen. Sie erscheinen programmatisch am Anfang der Oktoberausgabe der Süddeutschen Monatshefte 1910. „Sie sagen dass dein sang voll feuer ist“: George-Reminiszenz (vgl. den Anfangsvers von Erinna). 1
Rudolf Alexander Schröder: Unmut. Ein Buch Gesänge, Berlin: Verlag der Insel 1899.
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(3334 Deutsche oden Dein volk belebe meinst der oden schwung Zum mindesten verheißt ihr odem dung) „Deutsche oden“: Bezug auf Schröders Deutsche Oden, vgl. Xenie 33.
3435 Neu-vermehrte, heylsame, Dreck-Apothecke. Wer so wie du die poesie kuriert Der hat Paullini gründlich durchstudiert Bezieht sich auf Christian Franz Paullini: Neu-Vermehrte Heylsame Drecks-Apotheke, Wie nemlich mit Koth und Urin Fast alle / ja auch die schwerste / gifftigstes Kranckheiten […] glücklich curieret werden [etc.] (1696). Gundolf und Wolfskehl durch Alfred Schuler bekannt.2
3536 Schlechte Aussicht Daß du so blind bist ist nicht böser wille Denn alles siehst du durch die abtrittsbrille „[B]lind“: Bezug auf den Topos vom blinden Seher. „[D]urch die abtrittsbrille“: Wörtlicher Bezug auf Schröders Kritik in den Süddeutschen Monatsheften: Die Gegenwart verdiene es nicht, „lediglich mit den Augen des Lyrikers […] aus dem Gesichtsfeld poetischer Beschränktheit heraus angeschaut“ zu werden (S. 439).
Bremer Bei Bei-Tröge Wannsee-Wien-Wasser-Allerwelt-Spinat Schmöcklern sein feiner ARSCH druckt nur „privat“. „Bremer Bei-Tröge“: Bezug auf die Ankündigung der Bremer Privatpresse 1913; 1922 erscheinen die Neuen deutschen Beiträge ebenda. „Wannsee“: Borchardts Gedicht Wannsee entsteht im September 1913 (Grüninger Nr. 93). „Wasser-Allerwelt-Spinat“: pejorativ für schwache Erzeugnisse. „Schmöcklern“: pejorativ für Journalist, siehe Schmock. Diese Xenie ist am unteren Rand von Wolfskehls Hand eingefügt und ohne Nummer. Indiz für späteres Entstehungsdatum.
[Bl. 6r] 3637 Größenwahn Wagst dich zur mark heroischen gebietes Der größte ARSCH ist lang noch kein Thersites.
2
Vgl. Salin (21954): Um Stefan George, S. 336 Anm. 203.
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„Thersites“: Figur aus Homers Ilias; Begriff für Stänkerer. „[H]eroischen Gebietes“: Wörtlicher Bezug auf Schröders Kritik in den Süddeutschen Monatsheften: Kritik an Georges Lyrik, „sobald er sich in Gebiete wagt, die ihm verboten sind.“ (S. 447). Möglicherweise gegen Schröders Deutsche Oden.
3738 Asa foetida Begreiflich daß dir weihrauch übel däucht Weil anders er wie deine schwaden räucht „Asa foetida“: lat. stinkender Altar. Spiel mit Lautähnlichkeit zur Ars poetica.
3839 Lieber nicht Von reinen händen willst du was verstehn Wohl. nur uns, daß wir nicht deine kerbung sehn. „Von reinen händen“: Wörtlicher Bezug auf Schröders Rezension in den Süddeutschen Monatsheften. George rühre an das Nationalheiligtum Goethe „mit Händen, die rein zu nennen, wir nicht mehr vermögen“ (S. 439). Ferner: „Wir würden uns am liebsten die Hände waschen, die uns schon allzu lang mit einem nicht sehr sauberen Gegenstand beschäftigt erscheinen“ (S. 443). „[K]erbung“: hier Pospalte.
3940 Goethe-Schranze Hofmann willst sein? Bleib, in gemeinem thale Wolfgang wird dir was auf dich drauf bezahlen. Gewerbs=Gewedel trüb im Hofmannsthale Dass sich Olymp ARSCH nicht auf dir bezahle Streichung und Ergänzung von Wolfskehls Hand. „Olymp“: Wörtlicher Bezug auf Schröders Rezension in den Süddeutschen Monatsheften. George versuche, den Namen Goethes „in dunstige Niederungen herabzuziehen“ (S. 439). „Goethe-Schranze“: Möglicherweise Bezug auf Schröders hymnisches Gedicht Goethe in der Einleitung zum 1. Heft der Insel (Oktober 1899). „Gewerbs=Gewedel […] Hofmannsthale“: Kritik am Berufsschriftsteller Hofmannsthal. „[A]uf dir bezahle“: Androhung von Schlägen.
4041 Feste Formen Hast die grammatik nie von dir gelassen? Du ARSCH musst freilich jed abweichen hassen. „[G]rammatik“: Wörtlicher Bezug auf Schröders Rezension in den Süddeutschen Monatsheften; Kritik, dass George „elementare Forderungen […] der gewöhnlichen Grammatik“ zeitweise ignoriert (S. 445). „[A]bweichen“: Bezug auf Abweichungen von der Grammatik, fäkale Nebenbedeutung.
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4142 Ete petete Rechnest du fehler nach? gemach pedante Du bist in jedem sinne wasserkante. „Rechnest du fehler nach“: Wörtlicher Bezug auf Schröders Rezension in den Süddeutschen Monatsheften: Schröder schreibt, er habe es sich in der Vergangenheit verboten, George „seine vielfachen Sprachschnitzer vorzurechnen“ (S. 439). „[W]asserkante“: Bezug auf Schröders Bremer Herkunft, Bezug auf die Sitzposition auf der Toilette.
4243 Detaschierte Forts Nur nie mit offenem visier geknallt! Wo lägest gut du als im hinterhalt „Detaschierte Forts“ hier: versteckte Furze (vgl. Xenie 45). „[H]interhalt“: Doppelte Bedeutung von Hinterhalt als Hinterhältigkeit und als Hintern, aus dem es knallt.
4344 Drunten im unterland da ists halt fein Zeig dich als großmaul trumpf der fetten marsch Mach krach sei knollig poltern ziemt dem ARSCH. „Drunten im unterland …“: Liedzitat. „[G]roßmaul“: Inhaltlicher Bezug auf Schröders Rezension.
4445 Hessisch Nur sacht Im eignen wind geblähte die segel hissen Du weißt doch: gut gefuorzt ist halb geschissen. „Hessisch“: Gundolf und Wolfskehl waren Darmstädter. Sprichwörtlich. Zum Motiv vgl. Xenien 6, 43 und 44.
[Bl. 7r] 4546 Afterlogik Jed lexikon beweist den falschen schluß: Du stern bist hinterteil nicht Hesperus. „Afterlogik“: veralt. verquere Logik. „Du stern bist hinterteil“: Spiel mit doppelter Bedeutung von After und Stern, Bezug auf den Hesperus (vgl. Xenie 6).
4647 Freisinger Barbarossa Daß mancher gockel kräht auf deinem mist Davon erwacht kein echter mann und christ.
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„Freisinger Barbarossa“: Otto von Freising verfasste die erste Barbarossa-Biographie. Der Literaturkritiker Josef Hofmiller (1872–1933) lebte in Freising. Er schrieb die erste große Würdigung Schröders in den Süddeutschen Monatsheften (1909, H. 7, S. 93–105 und 1911, H. 4, S. 547f.). „[D]einem mist“: Fäkale Metapher mit Bezug auf Schröders literarisches Werk.
4748 Münchener Menses Dir kann ja gar kein feinrer zuspruch passen Die Hintertür ist für die untern massen. „Münchener Menses“: Menses hier Süddeutsche Monatshefte. Bezug auf Hofmillers positive Artikel über Schröder. „Hintertür“: Spiel mit doppelter Bedeutung von Hintertür als Dienstboteneingang und Darmausgang. „[U]ntern massen“: Spiel mit doppelter Bedeutung von unteren Massen als breite Schichten und als Kot. Vgl. Xenie 47.
4849 Stoff und Substanz Nur traue nicht auf ihren hymenäus Ein schwein wühlt kot doch ists kein skarabäus. „Nur traue nicht auf ihren hymenäus“: Der Zuspruch von Schröders Leserschaft ist ohne Wert. „Stoff und Substanz […] Ein schwein wühlt kot“: Der Skarabäus formt und ist schön, das Schwein wühlt nur im Stoff. Vom Stoff kann man nicht auf die Substanz schließen. Vgl. die Xenien 47 und 48.
4950 Präsentierteller Vor allem musst du deine windeln reffen Gespräch mit dir wird stets ein hintertreffen. 5051 Succulenter Greif uns nur an von hinten oder vorn Dein cactus ist uns wurst und ohne dorn „Succulenter“: lat. wasserhaltig. Bezieht sich auf den Angriff ‚von vorn‘. „Dein cactus ist uns wurst“: Spiel mit fäkalsprachlicher Metaphorik.
5152 Funfzig Die rechte antwort hörest du nicht häufig Wurst wider wurst ist einzig dir geläufig. Überschrift von Wolfskehls Hand. „Funfzig“: Überschrift stellt Bezug zum ganzen Zyklus her. „Die rechte antwort“: Schröder wird einmal in der Sprache geantwortet, die er versteht.
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5253 Er unter sich. Dich selber lieben ist dein hauptpläsier Mach was du willst du darfst leck uns an dir. V[idit]! „Vidit“: Von Wolfskehls Hand: lat. durchgesehen.
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Karl Wolfskehl: Vier Parodien auf Rainer Maria Rilke Sind die verschlossen oder ganz verschwunden Sind die verschlossen oder ganz verschwunden Wie leicht gerät man an die falsche Tür Doch Wald in deinen winterharten Sunden. Ich neige Klinke die ich mir erkür Ganz platt und wie ein abgeworfner Sattel Mit dem der Reiter sich den Nacken brach So liegst du Wald! ein ausgespiener DattelKern – dass i lach! N[o.n.s.e.n.]s
Abb. 8: Karl Wolfskehl: Vier Parodien auf Rainer Maria Rilke
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Oder soll ich, bitte, Oder soll ich, bitte, Kochlöffelgleich Stehn in Behagens Mitte Butterweich Krumm Könnte man sich ärgern Dass das Leben stumm Und dass man sich bei mit dem Kärgern Kleinlichern [?] und ärgern Liebestrost sucht Das ist so dumm.
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Karl Wolfskehl
Doch die Botanik freilich hat Doch die Botanik freilich hat Auch ihren schlimmen Schluss Mit Dorn und Myrte Blum und Blatt Trieb ich viel Unfug – übersatt Bin ich der Wahrheit, blank und glatt Entfährt mir süsser Stuss. Drum fragt nicht viel Ob Un-Ernst Spiel Und ob die Rose blau Der Federkiel leicht Mein buntgefärbter Federkiel Ist leicht wie manche Frau.
Karl Wolfskehl
Ob ich die mir noch erliste Ob ich die mir noch erliste Dedden sie [es] grad akkrat wie Du1 Eine ferne Blume bist de Ach um deinen Leib o Christe Ging es heimlicher nicht zu Wie in dieser trüben Zeit Der die Küsse nicht mehr brannten Und die lieben Anverwandten Mich aus ihrer deiner Näh verbannten War das tölpisch wars gescheit?
1
I,2 Hessisch: „Täten sie es ebenso wie Du.“
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Rudolf Alexander Schröder: Arschaisch hast du, Stefan, dich gebrüstet einst 1
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Arschaisch hast du, Stefan, dich gebrüstet einst, Arschilochäisch komm ich dir. Dantesk? Ja, was die Höllen anbetrifft vielleicht: Elagabal und Manlius bevölker Bevölkern sie; was beide brennt und jückt, das löscht Kein Maximin noch Minimax. Urväter buken dir die Küchlein, lieber Schorsch, Die du dann an den Mann gebracht, In Laxaröl, damit der Darm hübsch offen bleib. Wer waren sie? Ich wüsste, traun, Gleich drei zu nennen: Richard, Arnold, Friedrich Den Mann des grossen Nitschewo Und den der seinen Tizian verallemannt Und den der Tristan trist ansang. Den ganzen neudeutsch aufgeblähten Kitsch frechen faden Blumenmädchenball Hast du in deinem Porc pourri Nebst fleurs du mal und deines schlecht gewappneten Nam=Vetterleins Arom vermengt Mit einigen Erlesenen Düften aus der amsterdamschen Gracht, Und tatest gross und stelztest hoch, Erzober=Überpriester des versunknen Volks, Bis dir zuletzt der Kragen schwoll Und du dich weiss Knebbchen – jener schweinschen ältesten Mama
2 „Arschilochäisch“: Wortspiel mit „archilochäisch“ und „Arschloch“ (vgl. V. 31). Bezug auf die Jambendichtung im Geist des Archilochos. 11 Richard Wagner (Musik), Arnold Böcklin (Malerei), Friedrich Nietzsche (Philosophie). 12 „Nitschewo“: russisch „nichts“ (ugs.); phonetische Anspielung auf den Namen Nietzsche. 13 „Tizian“: Bezug auf Böcklin (V. 11) unklar. Möglicherweise der lautlichen Analogie zu „Tristan“ (V. 14) geschuldet. 14 „Tristan trist ansang“: Wortspiel; Bezug auf Wagners Tristan und Isolde. 15 Blumenmädchenszene im Parzival. 17 Charles Baudelaire. 18 Stéphane Mallarmé. 19 Albert Verwey?
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Du Keckling, unters Hemde griffst, Von der schon Goethe vor der Zeit im zweiten Teil [S. 2] [Klag] nicht zu sehr, [und wär] es ein kaudinisch Joch, Das Joch ist sanft, die Last ist leicht, Breit ist und hoch die Pforte hakenkreuzgeschwängert, Und duftend – nun, ich sag nicht wie. [Drückst] durchs Kamelsche Nadelöhr alle [hier dir weg]. Sein Arschloch [winkt]. Duckt euch. Hinein!
21 „Versunken“ im Sinne von „verworfen“ oder Bezug auf das Geheime Deutschland. 23 Anspielung auf Goethes Walpurgisnacht („Die alte Baubo kommt allein / Sie reitet auf einem Mutterschwein“, Faust I, V. 3962f. 23 Weeß knebbchen, sächsisch: weiß Gott. 25 Unklar: Bezug auf Faust II. 26 Neues Blatt. Vermutlich Textverlust. Unklarer Anschluss und unterbrochenes Versmaß. 26 „ein kaudinisches Joch“: eine schimpfliche Demütigung. 27 Mt 11,30 und Walpurgisnachtszene „Die Müh’ ist klein, der Spaß ist groß“ (V. 4049). 28“„kreuzgeschwängert“: Bild für Analverkehr. 31 „Sein“: Perspektive unklar.
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Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen: Mohr 31947 [erste Auflage: 1922]. Weichelt, Matthias: Gewaltsame Horizontbildungen. Max Kommerells lyriktheoretischer Ansatz und die Krisen der Moderne (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 232), Heidelberg: Winter 2006. Weigand, Kurt: Von Nietzsche zu Platon. Wandlungen in der politischen Ethik des George-Kreises. In: Heftrich, Eckhard; Klussmann, Paul Gerhard; Schrimpf, Hans Joachim (Hg.): Stefan George Kolloquium, Köln: Wienand 1971, S. 67–99. Weissberg, Liliane: Literatur als Repräsentationsform. Zur Lektüre von Lektüre. In: Danneberg, Lutz; Vollhardt, Friedrich in Zusammenarbeit mit Böhme, Hartmut; Schönert, Jörg (Hg.): Vom Umgang mit Literatur und Literaturgeschichte. Positionen und Perspektiven nach der „Theoriedebatte“, Stuttgart, Weimar: Metzler 1992, S. 293–313. Westermann, Claus: Grundformen prophetischer Rede, München: Kaiser 41971 [erste Auflage: 1960]. Wolfskehl, Karl: Die Blätter für die Kunst und die neuste Literatur. In: Jahrbuch für die geistige Bewegung 1 (1910), S. 1–18. Wolfskehl, Karl: Nova apocalypsis. In: Blätter XI/XII, S. 32. Wolfskehl, Karl: Stefan George und die Welt [zu seinem 60. Geburtstag]. In: Ruben, Margot; Bock, Claus Victor (Hg.): Karl Wolfskehl. Gesammelte Werke, 2 Bde., Bd. 2, Übertragungen. Prosa, Hamburg: Claassen 1960 [erstmals gedruckt in: Münchener Neueste Nachrichten, Nr. 188, am 12. 7. 1928], S. 260–267. Wolters, Friedrich: Der Meister. In: Blätter X, S. 74–78. Wolters, Friedrich: Geistige Bindung I. In: ders.: Wandel und Glaube, Berlin: Bondi 1911, S. 54f. Wolters, Friedrich: Stefan George und die Blätter für die Kunst. Deutsche Geistesgeschichte seit 1890, Berlin: Bondi 1930. Wülfing, Wulf; Bruns, Karin; Parr, Rolf (Hg.): Handbuch literarisch-kultureller Vereine, Gruppen und Bünde 1825–1933 (Repertorien zur deutschen Literaturwissenschaft 18), Stuttgart, Weimar: Metzler 1998. Wyneken, Gustav: Eros, Lauenburg a.d.E.: Saal 1921. Yrsalun, Olaf [d.i. Hanns Meinke]: Der schöne Schnitter. In: Der Eigene 7 (1920), H. 10, S. 7. Zabka, Thomas: Parodie? Kontrafaktur? Travestie? Anlehnung? Zur Klassifikation und Interpretation von Metatexten unter Berücksichtigung ihrer mehrfachen Intertextualität. Überlegungen zu Gedichten von und nach Bertolt Brecht. In: DVjs 78 (2004), H. 2, S. 313–352. Zeller, Bernhard (Hg.): Albrecht Schaeffer 1885–1950. Gedächtnisausstellung zum 75. Geburtstag des Dichters im Schiller-Nationalmuseum Marbach a. N. vom 6. Dezember 1960 bis 31. März 1961 (Sonderausstellungen des Schiller-Nationalmuseums Katalog 8), im Auftrag der Deutschen Schillergesellschaft, Ausstellung und Katalog von Lorenz, Rosemarie; Volke, Werner, Stuttgart: Turmhaus-Druckerei 1960.
394
Literaturverzeichnis
Zeller, Bernhard (Hg.): Die Insel. Eine Ausstellung zur Geschichte des Verlages unter Anton und Katharina Kippenberg (Marbacher Katalog 15) Stuttgart: Klett 1965. Zwymann, Kuno [d.i. Heinrich Goesch; Hermann Kantorowicz]: Das Georgesche Gedicht, Berlin: Edelheim 1902.
Abbildungsnachweis Abbildung 4: Friedrich Gundolf: Über Bühnenanweisungen, Umschlag, STGA, Edgar Salin I,110. Abbildung 5: Friedrich Gundolf: Zirkel der zwoelf Sonette vom Taschensumpf [Auszug], DLA, A:Wolfskehl. Abbildung 6: Hanns Meinke: An Stefan George, STGA, George IV, 2245. Abbildung 7: Friedrich Gundolf und Karl Wolfskehl: Ein und funfzig auf den ARSCH, DLA, A:Wolfskehl/Salin. Abbildung 8: Karl Wolfskehl: Vier Parodien auf Rainer Maria Rilke, DLA, D:Wolfskehl. Abbildung 9: Rudolf Alexander Schröder: Arschaisch hast du, Stefan, dich gebrüstet einst, DLA, A:Schröder.
Literaturverzeichnis
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Dank Ich danke der Betreuerin dieser Arbeit, Professor Sandra Richter, in deren Emmy Noether-Nachwuchsgruppe an der Universität Hamburg Thema und Grundfragen entstanden. Mit großem Engagement hat sie die Arbeit bis zum Abschluss betreut. Professor Jörg Schönert danke ich für die Übernahme des Zweitgutachtens. Der Graduiertenförderung der Universität Hamburg und dem Deutschen Literaturarchiv Marbach sei für Stipendien gedankt. Helmuth Mojem (DLA), Ute Oelmann und ihre Mitarbeiter (STGA), Sabine Wolf (ADK) und William Abbey (GA) unterstützten freundlich und sachkundig die Archivrecherchen. Rainer Bayreuther, Stefan Knödler und Hansjörg Drauschke lasen das Manuskript, Saskia Bodemer redigierte den Fußnotenapparat. Ingrid Grüninger und Reinhard Tgahrt halfen bei der Entzifferung von R. A. Schröders Handschrift, Marita Keilson-Lauritz und Mirko Nottscheid gaben Hinweise zum Thema George und Homosexualität. Diskussionsforen boten die Vierte Hombroicher Forschungsklausur über Rudolf Borchardt und das Bielefelder Kolloquium über Kulturkritik bei George. Den Inhabern der Urheberrechte am Werk von Karl Wolfskehl (Deutsche Schillergesellschaft, Marbach am Neckar), Albrecht Schaeffer (Angelika Schneider), Hanns Meinke (Herbert Meinke) und Rudolf Alexander Schröder (Cornelius Borchardt im Namen der Erbengemeinschaft) danke ich für die Erteilung der Publikationsgenehmigung. Gedankt sei auch den obgenannten Institutionen für die Erlaubnis zur Veröffentlichung von Archivmaterialien. Marbach am Neckar, im März 2011
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Namenregister
Namenregister Alkibiades 30, 206 Allesch, Christian G. 45 Ameln, Konrad 325 Ammon, Frieder von 262 Andreas-Salomé, Lou 67, 69, 276f. Apel, Friedmar 71 Arbogast, Hubert 9 Archilochos 310f., 358 Aristoteles 31, 54 Auffahrt, Christoph 90 Aurnhammer, Achim 8, 317 Bahnsen, Julius 66 Baudelaire, Charles 66, 181, 225, 358 Baumann, Günter 7, 24, 128 Bayreuther, Rainer 324 Beatrice 30 Becker, Carl Heinrich 29f. Bekk, Irma siehe Schaeffer, Irma Benedict, Marcus Moritz 255 Benedict, Minnie 255 Benrath, Henry siehe Rausch, Albert Heinrich Bernfeld, Siegfried 155 Bertram, Ernst 86, 210 Beßlich, Barbara 82 Birken, Sigmund von 38 Blamberger, Günter 36 Blasberg, Cornelia 24 Blei, Franz 263 Blüher, Hans 202f. Bock, Claus Victor 188 Bockemühl, Erich 287 Böcklin, Arnold 312f., 358 Boehringer, Robert 1, 10, 34f., 39, 46, 64f., 96, 137, 140, 142–144,
150, 161f., 186f., 224f., 227f., 231, 235f., 306 Borchardt, Philipp 306 Borchardt, Rudolf 3, 12, 26f., 44, 63f., 182f., 185, 195, 250f., 260– 262, 264, 266f., 296, 300f., 305– 314, 316, 319, 322, 342, 349 Borgard, Thomas 45 Bothmer, Bernhard von 108 Bothmer, Dietrich von 108 Brahm, Otto 242 Brand, Adolf 201f., 209 Brasch, Hans 108 Braun, Otto 213 Braungart, Georg 45 Braungart, Wolfgang 7–10, 34, 44, 64, 69, 71, 73, 83, 89, 133, 167f. Breger, Claudia 75 Brentano, Franz 60 Breuer, Dieter 222 Breuer, Stefan 4–6, 12, 14f., 17f., 137, 172 Buchheit, Vinzenz 307 Buddha (Siddhartha Gautama) 88f. Bulang, Rolf 212, 222f., 228 Bülow, Ulrich von 287 Burchard, Ernst 203–205, 207 Burdorf, Dieter 306, 314 Burne-Jones, Edward 182f. Büttner, Stefan 32 Caesar (Gaius Iulius Caesar) 325 Cambronne, Pierre Jacques Étienne 345 Campe, Joachim Heinrich 152 Carl August, Großherzog von Sachsen-Weimar-Eisenach 106
Namenregister
Carossa, Hans 213 Catull (Gaius Valerius Catullus) 346 Cave, Terence 92, 318 Chrudzimski, Arkadiusz 60 Claudius, Matthias 55 Cohrs, Adalbert 108 Curtius, Ernst Robert 269 Dante Alighieri 30, 54, 185, 238, 312, 325, 358 David, Claude 9, 15f., 247 Demm, Eberhard 84 Despoix, Philippe 11 Detering, Heinrich 199, 201 Dilthey, Wilhelm 34, 66, 86 Durzak, Manfred 1, 15f., 79, 117, 126 Echnaton (Amenophis IV.) 182 Edlinger, Carola von 189, 286 Egyptien, Jürgen 8, 53 Ehlers, Walter 216 Ehrenfried, Walther 205–207 Empedokles 88 Erasmus von Rotterdam, Desiderius 297 Erbsmehl, Hansdieter 89 Eschenbach, Gunilla 156, 325 Ettlinger, Karl 11 Evers, Franz 207f., 239 Faber, Richard 46, 83 Fall, Flora F. 286 Fauser, Markus 15 Fehrenschild, Hartmut 276 Felheim, Fritz 224f., 228, 231, 235f. Fick, Monika 45 Fischer, Jens Malte 163 Flasche, Rainer 83–88 Fleig, Anne 324 Franz von Assisi 54 Freising, Otto von 352 Frese, Jürgen 7 Freymuth, Günther 307
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Gadamer, Hans-Georg 7, 10f. Gebauer, Gunter 32 Genette, Gérard 19 Gethmann, Carl Friedrich 59 Geuter, Ulfried 202–204 Giotto di Bondone 54 Girard, René 76, 115, 190, 221 Glöckner, Ernst 199 Goesch, Heinrich 301 Goethe, Johann Wolfgang 34, 56, 65, 68, 79, 82, 106f., 121, 163, 168, 230, 246f., 251f., 261f., 269, 314f., 325, 347f., 350, 359 Grabowsky, Arnold 153f. Grimm, Gunter 33, 38f. Groppe, Carola 6, 50, 105, 202f., 205, 288 Gumppenberg, Hanns von 11, 228 Gundolf, Elisabeth siehe Salomon, Elisabeth Gundolf, Ernst 19, 146, 149 Gundolf, Friedrich 2f., 7, 10, 21, 23–26, 29–32, 35, 37, 39, 50–53, 58f., 65, 68, 72, 76, 84–88, 90, 93– 101, 103, 106f., 111, 121f., 126– 129, 132, 137f., 140–143, 145–157, 159–161, 164–171, 187, 189, 211, 213, 228, 231–237, 241f., 245, 247–259, 261–265, 267–271, 274f., 296, 298, 329–335, 340–353 Günther, Vincent J. 17 Günzel, Klaus 184 Haan, Wiesi de 258f. Haeckel, Ernst 189 Hahn, Marcus 19 Halliwell, Stephen 32 Hardt, Elisabeth 173 Hardt, Ernst 43 Hardt, Heinrich 26, 173–180, 238f., 322 Harms, Wolfgang 266 Harsdörffer, Georg Philipp 38 Hart, Heinrich 296 Hart, Julius 296
398
Namenregister
Härtling, Peter 237 Hauck, Johannes 69 Heidegger, Martin 13, 62 Heine, Heinrich 143, 190 Heintz, Günter 278, 281 Heintz, Günter 8, 278, 281 Heinze, Hartmut 180 Heiseler, Henry von 301 Hellingrath, Norbert von 262 Hennecke, Hans 286 Hennig, Fritz 288 Henningsen, Jürgen 287 Herder, Johann Gottfried 52, 106f., 163 Hérédia, José Maria De 26, 145, 257f., 274f. Hergemöller, Bernd-Ulrich 211 Hermann, Johannes 201 Heymel, Alfred Walter 260, 263 Hildebrandt, Kurt 45, 64, 137, 139, 172, 202, 327 Hindenburg, Ilse 270 Hirschfeld, Magnus 202 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 181, 237 Hoffmann, Peter 102–105 Hoffmann, Wilhelm 181 Hofmannsthal, Gerty von 255 Hofmannsthal, Hugo von 1–5, 23, 26f., 41, 44, 58, 71, 126, 145, 151, 162 f., 168, 216, 241–257, 264, 266, 271, 274, 275, 298, 301 f., 306, 308, 317, 321 f., 326, 342, 350 Hofmiller, Josef 260–262, 352 Hohmann, Joachim S. 200, 202 Hölderlin, Friedrich 11, 49, 54f., 65, 106, 168, 222, 224, 233, 262 Hollmann, Ottmar 108 Holten, Otto von 225f., 254 Holz, Arno 11, 288, 290 Homer 346f., 350 Horaz (Quintus Horatius Flaccus) 33, 70, 198, 269, 309–311, 316, 346f.
Hubert, Sigrid 18 Hübner, Johann 39 Huizinga, Johan 141, 149 Hummel, Hildegard 63f. Husserl, Edmund 60 Irmscher, Hans Dietrich 106 Jacobs, Angelika 283 Jaeckle, Erwin 300f. Jaffé, Else 213 Jean Paul (Richter, Johann Paul Friedrich) 202, 242, 263 Jesus von Nazareth 74, 88–90, 95, 166, 267 Johannes der Täufer 80, 117 Kablitz, Andreas 39 Kafitz, Dieter 72, 75 Kahler, Fine von 95, 153f., 211, 237 Kaiser, Gerhard 54f., 106 Kaminski, Nikola 12, 30 Kandinsky, Wassily 11, 327 Kantorowicz, Gertrud 300 Kantorowicz, Hermann 301 Kany, Roland 46, 90 Karlauf, Thomas 6, 10, 43, 50f., 64, 81, 99, 109, 111, 199, 203, 208, 236, 270, 294, 326 Kauder, Hugo 325 Kauffmann, Kai 44, 182, 261, 308, 314 Kaul, Susanne 77 Keilson-Lauritz, Marita 7, 76, 111, 128, 194, 196, 200–202, 207f. Kindt, Tom 46 Kippenberg, Anton 225, 228, 264 Kippenberg, Katharina 212, 225– 227, 230, 233–237, 255 Klages, Ludwig 2, 66, 264, 301 Klein, Carl August 313 Klettenhammer, Sieglinde 8 Klinger, Max 313 Klopstock, Friedrich Gottlieb 54f., 189
Namenregister
Kluncker, Karlhans 1, 8, 19, 100f., 132, 142, 147, 192, 234 Knödler, Stefan 301 Koch, Manfred 80 Koebner, Thomas 130, 302 Kolk, Rainer 6f., 30, 34, 84, 137, 263, 306 Kommerell, Max 3, 21, 25, 49, 53, 55f., 58f., 81, 101, 105–108, 149, 157, 161–164, 168f., 171, 190 König, Christoph 155 Korten, Lars 308, 310 Kreitmair, Karl 287, 289, 294 Kronberger, Maximilian 30, 80f., 83, 112, 133, 142f., 191f., 239, 261, 308, 312, 316, 358 Kruse, Volker 84 Kugel, Werner 286 Kuhlmann, Quirinus 54 Landmann, Edith 3, 10, 15, 17, 25, 31, 33, 38f., 53f., 56–63, 87, 90, 104f., 122, 125f., 137, 142– 145, 149, 156, 159, 196, 243–245, 306 Landmann, Julius 63, 164, 306 Landmann, Michael 15, 37, 53, 60f., 108f., 128, 143f., 242 Lang, Siegfried 201 Lasker-Schüler, Else 287 Lavater, Johann Caspar 73, 308 Lazarus, Moritz 294 Lechter, Melchior 147, 223, 225, 227, 237 Lepsius, Reinhold 276, 300 Lepsius, Sabine 276, 300 Lerner, Robert E. 8 Lerse, Franz 56 Levy, Kurt K. 216 Lichtenberger, Franz 287 Limmer-Leuchs, Else 149 Linke, Hansjürgen 23 Lissauer, Ernst 136 Liszt, Franz 314 Loerke, Oskar 215
399
Longin 269 Lubkoll, Christine 42, 291 Lucka, Emil 66f., 69, 90, 321 Ludendorff, Erich 213 Lukács, Georg 232 Luther, Martin 155 Mackay, John Henry 200, 202, 205 Mallachow, Agathe 211 Mallarmé, Stéphane 14, 23, 32, 40, 68–70, 91, 117, 185, 327, 358 Manheimer, Victor 57 Markees, Silvio 108 Martens, Rolf Peter 290 Martial (Marcus Valerius Martialis) 262 Martin, Dieter 324 Martus, Steffen 6 Masaccio (Tommaso di Ser Cassai) 54 Mason, Eudo C. 280f., 283f., 286 Mattenklott, Gert 15f., 64, 194f., 200 Matuschek, Stefan 64 Maximin siehe Kronberger, Maximilian Mayer, Hans 200 Meier-Graefe, Julius 313 Meinke, Hanns 26f., 180–189, 191– 193, 197–201, 208–210, 212, 238f., 271, 299f., 304, 321, 336–339 Meinke, Herbert 181f. Meinong, Alexius 60 Meisner, Hermann Johannes 187, 200 Meli, Marco 300 Meyer, Richard Moritz 207 Meyer-Sickendiek, Burkhard 15f., 36, 77 Mitterer, Erika 286 Mombert, Alfred 185 Morhof, Daniel Georg 38 Morwitz, Ernst 25, 72, 78, 108– 117, 127, 138f., 170, 186f. Müller, Hans-Harald 46
400
Namenregister
Muth, Friedrich Georg 293 Muthesius, Hermann 4 Näfelt, Lutz 14 Napoleon Bonaparte 101, 106, 325 Neumann, Robert 228f. Nieberth, Franz 201 Nietzsche, Friedrich 4, 36f., 49, 65, 78, 89, 201f., 312–314, 358 Norton, Robert 6, 12, 124 Nutz, Maximilian 12 Oelmann, Ute 71, 94 Oestersandfort, Christian 14, 65, 75, 199 Opitz, Martin 38, 45, 57f. Osterkamp, Ernst 6f., 82, 105, 154, 196, 250, 306, 308f. Ott, Ulrich 314 Otto, Berthold 181, 287, 289, 292–294 Otto, Franziska 287 Otto, Helene 289 Otto, Rudolf 85 Ovid (Publius Ovidius Naso) 346 Pagni, Andrea 44, 273 Pannwitz, Rudolf 145, 181, 185– 187, 189, 192–194, 209, 286–291, 296, 299–305, 317–319, 322, 325 Parr, Rolf 7, 286f. Pater, Walter 63f. Paullini, Christian Franz 349 Paulsen, Friedrich 287 Paulsen, Rudolf 195, 287–289, 291, 293–296, 302, 305 Paulus 220 Petersdorff, Dirk von 17f., 89, 167 Petersen, Johann Wilhelm 54 Petersen, Jürgen H. 37 Petrus 46, 166 Philo 299 Piper, Reinhard 290 Pius XI., Papst 181 Platen, August von 168
Platon 14, 32, 45–47, 63–65, 68–70, 125, 196, 202, 207, 220, 289, 292 Plotin 122 Poe, Edgar Allan 66, 181 Pongs, Hermann 276–278 Pott, Sandra siehe Richter, Sandra Potthoff, Willy 294 Prieberg, Fred K. 313 Püttmann, Eduard Oskar 201 Quentin, Franz siehe Strauß, Ludwig Quintilian (Marcus Fabius Quintilianus) 268 Rauhut, Franz 127 Raulff, Ulrich 6, 14, 22, 30, 64, 129, 202f., 211, 326f. Rausch, Albert Heinrich 262 Rebenich, Stefan 63f. Reiner-Hochschild, Anni 203 Rendtorff, Rolf 81 Rentiis, Dina De 12, 30 Reß, Robert 290 Richter, Sandra 7, 9, 45, 66, 168, 248–251, 256f., 265, 275 Rickert, Heinrich 84, 287 Rilke, Rainer Maria 26, 44, 202, 204, 216, 221, 270–274, 276–286, 304, 317f., 321f., 354 Rimbaud, Arthur 181, 185 Rohner, Ludwig 17 Rosenbaum, Eduard 227f. Rossbach, Nikola 11 Rossetti, Dante Gabriel 186 Rotermund, Erwin 18f., 281 Rothe, Werner 201 Röttger, Helmut Friedbert 286 Röttger, Karl 287 Rudolph, Kurt 83, 85 Rumi (Dschalal ad-Din Muhammad Rumi) 182 Sadnikar, Maria 286 Sagitta siehe Mackay, John Henry
Namenregister
Salin, Edgar 23, 51, 68, 87, 107f., 125f., 128, 145, 149, 151–153, 159, 228, 262, 349 Salomon, Elisabeth 10, 154–156, 167, 212f., 235–237, 257f. Schaeffer, Albrecht 1, 26, 93, 127, 136, 212–240, 319, 321f. Schaeffer, Irma 226f., 234f. Schäfer, Armin 6, 33 Schaub-Bungers, Annegret 9 Schefold, Bertram 87 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 55 Schiewer, Gesine Leonore 53 Schiller, Friedrich 55, 106, 262, 268 Schings, Hans-Jürgen 246 Schlegel, Friedrich 184, 268 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 47, 86, 125 Schmidt, Ernst A. 308 Schmidt, Jochen 36 Schmölders, Claudia 73, 149 Schnackertz, Hermann Josef 293 Schoeck, Helmut 83 Scholz, Ingeborg 268 Scholz, Leander 297 Schönberg, Arnold 11, 327 Schönhärl, Korinna 53, 196 Schönke, Anton 199, 210 Schröder, Rudolf Alexander 12, 26f., 43, 195, 250f., 259–271, 274f., 305f., 309–317, 319, 322, 342–352, 358–361 Schuler, Alfred 349 Schultz, Hanns Stefan 71f., 81 Schuster, Gerhard 309f. Schuster, Margret 53 Schütte, Andrea 149f. Schütte, Willi 192, 209 Schwarzbauer, Franz 264, 268 Schwerdtfeger, Wulf Konrad 201 Scott, Cyril 65, 325 Seneca (Lucius Annaeus Seneca) 39 Shakespeare, William 56, 101, 146, 149, 153, 183f., 266, 329, 342
401
Simmel, Georg 86 Skalde, Hermann 201 Sloterdijk, Peter 29 Soergel, Albert 180 Sokrates 30, 88f., 205–207 Speer, Albert 128 Speer, Hermann 128–132, 180, 322 Spohr, Max 207 Stackelberg, Jürgen von 39 Stahl, Arthur 142 Staiger, Emil 52 Starke, Ernst Eugen 65 Statius (Publius Papinius Statius) 346 Stauffenberg, Alexander von 102, 105 Stauffenberg, Berthold von 102, 181 Stauffenberg, Claus von 25, 93, 101–105, 169, 171 Steinthal, Hajim 294 Stern, Martin 242 Stettler, Michael 228 Stieler, Kaspar 38, 347 Stocker, Peter 36 Stolzenberg, Georg 290 Strauß, Ludwig 12, 26, 93, 127, 140, 212f., 215, 222–236, 239f., 271, 288, 321 Strowick, Elisabeth 29 Szondi, Peter 32 Tiemann, Walter 225–227 Thormaehlen, Ludwig 135, 138, 154, 237 Trakl, Georg 164 Trommler, Frank 289 Tscheck, Ewald 202 Ullrich, Peter O. 63 Utitz, Emil 66 Uxkull-Gyllenband, Bernhard von 108f., 114, 127f., 135 Uxkull-Gyllenband, Woldemar von 108f., 114
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Namenregister
Vallentin, Berthold 25, 43, 81, 93, 99–101, 137, 169, 171, 183, 185, 187, 228, 234–236, 300, 306 Veem, U. 205, 207 Veraart, Albert 60 Vergil (Publius Vergilius Maro) 54, 125f. Verlaine, Paul 66, 181 Versari, Margherita 72 Verwey, Albert 358 Verweyen, Theodor 18f. Vischer, Friedrich Theodor 143 Vogeler, Heinrich 254 Volkmann, Helga 71 Vollmöller, Karl Gustav 216 Voss, Dietmar 71 Wach, Joachim 25, 30, 83–90 Waetzold, Lili 153 Wagner, Richard 18, 312–314, 358 Weber, Alfred 84, 213, 224 Weber, Max 84 Weichelt, Matthias 105 Weigand, Kurt 64f., 68 Weininger, Otto 176 Weissberg, Liliane 73 Westermann, Claus 81 Whitman, Walt 289f. Wilde, Oscar 181 Wilhelm II., Kaiser 213
Winckelmann, Johann Joachim 106, 205 Wolfskehl, Hanna 146f., 251 Wolfskehl, Judith 151, 154 Wolfskehl, Karl 2, 10, 23, 26, 38, 53, 55, 57–59, 68, 94–96, 98, 107, 121, 125, 145–148, 150–152, 154, 156, 170f., 207f., 228, 252, 254, 259, 262–265, 267–274, 296, 300f., 314, 340–357 Wolfskehl, Renate 151, 154 Wolters, Friedrich 21, 50–52, 107, 122, 126, 132, 134–138, 142f., 164, 169, 171, 178, 180, 211, 306, 316 Wolters-Thiersch, Gemma 211 Wulf, Christoph 32 Wust, Peter 83 Wyneken, Gustav 202f. Yrsalun, Olaf siehe Meinke, Hanns Zabka, Thomas 20 Zimmermann, Heinz 128 Zinn, Ernst 278 Zur Linde, Otto 26f., 181, 185, 189, 192, 194, 286–299, 301, 304f., 317–319, 322 Zur Linde, Verena 287 Zweig, Stefan 212, 255