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German Pages [224] Year 2015
nie tsi tiehsieW eiD t si e G r e g i h u r n u
Leopold Rosenmayr
Die Weisheit ist ein unruhiger Geist Impulse aus den Weltkulturen, Skizzen aus dem eigenen Leben
2016 B öh l au V e r l ag W i e n K öl n W e i m ar
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Veröffentlicht mit Unterstützung durch: Zukunftsfonds der Republik Österreich Kulturabteilung der Stadt Wien – MA 7, Wissenschafts- und Forschungsförderung Österreichische Akademie der Wissenschaften
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildungen: Vorderseite: Abbildung Einform I, Bronze, 1968, Josef Pillhofer, Privatbesitz, Foto © Markus Pillhofer Rückseite: elliptische Gestalt, Symbol der Hindu-Gottheit Shiva, Privatbesitz, Foto © Gerhard Sindelar © 2016 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A–1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Anja Borkam, Jena Einbandgestaltung: Michael Haderer, Wien, nach einem Entwurf von Gerhard Sindelar Satz: Michael Rauscher, Wien Druck und Bindung: Balto Print, Vilnius Gedruckt auf chlor- und säurefrei gebleichtem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-205-79627-5
Ein Buch, im Geist der Gemeinsamkeit, erdacht und erarbeitet mit Dr. Elfi Thiemer
Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Weisheitsfindung – ein Rundblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Weisheit als Orientierungskraft in Geschichte und Gegenwart 1 Steinzeitliche Höhlenmalerei und die Weisheit der Frauen. . . . . . . 29 2 Steinerne Ratgeber : Magische Figuren, aus afrikanischem Sand gegraben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 3 Die Ahnen als Beschützer in der afrikanischen Stammeskultur . . . . 41 4 Ein afrikanischer Dorftanz lehrt die Weisheit der Gemeinsamkeit .. 45 5 Antike Mythen, Dichtung und Philosophie führen zu Weisheit durch Selbstfindung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 6 Bald nach seiner Erschaffung lernt der Mensch, Gut und Böse voneinander zu unterscheiden.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 7 Die Weisheit des Glaubens »übertrifft die Perlen an Wert«. . . . . . . 69 8 »Gott liebt den, der in der Weisheit wohnt« : Meister Eckhart um 1300. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 9 Kritik der Weisheit : »Reif sein ist alles« (William Shakespeare) . . . 83 10 Wissenschaft drängt zur Spitze menschlicher Erfahrung. . . . . . . . 87 11 Warum soll Weisheit ein unruhiger Geist sein ?. . . . . . . . . . . . . 95
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Inhalt
12 »Das bist du !« – »Tat tvam asi« aus den indischen Upanishaden (800–250 v. Chr.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 13 Meditation als Geburt der Weisheit in der Seele . . . . . . . . . . . 107 14 »Du musst abweichen vom Weg, den Du gewöhnlich gehst« (Tao-te-King des Lao-tse, 4. Jh. v. Chr.).. . . . . . . . . . . . . . . 121 15 Sufi-Mystik in einer Freundschaft in Wien-Margareten : Wie Ost und West neu zusammenfinden können . . . . . . . . . . . 127 Kleine Geschichten und Skizzen aus dem gelebten Leben – mit und ohne Weisheit 16 Die Weisheit meiner Ahnen bewirkt ein Wachstum am Küchenfenster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 17 Schrecken der Erinnerung : Weg ohne Füße, die ihn begehen könnten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 18 Europäische Vielfalt bei christlichen Albanerinnen im Kosovo.. . . 151 19 Stein im Bett : Mangelnde Liebe lässt Weisheit verkümmern.. . . . 157 20 Rettung durch das erlösende Wort : Nachtwanderungen mit dem Dichter Paul Celan in den 1950er Jahren in Paris . . . . . . . . . . . 165 21 Josef Pillhofer (1921–2010) : Eine lebenslange Freundschaft im Zeichen der Weisheit seiner Kunst. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 22 Auf gewagtem Felssteig : Abstieg in den Grand Canyon in Arizona/USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 23 Das kochende Wasser des Kratersees auf dem Vulkan Kilimandscharo in Tansania/Ostafrika . . . . . . . . . . . . . . . . 191
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Inhalt
24 Freundschaft bei Verschiedenheit als wichtige Brücke zur Weisheit . 197 25 Das Karenmädchen in Thailand zeigt Weisheit im Umgang mit ihren Elefanten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Schlussakkord . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Danksagungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Nachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219
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Mahnung an meine Endlichkeit : Der Totenkopf im Schlafzimmer meiner Wohnung in WienMargareten stammt nach Angaben des Händlers, von dem ich ihn erwarb, von einem aufgelassenen Soldatengrab aus der Zeit der Schwedenkriege im 17. Jahrhundert. Ich nahm ihn mit, aus Solidarität.
Einleitung
I
n meiner Wohnung, in einem Altbau auf der Wiedner Hauptstraße in Wien- Margareten, steht auf einem etwas verborgenen Platz im Schlafzimmer auf einer schwarzen Holzscheibe ein weißer Totenkopf. Ich werde von ihm täglich, wenn ich ihn anschaue, an meine Abberuf barkeit aus dem Leben gemahnt. Wenn ich meine Hand auf diesen Schädel lege, fühle ich an ihm die niedrige Temperatur des Knochens. Fordert er mich, den über Neunzigjährigen, damit auch auf, weise zu sein, »kühlen Kopf« zu bewahren ? Und ist kühle Besonnenheit ein Merkmal von Weisheit, wie auch Anteilnahme und die Wärme des Mitgefühls zur Weisheit gehören ? Martin Heidegger (1889–1976) nannte »Gelassenheit« einen Begleitmantel von Weisheit. Gelassenheit lässt sich ja nur durch ein Einverständnis mit der Endlichkeit gewinnen. Bin ich da auf dem richtigen Weg ? Führt Todesvergegenwärtigung zu Weisheit ? Wer die Menschen sterben lehre, lehre sie leben, schrieb Michel de Montaigne (1533–1592). Meine eigenen Erfahrungen, der ich schon ganz jung, mit 18 Jahren, als Soldat im Zweiten Weltkrieg in Todesnähe gedrängt wurde, lassen mich dies glauben. In diesem Buch soll ein Beispiel hierzu erzählt werden. Und doch – ist Weisheit nicht zu abgeklärt und mit den letzten Fragen von Leben und Tod, Liebe und Einsamkeit befasst, um voll in den Alltag eingebracht zu werden ? Lässt sich überhaupt ein allgemeines Verständnis von Weisheit gewinnen ? Oder hat der »flexible Mensch« des 21. Jahrhunderts aus den vielen Wandlungsprozessen seiner Zeit heraus, gute Aussichten, so etwas wie eine »bewegliche« Weisheit statt einer voll und ganz durchformulierten zu finden ? Man kann jedenfalls von vielen Seiten des Forschens und Beobachtens aus in den Bereich der Weisheit vordringen : So bemühten sich Robert Sternberg und Jennifer Jordan in den USA um einen historischen und psychologischen Sammelband zum Thema (»A Handbook of Wisdom«, 2005). Die deutsche Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann legte 1991 eine geradezu enzyklopädische Sammlung von Einzeluntersuchungen und Fachbeiträgen über Weisheit vor. Dadurch wurde ein umfassendes Werk der Orientierung geschaffen, ein Nachschlagewerk zum Thema mit vielen Qualitäten, das bis heute aktuell ist. 11
Einleitung
Dieser geisteswissenschaftliche Ansatz entstand neben dem von Paul B. Baltes aus der kognitiven Psychologie entwickelten Orientierungskonzept, dem SOC-Modell (Selection, Opportunity, Compensation) für experimentell-empirische Forschung, das sich bald international ausbreitete. Dieses Modell zeigt, dass für die Entwicklung von Weisheit eine Vorauswahl, weiters die richtige Gelegenheit und eine Kompensation für zurückgestelltes Verhalten gefunden werden müssen. Meine Ausführungen haben allerdings nicht das Ziel, einen Leitfaden zur Lebensberatung zu bieten. Sie wollen vielmehr das Nachdenken über Weisheit als Grundlage fördern : »Der Weise höre und vermehre sein Wissen« (Altes Testament, Sprichwörter I,5). Dadurch werden weit zurückliegende oder auch geografisch abliegende Kulturbeispiele einbezogen, die ich auf Forschungsreisen und bei Aufenthalten außerhalb Europas in Afrika, Indien, China und Japan gewinnen konnte. Die persönlichen Skizzen, die ich hier als Anschauungsmaterial einbringe, sind im Laufe meines Lebens aus verschiedenen Erfahrungen mit den Kulturen innerhalb und außerhalb Europas entstanden, zum Teil auch aus Extremsituationen an den Grenzen des Überlebens. Meine Weisheit erhielt durch solch ein kulturelles Wanderleben eine stark subjektive Färbung. Ich sehe in der Weisheit in all dem Betrieb und Getümmel unserer heutigen Konsumwelt und den konkurrierenden politischen Angeboten eine Orientierungskraft. Sie kann dann wirksam werden, wenn sie keineswegs nur aus Traditionen oder Riten, sondern aus jeweils aktuellen Suchprozessen heraus neu entworfen wird. Ich suche mit diesem Buch im Zeitalter übergestülpter sozialer und medial zugeschnittener Empfehlungen, durch eine innere Gruppierung von persönlich angeeigneten und immer weiter entwickelten Werten Zugang zur Weisheit zu gewinnen. Dabei sind wissenschaftliche Erkenntnisse in Kernbeständen durchaus in meine heutige Weisheitssuche integrierbar, stellen aber keineswegs die notwendigen erkenntnismäßigen oder handlungsorientierenden Grundlagen für die Weisheit dar. Ich sehe diese Grundlagen vielmehr in der eigenen weisheitlichen Reflexion über Lebens- und Sozialprozesse, verarbeitet zu einer Selbstanalyse. Weisheit ist für mich ein unüberholbarer, von der inneren Überzeugung, auch von religiösem Bekenntnis getragener Einsichtsprozess. Weisheit stützt sich bei ihrem Anspruch nicht nur auf den Gewinn von Wissen, sondern auch von Verhaltensorientierung im Subjekt, zur Auswahl und Bestimmung von eigenem Handeln. 12
Einleitung
Die Weisheit stellt eine Form der Selbsterfüllung mit der dazugehörigen Zuwendung zum anderen Menschen oder zu einem sozialen Aufgabenbereich dar. Sie ist mehr ein Findungsprozess als ein erworbener Zustand. Ich habe mich dabei mit besonderem Interesse den Wechselwirkungen von philosophischen Einsichten und Theorien zugewandt und auf historische und soziologische Kenntnisse gestützt, nicht aber in enzyklopädischer Absicht wie Aleida Assmann. Vielmehr geht es mir um die Suche nach einer für das heutige Denken und Leben geeigneten Weisheitsbegründung. Ich tat dies in der »Sorge« (Heidegger) um die eigene Daseinsgestaltung als Entwicklungsweg, mit der Absicht einer Lebensentfaltung, aber auch einer Befähigung zum Sterbenkönnen. Bei allem Interesse an interkulturellen Weisheitsvergleichen suche ich letztlich einen eigenen existenziellen Zugang zu Weisheit. Dieser Zugang soll als Vorstufe interkulturelle und interdisziplinäre Einsichten zusammenbringen und verarbeiten. Ich zeige hier daher zunächst von mir persönlich gewonnene, vertraut gewordene historisch-philosophische Weisheitsbegriffe. Dies geschah unter besonderer Berücksichtigung ihrer Herkunft aus der europäischen Philosophie des klassischen Altertums, ihrer Verbindung zu Judentum und Christentum, dem aus dem Islam entwickelten Sufismus, aber auch dem Hinduismus, besonders den Upanishaden, schließlich dem Zen-Buddhismus. Durch den Buddhismus und seine Sonderform des Zen-Buddhismus berühre ich eine steigende, durch Meditation gestützte Hinwendung zu östlichen Weisheitsreligionen in der eigenen Besinnungssuche. Ich sehe dabei Weisheit nicht als Religion an, sondern als ein Ergebnis der Arbeit und Besinnung des Menschen auf sich selbst und seine individuellen wie sozialen Handlungsmöglichkeiten, allerdings unter den Bedingungen besonderer Nachdenklichkeit und Innewerdung seiner selbst, so mühsam dies auch sein mag. Wie in religiösen Schriften oder philosophischen Texten verschiedener Weltkulturen vielfach dargestellt, ist der Weg zu Weisheit wie die Bemühung um die Bewahrung ihrer einmal gefundenen Orientierungen beschwerlich. Weisheit fällt niemandem einfach in den Schoß. Im Gegenteil : Sie ist ein unruhiger Geist und stammt aus Suchprozessen. Einmal von einem suchenden Menschen gefunden, wird dieser Geist trotzdem nicht nur zu einem ruhigen Besitztum. So schrieb schon Solon (640–561 v. Chr.) : »Ich werde alt, aber lerne dabei unablässig vieles«, was dazu beitrug, ihn zu einem »weisen« Neugestalter der Politik Athens und seiner Verfassung zu machen. 13
Einleitung
Die Idee für dieses Buch geht zurück auf Grundgedanken des Vergleichs verschiedener Ausprägungen von Weisheit im Verlauf der menschlichen Entwicklungsgeschichte einschließlich ihrer Frühzeit. Es versucht, die einzelnen Phasen von der Frühzeit an aufzufinden und darzustellen, um die Vielfalt im Denken der Weltkulturen über Weisheit zur Darstellung zu bringen. Und es will diese Verschiedenheiten der Aufforderungen zur individuellen Selbstklärung und Selbstbestimmung als Wege zu Weisheit vor Augen führen. Weisheitsorientierungen suchen eine Konzentration auf das eigene Selbst. Diese Konzentration ist nötig, um eine Selbstständigkeit zu gewinnen in der heute starken, durch Technisierung fast unaufhaltsam gewordenen, von verschiedenen Seiten her strömenden Beeinflussungsflut zur angeblichen Lebens optimierung in unserer Gegenwart. Weisheit ist zugleich ein Weg der Selbstbehauptung und der Selbstklärung angesichts der zunehmenden Informationsmengen, wie sie durch Reklame und Medien unablässig an uns herangetragen werden. »Wissen bläht auf !«, schrieb Goethe im »West-östlichen Divan«. So empfahl er : »Bist du Tag und Nacht beflissen, viel zu hören, viel zu wissen, horch’ an einer anderen Tür !« Diese »andere Tür« führt zu einem persönlich ausgewählten Orientierungsbereich, der in verschiedener Weise zugänglich wird. Seine Erschließung erfordert Gelassenheit, das Abrücken vom reinen Erfolgsdruck und die Herausbildung einer eigens hierfür kultivierten Souveränität. Weisheit kann sich nicht erfüllen, wenn sie nicht zumindest im Versuch gelebt wird. Ich habe mich bemüht, in verschiedenen Archiven, Sammlungen von Mythen, Stammesordnungen, aber auch in den Dichtungen und theologisch-philosophischen Spruchsammlungen großer Religionen weisheitsbezogene Ansichten und Darstellungen aufzufinden und sie für uns heute zu vergegenwärtigen. So können ihre inneren Werte zur Lebensorientierung und Lebensführung sichtbar werden, ja Strahlungskraft gewinnen. Weisheit begann während der Altsteinzeit, ca. 35.000–30.000 v. Chr., in Europa sichtbare Bedeutung als ordnende Macht zu gewinnen, weit verbreitet durch den Hinweis auf höhere Ordnungen oder Gewährung von übermenschlichen Hilfen (Höhlenmalereien, Statuetten, wie z. B. die Venus von Willendorf). Später, bei der Herausbildung und ganzjährigen Sesshaftwerdung von Gruppen, kam es zu Traditionen der Verehrung von Verstorbenen, der Verehrung von Vorgängern in der eigenen Sippe oder im eigenen Stamm. Sie wurden, durch Erinnerung, für ihre Taten bewundert und zu Vorbildern erklärt, 14
Einleitung
besonders für die Lern- und Einweihungsprozesse der Jugend. Es kam bei zunehmender Sesshaftwerdung und entsprechenden Bauten als Schutz gegen gefährdende Witterung und Raubtiere zur Wissensakkumulation durch Priester, die den Ahneneinfluss steuerten. Es entstanden so auch Normen, welche die Aufrechterhaltung von Partnerwahl und Gemeinschaften von Mann und Frau regelten und den Inzest durch Wahl der Frau aus fremden Gemeinschaften regulieren wollten. Regelkundige Würdenträger gewannen an Macht, durch Lebensberatung erfahrene und erfolgreiche Personen wurden als hochgeschätzt integriert. So gewann lokales und gruppengebundenes Wissen zunehmend an Macht. Schließlich kamen in der Entfaltung von Hochkulturen durch die Verschriftlichung von Wissen neue Formen von Weisheit in Umlauf. Indien kultivierte die Meditation bereits seit 1000 v. Chr. In Europa ging es den Philosophen um die Auseinandersetzung mit dem Mythos als Pfad individueller Verselbstständigung. Es entstanden Lehren über die Natur und das menschliche Grundverhalten in der Ethik, die wie Kämpfe um die Klärung des Lebens auftraten, vom Marktplatz bis zu den Trinkgelagen, über die Platon (427–347 v. Chr.) schrieb. Sokrates (469–399 v. Chr.) führte die Menschen durch seine Fragen zu Formen der Nachdenklichkeit, die sie mit Hilfe ihres »Daimonions« zu einem reflektierten Verhalten, zur »Tugend«, führen sollten. Die Weisheit des ionischen Philosophen Heraklit (535–475 v. Chr.), entworfen zu Beginn der Entwicklung europäischer Philosophie um 500 v. Chr., zeigte die Chancen zur Dauerveränderung des menschlichen Individuums : »In dieselben Flüsse steigen wir und steigen wir nicht, wir sind es und wir sind es nicht« (Heraklit, Fragment 95). Veränderungen müssen von der Kraft des Eigencharakters getragen werden. Weisheit ist nach Heraklit nicht nur im Ritual erfahrbar, sondern hat sich auch im Alltag zu bewähren. Selbstfindung und Selbstbehauptung durch Weisheit wurden demgegenüber massiv in die Verkündigung des Ein-Gott-Glaubens im Judentum einbezogen. Die Predigten der Propheten vertraten Weisheiten für das Leben. Religion und Weisheit lassen sich heute voneinander abgrenzen. Sie lassen sich aber durchaus auch aufeinander beziehen. Dies kann man sowohl aus dem Judentum heraus aufzeigen als auch aus den indischen Upanishaden und dem späten Buddhismus, besonders in der Lehre vom Zen. Meditation als Selbstfindungsprozess gehört in die Weisheitskultur. Medi tat ion verleiht eine kreative Sprache, auch über das Schweigen. Das zeigen uns die Upanishaden (800–200 v. Chr.), die philosophischen Schriften des Hindu15
Einleitung
ismus, die eine durch Denken abgeklärte Sprache gewannen, welche auch zur Meditation Verwendung finden konnte. Die Zuwendung zur Schönheit und die Erfüllung durch »Gottes liebste Tochter«, wie Dostojewski (1821–1881) die Schönheit nannte, ist ein entscheidendes Weisheitselement, wie es keine noch so große Anhäufung von Wissen in der Welt zu bieten vermag. Weisheit bedarf auch einer Hinterfragung und in gewisser Weise einer Reinigung durch Aufklärung. Dabei soll nicht das Missverständnis entstehen, Aufklärung schon als Weisheit hinzunehmen. Aufklärung vermag zur Stärkung von kritischer Selbstvergewisserung allerdings wichtige Voraussetzungen für Weisheitsfindung zu leisten. Aufklärung heißt »Wage zu wissen« (Immanuel Kant), es aber nie als Selbstzweck zu belassen. Kant sah in der Philosophie in der Weisheitslehre ihre eigentliche Bedeutung (Bd. 4, S. 854). Der Hinweis auf das immer Unfertige im Denken bei Ludwig Wittgenstein (1889–1951) und die Zurückhaltung in der Auswahl des Sagbaren gehören ebenfalls zu einer zeitgemäßen Weisheitsreflexion. Beim späten Freud (1856–1939), der als alter und kranker Mann nicht abließ, zur Lebensgestaltung auf einer immerwährenden Analyse des Selbst zu beharren, sind die Begriffe der »Ich-Umarbeitung« für Weisheitsfindung von größtem Wert. Sie zeigen den Weg des steten Erneuerungsbedürfnisses eines wachen, Weisheit als jeweils neue Grundeinstellung suchenden Menschen. Das vorliegende Buch will zur heutigen individuellen Dimensionierung von Weisheit beitragen und so auch eine Art Beistand geben für eigenes Bemühen. Ich versuche daher einen Weg der Verbindung von Ideen- und Kulturgeschichte mit autobiografischen Erfahrungen zu finden. Dabei sollen Beispiele aus dem eigenen Leben und den eigenen Erlebnissen als gewonnene oder versäumte Weisheitserfahrungen erzählt werden, ohne diese zu philosophischen Reflexionen aufzuzäumen. Ihre Beurteilung bleibt dem Leser überlassen.
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Weisheitsfindung – ein Rundblick
A
ls Soziologe, der ich viele Jahre in ganz unterschiedlichen Teilen der Welt geforscht und gelebt habe, meist bei Sippen und in Dörfern verschiedener Kulturen und Religionen, empfinde ich auch immer die Herausforderung, die Auffassungen von Weisheit in verschiedenen historisch-kulturellen Kontexten zu vergleichen : Schon in einem Buch des Alten Testaments, den »Sprichwörtern«, gibt es Texte, worin die Weisheit als »geliebtes Kind« des Schöpfergottes Jahwe bei der Erschaffung der Welt anwesend ist. Unter ihnen finden sich Texte, die bis ins achte vorchristliche Jahrhundert zurückgehen, aber auch solche, die erst nachexilisch ab 538 v. Chr. entstanden. In den »Sprichwörtern« rief die »Weisheit« aus : »Ich war seine Freude Tag für Tag und spielte vor ihm (Jahwe) allezeit. Ich spielte auf seinem Erdenrund und meine Freude war es, bei den Menschen zu sein« (Sprichwörter 8,30–31). Daraus kommt auch der Ausspruch der Weisheit : »Wer mich (die Weisheit) findet, findet Leben« (Sprichwörter 8,35). Hier zeigt sich eine frühe Verbindung zwischen Weisheit, Leben und Freude. Freude wird auch im Neuen Testament durch den Evangelisten Johannes als Heilsbegünstigung dargestellt (Jo 15,11). So konnte auch Jesus als der auf den Vatergott sich berufende Prophet sagen : »Der Geist ist es, der lebendig macht« (Jo 6,63). Wissen ist beschränkbar, die Weisheit hat eine, wenn auch mit Sanftmut gepaarte, Tendenz des Ausgreifens und Umfassens. Weisheit ist ein »unruhiger Geist«, der mit Leben Verbindung sucht und letztlich auch zur Gewinnung von Ruhe führt. Wissen ist ungestüm, Weisheit ist, wenn auch auf bauend und selber bewegt, eine Suche nach Ruhe. Glaube ist eine Suche nach innerer Gewissheit. Die Weisheit ist eine Auffanghaltung des Lebens, sie ist deshalb auch Verarbeitungskraft. Weisheit soll dem Leben dienen. Jesus sieht und bezeichnet seine Botschaft als die von »Geist und Leben« (Jo 6,63).
Sinnende Athene, auf einen Speer gestützt (um 460 v. Chr.) : Zwischen der Stirn der Göttin und dem Boden, auf dem sie steht, gibt es durch einen langen Stab eine Verbindung. Weisheit besteht darin, einen Gedankengang »bodenfähig« zu machen, das heißt, ihn gezielt mit der Realität in Berührung zu bringen.
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Weisheitsfindung – ein Rundblick
Das Verlangen, seine innere Ordnung zu finden, fördert den Versuch, Weisheit zu gewinnen. Für den Menschen gilt daher, dass er zur Liebe gelangen muss, um die Weisheit zu erreichen, wie Hrabanus Maurus (780–856), gelehrter Enzyklopädist im Karolingischen Reich, forderte. Zur Weisheit kann gelangen, wer sich umwendet, das heißt Stille hält und mit dem Herzen »versteht«. Derjenige ist auf dem Weg zur Heilung, dem diese Umwendungen gelingen, so schrieb auch die große spanische Ordensgründerin und geistliche Schriftstellerin, die später heiliggesprochene Teresa von Avila (1515–1582). Weisheit ist Deutung und sodann Bündelung von Deutungen, um sie zu handelsleitenden Einsichten zu gestalten. Weisheit ist Einsichtsgewinn aus den an sich selber oder anderen Menschen beobachteten und gedeuteten Handlungen. Ein Grundgebot der Weisheit lautet, auf sich selbst zu achten. Dabei ist Ausharren notwendig, denn sonst laufen wir Gefahr, »uns zu misskennen«. Nur bei Vermeidung einer abirrenden Selbsterkenntnis können wir auf dem Weg der Weisheit verbleiben, so der Theologe, Bischof und Mystiker Gregor von Nyssa (335–395) in der von Urs von Balthasar herausgegebenen Schrift Gregors, »Der versiegelte Quell« (1939). Für jegliche Weisheitsdiskussion ist entscheidend, dass das, was erlebbar ist, auch in der Lebenswahrheit des Weiseseins »anwendungsfähig« wird, d. h. Weisheit muss sich in eine ihr entsprechende Verhaltensorientierung umwandeln lassen. Durch »gelebte Geduld« gelingt es nach Gregor von Nyssa, das »Achten auf sich selbst« zu entwickeln. Dabei spielt »immer das Schöne besitzen« zu wollen die Rolle der »Vollendung der menschlichen Natur«. Darin bedarf es nicht allein der sorgfältigen Selbstbeobachtung und der daraus folgenden Selbstanleitung, sondern auch der Beobachtung der Umwelt. Wir dürfen nicht versäumen, schrieb Gregor, den »Dingen ins Wesen selber zu schauen«, und dürfen wegen »irrender Fußspuren nicht vom Wege der Wahrheit abgehen« (Der versiegelte Quell, S. 63). Das wirklich weise Leben kann sich also keineswegs auf kontemplative Betrachtungen beschränken. Weisheit kommt aus den Voraussetzungen des Ausharrens. Solche Gedanken waren auch ins Neue Testament eingedrungen. »In Eurem Ausharren werdet ihr Euer Leben gewinnen«, so heißt es im Lukas-Evangelium 21,19. »Lasst nie ab, euch zu bemühen«, war auch Buddhas Aufforderung gewesen, als er sich vorbereitete, aus dieser Welt zu scheiden. Weisheit ist ein Erfüllungsziel in der Welt. »Es begehren alle Kreaturen von Natur aus nach Weisheit«, so lehrte es im 13. Jahrhundert Meister Eckhart, der 20
Weisheitsfindung – ein Rundblick
große mittelalterliche Theologe, Mystiker und Prediger (Predigt 84, Schriften Bd. II, S. 201). Weisheit ist dabei aber mehr als ein Ordnungsprinzip für das Individuum, weil Weisheit auch das Zusammenleben fordert und fördert. Weisheit ist eine Kraft der Einigung, im Individuum und über das Individuum hinaus. Eckhart verlangte : »Bleibt in Euch selbst und greift in Euer eigenes Gut. Ihr tragt doch alle Wahrheit wesenhaft in Euch« (Predigt 55, Schriften Bd. I, S. 75). Teresa von Avila, vom Geist der Neuzeit bereits durchdrungen, fügte allerdings die wunderbare Weisheit hinzu, »dass ich mich irren kann«. Ich glaube, dass diese Einsicht heute ganz zentral zur Weisheitsfindung dazugehört. Irrtümer, besonders die richtig und aufrichtig erkannten, sind wie Anstöße zur Weisheitsfindung. Für die Weisheit bedarf es der Loskettung vom eigenen starren Ich. Inwieweit führt die Loskettung des Ich von der eigenen Angst dazu, Weisheitsbedingungen zu finden und für sich und seine Lebensführung einzubauen ? In die Zukunft und an sie denken, das heißt für das Ich, mit vielen Impulsen umzugehen und Wahlentscheidungen zu treffen. Durch sorgfältiges und vom eigenen Ich entscheidend mitbestimmtes Auswählen steigern wir unsere Kräfte. Mit diesen erhöhen wir unsere Fähigkeiten zum Erlangen von Weisheit. Notwendig ist dabei auch die Gegenüberstellung von Körper und Seele, besonders im Hinblick auf gesundheitliche Beeinträchtigungen und die Prozesse der Schwächung durch Altern. Dabei wird Unvollkommenheit deutlich. Man muss das Leben in seiner ständigen Korrekturnotwendigkeit begreifen. Das ist eine der Lebenslinien für die Weisheit. Weisheit, so wurde mir im Laufe des Lebens deutlich, hat eine Vorsicht gebietende und eine vorausschauende Seite : Sie enthält die Zubilligung an andere Menschen, nach deren Entscheidung ihr Glück zu suchen, das heißt, Erfüllung dort anzustreben, wo diese ihnen besonders erwünscht und möglich erscheint, ohne damit andere Menschen zu schädigen. Das folgt aus dem durch die Weisheit gebotenen Respekt vor dem anderen Menschen. Weisheit kann sozial nur durch mannigfache Berücksichtigung, vor allem durch die Einsicht in die Notwendigkeit von Wechselseitigkeit gewonnen und gelebt werden. Dazu gehört, eigene Lebensprogramme auszusinnen und nicht nur von außen vorgeschlagene Programme, bloß mit dem Blick auf Erfolgschancen, zu übernehmen. Weisheit ist mehr als eine gebündelte Vielzahl von Einsichten. Sie liegt im Auf bau einer Grundhaltung, in welche die gewonnenen Einsichten eingebaut 21
Weisheitsfindung – ein Rundblick
werden können. Die Grundhaltung beruht auf einer Konstituierung, die sich sowohl durch Nähe als auch durch Distanz, sowohl zu Menschen als auch zu Denkinhalten und Entscheidungen bemisst. Das »unbehauste« Ich bekommt in der modernen Welt mehr und mehr Entscheidungen aufgebürdet. Es strebt dann auch selber zusätzlich nach Erweiterung von Optionen und macht sich dadurch meist das Leben noch schwerer. Je mehr Globalität erstrebt wird, desto mehr Entscheidungen werden nötig. Das Ich wird unsicher und gerät zusätzlich unter den Außendruck von ins »Ungeheure« wachsenden Beeinflussungen und Optionen. Der Entscheidungsraum wird weit aufgerissen : von den Religionen über die Sexualität bis hin zu Fernreisen, Antiquitäten und Delikatessen. Die durch Kirchen und politisch-ideologische Orientierung vorgegebenen Chancen der Zugehörigkeit zu meditativ-rituellen und asketisch orientierten gemeinsamen Vollzügen, Gottesdiensten oder Andachten werden aus vielen Gründen geringer. Umso weniger kann sich das Ich auf eine ihm verwertbare Außenstützung verlassen und auch nicht zu einer mehr oder minder ungesehen zu übernehmenden Innenstärkung von rituellen und gemeinschaftlichen Impulsen gelangen. Befunde der Sozialforschung zeigen, dass unter der Decke von verwöhnungsorientierter Konsumwelt und mancher Lebensillusion enorme und anhaltende Spannungen und Überforderungen in Partnerschaft und Familie in der Alltagswelt als »Burnout« mitgeschleppt werden. Offenheit und Versöhnung wären weise, sind oft aber nur schwer erreichbar. Besinnung verlangt die Kritik der zweckrational-erfolgsgesteuerten Push- Gesellschaft. Dies ermöglicht Selbsthilfe, den Rettungsversuch, um psychisch überleben zu können. Die Orientierung auf Weisheit kann in der Tat rettend wirken. Dazu will dieses Buch beitragen. Je stärker die Unerfassbarkeit des Ich in der Überlastung durch Außenreize eingesehen und dessen Steuerungsschwäche zugestanden wird, desto dringender wird die Lösung zur Entfaltung der Besinnungskapazität. Erst Letztere erlaubt eine Fundierung von Weisheit. Sie führt zu einer Philosophie der »Lebensermöglichung«. Sigmund Freud bezweifelte in seinem Spätwerk, dass die durch die Therapie einer Psychoanalyse aufgebauten »Dämme« gegen späte Triebsteigerung auch langfristig, lebenslang, standhalten können. Eine Garantie gibt es ihm zufolge aus einer abgeschlossen erscheinenden Analyse nicht. Daraus resultiert eine immer wieder notwendig werdende »Umarbeitung« des Ich. 22
Weisheitsfindung – ein Rundblick
Diese Überlegungen werden von dem Schweizer Psychiater Ludwig Binswanger (1881–1966) gestützt : Man muss die »Quelle seiner philosophischen Gedanken in sich selber finden«. Nur so kann man »die Angst des Daseins überwinden«. Aber wenn das Selbst von der Konsumwelt und den durch sie aufgestachelten Wünschen völlig in Beschlag genommen wird ? Braucht es nicht eine verallgemeinerbare »Lebensweisheit« ? Vielleicht lässt sich ein Weg des »Rette dich selbst« durch Zuflucht bei der Übergangstugend der Gelassenheit finden ? Man könnte diesen Weg des Sich-Anvertrauens an das eigene Unbekannte und im Prinzip auch an das in sich Unerforschte als Weg der Weisheit sehen. Man muss sich lassen, um sich (neu) zu fassen. »Kehre dich ab, auf dass du zugekehrt werdest«, schrieb im 13. Jahrhundert Meister Eckhart im Buch der »Göttlichen Tröstungen«. Für den japanischen Zen-Meister Shunryu Suzuki (1904–1971) geschah ein solches »Lassen« durch das Durchschreiten des »Tors der Leerheit«. Eine solche Durchschreitung schaffe Kontinuität im Ich. Wahres Sein komme aus dem »Nichts«. Es wird gefunden, er-funden. Die Grundhaltung der Weisheitsfindung begünstigt dies. Bei Martin Heidegger (1889–1976) ist der Schritt zum »Denken« eine Wendung zu einer fundamental neuen Lebenshaltung. Denken ist als Hinwendung zur »eigentlichen« inneren Daseinsentfaltung als eine meditative Öffnung gedacht. Heideggers »Denken« sollte zu Sorge, Gelassenheit, Gewähren und Ankommenlassen führen. Der Philosoph aus dem Schwarzwald wollte der Wissenschaft nicht einen ausschließlich lebensbestimmenden Platz zugestehen. Wird Wissenschaft nicht eingeschränkt in ihren verschiedensten Bündnissen mit der Macht, zum Beispiel mit der Wirtschaft, drängt sie unaufhaltsam zur allumfassenden, gesellschaftlich-kulturellen Steuerung ohne Suche nach Weisheit. Die Geisteswissenschaften wandten sich mit Wilhelm Dilthey (1833–1911) schon vor dem 20. Jahrhundert der Konzeption von »Leben« zu. Wir wissen, »dass wir das Wesen dieses Lebens selbst nicht erfassen können«, schrieb Dilthey. Bei Edmund Husserl (1859–1938) erfolgte die Einladung zur Epoché, zur Selbstsuche und Bewusstseinserforschung bei Ausklammerung des Vorrangs der Ergebnisse objektivierender wissenschaftlicher Forschung. War diese Ausklammerung im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts eine Verweigerung von Aufklärung ? Oder eine Befreiung aus dem von der Wissenschaft des späten 19. Jahrhunderts noch verschärften Prokrustesbett des Alles-Durchdringens mit Hilfe dieser Forschung ? 23
Weisheitsfindung – ein Rundblick
Liegt nicht in der Epoché Husserls eine Art Selbstbefreiung von den vorgefertigten (durch Forschung rational plausibel gemachten) Erklärungen ? Theodor W. Adorno (1903–1969) und Max Horkheimer (1895–1973) prangerten in ihrer im Exil in Kalifornien während des Zweiten Weltkrieges verfassten »Dialektik der Aufklärung« die Selbstfesselung durch wissenschaftliches Wissen an. Der Mensch muss seine eigene Orientierung in Grundfragen heute selber suchen. Es wird ihm auferlegt, sich mit mühsamen Anstrengungen zu eigenen Kriterien und Lösungsansätzen des Daseins durchzuringen. Das verlangt Kreativität, die aber die Tiefen der Seele beansprucht. Ohne Schutz seiner eigenen, aus ihm selbst gewonnenen Weisheit, lässt sich das kaum leisten. Unverarbeitetes Wissen und der unkontrollierte Wunsch nach mehr Information oder Unterhaltung, gereizt zum Beispiel durch manisches Internetsurfen oder mehrstündiges, wenig selektives Fernsehen – drei Stunden täglich bei der erwachsenen Bevölkerung in Österreich –, können Kreativität ersticken. Ohne Informationsaskese ist die für schöpferisches Handeln nötige Reduktion von Komplexität nicht zu leisten. Die Konsumwelt macht uns zu einer Sammler- und Ankäufergesellschaft. So retten wir uns aus dem Stress, aber versperren uns dabei Wege zu selbstbestimmter Lebenshaltung und zur selbstbestimmten Weisheit. Aus all dem sehen wir, dass die philosophische Epoché Edmund Husserls als Ausklammerung auch für die Beeinflussung der Lebenswelt ihren kritischen Sinn zu haben vermag. Doch auch aus Abkehr kann Zukehr entstehen, wie Meister Eckhart schon im hohen Mittelalter wusste, und dadurch Wachstum und Reifung in Richtung auf Weisheit erkannte. Mit Hilfe der Wissenschaft fordern wir die Dinge heraus. Wir stellen das Lebendige, selbst die Reaktionen und Einstellungen des Menschen, wie der Jäger das Wild stellt. Kunst und Dichtung hingegen sprechen von den Dingen selbst. Sie lassen die Dinge, die Natur, den Menschen, in einer ganz anderen Weise erfahrbar werden. Die Philosophie, wenn auch nicht jede, vermag dies. »Wir sind so an die alten Entgegensetzungen von Vernunft und Leidenschaft, von Geist und Leben gewöhnt, dass uns die Vorstellung von einem leidenschaftlichen Denken, in dem Denken und Lebendigsein eins werden, einigermaßen befremdet«, schrieb Hannah Arendt (1906–1975), lebenslang bewusst selber suchend. Das Ende der traditionellen Philosophie ist des Denkens neuer Beginn. Es ist nicht mehr ein Denken über, sondern ein Denken als ein »In-Erfahrung-Bringen«, ein Zugänglichmachen und Übersicht-Gewinnen durch Nachsinnen. Es ist ein »Eindringen« und ein sich selber nachgehendes Nach24
Weisheitsfindung – ein Rundblick
fühlen als ein ständiger Prozess. »Philosophie ist«, so schrieb Immanuel Kant im 18. Jahrhundert, »für den Menschen Bestrebung zur Weisheit, die jederzeit unvollendet ist«. »Bestrebung zur Weisheit«, wie Kant sie nennt, heißt meist Neues entdecken, »anderwärts« als bisher, aber auch verstärkt »innerwärts«. Das Thema der Vergänglichkeit ist ein Urthema des Menschen. Die menschheitsgeschichtlich frühe, unübersteigbare Erfahrung der Vergänglichkeit wird in verschiedener Weise gegenwärtig, so als Schmerz über den Verlust eines Freundes, eines geliebten Menschen. Es zu bewältigen liegt am Weg zur Weisheit, die den inneren Einklang mit Verlusten ermöglicht. Werfen wir noch einen Blick in die Frühzeit der Kulturen : Nach dem Tod von Enkidu, seinem geliebten Freund, geschildert im ersten Epos der Menschheit, dem »Gilgamesch-Epos«, kam bei Fürst Gilgamesch, der als sumerischer König der letzten Dynastie von Uruk, um 2600 v. Chr., lebte, der brennende Wunsch nach Unsterblichkeit des Menschen auf. Fast besitzt er sie schon, die aus der Tiefe des Meeres dem Boden unter Lebensgefahr entrissene Pflanze Unsterblichkeit. Durch eine kleine Müdigkeit, der er sich bei einer Rast hingibt, verliert er die Pflanze jedoch wieder. Eine Schlange findet sie am Boden neben dem Brunnen, wo Gilgamesch nach der Findung der Unsterblichkeitspflanze badet, und frisst sie, als Gilgamesch erschöpft in Schlaf versinkt. So blieb ihm letztendlich nur die Weisheit, die er in der inneren und äußeren Erneuerung sah, und er wandte sich der erneuernden Planung seiner Stadt zu, nämlich Uruk am Euphrat. Heute, im 21. Jahrhundert, müssen wir in unseren Selbstgesprächen, Dialogen und Diskussionen als Voraussetzung für die Weisheitsliebe den ganzen Gang der Aufklärung und der Selbstdechiffrierung des Menschen im 19. und 20. Jahrhundert mitvollziehen, sonst erreichen wir den aktuellen Geist der Weisheit nicht. Die Bewegtheit und Beweglichkeit für die Weisheit hat kaum jemand deutlicher ausgesprochen wie Rainer Maria Rilke (1875–1926) : »Ich lebe mein Leben in steigenden Ringen, die sich in die Höhe zieh’n. Ich werde den letzten nicht mehr vollbringen, aber versuchen will ich ihn.«
Peter Sloterdijk zeigte in seinem Buch »Die schrecklichen Kinder der Neuzeit« (2014) ebenfalls hervorragende Beiträge zum Versuch der Selbstbefreiung in 25
Weisheitsfindung – ein Rundblick
Richtung individueller Weisheit auf (S. 400–405). Dazu gehören allerdings auch der Wille zu immer erneutem Beginn und das beständige Üben des Gewonnenen. Man kann von vielen Seiten her in den Bereich der Weisheit vorstoßen, besonders dann, wenn man konsequent bleibt und sich im Gesamtbezug eigener Einsichten zur Nachdenklichkeit in der Welt Mühe gibt. Die große österreichische Indologin und Deuterin der Upanishaden, Bettina Bäumer (geb. 1940), legte bei der Auslegung der »Chândogya Upanishad« VI, II3 und VI5, darauf Wert, dass die Meditation sich auf »den inneren Lenker des Selbst, die eigene innerste Wirklichkeit« beziehen müsse (Bäumer, Upanishaden, 1997, S. 67). Diese indische Weisheit lässt sich auch durch die frühe klassische griechische Weisheit stützen : »Das Mögliche schöpfe aus in deiner Bemühung«, schrieb Pindar in der »III. Pythischen Ode« um 500 v. Chr. »Das Dasein kann nur dann eigentlich es selbst sein, wenn es sich von ihm selbst her dazu ermöglicht«, schrieb dazu Martin Heidegger im 20. Jahrhundert in »Sein und Zeit«. Der große Meister der Selbstaussage zur Weisheit war, wie schon erwähnt, der Dichter Rainer Maria Rilke. Was Rilke zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor allem nahebringen wollte, war die Erfahrung des Fremdseins als Voraussetzung für die Erfahrung von Nähe. Dazu müssen wir einsehen »dass wir nicht sehr verlässlich zu Haus sind in der gedeuteten Welt«, schrieb er in der ersten seiner zehn »Duineser Ele gien« (1923). Das Leben in dieser unserer Welt – Rilke reflektierte vor fast einhundert Jahren über sie – drängt uns in das »zahllos Brauende« (3. Elegie) und »Bleiben ist nirgends« (1. Elegie). Demgegenüber steht die Erkenntnis : »Dass das sichtbarste Glück erst zu erkennen sich gibt, wenn wir es innen verwandeln.« »Nirgends, Geliebte, wird Welt sein als innen. Unser Leben geht hin mit Verwandlung«, so schrieb er. Die Weisheitsbemühung ist in der bildenden Kunst der Antike ganz besonders eindringlich durch die »Sinnende Athene« (Akropolis Museum, um 460 v. Chr.) dargestellt. Athene steht, mit einem Helm und leicht vorgeneigtem Kopf, auf einen fest in den Boden gestoßenen Speer gestützt, den Blick auf den Boden gesenkt. Sie, die dem Kopf des Zeus entsprungene Weisheitsgöttin, ist sich immer ihrer Einsichtskraft bewusst, aber doch stets, wenn auch ruhig und maßvoll suchend, als »unruhiger Geist«.
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Weisheit als Orientierungskraft in Geschichte und Gegenwart
Die ausgeprägten roten Abdrücke von Händen in den steinzeitlichen Höhlen von Las Monedas im französisch-spanischen Grenzgebiet kamen überwiegend von Frauen. Sie waren es, die schon vor rund 15.000 Jahren deutliche Zeichen von sich gaben. Wollten sie ihre Sehnsüchte und Sorgen flehend an eine übergeordnete Instanz zum Ausdruck bringen ? Woran konnten sie glauben ?
1 Steinzeitliche Höhlenmalerei und die Weisheit der Frauen
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er Mann, der mich durch die Gänge der Höhle mit einer eigenen Lampe geleitete, flüsterte immer wieder begeistert : »Los manos ! Los manos !«, und zeigte mit ausgestreckten Armen auf die Wandmalereien, als sähe er sie zum ersten Mal. Die Handabdrücke an den Wänden hatten ihn bei seinen unterirdischen Führungen selber sehr beschäftigt, wie deutlich zu hören war. Ich konnte diese Magie bei unserem Rundgang in den 1970er Jahren auch selber empfinden. Es war wie ein Aufflackern von Besinnung in dem uns einschließenden und gefangen nehmenden Dunkel der Höhle. Der Mann, der mich führte, war empfänglich für deren Magie. Ich war es auch. Die in die Höhlenwände gemalten bzw. durch Aufprägung der in Farbe getauchten Hände in »Las Monedas« sind überwiegend Frauenhände. Das muss man im 21. Jahrhundert, das als Jahrhundert der Frauen gilt, sagen : Unter den frühen eiszeitlichen Menschen zwischen 40.000 und 10.000 v. Chr. waren es besonders die Frauen, die in monumental ausgeprägter Weise in »Altamira« und »Las Monedas« im französisch-spanischen Grenzgebiet Zeichen von sich gaben. Auch im niederösterreichischen Kamptal, in der Wachau und bei Stillfried an der March waren es aus dem Jungpaläolithikum überwiegend weibliche Figuren, die kultische Bedeutung besaßen und ausstrahlten. Menschen suchten das Licht für ihre Mitteilungen, aber auch den Schutz des Geheimen, so holten sie das eindrucksvolle Rot, das für Blut und Leben steht, ins Dunkel. Dort drückten sich die Menschen aus, bei feierlichen Anlässen und Beleuchtungen für Kulte und Forderungen an das Überirdische als Beweis eigenen Flehens, unter Einsatz der eigenen Hände. In diesen Riten, auch in den einfachen, durch die manos ausgedrückten Riten der Höhlenmalerei, können wir die Bereitschaft zur eigenen Steigerung der Daseinsbewältigung als Suchende erkennen. In der Dunkelheit und Tiefe der Höhle ging es um die Herbeirufung von Hilfe für die Lebensbewältigung, somit um Urformen von Weisheit. Ich kam zu dem Ergebnis, dass in den frühesten Formen menschlicher Suche nach Lebensorientierung die Beschwörungen von Frauen ganz offensichtlich eine führende Rolle für die Gruppe spielten, in der sie lebten, die sie ja hervorbrachten und integrierten. 29
Weisheit als Orientierungskraft in Geschichte und Gegenwart
Das kann man auch an verschiedenen Darstellungen der Höhlenmalerei in Europa, Afrika und Lateinamerika erkennen. Die Männer gingen jagen, die Frauen dachten mit den Kindern ans Überleben. Dafür mussten sie Schutz und Sicherheit für sich und die Nachkommen beschwören. So waren sie dann, vermutlich zusammen mit Schamanen, zu den Beschwörungen mit Farbtöpfen in den Gängen der Höhlen unterwegs, mancherorts an den engen Stellen auf allen Vieren kriechend. So hinterließen sie, wo sie aufrecht gehen konnten, den Abdruck ihrer Hände auf den Wänden als Ausdruck von Verehrung (von etwas Göttlichem ?). Niemand weiß, was sie sich darunter vorstellten. Aber vermutlich war es eine unbekannte Macht, die sie mit dem Abdruck ihrer Hände anriefen, damit sie ihnen Schutz und Hilfe gebe. Anrufung und Beschwörung waren, deutlich sichtbar, ihre Weisheit für das eigene Überleben.
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2 Steinerne Ratgeber : Magische Figuren, aus afrikanischem Sand gegraben
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b Beginn der 1980er Jahre unternahm ich regelmäßige Forschungsreisen nach Afrika. Der Kontinent war ein Sehnsuchtsort, er zog mich an, weil sich mir dort in den Dörfern, tief in der Savanne, die Urformen des Menschseins zu verkörpern schienen. Ich suchte nach den Lebensformen, die mich zu den Grundfragen menschlicher Vergesellschaftung führen sollten. Ahnenkult und magische Beschwörungen suchte ich, Zauberei, Fluch, Verwünschungen und Sippenrache, die Macht der Eltern über ihre Kinder und die Herrschaft der Alten über die Dörfer. Schritt für Schritt erschloss sich mir auch die sich entwickelnde Übergangskultur. Ich entdeckte die Einflüsse, die von den aus der Stadt heimkehrenden jungen Saisonarbeitern, von den Söhnen der Sippe in die Abgelegenheit und traditionelle Stetigkeit der Dörfer kon fliktreich eingebracht wurden. Im Lauf der Jahre entstand eine Serie von Studien, die mich schwere Spannungen in den Sippen und Familien, große Defizite im Bildungswesen und drückende Arbeitslosigkeit in den Städten in ihrer Verbreitung und in ihren Ursachen erkennen ließen. Zugang zu den Menschen und zum alten Afrika gewann ich jedoch vor allem auf dem Land durch monatelange Aufenthalte unseres österreichischen Forschungsteams im abgeschiedenen Bambara-Dorf Sonongo. Der kleine Ort liegt zwei Tagesreisen mit dem Eselkarren westlich der alten Königsstadt Ségou im Busch Malis. Dort, in der Siedlung mit ihren Hütten und Hirsespeichern, umgeben von sandigen Feldern, rundum von der kargen Savanne umschlossen, ergaben sich im Verlauf eines Jahrzehnts für mich ungeahnte Erlebnisse und Einsichten. Sie wurden zum Schlüssel von nie ganz verständlichen, aber unerschöpflichen Beziehungen zu den Menschen. Meine Bindung an das afrikanische Bauerndorf Sonongo rührt wohl auch daher, dass ich fast alle Sommer meiner Kindheit und frühen Jugend bei Verwandten in einem entlegenen Dorf des österreichischen Mühlviertels, in Kunstvoll bearbeitete Steinskulptur, rund 300 Jahre alt, aus dem Sand gegraben bei den Nyonyosi in Burkina Faso. Heute noch gelten solche Steine im Afrika der Subsahara als Ratgeber. Die Ratsuchenden versuchen, beim Gespräch mit ihnen ihre Gedanken zu sammeln und die stummen Zurufe von den verehrungswürdigen Skulpturen zu verstehen.
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Weisheit als Orientierungskraft in Geschichte und Gegenwart
Lichtenberg, verbracht hatte. Es war die Heimat meines Großvaters mütterlicherseits. In diesem Mühlviertler Dorf hatte ich auch die Arbeit auf den Waldwiesen, den Feldern, in den Scheunen und Ställen kennengelernt. Und es war eine Arbeit, die mir als Kind gefiel und an der ich mich gerne beteiligte. Ich suchte in der Einsamkeit Afrikas etwas von meiner eigenen Kindheit und der landwirtschaftlichen Heimat Österreich. Ich war glücklich, im afrikanischen Dorf pflügen zu können. Den Wissenschaftler, den Forscher, werde ich bei meinen Erzählungen weder leugnen können noch wollen. Den Methoden der Wissenschaft verdanke ich viel Orientierung für mein Schauen und Fragen. Ohne Wissenschaft hätte ich mich im Labyrinth der Eindrücke nicht zurechtgefunden. Was jedoch hier zu lesen ist, folgt nicht den Kriterien der Forschung. Ich will mit meinen Geschichten die Leser auf Erkundungssreisen mitnehmen. »In welchem aller Leben sind wir endlich offen und Empfänger ?« fragte Rainer Maria Rilke. Ich wollte bei meinen Forschungen auch ein Volk kennenlernen, von dem in Europa damals viel die Rede, aber wenig selbsterworbene Kenntnis vorlag, den Dogon. So fuhr ich in eines der Dörfer unter der »Falaise de Bandiagara«, dem Felsmassiv im Land der Dogon im Süden Malis, unweit der Grenze zu Burkina Faso. Besonders hatten es mir dort die Ginnas, die aus Lehm erbauten Geisterhäuser mit ihren vielen nischenartigen Höhlungen nach geometrischer Ordnung angetan. Sie beherbergen die Ahnenseelen, die auf Besuch zu den Lebenden kommen. Wenn Schwalben in den Höhlungen nisten, so stört das die Seelen nicht – im Gegenteil, sie können auf den Flügeln der Schwalben reisen. Ich konnte aber auch erleben, dass Figuren und Plastiken der traditionellen Stammesreligionen zum Kauf angeboten wurden. Ich wusste damals nicht, dass es sich bei den Figuren um die während der Welle der Islamisierung unter Zwang von den Sippen abgelieferten Kultgegenstände des animistischen Väterglaubens handelte. Die Islamisten verlangten das. Zu Beginn einer neuen Forschungsphase Mitte der 1990er Jahre wartete ich wie schon oft im Niger-Hafen von Ségou auf die Rückkehr meines Teams. Sie waren ausgeschwärmt, um Nahrungsvorräte für die kommenden Wochen im Busch einzukaufen. Ich blickte über die kleine Terrasse hinweg auf die Straße, die zur Anlegestelle der vielen Überfuhrboote und der Fähre hinabführte. Alles Leben schien sich am Markttag auf dieser schmalen Straße zu konzentrieren. Mädchen boten auf großen, auf dem Kopf getragenen Blechtellern Früchte zum Verzehr an. Alle waren geschäftig. 34
Steinerne Ratgeber : Magische Figuren, aus afrikanischem Sand gegraben
Poliogeschädigte Menschen krochen auf allen Vieren die Stufen zur V eranda des Imbiss-Restaurants herauf, um zu betteln. Sie wurden vom Kellner regelmäßig empört zurückgescheucht. Aber sie kamen in unbewachten Augenblicken wieder und erhielten Münzen von den Gästen. Unweit der Terrasse saß in einem rohgezimmerten, niedrigen Kiosk ein Alter, der mit Figuren, Masken und alten Marionetten handelte. Für wenig Geld erstand ich einen getragenen Armreif aus Holz. Ich steckte den Holzreif in die Außentasche meines Rucksacks. Wie durch einen magischen Kreis war ich erneut in die Welt des Unbekannten, Unausgesprochenen und doch Ahnbaren eingebunden. Auch dies bestärkte mich, erlebte Geschichten niederzuschreiben. Nach einem jahrzehntelangen Leben unter dem Druck der wissenschaftlichen Rechtfertigung alles Gedachten und Geschriebenen, war dieser Entschluss zur persönlichen Aussage eine Art Erlösung. Es war auf jeden Fall ein Versuch, mich anders mitzuteilen als in Tabellen und Berichten, nämlich in der Erzählung, die ein Stück von der teilnehmenden Erfahrung mittragen soll wie ein Boot auf dem Fluss. Ich versuchte diesen Plan zu verwirklichen in den Büchern »Baobab, Geschichten aus Afrika« (1997) und »Le Baobab« (1998). Wir fuhren zur Anlegestelle zum Niger hinunter, um mit der Fähre überzusetzen. Der weite, leuchtende Strom, der Niger, der Riese Westafrikas, lag vor uns. Jenseits lag das Land, in das die Fahrt in »unser« Dorf, nach Sonongo führen sollte. Vieles konnte ich in Afrika über die Erkenntnis der anderen Menschen erlernen. Das Leben in den Dörfern, besonders jenes in der Bambara-Siedlung Sonongo, lehrte mich, dass sich eine Gestalt, ein Mitmensch, nie aus einem einzigen Blickwinkel, sei es der der Anteilnahme, sei es der der Ablehnung, erfassen lässt. Vielleicht kann man eine menschliche Gestalt überhaupt nicht »verstehen«, sondern kann nur ihre Konturen mit inneren Bezügen zu erkennen suchen. Deshalb ist bei den Bambara die Ehre mit der Fähigkeit verbunden, ein Geheimnis zu bewahren. Die Ehre und das Geheimnis beruhen auf demselben Fundament. Es gibt keine Ehre für den, der sich mit jemandem verbündet, der nicht verschwiegen ist. In Afrika ist der Mensch Teil eines Geflechts von Beziehungen. In diesem Netz kann man nur dem vertrauen, der sein Herz nicht auf der Zunge trägt. Wo sich Dörfer oder Stämme verteidigen und Widerstand leisten müssen, da muss man verlangen können, dass sie imstande sind, Geheimnisse zu bewahren. In diesem Bewahrenkönnen liegen die soziale und die persönliche Ehre. Legst du Wert auf Ehre, dann musst du dich beherrschen, dich zügeln und 35
Weisheit als Orientierungskraft in Geschichte und Gegenwart
natürlich auch schweigen können. Das lernen seit Jahrhunderten die Knaben in den Wochen vor ihrer Initiation, wenn sie im Busch auf den großen Tag vorbereitet werden, an dem man sie zu Männern erklärt. Séri Sacko, der Initiationsmeister von Sonongo, verlangte von den Kindern, die initiiert wurden, Tag und Nacht einen kleinen Stein im Mund zu behalten. Wenn jemand sie fragte, warum sie so schlecht sprächen, durften sie den Stein im Mund nicht verraten. So hielt ich mich bis zum Jahr 2000 herauf immer wieder im kleinen afrikanischen Dorf Sonongo in Mali auf. Bei meinen oft wochenlangen Aufenthalten in der Dorfgemeinschaft konnte ich dem Drang nicht widerstehen, mich explorierend in den Busch zu begeben. Man warnte mich im Dorf vor solchen Alleingängen, besonders wegen der versteckten Schlangen. Aber es wurde auch die Sorge ausgedrückt, ich könnte mich verirren. Als ich mich einmal bei einem solchen Forschungsgang tatsächlich verirrte, hatte ich große Mühe, wieder herauszufinden, so unglaublich dicht ist der sogenannte Busch. Man kann keine zwei Meter voraussehen. So beschloss ich beim nächsten Buschbesuch immer nach zwei Metern einen Zweig abzubrechen oder ein sonstiges Zeichen für den Rückweg zu hinterlassen. Das erwies sich als eine wirksame Sicherung. Der Urwald begann nahe von Sonongo, unmittelbar in der Nähe des Dorfes auf den Hügeln, zu denen die bewirtschafteten Mais- und Erdnussfelder hinaufführten. In Gruppen zogen die Dorf bewohner hinauf, um zu arbeiten. Den Heimweg zu seiner Hütte ging meist jeder für sich allein. Vom Hügel her konnte ich beobachten, wie die Männer und Frauen nach der Arbeit dem Dorfrand zustrebten. Dabei fiel mir auf, dass manche von ihnen einen Umweg machten und unter einer kleinen Baumgruppe innehielten. Was suchten sie dort ? Es gab keinen Brunnen in der Nähe und, wie ich feststellen konnte, auch sonst nichts für mich Bemerkenswertes. So versuchte ich eine Frau, die als Witwe in Sonongo lebte, bei ihrem Aufenthalt in der Baumgruppe genauer zu beobachten. Sie kam fast täglich dorthin, um zu verweilen. Sie war in einen heftigen Streit im Dorf verwickelt worden, aber was konnte sie in der genannten Baumgruppe finden ? Ich besprach das mit einem befreundeten Mann im Dorf, der als »Freigelassener« – die Eltern waren noch Sklaven gewesen – mehr aus sich herausgehen konnte als die übrigen Dorf bewohner. Er sagte mir, es seien dort Steine aufgestellt, die, wenn man sie aufsuche, eine Beratungsfähigkeit ausstrahlten. So 36
Steinerne Ratgeber : Magische Figuren, aus afrikanischem Sand gegraben
begann ich, auch in anderen Dörfern Ausschau nach solchen Steinen zu halten, und konnte sie, abseits der Wohnhütten, auch immer wieder in ähnlicher Weise aufgestellt finden. Die Steine waren kaum behauen, aber mit ihrer am stärksten glatt erscheinenden Fläche dem Beschauer zugekehrt. Sie waren an einem leicht zugänglichen Platz, aber doch auf einem dem wirtschaftlichen und sozialen Leben entzogenen Ort aufgestellt. Es schien, als gäbe es Bedürfnisse und Anliegen im Dorf, für die keine durch Sippenzugehörigkeit oder soziale Stellung klar definierte Person in der Dorfgemeinschaft zuständig war. Nur die Steine schienen auf dieses individuelle Bedürfnis vermittelnd zu antworten. Viele Jahre später fand ich Forschungsergebnisse, die mir auf der Suche nach Erklärungen weiterhalfen. Es waren die Studien der österreichischen Ethnologin Annemarie Schweeger-Hefel (1916–1991). Sie hatte die Ausformung des Beratungsbedürfnisses in ihren Studien über die afrikanischen Steinskulpturen erkannt. Bei Untersuchungen über die Nyonyosi, einem Volk in Westafrika, an der Grenze von Burkina Faso und Mali, hatte sie solche Beratungsfiguren gefunden. Man grub sie aus dem Sand. Viele dieser Figuren stammen aus dem 17. Jahrhundert. Sie zeigen, dass die Menschen das Bedürfnis hatten, sich Beratung für ihre Lebensentscheidungen, aber auch für ihren Alltag und ihre Schutzbedürfnisse in meist stummen Dialogen mit den Steinfiguren zu holen. Sie beteten, so ergab sich aus Schweeger-Hefels Studien, diese Figuren nicht an, suchten sich aber in deren Anblick zu sammeln. Ich selber hatte also bei meinen jahrzehntelangen Forschungen bei den Bambara in Mali ebenfalls ein solches suchendes Verhalten immer wieder beobachtet. Nur waren die Steine nicht sorgfältig bearbeitete Skulpturen mit eindrucksvollem Gesichtsausdruck, sondern fast roh belassene, aber nicht minder eindrucksvolle Objekte. So konnte ich an die Studien von Schweeger-Hefel anknüpfen. Sich beraten zu lassen ist etwas sehr Wichtiges für den Weisheitsgewinn, nicht nur in der Stammesgesellschaft. Weisheit muss nicht ausschließlich selbst gewonnen sein. Sie kann auch auf Beratung und Unterstützung bezogene Elemente, auf Überlieferungen oder figürliche und bildhafte Darstellungen zurückgehen. Die beratenden Steinfiguren der Nyonyosi ermutigten die Menschen schon seit Jahrhunderten durch ihre Ausstrahlung, die sich durch ihre künstlerische Gestaltung vermittelte. Die Menschen bemühten sich, ihre stummen Zurufe zu verstehen. Die Figuren standen in einem mythologischen und sozialen 37
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Kontext, den Annemarie Schweeger-Hefel aufgrund ihrer jahrzehntelangen Forschungen deutete. Die mythisch rituellen Verhaltensweisen gegenüber den Steinfiguren der Nyonyosi drückten jedenfalls Vertrauen in die Gewinnung von Lebenssicherheit im kulturellen Bezugsfeld der Stammesgesellschaft aus. Es war kein Götzendienst, sondern die Suche nach Lösungen von Lebensproblemen. Ein inneres Zwiegespräch fand statt. Aber beobachten lassen wollte sich dabei niemand. Fühlten sich die Frauen von mir gesehen, zogen sie sich rasch von den Steinen zurück. Das innere Lernen verlangt die Teilnahme am geheimnisvoll Belehrenden. Ich glaube heute, dass man die Belehrungen suchen muss. Dazu gehört Vertrauen, auch wenn die Form überraschen mag. Zwei solcher Steine, die historisch in der Stammesgesellschaft der Nyonyosi von stammesgesellschaftlichen Künstlern zu eindrucksvollen Figuren sorgfältig ausgearbeitet worden waren, stehen in einem engen Gang in meiner Wohnung in Wien-Margareten. Die Steine wurden geschaffen, um Beratung zu geben. Mir stellen sie Fragen über meine Lebensführung. Ist das ihre Beratung für mich ? In Unbekanntes und Fremdes vorzudringen, das aus dem Sand gegraben wurde, wo es Jahrhunderte gelegen hatte, bedeutet wohl auch, dem unruhigen Geist der Weisheit zu folgen. Und dieser Geist schließt auch mit ein, Beratung zu suchen und anzunehmen, wenn es nötig ist.
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3 Die Ahnen als Beschützer in der afrikanischen Stammeskultur
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ie Ahnen sind bis heute in der afrikanischen Stammesgesellschaft Teil der Kontinuität, die über die lebenden Individuen einer Sippe hinausreicht, und denen bestimmte Aufgaben zur Lösung angesonnen werden. Die Lebenden haben ihrerseits die Pflicht, durch Verehrung, aber auch durch physische Gaben für die Ahnen zu sorgen. Ahnenkult soll die Gemeinsamkeit von Lebenden und Verstorbenen ausdrücken und festigen. Als ich einmal Mitte der 1980er Jahre in der Trockenzeit am späten Nachmittag durch das zuvor beschriebene Bambara-Dorf Sonongo ging, eilte ein Mann mittleren Alters an mir vorbei. In der einen Hand trug er den blutigen Körper eines toten Neugeborenen und mit der anderen schlug er unter lautem Rufen auf das tote Baby ein. Es war ein erschreckender und mir völlig unverständlicher Anblick. Ich suchte einen mir besonders vertrauten und kenntnisreichen Menschen im Dorf auf und fragte ihn, was ich da gesehen hatte. Der Ahne habe seine Mission der Wiedergeburt in diesem Kind vernachlässigt, erklärte er mir. So sei es gleich bei der physischen Geburt gestorben. Dafür werde der Ahne verachtet und müsse bestraft werden, worauf die Schläge auf den kleinen Leichnam abgezielt hätten. Zu meiner Überraschung wurde der Vorfall nicht im Dorf besprochen, denn es wurde als Selbstverständlichkeit aufgefasst, als Pflicht der Bestrafung des nachlässigen Ahnen. So geschehen in einem Bambara-Dorf in Mali, westlich des Niger, eine Tagesreise mit dem Landrover durch Busch und Savanne von Ségou entfernt. Einige Jahre später machte ich erneut eine auf Ahnen bezogene Erfahrung in Mali, aber mit eher entgegengesetzter Entwicklung. Das geschah auf dem Plateau der »Falaise de Bandiagara«, nahe der Grenze zu Burkina Faso, mit einem Ahnenpriester des dort ansässigen Volks der Dogon.
Magische Glocke aus einem westafrikanischen Geisterhaus : Das Geschenk eines Häuptlings des Volkes der Dogon in Mali hängt über meinem Schreibtisch in WienMargareten. Sie wird geläutet, wenn ich reif bin, in den Ahnenstatus überzugehen.
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Weisheit als Orientierungskraft in Geschichte und Gegenwart
Von einer mächtigen und einflussreichen Sippe wurde ein Nachkomme gesucht mit besonderen Qualitäten, oder einer besonders schönen Tochter mit Aussichten, später eine begehrte Heiratspartnerin zu werden. Der Ahnenpriester, der von der Sippe um Beratung gebeten worden war, fing in einem für eine Nacht eingerichteten Käfig mit Lockspeisen Tiere, die Fußspuren hinterließen. Durch deren Analyse kam er zu Empfehlungen für die Sippe. Die Ahnen hatten sich ihm durch die hinterlassenen tierischen Fußspuren mitgeteilt. Die Dogon verstanden es auch, Feierlichkeiten für Verstorbene und damit künftige Ahnen zu bedeutenden Festen auszugestalten. Dabei kam ein mit festlicher Bekleidung vollzogener Maskentanz von Stelzengängern zum Einsatz, der das Hinüberwechseln vom Leben in den Ahnenstatus als Triumph anschaulich machen sollte. Ich konnte dies in der Ortschaft Tireli am Fuß der »Falaise de Bandiagara« mehrere Stunden hindurch miterleben, bis die in Gruppen eingezogenen Verwandlungstänzer ihren Beitrag zum Ansatz des Ahnenkults geleistet hatten. Hunderte Menschen säumten den Dorfplatz. Die Toten wurden für diese Verwandlung nicht begraben, vielmehr brachten hierfür besonders ausgebildete Kletterer sie zu ausgesetzten Stellen der Falaise, banden sie dort ans Gestein, damit sie in wenigen Wochen unter der intensiven Sonnenbestrahlung vertrockneten. Man konnte damit den bis eintausend Meter aus der Ebene aufragenden felsigen Höhenzug als den Ahnen geweiht auffassen. Dort am Fuß der Wände, die ich als europäischer Bergsteiger bewunderte, befreundete ich mich mit einem Schlangenfänger, der das Gift der Tiere verkaufte, und lernte auch den Alltag der Menschen kennen, die dort siedelten. Da die Dogon sich in ihren Siedlungen am Fuß der Wände gegen die Räuber aus der davorliegenden Ebene schützen mussten, erfanden sie Methoden, um die Hirsespeicher, in denen sie den Ertrag ihrer Arbeit auf bewahrten, durch ihre Ahnen bewachen zu lassen. Sie schufen hierfür eigene hölzerne Bauten, die sie mit Türen zu verschließen wussten, die sorgfältig aus Holz geschnitzte Ahnenfiguren trugen. Bei mir zu Hause gibt es zwar keine Feldfrüchte zu bewachen, aber ich schätze die Dogon-Ahnenfiguren, die ich mit nach Wien brachte, als Beschützer meiner Wohnung. Als ich mich bei einem Aufenthalt bei den Dogon wieder einmal vom Fuß des gewaltigen Felsmassives der »Falaise de Bandiagara« auf einem der schmalen und nicht ungefährlichen Steige aufwärts arbeitete, bat ich den Häuptling der kleinen Bergsiedlung, die ich oben erreichte, ob ich im dortigen Geister42
Die Ahnen als Beschützer in der afrikanischen Stammeskultur
haus am Rand des Abbruchs eine Spende hinterlassen dürfe. Daraufhin führte er mich zu dem reichhaltig mit Ahnenfiguren gefüllten Gebäude aus Stein. Ich begehrte nichts davon als Erinnerungsobjekt, was den Häuptling dazu veranlasste, mir von sich aus eine magische Glocke auszusuchen, die lange Zeit zum Herbeirufen der Männer zu feierlichen Anlässen gedient hatte. Nachdem ich meine Spende hinterlegt hatte, nahm ich die Glocke entgegen. Ich stelle mir vor, dass sie irgendwann einmal, wenn ich für den Übergang in den Ahnenstatus reif bin, geläutet werden könnte. Sie hängt in meinem Schlafzimmer, als Mahnung, das hohe Alter weise und mit Bedacht zu leben.
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4 Ein afrikanischer Dorftanz lehrt die Weisheit der Gemeinsamkeit
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eisheitselemente gab und gibt es in Afrika auch in anderen Lebensbezügen, nämlich in den Erziehungsbemühungen und Ausbildungsprozessen im Rahmen der Initiation für die Jugend. Die Jungen lernen den Umgang mit den Älteren in der Sippe, die wechselseitige Hilfe, die Verteidigung gegen wilde Tiere, den Schutz gegen Schlangen, aber auch Schlichtungsverfahren bei Konflikten und die Sorge um das Leben anderer. Im Zentrum befinden sich die jeweiligen Initiationsmeister. Im Dorf Sonongo im westafrikanischen Mali konnte ich ab den 1980er Jahren die Arbeit einer solchen Führungsfigur beobachten und die Vermittlung von Wissen und Weisheit an die Heranwachsenden kennenlernen. Was hieß es vor dreißig, vierzig Jahren in dem Bambara-Dorf Sonongo, mitten im Busch, ein Initiationsmeister zu sein ? War diese Funktion mit Weisheit verbunden ? Sie war es. Séri Sacko führte damals als ein solcher Initiationsmeister von Sonongo mit den 13- bis 15-jährigen männlichen Jugendlichen wochenlang im Dorf Gespräche zur Vorbereitung auf deren Initiation. Die Jungen mussten sich Details über die Geschichte des Dorfes und der sie umgebenden Natur aneignen. Sie mussten, zu ihrem eigenen Schutz in der Wildnis, über Tiere und Pflanzen einiges lernen. In dieser Zeit der Vorbereitung auf die Initiation hatten die jeweils etwa 15 Jugendlichen zu lernen, in einer Gruppe abgeschieden zu leben. Das geschah natürlich im unzugänglichen Busch, individuell bewaffnet mit Messern gegen wilde Tiere und Schlangen und für das Bearbeiten von Lebensmitteln zur eigenen Ernährung für mehrere Monate. Es gab und gibt in verschiedenen afrikanischen Ethnien Initiationen auch für Mädchen, wobei ich in Gambia Szenen jedoch nur aus der Entfernung beobachten konnte. Die Initiation für männliche Jugendliche lernte ich hingegen näher kennen. Bei den Dogon in Mali fand ich an besonders abgelegenen Stellen in den Höhlen der Felsen der »Falaise de Bandiagara« detaillierte InitiAfrikanische Ahnenfigur : Sie strahlt Kräfte aus, die bei entsprechender Verehrung Schutz und Sicherheit gewähren. Die Ahnen sind ihrerseits verpflichtet, sich nach den jeweiligen Werten und Überzeugungen der Tradition zu verhalten.
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ationsmalereien. Sie enthielten deutlich Elemente ägyptischer Grabmalereien, wie mir später Ägyptologen nach meinen Fotografien, die ich davon anfertigte, bestätigten. Traditionell war ja über die Jahrhunderte der wirtschaftliche und kulturelle Austausch im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit über die damals noch nicht ausgetrocknete Sahara durchaus rege gewesen. Séri Sacko nahm bei den Bambara in Sonongo mit den Jungen sorgfältig Kontakt auf und erteilte ihnen erst dann Vorschriften. So durften die Jungen zum Beispiel während der Initiationswochen im Busch, wo sie abgeschieden leben mussten, nur das Allernötigste sprechen. Jeder hatte einen kleinen Kieselstein in den Mund zu stecken und die Initiationswochen im Busch mit diesem Kieselstein im Mund zu verbringen. Beim Essen durften sie die Steine aus dem Mund herausnehmen. Also konnten die Jungen bei ihren Übungen nicht miteinander herumschnattern, sondern mussten sich auf die Initiationsschritte, auf das Lernen und Einüben von Verhaltensweisen und Werten für das Leben als Erwachsene in der Sippe und im Dorf konzentrieren. Der Initiationsmeister besuchte die Gruppe regelmäßig in ihrer Isolation im Buschwald und vermittelte den Jungen die verschiedenen Lerninhalte, so auch die Kenntnis der Ahnen. Dieser Initiationsmeister, Séri Sacko, tauchte auch eines Abends bei unserer Forschergruppe im Zelt auf. Ich hatte bislang nur von ihm gehört, ihn aber noch nicht kennengelernt. Seri Sakko kam zu uns und sagte, er müsse uns vom Leben der schon verstorbenen Häuptlinge des Dorfes Sonongo erzählen, in dessen unmittelbarer Nähe wir bei einem großen Baobab-Baum unsere Zelte aufgeschlagen hatten. Es war auch für uns eine Art Initiation, um unseren Aufenthalt im Dorf mit einer Art Grundlagenwissen auszustatten. Séri Sacko erschien mit großer Selbstsicherheit, ohne sich darum zu kümmern, ob das gerade in unseren Zeitplan passte oder nicht. Er vermittelte uns, dass wir hier nicht leben könnten, ohne über die Vergangenheit des Dorfes wirklich etwas zu wissen. Das war natürlich von verschiedenen Gesichtspunkten aus völlig gerechtfertigt. Dennoch war ich sehr erstaunt, dass aus dem Dorf jemand mit einer solchen Absicht zu uns kam. Wir setzten uns als Forschungsgruppe im Rund zusammen und Séri Sacko begann, von zehn Häuptlingen des Dorfes im Rückblick über einige Jahrzehnte zu erzählen. Es waren fesselnde Geschichten, die er vorbrachte. Keiner von uns wurde ungeduldig, obwohl diese Erzählung viele Stunden in Anspruch nahm. Rückblickend gesehen war es klug, uns auf diese Weise in den Gesamtzusammenhang der Dorfgeschichte und seiner Bewohner einzuführen. Séri Sacko kam mehrmals an den Abenden zu uns. Er erzählte, und es gelang ihm bei der Schilderung der früheren Häuptlinge, Lob und Anerken46
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nung für die einzelnen Persönlichkeiten sorgfältig zu verteilen. Er wusste über die Einzelheiten Bescheid, zum Beispiel, wie sich ein Häuptling bei Hochwasser in der Regenzeit, das Dorf vor Überflutung rettend, verhalten hatte. Er konnte auch erzählen, was ein anderer Häuptling unternommen hatte, als die Tiger in den Wäldern der Umgebung überhandnahmen und auf Futtersuche ins Dorf eindrangen. Auch beim Auftauchen der Pythons in den Feldern des Dorfes hatten die Häuptlinge Maßnahmen zu ergreifen und ein entsprechendes Verhalten gegenüber diesen riesigen Schlangen anzuordnen. Dies alles wusste der Initiationsmeister Séri Sacko. Er schien die Geschichte des Dorfes und jedes einzelnen Bewohners wirklich bis ins kleinste Detail zu kennen. Er war ein Mensch mit großen Fähigkeiten, der in einer Gesellschaft ohne Schrift dessen Geschichte mitzuteilen vermochte. Er hatte ein Bewusstsein von Vergangenheit und ein bewundernswertes Gedächtnis, aus dem er uns als eng beim Dorf lebenden Besuchern und Forschern verstehbare Vergangenheit vermittelte. Jetzt konnten wir auch Gegenwartsprobleme im Dorf besser vergegenwärtigen, uns frühere Überfälle auf das Dorf vorstellen und uns auch die Ummauerung des gesamten Siedlungsbereiches von Sonongo als Schutz vor Plünderungen vor allem durch Nomaden erklären. Die Hütten und Hirsespeicher des Dorfes wurden immer wieder von den Stürmen der Regenzeit beschädigt. Ich lebte viele Jahre hindurch, bis herauf in die späten 1990er Jahre, regelmäßig und manchmal bis zu einem halben Jahr lang, in einer dieser Hütten in Sonongo. So waren mir die Spuren des Wirkens der Natur bekannt. Irgendwann bekam ich meine eigene Hütte. Sie lag etwas abseits der Hirsespeicher. Ich suchte das Leben von Sonongo durch Teilnahme an diesem Leben mehr und mehr zu verstehen. Das gelang mir aber nur, weil es möglich war, eine innere Beziehung zu den Menschen zu entwickeln. Ich begann, die Bewohner von Sonongo zu schätzen und ihr Ausgesetztsein und ihre Armut zu achten und in vieler Hinsicht auch zu verstehen. Dabei erfuhr ich, dass die gemeinsam initiierten Menschen miteinander schon als Kinder und Jugendliche eine Lerngruppe gebildet hatten, und dass sie diese lebenslang weiterführten. Während meines jährlichen Aufenthalts sah ich auch immer wieder alte Männer ins Dorf kommen. Sie setzten sich unter die letzten von der Wüstenausbreitung verschont gebliebenen hohen Bäumen in deren Schatten und sprachen miteinander. Es waren die als Jugendliche vor Jahrzehnten gemeinsam Initiierten. Nun waren sie fünfzig- bis sechzigjährige Männer. 47
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Ich fand es bemerkenswert, wie sehr sie in ihren Gesprächen von wechselseitiger Aufmerksamkeit füreinander bestimmt waren. Und es gab dabei auch Humor und Lachen unter ihnen. Das war sowohl eine spirituelle als auch eine soziale Weiterbildung im Gespräch miteinander. Sie wussten schon, was sie zu besprechen hatten, denn in dem auch in Sonongo gültigen Bambara-Code gab es nach der mythisch-rituellen Tradition, die sie als junge Burschen kennengelernt hatten, fünf symbolische »Mütter« als Orientierungshilfen, die sie durch das Leben hindurch begleiten sollten. Im Abstand von sechs bis acht Jahren, manchmal auch in kürzeren Abständen, trafen die Männer, die als Jugendliche gemeinsam initiiert worden waren, einander immer wieder. Bei jedem Zusammentreffen nahm das Muttersymbol, das für ihre Einigung wichtig war, eine andere Gestalt an. In den ersten Jahren nach der Initiation war das Symbol einer »Mutter des Ertragens« von Schwierigkeiten das zentrale Thema. Jahre später kam dann auch eine »Mutter der Freude«. Insgesamt waren es fünf Ausprägungen, in denen die Mutter verehrt wurde. Die Initiierten wussten, womit sie sich in den nächsten Jahren in ihrer Sippe zu beschäftigen hatten. Ich bewunderte sehr, dass es in der schriftlosen Bambara-Kultur ein lebenslanges Bildungs- und Ausbildungskonzept gab, das von Generation zu Generation weitervermittelt wurde. Ich sah in diesen wechselnden Idealen einen bemerkenswerten Ausdruck von Stammesweisheit. Bei meinen fast jährlichen Aufenthalten in dem westafrikanischen Dorf des großen Stammes der Bambara, in Sonongo, wurde ich so mit jedem Jahr mehr zum Mitglied der Dorfgemeinschaft. Sowohl bei meiner Ankunft als auch bei meinem Abschied wurde ein Griot, ein für festliche Angelegenheit eigens ausgebildeter Redner und Sänger von weither ins Dorf gerufen, der meine Verdienste zu besingen hatte. Dafür musste man die Griots bezahlen. Dann erst sprachen der Dorfchef und seine Vertreter. Es waren prächtige Feste. Einmal gab es während meiner Zeit in Sonongo einen besonderen Anlass, zu dem ich ehrenhalber eingeladen wurde. Es war der feierliche Dorftanz, eine Art Versöhnungsfest zwischen Individuen und Sippen. Man wollte aufzeigen, dass man Versöhnung öffentlich und strikt untereinander feiern konnte. Es gab dazu den Männertanz und den Frauentanz, die getrennt abgehalten wurden. Die Männer traten in der Reihenfolge ihrer Geburt an. Ich reihte mich ein, damals war ich noch in der jüngeren Hälfte. Die aus Dorfmitgliedern zusammengesetzte Musikergruppe spielte auf. Wir bildeten auf einem für den Anlass besonders reingefegten Platz vor dem Dorf eine Kette von Männern. 48
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Die Schritte waren Tanzschritte, die man aber leicht lernen konnte. Ich hatte keine Mühe damit und so war es auch nicht schwierig, den richtigen Abstand zu halten. Ich lernte auch schnell, wie man Gemeinsamkeit ausdrücken sollte. Die Tanzenden blieben in einem Kreis miteinander verbunden. Die Musiker boten eine monotone Rhythmik dar. Mit Trommel, Flöte und Schlagzeug begleiteten sie ihren Gesang. Die Männer, und ich mit ihnen, marschierten und stampften nach dem Takt ihrer Musik in großem Kreis im Sand. Meist tanzten die Männer mit ihren Flinten, Schwertern und Speeren und gelegentlich knallten Schüsse in die Luft. Aber auch die Frauen sammelten sich in strenger Reihenfolge nach der sozialen Stellung zu ihrem Tanz. Oft waren schlafende Kleinkinder auf ihren Rücken gebunden, sodass die schwarzen Köpfchen auf den bunten Festkleidern im Takt dahinschwankten. Es lag viel Sandstaub in der Luft, und die Musikanten waren schweißbedeckt. Wir Tanzenden konnten von jeder Stelle im Bereich des dörflichen Rund tanzes aus einem Gegenüber einen Begegnungswunsch signalisieren. War das Gegenüber mit diesem Wunsch einverstanden, genügte ein Zeichen, wir tanzten in die Mitte. Einer überreichte als Zeichen des Austauschs das, was er in der Hand führte, bei manchen war es eine Flinte, bei den Hochbetagten oft ein Gehstock. Dann wurde eine Runde getanzt und die geliehenen Gegenstände kamen durch die erneute Begegnung in der Mitte der Tanzrunde wieder an die Besitzer zurück. In der Leihgabe des Austauschs lag der Ausdruck von Freundschaft und Kooperationswilligkeit : Weisheit im Einander-Gegenübertreten wurde durch den Tanz der Begegnung und den Klang der dörflichen Musik herausgehoben. Weisheit als unruhiger Geist muss ihren Weg immer neu finden. Sie sollte, wenn und wann irgend möglich, dabei auch den Weg von Mensch zu Mensch über die Zuneigung, über das Herz, suchen. Bei meinem Gang zur Mitte hatte ich mir den Dorfältesten N’djé Boaré ausgesucht. N’djé war für unsere Forschungsgruppe der formell verantwortliche Gastgeber. Er war sehr schwerhörig, man musste sich mehr mit Gesten als mit Worten mit ihm verständigen. Wie die Mehrzahl der alten Männer des Dorfes hatte er nicht nur die Lepra, sondern auch die Syphilis überstanden, wie die von uns durchgeführten Blutuntersuchungen zeigten. Die nach einer früh ausgeheilten Lepra verkrüppelten Hände fühlten sich an wie verkleinerte, in ihrer Ballung nie mehr auflösbare Fäuste. Sein Bruder 49
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Tiefing wurde dadurch zum Stellvertreter des Gastgebers und zum Brückenbauer des Verstehens. Ich war innerlich sehr berührt, als ich beim Dorftanz auf N’djé Boaré zuging, seinen Stock entgegennahm und ihm den meinen für die nächste Runde überließ. Anschließend gab ich ihm seinen Stock zurück und holte den meinen. Er tat sich schwer beim Tanz, aber er hielt sich aufrecht, nach allen im Leben davongetragenen schweren gesundheitlichen Schäden tanzte er darüber hinweg. Durch den seinerzeitigen Austausch der Stöcke, den Gehilfen im Alter, bleiben wir verbunden. Das ist mehr als Erinnerung, es ist geteiltes Leben im Aufstieg zu einer Gemeinsamkeit in den verfliegenden Augenblicken des Lebens. Nicht um den Rahmen des »Einstmals« soll es bei der Weisheit gehen, sondern um das Reisen zu einer Schautafel des Erinnerns an Gemeinsamkeit. Das Erleben des afrikanischen Dorfes, das Miterleben der Gemeinsamkeit, hat mich dies gelehrt. Ich kann es nicht vergessen. Der alte Mann N’djé Boaré war mein Lehrmeister. Ich danke ihm mit dem Gedächtnis an den gemeinsamen Dorftanz.
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ie Weisheiten der »alten Griechen« sind ein faszinierendes und unerschöpfliches Thema, das lernte ich schon in der Schule. Mein Volksschullehrer drängte darauf, dass ich, der Zehnjährige, am besten durch den Besuch eines Gymnasiums gefördert werden könne. Ich war zwar nicht sehr schnell im Rechnen, konnte aber gute Aufsätze schreiben und selbst erfundene Geschichten vor der versammelten Klasse frei erzählen. Jeden Tag eine neue. So bestand ich die Aufnahmeprüfung ans Elisabeth-Gymnasium in der Rainergasse im 5. Wiener Gemeindebezirk, auf das ich heute noch dankbar über den flutenden Straßenverkehr der Wiedner Hauptstraße hinüberblicke, wenn ich aus dem Fenster meines Arbeitszimmers schaue. Ich ahnte damals im Jahr 1935 allerdings nicht, dass mich die Stufen vom Gehsteig hinein in das Gymnasium einmal bis zur Tempellandschaft der Akropolis in Athen und zur Wohnhöhle des weisen Heraklit von Ephesos an der ionischen Küste und damit in die griechische Kultur um 500 v. Chr. führen würden. Es gab als Einführung drei Jahre Latein, das mich durch seine strikt geordnete Grammatik herausforderte, und dann als Wahlmöglichkeit die noch fremdere Sprache, Griechisch, deren Erlernen aber mit der Vergegenwärtigung einer eindrucksvollen Welt einhergehen konnte. Ich betrat diese Welt durch meine Wahl des Griechischen. Diese Welt schien von Sagen, Mythen und Abenteuern begleitet, wie sie bei mir zu Hause in der Familie nie erzählt wurden. Meine Eltern bezogen im nüchternen Gottesdienst in der Kirche am Keplerplatz im 10. Bezirk ihre einzige Belebung durch die heiligen Wunder und die Hoffnung auf Errettung durch den Erlösungsprozess göttlicher Art. Es gab noch die Freuden der Natur und der Obstbäume im Schrebergarten, droben auf dem Wiener Laaerberg.
Erkenntnis der Wandelbarkeit von Mensch und Schicksal ist ein Element der Weisheitsfindung. Dazu schrieb Heraklit um 500 v. Chr.: »In dieselben Flüsse steigen wir und steigen wir nicht. Wir sind es und wir sind es nicht« (Frgm. 95) und »Der Seele Grenzen wird der Mensch nicht ausfindig machen« (Frgm. 97).
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Durch den mir nun eröffneten Zugang zum Griechentum war auf einmal alles anders. Da gab es Modelle und aufregende Alternativen für Handlungen, Helden und Rettungswege, man musste sie nur lesen oder zuhören, wenn von ihnen berichtet wurde. Eine Geschichte, die mir damals besonders gefiel, wird in der »Odyssee« berichtet, dem Sagenkranz von der wunderbaren, wenn auch lebensgefährlichen Abenteuerreise und Heimkehr des Odysseus und seiner Gefährten von Troja nach Ithaka. Ohne zu wissen, dass auf einer Insel die einäugigen menschenfressenden Riesen, unter ihrem Herrscher Polyphem, auf Beute warten, legt die Mannschaft des Odysseus dort an. Einige der Gefährten werden umgebracht und gefressen, Odysseus bindet die heil Gebliebenen unter den Bäuchen von Schafen fest, sodass sie aus der Höhle des Polyphem entfliehen können, und blendet das einzige Auge des mörderischen Riesen, damit er die Flucht und die seiner Gefährten über das Meer nicht behindern kann. In einer zweiten Geschichte wird im 12. Gesang der »Odyssee« von einer Gefährdung durch Sirenen berichtet. Wesen mit Vogelkörpern und Mädchengesichtern locken die Menschen durch ihren verführerischen Gesang an, um sie zu töten. Wenn man mit seinem Schiff rasch vorbeizieht und ihnen kein Gehör schenkt, ist man gerettet. So lässt Odysseus seinen Gefährten die Ohren mit Wachs verstopfen, damit sie die Verführungsgesänge nicht hören können, und sich selbst lässt er mit Händen und Füßen am Mast anbinden. »Aufrecht stand ich am Mast – und sie verknoteten dort noch die Enden meiner Fessel«, sagt der Held der Heimkehr (Odyssee, 12. Gesang, Verse 178– 179). »Sollt’ ich Euch bitten oder befehlen, mich zu befreien, so sollt ihr noch stärker mich fesseln« (Verse 163–164). In der »Odyssee« hatte sich mir Weisheit als geplante Vorsorge für die Selbstbeherrschung gezeigt. So konnte ich sie schon als Jugendlicher, auch an vielen anderen in der griechischen Sagenwelt gezeigten Beispielen, eindrucksvoll erkennen. Auf fast jeder der unzähligen Inseln Griechenlands hatte sich ein Fürst oder eine Herrscherin wie die Kirke, die zugleich auch eine Zauberin bzw. Verzauberin der Menschen in Tiere war, niedergelassen, das lernte ich schon in der Schule. Man musste gegen solche Kräfte auf der Hut sein. Ich konnte schon als Volksschüler, wenn sich der Klassenlehrer, seiner Gewohnheit (und wie mir später klar wurde) und seiner politischen Einstellung folgend, zum Direktor in dessen Kanzlei begab, die Klasse durch eine selbsterfundene Geschichte zur Teilnahme und Aufmerksamkeit in 54
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der Schulstunde bewegen. Das war für mich ein großer Erfolg, und ich war glücklich, dass mir immer etwas Neues einfiel, was die Mitschüler mit Vergnügen hörten. Ich erfand auch eine Sagenfigur und ließ sie immer neue Abenteuer erleben. So reifte in mir der Entschluss, als ich 1943 als 18-Jähriger wehrpflichtig wurde, mich zur Dolmetscherkompanie zu melden. Ich wollte einen Einsatz in Griechenland erreichen. Die Mythen hatten für mich immer noch eine große Anziehungskraft. Dort würde ich sie in ihrer Vielfalt kennenlernen. Ich hatte Prüfungen in Englisch und Französisch zu absolvieren und eine begehrte dritte Sprache zu präsentieren. Dazu studierte ich im Eilzugstempo Neugriechisch. So gelang es mir im August 1943, als die Deutsche Wehrmacht durch die verlorene Schlacht von Stalingrad im Osten sich längst auf dem Rückzug befand, nicht irgendwohin verschickt, sondern als Griechischdolmetscher eingezogen zu werden. Ich wurde in einer Warteposition in Wien als Soldat und Übersetzer von Texten aus dem Neugriechischen beschäftigt, bis ich schließlich als »Griechenlandliebhaber« zu Beginn 1944 nach Athen abkommandiert wurde (Rosenmayr, Im Krieg auf dem Balkan, Erinnerungen eines Soldaten an den Zweiten Weltkrieg, Wien 2012). Da trafen nun die Sehnsucht nach einem persönlichen Erleben der faszinierenden griechischen Kultur der Antike und die Realität des Krieges in einem besetzten Land aufeinander. Zu welcher Weisheit konnte ich kommen ? Es blieb mir als Feind und Besatzer nicht viel Zeit, mich mit den Plätzen und Figuren meiner Schwärmereien aus meiner Wiener Gymnasialzeit zu beschäftigen. Ich war zu einem soldatischen Pflichterfüller geworden. Ich wurde vom Bahnhof in Athen zum Divisionskommando nach Chalandri gebracht, wo entschieden wurde, welcher Einheit ich zugeteilt werden sollte. Ich wartete in einem prächtigen Garten. Da saß eine Gruppe von Feldwebeln in Tropenuniformen beim Kartenspiel. Sie würdigten mich keines Blickes. Ich selber nahm zum ersten Mal die Akropolis in den Blick. Sie lag klar und hochragend vor Augen, als würde von dort der Befehl für mich direkt von der weisen Göttin Athene ausgehen. Schließlich kam das Militärfahrzeug, das mich an die Küste zum Regimentskommando in dem Ort Megalo Pefko bringen sollte. Ich kehrte von dort nie wieder in die Griechenlandträume meiner Schulzeit zurück. Es herrschte Krieg, und es gab Kämpfe und blutige Auseinandersetzungen mit den Partisanen in vielfacher Form. Es gab für mich keine Idealisierung Griechenlands mehr. 55
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Ich glaubte, aus dem Schrecken des Krieges gerettet, später eines eingesehen zu haben : Für die Weisheit ist eine Art »Suchhilfe« nötig. Man muss, wie Sokrates gefordert hatte, sein eigenes Daimonion, eine Kraft, die engstens als Leitstern mit seinem Überleben verbunden ist, aus sich selbst heraus entwickeln. Das Daimonion, so glaube ich heute zu verstehen, führte mich dazu, bei meinem Philosophiestudium unmittelbar in der Nachkriegszeit an der Universität Wien bei jenen Philosophen Halt zu machen, die eine Form persönlicher Suchvorgänge empfohlen hatten. Dabei fand ich zwei, die ich als Ratgeber und Wegbegleiter besonders geeignet fand. Es waren dies einerseits Pindar (521– 433 v. Chr.) und anderseits Heraklit (535–475 v. Chr.). Ich beschloss, mich mit der Umsetzung ihrer Gedanken in die Nachkriegswelt und in die Welt eines ehemaligen Soldaten des Zweiten Weltkriegs zu beschäftigen. An dieser Stelle möchte ich die Gedanken Pindars und Heraklits darstellen, denn ich glaube, dass sie auch für die Jahre nach der Jahrtausendwende Gültigkeit besitzen. Pindar ist da in der Zeit um 500 v. Chr. ein besonderes Beispiel für einen genialen philosophisch-poetischen Kommentator : »Schnell wächst bei den Menschen die Freude, ebenso schnell fällt sie auch zu Boden, wenn sie durch ein verfehltes Denken um ihren Grund gebracht wird« (VIII. »Pythische Ode«). So schrieb er am Schluss der Lobpreisung eines Siegers. Pindar, Zeuge der Wettkämpfe, vermochte Sieg und Niederlage bei Gewinnern und Verlierern zu erklären. Tief betroffen vom Geschick der Individualität, einmal Sieger, das andere Mal Verlierer zu sein, formulierte er : »Eintagswesen, was ist einer ? Was ist einer nicht ? Eines Schattens Traum ist der Mensch !« Pindar, aus der VIII. »Pythischen Ode«
Für die Sieger bei den sozial wichtigen Wettkämpfen der Athleten schrieb er philosophische Merksätze. So prägte er auch den Satz : »Komm zur Kenntnis, von welcher Art du bist.« Man kann daraus die Haltung folgern : Wenn du dich nicht selbst erkennst, kannst du auch niemals aus dir heraus ein Netzwerk von Weisheit entwickeln. Ohne Selbsterkenntnis fehlt dir die Fähigkeit, dich der Weisheit zu widmen. Nur auf dem Weg zu dir selbst kannst du immer wieder Versuche unternehmen, die zu Weisheit führen. 56
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»Denn über die, die keinen Versuch unternehmen, gibt es nur Vergessen und Schweigen.« Pindar, aus der IV. »Pythische Ode«
Der Dichter Pindar war jener, der die Besonderheit des Einzelnen aus den Wettkampfsituationen heraus verstand. Wettkämpfe dienten individueller Aufwertung. Wir verdanken es Pindar, dass er die kulturelle Aufmerksamkeit auf die Selbsterkenntnis des Menschen lenkte. Weisheit war für ihn ein geformtes Einsetzen seiner Mittel im Einklang mit sich selbst. Der Einklang mit sich selbst forderte auch einen Sieg über sich selbst. Ein solcher Sieg setzt Selbsteinsicht und Selbsteinsatz voraus. Das hatte Pindar durch die jahrzehntelange Befassung mit den Athleten verschiedener Sparten erkannt, sodass er Selbsteinsicht als Kampfergebnis verstehen konnte. Die Weisheit der Göttin Athene lag demgegenüber in der Friedensstiftung, im Akt des Verzeihens und der Versöhnung. Als solche ging sie in die Kulturgeschichte Europas ein. Das europäische Konzept der sozial und kulturell wirksamen Weisheit lag in der Entfaltung von Wohlwollen und im Stiften von Frieden. Zum Thema Selbsterkenntnis als Element der Weisheitsfindung führt uns um 500 v. Chr. besonders auch Heraklit aus der ionischen Hafenstadt Ephesos. Heraklit lebte in der wirtschaftlich und kulturell durch den gigantischen Tempel bestimmten Stadt. Ephesos war schon vor der Mitte des ersten vorchristlichen Jahrtausends ein berühmtes und viel beachtetes Wirtschaftszentrum. Zur Selbsterkenntnis sprach der im turbulenten Ephesos, allerdings selber abgeschieden lebende Heraklit im Dialog mit Menschen Weisheiten aus, zum Beispiel, dass wir als Menschen im Wandel, in der Veränderung stehen. Selbst-Verständnis erfordert eigene Veränderungsbereitschaft und unser Verständnis der Selbstveränderung. Die kleinen menschlichen Kräfte können Unmögliches bewirken, wenn diese Kräfte mit dem längeren Weg der Übung multipliziert werden, so interpretierte das Peter Sloterdijk (Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, Berlin, 2014 S. 362). Er stützte den Gedanken durch dessen Verbindung mit Augustinus : »Geh’ nicht mehr nach draußen, kehre in dich selber zurück, im inneren Menschen wohnt die Wahrheit«. Ich nehme den antiken Veränderungsgedanken Heraklits in das Zentrum des europäischen Weisheitsbegriffes auf. Heraklit sah den Menschen, der im Moment des Hineinsteigens in den Fluss sein Erscheinen hat, es aber im nächsten Moment auch wieder verliert und in anderer Form wiederzugewinnen vermag. 57
Weisheit als Orientierungskraft in Geschichte und Gegenwart
»Wer in denselben Fluß steigt, dem fließt anderes und wieder anderes Wasser zu.« Heraklit, Fragment 12 »Wir steigen in denselben Fluss und doch nicht in denselben : Wir sind es, und wir sind es nicht.« Heraklit, Fragment 49a
Wir sind heute nicht dieselben Menschen, die wir gestern waren. Diese Einsicht muss, Heraklit folgend, in die Bemühung um Selbsterkenntnis einbezogen werden. Wandelbarkeit gehört zu uns. Wir können uns ihr nicht entziehen, aber wir können die Wandelbarkeit bei entsprechender Fähigkeit selbst gestalten und für die Entwicklung von Weisheit einsetzen. Dazu gehört auch das Erlernen des Abschiednehmens von früheren Denk- und Handelnsweisen als eine Voraussetzung für Weisheit. Wenn wir uns mit Heraklit befassen, stoßen wir auch auf die Frage des Verhältnisses zwischen Wissenschaft und Weisheit. Wie verhält sich Wissenschaft zur Weisheit ? Die Multidisziplinarität, in unserer heutigen Sprache ausgedrückt, darf niemals in Vielwisserei ausarten, so Heraklit. Letztere führe nicht zur Weisheit. Das Weise sei etwas von allem anderen »Abgesonderte«, sagte Heraklit. Offen blieb, was er unter dem »Abgesonderten« verstand. Er warnte uns nur vor Vermischungen. Weisheit ist eine eigene Kategorie des Denkens und Handelns, aber keinesfalls ein Amalgam von Kenntnissen. Vielleicht können wir in der »Absonderung« eine Art von Zurückgezogenheit sehen, welche in der indischen Kultur die Voraussetzung für Meditation war. Das Anhäufen von Wissen macht uns nicht weise, so dachte Heraklit. Soviel wir an Wissen und Wissenschaft in unserer Zeit auch anzuhäufen und dabei aufzufassen vermögen, daraus entsteht nicht Weisheit, können wir auch heute sagen. Bestenfalls mögen Voraussetzungen für sie entstehen. Wir müssen immer auswählen, was für unser individuelles und soziales Denken wie auch für unser Verhalten zur Gewinnung von Weisheit wertvoll und erreichbar ist. 58
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Von Heraklit sind Sätze überliefert, die seinen Anspruch, dass das Weise »etwas von allem Getrenntes « sei, besser verstehen lassen. Es sind die Fragmente 42 und 44. »Das eine Weise, das einzig und allein ist, ist nicht bereit und doch wieder bereit, mit dem Namen Zeus genannt zu werden« (Fragment 44). Das zeigt die bei den Griechen nie überwundene Ambivalenz zwischen philosophischen Konstruktionen einerseits und dem Mythos andererseits. Die Juden waren imstande, die Weisheit in Jahwe, in die Gottheit einzugliedern, ja sie immer wieder in einer Gefolgschaft von Jahwe auftreten zu lassen. Das kam von der emotionalen (durch den Glauben begründeten) inneren Verbundenheit mit Jahwe. Das war ein vom griechischen Zeus – und dem Verhältnis der Menschen zu ihm – völlig verschiedenes Gottesbild. So empfinden oder denken wir auch den letzten hier noch zu zitierenden Satz Heraklits : »Es gibt nur eine Weisheit : ein vertrautes Verhältnis zu der Einsicht, nach der überall alles gelenkt wird« (Fragment 42). Das gemahnt an die in Indien bereits zwischen 800 und 200 v. Chr. entstandenen Upanishaden, die den Menschen nicht zur Schriftgelehrsamkeit, sondern an das »Ziel seiner irdischen Reise« bringen sollen. Das Selbst muss sich hierzu sammeln und das gilt es zu lernen. In diesen philosophischen Schriften des Hinduismus heißt es, sich dem eigenen Atman als führender Kraft auf dem Weg zum allumfassenden Gott Brahma anzuvertrauen. Das war in den Upanishaden der Einblick in die umfassenden Kräfte, wie auch Heraklit sie in der griechischen Metropole Ephesos sah. Von Heraklit lässt sich lernen, dass es wichtig ist, das Naheliegende zu tun. Dafür ist es allen Menschen gegeben, sich selbst zu erkennen und vernünftig zu sein. So müssen wir uns auch dem Alltag stellen. Es gibt immer Unvorhergesehenes im täglichen Leben. Besucher, die den berühmten Mann Heraklit in Ephesos sehen wollten, standen in der dicht bebauten Stadt vor seiner Wohnhöhle, wie deren viele in Ephesos in den Abhang gebaut waren. Auch hier bei mir könnt ihr sehen, deutete Heraklit den Besuchern an, wie ich meinen Alltag mit Hilfe der Götter bewältige : »Auch hier wohnen Götter !«, rief er den Besuchern zu, die am Eingang zu seiner Höhle stehen blieben. Archäologen und Historiker der Österreichischen Akademie der Wissenschaften haben seit dem 19. Jahrhundert viel dazu beigetragen, alte Bausubstanz in Ephesos zu erhalten, vor dem Verfall zu retten. Als Akademie-Mitglied von einem Monument zum anderen und zu den Hanghäusern und deren 59
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hervorragend restaurierten Ausstattung und Ausschmückung für die ehemalige antike städtische Oberschicht geleitet, konnte ich antike Urbanität, in der Heraklit Heimat gefunden hatte, verstehen lernen. Weisheit ist nicht nur Zuwendung zu bedeutenden Handlungen und daraus gewonnenen Einsichten, sondern auch Hinwendung zu den Lebensproblemen des Alltags, um sie zu lösen. Weisheit, und das lässt sich aus den Worten Heraklits ableiten, liegt auch in der Fähigkeit, sich dem Alltag zu stellen, Unvorhergesehenes in diesem Alltag zu bewältigen, regelmäßig Notwendiges wahrzunehmen und danach das eigene Leben zu ordnen und zu gestalten.
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Gemäldeausschnitt »Adam und Eva. Die Vertreibung aus dem Paradies« von Hieronymus Bosch (1450-1516). Der Mensch hat die ihm verbotene Frucht gegessen und damit die Gott vorbehaltene Unterscheidungsfähigkeit von Gut und Böse gewonnen. Er muss zwar das Paradies verlassen und wird sterblich. Trotzdem kann er weiterhin auf Jahwes Hilfe zählen, wenn er sich ihm vertrauensvoll zuwendet.
6 Bald nach seiner Erschaffung lernt der Mensch, Gut und Böse voneinander zu unterscheiden
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m die Weisheitsentwicklung in Europa zu verstehen, muss man tief in die jüdische Tradition zurückblicken : Die aus der Schöpfungsgeschichte des Alten Testaments weitgehend bekannte sprechende Schlange (Genesis 3,4) sagte zu Eva, dass ihr, Eva, und ihrem Gefährten Adam nach dem Genuss der von Gott ausdrücklich verbotenen Frucht »die Augen aufgehen«, sie also zu einem besonderen Wissensgewinn kommen würden. Sie und Adam würden durch den Genuss der Frucht wie Gott »Gut und Böse« unterscheiden können. Da glaubte die Frau, dass es köstlich wäre, von dem Baum zu essen, dass er eine Augenweide sei und seine Früchte dazu verlocken, unterscheidungsfähig und so auch »klug« zu werden. Von Weisheit allerdings war nicht die Rede. Um der Klugheit Willen kam es dazu, dass schließlich beide, Eva wie Adam, durch die Überredung von Seiten der Schlange von den Früchten des Baums der Erkenntnis aßen. Sie wurden dadurch auch klug und sogar bis zu einem gewissen Grad »wie Gott«. Gott bestätigte das auch später : »Seht, der Mensch ist geworden wie wir : er erkennt Gut und Böse« (Genesis 3,22). Als den mit einer wichtigen Erkenntnis ausgestatteten Gegenspieler vertrieb Gott nun den Menschen aus dem Garten Eden, aus dem von ihm geschaffenen Paradies. Er stellte Wächter auf, Kerubim samt einem flammenden Schwert, um den Menschen den Weg zum anderen Baum, nämlich dem des uneingeschränkten Lebens, zu versperren. Der Mensch sollte von dem Genuss von den Früchten des Lebensbaums und damit der Unsterblichkeit seines menschlichen Lebens ausgeschlossen bleiben (Genesis 3,24). So dramatisch verlief die Schöpfungsgeschichte des Menschen. Den zweiten Verzehr von besonderen Früchten, diesmal vom Baum des Lebens, konnte der Mensch sich nicht mehr ermöglichen. Da war er schon aus dem Paradies ausgeschieden und die Unsterblichkeit blieb ein Traum. Wenn man sich mit Wissen und Weisheit befasst, kann man aus der Erzählung über die Vertreibung des Menschen aus dem Paradies wegen des Gewinns der Unterscheidung von Gut und Böse, und damit der Bestätigung des gott ähnlichen Wissens, beträchtliche Folgerungen ziehen : 63
Weisheit als Orientierungskraft in Geschichte und Gegenwart
Der Mensch hatte sich in seiner Erkenntniskompetenz durch das Essen der verbotenen Frucht Gott angenähert. Die neu entstandene Grundbefähigung des Menschen als eines Erkenntnisträgers war geschaffen. Die Fähigkeit, Gut und Böse zu erkennen, muss man sich in seiner ganzen Bedeutung für den neu geschaffenen Menschen und seine spätere Weisheitsfähigkeit vergegenwärtigen. Als nunmehr Sterblicher wurde der Mensch von Gott aus dem Paradies verbannt. Paradoxerweise gewann er zwar eine gewisse Gottähnlichkeit durch Urteilsfähigkeit über Gut und Böse, verlor aber gleichzeitig durch sein Sterblichwerden die Nähe zu Gott. Und Gott wollte dies durch die Aussperrung aus dem Paradies ganz deutlich machen. Der Mensch war in einer ersten Stufe durch die Unterscheidungsfähigkeit von Gut und Böse erkenntnisfähig geworden. Aber er wurde durch seine Verbotsübertretung zur Sterblichkeit verurteilt. So bedurfte es neuer Hilfen, um sich trotz der Sterblichkeit in seinem Leben weiterzuentwickeln. Weisheit, folgt man der Bibel und ihrer Auslegung durch massive und geordnete Glaubensstrukturen Jahrhunderte später, entsteht nicht in der Phase der Genesis, sondern später, nämlich aus dem Grundverhältnis des Vertrauens heraus. Geschaffen wurde dieses Vertrauen durch die Grundfigur einer opferbereiten Zuwendung zu Gott. Welches Beispiel lässt sich hierfür nennen ? Abraham stellte Jahwe die rituelle Tötung seines spätgeborenen, einzigen und geliebten rechtmäßigen Sohnes Isaak in Aussicht. Abraham hatte ja das Messer mitgenommen, um Isaak als Kindesopfer zu Ehren Jahwes in der Bergeinsamkeit abzuschlachten. Kinderopfer hatten in dieser frühen Geschichte der Menschheit in verschiedenen Kulturen besonderen Wert. Ich habe selber im Orient, im Museum von Damaskus, die in Babylon und seinem Einflussbereich als »Moloche« verwendeten aufheizbaren Opferbehälter sehen können, in welche die Erstgeborenen geworfen wurden, um darin zu verglühen. Auch in Westafrika, bei den Dogon in Mali, zeigte man mir auf den Klippen der »Falaise de Bandiagara« jene Stellen, an denen Erstgeborene in früherer Zeit immer wieder im Ritus als Opfer in den Abgrund geworfen wurden. Im Falle des Abraham-Sohnes Isaak verhinderte ein Engel als Sendbote Jahwes das Lebensopfer dieses Kindes. Anstelle des Sohnes wurde ein Widder geschlachtet, der sich im Gestrüpp in unmittelbarer Nähe verfangen hatte (Genesis 22,13). Jahwe würdigte das volle Vertrauen Abrahams in ihn, seinen Gott. Damit waren für die Ausbreitung des Vertrauensglaubens in Judentum und später im Christentum wichtige Grundlagen gelegt. 64
Bald nach seiner Erschaffung lernt der Mensch, Gut und Böse voneinander zu unterscheiden
Befasst man sich mit der Religions- und Verkündigungsgeschichte des Alten Testaments, so ergibt sich vor allem eines : Man kann als der aus dem Paradies vertriebene Mensch erkennen, dass man trotz der Distanzierung von Jahwe vom Menschen bei ihm auf Hilfe zählen kann, wenn man sich ihm vertrauensvoll zuwendet (Ps. 25,9). Es gibt im Judentum durch das Vertrauen eine tiefe Verbindung zwischen der zunehmenden Kenntnis und Verehrung Jahwes einerseits und einem wachsenden Verlangen und Suchen nach Weisheit anderseits. In gewisser Weise mag diese jüdische Weisheitssuche eine von Gott gewährte Möglichkeit sein, die Vertreibung aus dem Paradies zu kompensieren. Der Mensch erhält trotz dieser Vertreibung die Möglichkeit zur Weisheit. Kann er sie im Leben, das ihm ja als endliches gewährt bleibt, umfassend erreichen ? Keine andere Religion hat jemals zwischen dem Glauben an einen allmächtigen Gott und der Anerkennung der Weisheit und ihrer Gestaltungskraft im menschlichen Leben so enge Bande entstehen lassen wie das Judentum. Zwar brachte schon das alte Ägypten bedeutende Weisheitslehren und Göttergestalten der Weisheit hervor. Aber für das Judentum war das Sich-Durchkämpfen für die Wegfindung in Jahrhunderten von immer wieder drohendem und realem Herrschaftsverlust und Gefangenschaft nach der zweimaligen Eroberung Jerusalems Ende des 6. Jahrhunderts entscheidend. »Gottesfurcht ist Anfang der Erkenntnis, nur Toren verachten Weisheit und Zucht« (Sprichwörter 1,7). Die Krone der Weisheit ist ihre Klugheit, predigte man im Judentum den Menschen für ihren Alltag. Weisheit hilft dabei, sich immer wieder retten zu können, sie ermöglicht es den religiösen und politischen Eliten, sich zum auf bauenden Leben und zur sozialen Wegfindung immer wieder neu zu entscheiden. »Ich, die Weisheit, verweile bei der Klugheit. Ich entdecke Erkenntnis und guten Rat« (Sprichwörter 8,12). Ich wirke also ins Leben, in den Alltag hinein, verspricht die Weisheit. Sie scheut sich nicht vor Lösungen im Detail und wirkt auch im scheinbar Trivialen. Wichtig erscheint da im Lebenskampf des Judentums auch : »Weisheit übertrifft die Perlen an Wert. Keine kostbaren Steine kommen der Weisheit gleich« (Sprichwörter 8,11). Weisheit kommt im Judentum aus der Gefährtenschaft mit Jahwe, der ja die Personifikation des Weltgrunds darstellt bzw. sich so erkennen lässt. Von Jahwe, der Weisheit als Hilfe für den Menschen gewährt, erwartet sich der Gläubige Rettung. Bei den alten Ägyptern gab es diese Zentrierung nicht, trotz des Weisheitsgottes Toth. Weisheit war in Ägypten eine Flankierung, 65
Weisheit als Orientierungskraft in Geschichte und Gegenwart
aber keine zentrale Lebensmacht. Zentral war die Verehrung der jeweiligen Gottheit und der Gabe von Opfern in ihren Tempeln. Im Judentum gab es neben Jahwe keinen Weisheitsgott, aber die für den einzelnen Menschen durch seine Mühe und durch die Gunst Jahwes zugängliche Lebensordnung durch Weisheit. Vom Islam wird Allah, wie aus den Suren des Koran hervorgeht, immer wieder Weisheit, aber nur im Sinne einer Reihe anderer Zuschreibungen an ihn, den einzigen Gott, bei Anrufungen zuerkannt. Aber es gibt keine Beispiele eines durch diese Gottesweisheit geschaffenen Eingriffes in das Leben der Gläubigen. Der Islam kennt keine Gestaltwerdung der Weisheit als Macht im Gebet oder bei der Handlung des Gläubigen. Darin liegt ein fundamentaler Unterschied des Islam zum Judentum.
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7 Die Weisheit des Glaubens »übertrifft die Perlen an Wert«
E
he ich mich der Prägung des Menschen in Europa durch das Christentum zuwende, muss ich mich nochmals mit dem Judentum befassen, und dies besonders im Hinblick auf das Thema Weisheit durch ihre schriftliche kulturelle Anerkennung im Rahmen der Religion. Es muss historisch noch besser erforscht werden, warum sich im Judentum eine solche intensive Verbindung zwischen der geradezu stürmischen Bewegung des Glaubens nach der Rückkehr aus dem Exil der geistig Führenden 538 v. Chr. und der Gewinnung von Weisheit herausbildete. Es gibt nicht nur ein »Buch der Weisheit« im Alten Testament, sondern auch Weisheitsaussagen in hervorragenden Sammlungen dieses Alten Testaments in den kleineren seiner Bücher. Weisheit spielt besonders im Buch der »Sprichwörter«, in dem Traktat »Jesus Sirach« im Buch »Kohelet« und auch im Buch »Hiob« eine bedeutende Rolle. Die Suche nach Weisheit drang ein in die großen Orientierungen des jüdischen Glaubens, ja wurde geradezu ein Teil dieses Glaubens. Wie entwickelt sich Weisheit im Reich eines unsichtbaren Gottes, neben dem es keine anderen Götter geben soll ? Im Paradies, das die Menschen ja verlassen mussten, konnten sie nach der Genesis 3,7 Jahwe einmal hören, als er im Abendwind einherwandelte. Nur Moses glückte später am Sinai eine Begegnung mit Gott, da er die zehn Gebote von Jahwe vermittelt bekam. Dieser jüdische seit seiner Begründung Glaube an einen Gott gab und gibt die Möglichkeit, sich der Geheimnisse der Weisheit zu nähern. Im »Buch der Weisheit« wird sie als die angesprochen, die an Jahwes Seite, thront (9,4) und die zugegen war, als er die Welt erschuf (9,9). Die Anerkennung der Weisheit in Verbindung mit dem Glauben war für die jüdische Mystik bis in die Kabbala der europäischen Neuzeit und schließlich in den Chassidismus im Osten Europas des 19. und frühen 20. Jahrhunderts bedeutsam. Die russische Ikone zeigt Matthäus bei der Abfassung seines Evangeliums. Ein Engel steht ihm bei. Matthäus wird zu einer Verkündigung inspiriert : »Die Weisheit des Glaubens übertrifft die Perlen an Wert« (Aus den Buch der »Sprichwörter« des Alten Testaments 8,11).
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Weisheit als Orientierungskraft in Geschichte und Gegenwart
Chagall malte, was der Philosoph Gershom Scholem (1897–1982) beschrieb : »Die ganzen Geheimnisse der Gottheit und ihre unendlichen Einhüllungen und Verkleidungen und Welten, all das bekommt eine ganz neue Färbung« (Die jüdische Mystik, 2013, S. 373). Das geschah dadurch, dass die hellenistische Kultur großen Einfluss auf das intellektuelle und schöpferische Judentum gewann. Zu dieser Zeit hatte man sich von der Verbannung, der Zeit des Exils in Babylon, in Jerusalem schon erholt. Die »Intellektuellen«, die im 6. Jahrhundert von Babylon nach Jerusalem heimgekehrt waren, begannen wieder geistig und religiös nach ihrer Weise zu leben und ihre Verkündigung neu aufzubauen. Was war ihre Botschaft ? »Die Weisheit ist beweglicher als alle Bewegung. Sie ist ein Hauch der Kraft Gottes« (Buch der Weisheit 7, 24,25). Diese Sätze drücken eine neue und erneuerbare Konzeption von Weisheit aus. Sie entsprechen dem Neubau des Tempels in Jerusalem. Aus dieser Erneuerung und dem erwähnten Einbau der hellenistischen Philosophie in das jüdische Denken, entstanden im Judentum Grundkonzepte für das menschliche Gesamtleben und seine Überzeugungen. Sie gehören zur Dynamik der Entstehung unserer europäischen Kultur, auch wenn sie nicht so in die europäische Bildungsgeschichte integriert wurden wie die Kultur der europäischen Antike. Hier folgt daher ein Überblick über die frühe Fundierung der jüdischen Weisheitslehre. Zentral muss man sehen : »Weisheit ist der Widerschein des ewigen Lichts, der ungetrübte Spiegel von Gottes Kraft, das Bild seiner Vollkommenheit« (Weisheit 7,20). Jüdische Weisheit zu verstehen gelingt am ehesten durch Kenntnis von König Salomos Erfahrungen mit der Weisheit (Buch Weisheit, Kap. 7, 1–8,21). Die »Sprichwörter« sind keine Sammlungen aus der Volkskultur, sondern sind Gelehrtenweisheit, die vielfach aus Kontakten mit altorientalischer und ägyptischer Weisheit entstanden. Das »Buch der Weisheit« aus dem Alten Testament entstand wahrscheinlich in Ägypten. Seit dem 3. vorchristlichen Jahrhundert bildete »Maat« als ägyptische Weltordnung eine aus Weisheit stammende Konzeption. Es findet sich auch im Buch der »Sprichwörter« aus dem Alten Testament (3, 13–20) deutlich ein Lob der Weisheit. Diese enthalten sehr alte, darunter auch aus dem 8. Jahrhundert v. Chr. entstandene, vermutlich aus Ägypten stammende bzw. von dort beeinflusste Texte. »Wohl dem Mann, der Weisheit gefunden, dem Mann, der Einsicht gewonnen hat.
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Die Weisheit des Glaubens »übertrifft die Perlen an Wert«
Denn sie zu erwerben ist besser als Silber, sie zu gewinnen ist besser als Gold. Sie übertrifft die Perlen an Wert, keine kostbaren Steine kommen ihr gleich. Langes Leben birgt sie in ihrer Rechten, in ihrer Linken Reichtum und Ehre. Ihre Wege sind Wege der Freude, all ihre Pfade führen zum Glück. Wer nach ihr greift, dem ist sie ein Lebensbaum, wer sie festhält, ist glücklich zu preisen. Der Herr hat die Erde mit Weisheit gegründet Und mit Einsicht den Himmel befestigt. Durch sein Wissen brechen die tiefen Quellen hervor Und träufeln die Wolken den Tau herab.« Buch der Sprichwörter 3,13–20
Das Buch »Jesus Sirach« wurde zwischen 190 und 175 v. Chr. von einem gelehrten jüdischen Autor verfasst. Der Autor trat mit dem Anspruch einer vieldimensionalen Lebenslehre und dem besonderen Bezug auf die Findung von Weisheit auf. Eine solche Lebenslehre war damals Teil einer bedeutenden spätantiken Bemühung im ganzen Orient. »Wurzel der Weisheit ist die Gottesfurcht, ihre Zweige sind langes Leben.« Jesus Sirach 1,20 »Die Weisheit belehrt ihre Söhne. Sie mahnt eindringlich alle, die auf sie setzen.« Jesus Sirach 4,11 »Wer die Weisheit liebt, liebt das Leben.« Jesus Sirach 4,12 »Frage und forsche, suche und finde. Hast du die Weisheit erfasst, lass sie nicht wieder los.« Jesus Sirach 6,27 »Seine machtvolle Weisheit hat Jahwe fest gegründet.« Jesus Sirach 42,21
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Weisheit als Orientierungskraft in Geschichte und Gegenwart
»Wohl dem Menschen, der nachsinnt über die Weisheit, der sich bemüht um Einsicht, der seinen Sinn richtet auf ihre Wege, und auf ihre Pfade achtet.« Jesus Sirach 14,20–21 »Die Weisheit aller Vorfahren ergründet der Schriftgelehrte. Er bereist das Land fremder Völker, erfährt Gutes und Böses unter den Menschen.« Jesus Sirach 39,1 und 4 »Denen, die sie suchen, ist die Weisheit nahe. Nur wer sich ihr ganz hingibt, findet sie.« Jesus Sirach 51, 20 und 26
Die intime Verbindung zwischen der Urweisheit, dem »Wort« als Logos einerseits, und der Schöpferkraft, dem Schöpfergott Jahwe anderseits, wurde entscheidend für die spätantik-christliche Deutung der Entstehung des Universums. Der »Alttestamentler« und Katholik Fridolin Stier, Professor an der Universität Tübingen (1902–1981), dachte im 20. Jahrhundert vom Judentum aus. So übersetzte er auch den entscheidenden Satz : In principio erat Verbum – im Anfang war das Wort und das Wort war – apud Deum – bei Gott, auf eine neue Weise : »Zuerst war das Wort da, Gott nahe und von Gottes Art. Und Gott war das Wort.« Der Logos, lässt sich folgern, war Struktur und Geheimnis des Universums als die Urweisheit. Zuerst war der Logos. Diese Weltvernunft oder diese Urgründungsidee, die war Gott nahe, und Gott bediente sich, so könnte man sagen, dieses vom Uranfang vorhandenen Urwortes. Es war ein Uranfang, vergleichbar sogar der Lehre der Evolution. Dieses Urentstehen war da, und dieses Urentstehen war Gott nahe und von göttlicher Art. Diese Sätze wurden ca. 70 n. Chr. geschrieben. Sie stammen aus dem Evangelium des Johannes. Damit vergegenwärtigen wir uns das hochgebildete Judentum, das teilweise in Ägypten, teilweise in Palästina lebte. Dieses Judentum hatte sich als große intellektuelle Kraft schon ins Römische Reich integriert. Zuerst war das Wort, Gott nahe und von Gottes Art. Weisheit im Logos oder als Logos steht mit der Schaffung der Welt in einer ganz engen Beziehung. Bei den Ägyptern wurde, so zeigte uns Jan Assmann, die Schöpfung auch als ein Akt der Artikulation gesehen. Ptah schuf die Dinge und auch deren Abbildungen in den Hieroglyphen (Assmann, Ägypten : Eine Sinngeschichte, 2005, S. 389). 72
Die Weisheit des Glaubens »übertrifft die Perlen an Wert«
Diese Schöpfungsgeschichte durch Ptah geht vom Herzen aus und wird durch die Zunge vermittelt. Diese ägyptische Genesis ist deutlich menschenbezogener als die jüdisch-hellenistische des Anfangs des Evangeliums nach Johannes. Das Evangelium des großen Denkers, des Evangelisten Johannes, war folgenreich für die christlichen Kulturentwicklungen in ihren der europäischen Philosophie und Wissenschaft besonders zugänglichen Konzepten. Das wird durch eine bemerkenswerte Stelle der »Sprichwörter« gestützt. Sie lautet : »Als Er die Fundamente der Erde abmaß«, so spricht eine als Kind oder Mädchen dargestellte Weisheit im Buch der »Sprichwörter« des Alten Testaments, »war ich als geliebtes Kind bei ihm.« Die Weisheit wird als ein Mädchen bezeichnet, das auf Gottes Erdenrund spielt. »Und meine Freude war es«, ruft diese Weisheit, »bei den Menschen zu sein« (Sprichwörter 8,22–32). War diese Erzählung zur Weltentstehung eine für das Judentum in der Folge wichtige Alternative zu der uns überlieferten Welt- und Menschenentstehung in dem Buch »Genesis« mit dem Sündenfall ? Dass dieses Kind mit Gott spielt, kann auch als wichtige Weisheitsparabel für unsere Zeit gedeutet werden. Auch auf Deutungen nämlich kommt es an, nicht nur auf Analysen. Die Schöpferkraft Jahwes zeigte sich in den durch seine »Weisheit« geformten Werke, wie der 104. Psalm deutlich zu machen sucht : »Herr, wie zahlreich sind deine Werke ! Mit Weisheit hast du sie alle gemacht« (Ps. 104,24). Weisheit ist ein Weg der Schöpfung. Weisheit liegt schon in der Schöpfung. Aber sie ist und kann auch ein Begleitungsprozess der Menschen zur Schöpfung sein, für die eigene Kreativität. »Wer begreift die reiche Huld des Herrn, wer ist weise und beachtet das alles ?« (Ps. 107,43). Deutungen überbrücken das Schweigen und helfen Menschen, die über Gott lesen und auch sprechen wollen, sich aber fragen, worüber sie überhaupt sprechen. Zugang zu den Geheimnissen Gottes, zu dieser Weisheit der Schöpfung, wird laut den »Sprichwörtern« mit dem Bild von diesem spielenden Kind mitten im Erdenrund offen gehalten. Und diese Geheimnisse wurden dann nach der christlichen Deutung als die Schätze der Weisheit in den Aussagen Christi einbezogen. Es kann auch keinen Glauben, keine Botschaft über einen lebendigen Glauben geben, die nicht mit dem menschlichen Erkennen als Schritte zur Weisheit verbunden wäre. Auch Jesus bediente sich als der bewunderte Rabbi zu seiner Zeit gewisser Weisheitsformen. 73
Weisheit als Orientierungskraft in Geschichte und Gegenwart
Das zeigt die bekannte Geschichte, dass Menschen kommen und eine Ehebrecherin daherschleppen. Sie erklären, Moses habe gesagt, dass eine solche Ehebrecherin gesteinigt werden müsse. Die Menschen stehen herum, wie es ein großartiges Gemälde von Lucas Cranach dem Älteren (1472–1553) zeigt. Die Steine für die Hinrichtung liegen schon bereit. Und da sagen sie zu Jesus : »Du bist ja ein Prophet, was sollen wir denn tun, sollen wir sie leben lassen, die Ehebrecherin, oder sollen wir sie steinigen ?« Und was tut Jesus ? Er tut etwas, was ich in Afrika bei meinen Forschungen bei den Schamanen wiederfand. Jesus bückt sich und schreibt in den Sand. Damit sagt er vorerst – nichts. Er schweigt und besinnt sich, er denkt nach, als Mensch und Prophet muss er ja nach-denklich sein. Und er schreibt in den Sand. Also besinnt er sich vorerst selber, was er in dieser Situation sagen soll. Er gibt sich selbst ein Zeichen wie in einem inneren Dialog und handelt weise, indem er wartet und noch einmal mit Geduld in den Sand schreibt. Geduld ist für die Weisheit eine zentrale Voraussetzung. Und dann erst kommt dieser Satz aus seinem Mund : »Wer unter euch ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein.« Es ist eine Provokation der Tradition, aber gleichzeitig ein Versöhnungsruf. Auf dem Bild von Cranach nimmt Jesus die Ehebrecherin wie beruhigend an der Hand. Versöhnung kam schon von Athene, die Orest vor der Vollziehung des Todesurteils an ihm in Athen rettete. Orest hatte die Mutter getötet, weil sie nach der Heimkehr seines Vaters Agamemnon aus Troja diesen von ihrem Liebhaber Ägyst hatte ermorden lassen. Sie hob den Schuldspruch der Athener Richter gegen Orest auf. Jesus realisierte die Handlung des Versöhnens auf eine noch gesteigerte Weise. Er stellte sich den potenziellen Steinigern entgegen. Und sie gehen alle hinweg, die Ältesten zuerst, so wird berichtet. Diese »Ältesten« hatten selber genug Wissen über den Dreck am Stecken ihres Lebens. So hatten sie sich laut unserem Bericht des Evangeliums als Erste davongemacht. Dieses Beispiel, nämlich den Stein nicht zu werfen, ist ein ganz entscheidendes Moment für die Entwicklung der Weisheit in der europäischen Kultur. Sie ist eine Anmahnung zur Weisheit durch innere Abwägung in der Seele mit Hilfe einer neu gewonnenen Einsicht. Heute haben wir es mit der aus den asiatischen Kulturen Indiens und Chinas vermittelten Meditation als Weg der Findung von Selbsteinsicht zu tun. In gewisser Weise war ja das In-den-Sand-Schreiben ein meditativer Akt des Propheten Jesus : 74
Die Weisheit des Glaubens »übertrifft die Perlen an Wert«
»Denkt doch wenigstens einen Moment darüber nach, was ihr tut !« Das war sein Aufruf. Er meditierte, indem er in den Sand schrieb. Dann kam der Aufruf zugunsten der Weisheit. Die Ehebrecherin ging frei.
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Josef Pillhofer hat mich 1964 bei seiner Portraitzeichnung von mir ermutigt, das Geheimnisvolle an der Weisheit von Meister Eckhart zu studieren. Der große Mystiker des Mittelalters erweist sich durch sein Vertrauen auf das »Seelenfünklein« auch als ein weiser Ratgeber für das 21. Jahrhundert.
8 »Gott liebt den, der in der Weisheit wohnt« : Meister Eckhart um 1300
»Ich habe ihn gerufen und ihn geladen und habe ihn gelockt, habe ihn höher geschätzt als alle Königreiche und als Macht und Herrschaft und als Gold und Silber und als Edelsteine, und ich habe alles, verglichen mit dem Geist der Weisheit, wie ein Nichts angesehen. Es ist ein deutliches Zeichen, dass der Mensch den Geist der Weisheit habe, wenn er alle Dinge als ein reines Nichts ansieht. Wer irgendein Ding als ein Etwas ansieht, in dem ist nicht der Geist der Weisheit. Ich habe ihn gerufen und ihn gelockt und ihn geladen, und der Geist der Weisheit ist in mich gekommen. Wer ihn im Allerinnersten ruft, in den kommt der Geist der Weisheit.« (Aus der Predigt 59, Meister Eckhart Werke Bd I, S. 625)
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iese Worte stammen von Meister Eckhart (1260–1328), geboren bei Gotha in Deutschland. Er war einer der großen selbstbestimmten Denker des hohen Mittelalters. Eckhart war Dominikaner, führender Vertreter dieses Ordens in verschiedenen Rollen, als Provinzial in Sachsen, Professor an verschiedenen Universitäten Europas, so auch in Paris, und ein leidenschaftlicher Prediger. Eckhart war der wortmächtige Verfasser lebensbezogener religiöser und moralischer Schriften. Meister Eckhart war auch mit der Geschichte des europäischen Denkens seit der Antike vertraut, vom Philosophen Plotin (203–270) beeinflusst und ein Verehrer des heiligen Augustinus (354–430). Als Dominikaner und Wanderprediger sprach Eckhart in vielen Klöstern Westeuropas bei Nonnen und Beghinen als mystischer Theologe über die »Geburt Gottes in der Seele«. Unter der Voraussetzung innerer Gelassenheit und der Vorbereitung des Menschen zur Lösung seiner Lebensaufgaben durch ein immerwährendes »Lernen« könne Gott in seiner Unmittelbarkeit in die menschliche Seele eintreten, lehrte Meister Eckhart. Diese Auffassung wurde von manchen Zeitgenossen als Einschränkung der Wirkung der Kirche mit ihren Sakramenten und ihrer Liturgie bestritten. Eckhart wurde so auch der Häresie bezichtigt. Zur eigenen Beurteilung soll hier eine Schrift Eckharts über die weise Gestaltung des menschlichen Alltags zu Worte kommen. In unserem Alltag soll 77
Weisheit als Orientierungskraft in Geschichte und Gegenwart
sich Weisheit entfalten, das war Eckharts Botschaft in verschiedenen seiner Predigten, so auch hier. Seine Theorie des Alltags erreicht uns durch seine eigenwillige Auslegung einer Stelle des Lukas-Evangeliums (Lukas 10,36–42) in seiner Predigt 86 : »Als sie weiterwanderten, kam er (Jesus) in ein Dorf. Eine Frau namens Martha nahm ihn in ihrem Haus als Gast auf. Sie hatte eine Schwester, die Maria gerufen wurde. Die hatte sich dem Herrn zu Füßen gesetzt und hörte sein Wort. Martha aber musste sich schinden mit vielen Diensten. Und sie trat auf und sprach : Herr, kümmert es dich nicht, dass meine Schwester mich allein dienen lässt ? Sag ihr doch, dass sie mit mir zufasst. Der Herr aber hob an und sprach zu ihr : Martha, Martha ! Du sorgst dich und regst dich über vieles auf ; aber man braucht nur eins. Maria hat sich also den guten Teil gewählt, der ihr nicht genommen werden soll« (Lukas, 10,38–42).
Meister Eckhart legt diese Stelle des Evangeliums in einer ganz anderen, überraschenden, geradezu revolutionären Weise aus. Er predigte : Maria saß zu Füßen Jesu und hörte seine Worte. Maria war nach Meinung Eckharts in die Schule spiritueller Ausbildung gekommen und wollte leben lernen. Darum saß sie dort. Leben heißt allerdings auch, so Eckhart, Werke zu vollbringen. »Wirken in der Zeit« ist »ebenso adlig wie irgendwelches Sich-in-Gott-Versenken«. »Drei Dinge sind in unseren Werken unerlässlich. Die sind : dass man wirke ordentlich und einsichtsvoll und besonnen.« »Das aber nenne ich«, so fuhr Meister Eckhart fort, »einsichtsvoll, über das man hinaus zur Zeit nichts Besseres kennt. Und besonnen schließlich nenne ich es, wenn man in guten Werken die lebensvolle Wahrheit mit ihrer beglückenden Gegenwart verspürt. Das bringe sie (diese Gegenwart) nahe zu Gott« (Predigt 86, Bd. 85, S. 221). Das war für viele Zuhörer der Predigt eine überraschende Botschaft des mystischen Denkers und Meisters Eckhart, der im Rahmen seiner Predigt in der Gegenüberstellung der beiden Frauen eine sehr modern anmutende Diagnose stellte : Eckhart sagte in seiner Auslegung der Stelle des Lukas-Evangeliums : »Maria war so erfüllt von Verlangen, sie sehnte sich, ohne zu wissen, wonach.« Maria sei mehr um des wohligen Gefühls als um des geistigen Gewinns willen dagesessen (Predigt 86, S. 213) und sie habe ihre Schwester Martha alleine arbeiten lassen, um für den Besuch von Jesus etwas vorzubereiten. Durch die Botschaft bei Lukas (10,38–40) glaubte Meister Eckhart aus dem Text herauslesen zu können, dass Maria, »verzärtelt, im Schmecklertum des 78
»Gott liebt den, der in der Weisheit wohnt« : Meister Eckhart um 1300
Geistes« befangen gewesen sei (Predigt 86, S. 221). Martha, die Tätige, stand hingegen bei den Dingen, nicht in den Dingen. Mystik heißt nie »Abwesenheit«, sondern geläuterte, vielleicht können wir sagen »kritische Anwesenheit«. Und Letztere muss wohl immer von der Frage nach dem Warum und Wofür des Handelns begleitet werden. Das ist Weisheit. »Anwesend« zu sein und dabei nach dem Warum und Wofür zu fragen, kann man eine grundlegende Haltung der Weisheit nennen. Bei den Dingen stehen hieß bei Meister Eckhart, bei den zu lösenden Aufgaben, den Verrichtungen und Vorkehrungen des Alltags zu stehen. Da muss man sich der Lebensführung für sich selbst, aber auch in Gemeinsamkeit mit anderen Menschen widmen, wie das Martha offensichtlich tat, »die sich viel zu schaffen machte mit der Bedienung« (Lukas 10,40). Martha, bestätigte ihr Eckhart, handelte durch ihre »Praxis« umfassend und aktiv »weise«, während das bloße Zuhören Marias des Umfassenden der Weisheit ermangelte. Meister Eckhart handelte als Wanderprediger im Sinne des heiligen Dominicus, welcher als christlicher Aufklärer und Erneuerer im Ordensgewand besonders in den Städten des alten Europa und in deren Klöstern unterwegs war. Eckhart hatte als Besucher und Prediger in den Nonnenklöstern des 13. und 14. Jahrhunderts durch seine dabei gemachten Beobachtungen auch Ausgangspunkte für seine Predigten gewinnen können. Da lebten ja auch adlige Mädchen und Damen in bedeutenden Erziehungs- und Schulungsfristen, um sich in Klöstern als Nonnen ausbilden zu lassen. Darunter waren auch solche, die bereit waren, in den Erscheinungen der Prediger, die für eine gewisse Zeit in die Klöster der Frauen kamen, um dort zu predigen, erleuchtete Gestalten im Namen Jesu zu sehen. Diese Prediger – wie eben Meister Eckhart – verkörperten sich durch die Materie des gesprochenen Wortes als Aufforderung zum Lernen. Das war ein Lernen, das auch durch gemeinsames Gebet und damit verbundene Betrachtungen bestimmt und gleichsam gerahmt wurde. Es erging aber auch die Aufforderung an jede einzelne Person, für aktive Selbstbeteiligung im Lernen wie im religiösen Leben zugänglich zu sein. Personen der Gemeinschaft begannen damals im 14. Jahrhundert bereits jene Ausdruckskraft zu gewinnen, wie sie in großartigen geschnitzten Figuren die reife und realitätsnahe spätgotische Kunst bereits erreichte. Die Grundabsicht von Meister Eckhart war bereits im Mittelalter formuliert, was die Skulpturen Michelangelos dann 200 Jahre später in der Kultur der Renaissancestadt Florenz öffentlich auf deren repräsentativen urbanen Punkten sichtbar machten : den Menschen mit seiner Seele und deren Bewe79
Weisheit als Orientierungskraft in Geschichte und Gegenwart
gungen darzustellen, um ihn in seiner Individualität und Unverwechselbarkeit erkennen zu lassen. So entstand Weisheit in der umfassenden, aber punktuell realisierten Kunst der Spätgotik und Frührenaissance. Eckhart wollte den Vollzug des heiligen Kultes wie der kirchlichen Messe nicht zur Seite drängen. Aber die Sehnsuchtskraft des einzelnen Menschen in Richtung Gott und deren Erfüllung sollte, das war Eckharts Absicht, vorrangig gestärkt werden. Aus dieser Kraft sollte sich der persönliche Weg zu Gott entwickeln. In der 81. Predigt sprach Eckhart immer wieder von der Kraft des Herzens. Diese Kraft kann freigesetzt werden, wenn der Mensch um die »Festigung« seines Herzens bemüht bleibt. Denn es darf dieses Herz durch ein Überfließen seiner Kraft nicht geschädigt werden. Die Bezüge auf das Fließen einerseits und die Festigung anderseits wurden, wenn wir uns die Kultur der Individualisierung mit ihren Ansprüchen und Voraussetzungen in der Gegenwart vergegenwärtigen, in gewisser Weise von Meister Eckhart im 14. Jahrhundert bereits vorweggenommen. Deswegen werden seine Grundgedanken hier auch in die Prozesse der Weisheitssuche der Gegenwart gerückt. Denn Weisheit verlangt sowohl Festigung als auch Kraft für das Fließenlassen. Dafür müssen psychologisch-soziale Neuerungen eingeführt werden. Der Mensch kann in seiner Seele und durch diese, wenn sich die Seele dem Geist überlässt, nach christlichem Glauben auch neu geboren werden. Voraussetzungen sind die Suche nach innerer Ruhe und die übergreifende Bereitschaft zur Sammlung der Kräfte. »Neugeburt« heißt, sich zur Gewinnung von Neuem dem Geist zu überlassen, der wehe wo er will (Jo. 3,1–21). So konnte Jesus nach der Formulierung des Neuen Testaments zu dem toten Jüngling, um den seine Mutter weinte, sagen : Adolescens tibi dico surge. Jesus sprach : »Jüngling, ich sage Dir, steh auf.« Und der Jüngling, gestorben und am Weg zur Bestattung, ward neu belebt. Er erhob sich von der Bahre. Er »stand auf«, gewann wieder sein Leben. Der Geist ist nötig für die Gewinnung von Weisheit. Ein lebendiger Geist ist dazu notwendig, um auch für seinen eigenen Alltag Lehren zu ziehen. »Der Geist ist es, der Leben wirkt«, sprach Jesus zu seinen Jüngern (Jo. 6,63). Zur Weisheit gehört die Umsetzung des Geistes ins Leben. Man muss sich dem Geist anvertrauen und ihn immer wieder aufs Neue wirken lassen. Das heißt aber auch, sich im Unbestimmbaren aufzuhalten (Gustav Landauer, Meister Eckhart, Mystische Schriften, Insel, 1991 S. 10). 80
»Gott liebt den, der in der Weisheit wohnt« : Meister Eckhart um 1300
Damit kann man die Seele auch so offen halten, dass sich in ihr, wie Eckhart das immer wieder erwartete, Gott gebären würde. Denn über alle Kräfte der Kirche hinweg bleibt das »Seelenfünklein«, mit dem der Mensch im Innersten der Seele an Gott teilhat, sein bester Ratgeber. Eckhart legte für die Erlangung der inneren Macht des Selbstseins die Gottesgeburt in der eigenen Seele als Voraussetzung dar. Diese Gottesgeburt ist die Voraussetzung für weise Entscheidungen und Handlungen. »Das kann gelingen, denn so ist meine Seele jung, da sie geschaffen ward, ja noch viel jünger : es sollte mich nicht wundern, wenn sie morgen noch jünger wäre als heute« (Predigt 42). »Der Mensch vermag hinauszuschreiten über alle Zeitlichkeit und einzugehen in den Grund, der grundlos ist« (Predigt 42). Die Weisheit erlaubt ihm dieses Hinausschreiten. Da wird Gott mit Gott erkannt in der Seele.
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Gemäldeausschnitt »Landschaft mit dem Sturz des Ikarus« von Peter Bruegel (1525– 1569) : Warnungen in den Wind zu schlagen ist keine gute Antriebskraft für Weisheit. Das musste auch der junge Ikarus erfahren. Er stieg zu hoch hinauf, und die Sonnenstrahlen brachten das Wachs der Flügel, die auf seinem Rücken befestigt waren, zum Schmelzen. Der Jüngling stürzte ins Meer.
9 Kritik der Weisheit : »Reif sein ist alles« (William Shakespeare)
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enn wir die Weisheit vom Mittelalter in die Neuzeit verfolgen wollen, so stoßen wir zuerst auf den Widerspruch der Humanisten. So schrieb der aus Basel schließlich in die Niederlande ausgewanderte Erasmus von Rotterdam (1466–1536) für seinen Freund, den englischen Humanisten Thomas Morus (1478–1535), sein bewusst polemisches Buch »Das Lob der Torheit« als Kritik der »Weisheit«. In diesem Buch gab der Humanist Erasmus sehr deutlich zu erkennen, dass er die Seligkeit der Christen nicht als souveräne »Weisheit«, sondern als eine Art besonderer Herausgehobenheit, als Torheit, als eine Ver-rückt-heit aus dem normalen Leben ansah (Lob der Torheit, Reclams S. 121). Diese Verrücktheit führe in ein beseligendes Leben, aber keineswegs in eine Form von Weisheit samt ihrer Ausgeglichenheit und Zurückhaltung. Es gibt, so Erasmus, »keine besesseneren Narren als die von christlicher Glaubensinbrunst einmal ganz Erfassten« (Lob der Torheit, S. 120). Die Figur des Narren zieht sich vom Zeitalter des Humanismus, über mehr als ein Jahrhundert bis zum Höhepunkt des Narren in Shakespeares »König Lear« und weiter pointiert bis in die bewusst irritierenden Narrendarstellungen der großen Malerei von Velásquez (1599–1660,) die heute den Prado in Madrid geradezu dominieren. Bei Cervantes (1547–1616) war der Narr Sancho Pansa Partner des Helden Don Quixote. Dieser Aufsprengung in ein zweifaches Menschenbild bzw. in zwei kulturelle Partner blieb bis zu König Lears Narren bei Shakespeare (1564–1616) erhalten. Weisheit und Narrheit wurden geteilt, aber als zusammengehörig dargestellt, wie es der »Natur« des Menschen entspricht. Man konnte bei den Bruegels fast alle Laster und Verwerflichkeiten in bunten Farben und grober Anschaulichkeit aus den großen Szenebildern der Gemälde herauslesen, deren der Mensch im 15. und 16. Jahrhundert fähig war. Und man bewunderte gleichzeitig aber auch das Strahlende und Modellhafte des »David« des jungen Michelangelo (1475–1564) als den neuen Menschen in Florenz. Zynismus als Kritik menschlicher Verwerflichkeit in Flandern und Ideal-Vergegenwärtigung in Florenz und Rom entstanden gleichzeitig. Weisheit konnte auch aus den Extremen der dargestellten Selbstüberschätzung bei den Skulpturen der »Sklaven« von Michelangelo verstehbar werden. 83
Weisheit als Orientierungskraft in Geschichte und Gegenwart
Der sich überschätzende junge Handwerker der Antike, Ikarus, musste auf der Flucht vor König Minos auf Kreta (ein ergreifendes Gemälde von Pieter Bruegel) seinen Absturz bei seinem Flug durch den Himmel aus zu großer Höhe erleben. Die Sonnenhitze zerschmolz das Wachs, mit dem die Flügel an seinem Körper von seinem Vater Daedalus angeklebt worden waren, samt Warnungen, der Sonne nicht zu hoch entgegenzusteigen. Er war in seiner Begier, etwas Besonderes zu leisten, trotz seines großen Mutes gescheitert und stürzte, als sich die Flügel durch das erweichte Wachs von seinem Körper lösten, aus großer Höhe ins Meer. Sich zu retten, begann eine Aufgabe der Weisheit zu werden. Sich mit seinem Leben trotz dessen Beschädigung durch eigene Schwächen und Missverständnisse einverstanden zu erklären und innerhalb dieses Rahmens zu agieren, das wird nun das große Stichwort, das wir von Shakespeare mit auf den Weg bekommen. Der Sohn des Grafen Gloucester will seinen von einer Lear-Tochter geblendeten Vater aus der Kampfszene des entstandenen Krieges wegführen, um ihn zu retten : »Gib deine Hand«, sagt er zum Vater, »komm fort«, heißt es im »König Lear«. Und wenig später ist die Lehre des beginnenden Jahrhunderts da, ausgesprochen vom Sohn in der Zuwendung zum Vater. »Aushalten muss der Mensch sein Abgehen aus der Welt wie seine Ankunft : Reif sein ist alles. Komm !« (Ripeness is all. Come on !), heißt es im Lear-Drama. Im Englischen hat das Come on noch einen Richtungsverweis auf ein Vorwärts, die dem deutschen »Komm« fehlt. Ist »Reifsein« schon Weisheit ? Sie, die »Reife«, die unabhängig vom Lebensalter ist, ist eine gute Bedingung für die Weisheit, aber noch nicht diese selber. Am Schluss der Lear-Tragödie führt uns Shakespeare noch weiter : »Den Druck der trüben Zeit muss man nun tragen, was man fühlt, sprechen, nicht was man sollte, sagen« (5. Akt, 3. Szene). Aufrichtigkeit ist eine Vorstufe zu Weisheit. Mit der »gefühlten« und insofern subjektiv wahren Aussage trägt man zur eigenen Freiheit bei, und die ist auch in der Todesnähe wichtig. Die religiöse Welt hatte sich mehr und mehr mit ihren verschiedenen Figuren gefüllt. Das letzte Abendmahl von Leonardo da Vinci (1452–1519), gemalt im Refektorium (Speisesaal) des Klosters Santa Maria delle Grazie in Mailand, drückt die mit zentralen Emotionen verbundenen Bewegungen der abgebildeten Apostel beim Abendmahl aus. Deren Seele und lebendige Gefühle wurden in einem weiten Bildstreifen in diesem Saal des Klosters von Leonardo dargestellt. Es ist ein Gemälde, das sich wie eine große unerschöpfliche Erzählung lesen lässt, als Darstellung der Vielfalt, als Reaktionen der einzelnen Personen bei der Übermittlung des geistigen und religiösen Vermächtnisses Jesu. 84
Kritik der Weisheit : »Reif sein ist alles« (William Shakespeare)
In seinen letzten Lebensjahren schuf Leonardo ein Selbstbildnis (in der Biblioteca Ambrosiana in Mailand zu sehen), das an Ernst und an einer gewissen Bitterkeit in der eigenen Lebensbeurteilung, an Schärfe selbst Rembrandts späten Selbstportraits in den 60er Jahren des 17. Jahrhunderts nicht nachsteht. Als sich in der westlichen Welt die Aufklärung entwickeln konnte, legte niemand geringerer als Immanuel Kant (1724–1804) die entsprechenden Kriterien fest. Wir müssen versuchen, uns dabei über Kants Verhältnis zur Weisheit Klarheit zu verschaffen. »Aufklärung«, schrieb er, ist »der Ausgang des Menschen« aus seiner »selbst verschuldeten Unmündigkeit«. »Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen«. Das war im 18. Jahrhundert die Aufforderung in seinem Aufsatz »Beantwortung der Frage : Was ist Aufklärung ?«. Es ist für jeden Menschen schwer, sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten, so schrieb Kant (Vermischte Schriften Bd. 1, S. 163). Diese aus der Befreiungsarbeit gewonnene Selbstständigkeit, können wir heute sagen, ist für die Gewinnung von Weisheit im 21. Jahrhundert unbedingt nötig. Zur Orientierung in der Vielfalt bedarf es der oben genannten, von Kant als zentrale moralische Handlungsbedingung angesehene Mündigkeit. Wie aber kommt man zu dieser Mündigkeit und wie lebt man sie ? Man muss »den Mut haben, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen«. Inwieweit führt dieser Mut dazu, Weisheitsbedingungen für sich und seine Lebensführung aufzufinden bzw. zu schaffen ? In die Zukunft und an sie denken, das heißt, mit vielen Impulsen umzugehen und in der Vielfalt der Impulse Wahlentscheidungen zu treffen. Durch sorgfältiges, und vom eigenen Ich entscheidend mitbestimmtes Auswählen steigern wir unsere Kräfte. Dazu bedarf es kleiner Gemeinschaften, in denen Menschen wirksam sind, die einander achten. In diesen muss in verschiedener Form Weisheit wirksam werden, um aufrechterhalten werden zu können. Kleine Gruppen gehören zur positiven Entwicklung, dem Einsehen und Bewerten des Neuen in unserer Welt. Notwendig ist dabei auch die Gegenüberstellung von Körper und Seele. Dabei wird Unvollkommenheit deutlich. Man muss das Leben in seiner ständigen Korrekturnotwendigkeit durch gesundheitliche Einbußen, altersbedingte Kompetenzverluste, Fehlhandlungen und Fehlentscheidungen bei den Bindungen und Lösungen persönlichen Lebens begreifen. Das zeigte uns die Aufklärung und wurde so zu einer potenziellen Lebenslinie für die Weisheit. Ihr oblag es und obliegt es, zwischen Bewahren und Verändern zu entscheiden. Was zählt, ist der »neue Geist« als Antriebskraft für die Weisheit. 85
Boot, am Ufer verankert : Weisheit zeigt sich gerade auch in der Fähigkeit von WartenKönnen auf das Weiterfahren. Rembrandt (1606–1669) vergegenwärtigt uns dies durch den wartenden Kahn in einem engen Kanal der holländischen Ebene.
10 Wissenschaft drängt zur Spitze menschlicher Erfahrung
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eisheit ist ein Erfahrungsweg, nicht eine einfach wie eine aus einem Katalog abruf bare Summe von Einsichten oder Regeln. In der Weisheit liegt die Absicht der Losgelöstheit, lehren die indischen Upanishaden. Loslösung, das predigte auch Meister Eckhart im 13. Jahrhundert in Europa : »Die letzte Weisheit hat keinen Grund, sie ist ohne Warum.« Wende dich der Findung der Weisheit zu, so zeigen sich dir einige jener Wege, die begehbar sind. Gehst du darauf ein, wirst du deine Grenzen finden. Dabei ist es nötig, geduldig zu bleiben und sich nicht selber in den Vordergrund zu stellen. Glück wird nicht einfach geschenkt, es muss vorbereitet, bedacht werden, man kann es nicht erzwingen, sagt die Weisheit. Wichtig ist, sich selber von mehreren Seiten her als bedingt zu begreifen. So muss man abwägen, welche Seite als förderlich für die eigene Entwicklung und welche als hinderlich erkannt werden kann. Weisheit geht am besten von dort aus, wo es gelingt, Einschränkungen und Ausweitungen richtig zu bemessen. Weisheit wird durch die richtige Mischung von Verzicht und erstrebtem Ziel konstituiert. »Kehre in dich selber zurück. Im inneren Menschen wohnt die Wahrheit«, forderte der heilige Augustinus (354–430). Als Weisheit kann man auch seine verbindende Formel werten : credo ut intellegas, intellege ut credas (»Glaube, um zu verstehen, verstehe, um zu glauben«). Aus dieser Formel lässt sich auch zeigen, dass Weisheit als eine sich bewegende Kraft, sich aus Antrieben verschiedener Art zusammenzusetzen vermag. Allerdings ist es typisch für Weisheit, dass sie nie einen Schlusspunkt findet, sondern immer wieder erneut auf Bedürfnisse und Wünsche antwortend vorankommt. Weisheit lebt in dieser Welt, wenn sie auch darüber hinausweisen will. In diesem Sinn ist Weisheit ein »unruhiger Geist«. Bei Meister Eckhart im 13. Jahrhundert galt es, den durch nichts mehr eingeschränkten Weg nach innen, in seiner Sprache, die Suche Gottes in sich selber – in der eigenen Seele – als den Weg zur Weisheit zu begreifen. Wer dem Menschen klarmachen kann, dass er den Geist der Weisheit »im Aller innersten« zu rufen vermag, gibt ihm mehr, als alle Königreiche der Welt zu geben vermögen, predigte Meister Eckhart. 87
Weisheit als Orientierungskraft in Geschichte und Gegenwart
Die Humanisten lehrten, sich um das Selbsterfassen zu bemühen. Das war ein Umschwung von der innerlich erfahrbaren zur von außen – durch Wissenschaften – erforschbaren und optimierbaren Lebensgrundhaltung des Menschen. Statt der innerlich erfahrbaren Weisheit drängte sich in der europäischen Entwicklung ein erarbeitbares, methodisch gewinnbares Wissen in den Vordergrund, wie eine Art Werkzeugkasten mit entsprechenden Geräten. Erfahrung wurde durch Beobachtungen und Forschungen in der Außenwelt gesucht. Welchen Weg suchte sich nun die Weisheit als lebendiger Geist ? Es geschah besonders durch eine durchdringende Analyse der Natur, wie sie Albrecht Dürer in seinen Tierbildern oder in Schilderungen von Situationen der Begegnung des Menschen mit Tieren in der Landschaft darzubieten vermochte. Dürer (1471–1528) dieser große, von jener Weisheit durchdrungene Mann, glaubte, dass es Momente des Aufscheinens von Göttlichem in der Natur gibt. Das geheimnisvolle Bild Dürers, das die Erscheinung eines sein volles Geweih tragenden Hirsches zeigt, auf dessen Stirn »übernatürlich« ein Kreuz als Glaubenssymbol zu sehen ist, kann dafür als Beispiel gelten. Dürers Kupferstich (1501) galt der Darstellung des römischen Feldherrn Placidus, dem auf der Jagd ein Hirsch mit dem Gekreuzigten zwischen den Geweihstangen begegnete, worauf er sich zum Christentum bekehrte und den Namen Eustachius annahm. Das schöpferische Eindringen Dürers in Einzelstücke der Natur, dem weltberühmt gewordenen Gemälde eines Hasen, zu sehen in der Wiener Albertina, zeigt uns, dass Naturbetrachtung und Kunst zur Weisheit geleiten können. Einen großen historischen Schritt später, im 17. Jahrhundert, führt die alle Weltelemente vereinende Seele Rembrandts in die Vergegenwärtigung von Weisheit. Sie zeigt sich in den Gemälden der ihre ganze Körperlichkeit und nackte Schönheit entfaltend dargestellten Frauen, wie der griechischen Danae und der jüdischen Bathseba. Das 17. Jahrhundert wirkte als eine Drehscheibe, von der aus man in sehr verschiedene Richtungen gewendet sehen und gehen konnte und dabei Einblicke gewann, die zu verschiedenen Überzeugungen zu führen vermochten. Der Buchdruck hatte durch Andachtsschriften breite Kreise erfasst, wenn auch der große Schub der Schulentwicklung und so der Kunst des Lesens sich in Mitteleuropa erst in der Frühaufklärung, also zur Zeit Maria Theresias und Josefs II. entwickeln konnte. In den gebildeten Schichten gewannen im 17. Jh. historische Werke, also besonders die Hinwendung zu Kunst und Kultur der griechischen und römischen Antike Raum. Das war nicht Weisheit, aber Wissen über die Vergan88
Wissenschaft drängt zur Spitze menschlicher Erfahrung
genheit, eine Ausweitung wie zu einem früheren Selbst hin. Aber es waren ja auch die von Blaise Pascal (1623–1662) bereits in seinen weisheitsorientierten »Pensées« vereint präsentierten mathematisch-naturwissenschaftlichen und philosophisch-theologischen Perspektiven, die sich in eine Gegenwartsdeutung im 17. Jahrhundert integrieren ließen. Die Vielfalt zusammengeführten Wissens begann zu zählen, nicht nur die aus einer suchenden Disziplin gewonnenen Überzeugungen. Aus dieser Welt des Enzyklopädismus heraus entwickelte sich auch im 17. Jahrhundert das Streben nach einem anwendungsfähigen Wissen. Der Philosoph und Forscher Pascal erfand die Urform der Schreibmaschine. Weisheit hatte sich als lebendige Verinnerlichung aus der Hauptlinie des Denkens zurückgezogen. Das Suchen nach Teilergebnissen hatte wie zu einem Wissenwollen in Schwerpunkten geführt. Die Reformation eröffnete verschiedene Wege zum Spirituellen im Christentum. Die von der Dynamik der Weisheit im frühen und hohen Mittelalter immer wieder angestrebte Einheitlichkeit in der Zusammenführung aller Kräfte zur spirituellen Rettung des Einzelnen und der Steuerung auch der Kirchen konnte nicht mehr umfassend gewonnen werden. Aus welchen organisatorischen und politischen Voraussetzungen und auf welchen Wegen der Verbreitung konnte sich der Einzelne eine verständliche und gewinnbringende Form von Weisheit aneignen und auf bauen ? Da war es die Literatur, die durch ein stärker publikumswirksames Theater, die Tragödie, aber auch die Komödie, Einfluss gewann. Die Oper fand in den gehobenen Schichten ihren Widerhall. In der Oper konnte man sich bei Monteverdi oder Gluck, dann bei Mozart, selber finden und in Zauberreiche entrücken lassen. Man bekam dabei einen Spiegel vorgehalten und konnte sich darin selber neu entdecken. Die Entfaltung der Entdeckerqualität der menschlichen Psyche im Einzelnen blieb allerdings erst dem späten 18. und schließlich dem 19. Jahrhundert vorbehalten. Das 18. Jahrhundert brachte durch die Ausarbeitung und die Anwendungsversuche von Aufklärungsgedanken einen Grundsatz in die philosophische wie in die politische Grundlagenauseinandersetzung. Für die Entwicklung des Menschen als Individuum – eine wichtige Entdeckung als Weg der Selbstfindung – wurde »Erstreckung« verlangt : Nur so kann der Mensch zu sich selber finden. Was früher durch das Auf blitzen von Spiritualität und Glaube gelang, und vom Ritual der Kirche auch immer wieder begünstigt wurde, bedurfte nun 89
Weisheit als Orientierungskraft in Geschichte und Gegenwart
der Anlaufzeiten, der Wiederholungen und Erstreckungen auch im Einzelnen. Das war die Zeit, noch ehe im 21. Jahrhundert das Training, das Üben, seinen hohen Stellenwert errang. Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) sah in allem Menschlichen, auch dem Geistigen, die Natur als Grundlage der Entwicklung. Allerdings musste sie durch Erstreckung der entfalteten menschlichen Vernunft, durch langfristig ausgedehntes Lernen und Bemühen zur Vollendung gesteuert werden. Auch für die Erziehung lag im Erstreckungsbegriff der Schlüssel zu deren Erfolg. Für Rousseau war das ganz deutlich. Seine Erziehungstheorie beruhte auf Erstreckung. Außerdem entstand durch die Einwirkung einer aufgeklärten, erstreckungsorientierten Zuwendung zum Altern, wie Gerard van Swieten, Leibarzt Maria Theresias, sie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Österreich lehrte, eine neue Grundlage für die medizinische Sicht und Betreuung im späten menschlichen Lebenslauf. Es kam zu erzieherischen, aber natürlich auch zu medizinischen Theorien und bereits auf das Alter bezogenen Praktiken. Schließlich entstand im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert durch vielfache Forschung die rasch weltweit sich ausweitende Gerontologie. So kam es zu einem Erstreckungsbegriff als Programm für die Langlebigkeit. Leben sollte nun auch einer ihm möglichen, verlängerten und dabei weisen multidisziplinären Steuerung unterworfen werden. Noch einmal zurück zum 18. Jahrhundert : Gelangte man durch das französische Revolutionskonzept von »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« zu einem Weisheitsbegriff ? Vorerst einmal nicht, da es um Durchsetzung von Macht ging. Ich halte es für wahrscheinlich, dass sich im Prinzip aus der Brüderlichkeit, wo immer diese ernsthaft sozial verfolgt wird, auch ein Pfad zur Weisheit herauszubilden vermag. Dazu ist allerdings auch die Profilierung der Weisheit, ihre Hinführung zur Zeitgemäßheit erforderlich. In unseren Selbstgesprächen in der eigenen Seele müssen wir heute, im 21. Jahrhundert als Voraussetzung für die Weisheitsliebe den ganzen Gang der Aufklärung und der Selbstdechiffrierung des Menschen im 19. und 20. Jahrhundert mitvollziehen, sonst erreichen wir die Weisheit nicht. In der neunten seiner zehn Elegien finden sich bei Rilke für das 21. Jahrhundert wegweisenden Sätze wie : »Was, wenn Verwandlung nicht, ist dein drängender Auftrag ?« Rilke fand seine neue innere Heimat durch ihr Entstehenlassen in ihm selbst. Und man kann sagen, dass der Aufklärungsweisheit der »Erstreckung« die weisheitsnähere der »Verwandlung« im späten 19. Jahrhundert folgte. 90
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Rilke schrieb in der neunten Elegie : »Erde, du liebe, ich will.« Er empfahl das Verwandeln, das von innen her Erneuern, ähnlich den indischen Upani shaden. Es bleibt bei Rilkes Weisheit allerdings immer, wenn oft auch schwer erkennbar, der Gedanke des Bewahrens als der führende. Nietzsche charakterisierte sich selbst in Gedichten vielleicht am besten. Er erschrak selber vor der Vielseitigkeit und dem Reichtum im Schauen, Beobachten und Denken : »Alles glänzt mir neu und neuer, Mittag schläft auf Raum und Zeit ! Nur dein Auge – ungeheuer blickt mich’s an, Unendlichkeit.«
Nietzsche begehrte auf, er sah keine Lösung in verstärkter Bildung, der Selbstvergegenwärtigung in der dritten Phase der Menschheitsentwicklung am Ende des 19. Jahrhunderts, wie Auguste Comte sie als Erfüllung der beiden vorangegangenen Phasen vorschlug : von der theologischen zur philosophischen und schließlich zur »positiven« Phase der umfassenden Entdeckung durch Wissenschaften mit dem Leitgedanken der Soziologie. Nietzsche schlug einen anderen Weg vor : »Das Geheimnis vom Dasein einzuernten«, erfordert es, »gefährlich zu leben« (Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 186). Anders erschließt sich Dasein nicht. Heidegger glaubte, dass der »tolle Mensch« Nietzsches, der die Möglichkeit des Glaubens aufgegeben hat, Gott nicht mehr suchen kann, weil dieser Mensch offenbar auch nicht mehr denken kann. Denken kann, so Heidegger, erst dann wieder beginnen, »wenn die seit Jahrhunderten verherrlichte Vernunft als die hartnäckige Widersacherin des Denkens entlarvt ist« (Sein und Zeit, S. 247). In unserer Betrachtung über Weisheit kann sich das immer angesprochene Begehren des Menschen als Einsatz aller seiner Lebenskräfte dem vielschichtigen Prozess des Denkens anvertrauen. Denn dieses »Denken« mit aller seiner Verinnerlichung ist eine Auslieferung der Gesamtperson an die Freiheit und an die eigene innere Neuerung. Dabei ist es allerdings fraglich, »ob die heute bestimmend werdende interaktiv-multimediale, von vernetzten Computern getragene Kommunikation wohl den religionssoziologischen Typus der Kirche oder eher dem Sektentypus oder den des religiösen Individualismus stärkt«. (J.C. Nyiri, Religiöser Indi91
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vidualismus in einer Welt ohne Zentrum, in : Wenn Gott verloren geht, hrsg. von Theo Faulhaber und Bernhard Stillfried, 2000, S. 87). Nyiri sucht zu zeigen, dass eine »virtuelle Kirche« besonders durch das Internet in Entfaltung begriffen ist, dass sie aber nur durch den Individualismus und die Überzeugung von Einzelnen zu einem neuen individuell geflochtenen sozialen Sein gelangen kann. Der wirklich in seinem Bewusstsein mit sich kritisch verfahrende Mensch vermag zu erkennen, dass er zu einer »Grundfreiheit« fähig ist und damit zu einer Transzendenz, welche die naturhaften Notwendigkeiten übersteigt, ohne sie gering zu schätzen. Emmerich Coreth (1919–2006) spricht von einem »geistigen Leben«, das nach seiner Auffassung einem Weg zur Weisheit entspricht bzw. die Voraussetzung für diesen Weg darstellt (Mensch und Religion, in : Wenn Gott verloren geht, hrsg. Theo Faulhaber und Bernhard Stillfried 2000, S. 98 ff.). Es ist daher an der Zeit, sich zu fragen, unter welchen sozialen und kulturellen Bedingungen wir leben, um daraus allgemeine Schlüsse zu ziehen, welcher Weisheit wir heute bedürfen und wie wir zu ihr gelangen. Vor allem darf nicht übersehen werden, dass Weisheit kein Rückzugsgeschehen aus der Welt bedeuten soll. Meditation, Wege der Verinnerlichung und Selbstklärung sind ebenso notwendig wie Mediation, Vermittlung von geistiger und sozialer Kompetenz. Im Unterschied zu den noch stark ideologiegeprägten Idealen sozialer und politischer Leitideen und Parteiprogramme vor Beginn des Zweiten Weltkriegs und auch der Lebensideale von Faschismus und Nationalsozialismus traten in den letzten zwanzig Jahren in Europa neue Versprechen auf. Sie zielen auf Nutzen und individuellen Erfolg ab und dessen Sichtbarkeit in den medialen Aufmerksamkeits- und Werberäumen und werden dadurch zu sozialen Werten stilisiert. Bildung als Erfahrung von Wissen und Kultur trat immer mehr in den Dienst von materiellen Lebenschancen. Sie kam viel weniger unter die Kategorie menschlicher Vollendung und der Hochentwicklung von Einsicht. Es entstehen und differenzieren sich täglich neu multimodale Lebensstile heraus, die wie in einem Kreislauf zum erfolgsuchenden Einzelnen zurückführen. Bei aller Einengung des selber geführten Lebens auf das Nützliche und Angenehme nimmt das Interesse für das Besondere und Extreme dennoch zu. Das soll möglichst sozial anschaulich erlebbar oder durch mediale Vermittlung auf den Schirm des Erfahrbaren projiziert werden. 92
Wissenschaft drängt zur Spitze menschlicher Erfahrung
So kommt es zu traditionsentkoppelten Verständigungsformen. Diese finden über eine Logik des Marktes und der Konkurrenz ihren Weg. Im Vordergrund steht der »Eindruck«. Bei traditionsentkoppelten Verständigungsformen kommt es eher zur Unterwerfung unter das, was man als Logik des Marktes bezeichnen mag. Johann Baptist Metz (geb. 1928) wies mit einer Forderung nach einem »Gottesgedächtnis im Zeitalter kultureller Amnesie« damit einem »Eingedenken fremden Leids« entscheidende Voraussetzungen für eine neue Innerlichkeit zu. Ich würde diesen Weg als eine Straße der Einkehr bei der Weisheit sehen. Innere Bemessung, die unter Beteiligung fühlender Herzen zustande kommt, kann sich vom Denken der Mystik inspirieren lassen. Formelhaft brachte dies Hildegard von Bingen um 1150 zum Ausdruck : »Weisheit hat alles im gleichen Maß zugemessen, damit nicht eines das andere an Gewicht übertrifft und auch nicht eines vom anderen in sein Gegenteil gedrängt wird« (Liber vitae meritorum 6,22).
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Die aus kostbarem Material hergestellte elliptische Form ist das Symbol des Shiva, einer der führenden Gottheiten des Hinduismus. Er wird als Fruchtbarkeitsgott verehrt, was für gläubige Frauen, die nach Schwangerschaft streben, zu besonders intensiven Gebeten bei Shivas Phallussymbol führt. Zur Betonung der Zeugungskraft der Weisheit kam dieses Symbol in unser Buch.
11 Warum soll Weisheit ein unruhiger Geist sein ?
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ir haben uns im vorigen Kapitel damit befasst, welche Schwierigkeiten für eine neue Innerlichkeit sich aus traditionsentkoppelten Verständigungsformen und der »Logik des Marktes« ergeben. Es stellt sich die Frage, welche Kräfte die der Weisheit innewohnende Gelassenheit und ausgereifte Urteilsfähigkeit weiterführen können ? Wie kann Weisheit bei einem grundlegend entscheidenden Kulturwandel in der Menschheit in ihren Zukunftsperspektiven zumindest verstanden und unterstützt werden ? Aus meinen Beobachtungen und Gegenwartserfahrungen heraus, die ich mit Rückblicken und Erfahrungen mit verschiedenen Kulturen vergleichen kann, möchte ich Ansatzpunkte für eine Vorausschau der Weisheitsentwicklung stützen ; Vergangenheit als Phase für Lernimpulse, Zukunft als Raum einer durchdachten Konstruktion für Realisierungsprojekte. Ich kann dabei zwei durch mehrere Jahrhunderte historisch getrennte Aussagen heranziehen, die beide jener Tradition entstammen, die man europäische Philosophie nennt, und in ihren unterschiedlichen Denkprofilen einer hochentwickelten Aufklärungswelt zuordnen. Ich wähle das Fragment 109 des Einsiedlers und richtunggebenden Genies Heraklit von Ephesos, das aus einem um 500 v. Chr. erschienenen Gesamtzusammenhang stammt. Das Fragment lautet : »Verständigsein ist die wichtigste Tugend ; und die Weisheit besteht darin, das Wahre zu sagen und zu tun in Übereinstimmung mit der Natur, im Hinhorchen.« Das zweite Zitat entnehme ich einer ganz anderen Zeit und Mentalität, es stammt von dem gewaltigen Denker der Neuzeit, aus Immanuel Kants Schrift »Beantwortung der Frage – Was ist Aufklärung ?« : »Wenn denn die Natur unter dieser harten Hülle den Keim, für den sie am zärtlichsten sorgt, nämlich den Hang und Beruf zum freien Denken ausgewickelt hat, so kann es schließlich gelingen, den Menschen, der nun mehr als eine Maschine ist, seiner Würde gemäß zu behandeln« (Bd. 1, S. 171, Leipzig 1923, Hervorhebung von Kant). In beiden hier wiedergegebenen Textstellen wird schließlich »die Natur« als die unsere Texte verbindende Macht aufgerufen. 95
Weisheit als Orientierungskraft in Geschichte und Gegenwart
Können wir bei der Berufung auf Heraklit und Immanuel Kant die Natur als Ursprungsboden für einen, wenn auch unruhigen und damit historisch wandlungsfähigen Geist der Weisheit ansehen ? Können die vom Menschen geschaffenen, mit Mechanismen der Selbstregulierung ausgestatteten Computer in einen künftigen Geist der Weisheit einbezogen werden bzw. sich selbst in die übergeordnete Lenkung einbeziehen ? Wessen Geist ist jener Computer, der mit seinem überlegenen Spiel (seiner Programmierung) einen Schachweltmeister besiegen konnte ? Laut Forschern der Singularity University im Silicon Valley der USA werden von Raymond Kurzweil, dem Visionär der Künstlichen Intelligenz, Vorschläge zur radikalen Digitalisierung Computer entwickelt, die lesen lernen und trainiert werden sollen, in Zusammenhängen zu denken. Computer sollen aber nicht nur über einfache technologische Zusammenhänge ihnen einprogrammierte Auskunft geben, sondern auch, mit Programmierungen besonderen Wissens ausgestattet, »empathisch« werden. Kann so neben der menschlichen Welt eine mit humanen Kompetenzen programmierte technologische Welt entstehen, die einer gemeinsamen Kultur dienen kann ? Hat der unruhige, also stets suchende Geist der Weisheit Chancen, über die Biosphäre, »die Natur«, über die Heraklit einerseits und Kant anderseits ein Verständnis finden konnten, hinaus, einen vom Computer gesteuerten Partner in das Zusammenleben einzubeziehen ? Bleibt die vom Menschen, vom Ingenieur geschaffene Welt für immer als Sekundärschöpfung vom Menschen getrennt ? Oder sind auch Integrationsformen möglich, und wenn ja, wie, bis zu welchem Grad und mit welchem Ziel ? Angesichts dieser Fragen muss Weisheit nicht nur in der Zuwendung zur Vergangenheit gesucht werden, sondern auch auf dem Bildschirm zentraler, lebensbestimmender Phänomene der Gegenwart. Die Frage ist : Sollen wir auf eine oder auf mehrere zentrale Ausprägungen von Weisheit, auf »Philosophie«, vertrauen und auf deren Zukunft hoffen ? Philosophie ist laut Immanuel Kant »für den Menschen Bestrebung zur Weisheit, die jederzeit unvollendet ist«. Ich will zum Abschluss versuchen, einige Entwicklungen in unserer Gegenwart stichwortartig zu benennen, um sie als Herausforderungen für eine wandlungsfähige Weisheit zu vergegenwärtigen : der Mangel an Geduld bei großen friedenssuchenden Initiativen, die Unfähigkeit zu verlässlichen völkerverbindenden regionalen Projekten wie z. B. in der Frage der großen Flüchtlingswellen nach Europa, in zwischenmenschlichen Bereichen die Auflösung von Bindungen und Kontinuität. 96
Wissenschaft drängt zur Spitze menschlicher Erfahrung
Im Kulturbereich wird versucht, Unvertrautes in Alltägliches einzubauen. Im politischen wie auch im persönlich-gesellschaftlichen Leben entstehen hingegen durch die fehlende Verarbeitung des Unvertrauten Kohärenzdefizite. Innere Schwäche wird durch äußere Durchsetzungsfähigkeit zu ersetzen versucht. Firmen mit ihren Vermarktungsstrategien setzen Vorbilder in die Welt, die vorgeben, dass ihren Produkten auch soziale Förderungskraft innewohnt. Dabei stehen doch die Profite meist deutlich im Vordergrund. Lebensstile können sich nicht frei entwickeln. Im Gegenteil : Das erobernde Drängen der Vermarktung zielt darauf ab, Lebensstile zu kaufen. Damit erfährt Käuflichkeit gegenüber anderen Formen von Vermittlung eine geradezu überdimensionale Aufwertung. Wie kann sich gegenüber einer solchen Vermarktungswelt mit angehefteten Preiszetteln Weisheit durchsetzen ? Mit welchen Kräften wirtschaftlich-sozialer Art muss die Weisheit Koalitionen bilden, um im Rausch von Schnelligkeit und der Vergnügungen des Augenblicks jene Würde zu erlangen, die sie, wenn auch mit anderem Gesicht, bewundernswert macht ? Ihre innere Unruhe wird den Suchern der Weisheit dabei beistehen bzw. entgegenkommen.
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12 »Das bist du !« – »Tat tvam asi« aus den indischen Upanishaden (800–250 v. Chr.)
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n vielem ist Erleben die geeignete Voraussetzung für Erkennen. Bei mir war das häufig so, dass eine oft auch nur kurz dauernde Erfahrung für mich den Anstoß dazu gab, mehr als nur Wissen zu gewinnen. Im Rahmen eines Gesprächs im Anschluss an eine meiner Vorlesungen am Institut für Soziologie der Universität Wien, das ich in der Nachkriegszeit gegründet hatte, wandte sich eine Studentin an mich. Sie habe sich durch Studien in Indien über die im traditionellen Hinduismus geltende Ordnung in der Abfolge des Lebens gewisse Kenntnisse erworben. Sie wolle diese nunmehr erweitern und auch mit den von mir aus Forschungen in Europa entwickelten Ergebnissen zum Lebenslauf vergleichen. Ich sagte ihr meine Unterstützung zu. Sie aber antwortete darauf lächelnd, sie könne mir ihrerseits in einem in ihrer Nachbarschaft am Ganges gelegenen Haus, wo sie oft monatelang wohne, zu günstigen Bedingungen einen Aufenthalt vermitteln. Dieser Gedanke gefiel mir, zumal ich Monate vorher die schon erwähnte Indologin und Philosophin Bettina Bäumer in Wien kennengelernt hatte. Sie hatte hervorragende Übersetzungen und Erklärungen der indischen Upanishaden publiziert, mystische Dichtung als einen Schatz für Meditation und Selbstfindung, entwickelt über Jahrhunderte. So war in mir bereits der Wunsch nach einer Indienreise entstanden. Die zeitliche Fixierung ergab sich dann durch eine mich außerordentlich überraschende Einladung nach Delhi im Jahre 1998. Es ging um eine Art Gedächtnisfeier für den aus politischen Gründen 1948 ermordeten Mahamtma Gandhi, bei der ich einen Vortrag halten sollte. Es gebe zwar kein Honorar, aber alle Reisekosten würden bezahlt. Ich bekam also die Gelegenheit, des großen Gandhi in Delhi zu gedenken und dann in die heilige Stadt Benares am Ganges weiterzureisen. Dort könnte ich dann auch Bettina Bäumer und ihren Lehrer, den Religionswissenschaft-
Vishnu, neben Brahma und Shiva der dritte Gott in der hinduistischen Dreiheit »Trimurti« : In keiner anderen indischen Göttergestalt sind die ausgebreiteten Arme so ernst als Angebot, aber auch als Führungsbereitschaft in Gebet und Meditation erkennbar. Das Öffnen des Herzens kann zu Weisheit führen, zeigt uns Vishnu.
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Weisheit als Orientierungskraft in Geschichte und Gegenwart
ler und Philosophen Raimon Panikkar (1918–2010), sowie die Studentin, die mich eingeladen hatte, treffen. Kaum in Benares angekommen, wurde ich eingeladen, mich am nächsten Morgen zu einem katholischen Gottesdienst einzufinden. Ich müsse allerdings früh, bis spätestens vier Uhr morgens, dort hinkommen, was ich auch tat. Ringsherum waren viele Frauen damit beschäftigt, Wäsche im Fluss zu waschen und sie auf Holzbrettern mit eigens zugerichteten Holzgeräten trocken zu klopfen. Das ergab ein eigenartiges Konzert in der Dämmerung am Ufer des heiligen Flusses. Es klang wie ein buntes Gemisch von heftigeren und schwächeren Tönen. Und es bildete sich eine Art Musik zu den praktischen Aufgaben der Frauen. Auf dem Flachdach stand ein runder Tisch und um ihn herum waren einfache Sessel für etwa 15 Personen angeordnet. Bald erschien Bettina Bäumer. Sie war weiß gekleidet und trug die Geräte für die Feier der heiligen Messe, darunter eine einfache vergoldete Schüssel und einen ebensolchen Kelch. Kurz darauf kam auch Professor Raimon Panikkar als katholischer Priester mit Tüchern, die er ausbreitete, um die Stelle für die von ihm auszuführenden kultischen Verwandlungsriten der heiligen Messe auf seinem Platz am Tisch zu bedecken. Nach und nach stellten sich in der Morgendämmerung die Messbesucher ein. Nachdem Pater Panikkar mit einfachen Worten eine Begrüßung ausgesprochen hatte, las er ein Stück aus dem Evangelium vor und bat alle Personen in der Runde, je ein paar Sätze der Deutung und ihres Verständnisses dieser Stelle beizutragen. Das geschah auch. Man musste laut und deutlich sprechen, denn die Wäscherinnen am Ufer des Flusses waren mit dem Klatschen zum Trocknen der Wäsche noch immer unüberhörbar. Erst als die Messe ihren heiligen Teil erreichte, wurde es ruhig. Man hörte nur mehr das Geräusch des Flusses. Der Ganges ist zwar ein ruhiger, aber auch ein lebendiger Fluss, der eine machtvolle Kontinuität zeigt, aber doch auch gelegentlich ein Aufrauschen hören lässt, wie es seiner Heiligkeit entspricht. Der Priester war sehr um die Teilnahme aller am Kultgeschehen bemüht, so, als müsste jeder und jede mit dem Strom des Atman aus der Herzenshöhle seinen inneren Weg gehen, gerichtet auf Brahman und das dem Gott eigene Allumfassende. Becher und Schüssel wurden nach der im Sinne Jesu vorgenommenen Verwandlung von Brot und Wein in die gottgeweihte Substanz um den Tisch herumgereicht. So vermochten es alle, am Kult, an den Handlungen des kleinen 100
»Das bist du !« – »Tat tvam asi« aus den indischen Upanishaden (800–250 v. Chr.)
sakralen Essens und Trinkens teilzunehmen. So konnte sich für die christliche Feier in der Nähe des für die Inder heiligen Flusses eine Gemeinschaft bilden. Das Geschehen hatte solch eine intensiv bindende Wirkung, dass es nach dem Abschluss der Zeremonien keinen individuelle Probleme ausdrückenden Nachhall gab. Ich hatte allerdings das Gefühl, dass in mir selber ein Nachhall wirksam wurde. Ich hatte vorher noch nie Zeremonien erlebt, in denen die innere persönliche Beteiligung so deutlich hatte werden können. Das unfassbar Übergeordnete, Brahman, das sich da gleichsam erschloss, hielt die menschliche Teilnahme in Bewegung. Dazu musste nicht gesprochen werden. Bei den erlebten Gedanken des Zusammenfließens des individuell eigenen Selbst mit dem unbegrenzbaren und allumfassenden Brahma, in der Messe am Ganges, wurde mir der Gedanke der Annäherung an Gott neu zugänglich. Ich konnte auch die Idee der Geburt Gottes in der eigenen Seele, wie sie Meister Eckhart in Europa im 13. Jahrhundert gepredigt hatte, durch die Messe am Ganges besser verstehen. Die Weisheit der Upanishaden, die nach den Veden zwischen 800 und 200 v. Chr. in Indien entstanden, wurde mir nun in ihren einzelnen Texten der Nachdenklichkeit, der Ermutigung und der Lebensorientierung, durch das Erlebnis des Kultes nahegebracht. Die Upanishaden konnte ich als eine Botschaft für die eigene innere Entwicklung und als eine Übung für die innere Einigung auffassen. Die Upanishaden sind mehr als Belehrung, Moral oder Wissensvermittlung. Sie sind heilige Texte, deren Ziel es ist, den Menschen in sich zu verändern. Sie tun dies in symbolischer Sprache. Voraussetzung dabei ist, dass du auf deinem eigenen Weg dich führen lässt. Damit hast du dich dem eigenen Atman als führende Kraft auf dem Weg zu Brahman anvertraut. »Tat tvam asi« (»Das bist du«). An dieser Stelle, wo in der Maitrî-Upanishad I, 2–4 ; II, 1–2 vom Wind die Rede ist, wird ein Christ an die Worte des Evangelisten Johannes erinnert : »Der Windhauch weht, wo er will, sein Brausen hörst du, doch du weißt nicht, von wo er kommt und wohin er geht. So ist es mit jedem aus dem Geist Geborenen« (Jo. 3,8–10). Die Upanishaden, besonders die Maitrî-Upanishad, betonen in diesem Zusammenhang das Sich-Anvertrauen an den eigenen Atman. Anders war dies bei Jesus. Im Gespräch mit Nikodemus, einem angesehenen, altgewordenen Pharisäer, der den jungen, aber schon bekannt gewordenen Heiler und Propheten in der Nacht aufsuchte, empfahl er diesem eine volle Neugeburt. Diese Neugeburt sei die Voraussetzung für das Eintreten in das »Reich Gottes«. Durch »den Geist« muss die Schaffung innerer Wandelbarkeit geschehen. 101
Weisheit als Orientierungskraft in Geschichte und Gegenwart
Nach dieser Botschaft des Johannes-Evangeliums muss man sich von Grund auf wandeln, also neu »geboren« werden, um letztlich erlöst werden zu können. Das soll durch den Glauben an den Sohn Gottes, an Jesus, geschehen. »So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn dahingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern das ewige Leben habe« (Jo. 3,15–17). Die Upanishaden sind im Vergleich dazu nicht so radikal, hier bleibt das Individuum bei seinen Änderungen als solches voll erhalten. Es lässt sich aber von dem in ihm verborgenen eigenen Selbst, von den Kräften der »Herzenshöhle« tragen und sich schließlich durch Atman auf den Weg zu Brahman, zur höchsten Lebenserfüllung führen. Dieses Selbst vermag sich durch das bewusste Einatmen und Ausatmen (sie sind auch als körperliche Übung gedacht) als meditative Elemente stützen zu lassen. So kann der Mensch durch Einatmen innere Kraft gewinnen und durch Ausatmen »nach oben aufsteigen«. Er wird bewegt, gelangt aus der Finsternis heraus, durch Atman, dem das eigene Selbst für die Reise zu Brahman sich zuwendet. Atman als Kraft sorgt für Bewegung und Führung im Prozess der Lenkung des Individuums auf Brahman hin. In der Chândogya-Upanishad wird der Selbstbezug des Menschen als Ausgangspunkt seiner Entwicklung zur Selbsterweiterung und Verklärung besonders hervorgehoben. Eigenentwicklung ist der Grundprozess zur Erfahrung göttlicher Nähe. Meditation fördert nach Erlangung innerer Leere die Voraussetzung für diese Eigenentwicklung. Man soll sich selber glücklich machen und sich selbst dienen. Dann erlangt man beide Welten, die diesseitige und die jenseitige (Chândogya-Upanishad 4). Diese Selbstbezogenheit und der Weg zum eigenen Glück bedürfen aber der »Erleuchtung«, und zwar einer immer erneuerten. Meditation fördert Erleuchtung : »Eine wenn auch nur geringe Ausgebreitetheit von Brahman vor Dir und in Dir, ermöglichen es Dir, weise geworden, unsterblich zu werden« (Kena-Upanishad II, 1–5). Das christliche Glaubensbekenntnis, das »Credo«, verheißt ja auch am Schluss, wenn es in der katholischen Messe gesprochen wird, das »ewige Leben«, in einer dem Gläubigen im Grunde völlig unbekannten Form. Im indischen Denken wird die Zurücklegung eines Weges mit Hilfe von Atman und der vorerst nur punktuellen Begegnung mit Brahma als Entwicklung hin zur allumfassenden Gottheit angesehen. 102
»Das bist du !« – »Tat tvam asi« aus den indischen Upanishaden (800–250 v. Chr.)
Solange der Mensch am Leben bleibt, bleibt auch seine Herzenshöhle erhalten, aus ihr gehen die steuerbaren Impulse hervor, die am Weg zu Brahma gestaltet werden können. Das Aufsteigen durch Atman bedarf, was die Chândogya-Upanishad besonders hervorhebt, als Voraussetzung die Schritte der freudigen Bestimmtheit des eigenen Selbst. So heißt es : »Nur wenn man Freude hat, schafft man. Ohne Freude schafft man nicht. Wenn man Freude erfährt, schafft man. Daher soll man die Freude erkennen. Herr, ich möchte die Freude erkennen« (Chândogya-Upanishad VII,22). So wird die »Fülle des Seins« als Quell der Freude in den Upanishaden mehrfach herbeigerufen, jedoch in der für das betende Individuum jeweils geeigneten Form. Gerade aus den Upanishaden können wir erkennen, dass wir den Zugang zu den höchsten Weisheiten, aus denen die Upanishaden hervorgehen, nicht nur unserer Selbstbetrachtung, sondern auch unserer Selbstwerdung verdanken. Aus Einsichten können sich Motive für das Handeln entwickeln, wenn eine gewisse Selbstübereinstimmung erfolgt. Betrachtung und Meditieren dienen dem, was als göttliche Kraft das eigene Innere »reinigt« und frei macht. Entscheidend ist es, dabei Atman als innerem Lenker zu folgen. Denn Atman wird wirksam beim Sehen, Hören, Denken und vertieften Meditieren. In all dem ist Dein Lenker Atman Deine innere Wirklichkeit, wie es die Chândogya-Upanishad in dem Satz gleichsam herausruft : »Tat tvam asi !«, »Das bist du !«, auch ausgedrückt in der Chândogya-Upanishad VI,II,3, VI,5 (Bäumer, Upanishaden, hrsg 1997, S. 67). Während im Erhaltenbleiben und im Aus-sich-Herauswachsen der Weg liegt, ist die Erfüllung die Selbstgewinnung. Es ist dies die immer wieder neu sich auf bauende Aktivität des Sich-selbst-Gewinnens mit Hilfe von Atman als Begleitung zu dem Höchsten, der Realität Brahmas. Meister seiner selbst zu werden ist ein Element im Weltordnungsgewinn. So heißt es auch, dass »religiöse Ordnung« (Dharma) das höchste Ziel ist. »Durch die Ordnung vertreibt man die Sünde. In der Ordnung ist alles gegründet« (Mahânârâyana-Upanishad 523–524, nach Bäumer, S. 122). Man wird dadurch an den heiligen Augustinus (354–430) erinnert, dem es darum ging, »Ordo« und »Amor« zusammenzuführen. Das Geistige ist, wenn man sich seinen klärenden Wirkungen aussetzt, ein Reinigungsritus. Durch die (politische und soziale) Bemühung ist Frieden erreichbar. Der Geist ist Grundlage für die Entwicklung von Ordnung. Dabei müssen Geist und Wort übereinstimmen. 103
Weisheit als Orientierungskraft in Geschichte und Gegenwart
Dazu dient die Verinnerlichung. Ohne Verinnerlichung verliert der Mensch in der heutigen rationalisierten und technisierten Welt sein Gleichgewicht. Daher darf auch das Ich nicht auf einen Punkt reduziert werden. Das Ich bedarf einer Grundlage von Überzeugungen, muss eine gewisse Breite und Ausdehnung beanspruchen. Das können wir aus den Upanishaden für heute ableiten. Das Innerste ist nicht beschreibbar, weil es nur im jeweils eigenen Inneren erfahren werden kann. In der kosmischen Unendlichkeit ist es aber durch den mit der Herzenshöhle verbundenen Atman zugänglich und auch als das Innerste ausformbar. Erkenntnis ist wie ein Ernährungsprozess des Geistes, ein Weg zur Weisheit. Die Chândogya-Upanishad lässt diesbezüglich nicht locker : »Erkenntnis, wahrlich ist höher als Meditation. Verehre die Erkenntnis !« (Chândogya-VII, 6,1–2,7,1). Meditation schult allerdings den Blick nach innen (Katha-Upanishad IV, 1). Und Erkenntnis ist die Vorbereitung der Gotteserkenntnis. Dieser Gottes erkenntnis ist alles unterzuordnen. »Wenn das Denken vollständig versunken ist – die Freude, die dann entspringt, bezeugt das Selbst. So wird die unbestimmte Erkenntnis zu einer bestimmten Erkenntnis.«
Sie ist ein Weg zur Weisheit. Man kann das auch als Zuwendung zu Brahma sehen. Das liegt jedenfalls im Sinne der Upanishaden. So ist es wichtig, die Upanishaden nicht nur offenen Sinnes, sondern auch in Übereinstimmung mit der eigenen »Herzenshöhle«, also der inneren Empfangsbereitschaft zu lesen und so über sie zu meditieren. »Mit abgeklärtem Selbst im Atman verwurzelt, erlangt man unvergängliche Freude. Kein Wort kann diesen Zustand beschreiben. Man kann aber Momente davon in seinem Inneren erfahren« (Maitrî-Upanishad VI, 34). Erfahrungen, die erlebte Weisheit, sind von ihren Ursprüngen her vielfältig. Je bewegter das Leben ist, desto vielfältiger sind die Erfahrungen, desto mehr Bemühungen um Integration dieser Erfahrungen sind nötig, um der Weisheit nahezukommen. Ich möchte daher meiner Begegnung mit den Upanishaden noch eine andere indische Erfahrung hinzufügen. 104
»Das bist du !« – »Tat tvam asi« aus den indischen Upanishaden (800–250 v. Chr.)
Ich hatte die Teilnahme an einem Kongress in einer kleinen Stadt, eine Tagesreise von Bombay entfernt, zugesagt, wollte es aber nicht versäumen, in der gewaltigen Stadt noch vor Anbruch der Dämmerung herumzustreunen. Dabei geriet ich auf einen sehr großen Platz, auf dem sich ein weit ausladender Hindutempel befand. Als ich mich ihm näherte, konnte ich hören, dass in ihm gesungen wurde, offenbar aus Anlass eines Gottesdienstes. Um nicht die religiöse Veranstaltung zu stören, öffnete ich ganz sanft die Türe, trat ein und stellte mich an die innere Hinterwand des Tempels. Der war von Männern, die alle die gleiche Kleidung trugen, in den Bänken bis auf den letzten Platz gefüllt. Und alle diese Männer sangen klar, laut und einstimmig ihre ihnen offenkundig wohlvertrauten Gesänge. Ich stand dort und fühlte mich, so wie vorher durch Lesen in die Upanishaden, nunmehr in diese Gesänge einbezogen. Deren Klarheit nahm mich erlebnismäßig in diese Übereinstimmung hinein. Es gibt ja im katholischen Gottesdienst die Formel una voce dicentes, was man für einen Choral oder einen rituellen Gesang, für die Beteiligten als mit »einer einhelligen Stimme sprechend« übersetzen könnte. Hier war die Einhelligkeit der Stimme das zentrale Erlebnis, es war wie vom Glauben an Brahma und dessen Universalität getragen. Es blieb in den von mir erlebten Gesängen nicht der kleinste Raum der Unsicherheit, aber ganz ohne Zwang. Das war mein in der Erinnerung wie in großer Schrift daherkommendes Erlebnis. Ich blieb im Tempel, solange dort gesungen wurde. Als ich später etwas über die Sänger wissen wollte, wurde mir nur sachlich und zurückhaltend erklärt, es seien Brahmanen in ihrer Gebetsveranstaltung gewesen, die dort gesungen hätten. Wurden die Upanishaden als Weisheits texte in ihre Gesänge aufgenommen ? In Indien wuchs viel Weisheit zusammen, wusste schon Max Weber (1864– 1920) in seiner Religionssoziologie zu sagen (1. Aufl. Tübingen 1921). Durch seine Gelehrsamkeit wurde Weber noch kurz vor seinem Tod zum Entdecker von Weisheit in asiatischen Religionen. Für mich war das Überraschende, dass diese Brahmanenfeier mit den religiösen Texten entnommenen Gesängen in räumlicher Nähe durchaus vereinbar waren mit bunten populären Festen in den Straßen. Religion wurde also auf verschiedenen Ebenen vergegenwärtigt. Liegt nicht in dieser Vielfalt der Ausformung von Religion eine tiefe Weisheit, weil sie den Menschen Entwicklungsmöglichkeiten offen lässt ? Dieses Offenlassen gehört zentral zur Weisheit. 105
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ie indischen Dichtungen und die indischen Religionen haben die Medita tion sowohl als Rückhalt für den Alltag als auch für eine leitende Haltung der Lebensführung zu großer Entfaltung gebracht. Das meditative Nachdenken bzw. Nichtdenken als geistige Sammlung brachte für Indien eine ungeheure Kulturentwicklung. Daran erinnern wir uns in der Österreichischen Akademie der Wissenschaften besonders, weil unser Mitglied, der Indologe Erich Frauwallner (1898–1974), die Meditation aus Elementen der indischen Kultur in großartiger Weise zu erklären verstand. Meditation ist Einkehr bei sich selbst, folgend dem Gedanken innerer Erneuerung. Innere Ordnung im Selbst des einzelnen Menschen, gewonnen durch Meditation, ist eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung und Entfaltung des Menschen in seinen verschiedenen Lebensphasen und Herausforderungen. Wenn du entdecken willst, dann musst du das nicht unbedingt nach irgendwelchen Regeln versuchen. Dafür finden sich Aussagen bei Buddha, in denen dieser das Weiterentwickeln des Denkens je nach Gelegenheit lehrte. Das Ich war ja im Buddhismus nie ein ganz gesichertes, es war eines, an das man glauben konnte, aber als Buddhist nicht eigentlich glauben musste. Wir können heute, wenn wir uns mit Weisheit beschäftigen, aufgrund unserer Kultur gar nicht anders, als uns mit unserem Ich auseinanderzusetzen, mit einem Ich, das in unserer Welt immer wieder lernen muss, psychisch zu überleben. Weisheitsfindung setzt in der europäischen Philosophie und setzte schon in der Mystik Bemühungen um das Ich voraus. Dieses Ich ist eine verallgemeinerte Auffassung im europäischen Denken als Faktor für den Selbstbezug. Schon Immanuel Kant hatte dies in seinen Schriften über Aufklärung umfassend herausgestellt. Buddha, der sich, um sich zurückzuziehen, viel im Wald aufhielt, wollte von den Tieren lernen. Tiere kommen voran, konnte Buddha beobachten, in-
Buddhas Lehre bestand in der Hinnahme des ständigen Wandels und im Aufgeben dauerhafter Orientierungen sowie dem Vertrauen in die Lehre von Weisen. Er selbst predigte die Abkehr von Gier, der »trsna«, und das Verlassen von Lebensillusionen. Das führt schließlich, so Buddha, zur Freiheit im Nirwana.
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dem sie einen Ast fest in der Hand halten und sich auf einen anderen Ast auf einem anderen Baum hinüberschwingen. Für den Menschen heißt dies : Man hat einen Ast in der Hand und entfaltet aus dieser begrenzten Sicherheit heraus eine gewisse Nachdenklichkeit. Wenn man dann auf dem einen Baum auf bestimmten Lebensgebieten glaubt, Umsicht und Nachdenklichkeit gewonnen zu haben, sucht man den nächsten Baum als eine neue Position des Denkens und des meditativen Weiterdenkens auf. Man kann also, folgt man dieser buddhistischen Weisheit, von seinem Standort aus auf seinem Baum nach einem Ast auf dem anderen Baum greifen, um sich auf diesen hinüberzuschwingen. Man kann so auf dem neuen Baum weiterleben und weiterlernen, jeweils als Ausgangspunkt für eine neue Entwicklung. Weisheitsfindung muss also nicht nach irgendwelchen Organisationsprinzipien verlaufen. Um mich mit Weisheit in der indischen Tradition zu befassen, möchte ich vom hinduistischen Gott Vishnu ausgehen. In ihm konzentrieren sich nach hinduistischem Glauben Beständigkeit und das Vermögen, warten zu können. Vishnu steht dafür, dass aus innerer Sammlung Bewegung des Denkens zu entstehen vermag. Von Vishnu, dessen Reittier der in breiten Schichten Indiens verehrte mythische Vogel Garuda ist, könne man Gelassenheit lernen. Garuda fliegt immer wieder einmal auf. Aber das kommt Vishnu zugute. Vishnus zentrale Stellung in der »Trimurti«, der indischen Dreiheit, zusammen mit Brahma und Shiva, sei der Ausgangspunkt für das vom Menschen durch Meditation gewonnene Innere. Aus dem frühen indischen Götterglauben erhebt sich mit einer ungeheuren geistigen Kapazität ab etwa 800 v. Chr. die Welt der Upanishaden in Lehrgedichten und Weisheitsanleitungen. Die Upanishaden bringen uns in der hervorragenden Übersetzung und Interpretation von Bettina Bäumer (München 1997) nahe, dass wir unser Selbst immer wieder neu sammeln können und um unserer weiteren Entwicklung willen auch sammeln müssen. Wir sollen uns innerlich fassen, empfehlen die Upanishaden, eine Zeit lang für uns zur Seite setzen, um zu reflektieren in einem von uns geschaffenen inneren Erfahrungs- und Denkraum. Meditativ nachzudenken oder meditativ zu üben, das heißt, unsere wichtigsten Überzeugungen oder auch unsere persönlichen Wünsche vor das eigene Selbst zu bringen. Wir treten damit auch an unsere Zukunftserwartungen he108
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ran. Es geschieht aber anders als zum Beispiel in einer Psychoanalyse. Das war und ist das große Anliegen der Upanishaden als Krönung hinduistischer Philosophie und aktiver Weisheit. Dafür trat auch der Indologe und Philosoph Raimon Panikkar ein und suchte für diese Gedanken der Upanishaden im christlichen Erfahrungsbereich einen Erlebnisraum zu schaffen. Das gelingt jedoch nur durch wiederholte Nachdenklichkeit in Gebetsform und durch eine meditierende Bemühung um Besinnung auf das Selbst. Ein Brahman-Wissender wird ein Schweigender. Das spontane Loslassen führt zur Erfüllung. So finden sich in den Upanishaden Sätze, welche Aussagen Buddhas vorwegnehmen. Wir müssen daher auch hier den Schritt zu den Lehren Buddhas unternehmen, um des erweiterten Verständnisses der Meditation als Weg zur Weisheit willen. Buddha (»der Erwachte«) geboren 560 v. Chr. stammte aus einer Adelsfamilie. Er war der Sohn eines Fürsten im Vorland des nepalesischen Himalaja. Buddha erkannte als noch nicht dreißigjähriger Hochadliger Alter, Krankheit und Tod als das zu bedenkende Schicksal des Menschen. So versuchte er durch langjährige Askese Antworten zu finden. Aber erst durch die Meditation bei Bodh Gaya unter einem Bodhi-Baum fand er Erleuchtung durch Gott Brahma. So begann er die »vier edlen Wahrheiten« einzusehen. Er lehrte sie auch in den folgenden Sätzen : 1. »Alles Leben ist leidvoll.« 2. »Ursache des Leidens ist der Durst (trsna). Die Begierde, die den Menschen in einem Netzwerk gefangen hält.« 3. »Die Leidenschaften können durch Bekämpfung von Gier und Hass überwunden werden.« 4. »Man muss nur einem edlen achtfachen Pfad samt Denken und Sichversenken folgen. So gewinnt man die Aufhebung ichbezogener Existenz, das Erlöschen von Illusionen und schließlich den Eintritt in das Nirwana.«
Durch die indische Philosophie, besonders durch Nagarjuna im 2. Jahrhundert v. Chr., wurde das Reale erst in der Erkenntnis der »Leerheit« gefunden. Im Mahajana-Buddhismus konnten Bodhisatvas als Vorbilder, die anderen Menschen in der Erfassung des Heils beistehen wollten und den Aufschub der Gewinnung des eigenen Heils hinzunehmen bereit waren, Anerkennung finden. Götterfiguren konnten aus dem Hinduismus integriert werden und unterstützten die Verbreitung des Buddhismus. 109
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Viele Jahrhunderte später kam es zu der entscheidenden Reise des buddhistischen Mönchsgelehrten Bodhidharma, auch »Daruma« genannt, über den Himalaja von Indien nach China. Dort begründete er um 520 nach eigenem Entwurf die Inhalte und Regeln eines neuen Mönchslebens, die Zen-Lebensweise. Diese Regeln und Grundansichten konnten Gemeinsamkeiten mit der sich ausbreitenden Lehre des Lao-tse, dem »Tao-te-King« finden, das seit dem 4. Jahrhundert v. Chr. in China schwungvollen Aufstieg genommen hatte. Es war der Weg gesteuerten Lebens durch Sinnfindung. Wir stoßen bei unserer Analyse auf moderne Ansätze der Psychotherapie als Sinnfindung, wie sie der österreichische Psychiater Viktor Frankl (1905–1997) in seinem Spätwerk auch für die Psychotherapie zu entwickeln verstand. Wohin konnte sich Buddhas Lehre entwickeln ? Der Mainstream des Buddhismus hatte noch zu Lebzeiten Buddhas auf der Verkündigung der »Leere« bestanden. Sie sollte das Erlöschen von Illusionen herbeiführen und die Idee von Auflösung der dauerhaften Substanzen. Buddha wurde noch als schwach gewordener alter Mann von Tausenden Verehrern umlagert. Er lehrte wie zum Abschied, dass es nichts Umfassendes in der Geschichte, nur kurze historische Abschnitte gebe. Nirwana bedeutete nach Buddha das Aufgeben der falschen Ideen dauerhafter Substanzen und Orientierungen, wie sie noch die Upanishaden gelehrt hatten. Buddhas Lehre bestand in der Hinnahme des ständigen Wandels, und er verstand es, die Lehre bis zum Augenblick seines geradezu öffentlich erlebten Todes hochzuhalten und bewundern zu lassen. Buddha stellte all seine Sinne und seine Kraft in die Anerkennung des gesamtmenschlichen und kulturellen Vorübergangs. Er predigte das Ziel der Auflösung der ichbezogenen Lebensillusionen in einer besonderen Art des »Entwerdens« im Nirwana. Ganz anders gestalten sich Lehre und klösterliche Praxis Jahrhunderte später durch die großartige Entfaltung in dem von Daruma begründeten Zen, das im 6. Jahrhundert n. Chr. sich zuerst in China und dann in Japan ausbreiten konnte. Im Zen ging es nicht mehr um Auslöschung und Befreiung zum Nichtsein, sondern um eine ganz neue Entstehung eines noch nicht gelebten Seins. Und dieses, so die neu entstandene Lehre, war auf ein Beginnen gerichtet. Es bedurfte der Stützungen in und aus dem Selbst, welches für Buddha noch störende Hindernisse für die völlige Ablösung mit sich gebracht hatte. 110
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Der Zen-Meister Huineng (638–713) schrieb daher : »Gleichmut und Weisheit sind im Wesentlichen eins (…). Gleichmut ist die Grundlage der Weisheit«. Das Zen verlangt nicht Auflösung, aber eine bestimmte Gestaltung des Selbst. Das Zen feiert seine innere Schöpferkraft, die aber der Aufmerksamkeit und der Aufrechterhaltung wie der Kritik bedarf. Im Unterschied zum Buddhismus ist die Konzeption des Zen nicht einfach ein Überwinden oder völliges Seinlassen, sondern ein ständiger Versuch der Weiterentwicklung und der Befreiung von Bindungen, die diese Entwicklung zu einem durch Meditation geklärten Selbst gefangen nehmen könnten. Das Zen baute stets auf die Erweiterung der durch seine Weisheit und Methodik anvisierten inneren Welt und trachtete dabei, die äußere Welt als Bereich von Aufgaben zu sehen, brachte also eine Lebenslehre. Ich hatte Zen-Klöster und ihre Gärten und kunstvollen Bewässerungs- und Teichanlagen durch meine beruflichen Japanreisen in der Nähe von Kyoto kennengelernt. So konnte ich Erzählungen eines japanischen Kollegen und Freundes von der Universität Tokio besser verstehen, als er mir von stillen, aber einsichtsreichen Wochen als Gast und Schüler in einem japanischen Zen-Kloster berichtete. Die Aufgabe des Zen habe er in der sorgfältigen Pflege von Gärten, im Erlernen von Tuschzeichnungen und Malereien, aber auch in der sorgfältigen Auseinandersetzung mit der japanischen Dichtung vergangener Jahrhunderte kennengelernt. Das war nicht der Weg in die »Leere« bzw. ins Nirwana, wohl aber das Seinlassen von unbedachtem Freiheitsgenuss. Man könne im Zen-Kloster zu einer klareren Wahrnehmung seines eigenen Geistes und Wesens kommen. Besonders die Übungen des Betrachtens von geistig vorgegebenen Inhalten bei den täglichen Stunden nach Vorträgen oder Predigten seien Aufschlüsselungen. Sie brächten Verständnis für das eigene Verhalten. Das führte mich schließlich dazu, den japanischen Freund, der vorzüglich Englisch sprach, zu bitten, mich auf einige Wochen in ein Zen-Kloster mitzunehmen. Er vereinbarte mit dem Abt auch meine Teilnahme und den Kostenbeitrag für meinen Aufenthalt. Was brachte das Leben im Zen-Kloster an Veränderungsangeboten für meine Lebensführung und Einsichten ? Die Gelegenheit zur Teilnahme hatte sich so ergeben : Aufgrund eines Aufsatzes über den Kulturvergleich des Alterns in einer internationalen Fachzeitschrift wurde ich in den 1970er Jahren von der großen buddhistischen Organisation Rissho-Koseikai nach Japan zu einem Vortrag des Vergleichs der Lehre über das Altern in der buddhistischen und in der christlichen Tradition eingeladen. 111
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Ich sagte zu und verbrachte Wochen mit der Vorbereitung. Ich fand in Tokio in einem großen Saal mit Hunderten von buddhistischen Zuhörern viel Interesse, weil es mir gelang, die radikale Weltabkehr des Buddha als die Zuwendung zur Erleuchtung und erst diese dann als Voraussetzung für den Weg ins Nirwana darzustellen. Ich deutete diese Abkehr Buddhas nicht als Weltflucht, sondern als Versuch der Aufhebung aller Irrtümer und Beeinträchtigungen durch Überwindung von »trsna«, dem ungestillten Lebensdurst schließlich auch im eigenen späten Leben. Meine Teilnahme in Zen-Kloster vollzog sich dann so : Als Mönchsaspirant weiß eingekleidet, mit einer Schale für das Essen und einfachem Besteck ausgestattet, erhielt ich im großen Schlafsaal, der auch für die Zeremonien und das Lernen des meditativen »Sitzens« diente, eine Matratze mit Decken zugewiesen. Ich konnte neben dem japanischen Freund am Boden des großen Saales gemeinsam mit etwa fünfzig Teilnehmern nächtigen. Hier wurde auch das Zen zu den vorgesehenen Stunden in Meditation und Konzentrationsübungen praktiziert. Die Einschulung in die Grundhaltung des Zen-Sitzens brachte mir nur einen Teilerfolg, da ich diese Stellung nicht länger als höchstens eine halbe Stunde durchzuhalten vermochte. So wurde mir eine gewisse Mischung aus Sitzen und Hocken genehmigt, womit ich, wenn auch mit Mühe, zurechtkam. Erlösend fand ich, dass ich neben den Stunden der Meditation, die ein junger Zen-Meister für die lernenden Teilnehmer an den Riten vorgab, auch für andere Tätigkeiten eingesetzt wurde. Zusammen mit einigen anderen Neuankömmlingen wurde ich bald auch zur Gartenarbeit abgestellt. Völliges Schweigen war die begleitende Verpflichtung bei dieser Arbeit. Doch fiel mir die Gartenarbeit im Gegensatz zur Teilnahme an Gebet und Meditation im Schlaf- und Gebetssaal nicht schwer. Ich fühlte mich als Lernender. Ich war an manchen Abenden nach der Gartenarbeit zur Gebetszeit schon so müde, dass ich in der mir zugebilligten Sonderform von Hocken und Sitzen einschlief und nur durch die sanften Schläge mit einem Holzstab, die für eine solche Gelegenheit vorgesehen waren, durch eine Hilfskraft des Zen-Meisters wieder aufgeweckt wurde. Nach der zweiten Woche meines Aufenthaltes hatte ich mich einigermaßen eingefunden. Und da kehrte auch der eigentliche Zen-Meister unseres Klosters von einer Europareise zurück. Die Teezeremonie, während derer informell mit jedem Teilnehmer an den Übungen gesprochen werden durfte, was ja sonst untersagt war, gestaltete sich 112
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durch seine Ankunft zu einem großen Ereignis. Der zurückgekehrte Zen- Meister sprach mich in ausgezeichnetem Englisch an, in einem provozierendem Ton, wie er in Teezeremonien durchaus gang und gäbe ist. Was ich denn hier suche, fuhr er mich an. Ich käme doch als Österreicher aus einem Land der Berge, in dem ich meinen Körper erproben und so auch eine Freiheit meiner Einstellungen gewinnen könne. Ich müsse künftig also nur das tun, was notwendig sei, und das sei das Üben und die Achtsamkeit. Herausforderungen gebe es für mich genug. Ich solle hier bei der Gartenarbeit beides tun, das Üben und die Achtsamkeit lernen, um Übungsbereitschaft bei mir zu Hause schließlich in den eigenen Alltag einzubringen. Mit zwei anderen Zen-Lernenden wurde mir die Arbeit übertragen, ein Feld, in dem Gemüse angebaut werden sollte, von den darin in großer Fülle lagernden Steinen zu befreien. Ich brachte das willig und mit einigem Erfolg zustande. Nachdem ich eine Woche zusammen mit den beiden anderen dort so gut wie wortlos gearbeitet hatte, konnte in diesem Feld nun angepflanzt werden. Was mir am schwersten fiel, war meine eigene volle gedankliche Herauslösung bei den Meditationsübungen im Saal. Ich sollte zum Nichtdenken und Nichtvorstellen kommen und so eine Art innerer Leere erreichen. Es gelang mir nur für Augenblicke, mich aus mir selbst herauszukippen, und schon war wieder ein Gedankenteil aus der Gartenarbeit oder der mir von meinem japanischen Kollegen aus der Besinnungsstunde im Saal nahegebrachten Überlegung dazwischengefahren. Aber über allem war mir doch klar, dass die rituellen Übungen, auch wenn sie meine Kapazitäten zum Teil überstiegen, ihren eigenen Sinn hatten. Sie hatten befreiende Wirkungen. Ich lernte, dass strenge Selbstkontrolle über die innere Freiheit einen Weg zur Weisheit eröffnet. Es geht im Zen um innere Friedensstiftung durch Betrachtung des Selbst. »Mach’ dich nur inwendig leer und auswendig harmonisch. Dann wirst du selbst inmitten hektischer Tätigkeit in Frieden sein«, so der Zen-Meister Yuanwu (1063–1135). »Mach nicht Halt beim Nichtsein, dem Leeren. Wenn du das Einzige findest und den Frieden der Freiheit, dann fällt von dir, ohne dein Zutun, alles andere ab«, heißt es bei Zen-Meister Sengcan (529–606). Über Zen sprach dieser chinesische Meister : »Beim Zen besteht ohne die Aufrichtigkeit des Geistes keinerlei Aussicht auf Durchbruch und Verständnis.« Aufrichtigkeit des Geistes ist ein Weg zu Weisheit. Um die Weisheit zu wahren, müsse man stark sein, hatte schon Lao-tse gelehrt (Tao-te-King 52). 113
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So wird durch die Praxis des Zen die ursprünglich von Buddha geforderte radikale Selbstauflösung ins Nirwana aufgehoben. Letztes Ziel nach der Lehre des Zen ist der Sinn, der aus der Unverfälschtheit des Geistes erlangt werden kann. Es genügt, »sparsam zu leben«, um das Leben im Einklang »mit dem Sinn der Welt« zu erreichen, hieß es im »Tao-te-King« des Lao-tse aus dem 4. Jahrhundert v. Chr., das aller Wahrscheinlichkeit nach frühe Entwicklungen des Zen in China, wo es sich ausbreitete, beeinflusste. Lao-tse bezeichnete im Tao-te-King als seine drei Schätze : 1. Gütigkeit, 2. Genügsamkeit, 3. nicht voranzugehen, um vorne anzustehen in der Welt. Derjenige ist der sich rettende Mensch, der das eigene Selbst zur Teilnahme und Hilfe für das Selbst der Welt (ihre innersten Probleme) erweitert. In dieser Allteilnahme des Selbst nach der Auffassung des Zen liegt die Selbsteinigkeit. Das bedeutet nämlich, nicht vorbeizugehen an dem, was als Lösungsnotwendigkeit vor unsere Augen kommt. Es war erstaunlich, wie nahe sich die Zen-Grundgedanken eines gezielten Wachstums des Selbst durch Meditation und gezielte Entsagungen mit der Suche nach dem Tao des Lao-tse verbinden konnten und können. Das gelingt auf dem Weg der Stärkung der Lösungskompetenz aus dem Inneren als oberstem Sinn. Das kann auch gelingen durch Zurückhaltung und Genügsamkeit und dem Verzicht darauf, der Erste sein zu wollen. »Wenn wir fähig sein wollen, anderen zu helfen, brauchen wir geist-offene Hilfsbereitschaft« (Zen-Meister Huineng, 638–713). Aus dem seit Jahrtausenden in der nördlichen wie in der südlichen Kultur des alten China sich entfaltenden Suchen von selbsternannten Zauberern und Schamanen, die an den jeweiligen Höfen der Herrscher große Beachtung erfuhren, waren Schätze von Anleitungen zu einem sozialen Verhalten aufgespeichert worden. Sie konnten nun auch im Zen zum Einsatz kommen. Für das Verständnis des Zen war es wichtig, sich vom ursprünglichen Buddhismus zu lösen, durch die Suche des meditierenden und Regelungen folgenden Menschen nach einer in sich gestifteten inneren Einung. Erst durch die Berührung mit der chinesischen Kultur der bald darauf vom 4. bis 3. Jahrhundert v. Chr. erfolgenden Blüte des Taoismus formte sich schließlich das Zen-Denken. Die Zen-Praxis in den buddhistischen Klöstern zielte in die Richtung des jeweils möglichen höchsten Sinnbezugs. Dieser äußert sich neben einer gesteigerten Konzentrationsfähigkeit auch in kulturschöpferischen und künstlerischen Handlungen von Dichtung, Malerei und Gartenbau in den Klöstern. 114
Meditation als Geburt der Weisheit in der Seele
Das buddhistische Denken feierte durch das Zen eine Art Erneuerung, indem es sich von der Strenge des Strebens nach dem Nirwana völlig ablöste. Das Zen strebt auch heute in verschiedenen sozialen und nationalen Umfeldern nach einer allübergreifenden Einheit als Lebensziel. Das Tao, auf das die Lehre des Zen traf, konnte als Sinngebung Impulse und durch seine philosophische Ausstrahlung in China ohne Zweifel den Zen-Buddhismus stärken. »Wer seine Person gestaltet, dessen Leben wird wahr«, heißt es im Tao-te-King. »Der heilige Mensch tut nie das Große, darum kann er sein Großes vollenden« (Spruch 63). Wenn ich wirklich weiß, was es heißt, im großen Sinn des Tao zu leben, so ist es vor allem die Geschäftigkeit, die ich fürchte, heißt es dort. Karrierismus wird also abgelehnt, die innere Entwicklung mit Mitteln des Übens ist zu fördern. »Sorgt man für das Ende wie für den Anfang, dann misslingt kein Geschäft« (Spruch 64). »Wenn du frei sein willst, gewähre dir einen Moment Geduld. Er bringt dir Freude« (Zen-Meister Won Hyo, 617–686). Dann kannst du es dir erlauben, mit einer Gemeinschaft in Berührung zu sein, von den anderen zu lernen, das ist die Botschaft des Zen. Weisheit verlangt Abkehr von Selbstüberschätzung und Karrierismus, so subtil sich Letzterer auch geben möge. Dazu gehört Geduld, ohne die keine Weisheit entstehen kann. Geduld lässt Freude entstehen, gibt ihr eine Chance. Freude fördert Weisheit. Die Förderung von Freude stellte sich auch als eine Aufgabe des Zen heraus. In den Zen-Klöstern ergaben sich für den Ort der strengen Meditation beruhigende und erfreuliche Verschönerungen. Zu den Gemüsegärten kamen die immer mehr zur Zen-Identität gehörigen Ziergärten, die wir besonders in Japan bewundern können. Auch das aus der Konzentration der Zen-Übungen hervorgetretene Pinselmalen mit Tusche ist aus dem als eine aus dem Geist des Zen entwickelte Form schöpferischen Tuns anzusehen. Aus eigener Erfahrung im Zen-Kloster kann ich sagen, dass es nicht leicht gelingt, von einem Punkt links unten im Eck eines Blattes schön geschwungen einen zweiten Punkt rechts oben im Eck zu erreichen, ohne dabei einen Moment abzusetzen. Auch die Kunst des Blumenbindens »Ikebana« gehört zur Verschönerung des Lebens durch Zen. Verschönerung ist dem Zen zufolge eine Meisterung des Lebens. Darin erkennen wir den Wertwandel durch das Zen von der grundlegenden und alles Tun beendenden Ablösung im klassischen Buddhismus. 115
Weisheit als Orientierungskraft in Geschichte und Gegenwart
Zen-Buddhismus wurde zu einer inneren Verwandlungsreligion, wobei weniger die Lehren des Buddha als die Aussagen der jeweiligen Zen-Weisen in ihrem religiösen Ausdrucksstreben für die Mönche führend Bedeutung gewannen. Eine beachtliche Sammlung, »Lektionen der Stille, klassische ZenWorte«, die von Helwig Schmidt-Glintzer (5. Auflage 2015) herausgegeben wurde, macht dies deutlich. Im Unterschied zu einer Lebensablösung und -auflösung der klassischen Lehre Buddhas traten die Gedanken der Vielfalt von individueller Sinnfindung. Es geht im Zen um die Entwicklung dieses Lebens und die Entdeckung seines inneren Geheimnisses für jeden einzelnen. Und das kann man auch Weisheit nennen. Auf Verlangen des Mönchs und mit Zustimmung des Abtes kann dem ZenMönch auch eine Phase völligen Alleinlebens zugebilligt werden. Es gibt dazu rührende Geschichten der Wiedervereinigung solcher Einsiedler mit ihrem Kloster. Auch wird dem einzelnen Zen-Jünger bei vorangeschrittener Entwicklung eine Rätselfrage auferlegt, um deren Lösung im eigenen Sinnfindungsprozess der Mönch ringt. Diese Rätselfrage wird zu einer rituellen Sprachgestalt, dem »Koan«. Das Rätsel des Koans soll vom Zen-Jünger gelöst werden. Ein Mönch eines japanischen Zen-Klosters konnte sich bei seiner intensiven Suche nach Auffindung und Erklärung seines Koan-Spruchs in der Art seiner Bemühung mit seinem Abt nicht einigen. So genehmigte ihm der Abt, einige Wegstunden vom Kloster entfernt in einem dichten Wald in einer dortigen Lichtung einen eigenen Tempel als Gebetsort und Wohnort für sich zu schaffen, was dieser Mönch auch tat. Jahre hindurch lebte er in der Einsamkeit und in der intensiven Suche nach seinem Koan. Er kehrte auch täglich sorgfältig seinen Tempel und pflegte ihn geradezu wie seinen eigenen Körper. Als er eines Tages besonders kraftvoll und aufmerksam den Tempel kehrte, geschah dies so schwungvoll, dass bei der Kehrbewegung ein kleiner Kieselstein gegen eine Holzstufe im Tempel geschleudert wurde und daraus ein ungewohnter Ton entstand. Als der Mönch den Ton hörte, fiel ihm plötzlich das Rätsel für seinen Koan ein, nach dem er jahrelang gesucht hatte. Ohne zu zögern warf er sich ein Tuch um, sperrte den Tempel ab und machte sich in Richtung seines Klosters auf, um dem Abt die Findung seines Koans zu melden. 116
Meditation als Geburt der Weisheit in der Seele
Als er auf halben Weg war, trat ihm im Wald bereits sein Abt gegenüber und schloss ihn wortlos in die Arme. Es wurde für beide der Beginn eines neuen Lebens und Zusammenlebens. Vielleicht kann man aus dieser Geschichte folgern, dass Erneuerung, also Findung seines Koans auf innere Bewegung in Geduld und einen schließlich äußeren Anstoß, wie den des Kiesels an die Holzstufe, angewiesen ist. Anstöße sind Folgen kontinuierlicher Bemühung. Geduld kann man kontrollieren, Anstöße nicht. Das ist die Lehre der Weisheit. Gegen Ende meines Aufenthaltes im japanischen Zen-Kloster und der Teilnahme an den Übungen und Meditationen nahm ich mir vor, einen Vertreter des Klosters auf Weisheit hin anzusprechen. Und da fragte ich zuerst den Prior des Klosters, einen jüngeren Mann. Während der Teezeremonie, die für Dialoge geeignet ist, suchte ich das Gespräch mit ihm, was ja während des durch Arbeit und Meditation streng geregelten Tages sonst nicht möglich war. In dem für den wechselseitigen Umgang in der Teezeremonie im Zen ungewöhnlich offenen, von Schülern, Mönchen und Meister gepflegten Ton sagte er zu mir : »Was suchst du eigentlich hier bei uns ? Du hättest genug Gelegenheit, zu Hause bei dir weise zu werden.« Da fragte ich, was ich tun solle. Er sagte : »Ihr habt ja wunderbare Berge, wenn du da zu einer Bergtour hinaufsteigst, verwende Übungen. Schau bei jedem Schritt, wo du deinen Fuß wirklich hinsetzt. Wenn du das tust, dann kannst du Schritte in Richtung Weisheit machen. Wenn du deine Schritte nämlich beobachtest, heißt das, durch die kleinen Schritte in einem schotterigen oder nassen Gelände Vorsicht verstehen zu lernen. Und Vorsicht und Selbstbeobachtung deines Tuns brauchst du, um weise zu werden.« Am letzten Tag meines Aufenthaltes im Kloster fasste ich Mut und ging zum Abt. Er hatte sich gegen Ende des Zweiten Weltkrieges als Marineoffizier beim Untergang seines Schiffes an Land retten können. Er empfand dies als Schande und wollte mit Harakiri aus dem Leben scheiden. Ein Freund brachte ihn davon ab. Dann begann er sich intensiv mit dem Buddhismus zu beschäftigen, schließlich wurde er in Kyoto an der Universität auch Professor für buddhistische Studien. Ich fragte ihn, welchen Rat er mir für die Bewältigung von beruflichen und psychischen Krisen geben könne, die mich gerade sehr beschäftigten. Da schaute er mich lange an und sagte dann : »Tief atmen.« Der Satz ist mir fest in Erinnerung geblieben : »Tief atmen.« Als ich in der buddhistischen Forschung nachlas, konnte ich erfahren : Beim Einatmen 117
Weisheit als Orientierungskraft in Geschichte und Gegenwart
geraten die Gedanken in Bewegung, man entwirft etwas. Man baut etwas auf, gewinnt einen Plan. Und beim Ausatmen sinnt man darüber nach oder versucht, den Plan zu verwirklichen. Beide Atembewegungen vermitteln in ihrem Zusammenhang unter entsprechenden Voraussetzungen einen Weg zu – Weisheit. Meine Schlussfolgerungen lauteten : beim Denken nicht den Atem anhalten, das Nichtdenken, den Verzicht auf Vorstellungen zeitweise üben. Der Verzicht ist die Eingangspforte zur Meditation. Und diese ist, wenn auch nicht regelmäßig, eine Wegfindung zur Weisheit. Das Weise soll, wenn möglich, dann auch ausgesprochen werden. Ist das Gestrige, das Bewährte, das Weise ? Ist es das Morgige, das Gewagte ? Das Weise ist für mich das, was innen im Menschen gebraucht wird, zur Versöhnung und zum Auf bruch.
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14 »Du musst abweichen vom Weg, den Du gewöhnlich gehst« (Tao-te-King des Lao-tse, 4. Jh. v. Chr.)
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ndere Zugänge zur Weisheit eröffnen sich im Unterschied zur indischen Kultur in China. Dazu trug auch der Schamanismus der »Unsterblichen« bei. Denn zu einer besonderen Art von Fantasie waren die »Unsterblichen« des Taoismus, einer der großen Weisheitstraditionen, bereit, die eine Glücksperle und einen Zauberstab mit sich trugen. Viele waren Schamanen und konnten so auch in ihrer Ichbezogenheit an die Erfüllung ihrer Wünsche glauben. Mit ihrem Stab zauberten sie z. B. ein flugfähiges Tier herbei und ließen sich von diesem auf eine Reise in eine ferne Welt tragen. Das Motto der Unsterblichen nahm das Tao-te-King des Lao-tse vorweg : »Der Weg, den man Weg nennen kann, ist anders als ein ständiger Weg« (Laotse, aus dem Tao-te-King, 4.–3. Jahrhundert v. Chr.). Jedenfalls gehört zum »anderen Weg« Fantasie. Die »Unsterblichen« der chinesischen Mythologie sind Ermutiger, dadurch auch weise Vorbilder. Li Tieguai ist einer der bekanntesten der acht »Unsterblichen«, der taoistischen Weisen aus China. Die »Unsterblichen« gelangten durch jahrelanges Meditieren oft in völliger Abgeschiedenheit zu innerlicher Reife. Und doch blieben sie Menschen, die das Glück suchten. Der ständige Weg ist der Weg der Fairness und der Verantwortung. Aber es muss auch ein anderer Weg, nämlich jener der Fantasie dazukommen, wie der österreichische Psychiater Hans Strotzka in seinem Werk »Fairness, Verantwortung, Fantasie« (1983) vorschlug. Und der Weg der Fantasie ist es, den ich mit dem Gedanken der Weisheit verbinden möchte. Was lehrte uns Lao-tse im 4. und 3. Jahrhundert v. Chr. ? »Du musst abweichen vom Weg, den du gewöhnlich gehst.« Denn dieser, der gegenüber dem gewöhnlichen Weg neue und besondere Weg ist der Weg des Tao. Er ist der Weg der Weisheit, selbst gesucht, selbst gefunden und selbst begangen.
Chinesische Darstellung eines hochbetagten Weisen : Solche »Unsterbliche«, wie diese Figuren genannt werden, streben trotz ihrer Behinderungen mit Hilfe magischer Mittel nach neuen Zielen. Ihre Fantasie und Entdeckerfreude machen sie zu großen Symbolen der Ermutigung, Weisheit zu gewinnen.
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Weisheit als Orientierungskraft in Geschichte und Gegenwart
Die traditionellen acht Unsterblichen, mythische Figuren alter Männer, die alle ihre eigenen Namen haben, sind Beispiele für jeweils eigene selbstgesuchte Wege. Sie können den mit sich getragenen Reisestab oder ihren Stoff beutel in einen fliegenden Esel verwandeln. So vermögen sie dann dorthin zu fliegen, wo es etwas Neues für sie zu erleben gibt und wo sie, wie der »Unsterbliche« Li Tieguai, auch Hilfe bringen können. Natürlich sind das Vorstellungen, die uns in Europa fürs Erste fremd sind. Aber die chinesischen Unsterblichen, die auch in die japanische Kultur übernommen wurden, zeigen uns, dass sie, gestärkt durch eine Glücksperle, die Möglichkeit haben, den Glauben an sich selber durch Meditation, und phasenweise durch Verzicht, aufrechtzuerhalten. Das ist das Besondere, das uns die »Unsterblichen« vermitteln : Sie können nämlich auf wunderbare Weise auf Reisen gehen. Die »Unsterblichen« entwickeln einen Glauben und eine Entdeckerfreude, die sie zu Zielen führen, die sie vielleicht nur mit ihrer Fantasie erreichen. Aber auch das sind Weisheitswege. Denn auch Fantasieziele bereichern den Geist und vermögen durch Fiktionen zur Gestaltung von Weisheit beizutragen. Der Weg der Weisheit ist ein anderer als ein ständiger Weg. Denn er muss immer wieder neu gefunden werden. Sie sind auch immer wieder aufgetreten, im Fernen Osten, die »Unsterblichen«. Sie haben Wege gewiesen, für sich selber und als Beispiele der Geduld und Gelassenheit, eben als Weise (Rosenmayr, Schöpferisch altern, 2. Aufl. 2007). Ein solcher Weiser trat später auch in Europa auf, im 20. Jahrhundert : Rainer Maria Rilke. In seiner Dichtkunst enthüllte er Weisheit durch seine Fantasie. Man muss um der Weisheit willen immer wieder neu anfangen, man muss noch einmal leben, das war auch die Botschaft Rilkes. Wir müssen Beginner werden, nicht Wiederholer bleiben. In diesem Sinne kann man auch den Satz Rilkes auffassen : »Ich kann mir kein seligeres Wissen denken, als dass man ein Beginner werden muss.« Beginnen heißt ja, dem Wehen des Windes, dem schöpferischen Augenblick des Geistes mit allem Ernst sich hinzugeben. Wir können in den Wirrnissen unserer Zeit hinzufügen : Ein Beginner zu werden heißt, dass man sich anvertraut. Das kann wohl am ehesten gegenüber einem Menschen geschehen, den man liebt und dessen Schutz und Stützung man zu gewinnen vermag. Dann kann man durch solch eine Hilfe eher ein »Beginner« werden. Schon Francesco Petrarca (1304–1374) hatte dies als Dichter in der Frührenaissance erfasst. Durch Laura, die er liebte, wurde er zum »Beginner«. 122
»Du musst abweichen vom Weg, den Du gewöhnlich gehst« (Tao-te-King des Lao-tse, 4. Jh. v. Chr.)
»Durch sie nur blieb ich nicht, was ich gewesen«, war die frühe moderne Erkenntnis von Petrarca im wandlungsreichen 14. Jahrhundert. Dieser Dichter war nicht nur ein Gottsucher, sondern auch ein Lebenssucher. Und so suchte er auch menschliches Leben zu enträtseln. Ich hole also Francesco Petrarca mit seiner von ihm über alles geliebten Laura in die Gegenwart. Viele Menschen, möchte ich als Weisheit formulieren, brauchen Hilfen, um »Beginner« werden zu können. Es gibt immer wieder Beispiele dafür, dass im Sinne des »Geistes, der weht wo er will«, Seelenhelfer, Erlöser und Erlöserinnen auftreten. Wir wissen es zu Beginn vielleicht gar nicht, dass sie das werden können, wenn sie anderen Menschen begegnen. Die Gemeinsamkeit der Menschen untereinander enthält erlösende Elemente, besonders in der Liebe. Für Petrarca war Laura eine Erlöserin. Petrarca sagte, er traue sich gar nicht mit einem Boot auf einem Fluss zu fahren, in dem Laura einmal gebadet hatte. So sehr verehrte er Laura als »Erlöserin«. Er sei dieses Wassers nicht würdig. Er dürfe es nicht einmal mit einem Boot berühren. In der Zuwendung liegt eine Verwandlungskraft für beide Seiten, für die, die sie gibt, und die, die sie empfängt. Weisheit enthält das Offene für die Verwandlung. Vielleicht betont das Christentum der Gegenwart trotz der Verwandlungszeremonien, zum Beispiel in der heiligen Messe, seine Verwandlungskraft für das Leben zu wenig. Dabei gibt es die spirituelle Idee des Neubeginns ganz ausdrücklich, doch es scheint, als sei sie in Predigt und Theologie vergessen worden. Aber Jesus hatte ganz entschieden von Neugeburt und vom Neubeginnen gesprochen. Ergänzend zur Zwischenmenschlichkeit ist Weisheitsfindung auch durch das Element der Kunst möglich. Für das Verständnis von Weisheit in Geschichte und Gegenwart hilft uns die Kunst. Sie ist eine Kraft, die uns zu verändern vermag. Sie gibt uns Mut dem Fragwürdigen gegenüber. Weisheit verlangt das Ausbauen unseres Selbst im Fragwürdigen, und so auch durch das Sich-Anvertrauen einem Menschen gegenüber wie auch im Vertrauen auf die schöpferische Fähigkeit in uns selber. Weisheit erfordert das Kultivieren des Schöpferischen und damit auch das Üben. Peter Sloterdijk (geb. 1947) betont mit Recht vielfach die Wachstumsfähigkeit durch seine Abhandlungen über die »Ausweitung der Übungszonen« in seinem Werk »Du musst dein Leben ändern« (Frankfurt 2009). Weisheit gedeiht in der Gelassenheit gegenüber dem Fragwürdigen. Die Gelassenheit wird durch das Üben wenn nicht gewonnen, so doch entscheidend gestützt. 123
Weisheit als Orientierungskraft in Geschichte und Gegenwart
Das Schöpferische im Menschen ist etwas, das Weisheit fördert. Zur Weisheit hilft ein Leben ständiger Entdeckung. Denn durch das Wagen in eine Entdeckung gewinnt man den ungewöhnlichen Weg, den Lao-tse bereits empfahl. Weisheit heißt deswegen auch, sich lernend der eigenen Vergangenheit zuzuwenden. Das bedeutet zum Beispiel, in einer späteren Lebensphase Alternativen zu schaffen, um zu seinem bisherigen Leben neue Lebensgewohnheiten zu entwickeln. Wir müssen in uns nicht nur Voraussetzungen der Selektion, wie der am Beginn dieses Buches schon erwähnte Paul Baltes in seinem SOC-Modell »Selection, Opportunity, Compensation« forderte, suchen, sondern auch eine mutative Weisheit schaffen. Das ist eine Weisheit des Sich-Änderns, in der wir uns dem Abenteuer der Selbstwerdung aussetzen. Wir gehen dadurch nicht von der Selektion aus, aber wir gehen auf sie zu. Sigmund Freud verlangte in seiner letzten Schrift, die er verfasste, über die »Endliche und die unendliche Analyse« (1938), vor der Flucht aus Österreich, dass wir eine »Ich-Umarbeitung« vornehmen. Eine solche Umarbeitung ist eine Voraussetzung, weiser zu werden, durch sich und in sich. Die von ihm entwickelte Psychoanalyse kann ihm zufolge nie abgeschlossen werden. Deswegen sprach Freud in seinem Spätwerk von der »unendlichen Analyse«. Sie ist als Anstrengung der Ich-Umarbeitung ein wichtiger Beitrag zur Weisheitsfindung, nicht nur ein Akt der Selbsthilfe. Die »unendliche« Analyse muss eine selbstständige Ich-Umarbeitung sein. Bei der sich nun ausbreitenden Langlebigkeit werden in den Phasen des späten Lebens vielleicht auch mehrere Umarbeitungen individuell nötig werden. Um sich der Weisheit anzunähern, sind Anstrengungen, die Plage der Überwindung von Selbstbehinderung, erforderlich. Weisheit wird nicht geschenkt. Um unserer Selbsterhaltungskraft willen sollten wir der Weisheit zustreben. Es wird auch immer etwas von diesem Streben nötig sein und bleiben. »Du musst abweichen vom Weg, den Du gewöhnlich gehst !« Weisheit ist immer neu zu erreichen, durch jeweils neu gewonnene Maßstäbe und neu aufgefundene eigene Realisierungsmöglichkeiten. Es gilt, den Geist, der weht, wo er will, für die eigene Selbstgestaltung und die Sorge um andere in sich selber hineinzulenken. So kann der Mensch sich selber zur Weisheit führen, allenfalls auch führen lassen.
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15 Sufi-Mystik in einer Freundschaft in Wien-Margareten : Wie Ost und West neu zusammenfinden können
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ine fremde Religion über Menschen, die ihr angehören, kennenzulernen schafft eine Nähe, die das Verständnis dieser Religion begünstigt. Natürlich ist es schließlich auch nötig, die heiligen Texte zur Hand zu nehmen, um Kernsätze und innere Zusammenhänge zu erfahren. Sie lassen die Praxis einer Religion und das Verhalten ihrer Gläubigen verständlich werden. So kann man auch Weisheitselemente aufspüren. Ich hatte das Glück, unweit von meinem Wohnhaus auf der Wiedner Hauptstraße in Wien, in der Hartmanngasse, auf einen gebildeten Sufi zu treffen. Aus Persien eingewandert, betreibt er ein Geschäft für die unter seiner Leitung hergestellten Möbel, für Antiquitäten und aus dem Orient stammende Teppiche. Bei meinen fast regelmäßigen Besuchen in seinem Geschäft, dem Kauf kleiner persischer Vasen oder Teller für meinen Haushalt, ergeben sich Gespräche über die reiche Kultur und die Geschichte des Iran. Dabei berichtete mir der neu gewonnene persische Freund, dass er früher bei einer aus dem Iran stammenden Sufi-Gemeinde eine führende Rolle gespielt hatte. Das interessierte mich. Um den Sufismus in seinen Grundüberzeugungen und in seinem Verhältnis zum Islam durch historisch und religiös wissenschaftliche Forschung näher kennenzulernen, befasste ich mich mit dem umfassenden Werk »Mystische Dimensionen des Islam« (Insel, 1995) der deutschen Islamforscherin Annemarie Schimmel, welche die richtunggebenden Gestalten des Sufismus, so zum Beispiel den Märtyrer Hallaj (hingerichtet 922), beschreibt. Er hatte gelehrt, dass Gottes Natur auch die menschliche in sich einschließt, und der Heilige sei jener, der die Sünden und Qualen der Welt auf sich nehme.
»Die Vogelgespräche« von Fariduddin Attar (1136–1220) gehören zu den wichtigsten Texten mittelalterlicher Sufi-Mystik. Sie berichten von der gefährlichen Reise von dreißig Vögeln zum höchsten Endziel, der »Pilgerfahrt nach innen«, dem »Simurgh«. Auch zur Überbringung von Glücksbotschaften waren Vögel bereit. Sie symbolisieren die Rettung von oben, wie das Bild von einer persischen Fayence zeigt.
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Weisheit als Orientierungskraft in Geschichte und Gegenwart
Solche Hingabe von Heiligen war so außerordentlich, dass diese weit über die Forderungen hinausging, wie sie sich im Koran fanden. Dort ging es um Läuterung für Weisheit, die Allah als der Mächtige und Weise ermöglicht, aber nicht um das radikale Selbstopfer, wie es für das Christentum das stellvertretende Leiden und der Kreuzestod Jesu gebracht hatte. Für den Sufismus war das Selbstopfer, fana, das Hinterlassen des eigenen Selbst und die daraus sich ergebende »Entwerdung«, und baqa als Rückkehr und ewiges Leben in Gott, ein besonderer Weg. Eine erste Erfahrung mit dem Islam hatte ich schon in den frühen 1980er Jahren bei meinen Forschungsvorbereitungen in der Hauptstadt Malis, in der Moschee von Bamako gewonnen. Ich war dort gemeinsam mit meinem Freund Tiefing Boaré vom Stamm der Bambara aus dem Dorf Sonongo im Nordosten des Landes, um zu beten. Diese Erfahrung mag als meine islamische Ausgangserfahrung zum Verständnis für den Sufismus hier illustrativ dienen. Mein afrikanischer Freund war schon vor vielen Jahren zum Islam übergetreten, übte jedoch seine Tätigkeit als Ratgeber in der traditionellen Gesellschaft der Dörfer in Mali mit ihren Fetischen weiter aus. Ich saß also neben ihm auf einem Gebetsteppich und streckte mich mit dem gedehnten Oberkörper, zusammen mit den Gläubigen, Richtung Mekka aus. In die Gesänge konnte ich nicht einstimmen, verstand sie aber als Gebetstexte. Sie waren für mich eine Art Orientierung auf Allah hin. Er beeindruckte mich in den Gebeten als streng, fast distanziert, ohne Ausdruck von Wärme. Es ging darum, den Gott anzuerkennen, sich ihm zu unterwerfen, weil er nach dem Koran »allweise und allwissend« war, und von ihm die Aufnahme ins Paradies erwartet werden konnte. Es war eine einheitliche, auch eben körperliche Bewegtheit, die zum Gesamtausdruck der rituell knienden Männer führte. Die Frauen hatten geschlossen, völlig getrennt von den Männern, auf einer Art Empore Platz gefunden und agierten dort in einer gewissen Unabhängigkeit von den Riten der Männer. Die vielleicht bewegendste Szenerie ergab sich nach dem Ende des Gebetsgottesdienstes beim Ausgang aus der Moschee, wo Hunderte von Bettlern auf die herausströmenden Männer warteten und mit Geldmünzen bedacht wurden, Spenden für die Armen, wie sie der Koran ausdrücklich verlangt. Ich stand da draußen im Gewühl des Spendens von Almosen. Auch aus diesem Erleben heraus befasste ich mich später mit dem Sufismus als der mystische Richtung des Islam. Sufismus als gemeinsame Überzeugung von Gruppen von Mystikern bedeutet, seine Seele aufzuopfern. Während indische, jüdische oder christliche 128
Sufi-Mystik in einer Freundschaft in Wien-Margareten
Mystik bei aller Bewegtheit und Reinigung, die sie dem Selbst abverlangen, dennoch auf dessen verwandelte Erhaltung abzielen, verlangt der Sufismus in seinen nach Gruppen verschiedenen Ausprägungen die vollkommene »Entwerdung«, wenn auch mit der Rückkehr (baqa) zu Gott. Der ägyptische islamische Mystiker Dhū n-Nūn al-Misrī (796–859) war einer der Ersten, der die Liebe über den Koran hinaus als das innerste Wesen der Gottheit erkannte und in Gedichten besang. Er schrieb als einer der frühen Sufi-Heiligen im 9. Jahrhundert : »O Gott, niemals lausche ich auf die Stimme eines Tieres oder das Rauschen eines Baumes, das Sprudeln von Wasser oder den Sang eines Vogels, das Brausen des Windes oder das Grollen des Donners, ohne zu finden, dass sie Deine Einzigkeit bezeugen und darauf hinweisen, dass es keinen gleich Dir gibt, dass Du der All-Umfassende, der Allwissende bist.« (Annemarie Schimmel, Mystische Dimensionen des Islam, 1995, S.76)
Die Orthodoxen unter den Muslimen konnten die Gottesliebe nur als menschlichen Gehorsam anerkennen (Schimmel, S. 87). Ma’ruf al-Karkhi (gest. 815) aber sprach von der gegenseitigen Liebe zwischen Mensch und Gott. Zu seiner Zeit, im 9. Jahrhundert, wurde bei den Sufis gelehrt, dass eine ununterbrochene Erziehung der Seele notwendig sei. Die Einsicht führt nicht nur zum »Entwerden«, sondern darüber hinaus zu einem neuen Leben in und durch Gott. Liebe hielten die Sufis für eine Art Wachstumskraft, welche hilft, die in jedem Menschen angelegten Möglichkeiten zur Vervollkommnung zu entwickeln. Liebe sei eine göttliche Kraft, man könne sie nicht lernen (Kharki laut Schimmel, Mystische Dimensionen des Islam, 1995, S. 87). Der große französische Islamforscher Louis Massignon (1883–1962) sagte, dass erst dank dieser Mystik der Islam im ersten Jahrtausend nach Christus zur Weltreligion wurde. Ich biete hier einige Voraussetzungen, um für die nachfolgende Darstellung des Sufismus den Boden zu bereiten. »Allah sei der Allhörende, der Allwissende.« »Die Heimsuchung ist das Salz des Gläubigen. Wenn die Heimsuchung fehlt, so verdirbt er.«
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Weisheit als Orientierungskraft in Geschichte und Gegenwart
»Ich rief meine Seele zu Gott. Aber sie verweigerte mir die Gefolgschaft und machte mir Schwierigkeiten. Da ließ ich sie stehen und ging weiter zu Gott.« Dhū n-Nūn al-Misrī
Ich versuche hier, mich mit den menschenfreundlichen, auf die eigene Erlösung zielenden Praktiken von Glauben und Gebeten des Sufismus zu befassen. Der Islam war von vornherein durch Mohammed als strenger Monotheismus unter Ablehnung jeglichen Priestertums auf der Achse zwischen Allah, dem Allwissenden und Allweisen, und dem gläubigen Menschen aufgebaut. Da gab es keine Kontrolle bzw. keine allenfalls Milde bewirkende Organisation wie die christliche Kirche. Man kann die Grundhaltung der Sufi in ihrer Gemeinschaft oder Vereinigung gut als innere Neugründung des Islam auffassen, die Ende des ersten Jahrtausends stattfand. Der Islam als solcher kennt keine Opferliturgie wie das Christentum. Er ist keine durch Dogmen gerahmte oder bestimmte symbolische Welt der Verkündigung. Der Islam setzt auf die Sprache des Korans im Gebet, die Scharia als gesetzliche Lebensordnung. Der Sufismus hingegen ist eine individuelle Überzeugungsreligion in einer mystischen Ausprägung. Ob der Atemzug in die Sufi-Dichtung aus dem Geist der islamischen Mystik kam, etwa durch Ibn al-Farid (1181–1235), oder religiöse Atemübungen aus indischen Meditationslehren in den Sufismus einbezogen wurden, müssen wir hier offen lassen. »Jeder Atemzug ist eine Perle und Koralle von unschätzbarem Wert. Sei deshalb aufmerksam und hüte jeden Atemzug gut«, wurde zu einer religiösen Lehre der Sufis. Wichtig ist für unsere hier versuchte Hinführung zur Weisheit in Weltreligionen, dass die Einbeziehung des Körpers, insbesondere der Atmung, auch durch die im Islam entwickelte Lehre vom dhikr als Selbstbeherrschung des Atmens in den Sufismus Eingang fand. Durch Gebete ritueller Art, durch wiederholtes Gedenken an Gott auch im Alltag schuf man eine Art Vergeistigung und Gefährtenschaft mit Gott, die man dhikr nannte. 130
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Gott habe laut Koran versprochen : »Ich bin der Gefährte dessen, der meiner gedenkt.« Die Sufis erlebten die Vorschriften des dhikr, wie Annemarie Schimmel durch ihre Islamforschungen aufzudecken bemüht war, aus einem Urvertrag, den Gott mit dem Menschen schließt. Das war eine Art »Bund«, der aber großteils unausgesprochen blieb. Für den dhikr ist also eine mystisch verborgene Annäherung des Menschen an Gott Voraussetzung. In manchen Sufi-Deutungen wird der Weg des dhikr als Pfad zur völligen Selbstauflösung auf Gott hin gedeutet. Bei Achtsamkeit und innerem Frieden kann die Auslöschung des bisherigen Selbst durch dessen Übergabe an Allah erreicht werden. Aber dieser Loslösung muss, einem hadith (islamischem Wahrheitsspruch) folgend, ein Erkenntnisprozess vorangehen, eine auf Weisheit zielende Wandlung. Überhaupt geht vom Koran und seiner Preisung Gottes im Sufismus immer wieder hervor, dass ein denkender und gedenkender Anschluss an das Allwissen Gottes grundsätzlich erlösungsnotwendig ist. Es gibt sozusagen keinen Bezug auf Allah, ohne dass dessen »Allwissenheit und Allweisheit« gepriesen wird. Weisheit wird zum immer wieder ausgesprochenen und verkündeten Gottesbild. Im Islam blieb Allah der ewig Wissende und Weise. Allah zeichnete sich mehr durch seine Meisterschaft des Wissens aus als durch eine von ihm ausgehende Hilfe für den Menschen. Er wurde zwar als Allerbarmender gepriesen, war aber nie so sehr »Partner« des Menschen wie Jahwe im Judentum oder der Vater-Gott oder Jesus im Christentum. Der Glaube der Sufis wich vom Glauben an die Strenge Allahs im Koran ab. Bei den Sufis widmeten sich die Gläubigen als aktive Ordensgemeinschaften in Gruppen der Anbetung Gottes. Sie weihten sich der Gemeinsamkeit der individuellen Liebe Gleichgesonnener. So erschien ihnen auch Gott als Quell der Liebe. Dies leiteten sie mehr aus ihren Gemeinschaftserfahrungen denn aus dem Koran ab. Sie bildeten eine eigene mystische Religion durch ihre Gemeinschaft. Dieser Freundschaft Gleichgesonnener und meist auch gleichgeschlechtlicher Art verlieh der mittelalterliche persische Sufismus besonderen Raum. Dem strengen Allah und seinem Allwissendsein wurde im Sufismus die Liebe in der menschlichen Gemeinschaft als ein religiöser Weg gegenüber gestellt. »Wir sind im Himmel gewesen, die Freunde der Engel gewesen, wann kehren wir dorthin zurück ?«, dies wurde als Motto in außerkoranischer Gebetsform von einem Zweig der Sufi-Bewegung gesungen. 131
Weisheit als Orientierungskraft in Geschichte und Gegenwart
Das Wissen der Sufis kann man als Seinsverhältnis (Martin Heidegger) bezeichnen, es ist keine Gelehrsamkeit. Das Sufi-Wissen geht ins Leben ein, und es geht von dort wieder aus. Für die Sufis war entscheidend, Erfahrungen zu machen, in denen Gott als ein Einziger erscheint. Die Anschaulichkeit des Sufismus lässt sich durch die Lektüre des großen Sufi-Dichters Dschalal ad-Din ar-Rumi besonders gut gewinnen. Er wurde 1207 in Balkh (Bactria) an der Nordgrenze Afghanistans geboren und starb in Konya (Türkei) 1273. Nach der Liebesbeziehung zu seinem Freund Schums und nach dessen von Rumi tief bedauertem Tod, ergab sich der Dichter dem religiösen Tanz und der Musik. Die Einheit des Erlebens wurde von Rumi besonders erstrebt. Zur Bekanntmachung Rumis trug Joseph von Hammer-Purgstall, der erste Präsident der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, mit seinem Werk über die »Schönen Redekünste Persiens« (1818) entscheidend bei. Ich will hier Gedichte und Zeilen Rumis wiedergeben, um die sprachliche Überzeugungskraft, die innere Poesie des Sufismus an Beispielen zu zeigen. »Gott existiert durch sich selbst, der Mensch durch Gott.« »Des grenzenlosen Ozeans Perlenschacht sind wir.« »Gestern sang mit zarter Stimme Bulbubs süße Melodie an dem Ufer eines Baches und was sang und klagte sie ? Aus Rubinen und Smaragden, Gold und purpurnem Damast, kann man eine Rose machen, aber duften wird sie nie.«
Rumi setzte dem »heimlichen Reiter« ein großartiges, wenn auch nur aus einigen wenigen Zeilen bestehendes Denkmal. »Es zog der heimliche Reiter vorbei, von Staub umzogen, er schwand vom Platze und mit ihm ist auch der Staub zerstoben.
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Du blicke nur recht und äuge nicht lange zur Rechten und Linken, sein Staub ist hier, doch er selber (der heimliche Reiter) im Ewigen Reiche droben.«
Oder als Ausdruck der Selbsterlösung : »Der Falter fliegt ins Licht und sagt : Tu du desgleichen ! Hat an das Licht sein Ich gewagt Tu du desgleichen.« Rumi, aus der Übersetzung von Johann Christoph Bürgel, München 2001
Der Sufismus wandelte sich in den Jahrhunderten der europäischen Neuzeit zu einem Orden mit reichen kulturellen Kenntnissen erlesenen Gesanges und der Tanzkunst in Gruppen. Unter dem Stichwort »Tanzende Derwische« konnte der Sufismus auch die modernen Menschen begeistern, durch seine strenge Regelhaftigkeit und seine extreme Begeisterung und Selbstvergessenheit der Gruppen wurde er überzeugend, weil er der mystischen Annäherung an Gott entsprechen konnte. Man kann sagen, dass der Islam durch diese Selbstdarstellung der Sufis wie die große Architektur des Moscheenbaus eine Anschaulichkeit gewann. Ich möchte nun meine Darstellung des Sufismus mit den Regeln von einem aus dem 12. Jahrhundert stammenden »Pfad« beschließen, den Annemarie Schimmel aus einem komplexen Geflecht von einander berührenden Lehren herausstellte. Einige der Regeln seien hier wiedergegeben : 1. Aufmerksamkeit beim Atmen, 2. seine Schritte überwachen, 3. sein Denken kontrollieren, 4. seine Gedanken überwachen, 5. Konzentration auf Gott. Muhammed Ibn Wasi im 10. Jahrhundert konnte sagen : »Ich konnte niemals etwas sehen, ohne Gott darin zu sehen«. Im Christentum gibt es eine Entwicklung durch die Anerkennung des Gottessohnes als göttliche Person, der das Irdische gegenüber seinem göttlichen Vater vertritt. Der Gottessohn beruft sich auf den Geist, ab dem 8. Jahr133
Weisheit als Orientierungskraft in Geschichte und Gegenwart
hundert galt auch dieser in der Kirche durch Konzilsbeschluss von Toledo 675 als »Dritte göttliche Person«. Im Islam gibt es eine solche zentrale Vermittlungsfigur wie die durch den Propheten und Heiler Jesus, den Gottessohn, nicht. In der Sufi-Liebe erlebt der Mensch »die Rückkehr zu einem Augenblick, da Gott war und nichts außer ihm« (Schimmel, S. 208). Leben, Leiden und Aufopferung eines Gottessohnes samt dessen Auferstehung von den Toten, also eine dramatische Heilsgeschichte als Grundlage seines Glaubens, ist dem Islam völlig fremd. Diese Heilsgeschichte ermöglicht dagegen im Christentum bildliche Darstellungen, die zum Gottesverhältnis, ja zum Glauben an die Quelle der Religion entscheidend beitragen konnten. Durch die Verehrung der Gläubigen, ihre Liturgie, ihre Nachdenklichkeit und Gemeinschaften bildenden Strukturen entstand eine die Gläubigen vereinende Kirche. Hymnen, rituelle Anrufungen inner- und außerhalb der Gottesdienste vermochten die Kirche darauf abzustimmen. Das war in der Entwicklung des Mainstreams des Islam nicht möglich, und dies begünstigte die Entstehung und Entwicklung von Sufi-Gruppen. So war es möglich, dass die Gründungen der Sufis gleichsam als selbstständig suchende Gruppen vor allem in und durch die Dichtungen auftreten konnten. Ohne Eingriffe durch zentrale religiöse Instanzen wie jene im Christentum durch die Kirche, vermochten sie das Religionsverständnis zu gestalten. Es war eine poetische Liturgie sich besonders gottbezogen fühlender schöpferischer »Heiliger«, die da im Rahmen des Sufismus eine größere Öffentlichkeit zu beeinflussen und zu orientieren vermochten. Neben der religiösen oder philosophischen Dichtung, welche die Sufis bejahten und pflegten, war es auch die Grafik als Gestaltung der Schrift, die Freiräume schuf. Aber dies alles konnte nur im Rahmen von Gruppen und Schulen, niemals aber voll im Rahmen und im Namen des Islam geschehen. Aus dieser Selbstbeschränkung religiöser Verkündigung ergab sich allerdings ein großer Freiraum der Dichtung und der Musik wie des Tanzes, der besonders genutzt wurde. Der Sufismus brachte die volle mystische Hingabe als exemplarischen Lebensvollzug und wollte dies durch die großen Sufis der Geschichte anschaulich machen. Ein besonders in der Geschichte der Mystik geradezu einzigartiges Beispiel ist die Hinrichtung des Sufi-Mystikers Al Hallaj 922 in Bagdad. Das Geschehen der Hinrichtung eines Heiligen haben die Sufis immer so verstanden, dass Liebe höher zu schätzen sei als Erkenntnis, obwohl das Verständnis der Gott-Mensch-Beziehung für den Mystiker Al Hallaj wichtig war. Gottes Natur habe für ihn auch menschliche Natur enthalten. 134
Sufi-Mystik in einer Freundschaft in Wien-Margareten
Mystik bedeutete im Sinn von Al Hallaj Leidensbereitschaft. Der Heilige nimmt die Sünden der Welt auf sich. Der ungerechte Tod ist ein Mittel der Erfüllung (Schimmel, Mystische Dimensionen des Islam, 1995, S. 113). Über die Hinwendung zur Poesie geschah auch ein Schritt in Richtung Glauben. Schon in der Frühzeit fanden die Sufis Zeichen in der Natur und in der menschlichen Seele für ihre Überzeugung und durch den Mystiker Dhū n-Nūn al-Misri entstand die Brücke über die Bewunderung der Natur, eine Art Bejahung der Sinnlichkeit, allerdings im Rahmen der Erkenntnis der Einzigartigkeit Gottes. Aber umfassender als alle Rückbeziehung auf die Natur gewann immer mehr die mystische Tendenz der Sufis zur Selbstaufopferung an Bedeutung. Gerade aus der Lehre und aus den Dichtungen Al Hallajs und schließlich auch aus seinem gelebten Leben können wir es ableiten. Innerhalb der Entwicklung des Sufismus lässt sich die volle menschliche Hingabe an Gott durch Ertragen aller Entbehrungen und Schmerzen, ja des Märtyrertodes wie bei Hallaj, der Systematisierung von gelehrter Weltdeutung im Rahmen von und inspiriert durch Kontemplation begreifen. Das war auch der Weg Ibn Arabis (gest. 1250 in Damaskus), des umfassendsten aller mittelalterlichen Sufi-Denker. Letztes Ziel ist ihm zufolge die Liebe : »Wenn mein Geliebter erscheint, mit welchen Augen sehe ich ihn, mit seinem Auge, nicht mit dem meinen«. »Was täte die Phantasie, könnt’ er nicht den Glanz ihr leihen ?«, ist eine Zeile von Ibn al-Farid, dem ägyptischen Sufi-Dichter : »Ich kannte Heimweh nicht Da er bei mir war. Mein Herz war ruhlos nicht, wo wir auch waren, dort war mein Heim.«
Der Sufismus spielte unter dem Herrscher Akbar im 17. Jahrhundert in Indien erneut eine politische Rolle. In dessen auch bald wieder verlassenen Hauptstadt Fatehpur Sikri wurde ein außerordentlich schönes Sufi-Heiligtum erbaut. Die unter Akbar entstandene politisch-religiöse Richtung der Zusammenführung von Religionen (auch in Akbars persönlichem Leben) begünstigte das Entstehen und das Wachstum von Derwischgruppen. Annemarie Schimmel folgte in ihren Untersuchungen in beeindruckender Sorgfalt und Umsicht dem Sufismus bis ins 18. Jahrhundert. Eine bedeutende Persönlichkeit erblickte sie in Khwaja Mir Dard von Delhi (1721–1785), der 135
Weisheit als Orientierungskraft in Geschichte und Gegenwart
mystische Dichtung auf Urdu verfasste : »Gott bringt Euch aus Nichtsein ins Sein«. Dard geht es um das »Bleiben in Gott«. »Obwohl Adam keine Schwingen hatte hat er einen Platz erreicht der nicht einmal den Engeln zukam«. (Schimmel, S. 532) »Du schufst den Menschen für den Schmerz der Liebe für den Gehorsam hast Du Deine Engel«. (Schimmel, S. 532)
Sufi-Poesie nahm in der Neuzeit deutlich volkstümliche Züge an. Die Sufis selber konnten sich als Gruppen in verschiedenen Kulturräumen Asiens bis in den Fernen Osten hinein durch die von ihnen entwickelten musikalischen und tänzerischen Kompetenzen den Namen der »tanzenden Derwische« aneignen. Anders als dies im Gesamtislam möglich gewesen wäre, verfolgten die Sufis in Verbindung mit ihrer Annäherung und der Suche nach innerer Vereinigung mit Gott, ihr Bedürfnis nach Poesie, Musik und Tanz zu verwirklichen. Sie wollten die Schöpferkraft Gottes auch durch die Möglichkeiten erkennen, die für die eigene Kreativität als Potential zu erfahren war. Besonders der für viele Menschen außerhalb ihrer Religion überzeugende Derwischtanz der gläubigen Sufi-Männer hatte eine große Faszination und zeigte symbolisch, dass Glaube und Überzeugung in der Bewegung umfassend gelebt werden können. Auch die Musik aus speziellen selbstgebauten Instrumenten versuchte immer wieder davon zu überzeugen, dass sich da eine Gemeinde auf den Weg zu Gott begeben hatte. Im 20. Jahrhundert entstand nach vielen Jahrzehnten des großen Wachstums von Bruderschaften der Sufis in Ägypten die Hoffnung, sich auf solche Brüderlichkeit auch in großem Rahmen berufen zu können. Es gelang aber nicht, in der Politik dauerhaft Erfolg zu haben. Am erfolgreichsten wurde das Sufitum durch die kleinen Einheiten, die, ähnlich Klöstern aufgebaut, besondere kulturelle Leistungen der Musik und 136
Sufi-Mystik in einer Freundschaft in Wien-Margareten
des Tanzes anbieten konnten, sodass sie im Jahre 2014 als erfolgreiche Teilnehmer der Salzburger Festspiele gefeiert wurden. Man bot ihnen dort eine Kirche als Aufführungsort für ihre magischen Sufi-Darbietungen an. Ich schließe mit einem Zitat von Annemarie Schimmel aus ihrem Werk »Mystische Dimensionen des Islam« (1995, S. 574) : »Die Mystik der Liebe und des Leidens, die den Menschen lehrt, für ein Ziel, das außerhalb seiner selbst liegt, zu leben und zu sterben, ist heute die vielleicht wichtigste Botschaft des Sufismus«. Ich füge noch den Satz von Blaise Pascal (1626–1662) hinzu : »Du würdest mich nicht suchen, wenn du mich nicht schon gefunden hättest«. Erstaunlich ist, dass auch Rembrandt sichtlich Interesse am Sufismus hatte. Es gibt eine Darstellung aus der Mitte des 17. Jahrhunderts von vier einander gegenüber sitzenden alten Sufis, die sich im persönlichen Kontakt Gott zuwenden. In dieser Radierung kommt für Rembrandt die Suche nach Gott zum Ausdruck, die ja im Zentrum auch seiner eigenen Spiritualität stand. Inzwischen wurde ich bei meinen immer noch stattfindenden Besuchen im Geschäft des persischen Freundes in Wien-Margareten zwar selber kein Sufi, aber ein Interessent an deren Geistigkeit. Ich empfinde es als großes Glück, im selben Wiener Gemeindebezirk mit einem an gemeinsamen Glaubensvorstellungen über Religionsgrenzen hinweg festhaltenden Menschen verbunden sein zu können. »Gott ist groß und allweise«. Das heißt bestimmt auch, dass er Menschen zusammenführt.
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Kleine Geschichten und Skizzen aus dem gelebten Leben – mit und ohne Weisheit
16 Die Weisheit meiner Ahnen bewirkt ein Wachstum am Küchenfenster
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eine Bühne zur Vergegenwärtigung von Weisheit ist zurzeit mein Küchenfenster in meiner Altbauwohnung im 5. Wiener Gemeindebezirk. Das Fenster führt hinaus auf einen kleinen Park mit den dazugehörigen Bänken, auf denen teils alte Frauen sitzen und miteinander reden, und teils Liebespaare einander herzen. Das Küchenfenster hat aber auch ein Fensterbrett nach innen, und dieses innere Fensterbrett ist meiner Ahnenverehrung gewidmet. Dort steht, neben vielen anderen, eine kleine Pflanze in einem Blumentopf. Sie steht dort zum Gedenken an einen meiner Mühlviertler Großonkel und Ahnen zu seiner Verehrung wie zu meiner Lebensfreude. Mein Großonkel Joseph Rothbauer war Mitte der 1930er Jahre ein weißbärtiger Mann, wohl um die siebzig, als ich acht oder zehn Jahre alt war. Der Großonkel war als Bauer und Familienoberhaupt auf den Feldern, die zu seinem Hof gehörten, im Dorf Lichtenberg bei Ulrichsberg im oberen Mühlviertel im Bundesland Oberösterreich ansässig. Er war es auch, der die Arbeit für die Woche einteilte. Er entschied darüber, wer von der Verwandtschaft und wer von den Häuslern, also der Unterschicht des Dorfes, als »Knecht« oder »Dirne« welche Arbeit leisten sollte. Und er teilte Woche für Woche die Arbeiten für die ganze diensttuende Mannschaft seines Hofes ein. Joseph Rothbauer widmete den Sonntagnachmittag dem Gang zu seinen Feldern, nach dem Gottesdienst und dem Friedhofsbesuch am Vormittag, und dem durch zwei Weißbrotschnitten aufgewerteten sonntäglichen Mittagessen. Weil er meinen von mir als Buben gehegten Wunsch bemerkte, ihn zu begleiten und zum Wachstum der Feldfrucht Erklärungen zu bekommen, fragte er mich immer wieder einmal, ob ich bei seinem Kontrollgang mitkommen wolle. Ich lehnte nie ab.
Ich habe dieses Ahornbäumchen auf der Wiedner Hauptstraße in Wien-Margareten ausgegraben und suche es auf meinem Fensterbrett in der Küche großzuziehen. Es erinnert mich an meine bäuerlichen Ahnen. Sie haben mich schon in meiner Kindheit gelehrt : Bei guter Behandlung kann aus einem Bäumchen ein prächtiger Baum werden.
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Kleine Geschichten und Skizzen aus dem gelebten Leben – mit und ohne Weisheit
Der Großonkel vermittelte mir sehr viel Bereitschaft, mir, einem Kind, Auskunft zu geben. Und er konnte in der Tat diesem Kind vieles erklären und es damit weiter neugierig zu machen. Immer wieder setzte der Sepp-Onkel, wie ich ihn nannte, bei den sonntäglichen Rundgängen ein paar Schritte in das Feld, das er zu begutachten sich vorgenommen hatte. Er musste ja Entscheidungen über die bevorstehende nächste Phase der Bewirtschaftung dieses Feldes in der kommenden Woche treffen. Er wich bei seiner Erkundung des Feldes aber nur wenig von dem grasbewachsenen Feldrain ab, um das Niedertreten von Halmen mit seinen schweren Schuhen zu vermeiden. Manchmal klang sein Urteil, das er in meiner Gegenwart laut vor sich hinsprach, besorgt. »Nur keinen Regen !«, hieß es dann. Der Onkel hatte einen fruchttragenden Halm geknickt und abgebrochen und zeigte mir die Ähre mit den Fruchtkörnern. Sie waren durchwegs gelb. Sepp-Onkel erklärte mir, dass die Halme in diesem Feld bald geerntet werden müssten und vor dem Schnitt nicht mehr intensiv regennass werden sollten. Bei der Lagerung vor dem Drusch könnte die nass heimgebrachte Feldfrucht leicht faulig werden. Ich begriff damals schon, dass das bäuerliche Leben mit Bedingungen zu rechnen hatte, welche man selber nicht kontrollieren konnte. Man musste sich aber nach diesen Bedingungen richten, sollte die eigene Arbeit Erfolg bringen. Und das hieß, bestimmte Vorgänge in der Natur, zum Beispiel die Herausbildung der Erntefähigkeit der Gewächse, richtig einschätzen. Nur so konnte man die Arbeit am Feld für die nächsten Tage für die Mannschaft seines Hofes richtig einteilen. Sepp-Onkel beeindruckte mich als genauer Beobachter. Daraus, dass er Feldfrucht im Vergleich zu den Witterungsbedingungen betrachtete, zog er Folgen für die bevorstehende Arbeit. Da mich seine Beurteilung und die daraus gezogenen Folgen für die Arbeitseinteilung berührten, merkte ich mir diese Erlebnisse. Langzeiterinnerungen, die den Menschen berühren, halten meist das Wesentliche fest. Mit Sepp-Onkel verbinden mich Langzeiterinnerungen in besonderer Weise. Jeder Dorf bewohner, ja jedes Kind im Dorf wusste, dass ein in den Hügel oberhalb des Dorfes hineinragendes Stück des Böhmerwaldes zum Rothbauern-Hof gehörte. Die Rothbauern hatten als Einzige im Dorf ihre tief in die Felder hineinragenden Waldstücke nicht geopfert, um mehr Grundfläche zum Anbauen der Feldfrucht zu gewinnen. Es war eine von den anderen Bauern als Grundstücksbesitzer abweichende Entscheidung gewesen. Daraus sollte ich nun lernen. 142
Die Weisheit meiner Ahnen bewirkt ein Wachstum am Küchenfenster
Sepp-Onkel trug auf allen seinen Beobachtungsgängen immer einen Rechen mit einem langen Stiel bei sich. Er trug ihn über der Schulter, mit den eisernen Zinken am Balken des Rechens weit hinter sich. Der Rechen war ein Instrument der Erkundung. Manchmal kratzte oder scharrte er auch irgendwo damit, ganz ungehemmt auch auf fremdem Grund. Er wollte immer irgendetwas entdecken. Das gefiel mir. Im eigenen, vom Hügelkamm herabziehenden Walddreieck angelangt, setzte er in meiner Gegenwart den mitgeführten Rechen fest und kraftvoll ein und brachte dadurch den aus getrockneten Blättern und Nadeln gemischten festen Bodenbelag des Waldes in Bewegung. Er öffnete mit seinem Rechen den Boden. Ich fragte ihn, warum er da so herumgrabe. Er sagte mir, dass er, wenn es die anstehenden Ernteprozesse erlauben sollten, oder später, wenn der Regen im Herbst den Waldboden noch nicht allzu sehr aufgeweicht hätte, einige Fuhren von diesem Waldboden in den Stauraum neben dem Stall in seinen Hof bringen lassen wolle. Stroh sei eigentlich zu kostbar als Unterlage für die Tierhaltung im Stall. Am besten sei es, Stroh zusammen mit Heu in kleingeschnittener Form als Häcksel für die Fütterung der Tiere aufzubereiten. Der Waldboden, mit eigenen trogartigen Fahrzeugen zum Stall gebracht, sei die ideale Unterlage für eine gute Tierhaltung, erklärte mir Sepp-Onkel in seiner eigenen Sprache. Er überprüfe nun die diesjährige Substanz des Waldbodens, wie weit oder tief er ihn würde abtragen lassen können, ohne dass dabei der Wald zu Schaden komme. Natürlich vollzogen sich die Antworten Sepp-Onkels sprachlich etwas anders, als ich sie hier wiedergebe. Der Onkel begleitete seine Erklärungen immer wieder auch damit, dass er den Rechen einsetzte, um den Boden zur Überprüfung bis zu einer gewissen Tiefe offen zu legen. Und da fiel mir etwas auf, was ich als damaliges Erlebnis bis zum heutigen Tag nicht vergessen habe. Bei seinem Herumgraben legte der Onkel kleine grüne Pflanzen frei, die sich nach der Abdeckung des im Wesentlichen dunkelbraunen Bodens zeigten. Ich befragte deswegen den in meinen damaligen (und auch meinen heutigen) Augen nicht nur liebenswert-sanften, sondern auch wissend-weisen Onkel, was es mit diesen nach der Freideckung des Bodens sichtbar gewordenen kleinen Pflanzen auf sich habe. 143
Kleine Geschichten und Skizzen aus dem gelebten Leben – mit und ohne Weisheit
Im vollen Bewusstsein seines eigenen Wissens um die Natur antwortete er unverzüglich : »Das ist der kommende Wald.« Ich verstand das vorerst nicht. Ich begann es erst zu begreifen, als er auf einzelne dieser kleinen Pflanzen hinzeigte und sie beim Namen nannte : Das war einmal, wenn auch nur wenig mehr als eine Handbreit hoch, eine Buche, dann ein Ahorn, schließlich, zum Teil noch kleiner, eine Fichte, eine Föhre usw. Da begriff ich erst, was er den künftigen Wald genannt hatte. Es war das, was unter einer sanften Decke des von den großen Bäumen abgeworfenen Laubes und den abgefallenen Nadeln nachwuchs. Der Gedanke eines unter dem Boden heranwachsenden kleinen Waldes überraschte mich völlig. Er setzte sich in mir erst später als großzügige Vorbereitung der Natur für deren jeweils eigene Zukunft fest. Diese Erinnerung an die Fähigkeit zur Vorbereitung und Dauerhaftigkeit in der Natur trat in den ersten Wochen des Frühjahres 2014 in Wien plötzlich an mich heran. Neben dem Eingang zum Flur des Mietshauses, wo ich etwas oberhalb der barocken Kirche Sankt Thekla auf der Wiedner Hauptstraße in Wien wohne, stehen schulterhohe Blattpflanzen in großen Kübeln vor den Auslagen eines Optikergeschäftes. Ich gehe täglich bei den schon aus Gesundheitsgründen für mich notwendig gewordenen Ausgängen an diesen Blattpflanzen samt ihren kniehohen Kübeln vorbei. Und da fiel im Frühjahr mein Blick auf ein etwa fingerlanges grünes Pflänzchen, das sich da knapp nahe dem Kübelrand herausstreckte. Sofort kam mir meine durch den Waldgang mit Sepp-Onkel gewonnene Kindheitserinnerung in den Sinn. Der ungeplante kleine Spross trug ein einziges größeres Blatt und zwei kleinere stark gezackte Blättchen auf einem zarten Stiel. Bei näherer Betrachtung wurde mir aus der Form dieser kleinen Blätter klar, dass die Pflanze nur von einem Samen eines nahe am Straßenrand stehenden Ahornbaums stammen konnte. Ich wandte mich dann etwas weiter unten auf der Wiedner Hauptstraße an den ägyptischen Blumenhändler. Er schenkte mir in einem kleinen Blumentopf besonders wachstumsbegünstigende Erde. So ausgerüstet begab ich mich zurück in das Optikergeschäft, wo ich ebenfalls als Kunde bekannt bin, und fragte, ob ich die kleine Nachwuchspflanze für mich ausgraben dürfe, die sich in einem ihrer Kübel angesiedelt hatte. Das wurde mir gerne bewilligt und brachte mich dazu, die Pflanze mit Hilfe eines großen Löffels aus der eigenen Küche und großer Sorgfalt auszugraben und in den ägyptischen Blumentopf mit der feinen Erde einzusetzen. Seit einiger Zeit hat auf meinem inneren Küchenfenster der kleine Baum nun zu seinen ursprünglich drei bis vier Blättern mehr als ebenso viele weitere 144
Die Weisheit meiner Ahnen bewirkt ein Wachstum am Küchenfenster
Blätter hinzugewonnen. Er ist auch ein ganzes Stück größer geworden. Und er wächst weiter. Von Woche zu Woche wird ein kleines Bäumchen aus ihm. Das vom Ahnen Sepp-Onkel gewonnene Wissen hat unerwartete Freude in meinen Alltag gebracht. Ich möchte ihm diese Freude in die Rätselhaftigkeit des kosmischen Geschehens ins Jenseits nachsenden. Ich werde mich in den mir noch verfügbaren Lebensjahren um den kleinen Ahornbaum kümmern und dabei Sepp-Onkels gedenken. Haben nicht auch Zufälle ihre eigene Antriebskraft für Weisheit, die zum Leben erweckt wird im Aufgreifen von Erinnerung ? Durch die Auffindung und Umpflanzung des kleinen Bäumchens wurde mir der Wert des von den »Ahnen« persönlich übermittelten Wissens als eine »Wachstumsweisheit« bewusst.
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»Desastres de la Guerra« von Goya (1746–1828) : Mitsos war ein 17-jähriger Hirte aus den Bergen Attikas, der sich 1944 im besetzten Griechenland dem gegenseitigen Morden zwischen deutschen Besatzern und Partisanen entziehen wollte. Er wollte Frieden statt Gewalt, Folter und Tod. Man nahm ihn gefangen und hackte ihm die Füße ab.
17 Schrecken der Erinnerung : Weg ohne Füße, die ihn begehen könnten
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ach einem intensiven Studium des Neugriechischen samt Abschlussprüfung wurde ich spät im Zweiten Weltkrieg, im Februar 1944, zum Stab des Jägerregiments 22 der 11. Luftwaffenfelddivision der Deutschen Wehrmacht abkommandiert. Die Einheit war im besetzten Griechenland unweit von Athen, in Megalo Pefko, stationiert, einem Dorf gegenüber der Insel Salamis, wo 480 v. Chr. die Griechen in einer Seeschlacht die persische Flotte besiegt und viele Jahrhunderte später sich ein Ferienort für die wohlhabenden Athener entwickelt hatte. Obwohl damals erst 19 Jahre alt, konnte ich das Vertrauen des Regimentskommandeurs, eines ehemaligen Jagdfliegers, erwerben. Er interessierte sich für die Mythen und Geschichten des klassischen Altertums in Griechenland. Ich hatte im Wiener Gymnasium viel darüber gelesen und gelernt, der Regiments-Kommandeur ließ sich durch meine Erzählungen bereichern und begeistern. Durch dieses merkwürdige Vertrauensverhältnis gelang es mir, zwei mir gegenüber noch etwas jüngere Burschen aus dem Bergbauernmilieu in Attika, die im Umfeld eines Partisanenzentrums festgenommen worden waren, als Helfer für mich zugeteilt zu bekommen. Sie wären sonst in ein Lager für gefangene Partisanen abtransportiert worden. Der eine hieß Kostas (Konstantinos), der andere Mitsos (Demetrios). Sie waren beide etwas jünger als ich, und wir redeten Griechisch untereinander. Kostas brachte mir als Alternative zum Kommissbrot Weißbrot und Butter vom Markt, wofür ich mit jenem Geld bezahlte, das ich mir vom Verkauf des Zigarettenpapiers erwarb, das mir meine Mutter mit der Feldpost aus Wien zugesandt hatte. Man konnte auf dem lokalen Markt das Zigarettenpapier gegen Geld eintauschen. Mitsos wollte im Sommer 1944, was er mir auch sagte, über Vermittlung Dritter versuchen, bis zu unserem von den Griechen ersehnten, bald zu erwartenden Abzug als deutsche Soldaten aus Griechenland eine Art Stillhalteabkommen in unserem kleinen Besatzungsbereich mit den Partisanen zu erreichen, indem er mit ihnen reden würde. Wir sollten die Partisanen, so schlug Mitsos vor, nicht verfolgen, und sie sollten uns als demnächst scheidende Besatzungsmacht in Ruhe lassen, also auch ihrerseits uns nicht angreifen. 147
Kleine Geschichten und Skizzen aus dem gelebten Leben – mit und ohne Weisheit
Ich war trotz des bald bevorstehenden Abzugs der deutschen Truppe, der ich angehörte, gegen eine solche Vermittlungsaktion. Sie erschien mir zu naiv und auch zu riskant, und doch klammerten wir uns beide an diesen letzten Zipfel der Hoffnung. Kurze Zeit später kam Mitsos nicht zur vereinbarten Stunde. Kostas war sehr besorgt und fürchtete um das Leben des Freundes. Ich musste natürlich Meldung erstatten. Die erste Reaktion des Sicherheitsoffiziers des Regiments auf das Verschwinden von Mitsos hin war, Kostas sofort festzunehmen. »Am besten umlegen«, war seine Parole. Beseitigung aller Unsicherheiten war die häufige Lösung, auch bei Menschen. Ich konnte die Tötung von Kostas verhindern. In der Nacht musste er allerdings gefesselt unter meinem Bett schlafen, bekam einen Topf für die Verrichtung seiner Notdurft. Ich legte eine entsicherte Pistole in mein Bett. Ich war ganz davon überzeugt, dass die persönliche Beziehung zwischen Kostas und mir so fest war, dass von ihm aus keinerlei Bedrohung für unsere Einheit oder mich persönlich zu befürchten war. Und was geschah dann ? Der Versuch einer Annäherung war gescheitert. Mitsos wurde, wie man im Dorf bald zu erzählen begann, von der Partisanengruppe gefoltert und getötet. Der junge Bursche hatte sich in seiner Bemühung um die regionale Vereinbarung mit den Partisanen völlig verschätzt. Ihm, dem Jungen, wurde für seinen Versuch und Irrtum keine Gnade gegönnt. Als Kostas und ich zwei Tage später durch die Pinienallee in Megalo Pefko gingen, wurde plötzlich von rechts ein Gegenstand auf uns geworfen, der Werfer war aber sofort verschwunden. Als wir das Stück aufhoben, erwies es sich als der abgehackte Fuß des getöteten Mitsos. Eine Minute später kam der andere Fuß von der anderen Straßenseite so geworfen, dass man keine Person erkennen konnte, die geworfen hatte. Man konnte die Rache spüren, die wirksam gewesen war. Es war eines der grausamen Symbole des schrecklichen 20. Jahrhunderts : abgehackte Füße. Da führte kein Weg weiter. Die Weisheit des Innehaltens in den sich auftürmenden wechselseitigen Vernichtungsversuchen gibt es nur dort, wo gewisse Voraussetzungen für sie bestehen. Menschen, die aussichtslos scheinende Bemühungen dennoch unternehmen, können dabei ihr Leben verlieren, wie der junge Mitsos aus den Bergen von Attika. Man muss also auch bei gutem Willen des Gewaltverzichts vorsichtig sein. Man muss, und das zeigt uns auch das 21. Jahrhundert, mit vielen sorgfältig abgewogenen Erkenntnissen vorgehen. Friedensstiftung bedarf der Weisheit. 148
Schrecken der Erinnerung : Weg ohne Füße, die ihn begehen könnten
Hass ist ein zäher Partner. Angewandte Liebe muss sich der Weisheit bedienen, um den Hass zu überwinden. Das gilt auch für die Erinnerung als Lebensschauplatz. Kann man ihn in der Erinnerung nicht überwinden, bedroht uns der unaufgearbeitete Hass aus Jahrzehnten mit seiner Zerstörungswut. Darum bedarf auch die Erringung von Weisheit der Tugend der nachdenklichen, die Kälte und den Hass überwindenden Liebe. Das Unverzeihliche von Damals bedrückt auch mich, sieben Lebensjahrzehnte danach. So lagere ich an bestimmten Plätzen der Erinnerung auch Kräfte der tiefen Anteilnahme und Trauer für jenen, der in gutem Glauben an die Kraft der Überzeugung sein Leben verlor.
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Ein Stück Kelim als Symbol : Ich wusste nicht, welche Sprache die ihre war, als ich im Kosovo 1944 als fremder 19-jähriger Soldat in ihr abgelegenes Bauernhaus kam. Ich denke noch oft an den merkwürdigen Mut dieser christlichen albanischen Frauen, die ich dort traf. Nicht weit von ihnen wurde die Albanerin Mutter Teresa geboren, die Missionarin mit der großen Weisheit ihres »beständigen Herzens«.
18 Europäische Vielfalt bei christlichen Albanerinnen im Kosovo
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ch schildere ein weiteres völlig unerwartetes Erlebnis aus diesen furchtbaren Tagen des Zweiten Weltkrieges, das ich im Spätherbst 1944 als 19-jähriger Soldat im Süden des heutigen Kosovo hatte. Meine Wehrmachtseinheit hatte nach dem Rückzug aus Griechenland auf dem Weg nach Norden dem Druck sowjetischer und bulgarischer Einheiten aus dem Osten standgehalten. Wir hatten dabei Verwundete eingesammelt und für deren Abtransport vorbereitet. Im Süden des Kosovo gab es auf Hügelrücken verstreut angesiedelte Bauernwirtschaften, deren Felder und Häuser einen gepflegten Eindruck machten. Von dorther schien keine Gefahr zu drohen. Trotzdem erhielten ein mir wenig bekannter Kamerad aus dem schon stark reduzierten Mannschaftsbestand meiner Kompanie und ich den Befehl, zwei dieser Bauernwirtschaften zu erkunden. Es sei unsere Aufgabe sicherzustellen, dass von dorther keine Gefahr von Partisanen drohe. Natürlich war der Auftrag so gemeint, dass wir beide beieinander bleiben sollten, um einander wechselseitig Schutz geben zu können. Wir verstanden die Vorsichtsmaßnahme sehr wohl. Aber unter dem ständigen Druck der als Befehle erteilten Verhaltensanweisungen beschlossen wir übereinstimmend, uns an den Befehl, beisammen zu bleiben, nicht zu halten. Die Häuser auf dem Hügel waren nicht weit voneinander entfernt, und jeder von uns beiden konnte auf seinem Karabiner 98 K Signalschüsse abgeben, wenn er glaubte, Hilfe zu brauchen. Ich war als Erster bei meinem Ziel und war sehr überrascht, dass mir zwei Frauen im mittleren Alter freundlich die Türe des Bauernhofes öffneten. Ich drückte meinen Karabiner an mich und trat in eine Bauernstube ein. Die Stube war von denen, die ich in meiner Kindheit im österreichischen Mühlviertel bei meinen regelmäßigen Aufenthalten als Kind und Jugendlicher kennengelernt hatte, nicht allzu verschieden. Beim Auftragen des Essens auf den gemeinsamen Tisch, an dem ich zu sitzen eingeladen wurde, beteiligten sich neben den beiden Frauen auch zwei Mädchen. Es wurde von den Bewohnerinnen gemeinsam nach katholischem Ritus gebetet. Aber ich verstand von der Sprache, in der sie untereinander verkehrten, kein Wort. Wer waren diese Leute eigentlich ? Das wusste ich nicht. Sie waren jedenfalls sehr überrascht, dass ich mit ihnen in ihrer Sprache nicht sprechen konnte. 151
Kleine Geschichten und Skizzen aus dem gelebten Leben – mit und ohne Weisheit
Die Mädchen zeigten kein besonderes Interesse an dem für sie fremden Soldaten, gaben sich aber anderseits ihm gegenüber auch nicht besonders zurückhaltend. Wir mussten uns mit Gesten verständigen. Fürs Essen reichte das. Aber für das, was mir die Familie für die Nächtigung vorschlug, gab es Schwierigkeiten in der Verständigung. In dem Haus gab es keine Ikonen und zu meiner Überraschung katholische Symbole, Kruzifixe, die an der Wand hingen. Es war auch nach dem Essen gebetet worden. Die Symbole entsprachen nicht dem östlichen Christentum. Woher kam der Katholizismus in dieser Region ? Ich war sehr erstaunt, hatte damals dafür aber keine Erklärung. Die Mädchen gingen nun zu Bett in ein gemeinsames Zimmer, neben dem, das man mir schon vorher für die Nächtigung zugeordnet hatte. Durch Bekreuzigungen in der Weise des westlichen Katholizismus und damit verbundene sehr freundschaftliche Gesten mir gegenüber, suchten die beiden erwachsenen Frauen mir erkennen zu geben, dass sie die Töchter keinesfalls einem muslimischen Mann, wie es in der Region viele gebe, anvertrauen würden. Sie würden in eine solche Ehe für die Töchter nicht einwilligen. Sie würden sich Enkel von einem Christen wünschen, der so lebe wie sie. Nur seien die Männer ihres Umfelds irgendwo in den Krieg hineingezogen worden, sie müssten auf deren Wiederkehr warten. Wer wisse aber, wann und ob diese Männer je zurückkehren würden ? Die Zeit rücke vor und sie müssten sich um Nachwuchs kümmern, nicht für sich selbst, sondern auch und vor allem für die Mädchen. Ich gefiel ihnen. Die Frauen drückten dies durch bewundernde, aber nicht anzügliche Gesten aus, und sie würden sich Kinder von mir in ihrer Familie wünschen. Ich war daraufhin in doppeltem Sinn sprachlos, völlig überrascht und betroffen. Erst nach dem Krieg konnte ich durch Nachforschungen und Erkundigungen klären, dass die Frauen christliche Albanerinnen waren, die aus langer historischer Abwehr des Islam in ihrem Land, an der Küste der Adria, ihren christlichen Glauben durch Flucht in den Kosovo zu retten getrachtet hatten. Sie waren Mitglieder von den Gruppen geworden, die wie zur Selbstverteidigung in den Kosovo ausgewandert waren, um sich in der Vielfalt der Ethnien und Religionszugehörigkeiten in dieser Region durchzusetzen. Viele dieser Sippen der Albaner hatten sich seinerzeit nicht von den Osmanen islamisieren lassen. Durch kluge, aber auch beständige Lebensführung hatten sie sich sodann Anerkennung und friedliche Distanz im Kosovo verschaffen können. Erst viele 152
Europäische Vielfalt bei christlichen Albanerinnen im Kosovo
Jahre später, da ich in den Besitz dieses Wissens über die Umstände gekommen war, wurde mir das Verhalten dieser beiden Frauen im Spätherbst 1944 einigermaßen erklärbar. Die Frauen waren Angehörige jener albanischen Gruppe, aus der später die durch ihre Ordensgründung und Tätigkeit in Indien weltberühmt gewordene Mutter Teresa hervorgegangen war. Was mir die Frauen erklärten, war sehr deutlich. Ich solle, so hätten sie es mit den Mädchen besprochen, in der Nacht in deren Zimmer kommen und sowohl mit der einen als auch mit der anderen in deren Betten schlafen, um für jede ein Kind zu zeugen. Als Christinnen sei ihnen, den beiden Frauen, Müttern oder Tanten, daran gelegen, dass ich ihren Wunsch erfülle. Würden es später mit oder ohne Gewalt moslemische Männer versuchen, den Mädchen nahezukommen, so könne man sie abweisen, wenn die Mädchen schon Kinder hätten. Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich wirklich verstand, was man mir zu erklären versuchte. Aber mein Sinn stand ganz und gar auf Heimkehr und auf das mich Hindurchretten durch die Fremde. Ich konnte ja als Soldat einer flüchtenden Armee keine künftige Verantwortung für die von mir allenfalls gezeugten Kinder übernehmen. Ich war sprachlich nicht imstande, den beiden Frauen meine Auffassung nahezubringen. So verlegte ich mich auf ein besonders freundliches und freundschaftliches Verhalten und bekundete meine Dankbarkeit. Zeitig in der Früh hörte ich Schüsse aus dem benachbarten Bauernhaus, wo mein Kamerad Quartier bezogen hatte. Durch einen Schuss meinerseits bekundete ich, dass ich ihn gehört hatte, und setzte nun auch alles daran, so rasch wie möglich zu ihm zu kommen, um mich zu vergewissern, dass für ihn alles in Ordnung war. Als ich nach kurzer Verabschiedung von den beiden Frauen – die Mädchen waren noch nicht aus ihrem Zimmer gekommen – ihn in seinem Nächtigungshaus traf, wollte er dringend zur Kompanie zurückkehren. So habe er mich mit den Schüssen zu ihm holen wollen. Kurz darauf langten wir auch bei der Kompanie an. Ich habe bisher die von mir im Kosovo 1944 erlebte Geschichte niemandem mitgeteilt. Ich möchte aber das zugrunde liegende Vorverständnis der christlichen Gemeinsamkeit und Solidarität, das ich in dem albanischen Bauernhaus im Kosovo erlebte, nach siebzig Jahren nun gerne zur Beurteilung freigeben. Bei meinem Rückblick nach Jahrzehnten bewundere ich den Mut der beiden albanischen Frauen. »Ein guter Wille macht einen guten Menschen«, so 153
Kleine Geschichten und Skizzen aus dem gelebten Leben – mit und ohne Weisheit
hatte es Meister Eckhart in der Predigt 81 ausgesprochen. Mut ist die Voraussetzung für die Festigung des guten Willens. Hier kann zur Entdeckung der Weisheit in der überraschenden Einladung der beiden albanischen Frauen, mich zu ihren Töchtern oder Nichten zu gesellen, die Bemühung erkannt werden, entsprechend der »Beständigkeit ihrer Herzen« (Meister Eckhart, Predigt 81) zu handeln bzw. ihre Umwelt dementsprechend anzuleiten. Unweit des Hauses dieser beiden Frauen, so konnte ich Jahrzehnte später erkunden, wurde Mutter Teresa geboren, Missionarin im fremden und schwierigen Milieu Indiens durch die große Weisheit ihres »beständigen Herzens«.
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19 Stein im Bett : Mangelnde Liebe lässt Weisheit verkümmern
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n der Nachkriegszeit mit all ihren Unsicherheiten durch die sowjetische Besatzung in deren Zone in Österreich suchte ich mein Leben durch Lernerfahrungen auszuweiten. So erwarb ich mir durch sprachliche und inhaltliche Prüfungen beim damals in Wien angesiedelten Institut Français ein einjähriges Stipendium für Studien in Paris als boursier du gouvernement français. Das Geld, das ich nach der Genehmigung in Wien monatlich in Paris ausbezahlt bekam, reichte gerade für ein bescheidenes Untermietzimmer, den Erwerb von Ernährungsgutscheinen in Studentenrestaurants und kleine Eigenmahlzeiten wie ein paar antiquarisch zu erwerbende Bücher. Ich konnte mir nichts dazuverdienen, ich musste ja auch regelmäßig Nachweise meiner Studienleistungen bei der Verwaltungsstelle des Stipendiums in Paris erbringen, sonst hätte ich das Stipendium am nächsten Monatsbeginn nicht ausbezahlt bekommen. Durch Vermittlung einer österreichischen Emigrantenfamilie konnte ich im 11. Bezirk auf Nummer 68, Boulevard Beaumarchais, unweit der Bastille, in einem Einzelzimmer ohne Wasser und Toilette im sechsten Stock preismäßig relativ günstig wohnen. Für meine Reinlichkeit musste ich in einer kleinen, am Gang befindlichen Kabine sorgen, die auch ein hochbetagter Mann benützte, der sich nur in Sonderfällen den Abstieg zum Boulevard und den Wiederaufstieg in den sechsten Stock ohne Aufzug zumuten konnte. Er war nicht gesprächig, und ich respektierte das. Aber wir verstanden einander, obwohl ich mich damals noch von keiner Wissenschaft angeleitet fühlte, mich mit dem Alter des Menschen zu beschäftigen. Unter Anleitung des international bekannten Jesuiten, Professor Jean Daniélou, der später als Kardinal nach Rom berufen wurde, studierte ich die schöpferische Erneuerung des antiken Geist-Begriffs in der östlichen Kirche. Einen Stein wie diesen fand ich Anfang der 1950er Jahre im Klappbett meines einfachen Zimmers in einem Mietshaus auf dem Boulevard Beaumarchais in Paris. Sarah, das jüdische Mädchen, blieb nach wochenlanger Zusammenarbeit auf einmal weg. Sie hinterließ mir diese Botschaft, weil ich sie samt ihrer zärtlichen Liebe wie einen Stein behandelt hatte.
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Mich interessierte der Geist als Begegnungsprinzip im Denken und Leben. So befasste ich mich mit Basilius (330–379), Gregor von Nyssa (335–349) und Gregor von Nazianz (330–390), schließlich besonders mit dem Denker Symeon, dem Neuen Theologen. Er lebte von 949 bis 1022, also um die Jahrtausendwende, in Byzanz. Es ging mir eigentlich darum, die Bedeutung von »Geist« zu erkunden, womit sich Symeon theoretisch und durch seine Meditationen beschäftigt hatte. Es war ein Weg in geistesgeschichtlich damals noch wenig erschlossenem Gebiet, mit dem sich auch der Schweizer Theologe und Religionshistoriker Urs von Balthasar beschäftigte, der mich dazu anregte, Texte dieser Dichter-Theologen aus der Ostkirche ins Deutsche zu übersetzen. Ich begann auf Balthasars Rat hin, einen eigenen Band vorzubereiten, und sandte ihm Stücke meiner Arbeit, die er für eine Veröffentlichung als durchaus geeignet empfand. In Paris lebte ich damals sehr zurückgezogen, geradezu entrückt, in einer Welt, die von der neuen Kunst eines Matisse, Picasso und Braque, aber auch großer Bildhauer wie Jean Arp, Henri Laurens, Ossip Zadkine und Constantin Brâncuși bestimmt war. Diese Kunst strebte zu neuen Erkenntnissen nicht nur der Formgebung, sondern sie suchte auch die Annäherung an neu entdeckte Elemente des Menschseins, welche sie durch diese Formgebung auszudrücken begann. Durch den Kubismus wurde ich in Paris selber auch mehr und mehr zum Entdecker alter außereuropäischer Kulturen. Die alte Welt öffnete sich mir durch die neue Kunst und umgekehrt. Auch der in dieser Epoche zu europäischem Ruhm aufsteigende, in Czernowitz, einer ehemaligen Kulturstadt der österreichisch-ungarischen Monarchie, geborene Dichter Paul Celan (1920–1970) nahm Kontakt zu jüngeren Künstlern und Wissenschaftlern aus Österreich auf. Im Chaos des Nachkriegs rangen wir alle nach Form und Formgebung wie Ingeborg Bachmann oder der österreichische Bildhauer Josef Pillhofer, den ich damals schon zum Freund gewonnen hatte. Celan veranlasste uns zur Sprachsuche. Die Museen in Paris leisteten uns große Hilfe bei der Entdeckung von Formen, wie wir sie in Österreich gar nicht kennengelernt hatten. Die auch heute noch im Louvre ausgestellten unvorstellbaren Schätze von der babylonischen bis zur antik-griechischen Plastik boten Anstöße zu Besinnung und zu Erkenntnissen, wie Menschsein dargestellt werden konnte. In Gegenüberstellung dazu regten die Schätze der Khmer-Kunst im Musée Guimet in Paris nicht nur an, sondern forderten geradezu dazu auf, aus Monu158
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menten der asiatischen Frühzeit Nahrung für das Verständnis der Gegenwart zu finden. Das Fremde riss die Schleier von der Gegenwart und damit auch unseres Unverständnisses weg. In dieser Phase der schrittweisen Versuche, mich zu orientieren, hatte ich eine mehrere Monate währende Beziehung, die ich mir nun vergegenwärtigen möchte. An meine Tür des Zimmers im sechsten Stock klopfte eines Tages eine weibliche Person etwa meines Alters. Sie sei von der Stipendiatenstelle aufgefordert worden, aus der diesjährig angetretenen Gruppe der Stipendiaten aus europäischen Ländern jemanden zu wählen, dem sie durch gemeinsame Interessen und Erfahrungen mit dem eigenen Studium in Paris eine Art Übergangshilfe für ihre und seine Arbeiten während des französischen Stipendiums bieten könne. Ich bat sie, in meinem extrem kleinen Zimmer auf dem zweiten mir zur Verfügung stehenden Sessel Platz zu nehmen und sich mir etwas näher zu erklären. Sie stellte sich als Sarah Zimski vor und sagte, dass sie aus einer jüdischen Flüchtlingsfamilie stamme, die um 1930 in Paris Zuflucht gefunden hatte, da der Vater, ein Journalist aus Berlin, das Heraufkommen des Nationalsozialismus in Deutschland bereits erahnt habe. So sei sie als Kleinkind in einer Flüchtlingsfamilie in Paris aufgewachsen, von Anfang an französisch sprechend. Zu Hause sei allerdings immer wieder auch deutsch gesprochen worden. So habe sie, als Studentin der Sorbonne, die deutsche Philosophie bald auch auf Deutsch zu lesen begonnen. Das alles erklärte sie mir in fließendem, fast akzentfreiem Deutsch. Ihr Eindruck sei, dass sie mir durch regelmäßigen Unterricht mit schriftlichen Aufgaben für mich zweimal wöchentlich und durch Prüfungsbesuche hierzu helfen wolle, die Korrekturen der von ihr an mich gestellten Aufgaben zu besprechen. Sarah war sehr lebendig bei allem, was sie sagte, und durchaus glaubwürdig. Wie und wodurch hatte ich mir dieses Angebot verdient ? Ich wusste das nicht und wollte es gar nicht erforschen. Ich hatte schon in meiner Kindheit, im 10. Wiener Gemeindebezirk, durch den jüdischen Hausarzt und die jüdischen Freunde meines Großvaters, des Vaters meiner Mutter, und durch den jüdischen Geschäftsnachbarn meiner Mutter, einem Sohn von Einwanderern aus der Bukowina, vom jüdischen Leben, den Feiertagen der Juden, besonders dem Laubhüttenfest, einiges erfahren. Das Judentum war mir als Kind nicht fremd geblieben. Umso erschreckender waren für mich die persönlichen Erlebnisse und Erfahrungen der Herab 159
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setzung und Verfolgung von Juden in Wien 1938 und danach (Rosenmayr, Überwältigung 1938. Frühes Erlebnis – späte Deutung, 2008). Mein Großvater hatte mich, als ich etwa acht Jahre alt war, in die Synagoge nahe dem Humboldtplatz im 10. Bezirk in Wien mitgenommen. Dort hatten wir, ganz im Unterschied zum Kirchenbesuch, beide eine Kopfbedeckung zu tragen. Es wurde mir zum unvergesslichen Erlebnis, weil man im jüdischen Gottesdiensthaus mit Fremden ungeniert reden durfte, im Sinne Gottes und der für Gespräche offenen jüdischen Gemeinde. Daneben wurde von anderen Personen auch meist halblaut gebetet. Das schuf für mich eine Verbindung, die unter der Woche in der leerstehenden Kirche St. Johann Evangelist am Keplerplatz nicht zu finden war. Nun saß mir in meinem kleinen Untermietzimmer, 68 Boulevard Beaumarchais im sechsten Stock, eine Jüdin gegenüber, die mir, dem ehemaligen Dolmetscher der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg, ihre Hilfe beim Ausbau meiner Französischkenntnisse anbot. Sie war klein, diese junge Freundin, rothaarig und aktiv. Sie plante etwas, worum sie gar nicht gebeten worden war. Ich verstand das noch immer nicht. War das jüdische Nächstenliebe oder ein Akt, bei dem sie sich durch ihre Rolle als Lehrerin etwas aufzubauen hoffte ? Ich ging auf die Auswahl ihrer Übungsstoffe ganz und gar ein und empfand auch, dass sie angemessen waren. Wir gingen nach den Lektionen immer wieder in ein kleines Gemischtwarengeschäft, wie es sie auf dem Boulevard in den 1950er Jahren reihenweise gab, und kauften Kleinigkeiten für eine Mahlzeit ein, die wir dann bei mir im sechsten Stock auf einem durch glühende Drahtspiralen ausgestatteten Kochgerät vorbereiteten und auf einem kleinen Tischchen gemeinsam einnahmen. Ich musste Sarah zurückhalten, das Essen immer selber zu zahlen, aber es machte ihr offensichtlich Freude, sich mit einem ihr vorher unbekannt gewesenen jungen Mann zu unterhalten. Ich verliebte mich nicht in Sarah, aber es freute mich, wenn sie kam und mir auch von ihrer Familie erzählte. Sie habe ihre Besuche bei mir zu Hause nicht weitererzählt, vertraute sie mir an. Man hätte sie in ihrer Familie wohl zurechtgewiesen und ihr verboten, mich zu treffen, voller Misstrauen gegenüber einem »Goy« und noch dazu einem ehemaligen Feind, der in der Deutschen Wehrmacht gedient hatte. So gab sie mir auch nicht ihre Adresse, ich wusste also nicht, wo sie wohnte und wie ich, sollte sie eines Tages nicht mehr erscheinen, nach ihr fragen könnte. 160
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Aber das minderte nicht ihre Aufmerksamkeit bei der Stellung und Korrektur meiner Aufgaben. Ich hielt mich an alle Regeln, nach denen sie sich diese Zusammenarbeit vorstellte und anbot. Ich bedankte mich immer wieder und lobte ihre in der Tat auch bewundernswerten Kenntnisse in beiden Sprachen. Sie nahm solche Äußerungen von mir eher geduldig und gelassen hin. Ich hatte das Gefühl, dass sie sich gar nicht mehr als meine Anerkennung ihrer Kompetenzen erwartete. Ich aber war dabei, mich gerade darin zu täuschen, was ich allerdings erst Monate später erfahren sollte. Sie kam meist am Dienstag und Freitag und legte mir die von ihr korrigierten Aufgaben vor, die sie mir beim vorletzten Besuch gebracht hatte. Dann sprachen wir darüber, wie ich mein Schreiben auf Französisch verbessern solle. Sie gab mir immer realisierbare und wohlüberlegte Ratschläge hierzu. »Ein gescheites Mädchen«, dachte ich mir, aber das sagte ich ihr nicht. An einem besonders heißen Sommertag bat sie mich, mein straßenseitiges Fenster zu öffnen. Ich tat dies und dann fragte sie mich, ob sie sich in meinem Bett ein wenig ausruhen dürfe, die Hitze habe sie so ermüdet, dass sie darum ersuche. Es war ganz selbstverständlich für mich, ihr das zu gewähren. Es brachte mich aber nicht auf den Gedanken, mich neben sie zu legen und ihr ein wenig Zärtlichkeiten zu erweisen, wie zum Dank und als Anerkennung für die Bemühungen, mich in meiner Spracherweiterung zu fördern. Es war kein wilder Impuls, aber ich fand, dass ich ihr das geradezu schuldig sei, meine Sympathie durch Zärtlichkeiten auszudrücken. Aber merkwürdigerweise, wie von einer inneren Kraft zurückgehalten, tat ich das nicht. Ich ließ sie allein im Bett und machte mich an irgendeine Schreibarbeit. Nach etwa einer Stunde stand Sarah auf, verabschiedete sich kurz wie immer, ohne (wie immer) mir zu sagen, wann sie wiederkehren würde. Sie sah nicht entspannter aus als vor der Ruhestunde. Die Hitze dürfte eine Nachwirkung auf sie gehabt haben. Ich lächelte freudig und dankbar zu ihr hin, als sie ging. Und das war das letzte Mal, dass ich sie sah. Die von ihr korrigierten Aufgaben lagen noch auf dem Tisch, als ich schlafen ging. Als ich mich ins Bett legte, kam es zu einer großen Überraschung für mich. Da lag ein mehr als faustgroßer, mehrfach gezackter Stein, wie sie auch gelegentlich im Bauschotter zu finden sind, ein Stein ohne Abschleifungen, mit deutlich ausgeprägten Kanten nach allen Richtungen. Ich war fürs Erste mehr als verblüfft und wusste es nicht zu deuten, warum sie ihn dort hinterlassen hatte. Erst als sie die nächsten drei Tage und auch 161
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die darauffolgende Woche nicht wiederkehrte, kam mir der Gedanke, dass sie durch Hinterlassung des Steins die Aufkündigung unserer Beziehung hatte ausdrücken wollen. Zuerst war ich ratlos, aber nach längerem Nachdenken glaubte ich zu entdecken, dass sie durch die Hinterlassung des Steins hatte zu erkennen geben wollen, dass ich sie statt mit menschlicher Freude oder gar entgegenkommender Zärtlichkeit und Liebe wie einen Stein behandelt hätte. Ich glaube auch heute noch, dass die junge Jüdin in der nun ausgedrückten Abweisung meiner Person richtig, vielleicht sogar weise gehandelt hatte. Was soll ich darüber sagen ? Ich hatte mir geschworen, nie wieder Anlass dafür zu geben, dass man mir für mein Verhalten Steinernes ins Bett legen müsste. Nunmehr, im späten Leben, glaube ich zu erkennen, dass Dankbarkeit, wie ich sie Sarah damals schuldete, in irgendeiner Form hätte deutlich ausgedrückt werden müssen. Weisheit besteht im Verständnis und im Ausdruck von Wechselseitigkeit. Dabei muss oder sollte sich der jeweils Gebende selber Rechenschaft ablegen, ob er bei dieser Wechselseitigkeit auch wirklich auf Voraussetzungen, Strukturen und Bedürfnisse des anderen eingeht. Erst in einer solchen auf die andere Person bezogenen Aufmerksamkeit als Voraussetzung für ein sinnvolles Geben liegt der Ansatz für eine weise Austauschbeziehung. Bedacht zu nehmen ist ein psychologisches Grundgeschehen. In diesem muss ein Weg zur Gemeinsamkeit Raum gewinnen. Die Formel zur Orientierung auf interpersonell angewandte Weisheit könnte also lauten : »Beobachte und betrachte die Bedürfnisse der anderen Person, je näher sie dir steht, umso genauer, ob das, was du ihr zu geben planst und bereit bist zu geben, in der Tat ihren Bedürfnissen entspricht und nicht deinen eigenen ungeprüften Vorstellungen, was ihre (der anderen Person) Bedürfnisse sein könnten oder sollten.«
Wenn du dieser Formel deine Gefolgschaft verweigerst, dann wirst du nicht nur Steine im Bett, sondern auch Versteinerungen in der eigenen Seele hinnehmen müssen. Das aber führt weitab von jeglicher Weisheit.
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»Sitzende«, Bleistift, 1951 von Josef Pillhofer : Josef war, wie ich, Anfang der 1950er Jahre als junger Stipendiat in Paris, wo dieses Blatt entstand. Der HolocaustÜberlebende Paul Celan las uns, den ehemaligen Wehrmachtssoldaten, spätnachts seine Gedichte vor. Celan wurde in diesen Jahren ein Teil unserer aus Krieg, Verwüstung und Orientierungslosigkeit geprägten Daseinssuche.
20 Rettung durch das erlösende Wort : Nachtwanderungen mit dem Dichter Paul Celan in den 1950er Jahren in Paris
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on einem Freund eingeladen, wurde es mir im Wien der späten 1940er Jahre eines Abends möglich, Paul Celan (1920–1970) von Angesicht zu Angesicht kennenzulernen. Er saß auf einem Plüschsofa, eine eindrucksvolle, eher hagere Gestalt, und neben ihm Ingeborg Bachmann (1926–1973). Es schien mir, dass diese Nähe keine zufällige war. Celan sprach in dieser Situation nicht viel. Aber die Worte waren fein artikuliert und die Sätze wie nach einer inneren Vorschrift sorgfältig zu Ende gebracht. Ich hatte den Eindruck, gewann ihn auch zusätzlich aus dem, was er in der Gruppe der Anwesenden sagte, dass er sich in Wien trotz der Freundschaft mit Ingeborg Bachmann nicht eigentlich wohl fühlte. Einige Wochen später erfuhr ich, dass er nach Paris übersiedelt war. Dort traf ich ihn dann im Jahr 1950 in seiner kleinen Wohnung im Quartier Latin. Er hatte drei oder vier der österreichischen Stipendiaten, die gerade ihre von Frankreich finanzierten Studien in Paris begannen, zu sich eingeladen, darunter auch den mir etwa gleichaltrigen Dichter Klaus Demus, zu dem schon von Österreich her eine Beziehung zu Celan bestand. Es wurde weder geraucht noch Alkohol getrunken. Celan saß bei einer stark gedämpften Beleuchtung im Zimmer hinter einem Tischchen, auf dem seine Manuskripte lagen. Ich glaube, dass bei der sehr intimen Lesung für uns, um etwa ein Jahrzehnt jüngere Menschen, auch das Gedicht »Die Krüge« enthalten war. Er hatte über dieses Gedicht an Erica Lilleg geschrieben : »Und hier ist eines, verlegen und scheu, ein verwirrtes und ungewisses« (Paul Celan, Die Gedichte, kommentierte Gesamtausgabe, 4. Aufl. 2012, S. 613). Die Krüge (Für Klaus Demus) ‚An den langen Tischen der Zeit zechen die Krüge Gottes. Sie trinken die Augen der Sehenden leer und die Augen der Blinden, die Herzen der waltenden Schatten, die hohle Wange des Abends.
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Sie sind die gewaltigsten Zecher : sie führen das Leere zum Munde wie das Volle und schäumen nicht über wie du oder ich.
Dazu füge ich noch das folgende Gedicht : Kristall Sieben Nächte höher wandert Rot zu Rot, sieben Herzen tiefer pocht die Hand ans Tor, sieben Rosen später rauscht der Brunnen.
Ich könnte meine Begegnung mit Celan, mein Zuhören dem gegenüber, was er vortrug, nicht beschreiben, wenn ich nicht seine »Todesfuge« hier wiedergäbe. Durch seinen Bezug auf Auschwitz und die Mörder-KZs hat Celan mit seiner unglaublichen Klarheit die schrecklichsten Teile der Geschichte des 20. Jahrhunderts für immer dem Vergessen entrissen. Todesfuge Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts wir trinken und trinken wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar Margarete er schreibt es und tritt vor das Haus und es blitzen die Sterne er pfeift seine Rüden herbei er pfeift seine Juden hervor läßt schaufeln ein Grab in der Erde er befiehlt uns spielt auf nun zum Tanz Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts wir trinken dich morgens und mittags wir trinken dich abends wir trinken und trinken Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar Margarete Dein aschenes Haar Sulamith wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng Er ruft stecht tiefer ins Erdreich ihr einen ihr andern singet und spielt
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Rettung durch das erlösende Wort
er greift nach dem Eisen im Gurt er schwingts seine Augen sind blau stecht tiefer die Spaten ihr einen ihr andern spielt weiter zum Tanz auf Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts wir trinken dich mittags und morgens wir trinken dich abends wir trinken und trinken ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete dein aschenes Haar Sulamith er spielt mit den Schlangen Er ruft spielt süßer den Tod der Tod ist ein Meister aus Deutschland er ruft streicht dunkler die Geigen dann steigt ihr als Rauch in die Luft dann habt ihr ein Grab in den Wolken da liegt man nicht eng Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts wir trinken dich mittags der Tod ist ein Meister aus Deutschland wir trinken dich abends und morgens wir trinken und trinken der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau er trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich genau ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete er hetzt seine Rüden auf uns er schenkt uns ein Grab in der Luft er spielt mit den Schlangen und träumet der Tod ist ein Meister aus Deutschland dein goldenes Haar Margarete dein aschenes Haar Sulamith.
Ich halte diese Sätze für solche, die das 20. Jahrhundert unvergleichlich als solchesauszeichnen. Sie kommen als lebenslange Aufgabe auf uns zu. Sie sind unauslöschlich, der Schmerz, den sie aufprägen, bleibt. Celan, das glaube ich heute immer mehr erkennen zu können, der Jude Paul Antschel, der sich Celan nannte und aus der einst österreichischen Bukowina kam, war ein Lichtträger für alle, die im Rätselhaften des 20. Jahrhunderts in die Nähe der Verzweiflung oder in diese selbst gerieten. Ich hatte selber viel Tod und Tote gesehen, hatte schwarze Milch getrunken. Die Gedichte halfen mir, den real erlebten Todesschmerz im Krieg nachträglich im Unabsehbaren an mich heranzulassen. Ich begriff es damals noch nicht, aber ich ahnte, was auch bei den immer wieder von Celan veranstalteten Lesungen an mich herandrang : »Wie tut sich die Welt uns auf, mitten durch uns !« heißt es bei Paul Celan. 167
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Aber was für eine Welt war denn das ? Eine Welt der Todesstiegen, wie sie auch bei uns in Österreich im KZ Mauthausen aus Stein gebaut worden waren. Über diese mussten Menschen schwere Lasten hinaufschleppen, wenn sie zusammenbrachen wurden sie schließlich in den Abgrund vor dem Hügel geworfen. Es war eine geheimnisvolle Führung, die ich erhielt, jetzt erst begann ich der Antlitze und der zerstörten Körper der Toten des Krieges auch innerlich mehr und mehr ansichtig zu werden. Das entstand durch die zur tieferen Ansicht und Einsicht führenden, verstörenden Gedichte Paul Celans. Man wurde durch sie des Todes ansichtig. Gab es da Zeichen der Rettung ? Oder blieb man im Verhängnis hängen ? Was geschah ? Hier seien Paul Celans Strophen für Nelly Sachs angefügt : Zürich, zum Storchen (Für Nelly Sachs) Vom Zuviel war die Rede, vom Zuwenig. Vom Du und Aber-Du, von der Trübung durch Helles, von Jüdischem, von deinem Gott. Davon. Am Tag einer Himmelfahrt, das Münster stand drüben, es kam mit einigem Gold übers Wasser. Von deinem Gott war die Rede, ich sprach gegen ihn, ich ließ das Herz, das ich hatte, hoffen : auf sein höchstes, umröcheltes, sein haderndes WortDein Aug sah mir zu, sah hinweg, dein Mund sprach sich dem Aug zu, ich hörte :
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Wir wissen ja nicht, weißt du, wir wissen ja nicht, was gilt.
Trotz des goldenen Glanzes des Münsters blieb und bleibt Ungewissheit. Ich suchte in der christlichen Mystik den unumschränkt ändernden und neu erbauenden »Geist« Gottes zu erkennen. Doch das gelang mir damals nur beschränkt, weil sich dabei für mich damals eine durch katholische Liturgie und Dogmatik auf bauende Art von Behinderung der Auffindung eines solchen neu erbauenden Geistes einstellte. Man durfte ja als Christ nichts Neues finden, sich nicht einmal darum bemühen, was damals die Besten schon erkannten, dass es gesucht werden müsste. Am Fußboden einer Klosterruine des alten Byzanz, sorgfältig immer noch mit eingelegten Kacheln bedeckt, lag in den Resten dessen, was vom Kloster erhalten geblieben war, in dem Symeon der Neue Theologe, um 1000 n. Chr. am Rande der damaligen Stadt meditiert hatte, ein einzelnes von irgendwo ausgebrochenes Fragment eines kleinen Kachelstückes. Ich hob es auf. Ich war dabei aber so unvorsichtig, dass ich den Wächter, bei dem ich Eintritt bezahlt hatte, nicht im Auge behielt. Wenn ich das Stückchen nicht sofort wieder auf den Boden lege, werde er die Polizei holen, schrie er mich an. Ich hatte Angst, ließ das Stück fallen, obwohl es deutlich nirgendwo fehlte, sondern vermutlich vom Regen hergeschwemmt worden war. Nun aber wurden mir durch Paul Celan Stücke in der Form von Sprache zugeschwemmt. Ich fühlte damals, dass er, Celan, ein Findender im Chaos war. Er war imstande, das, was er fand, in seine außergewöhnliche Form zu bringen. Er tat dies mit der unsäglichen Kraft seines Herzens. Es war seine Form des Geistigen, die sich in ihm entwickelte und die er dann schenkte. Celan musste damals wohl auch mein Suchen verspürt haben, mein verstörtes Bemühen, in mir selbst eine innere Ordnung nach dem Krieg zu finden. Die Religion war für mich wie ein Zaumzeug von außen zur Bewältigung meiner Lebensführung geblieben. Es war für mich ganz unvorhergesehen und im Grunde unerklärlich, dass Celan von den österreichischen Stipendiatinnen und Stipendiaten mich aus169
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wählte, um, wie er sich ausdrückte, gemeinsame Nachtwanderungen zu unternehmen. Celan wählte den Weg. Mit ihm zu gehen war eine merkwürdige Erfahrung. Er hielt dort inne, wo es ihm entsprach, und dies war auch eine Erfahrung seiner Person. Sein Innehalten war nicht mit Worten oder gar Erklärungen verbunden. Besonders bewegt und bewegend, obwohl mit Stillehalten verbunden, war für ihn eine vielfach andere Brücke über die Seine. Aber er kommentierte nie den Fluss, obwohl ihn das Fließen sichtbar bewegte. Celans Ziel war, darin konnte ich mich ihm besonders gut und gerne beigesellen, der Montmartre. Sein Zielpunkt war jener, von dem aus sich der Blick auf die Stadt Paris am weitesten öffnete. Offenheit gelingt nur dann, wenn sie von einem gewissen Punkt aus ihre Beschränkung findet. Das war einer der Sätze Celans, die ich in Erinnerung behielt. Ich war, besonders im ersten Jahr meines Stipendiums – ich hatte das Glück, dass es um ein zweites verlängert werden konnte –, auf Orientierungssuche im Wirrwarr der Einflüsse auch in der damaligen Gegenwartskunst. Dabei erschreckte mich die moderne Skulptur geradezu. Die gegenstandslose Malerei aber verlockte mich zu einer Art Hingabe an Rätselhaftes. Ich entdeckte Malerei und Plastik der damaligen Gegenwart, wie ich sie um 1950 in Paris erlebte, indem ich die Galerien besuchte oder auch die Ateliers der Künstler, und konnte auch zu Gesprächen mit ihnen finden. Ich suchte Konzentrationspunkte der Schöpfungen des »Art Moderne«, wo immer ich sie finden konnte. Ich erlebte, dass die von mir in Paris entdeckte Gegenwartskunst um 1950 Elemente des Erfahrbaren durcheinanderschleuderte. Celan und ich, wir sprachen nie darüber. Er schien immer ganz eingehüllt in sich selbst. Von dort aus vermochte er traditionelle Gefühle und Sprachwelten zu zertrümmern, um daraus folgend sich eine eigene Bild- und Wortwelt zu erkämpfen, die er sich dann darzubieten entschloss. Celan ließ das Traurigsein an sich heran, er kippte dabei selber nie in einen sprachlichen oder ideologischen Nihilismus. Immer wieder geben Gedichte davon Zeugnis. Dein Hinübersein heute Nacht, mit Worten holt ich dich wieder, da bist du, alles ist wahr und ein Warten Auf Wahres.
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Aber Celan war ein – medizinisch gesehen – schwer an Depressionen leidender Mensch, den seine außerordentlich liebevolle französische Frau Gisèle Lestrange hingebungsvoll behandelte. Sie sorgte für Paul durch ihr persönliches Verhalten, aber auch durch Beschaffen von Medikamenten für ihn und Erkämpfen von Aufenthalten in Krankenhäusern. Trost, sofern das Wort ausreicht, es ist kein Wort Celans. Du erreichst dich nur, wenn du in der eigenen Tiefe, nach dem Wort Celans »unbeirrbar« wirst. Darin liegt ja der fundamentale Unterschied zwischen dem ständig sich neu entwerfenden deutschen Philosophen Heidegger, der nach »Sorge« suchte, und dem jüdischen Dichter Celan. Dieser aus dem alten Österreich stammende Dichter trat bei all seinen Leiden für die Unbeirrbarkeit ein (Die Gedichte, 2012, S. 357). Celan rang in seinem Denken mit Heidegger. Als ich ihn Jahrzehnte nach meinem Stipendium in Paris 1949–1951 wieder einmal in Paris aufsuchte, bat er mich, mit ihm seinen Entwurf für jene Rede durchzusehen, die er anlässlich der Verleihung des Büchner-Preises für Dichtung und Literatur in Deutschland halten sollte. Wir saßen beide tief gebückt über Celans Manuskript, ich hatte Mühe, ihn dazu zu bringen, einige besonders lobende und zustimmende Stellen zu Heidegger zugunsten seiner eigenen Gedanken auszulassen. Er bekam den Büchner-Preis, die Rede wurde mehrfach öffentlich zitiert. Ich erlebte das als eine Beglückung mit und zitiere hierzu Celan. Es waren Strophen, zwar allgemeine, aber ich konnte sie auf mich beziehen, als Geschenk der Unbeirrbarkeit. Ich lotse dich hinter die Welt, da bist du bei dir, unbeirrbar, heiter vermessen die Stare den Tod, das Schilf winkt dem Stein ab, du hast alles für heut’ Abend.
Diese Strophen trugen mich. Sie schenkten mir das Aufbrechen der tiefsten und todernsten Erinnerungen, die das Herz durchwühlen. Ich erfuhr erstmals, dass Sanftmut (das schwache Schilf ) der Härte (dem Stein) eine Absage durch Widerstand erteilen kann. Allerdings sei diese Macht »für heut Abend« befristet und niemand könne sagen, wann und wodurch sie wieder zu gewinnen wäre. Als letzte Antwort muss man daher vielleicht das Gedicht »Tenebrae« ansehen. 171
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Tenebrae Nah sind wir, Herr, nahe und greif bar. Gegriffen schon, Herr, ineinander verkrallt, als wär der Leib eines jeden von uns dein Leib, Herr. Bete Herr, bete zu uns Wir sind nah. Windschief gingen wir hin, gingen wir hin, uns zu bücken nach Mulde und Maar. Zur Tränke gingen wir, Herr. Es war Blut, es war, was du vergossen, Herr. Es glänzte. Es warf uns dein Bild in die Augen, Herr. Augen und Mund stehn so offen und leer, Herr. Wir haben getrunken, Herr. Das Blut und das Bild, das im Blut war, Herr. Bete, Herr. Wir sind nah.
Immer wollte Celan Heidegger persönlich kennenlernen, da er durch seine eigene Dichtung, welche die alten Formen und Grundvorstellungen der Poesie durchbrach, sich dem »Überwinden« der europäischen Metaphysik durch Heideggers Seinserfahrung und Entwurfsdenken nahe fühlte. Vor der Ankunft Celans in Freiburg, wo er Heidegger treffen sollte, hatte Heidegger durch persönliche Besuche in den Buchhandlungen von Freiburg 172
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zu erwirken versucht, dass Celans Gedichtbände in die Schaufenster gestellt wurden. Heidegger hatte sich in einer frühen Phase seines Denkens, besonders in seiner Freiburger Rektoratsrede, einen Aufschwung der Kultur von der Herrschaft des Nationalsozialismus in Deutschland erwartet, und er hatte dies auch ganz deutlich ausgesprochen. Er hatte später nie diese Fehlerwartungen eingestanden, trotz Judenverfolgung und Massenmord im Nationalsozialismus. Als Orientierung gebender Philosoph hatte er auch nie, auch Jahrzehnte später nicht, sich selber Schuld zugesprochen. Die Jüdin Hannah Arendt, die Heidegger vor ihrer Flucht aus Deutschland geliebt und die ihn nach dem Krieg wieder aufgesucht hatte, wäre doch bei einem solchen Brückenschlag hilfreich gewesen. Doch dazu kam es nie. Auch Celans Hoffnung auf »eines Denkenden« (Heidegger) »kommendes Wort im Herzen« erfüllte sich nie. Celan sah sich Heidegger gegenüber nach seinem Besuch in der Hütte Heideggers in Todtnauberg im Schwarzwald, in seinen Hoffnungen enttäuscht und kehrte traurig nach Paris zurück. Durch die als schrecklich zu bezeichnenden Depressionen, die auch zu Verzweiflungsausbrüchen und körperlichen Aggressionen führten, war Celans Weg ein mehr als beschwerliches Leben. In dieser Spätphase entstand auch ein Gedicht, das ich hier an den Schluss stelle. Dir in die ungefalteten Hände gewogen : meiner Verzweiflung lautlose Geduld.
Diese Geduld hatte ihre Brüche. Und in einem dieser Brüche endete für Paul Celan sein Leben. Er stürzte sich, wie bei einem früheren Versuch, wieder in die Seine. Diesmal sah es niemand, sodass der verzweifelte Mensch versank und erst nach langem Suchen tot geborgen werden konnte. Es war ein schreckliches Erwachen für viele von uns, die wir ihn kannten, und die wir den Außerordentlichen auf sehr verschiedene Weise liebten. Dieser Text soll im Grunde meine Zuneigung zeigen und wenn möglich erklären. Celan führte die, die ihm nahekommen konnten, durch seine sprachgewordenen Schmerzen zu einer unübertreff baren Teilnahme. Das eigene Un173
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genügen des Mitgefühls drängte, wenn man ihn erlebte, in der Tiefe der Seele an das eigene Ich heran. Celan war ein rettender Poet. Er setzte sein Leben dafür ein. Er erreichte über die Wege befremdender Worte und Sätze andere Menschen in ihrer Tiefe. Für mich, der ich viele Schriften Heideggers las und ihn auch bei und nach seinem Vortrag im Auditorium Maximum der Wiener Universität in kleinem Kreis geradezu heiter erlebte, stellte sich damals ernsthaft die Frage, ob ohne Schuldeinsicht bei aller intellektueller Konstruktionsfähigkeit einem großen Denker wie Heidegger Weisheit zugesprochen werden darf. Ich kann Celan hingegen voll und ganz vertrauen. Er holt mich mit seinen ureigensten Worten wieder in die Hoffnung : »Alles ist wahr und ein Warten auf Wahres« (Die Gedichte, 2012, S. 128). Bei Paul Celan darf man sich bei dem Umfassenden und sich immer Erneuernden seiner Dichtung der Verwandlung von Wahrheit in Weisheit voll anvertrauen.
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21 Josef Pillhofer (1921–2010) : Eine lebenslange Freundschaft im Zeichen der Weisheit seiner Kunst
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s waren fünfzig Jahre Austausch und Gemeinsamkeit, in denen ich das Glück hatte, Josef Pillhofer, dem großen Meister der bildenden Kunst, nahe, ja verbunden zu sein. Ich bin traurig, ihn nicht mehr in seinem Atelier im Wiener Prater besuchen zu können, was in Josefs letztem Lebensjahrzehnt, wenn er in Wien arbeitete, mindestens einmal wöchentlich geschah. Ich kann von keinem anderen verstorbenen Menschen der gemeinsamen Generation so sehr und völlig ungeschützt sagen, dass er mir fehlt, bis in die Stunden meines Alltags hinein. Ich kann über das, was ich in seinem Atelier vorfand, und vor allem über das, woran er gerade arbeitete, nicht mehr mit ihm sprechen. Das ist ein immer wiederkehrender Schmerz für mich. Und es waren schöne Momente, in denen ich mit meinen Fingern durch eine lange Rille auf einem großen stehenden Steinblock im Garten seines Ateliers in Wien hinunterstreichen konnte und mich mit Josef danach auseinanderzusetzen vermochte, warum er zu dieser Rille auf einer anderen Seite des Blocks keine korrespondierende in den Stein einzuhauen plante. Ich bedauerte das, aber er lehnte eine solche korrespondierende Rinne ab. Er erklärte es mir, aber ganz verstehen konnte ich ihn dabei nicht. Das schuf aber keine Distanz zwischen uns. Josef war jemand, der zu wissen glaubte, was er tat, es lag eine mich sehr beeindruckende Sicherheit seines Schaffens in ihm. Ich war als Forscher immer sehr in die Komplexität des jeweils zu untersuchenden Forschungsobjekts oder Bereichs gedrängt. Ich konnte nicht wie Josef in seinem schöpferischen Prozess vergleichbar eindeutig werden. Oder es fehlte mir überhaupt die Zielsicherheit und Unverwandtheit des Ergebnis-Erbringens, wie sie mir bei Josef Pillhofer manchmal geradezu als Schroff heit entgegentrat.
Kopf, Bronze, 1994 : Josef Pillhofer zog oft das feuchte Tuch von einer in weichem Ton im Entstehen begriffenen Skulptur. Wenn er mir in seinem Atelier im Wiener Prater den Stand seiner Arbeiten erläuterte, dann konnte ich fühlen, wie sehr er mit der Seele daran beteiligt war. Ich liebte ihn für seine für mich nie erreichbare Großzügigkeit und Weisheit. Ich versuche heute, etwas davon zu leben.
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Wir waren beide Soldaten des Zweiten Weltkriegs gewesen, seine Skizzen von herumsitzenden Gefangenen in einem großen Lager beeindrucken auch heute als Vergangenes in der Gegenwart. 1945 nach dem Ende des Krieges geschaffen, sind diese Zeichnungen von gefangenen Soldaten überzeugende Dokumente aus einer Zeit voller Verzweiflung. Josef stammte aus einer Familie, in welcher der Vater als Bahnhofsvorstand in der für den Eisenbahnverkehr äußerst wichtigen Stadt und Station der österreichischen Südbahn, Mürzzuschlag, eine wichtige Rolle spielte. Die Mutter, die ich noch hatte kennenlernen können, verstand durch eine in praktische Mitmenschlichkeit verwandelte Liebe, Klugheit zu entfalten und vorzuleben. Die ersten Zeichnungen des jugendlichen Josef vom Hügel auf die Stadt Mürzzuschlag hinunter schildern in sorgfältiger Ordnung Bilder seiner Heimat. Es lag Bewegung und Beweglichkeit in Josefs Zeichnungen, sodass er schon mit 17 Jahren in die Kunstgewerbeschule in Graz Aufnahme fand und dann, nach seinem Militärdienst in schrecklicher Zeit in Sizilien und Italien im Zweiten Weltkrieg, ab 1946 bei Fritz Wotruba an der Akademie der bildenden Künste in Wien anfangen konnte zu studieren. Dann gelang es ihm durch ein französisches Stipendium, an der Académie de la Grande Chaumière in Paris bei Ossip Zadkine und mit regen Kontakten zu Constantin Brâncuși (1876–1957), Henri Laurens (1885–1954), Alberto Giacometti (1901–1966) und Serge Poliakoff (1900–1969) viele Anregungen für seine Arbeiten zu gewinnen. Gerade um diese Jahrhundertmitte konnte ich in Paris mit einem Stipendium als boursier du gouvernement français mein durch die Barockmalerei und den Impressionismus des 19. Jahrhunderts in Österreich einseitig geprägtes Kunstverständnis auf brechen. Ich fand durch eine Vielzahl von Atelierbesuchen in Paris an der Seite von Josef in die Welt der damals so benannten abstrakten Malerei und zu den Persönlichkeiten von Malern Zugang. Jeder einzelne dieser Besuche war ein Erlebnis. Durch die großen neuen Skulpturen im Musée d’art moderne konnte man zu Wegen für ein gewandeltes Verständnis vom Menschen gelangen. Es bedurfte keiner Gesamterklärungen von Josef, nur einfach des Hineingezogenwerdens in eine neue Welt und eine Weltsicht der neuen Vorstellung von Menschsein. Auch die Khmer-Kunst war dabei. In Paris hatte ich sie kennenlernen können. Sie übte eine besondere Verwandlungskraft auf mich aus. Das war es eigentlich, was uns verband : die Suche nach dem neuen Daseinsverständnis, die sich für uns beide als unabweisbar ergab. Josef erwarb dabei 178
Josef Pillhofer
mir gegenüber als ein aktiver und damit Bedeutung und ein neues Selbstverständnis gewinnender lebender Künstler eine gewisse Führungsrolle. Der Beitrag zur Weisheit war das Aufgebrochenwerden aus dem Rahmen der römisch-griechischen Weltkultur und Ordnungen, wie ich sie als Gymnasiast in Wien gleichsam als Jünger Marc Aurels übermittelt bekommen hatte. Ich erfuhr, dass sich jeder nach der ihm möglichen Vollendung entwickeln, als »Geworfener sich entwerfen« (Martin Heidegger) kann und für die Entdeckung einer eigenen Welt auch einen eigenen inneren Raum finden muss. Ich möchte mich nun der Besonderheit des Werkes von Josef Pillhofer zuwenden, denn diese Besonderheit war es ja, und sie ist es heute immer noch, die mich seine Weisheitsmomente erreichen ließ und lässt. Josef Pillhofer gehörte zu jener dezimierten Altersgruppe in Österreich, die aus den Trümmern und aus dem Sterben des Zweiten Weltkrieges kam und in die bloßgelegten Freiheitsräume der Ungewissheit und Armut der Nachkriegszeit geriet. Da gab es in Österreich kaum gesellschaftliche Formen, die Einzelne miteinander verbanden. Es gab für viele um sich selbst bemühte Junge, wie wir es waren, keine annehmbare ideologische Verheißung und keine eindeutig vorherrschende formale Faszination. Wir mussten uns im Grund all dies neu erwerben. Die Not, sich orientieren zu müssen, war die Triebkraft. Pillhofer hatte den Versuch einer Konstruktion der Wirklichkeit mit der Sparsamkeit und Logik seiner Mittel – ohne Abstützung auf programmatische, literarische oder theatralische Effekte – begonnen. Statt »Stufen einer Entwicklung« gab es bei ihm ein jeweils individuelles Verhältnis zu jedem einzelnen seiner Werkstücke. Darum kann man auch die formalen Beziehungen der einzelnen Stücke zueinander beobachten, wie sie eine Welt ergeben, die sich mit jeder neuen Plastik fortentwickelte. Das war die Weisheit seiner Schöpfungen. Josef Pillhofer erlebte seine Kindheit und Adoleszenz in Mürzzuschlag und in den Bergen rings um die Stadt. Schon in den frühen Zeichnungen dieser seiner Welt war nichts nebulos, »zugeflogen« oder als Folge von bloßen Abbildern, von Eindrücken und Empfindungen zu verstehen. Das Diffuse der Großstadt war ihm fremd geblieben. Josef suchte seine Artikulation stets in festen Grenzen, aufgrund seiner Erfahrung und Erwägung. Er schuf Plastiken, die auch dem flüchtigen Betrachter eine klärende und reinigende Wirkung mitgeben, bis heute, auch nach seinem von Freunden als viel zu früh erlebten Tod 2010. Es ist wichtig, diesen Wirkungen von Josef Pillhofers Schöpfungen in jeweils eigenem Erleben sich auszusetzen. 179
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Denn die »Übersetzbarkeit« der formalen Sprache Josef Pillhofers in Anschauliches führt auf eine persönliche Erfahrungssubstanz hin. Sie verlangt von jedem Betrachter dessen Einsatz für die Begegnung mit dem Schaffen von Josef. In unserer Gegenwart treibt eine Fülle geheuchelter Unmittelbarkeit auf uns zu. Im Werk Josef Pillhofers fühle ich mich hingegen als Mensch geschont. Ich werde von diesem Schaffen nicht in den Sog des Unmittelbaren hineingezogen. Es wird nicht an mich appelliert, ich werde nicht durch Reize oder Aufforderungen bedrängt. Aber durch die Sorgfalt des Anschauens von Josefs Objekten werde ich verändert, geklärt und weitergeführt. Josef Pillhofer entfaltete die Fähigkeit, die Spannung zwischen Natur und abstrakter Form auszuhalten. Vielleicht ist in der bedrohten Welt heute nichts wichtiger als die Hinwendung zur Innigkeit der Anschauung, aber auf der Grundlage einer in sich selber aufgebauten Fähigkeit zu schauen. Nannte doch schon Hegel Erfahrung ein »Innewerden der Logik des Wirklichen«. Wer die abstrakte Logik in der naturzugewandten Figuration, die sein plastisches Werk auszeichnet, nicht sieht, versteht seinen Naturbegriff und seine immer wieder von ihm betonte Zuwendung zur Natur nicht. Ich möchte also Josef Pillhofer loben für die umfassende Mittelbarkeit, die Indirektheit seiner Form, wodurch die Strukturen des Wirklichen erst hervortreten können. Das analytische Bewusstsein des neuen 21. Jahrhunderts, das sich in immer kürzer werdenden Abständen variiert, hat eine Tendenz, ins Banale und Schale abzugleiten. Es erschöpft sich, indem es sich in immer neuen Varianten reproduziert. Nur die Anschauung, ein synthetischer, ja fast moralischer Akt, weil dazu Einhalt und Sammlung notwendig sind und die Begrenzung aufs Einbildbare, erlaubt uns einen Weg zum Glück. Insofern ist Kunst nicht für die Kunst, sondern für das Leben da. Die Reinheit und Spärlichkeit in Josef Pillhofers Zeichnungen sind wie ein Sich-Abstemmen, Sich-Abheben von jedem Naturalismus. Ich sehe bei Josef in seinen Zeichnungen, wie sich die Felsen der Altenburger Wände der Rax zusammensetzen, wie sich das wilde Gamseck, das ich vom Durchsteigen als Kletterer kenne, im Detail auf baut. Diese Spärlichkeit mit ihren manchmal formlogischen Bezügen auf Details, bringt mir durch Josef Pillhofers Zeichnungen Heimat, bringt mir Gebirge nahe, Orte, die mich nicht behausen können. Aber auch römische Tempel oder normannische Architektur in Sizilien rücken durch seine Zeichnungen für mich in eine nicht greif bare, aber vorstellbare Nähe. 180
Josef Pillhofer
In der Spärlichkeit Josef Pillhofers wird selbst eine Aktzeichnung zu einer Chiffre. Pillhofer schmiegt sich nicht den Lebensmöglichkeiten, nicht einmal einem angenehmen Blickwinkel an, die ja alle gesellschaftlich produziert sind. Josef suchte hier streng als Einzelner. Das klärt und belebt den, der ernsthaft hinschaut. Josef Pillhofer trieb seine Klärungen sehr weit voran, sie treten heute fast wie Pläne zutage. Er zeigte eine durch ein hohes Maß von Reflexionen gebrochene, aber nicht zu Konstruktivismus zerbrochene Erfahrung. Seine Strenge ergibt sich bei ihm aus dem Zugeständnis der Ungesichertheit. Die Überzeugungskraft fließt nicht einfach ein. Sie entsteht daraus, dass Josef für jede Darstellung seine Erfahrung filtert. Erst durch ihre Darstellung entsteht die Bestimmtheit in Josefs Form. Wir müssen heute das Mythische ins Exemplarische und damit auch ins Erfahrbare übersetzen, wenn wir der Bedrohung und Zerstörung, die wir um uns sehen und erleiden, Einhalt bieten wollen. Wo Gefahr ist, wächst nicht mehr notwendig auch das Rettende. Wir dürfen nicht mehr unsere Hoffnung auf Kreisläufe oder Wiederholungen setzen. Die Verbesserung verlangt von uns auch unser persönliches Wagnis. Sie verlangt die Suche unseres Weges in der Selbstbestimmung. Sie verzichtet nicht auf das Wagnis eigener Entfaltung. Ich sehe Josef Pillhofers Werk, besonders die Landschaftszeichnungen, auch als eine Anleitung zum Genießen. Dies hat seine Wichtigkeit in einer ebenso überfüllten wie dürftigen Zeit. Kaum etwas vermag mehr zu läutern als der sorgfältig gewählte, aber ungeteilt bejahte Genuss. Lust will, wie Nietzsche sagte, Ewigkeit. Erst sie, die Lust wie die Schönheit, lehren uns, wie wir uns retten können, und dass wir es vermögen. Josef Pillhofers Werk ist ein kraftvoller Hinweis auf die Notwendigkeit des eigenen Weltverständnisses. Wir spüren, dass aus seinem Werk eine personal erworbene Erfahrung von Welt uns entgegentritt. Das personal Erworbene geht über das Mythische hinaus. Das mythische Leiden bleibt anonym. In der personalen, wenn auch vom Mythos gedeuteten Erfahrung erlebt jeder sein eigenes Scheitern und sendet, allerdings wenn er es vermag, gerade von dort aus auch sein Licht. Die Kunst, die aus personaler Erfahrung entspringt, erschöpft sich nicht in Aktionismus oder der Übermalung. Es ist die personale Erfahrung der Beobachtung, welche jene Linie einer Bergkuppe ziehen lässt, die mehr Einfühlsamkeit und Teilnahme an der Natur vermittelt, als man ahnt. »Die Natur«, heißt es im Fragment 123 bei Heraklit von Ephesos um etwa 500 v. Chr., »liebt sich zu verstecken«. Das heißt, man muss sie erst entdecken. 181
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Josef berief sich immer wieder auf seine Bemühung um Entdeckung und um Darstellung von Natur, im Akt wie in der Landschaftszeichnung. Er hat sie hervorgerufen, »herzitiert«. Nicht nur dem Reiz der Sinnlichkeit, sondern vor allem der Freude der Entdeckung der Natur, der aufregenden inneren Zuwendung des Künstlers zur Natur, in der Bereitschaft zur Weisheit des Sehens verdanken wir in Josef Pillhofers Schaffen viel Schönheit. Sein Werk, besonders seine Arbeiten zum afrikanischen Tanz, sein Weg zum Erschließen der Bewegung beeindrucken mich als eine kühne Hingabe an die Erfahrung. Gerade der Tanz liegt ja am augenfälligsten am Übergangspunkt vom Mythos zur personalen Gestaltung. Es handelt sich um Studien von Gruppentänzen von Frauen, die während eines gemeinsamen Aufenthaltes von Josef und mir in den 1990er Jahren in Westafrika, in Mali, entstanden. Das kam so : In der historischen Dokumentation eines Initiationskults in einem über einhundert Jahre alten Buch fand ich mehrere Seiten, in denen die Beobachtungen eines europäischen Forschers in Schriftform einer Reihe von präzisen Skizzen eines beobachtenden Künstlers einander gegenübergestellt wurden. Also statt der Fotos, welche die beobachtenden Ethnologen oder Soziologen heute nach Hause bringen, waren es damals sehr lebendig ausgeführte Zeichnungen, neben den Beschreibungen des Forschers, was er gehört und gesehen hatte. Zwei mir persönlich besonders nahestehende afrikanische Freunde und ein angesehenes und aktives Sippenoberhaupt wurden von Josef als Menschen einer von der unsrigen sehr verschiedenen Kultur porträtiert. Als Einzeldarstellungen wie Arbeitshypothesen trugen diese Blätter zu unserem Projekt der Nachzeichnung von Lebensphasen in der Kultur entscheidend bei. Aus den Portraits von Seri Sakko und Tiefing Boaré, zweier Führungsfiguren im Dorf Sonongo in Mali/Westafrika, und der Art, wie Josef sie in Skizzen zu erfassen vermochte, stiegen für mich als Forscher Erkenntnishilfen außerordentlicher Art auf. Josef war im Grunde ein suchender Geist. Bei einer umfassend geplanten Veranstaltung von Gruppentänzen von Frauen suchte er sich eine Position, um ganz in seiner Art das Geschehnis zu zeichnen. Die als Individuen in einzelnen Gruppen aufscheinenden tanzenden Frauen kamen in Josefs Darstellung wie Signale von Menschlichkeit zur Darstellung. Sie schienen sich fast vom Boden abgehoben zu bewegen. Aber es war kein Schweben, das Josef zeichnete. Er blieb bei der von ihm anschaulich erfahrenen Wirklichkeit. Und 182
Josef Pillhofer
das war die Gemeinsamkeit und Verbundenheit der Frauen beim Tanz. Die Skizzen vermittelten eine Botschaft. Sie schienen zu sagen : Es gibt immer Menschengruppen, die zusammenwirken und in dieser Gemeinsamkeit etwas zeigen wollen. Der in seiner Betrachtung geradezu nüchterne Bildhauer, der gewohnt war, Körper zu schaffen, ließ sich hier bewegen, in Gruppen sich darstellende Gemeinsamkeit samt ihrer inneren Beweglichkeit auftreten zu lassen. Es war die Antwort eines Europäers auf eine jahrtausendealte afrikanische Kultur der Zusammenschlüsse und der gemeinsam handelnden Gruppen. Ich fühlte mich geradezu mitbewegt. Überhaupt verstand ich bei den Wochen des gemeinsamen Aufenthalts mit Josef in den Dörfern und Städten Westafrikas, dass der bildliche Ausdruck von Zusammengehörigkeit bei der Arbeit (zum Beispiel beim Fischfang) und schließlich auch besonders beim Tanz mehr Bindung veranschaulichen konnte, als es nur durch Beschreibungen möglich wurde. Das große Thema in der Plastik des 20. Jahrhunderts seit ihrer Wendung zum Kubismus ist der immer wieder unternommene Anlauf zum Archaischen, zur Suche nach den Ursprüngen. Das 20. Jahrhundert fand in der Plastik seine Strukturen im Regress auf den Kern des Archaischen, auf die mythischen und rituellen Keime der Formwerdung. Lässt sich in dem Bewusstsein, dass alle Wirklichkeit in der Kunst auf dem Wege der Abstraktion gestaltet wird, überhaupt noch Bild und Gleichnis von der menschlichen Figur in individueller Sensibilisierung entwickeln ? Lässt sich das Archaische mit der modernen Aufforderung zur Abstraktion in eine Form umgießen ? Pillhofer stellte sich dieser großen Herausforderung, suchte und fand so den Weg zur Meisterschaft. Die heimlichen Weisen unserer Zeit sind die Meister, die durch ihre Arbeit und ihren Schmerz vom Leben wissen. Durch die Gestalt, die aus dem Schweigen kommt, die wir annehmen und aufnehmen, kann auch die Schönheit zu uns kommen. Es wird uns der Genuss zuteil, nach dem unser Herz, unsere Sinne sich sehnen, und nach dem der Geist, der ruhelose, sucht. Bei Josef Pillhofer ist es ganz entscheidend zu sehen, wie die Weltsichtigkeit in seiner inneren Konzeption und die Anlage der Durchführung sich mit einer bestimmten Art von Genauigkeit verbinden. Der Einblick in die Aktzeichnungen lässt dies ebenso erkennen wie schließlich auch die bildhauerische Gestaltung des Akts. 183
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Seine Fähigkeit, von der Konzeption zur Gestaltung zu kommen, darum schrittweise zu ringen, erlaubte Pillhofer, zu einer überzeugenden inneren Sicherheit zu gelangen. Diese Fähigkeit zur Nähe erwies Josef Pillhofer auch bei seiner Zusammenarbeit mit mir in den Forschungsphasen beim Volk der Bambara in Mali. In einem der Dörfer im östlichen Mali, in Koulikoro, betrieb ich mit jungen österreichischen Afrikanisten Ahnenuntersuchungen zur Feststellung des sozialen Zusammenhalts. Die sprachlich hervorragend kompetenten jungen Kollegen erklärten mir, dass im Dorf keinerlei Masken mehr vorhanden seien, welche bei Ahnenkulten früher eine Rolle gespielt hätten. Bei seinen eigenen mit Hilfe von Dolmetschern geführten Gesprächen stieß Josef in diesem Dorf auf sehr viel Sympathie, nicht nur wegen seiner weißen Haare. Er kam plötzlich zu mir und hinter ihm trug man eine große komplexe Maske, die man aus einem Versteck aus einer Hütte für ihn herausgeholt hatte. Es war ein Triumph für ihn, als Gast und als Freund des Dorfes. Auch bei unseren Gängen auf dem Markt von Bamako liefen die jungen Menschen hinter ihm her und boten ihm Objekte zu guten Preisen an. Man war freundlich zu ihm und liebte das, was er im Fernsehen in Mali über Afrika gesagt hatte und was die Jungen beeindruckt aufgenommen hatten. Ich muss auch noch erwähnen, dass Josef Pillhofer, wie der Katalog zu seinen Arbeiten 2011 nach seinem Tod ausführlich zeigt, in den letzten beiden Lebensjahrzehnten immer wieder mit Blechen verschiedenster Art als Skulpturmaterial arbeitete. Er begann mit kleinen Dimensionen, bis ihn ein bedeutender Sammler, der österreichische Museumsgründer Herbert W. Liaunig, entdeckte und Josef Pillhofer dafür gewinnen konnte, im südkärntnerischen Neuhaus/Suha für die architektonische Markierung in der Landschaft eine Stahlskulptur »Raumentfaltung« in neun Metern Breite und sechs Metern Höhe im Außenbereich des Museums zu schaffen. Josef wurde so zum Landschaftsarchitekten, wobei durch die Lebendigkeit und Dramatik der gewaltigen auf dem Hügel installierten Blechwände, die wie ein gewaltiger Urvogel in die Landschaft ragen, ein außerordentliches Werk gelang. War Josef zum hervorragenden Zeichner afrikanischer Tanzkünste geworden und zum Maskenentdecker im waldreichen Bambara-Gebiet im westafrikanischen Mali, wurde er schließlich zum architektonischen Schöpfer für ein österreichisches Museum. 184
Josef Pillhofer
Josefs Kunst ragt in unsere Zeit hinein und darüber hinaus, von Mürzzuschlag in die Welt. Und sie wird bei uns bleiben in ihrer Genialität und Weisheit, auch wenn man Geduld haben muss, um zu sehen, was sie hervortreten lassen. Bei Josef Pillhofer führt das zu einem Erlebnis der Ansicht und Einsicht. Gute Kunst macht uns weise.
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Im Leben gibt es viele ungesicherte Pfade, auf denen man ausgleiten und ins Unglück oder in den Tod stürzen kann. Warnungen zu prüfen, um Gefahren richtig einzuschätzen, ist immer weise ; ebenso die Bedachtsamkeit und das, was schon in der griechischen Antike mit dem Begriff »Besonnenheit« bezeichnet wurde.
22 Auf gewagtem Felssteig : Abstieg in den Grand Canyon in Arizona/USA
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ährend ich in den späten 1950er Jahren an verschiedenen US-amerikanischen Hochschulen forschte und unterrichtete, suchte ich in den Ferienwochen so häufig als möglich amerikanische Landschaften, leicht zugängliche oder auch abgelegene, kennenzulernen. Diese Absicht führte mich auch zum Grand Canyon. Ich erreichte mit einem Mietauto die zentrale Nächtigungsstelle am Südrand der gewaltigen Schlucht in Arizona. Ich hatte die Absicht, am nächsten Morgen in die Tiefe zu steigen. Alle weitere Planung wollte ich von der Ermüdung durch den mehr als 1500 Höhenmeter betragenden steilen Abstieg bis zum Fluss abhängig machen. Man beriet mich im Gästehaus, das wie ein Balkon am Rand in den Abhang ragte. Der von mir geplante Abstieg führe auch durch eine Felswand auf einem sehr schmalen und ungesicherten Pfad, sagte man mir. Man müsse sehr achtsam sein, um nicht auszugleiten und in den Tod zu stürzen, war der Rat, den ich bekam. Es sei am besten, einen anderen Abstieg zu wählen. Der Anstieg vom Boden des Canyons hingegen, der Rückweg, wenige Kilometer vom Endpunkt des Abstiegs entfernt, sei ohne irgendwelche Gefahren und führe in kleinen Serpentinenpfaden durch Wiesen und weiter oben durch große Haine wilder Obstbäume. Er heiße »Blue Angels Trail« und sei tatsächlich ein wie von Engeln angelegter und durch sie behüteter Weg. Ich zögerte zuerst, mich für den gefährlicheren Abstieg zu entscheiden, und legte mich zu Bett, um den Morgen für die Entscheidung abzuwarten. Auch ein anderer Berater der Herberge äußerte sich am Morgen warnend. Ich hielt aber die Amerikaner damals für wenig kundige Bergsteiger und erklärte mir die bedrohlichen Aussagen von Leuten aus dem Gästehaus als Übertreibung. Dann schnitt ich mir aus einem nahegelegenen Baum einen festen Stock heraus, füllte viel Tee in die Feldflasche und zog nach einem kräftigen Frühstück durch einen Bereich eines immer steiler werdenden Gartens mit wilden Obstbäumen zu einem bereits mit Felsen durchzogenen Abhang. Das Gelände begann immer steiler zu werden, der Boden wurde ganz felsig. Schließlich mündete der Weg in eine Felswand und führte als fußbreit eingeschnittener Klettersteig ohne Einbau irgendwelcher Sicherungen oder Drahtseile und ohne Standplätze durch die Wand. 187
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Es kamen Stellen, wo der Pfad nur fußbreit war und das Gestein von außerordentlicher Glätte glänzte. Als ich mich da drinnen befand, war es zu spät, um umzukehren. Bereits die Bewegung zur Richtungsänderung wäre gefährlich gewesen. Mir wurde klar, dass ich mit meinem Gleichgewicht nur mit äußerster Zurückhaltung und Vorsicht umgehen durfte. Jede ruckartige Reaktion hätte zum Abgleiten und zum Absturz in den Tod führen können. So entschloss ich mich auch, den hölzernen Wanderstock, den ich mir erst in der Früh vom Baum geschnitten hatte, in die Tiefe zu werfen, um bei jedem Schritt die Finger beider Hände frei zu haben. Ich wollte die Hände nach dem Suchen der Augen möglichst genau einsetzen, wenn auch für winzige Haltepunkte im kaum gegliederten Felsen der Wand. So bewegte ich mich, durch Anklammern für das Gleichgewicht sorgend, um einen nächsten tastenden Schritt in aller Vorsicht vorzubereiten. Es gab Abschnitte in diesem Felspfad, die gerade nur Raum für den Bereich der Ballen der Füße boten. Allerdings zweifelte ich nicht, dass ich diese schwierigen Stellen des Felspfades meistern würde. Ich hielt den Absturz mit Todesfolge für keine Alternative. Vielleicht retteten mich damals die Ablehnung jedes Möglichkeitsdenkens und die Lenkung aller meiner Aufmerksamkeit und meines Bedachtnehmens auf die Erfüllung des Durchkommens. Ich stand, mit dem ganzen Körper von der Brust bis zu den Schenkeln gegen die Wand gedrückt und völlig unter dem inneren Auftrag, ganz ruhig zu bleiben. So konnte ich mit dem Finger der linken Hand irgend eine Ritze oder einen auch nur winzigen Vorsprung ertasten, der mir die Verlagerung des Gleichgewichts von einer Körperhälfte auf die andere erlaubte. So ging es abwärts, weit länger als eine Stunde. Ich erlaubte mir keinen Blick in den Abgrund des Canyons, der Blick, so fürchtete ich, könnte mein Gleichgewicht durch eine geneigte Körperhaltung beeinträchtigen. Schließlich kamen einige ersehnte, etwas breitere Stellen des Felspfades. Nach ein wenig Rast dort zwang ich mich zur Fortsetzung. Es begann dann steiler bergab zu gehen, aber der Pfad wurde fußbreit. Das war eine mehr als willkommene Veränderung. Ich empfand sie als Lösung meiner Spannung. Merkwürdigerweise hatte ich nie daran gezweifelt, dass es gelingen würde, den Todessturz zu vermeiden. Ich wusste damals nicht, warum ich so sehr von Überlebenshoffnung getragen wurde. Ich kann es mir selbst heute noch nicht wirklich erklären, dass ich nicht das Gefühl bekam, zwischen Überlebenshoffnung und Todesangst hin und her zu pendeln. Das letzte Stück wechselte schon angesichts des in der Tiefe fließenden 188
Auf gewagtem Felssteig : Abstieg in den Grand Canyon in Arizona/USA
Stroms zwischen einem nun wesentlich breiteren Felspfad und einer sandigen Rinne, durch die ich schließlich sicher in den Talboden gelangte. Da gab es dann auch Menschen, die mich fragten, ob ich an einer Bootsfahrt teilnehmen wolle. Aber wie aus einer völlig anderen Welt gekommen, lehnte ich dankbar ab, erfuhr aber vom Kapitän, dass ich in etwa einer Stunde Gehzeit den Zustieg zum »Blue Angels Trail« erreichen könne, wenn ich mich immer knapp am Ufer des Flusses hielte. Da leerte ich meine Feldflasche, saß ein paar Minuten und machte mich dann bald auf, um den Zustieg zu erreichen und noch vor Einbruch der Dunkelheit den Durchstieg nach oben zu schaffen. Es war drückend heiß am Rand des Flusses unten im Canyon und ich war erleichtert, als ich den Talboden verlassen konnte und bereits nach einer Stunde Aufstieg über den Engelsweg Abkühlung auf einem Rastplatz fand. Dann aber setzte ich alles daran, den sanften Weg durch die Wiesen, wenn er auch steil war, so rasch wie möglich hinter mich zu bringen. In der beginnenden Dunkelheit langte ich bei der Herberge am Rand des Canyons an. Kaum hatte ich mich gewaschen, fiel ich ins Bett und in einen Schlaf ohne Traum. Vielleicht sollte man sich über die von anderen Menschen angekündigten Gefahren noch vor den eigenen Entscheidungen genauer ins Bild setzen. Man sollte Warnungen aber vor allem zur eigenen Sicherheit ernst nehmen. Das wäre weise. Die Wahl meines Abstiegs war nicht weise gewesen. Irgendwo unten beim Fluss hatte ich den hölzernen Stock gefunden, den ich aus der Wand geworfen hatte, um die Finger der zweiten Hand bei jedem Abstiegsschritt im Gestein einsetzen zu können. Er war mir beim Aufstieg über den Engelspfad nun durchaus hilfreich. Ich ließ ihn in der Herberge oben zurück. Wenn man das Glück hat, gewarnt zu werden, so wie es mir gegenüber hinsichtlich der Wahl des Abstiegs geschehen war, sollte man ohne Vorurteile sich mit diesen Warnungen auseinandersetzen. Warnungen zu prüfen, ist weise. Unbedachtes Handeln kann nicht weise sein. Das richtige Abschätzen von Gefahren und daraus abgeleitetes Handeln hingegen können weise genannt werden. Bedachtsamkeit ist durchaus eine Komponente von richtig verstandener Tapferkeit, die ihrerseits als Grundlagentugend von Aristoteles (384–322 v. Chr.) gleich nach der Tugend der Klugheit an zweiter Stelle in seiner »Nikomachischen Ethik« gereiht und damit von ihm besonders anerkannt wurde. Aber es muss Klugheit in der Tapferkeit mit enthalten bleiben. In der Antike gab es dafür einen eigenen Begriff : »Besonnenheit«. Um weise zu handeln, bedarf man ihrer. Sie, die Besonnenheit, sollte bei weisen Planungen und Handlungen einbezogen werden. 189
23 Das kochende Wasser des Kratersees auf dem Vulkan Kilimandscharo in Tansania/Ostafrika
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ege ins Unbekannte haben zwar ihre eigenen Risiken, aber lassen auf Erkenntnisse hoffen, die man sonst nicht so leicht gewinnen kann. Die Afrikaner nennen ihren höchsten Berg Ibo und sind selber sehr beeindruckt von ihm, auch wenn sie ihn nicht bestiegen haben. Man hatte mir bei Afrikabesuchen mit Forschungsaufgaben oft geraten, mich mit meinem damals noch sehr jungen Sohn nach Abschluss meiner mehrere Monate beanspruchenden Forschungen einer von erfahrenen Bergführern geleiteten Gruppe für den Aufstieg auf den Ibo anzuschließen. Das führte mich nach Arusha, wo wir die Bergführer und die Träger kennenlernten. Mit ihnen sollten wir den Aufstieg durchführen. Wir wurden zur Nächtigung in das Wohnhaus zweier britischer Damen aufgenommen, Elderly Ladies, die, beginnend noch in der Kolonialzeit, schon für Generationen von Bergsteigern Touren auf den Berg organisiert hatten. Wer dort nächtigte und die sorgfältigen Vorbereitungen zum Besteigen des Ibo treffen konnte, hatte den Berg schon zum Teil bestiegen. Der Aufstieg nach der Akklimatisation begann mit einer Art Waldweg durch zum Teil mannshohes Buschwerk. Dann führte der Weg nach einer Nacht in eine Schutzhütte über schier endlose Bergwiesen, mit zum Teil mir völlig unbekannten Pflanzen. Ein Bergführer suchte sie mir zu erklären. Dann spürte ich am dritten Tag Übelkeit als Reaktion auf die Auswirkungen der Höhe, die wir mit über viertausend Metern schon erreicht hatten. Diese Höhe war also etwas Beanspruchendes, das ich so noch nie erlebt hatte. Die drei Bergführer, die sich um uns fünf Menschen zu kümmern hatten, teilten die Gruppe so ein, dass ich als der gegenüber den anderen um etwa zehn Jahre ältere Bergsteiger ein wenig abgesetzt von der Gruppe, von einem Einzelnen betreut werden sollte, was dieser auch mit mahnenden und ermutigenden Worten immer wieder tat. Stickerei von Massai-Frauen, angefertigt aus winzigen Kunstperlen. Sie zeigt den höchsten Berg Afrikas, den Kilimandscharo oder Kibo (5892 Meter). Die Darstellung der MassaiFrauen erinnert mich an meine Besteigung des Kibo vor vierzig Jahren. Der Vater meines Bergführers hatte noch mit nackten Füssen die Europäer durch Schnee und Eis zum Kraterrand hinaufgeführt.
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Alle waren wir motiviert und bereit, es bis zum Kraterrand zu schaffen. Der Sammlungspunkt war der Gilman’s Point am Krater. 100 oder 150 Meter darunter lag eine Höhle, in der Erschöpfte am Weg auf den Berg immer wieder Zuflucht oder Nächtigungsmöglichkeit gefunden hatten, wenn die Kräfte sie verließen. Der Aufstieg wurde durch das Zurückrutschen beim steilen Weg in einer Höhe über viertausend Metern durch eine zum Teil schotterige Unterlage sehr anstrengend. Der Bergführer fragte mich, ob ich nicht doch die Höhle zum Endpunkt meines Aufstiegs erklären und in ihr nächtigen wolle. Auch dafür gebe es eine schriftliche Bestätigung, wenn ein Bergsteiger es schaffte, die Höhle zu erreichen. Ich wollte es aber doch versuchen, zum Kraterrand zu kommen, obwohl jeder Atemzug für mich zu einer eigenen körperlichen Leistung wurde. Die drei Kollegen und mein Sohn, den ich mitgenommen hatte, waren schon um vieles höher gestiegen. Ich rastete nach jedem dritten oder vierten Schritt, um mehr Sauerstoff aufzunehmen und für den Körper umsetzen zu können. Das ging mehrere Stunden so. Ich jubelte auch nicht, als ich schließlich in der Tat atemlos am Kraterrand anlangte. Ich war vor allem von der Überraschung überwältigt, dass sich da vor uns im weiten Krater ein See heißen Wassers auftat, aus dem Dunst und Dampf aufstiegen. Der Vulkan trug diesen See, der von der aus dem Erdinneren heraufgelangenden Hitze zu einem brodelnden Wasser umgewandelt wurde. Ich war zu einer Botschaft aus dem Erdinneren gelangt. Es erreichte mich also eine Art Urkraft. Vom Gilman’s Point aus gesehen, dem höchsten Punkt des Kraterrandes, wo wir über den heißen Kratersee unsere erstaunten Blicke schweifen ließen, wären bis zum höchsten Punkt der teilweise erhaltenen Felsumrahmung des Kraters noch etwa einhundert Meter Höhe zu bewältigen gewesen. Keiner aus der Gruppe fühlte sich herausgefordert, die Tour bis dorthin fortzusetzen. Einen eigentlichen Gipfel gab es ja bei diesem Vulkan Ibo nicht. Der von den Trägern in Kanistern mitgeführte Tee wurde getrunken. Und schon meldeten sich Stimmen aus der Gruppe, den Abstieg zu beginnen. Auch ich konnte der dunklen Wand der Felskruste zum höchsten Punkt des Ibo keinen Reiz abgewinnen. Ich hätte einen weiteren Anstieg ohne Sauerstoff aus einer Flasche vermutlich auch nicht bewältigt. Aber Sauerstoff gab es damals vor über vierzig Jahren auf dem Kilimandscharo nicht einmal für Notfälle. Im Rasthaus vor dem letzten Anstieg war für Erschöpfte oder gesundheitlich Bedrohte auch kein Sauerstoff hinterlegt. 192
Das kochende Wasser des Kratersees auf dem Vulkan Kilimandscharo in Tansania/Ostafrika
Mich lockte als Ruhepunkt jedoch das unbewirtschaftete Rasthaus der letzten Nacht, das man vom Kraterrand, wo wir uns befanden, in der Tiefe der nach unten führenden Schotterfelder erblicken konnte. Da er von meiner Erfahrung als Bergsteiger in den Alpen Kenntnis hatte, willigte mein Bergführer ein, mir die Wegfindung in dem völlig übersichtlichen Gelände durch die Schotterhalden zum Rasthaus zu überlassen. Er werde dicht hinter mir nachfolgen. Ich konnte es nicht erwarten, von der Höhe Abschied zu nehmen und stürzte mich geradezu in den schotterigen Abhang mit hier oder da kleinen, weichen Schneeflecken. Ich lief mehr als ich ging, immer abwärts. Die Luftgewinnung wurde immer besser, sodass ich stehen blieb, um mich durch tiefes Atmen gut zu versorgen. Und da war ich schon bei dem hölzernen Rasthaus angelangt. Ich wartete auf einer Bank auf meine Kollegen und den Sohn, denen offenbar die dünne Luft beim Aufstieg nicht so zugesetzt hatte wie mir. Von dort an ging es dann gemächlicher weiter. Der letzte bewirtschaftete Stützpunkt, ein Touristenzentrum, wurde ausgelassen. Wir langten beim Ausgangspunkt der Tour an. Die beiden Engländerinnen, die Träger und die Führer erhielten ihre Honorare. Mein Führer hatte sich durch seine persönliche Zuwendung bei meiner Krise vor der Höhle so verdient gemacht, dass ich ihn sehr schätzen gelernt hatte und daher auch nach seinen persönlichen Verhältnissen fragte. Er bot mir an, mich, wenn es meine Zeit erlauben sollte, am folgenden Tag zu seinen Eltern in einer etwa zweistündigen Wanderung zu begleiten, sie würden sich über einen solchen Besuch sehr freuen. Die Kollegen waren begeistert, einen Rasttag einschieben zu können und nahmen meinen Sohn nach Arusha mit, wo ich ihn treffen würde, um von dort aus die Heimreise nach Europa vorzubereiten. Die Eltern des Führers umarmten mich, als ich bei ihrer Hütte ankam und hießen mich sofort eintreten. Natürlich hatte ich kleine Geschenke für ihren Alltag mitgebracht, die sie gerne entgegennahmen. Es war ein unglaublich friedliches und freundschaftliches Geschehen, das sich da vor den Kulissen einer extremen Bergwelt, mit dem Mount Meru im Hintergrund, entfaltete. Die Eltern erzählten, was sie alles an Katastrophen durch extreme Witterung zu überstehen gehabt hatten. Einmal sei es sogar notwendig geworden, sich von ihrer Hütte aus, durch einen Höhlengang einen Tunnel aus dem Schnee auszugraben, um dann mit den letzten Ernährungsresten sich selber, drei Ziegen und zwei Hunde vor dem Verhungern zu retten. 193
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Das sei jetzt alles anders, und der Sohn, nunmehr Bergführer, sorge durch seine regelmäßigen Besuche, dass sie, die Eltern, nicht mehr so unerreichbar bleiben mussten wie früher. Alle lächelten zufrieden und der Vater meines Bergführers berichtete von seinen ersten, Jahrzehnte zurückliegenden Führungen für Europäer auf den Kilimandscharo. Es habe damals für ihn noch kein richtiges Schuhwerk gegeben, sondern nur Schlapfen, die sich aber auf dem Berg nicht hatten bewähren können. Er habe gut trainierte Füße von der Arbeit in der kleinen Wirtschaft gehabt, sodass er die ersten Führungen barfuß bis zum Kraterrand habe durchführen können. Auch über Eis und Schnee sei er stundenlang barfuß gegangen. Ich verließ nach weiteren Erzählungen und der Zurücklassung von Geld die wunderbaren Leute, die meinen Besuch als Ehrung empfunden hatten. Eine Ehre war es im Grunde ja für mich gewesen, diese Menschen kennenzulernen. Meine Erinnerungen an diesen Ausflug gehören zu den Spezialitäten, wie ein köstlicher Nachtisch zu der Tour auf den Berg. Irgendwo unter meinen Dokumenten liegt die Bestätigung meines Aufstiegs zum Kraterrand und dessen Erreichung. Und an einem schmalen Stück Wand hängt bei mir zu Hause eine von den Massai gearbeitete Stickerei, die den Kilimandscharo abbildet. Sie zeigt durch kleine Kügelchen mit Löchern und aufgenähte bunte Wollfäden die Konturen des Berges. Die Landschaft des Kilimandscharo wird so in Farben festgehalten. Sie beleben meine Erinnerung. Viele Schritte, um den Kraterrand zu erreichen, waren nötig, aber sie waren schließlich nicht vergeblich gewesen. Es ist beglückend, das eine oder andere, das nicht vergeblich gelebt wurde, in der Erinnerung mitzutragen. Menschsein hat doch auch etwas Überzeitliches, zumindest wenn man es von der Lebensweisheit her sieht. Erinnerungen gemahnen uns ja an unsere Teilhabe an der Überzeitlichkeit. Sie spannen unser Leben ein ganzes Stück weiter aus. Der Rückflug von Dar-es-Salaam war mit Swiss Air nach Zürich gebucht, die Muttersprache des Piloten war Italienisch, so konnte ich ihm, der die Dolomiten kannte, vom Berg Ibo geradezu ausufernd vorschwärmen und ihn beim Einsteigen bitten, den Kilimandscharo zu überfliegen. Es seien einige Leute unter den Passagieren, die ihn gerade bestiegen hätten und die ihn um diese Ehrenrunde in der Luft bitten wollten. Er sagte, er wolle es versuchen, wenn die Winde es erlaubten und die Sicht es sinnvoll erscheinen lasse. Und in der Tat : Er überflog den Berg. Dazu verringerte er die Flughöhe, zog einen Kreis und folgte dem großen runden Gip194
Das kochende Wasser des Kratersees auf dem Vulkan Kilimandscharo in Tansania/Ostafrika
fel, dem Kraterrand des Vulkans, sodass man fast jede Einzelheit sehen konnte, auch den Kratersee, an dessen Rand wir gerastet hatten. Es war ein merkwürdiges Gefühl, auf einen mit Mühen bestiegenen Berg hinunterzublicken, ein lebendiges Bild, das dem Piloten zu Recht einen kräftigen und lauten Beifall aller seiner Reisenden in der Kabine brachte. Für die Weisheit ist es ein Gewinn, dass man, wenn die Voraussetzungen dafür einigermaßen gesichert sind, alle Kräfte einsetzt, um ein Ziel zu erreichen, zum Beispiel den Ort, wo aus der Tiefe der Erde Botschaften aus der unterirdischen Glut als milchfarbener Nebel heraufströmen. Die Erde zu verstehen, das heißt doch wohl auch, einen Beitrag zum Verständnis des Menschen zu gewinnen. Weisheit über den Menschen wird auch durch die Kenntnis seiner Umwelt und der Natur in verschiedener Weise genährt. Der Krater eines Vulkans, wie jener des Kilimandscharo, zeigt uns, was alles auf der Erde möglich ist und regt uns auch zur Erkundung von Unbekanntem an. Weisheit umschließt Entdeckungsbereitschaft auch der wilden unterirdischen Kräfte und Bewegungen. Man soll also die Weisheit in ihrer Kraft nicht unterschätzen. Aber man soll auch sicher sein, dass erfahrbare Grunderlebnisse von Höhe und Tiefe, wie sie gerade auf Vulkanen möglich werden, als Erkenntnisse ins eigene Leben eindringen. Zuerst erleben, dann wissen, das war das Leitwort des großen Wilhelm Dilthey (1833–1911) um die Wende zum 20. Jahrhundert. Wenn man auch noch bereit ist, das erlebnisgewonnene oder erlebnisbedingte Wissen in den Gesamtzusammenhang der eigenen Erfahrungsfähigkeit einzubeziehen, so öffnet man eine Tür zur Weisheit.
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24 Freundschaft bei Verschiedenheit als wichtige Brücke zur Weisheit
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ch komme noch einmal zurück auf »mein« Dorf Sonongo in Mali/Westafrika : Tiefing Boaré hatte sich als Heiler und Berater weit über Sonongo und die Region des Stammes der Bambara hinaus auf der dem Buschwald zugekehrten linken Seite des Niger einen Namen gemacht. Tiefing war Ratgeber in Heiratssachen, aber auch in umstrittenen Generationenverhältnissen. Überall, wo es Streit gab, war Tiefing als eine Art Friedensbringer gegen geringen Lohn, aber mit hoher moralischer Anerkennung unterwegs. Aus mir im Grunde unerklärlichen Gründen hatte Tiefing, als ich vor rund vier Jahrzehnten in das Dorf Sonongo kam, bei mir die Rolle des Beraters und des überzeugten Sprechers für meine Forschungen in der abgeschlossenen Welt einer Stammesgesellschaft übernommen. Er verstand, dass ich nicht Geld verdienen, sondern Wissen erwerben wollte. Er ging auf meine Pläne ein. So war ich sehr betroffen, als das Leben meines Freundes Tiefing Boaré daran war, sich zu verändern. Tiefing hatte mich gebeten, ihn mit unserem Landrover in ein von Sonongo aus auf einem Fahrweg durch den Busch in ein benachbartes Dorf zu führen. Das geschah auch. Dort zeigte er mir eine jüngere Frau, die er, was nach der Rechtslage in Mali durchaus möglich war, als Zweitfrau ehelichen wolle. Ich war darüber nicht sehr beglückt, weil ich Tiefings in Sonongo lebende erste Frau sehr schätzte. Als Forschergruppe, die wir in Sonongo arbeiteten, erwies sie uns viel Gutes. Das erste Wasser, am frühesten Morgen noch bei Dunkelheit aus dem Brunnen geschöpft, brachte sie uns in sauberen Kübeln, wohlbedeckt in außerordentlicher Reinheit vor die Hütte, noch ehe der Morgen dämmerte. Doch ich verstand auch Tiefing, er wollte Kinder von einer jüngeren Frau. Nachdem die »Auserwählte« aus dem Nachbardorf, die er mir vom Landrover aus gezeigt hatte, auch mir »gefallen« hatte, wie Tiefing sich ausdrückte, Weil sie brüchig geworden war, wurde diese Kürbisschale sorgfältig genäht, um sie wieder für Mahlzeiten zu verwenden. Geleistet hat dies mein Freund und Erklärer afrikanischen Lebens, Seri Sakko, Initiationsmeister im Dorf Sonongo in Mali. Er schenkte mir die Schüssel, und ich bewahre sie als Zeugin einer langen Freundschaft sorgfältig auf.
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Kleine Geschichten und Skizzen aus dem gelebten Leben – mit und ohne Weisheit
habe er ihr einen Heiratsantrag gemacht. Er hatte ihr auch versprochen, das Scheidungsgeld zu entrichten, wodurch sie sich vom jetzigen Mann würde trennen können, um ihn zu heiraten. Wieder nach Europa zurückgekehrt, schickte ich Tiefing aus eigenen, nicht aus Forschungsmitteln, das nötige Scheidungsgeld. Er heiratete die Frau, verließ Sonongo und bezog mit ihr am Stadtrand der Hauptstadt Bamako einen großen Hof, in dem sich auch Ziegen und Hühner tummelten. Der große Hof war notwendig, weil es viele Menschen, alte und junge Ratsuchende gab. Die warteten oft stundenlang, um dem berühmten Heiler Tiefing ihre seelischen Probleme und Leiden vorzutragen ; sie wollten mit seiner Hilfe und durch seine Ratschläge zu befreienden Entscheidungen kommen. Wenn ich in Bamako zu Tiefing in seinen Hof kam, fand ich ihn fast immer ermüdet vor. Er bot mir dann an, mich in dem von ihm und seiner Frau bewohnten Raum auf seinem Bett auszustrecken, was ich gerne tat. Es kam dann zu einem von der tüchtigen neuen Frau freundlich und geschmackvoll vorbereiteten kleinen Abendessen. Während sie sich in der Küche zu schaffen machte, sprachen Tiefing und ich miteinander. Es fehle ihm aufgrund seiner Beratungstätigkeit nicht an Geld, und er könne auch seiner ersten Frau, die in Sonongo verblieben war, davon etwas schicken. Auch werde er liebevoll von der jüngeren, mit der er hier zusammenlebe, betreut. Es fehle nur gerade das, worauf er so gehofft hatte. Der ersehnte Nachwuchs stellte sich nicht ein. Das war wie eine Niederlage für ihn. Die junge Frau gebar ihm zu seiner großen Enttäuschung kein Kind. So kam auch die Freude nicht auf, die blieb ihm versagt. Ich suchte ihn zu trösten und ihm zu sagen, wie wertvoll die viele Hilfe sei, die er anderen Menschen gebe. Dieses Glück schenke er vielen. Er wollte das gar nicht hören. Er sah das als seine Pflicht bzw. Sendung an. Ich war traurig, weil ich sehen musste, dass das erwartete Glück des Nachwuchses mit der neuen Frau bei Tiefing nicht eingekehrt war. Als ich ihn einmal zum Freitagsgebet in die große Moschee von Bamako begleitete und neben ihm am Boden in der Gebetsstellung saß, sah ich, wie geradezu flehentlich er sich vornüberbeugte und mit der Stirn den Boden berührte. Er flehte Gott an, ihm ein Kind mit der zweiten Frau zu schenken. Ich musste aus beruflichen Gründen im Jahr darauf den Besuch in der Trockenzeit in Mali absagen und in Wien bleiben. Da erreichte mich die bittere Nachricht, dass Tiefing verstorben und in Bamako bestattet worden war. Leider konnte mir im folgenden Jahr niemand sein Grab zeigen. Ich musste mit dem Blick in einen sternenübersäten Himmel vorlieb nehmen. 198
Freundschaft bei Verschiedenheit als wichtige Brücke zur Weisheit
Tiefing war ein Mensch der Sehnsucht gewesen und bemüht um die Erfüllung der Wünsche anderer Menschen. Tiefing hatte als gütiger, besorgter Mensch lebenslang anderen Menschen durch Klugheit und verarbeitete Erfahrung gedient und geholfen. In der Trauer um ihn erinnerte ich mich an ein Gespräch. Dabei erzählte mir Tiefing, dass sein älterer Bruder N’Djé, Sippenoberhaupt nach dem Tod des Vaters, ein besonders schönes Mädchen aus dem nomadischen Stamm der Peulh als Drittfrau zu ehelichen suchte. Ihm fehlten hierfür die Mittel für das Brautgeld. Als älterer Bruder entschloss sich N’Djé, für fünf Jahre seinen jüngeren Bruder Tiefing, wie es damals noch hieß, »in die Sklaverei« zu den Peulh zu geben. Das bedeutete, dass Tiefing schwere Transporte durchführen musste und dort die schmutzigsten Arbeiten bei der Tierpflege des Hirtenvolks der Peulh zu leisten hatte. Tiefing fügte sich und ging »in die Sklaverei«. Der Bruder heiratete mit großem Pomp die Peulh–Schönheit in einer festlichen, die Ethnien übergreifenden Hochzeit. Es war eine Sensation in der ganzen Region. Tiefing hatte durch seinen Gang in die »Sklaverei« die Voraussetzungen dafür geschaffen. Er hatte dem Bruder Glück und der ganzen Sippe Ehre gebracht. Der nach dem Tod meines Freundes Tiefing im Dorf Sonongo fast taub fortlebende ältere Bruder N’Djé griff in erstaunlicher Weise die von seinem verstorbenen Bruder Tiefing dort eingeführte Freundschaft mit mir auf. Er machte sich nun zum Vollstrecker der sozialen und kulturellen Austauschprozesse, welche der nunmehr verstorbene jüngere Bruder Tiefing mit uns Europäern begonnen und entwickelte hatte. Es kam zu einer Vermittlung durch einen mir besonders vertrauten Mann im Bambara-Dorf Sonongo, der in seiner Jugend noch Sklave gewesen war, nun aber die Arbeiten eines sogenannten Freigelassenen im Dorf leistete. Er war als Ausrufer, aber auch als Erzähler, jedenfalls als Wissender von intimen, erlaubten oder unerlaubten Beziehungen tätig, ohne zum Verräter zu werden. Durch die Vermittlung dieses Mannes legte ich N’Djé nahe, das zu pflanzen, was in Sonongo, im Unterschied zu fast allen Dörfern der Nachbarschaft, fehlte : Bäume als Schattenspender zwischen den Hütten. In den besonders heißen Wochen der Trockenzeit, wenn die Sonne auf die Dächer und auf die Wege im Dorf brannte und die wenigen Pflanzen in kleinen Gärtchen zu vertrocknen drohten, hatte man nach Sonnenuntergang kaum mehr die Kraft, zum Brunnen zu gehen, um einen Eimer hinunterzulassen und gefüllt mit ein wenig durch den Sand braungefärbten Wassers heraufzuziehen. 199
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Ich kündigte N’Djé an, dass ich aus einer Baumschule in Bamako, die durch ihren schnellen Wuchs und die rasche Entfaltung von Kronen geschätzten Nim-Bäume zur Anpflanzung nach Sonongo ins Dorf bringen würde. Man müsse allerdings bereit sein, die Bäume unmittelbar nach ihrer Ankunft in die schon vorbereiteten Pflanzungsgruben mit gelockerter Erde und vorbereiteten Kübeln von Wasser einzusetzen. Von mehreren Helfern unterstützt, gelang es mir, aus dem von einem Syrer, einem kenntnisreichen Fachmann, geleiteten Garten vierzig kleine Bäume auszugraben und mit ihren Wurzelstöcken und den anhaftenden Erdklumpen in Säcken so transportfähig zu machen, dass sie durch den stundenlangen Transport nach Sonongo nicht bereits ausgetrocknet und dadurch auch nicht mehr bepflanzungsfähig wären. Erst als wir die Bäume im Pflanzungsgarten ausgegraben und alles geladen hatten, erzählte man uns, dass die ganze Anlage von Puffottern durchseucht sei, deren Bisse tödlich wären. Wir wurden mit der Arbeit trotz der enormen Hitze fertig und fuhren nach Sonongo ab. Jedenfalls hatten wir nur die Bäume und glücklicherweise keine in ihnen versteckten Puffottern ins Dorf gebracht. Trotz hereinbrechender Nacht konnten drei Viertel der Bäume bei künstlicher Beleuchtung durch kleine Feuerchen noch im Dorf eingesetzt werden. Ein Viertel war trotz aller Vorsichtsmaßnahmen beim Transport vertrocknet. Die Einpflanzung wurde als Fest im Dorf gefeiert. Schon bei Tagesanbruch waren vor allem die Jungen des Dorfes in Scharen unterwegs, um die noch zu Beginn der Nacht gepflanzten Bäume wieder reichlich mit Wasser zu versorgen. Für die Stellen, an denen die Bäume eingesetzt wurden, war, nach ausführlichen Beratungen der Sippen untereinander, ein Übereinkommen erzielt worden. N’Djé hatte darauf bestanden, dass vor meiner Hütte, in der ich mehrere Wochen des Jahres wohnte, als Anerkennung für meine Aktion ein besonders schöner Setzling seinen Platz finden sollte. Ich hoffe, dass der Baum auch heute noch dort steht, obwohl meine seinerzeitige Hütte bestimmt längst schon eine andere Verwendung gefunden hat. Das Dorf veränderte sich, wie ich bei meinem letzten Besuch vor nunmehr etwa 15 Jahren feststellen konnte, durch den raschen und kräftigen Wuchs der Bäume. Man wurde in der heißesten Zeit nicht so allgemein in den Schatten des Inneren der Hütten zurückgedrängt. Zumindest die Kinder konnten im Schatten der Bäume draußen spielen. Ich konnte nach der Anpflanzung der Nim-Bäume mich leichter vom vertrauten Dorf Sonongo lösen. Das Begräbnis eines Menschen, um dessen Ret200
Freundschaft bei Verschiedenheit als wichtige Brücke zur Weisheit
tung aus seiner Krankheit ich mich vergeblich lange bemüht hatte, mit all dem traditionellen Trauergeschrei der Frauen am Dorfplatz, trug dazu bei, dass ich innerlich Abschied nehmen konnte. Ich hatte ja zu Menschen mit anderer lebensgeschichtlicher Entwicklung und zumindest anders angeordneten und ausgedrückten Werten über Jahre hindurch sehr freundschaftliche Gefühle auf bauen können. Ich wurde bei aller kultureller Fremdheit ihr »Nächster«. Ich trauere heute noch über die verstorbenen afrikanischen Freunde, die in oft schwieriger Überbrückung der Fremdsprachlichkeit, sich mir mitgeteilt hatten, durch Gesten und Umarmungen und mühsame Übersetzungen. Ich empfinde mich in dieser Trauer als Überlebender. Die Erlebnisse der Umarmung am Flughafen bei der Ankunft und beim Abschied sind für mich zu Momenten einer einzigartigen und nie aufhebbaren Freundschaft geworden. Tief prägten sich mir die wunderbaren stehengebliebenen frühmittelalterlichen Architekturformen der Universitätsstadt Timbuktu ein, gegründet um etwa 1000 n. Chr., also viele Jahrhunderte vor der Gründung der Universität Wien. Bewundernswert waren die farbig ausgearbeiteten frühen Manuskripte aus den noch erhaltenen Beständen des Museums der alten Universitätsstadt bei meinem Besuch vor dreißig Jahren. Ich fühlte mich wie ein Schüler, der einen historisch-kulturellen Schatz während zweier Tage anschauen durfte. Und heute ? Wird dieses Zentrum früher Wissenschaft trotz Gewalt und Terror weiterbestehen können ? Flankierend zu diesen Entdeckungen und nicht weniger wertvoll erlebte ich eine Einladung meines islamischen Chauffeurs zu seiner Familie nach Hause. Er wohnte in einem Vorort von Bamako, in den gerade eine Straße eingebaut wurde, um den Einzugsverkehr in die große Stadt zu begünstigen. Die Planung der Behörde war grausam. Sie hatte ihm die Hälfte des Hauses weggerissen, um Platz für die Straße zu schaffen. Er musste mit Holz und Pappdeckeln eine eigene Wand schaffen, um Staub und Sand möglichst von seinem Wohnbereich fernzuhalten. Es gab im islamischen Haushalt bei meinem Besuch natürlich keinen Alkohol, aber köstliche selbstgemachte Süßigkeiten. Ich habe diese Freundschaft als Brüderlichkeit genossen, die mir unvergessen bleibt. Solche Zuwendungen erweitern die Seele. Sie machen sie aufnahmefähig für Weisheit. Zuwendungen überspringen Fremdheit. Sie begründen Vertrauen. Da waren die drei Söhne des Gastgebers, die alle drei in Autoreparaturwerkstätten im Bamako tätig waren, und eine wohlverhüllte Gastgeberin, flink und aufs Freudemachen bedacht. 201
Kleine Geschichten und Skizzen aus dem gelebten Leben – mit und ohne Weisheit
So war ja auch er, der Fahrer, der einen hochbeladenen Landrover über Dünen hinauf und hinunter zu steuern vermochte. Wenn bei meiner Ankunft vom Flug aus Europa mein Gepäck übers Fließband hereinrollte, stürzte er sich darauf und schleppte es, ohne dass irgendein Zöllner eine Chance gehabt hätte, es zu sehen, sofort zum Landrover, mit dem er mich dann ins Hotel »De l’amitié« brachte. Nach seiner Arbeit fuhr er, nachdem er den Landrover in der Garage abgestellt hatte, mit seinem Motorroller oft in einer Kolonne von Fahrzeugen nach Hause. Ich war ganz und gar erschüttert, als ich erfahren musste, dass er von einem Lastwagen niedergestoßen und schwer verletzt worden war. Nach drei Wochen kam die Todesnachricht. Im Grunde verlor ich damals schon den Antrieb, wieder nach Afrika zu fahren. Ich sehe das Gesicht des Mannes vor mir. Er hatte aus der Grundhaltung seiner Bereitschaft, immer zu helfen, etwas Strahlendes. Ihm konnte man das Allahu akbar wirklich glauben. Er ist jetzt entrückt, kann aber nie verloren sein. Ich sehe ihn vor mir, wie er auf der Hauptstraße von Bamako nach Ségou seine Fahrt mit unserem Landrover unterbrach und am Straßenrand im Schatten eines Baumes zeitgerecht eines seiner Tagesgebete sprach, in Richtung Mekka gewendet. Das war Geborgenheit im Zusammenleben, auch für mich. Ich brauchte nach keiner Weisheit zu suchen, sie wurde wie ein Gebetsteppich für mich ausgebreitet. Vertrauen ist alles – jedenfalls kann es ohne Vertrauen keine Weisheit geben. Aus der Kraft und Stille des Vertrauens wächst der Mut zur Weisheit. Sie stärkt dann ihrerseits das Vertrauen. Die Gebete des Freundes am Straßenrand stärkten in mir eine vertrauensvolle Weisheit. Ich hatte sie in Afrika erfahren dürfen.
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25 Das Karenmädchen in Thailand zeigt Weisheit im Umgang mit ihren Elefanten
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ch hatte eine Einladung zu einem Vortrag an die hoch im Norden von Thailand gelegene Universität von Cheng Mai erhalten und beschloss, ihr zu folgen. Mein Interesse an Buddhas Lehre war stark, tief aber auch die Wirkung, welche buddhistische Skulpturen in verschiedenen Regionen und Ländern Ostasiens auf mich ausübten. So freute ich mich auf diese Reise. Als ich, vor nunmehr 35 Jahren, von Bangkok nach Norden fliegend, schließlich Cheng Mai erreichte, hatte ich das Gefühl, in eine für mich wirklich fremde Welt gelangt zu sein. Ich verwendete meinen Vorbereitungstag für den Vortrag an der Universität dazu, durch die damals noch von vielen Gärten durchzogene und an vielen kleinen Plätzen durch buddhistische Tempelchen reich ausgezeichnete Stadt Cheng Mai zu streunen. Dabei wurde ich stundenweise von einem jungen Dozenten des Soziologie-Instituts der Universität begleitet. In ausgezeichnetem Englisch erklärte er mir einiges über Cheng Mai, wodurch ich auch über die Vielfalt der Völker und Ethnien im Norden Thailands einiges erfuhr. Unter den von ihm geschilderten Volksgruppen befanden sich auch die Karen, ein Volk, das aus dem kargen Vorgebirge des Himalaja und dessen Wildnis, ab dem 17. Jahrhundert zu den eher ertragreichen Böden des nördlichen Burma (Myanmar) und Thailand gezogen war. Die Karen bildeten hier einen streng organisierten eigenen Volksverband mit differenzierter eigener Kultur und Sprache. Sie ernährten sich von Landund Forstwirtschaft, durch Pflege und Verkauf der kostbaren, in ihrem Gebiet gedeihenden Edelhölzer. Der junge Assistent vom Institut für Soziologie in Cheng Mai überraschte mich damit, dass er seine Rolle so verstand, die verschiedenen Kulturen und
Figur aus einem ostasiatischen buddhistischen Tempel : Sie hat eine magische Ausstrahlung, so wie jenes Mädchen aus dem Volk der Karen, das ich kennenlernen konnte. Sie identifizierte sich mit ihrer Elefantenherde, die mit ihren Rüsseln die Edelholzstämme durch den Urwald schleppten. Die mächtigen Tiere liebten sie und blieben ihr treu.
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Kleine Geschichten und Skizzen aus dem gelebten Leben – mit und ohne Weisheit
Völkerschaften im Norden Thailands und zum Teil auch deren Sprachen kennenzulernen. Davon wollte er auch mir einiges vermitteln. Das war ein Glücksfall für mich. Ich bat ihn schon in den ersten Stunden unserer Bekanntschaft und der gemeinsamen Erkundung der faszinierenden Stadt Cheng Mai, mich zu einer von mir zu finanzierenden Reise und Begegnung mit dem Volk der Karen ins Bergland zu begleiten, was er mir sofort zusagte. Mein Vortrag fand Anklang, auch die Honoratioren der Universität waren zufrieden. Aber niemand interessierte sich für die tibetischen oder chinesischen Gruppen vor ihrer Haustür, die Mon, Lahu oder Yao oder gar die Karen, die in den Wäldern und Flusstälern der Region lebten, die um ihre Unabhängigkeit in Thailand bemüht waren und dies auch zum Ausdruck brachten. Die Karen schienen aus verschiedenen Gründen, so auch wegen ihrer Wehrhaftigkeit, bei den Thai nicht sehr beliebt zu sein. Sie lebten tief im Wald, was ich ja bald selber erfahren sollte. So reiste ich zwei Tage später auf einer schmalen Bezirksstraße, auf der große Lastwagen mit Baumstämmen von Edelholz beladen Richtung Cheng Mai zu den großen Lagerplätzen fuhren. Das machte es uns schwierig, mit dem kleinen PKW an den Riesentonnagen vorbeizukommen. Mein Begleiter und Führer wollte zu einer ihm von einem früheren Besuch bekannten Karensiedlung gelangen und mich dort einführen. Am Holzumladeplatz, der an einer flachen Stelle des Waldes breiträumig angelegt war, ließen wir das kleine Auto zurück und begannen den Fußmarsch auf einem Karrenweg zu dem von meinem Begleiter ausgewählten Dorf der Karen. Er sei schon lange nicht mehr dort gewesen, erklärte mir mein Begleiter. Das Dorf sei ganz in den Händen von ein paar Sippenältesten. Ich war gespannt. Nur eine junge unverheiratete Frau sei eine Ausnahme. Sie werde das Elefantenmädchen genannt. Denn sie sei es, die ihre Elefanten dazu bewegen könne, forstliche Arbeiten zu leisten. Die Elefanten siedelten in einem tiefen Waldgraben. Sie brachten die von den Holzfällern von Ästen befreiten wertvollen Teakholzbaumstämme aus dem Wald zum großen Parkplatz. Das war jener Ort, wo wir unser Auto stehengelassen hatten. Dort wurden die Stämme mit Hilfe von einem Kran auf schwere Lastwagen verladen und weggeführt. Die Elefanten kehrten dann nach ihrer Arbeit in Gruppen wieder in ihren tief eingeschnittenen Graben als ihrem Aufenthaltsort zurück. Vorsichtig wurde ich auf dem Weg ins Dorf zum Rand dieses Elefantengrabens geleitet und konnte beobachten, wie die riesigen Tiere mit ihren mächti206
Das Karenmädchen in Thailand zeigt Weisheit im Umgang mit ihren Elefanten
gen grauen Rücken sich unten aneinander verbeischoben. Auf der uns entgegengesetzten Seite des Grabens stiegen einige der kleineren und offensichtlich jüngeren Elefanten im Buschwerk herum. Sie schienen hungrig zu sein, da sie Äste des Baumbewuchses abbrachen und die saftigen Blätter von den Zweigen lösten und sich einverleibten. Im Dorf der Karen angelangt, gab es die Begrüßungsriten durch die Sippenältesten. Dann folgte die Zuweisung eines Nachtquartiers für mich für die Tage meines Aufenthalts in einer kleinen Wohnhütte, die wie die anderen Bauten auf Pfählen errichtet war. Es kam zu vielen Gesprächen über die strenge Rang- und Lebensordnung im Dorf. Man sprach auch darüber, wie die Karen sich gegen andere Völker und auch gegen die Thai durchsetzen konnten, die ihre wirtschaftlich wichtigsten, ethnisch aber fremden Partner waren. Die Karen, das kleine Volk, mussten sich bei allen Handelsgeschäften mit den wertvollen Baumstämmen aus ihren Wäldern mit Mühe gegenüber den Thai behaupten. Dann schlug mir mein junger Kollege aus Cheng Mai vor, mit ihm gegen eine sehr moderate Aufwandsentschädigung zu einer Art Fest- und Verkaufs tag zu reisen, wo sich Vertreter der verschiedenen Völker an der Grenze zu China mit Lebensmitteln, Bekleidungsstücken und Musikinstrumenten zu deren Verkauf einfinden würden. Ich konnte dort in breiten Streifen bestickte und durch ihre strahlenden Farben und Blütenformen bestechend leuchtende Webwaren finden, die heute noch mein kleines Schlafzimmer schmücken. Mein Thai-Kollege und ich fuhren dann bis zur chinesischen Grenze und besuchten ein Opiumdorf. Dort erschreckten mich die Menschen unter dem Einfluss der Drogen. Sie befanden sich in den für den Opiumrausch jeweils auf mehrere Tage zu mietenden Schlafzimmern, halb sitzend, halb liegend. Besonders die mit sehr ausgeprägten Gesichtszügen, aber auch durch tiefe Falten im Gesicht gekennzeichneten alten Frauen, die dort vor sich hindösten, führten mir erstmals von Opium abhängige Menschen deutlich vor Augen. Dann zogen mein neuer Freund und gleichzeitig Reiseleiter und ich bis unmittelbar an die chinesische Grenze, wo es regen Warenaustausch und keine Bewachung, weder auf der einen noch auf der anderen Seite gab. Da sich bei diesen Reisen auch mehr und mehr zeigte, dass ich darüber einen Bericht mit konkreten Details verfassen würde, kam ich auf den Gedanken, nochmals in die Karensiedlung zurückzukehren, die ich schon ein wenig kennengelernt hatte. Ich konnte auch den jungen Kollegen von diesem Besuch überzeugen. Er hatte ja die großartige Kompetenz, die von der Thaisprache völlig unabhän207
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gige, aus dem Himalajahochland stammende Karensprache erstaunlich gut zu beherrschen. Und zwei Tage später, nach einem Zwischenaufenthalt in Cheng Mai stapften wir auf dem Fahrweg neben der Elefantenschlucht wieder in Richtung Dorf zu. Unerwarteterweise trafen wir dort auf einen Aufruhr, der alle Bewohner erfasst zu haben schien. Was war geschehen ? Das Elefantenmädchen war unter Hinterlassung einer Botschaft aus dem Dorf verschwunden. Sie würde versuchen, für einige Zeit zu dem Thai-Lastwagenfahrer zu ziehen, der die großen Stämme vom Lagerplatz in benachbarte kleine Städte brachte. Er hatte sich sehr für das Mädchen interessiert und unter den Thai-Frauen keine gefunden, die er so lieben könne wie das Elefantenmädchen aus dem Stamm der Karen. Er könne ihr leider nur die Rolle einer Zweitfrau anbieten, da er in der Stadt schon mit einer Thai verheiratet war. Der Versuch einer solchen Lösung scheiterte allerdings schon nach wenigen Tagen, da die Thai-Frau alles tat, um das Karenmädchen so schnell wie möglich aus dem gemeinsamen Haus, in das es auf Wunsch des Mannes eingezogen war, wieder zu vertreiben. Es habe Schläge gegeben und Beschimpfungen, sodass das Elefantenmädchen ihren Sack geschnürt und ins Dorf und in ihre Hütte zurückgekehrt sei. Dort gingen zwei alte Männer des Dorfes, die das Mädchen als Verräterin beschuldigten, ihrerseits mit Schlägen und Faustschlägen ins Gesicht auf sie los. Natürlich hatte sie zwischendurch ihre Elefanten immer wieder besucht und nach dem Rechten geschaut. Aber die Sippenältesten im Dorf wollten das nicht hören. Schon zwei Tage nach ihrer Flucht zu dem Mann, in den sie sich verliebt hatte, seien zwei der großen Tiere aus dem Graben heraufgestapft und hätten sich demonstrativ quer über den Karrenweg gestellt. Die Tiere wollten zeigen, dass sie unzufrieden waren. Als die Herrin zurückkam und die Elefanten sie am Weg sehen konnten und von ihr bei ihren Namen gerufen wurden, seien sie unverzüglich wieder in den Graben zurückgestiegen. Im Dorf sah ich selber das Mädchen mit ihrem von den erlittenen Schlägen und den eigenen Tränen geröteten und verschwollenen Gesicht. Ich konnte ihr Trost spenden und meine Bewunderung ausdrücken. Ich gab ihr einen guten Teil des Geldes, das ich für die Reise noch zurückgelegt hatte. Was hätte ich sonst noch tun sollen ? Die Kollegen in Cheng Mai wollten mit Problemen der Karen nichts zu tun haben. Aber der junge Soziologe war traurig, dass sich in seinem Land solche Spannungen aufgebaut hatten. 208
Das Karenmädchen in Thailand zeigt Weisheit im Umgang mit ihren Elefanten
Es kam zu einem Briefwechsel zwischen mir und dem jungen Thai-Soziologen. Das Elefantenmädchen hatte sich gefasst, und der Verkauf der kostbaren Stämme ging weiter, wenn auch der junge Mann, in den sie sich verliebt hatte und zu dem sie gezogen war, nicht mehr auftauchte. Ich musste abreisen. Mein Weg zum Flughafen gestaltete sich außerordentlich bunt. Ich nächtigte in einem Opiumdorf mit vielen Süchtigen um mich herum, nahm aber selber keine Drogen. Dann wanderte ich zu Fuß, nachdem ich für mein Gepäck einen kleinen Handkarren gefunden hatte, in einer Reisegruppe von Einheimischen zur Stadt. Ich war erstaunt, zwei Herden zu finden, aber nicht von Schafen, sondern von Hunden an langen Leinen. Ich musste erfahren, dass die Hunde bereits als Delikatessen für den Genuss in der Stadt aufgezogen worden waren, was mich betrübte, aber an der Situation natürlich nichts änderte. Im Flugzeug nach Bangkok saß ich zwischen zwei ganz einfach gekleideten jungen europäischen Männern. Sie erzählten mir, dass sie in der Region von einer kleinen Reisefirma herumgeführt worden seien. Zum Abschluss habe man sie eingeladen, doch wenigstens einmal im Leben Opium zu versuchen. Sie hätten beide eingewilligt, seien aber aller Habseligkeiten, auch der Pässe beraubt, aufgewacht. So hätten sie sich dann den Hundeherden angeschlossen, um in die Stadt und damit zum Flugplatz zu kommen. Als Stewards der Lufthansa, die sie waren, konnten sie sich auch ohne Ausweise die Tickets für den Flug nach Bangkok und weiter nach Berlin verschaffen, erklärten aber, dass sie keine Sehnsucht hätten, in die Region jemals wieder zurückzukehren. Einmal Opium habe ihnen als Erfahrung voll gereicht. Sie wussten nun, was es bedeute, sein Bewusstsein völlig zurückzulassen. Sie sahen auch danach aus. Ich konnte sie daher verstehen. Ich hatte diese Erfahrung selber nicht machen wollen, nach allem, was in meinem Leben durch Krieg und Gefangenschaft geschehen war. Mit dem jungen Soziologen von Cheng Mai kam es gelegentlich zu einem Briefwechsel, der aber schließlich mehrere Jahre ausblieb. Ich schickte ihm dann etwa drei bis vier Jahre nach unserer Rundfahrt im nördlichen Thailand und dem Besuch bei den Karen einen von mir verfassten größeren Aufsatz in englischer Sprache. Darauf kam bald als Gegengabe eine Publikation von ihm und ein längerer Brief, der mir von den Karen berichtete. Er habe vor einiger Zeit aus dem Dorf, das wir gemeinsam besucht hatten, eine erfreuliche Geschichte erfahren. Das Mädchen, das mit dem Thai-Lastwagenfahrer so schlechte Erfahrungen 209
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gemacht hatte, habe vor Jahren schon einen sehr tüchtigen, auf das Abholzen und die Bearbeitung von Teakholz spezialisierten Karenmann geheiratet und sei bald Mutter geworden. Ihre Arbeit mit den Elefanten habe sie fortgeführt, dabei sei aber fast ein Unglück passiert. Es sei immer wieder geschehen, dass Säcke mit Werkzeug oder prall gefüllt mit Bekleidungsstücken vom Wegrand in den Elefantengraben gestürzt bzw. hinabgerollt seien. Auf Pfiffe hin hätten die Elefanten aber immer wieder solche Stücke, die hinabgerollt waren, unverzüglich heraufgebracht. Gefährlich aber wurde es, als die junge Frau Lasten von einem Esel auf einen anderen verladen habe, weil sie dabei von ihrer sonstigen Aufmerksamkeit auf ihr drei- bis vierjähriges Kind abgelenkt worden sei. So sei der Bub in einem unbewachten Augenblick vom Weg abgekommen und in die Elefantenschlucht hinabgerollt. Die Mutter habe verzweifelt gepfiffen und siehe da, kurz darauf sei schon eines von den alten Elefantenweibchen die steile Schlucht heraufgestapft, den Rüssel sorgfältig um den Buben gewickelt. Dessen Gesicht sei zwar vom Buschwerk etwas zerkratzt gewesen, er selber aber sei Dank des reichlichen Gebüschs unverletzt geblieben. Dann sei der Bub, vom Elefanten am Weg abgestellt, sofort auf seine Mutter zugelaufen und habe sie umarmt. Der Thai-Kollege schrieb mir, dass daraufhin ein Freudenfest im Karendorf gefeiert worden sei, zu dem man auch ihn eingeladen habe. Da habe er gedacht, dass er mir diese Geschichte unbedingt würde mitteilen müssen. Manchmal gebe es eben Vorkommnisse, die wohl ebenso wichtig seien wie Forschungsergebnisse, schrieb er mir. Ich musste ihm Recht geben. Es ist gewiss Weisheit, Freundschaft mit den Tieren zu suchen, wie es dem Elefantenmädchen zweifellos gelungen war. Dass Tiere Zuwendung und Sorge um sie verstehen, ist ein Zeichen dafür, dass Weisheit über das menschliche Dasein hinauszureichen vermag, im Sinne einer kosmischen Brüderlichkeit, auch mit Elefanten.
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Wie Krallen der Vernichtung stellte Hokusai (1760–1849) die hohe Meereswoge dar. Ihr trotzen die Menschen in ihren schmalen Booten, die konstruktiven Sinnes zusammenarbeiten gegen die Gefahr. Dank an den Geist der weisen Gemeinsamkeit auch außerhalb des Meeres und Dank an die, die dieses Buch mit mir in den sicheren Hafen ruderten.
Schlussakkord
A
ls ich mit der Absicht, meine persönlichen Erlebnisse und die Ergebnisse meiner Untersuchungen zum Thema Weisheit im Rahmen eines Buches niederzuschreiben, an Dr. Elfi Thiemer mit der Bitte herantrat, mich durch Ideen, Kritik, Anregungen und Kontrolle dabei zu unterstützen, zeigte sie sofort die Bereitschaft, mir bei einer solchen Vorgangsweise zur Seite zu stehen. Elfi hat Einfluss gewonnen auf meine Arbeit und die Formulierungen meiner Gedanken, aus ihrer eigenen Denkwelt als Mensch heraus, als Politikwissenschaftlerin mit philosophischem Hintergrund und als analysierende Publizistin. Sie ist »Handwerkerin« und »Kopfwerkerin« zugleich, bietet also immer viele wertvolle Vorschläge, ist nie einseitig, sondern immer klärend, interpretierend schöpferisch, ermutigend, integrierend. So bestand ihre Arbeit zunächst darin, dass sie den alten Satz des Politikers und Philosophen aus Athen, nämlich Solons (640–560), mir in Erinnerung rief : »Klug ist, wer zuvor alles bedenkt, was er tut.« So half sie mir, meine Konstruktionsabsichten zur Bestimmung von Weisheit »zu bedenken« und zusammenzutragen, ehe wir daran gingen, sie gemeinsam aufzubauen. Mir wurde schnell klar, dass man es bei der Suche nach Weisheit nicht bei dem Vergleich oder der Gegenüberstellung von wegweisenden Kernsätzen oder Traktaten belassen darf. Arbeit an so heiklen Fragen wie jenen der Vielgestaltigkeit von Weisheit erfordert auch die Öffnung eigener Erfahrungen und deren Heraufholung aus der Erinnerung und aus dem Bewusstsein. Ich erkannte so deutlich wie nie zuvor das eigene Gewordensein und Geworfenwordensein in neun bewegten Lebensjahrzehnten. Alles Entstehen trägt Weisheitsmomente über die Ursprünge des eigenen Lebens und das Gewordensein in sich. Elfi unterstützte mich dabei, »das verborgene Maß der weisen Erkenntnis« in mir selbst zu entdecken und dieser Einsicht gemäß meine Gedanken zu ordnen und zu formulieren. Unser Buch wurde so zu einem aus gemeinsamem Geist und Nachdenken gestalteten Werk von uns beiden. Das möchte ich zum Schluss hier aussprechen, mit einem Gefühl, das Dankbarkeit übersteigt. 213
Schlussakkord
Einen anderen Menschen zu innerer Umwandlung zu befähigen, gehört zu den seltenen, hoch anzusehenden Leistungen einer Freundschaft. Es liegt auch Mut und Weisheit in diesen Prozessen der Anteilnahme an einem schreibenden Partner, Mitgefühl aus der Tiefe der eigenen Schöpferkraft und eines abwägenden Verständnisses. Jetzt haben wir, Elfi Thiemer und ich, zusammengetragen, was wir durch die Abenteuer des Reisens und Schreibens, Forschens und des gemeinsamen Nachdenkens erfahren und hier vorlegen konnten. Es war für uns ein Gang ins Vielschichtige und Ungewisse der Weisheit, was wir aus Entdeckerfreude für das Buch zu gewinnen versuchten. Wir mussten etwas von der Weisheit selber einnehmen : Geduld, Gelassenheit, Genauigkeit bei der Suche nach geeigneten Texten und auch nach persönlichen Erinnerungen. Wir wollten das Buch wie eine Sammlung kostbarer Teppiche vorlegen, kleine und große. Die Weisheit zog immer ihre Spur durch mystische Lebensdeutungen. Wir haben gelernt, vom Blick in die eiszeitlichen Höhlenmalereien, auf die Venus-Figuren des Altpaleolithikums, z.B. durch die Funde in der österreichischen Wachau, auf Lebensdeutungen zu stoßen und sie symbolisch verkörpert zu finden in Mammutelfenbein oder Kalkstein. Schließlich stießen wir auch auf die jahrhundertealten steinernen Ratgeber, Figuren, ausgegraben aus dem Sand des alten Afrika. Wir sahen die Verflochtenheit der Weisheit mit den großen Weltreligionen und waren von den Lebensdeutungen der europäischen Antike ebenso fasziniert wie von der Lehre geistiger Wiedergeburt in der Glaubensverkündigung der Evangelien des Christentums. Unser gemeinsamer Weg führte uns zu der intensiven Lektüre der indischen Upanishaden, in die Klöster des japanischen Zen-Buddhismus, zum Tao-teKing des Lao-tse, zur chinesischen Philosophie und ihrer Anwendung, zum Schamanismus der »alten Weisen« sowie schließlich zur Mystik der Sufis. Als Menschen des 21. Jahrhunderts war uns die Weisheitsfindung aus dem Geist der inneren Erneuerung wichtig, die sich mit der Forderung, »ein Beginner zu werden« (Rilke), kennzeichnen lässt. Eine besondere Aufgabe sehen wir nun künftig darin, herauszufinden, welche Bündnisse die psychosoziale Welt mit der zunehmenden Technisierung und Computerisierung heute für die Erfüllung von Weisheitsbedürfnissen zu schließen vermag. 214
Schlussakkord
Der Weise gibt nicht auf, denn die Weisheit als »unruhiger«, also entwicklungswilliger Geist verlangt Orientierung auf die Zukunft, so unsicher sie im 21. Jahrhundert auch sein mag. Sie verlangt nach übergreifenden Lösungen, Einigungen und den Mut, an mehr zu denken als nur an das unmittelbar durch Informationstechnologie Vermittelte. Für die Weisheitsfindung ist jeder Einzelne gefordert, für ihre Anwendung in Politik und Gesellschaft sind noch Bündnisse zu schließen. Die große Aufgabe ist es, meinen wir, diese Findungsprozesse zu entwickeln. Dazu wollten wir einen Beitrag leisten. Merci, Elfi Leo
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Danksagungen
A
ls ein mit dem Thema Weisheit befasster Autor darf ich es nicht versäumen, den Personen, die mir beim Zustandekommen dieses Buches wertvolle Hilfe leisteten, ja es erst ermöglichten, meinen Dank auszusprechen. Mit einer mich immer wieder überraschenden Genauigkeit, ebenso wie mit Schnelligkeit und unendlicher Geduld hat es Frau Waltraud Carvajal Escobar verstanden, meine handschriftlichen Texte auf den Computer zu übertragen und damit die weitere Bearbeitungsfähigkeit für die Endfassung zu ermöglichen. Es war großartig. Ohne Waltrauds Geduld wären auch Erneuerungen des Manuskriptes im Prozess des Denkens nicht möglich geworden. Vielen Dank ! Herr Mag. Gerhard Sindelar ermöglichte mir durch die Verwendung meines eigenen, aber auch aus seiner eigenen reichen Kenntnis herangezogenen Bildmaterials, Thesen des Buches anschaulich zu machen. Unsere Zusammenarbeit fand in der Endausprägung des Buches einen besonders lebendigen Charakter. Gerhard Sindelar hat unsere Gedanken in Bilder umgewandelt. Er drückt diese Gedanken und Formbilder aus eigener schöpferischer Fantasie aus, als eigenen Beitrag zu diesem Buch. Danke, Gerhard ! Du bist ein großartiger Künstler ! Herrn Walter Kriedl verdanke ich vielfache Unterstützung bei der Auffindung und Beschaffung von Fachliteratur. Ich danke ihm sehr herzlich. Großer Dank sei auch Frau Dr. Ursula Huber vom Böhlau Verlag ausgesprochen. Sie hat von Anfang an die kooperative Entstehung des Buches über ein anspruchsvolles Thema wie das der Weisheit in den Weltkulturen geglaubt und in persönlichen Gesprächen unterstützt und mit ihrer reichen Erfahrung an der Entstehung des Buches und seiner technischen Gestaltung mitgewirkt. Vielen herzlichen Dank für ihren Beistand !
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Nachweise
Quellennachweis Gedichte Paul Celan Ich lotse dich, aus : Zeitgehöft. Späte Gedichte aus dem Nachlass. © Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1976. Dir in die ungefalteten Hände, aus : Die Gedichte aus dem Nachlass. © Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, Edition 1997. Alle Rechte bei und vorbehalten durch Suhrkamp Verlag Berlin. Die Krüge/Kristall/Todesfuge, aus : Mohn und Gedächtnis. © 1952, Deutsche Verlags- Anstalt, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH. Zürich, zum Storchen/Dein Hinübersein, aus : Die Niemandsrose. © S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 1963 Tenebrae aus : Sprachgitter. © S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 1959. Fotonachweise Fotos : Gerhard Sindelar Abb. 1, 4–7, 9, 12–17, 20, 21, 25–27 : Objekte (Privatbesitz). Abb. 8 : Gemäldeausschnitt, Gemäldegalerie der Akademie der bildenden Künste, Wien. Abb. 2, 3, 11, 19, 28 : Wikimedia Commons. Abb. 10 : Portrait Leopold Rosenmayr, Bleistift, 1964, Josef Pillhofer (Privatbesitz). Abb. 22 : Sitzende, Bleistift, 1951, Josef Pillhofer (Privatbesitz). Abb. 23 : Kopf, Bronze, 1994, Josef Pillhofer (Privatbesitz). Abb. 24 : Detail-Hintergrund Großer Baum, 1964, Bronze, Josef Pillhofer (Privatbesitz).
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LEOPOLD ROSENMAYR
ÜBERWÄLTIGUNG 1938 FRÜHES ERLEBNIS, SPÄTE DEUTUNG RÜCKBLICK EINES SOZIOLOGEN IN DIE EIGENE KINDHEIT UND SEINE FRÜHE JUGEND
Der Verfasser, der international renommierte Soziologe, Jugend- und Alternsforscher Leopold Rosenmayr, schreibt eine Psycho- und Sozialgeschichte der eigenen Person. Diese lässt die Überwältigung 1938, die psychische Stimmung überwältigender Emotionen, und die politische Macht als Erlösungsversprechen fühlbar werden. Der Verfasser rollt dabei in seinem familiären, lokalen und politischen Herkunftsmilieu eines Wiener Arbeiterbezirks „Umbruch“ und „Anschluss“ vom Frühjahr 1938 auf. Von der elterlichen Vorgeschichte, der familiär vermittelten Nostalgie der k. u. k. Monarchie, dem kirchlichen Umfeld, verdeckten ersten erotischen Erlebnissen, Freundschaften und kulturellen Früherfahrungen her wird Zeitgeschichte um das Schicksalsjahr sichtbar. Persönliche Geschichte und Erlebnisbeschreibungen lassen sich nicht auf einfache Formeln bringen. Der Selbstbeschreibung der kindlichen und jugendlichen Lebensphase in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, den Erfahrungen, Blockaden, Schmerz und Enttäuschungen, stellt der Sozialforscher seine aus langjähriger wissenschaftlicher Arbeit getragenen Reflexionen aus heutigem Bewusstsein gegenüber. Daraus ist ein spannendes Buch entstanden, das einen neuen Typus der anlassbedingten Historiografie darstellt. 2008, 349 S. 23 S/W-ABB. GB. MIT SU. 135 X 210 MM. | ISBN 978-3-205-77751-9
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EUROPÄISCHE GRUNDBEGRIFFE IM WANDEL: VERL ANGEN NACH VOLLKOMMENHEIT HERAUSGEGEBEN VON GERT MELVILLE, GREGOR VOGT-SPIRA UND MIRKO BREITENSTEIN
In der europäischen Kultur ist die Vorstellung tief verankert, dass es optimale Formen des individuellen und sozialen Lebens gebe. Dadurch wird ein dynamisierendes Potential freigesetzt: ein stetes Streben nach etwas noch Vollkommeneren. In diesem Sinne werden hier die europäischen Grundwerte betrachtet: als Leitbegriffe, die immer wieder neu ausgehandelt, angepasst und korrigiert werden. Die Bände der Reihe befassen sich mit sechs Grundbegriffen, die in der europäischen Geschichte intensiv diskutiert worden sind: Gerechtigkeit, Sorge, Freiheit, Erkenntnis, Schönheit und Glückseligkeit. In jedem Band werden von der Antike bis in die Gegenwart solche Epochen oder Zäsuren vergleichend behandelt, die für Prägungen und Ausgestaltungen der Begriffe besonders entscheidend waren. Dabei werden immer sowohl die Seite des Konzepts wie die konkrete historische Verwirklichung in den Blick genommen. BD. 1 | GERECHTIGKEIT
EINZELBAND € 29,90 [D] | € 30,80 [A]
2014. 270 S. 6 S/W-ABB. FRANZ. BR.
FORTSETZUNGSPREIS € 19,90 [D] |
ISBN 978-3-412-22182-9
€ 20,50 [A]
BD. 2 | SORGE 2015. 256 S. FRANZ. BR ISBN 978-3-412-22427-8
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Kl aus samuel DaviDowicz
Die K abbal a eine einführung in Die welt Der jüDischen mystiK unD magie
Die „Geheimlehre“ der Kabbala hat sich im Laufe von mehreren Jahrhunderten in verschiedene Richtungen und Schulen entwickelt und eine Vielzahl von Schriften hervorgebracht. Die Kabbalisten waren meist tief gelehrte Menschen, oft berühmte Rabbiner. Die kabbalistischen Schulen versuchten einen neuen Weg zu Gott zu finden, ihn zu einer lebendigen, greifbaren Erfahrung werden zu lassen und gingen dabei von den spezifischen Werten der jüdischen Religion, wie Schöpfung, Offenbarung und Erlösung, aus. Diese Studie versteht sich als Einführung in die Geschichte und die zentralen Elemente und Texte der jüdischen Kabbala. 2009. 260 S. Br. 135 x 210 mm. iSBn 978-3-205-78336-7
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