Mut – Gelassenheit – Weisheit: Impulse aus Philosophie und Theologie 9783495813270, 9783495489918


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German Pages [241] Year 2018

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Table of contents :
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Inhalt
Peter Reifenberg: Einleitung
Zweifel, Verzweiflung und Mut
Gerd Theißen: »Anfang der Weisheit ist die Gottesfurcht« (Sir 1,14) oder »Vollkommene Liebe vertreibt die Furcht«? (1 Joh 4,18)
1. Teil: Die Ambivalenz von Furcht und Angst in unserer Kultur
2. Teil: Die vielen Gesichter der Furcht in der Bibel
3. Teil: Die Überwindung religiöser Furcht im Epikureismus
4. Teil: Die Überwindung von Furcht im Johannesevangelium
a) Liebe als Selbstzweck: Das Bleiben in der Liebe
b) Die Liebe Gottes will in der Welt präsent sein
c) Die Liebe Gottes und ihr dunkler Schatten
Klaus Viertbauer: Mit dem Mut der Verzweiflung
1. Der Kontext: Subjektivität und Selbstbewusstsein
2. Die These: Kierkegaards reflexives und präreflexives Selbst
3. Die Ausformung: Ästhetische und ethische Existenzform
3.1. Ästhetische Existenzform
3.2. Ethische Existenzform
4. Die Pointe: Der Sprung in den Glauben
4.1 Religiosität A: Grenze des Ethischen
4.2 Religiosität B: Paradoxe Existenz
4.3 Mit dem Mut der Verzweiflung: Zur Legitimierung des Sprungs in den Glauben
Gunther Wenz: Nichtigkeitsangst und Mut zum Sein
Typologie der Angst
Nihilismussog
Zeugnis des Christentums
Peter Reifenberg: Heimkehr in die Fremde – und das Schicksal des Menschen
I.
II.
III.
III.
V.
Jan und die Mutter
Maria und Martha
Der Alte
VI.
Gelassenheit
Stephan Herzberg: Vom vernünftigen Umgang mit dem Schicksal
1. Gelassenheit – ein Thema der (antiken) Ethik?
2. Aristoteles
3. Stoa
4. Epikur
Matthias Koßler: Formen der Gelassenheit bei Schopenhauer
1. Gelassenheit in der Bejahung des Willens zum Leben
2. Gelassenheit in der Verneinung des Willens zum Leben
3. Ein dritter Weg
Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Gelassenheit im Denken Martin Heideggers
1. Gelassenheit im Gespräch Heideggers mit Meister Eckhart
2. Das Fragen nach dem Wesen des Denkens und des Menschen
3. »lassen« und »gelassen« im Denken des Meister Eckharts
4. Das Bedenken von Transzendenz und Horizont für den Übergang in das künftige Wesen des Denkens und seines Zudenkenden
5. Das Gegnen der Gegnet und die Gelassenheit
Weisheit
Martin Ebner: »Jeder Tag hat genug eigene Plage« (Mt 6,34)
Zwischenreflexion
Weisheitsworte – anders als Mahnworte
Weisheitsworte – anders als Offenbarungsworte
Jesus als ständiger Dissident
Jesus rechtfertigt sein deviantes Verhalten
Der Sitz im Leben der aufsehenerregenden Tischgemeinschaft Jesu
Integrative Tischgemeinschaft als Urzelle der Eucharistie
Jesus und die politischen Verhältnisse seiner Tage
Abschluss
Markus Enders: Durch Gelassenheit zur göttlichen Weisheit
0. Einleitung: Die menschliche Weisheit als praktisches Vernunftwissen und die Weisheit Gottes als eine göttliche Person
1. Grundzüge der Biographie Heinrich Seuses (1295–1366) und seines mystischen Wissens (dessen theoretische und dessen praktische Seite)
2. Zu den biblischen Quellen für Seuses Allegorie der »Ewigen Weisheit«
3. Der gelassene Mensch im Verständnis Heinrich Seuses
3.1 Durch Gelassenheit zur Gleichförmigkeit mit Christus nach dem Büchlein der Wahrheit
3.1.1 Der »Gegenstand« des »Sich-Lassens«: Der maßlose Eigenwille des Menschen
3.1.2 Die Weise des rechten Sich-Lassens – der Zusammenhang der drei »Einblicke«
4. Seuses Vita: Die eine, einzig notwendige Übung: Die vollkommene Aufhebung der Wirksamkeit des eigenen Willens
4.1 Die eine, einzig notwendige Übung: Die vollkommene Aufhebung der Wirksamkeit des eigenen Willens »in Gelassenheit«
4.2 Der Wendepunkt des geistlichen Lebens des Dieners nach dem 19. Kapitel der Vita: Das Einschreiten der Ewigen Weisheit – Christus wird zum Lehrmeister in der »Kunst wahrer Gelassenheit« – die gegebene Selbsterkenntnis des Dieners
4.3 Der innerzeitliche Nutzen und Gewinn einer mystischen Lebensform: Die drei göttlichen Wirkweisen des wahrhaft gelassenen Menschen
4.3 Die »Entbildung«, »Bildung« und »Überbildung« eines gelassenen Menschen
4.4 Die höchste Stufe der Gelassenheit nach dem Büchlein der Ewigen Weisheit: »Gelassensein in Gottverlassenheit ist höchste Gelassenheit«
5. Durch Gelassenheit zur göttlichen Weisheit
Hubert Irsigler: »Weit über Perlen geht der Weisheit Besitz« – Aus der Weisheit der Hebräischen Bibel
A. Was ist »Weisheit«? Wer ist »weise«?
1. Zum Verständnis von »Weisheit« in der Spruchliteratur
2. Spr 1,1–6.7: Buchtitel und Vorspruch mit Mottovers
a) Was bedeutet »JHWH-Furcht«?
b) Welches Gottesbild setzt diese Rede von Weisheit und Gottesfurcht voraus?
3. 1 Kön 3,9–13: Salomos Bitte an Gott um Weisheit
B. Kernthemen der Lebensweisheit
1. »Leben« als Ertrag von Weisheit, Gottesfurcht und Gerechtigkeit
2. Rechtes Hören, Reden und Schweigen
a) Das »Hören« als Grundvoraussetzung von Weisheit
b) Die Macht der Zunge zum Guten und zum Bösen
c) Reden und Schweigen zur rechten Zeit
3. Die rechte Zeit für alles menschliche Tun – Kohelet 3,1–8
4. Warnung vor Überheblichkeit und Maßlosigkeit in jeder Form
5. Das Zusammenleben im Volk – das Verhältnis zu den Mitmenschen
a) Arme und Reiche
b) Zum Umgang mit »schwierigen« Mitmenschen und mit einem persönlichen Feind
c) Gerechte und Frevler
d) Zum Verhältnis von Mann und Frau in der jüngeren Spruchliteratur
6. Der fundamentale Zusammenhang von Tun und Ergehen und die Wirksamkeit Gottes im menschlichen Tun und Planen
7. Die Einsicht in die Begrenztheit und Vergänglichkeit des menschlichen Lebens
C. Ein Ausblick auf Psalm 73: von der Anfechtung zur Lebenshoffnung durch den Tod hindurch
Jean-Luc Marion: D’un phénomène érotique
Jean-Luc Marion: Das Phänomen des Erotischen
Autorenverzeichnis
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Mut – Gelassenheit – Weisheit: Impulse aus Philosophie und Theologie
 9783495813270, 9783495489918

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Peter Reifenberg Ralf Rothenbusch (Hg.)

Mut – Gelassenheit – Weisheit Impulse aus Philosophie und Theologie

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495813270

.

B

Peter Reifenberg Ralf Rothenbusch (Hg.) Mut – Gelassenheit – Weisheit

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

Peter Reifenberg Ralf Rothenbusch (Hg.)

Mut – Gelassenheit – Weisheit Impulse aus Philosophie und Theologie

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

Peter Reifenberg Ralf Rothenbusch (Eds.) Courage – Composure – Wisdom Impetuses from philosophy and theology What are approaches to a successful life in view of doubts and despair, dread and fear? Each of which is understood as an existential fundamental human state of mind. Ethics offers virtues as a path to a successful life. The contributors to this book are seeking concepts that help realise the connection of the idea of virtues with the natural human wish for fortune and analyse the role of courage, composure and wisdom in this context. Concepts developed in the history of ideas are examined in respect to their validity in the context of today’s problems.

The Editors: Dr Peter Reifenberg, born 1956, Professor of Moral Theology , Director of the Conference Centre and the Academy of the Bishopric of Mainz, Erbacher Hof. Dr Ralf Rothenbusch, born 1963, Professor of The Old Testament, Deputy Director, Erbacher Hof Mainz.

https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

Peter Reifenberg Ralf Rothenbusch (Hg.) Mut – Gelassenheit – Weisheit Impulse aus Philosophie und Theologie Angesichts von Zweifel und Verzweiflung, von Furcht und Angst – jeweils verstanden als existentielle Grundbefindlichkeiten des Menschen – werden Haltungen gelingenden Lebens gesucht. Die Ethik bietet Tugenden als Wege zu einer gelingenden Lebensführung an. Die Beiträger dieses Buches suchen nach Entwürfen, die die Verbindung des Tugendgedankens mit dem natürlichen Glücksverlangen des Menschen zu ermöglichen helfen und erörtern, welche Bedeutung dabei Mut, Gelassenheit und Weisheit zukommt. Dabei werden ideengeschichtliche Entwürfe in heutigen Problemkontexten auf ihre Gültigkeit hin geprüft.

Die Herausgeber: Dr. Peter Reifenberg, geb. 1956, Professor für Moraltheologie, Direktor des Tagungszentrums und der Akademie des Bistums Mainz, Erbacher Hof. Dr. Ralf Rothenbusch, geb. 1963, Professor für Altes Testament, stv. Akademiedirektor, Erbacher Hof Mainz.

https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

Professor Dr. Peter Kohlgraf, Bischof von Mainz, im Jahr seiner Bischofsweihe freundlich zugeeignet.

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2017 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Umschlagmotiv: Paul Klee, Der Fels der Engel, Bleistift auf Papier, 1939 Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48991-8 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81327-0

https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

Inhalt

Peter Reifenberg Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Zweifel, Verzweiflung und Mut Gerd Theißen »Anfang der Weisheit ist die Gottesfurcht« (Sir 1,14) oder »Vollkommene Liebe vertreibt die Furcht«? (1 Joh 4,18). Provokation und Überwindung von Furcht in der Bibel und ihrer Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19

Klaus Viertbauer Mit dem Mut der Verzweiflung. Eine Einordnung von Kierkegaards ›Sprung in den Glauben‹

. .

35

. . . . . . . . . . .

56

Peter Reifenberg Heimkehr in die Fremde – und das Schicksal des Menschen. Das Drama »Le Malentendu« von Albert Camus . . . . . . . .

61

Gunther Wenz Nichtigkeitsangst und Mut zum Sein. Paul Tillichs Schrift »The Courage to Be«

Gelassenheit Stephan Herzberg Vom vernünftigen Umgang mit dem Schicksal. Perspektiven der antiken Philosophie . . . . . . . . . . . . .

81 7

https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

Inhalt

Matthias Koßler Formen der Gelassenheit bei Schopenhauer . . . . . . . . . .

100

Friedrich-Wilhelm von Herrmann Gelassenheit im Denken Martin Heideggers . . . . . . . . . .

121

Weisheit Martin Ebner »Jeder Tag hat seine eigene Plage« (Mt 6,34) – Ein persönlicher Zugang zur jesuanischen Weisheit . . . . . . .

137

Markus Enders Durch Gelassenheit zur göttlichen Weisheit. Die Weisheit Gottes und die Gelassenheit des Menschen in der mystagogischen Spiritualität Heinrich Seuses (1295–1366) . . .

151

Hubert Irsigler »Weit über Perlen geht der Weisheit Besitz« – Aus der Weisheit der Hebräischen Bibel . . . . . . . . . . . .

176

Jean-Luc Marion D’un phénomène érotique . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

207

Jean-Luc Marion Das Phänomen des Erotischen (Übersetzung von Margit Kopper) . . . . . . . . . . . . . . .

221

Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

237

8 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

Einleitung Peter Reifenberg

Wer und was gibt unserem Leben die rechte und tragfähige, freiheitgewährende Seinsorientierung? Worin bestehen die Formen der erfahrungs-, handlungs- und wissensmäßigen Weltorientierung mit ordnungsstiftender Funktion – gerade in einem Chaos des Unübersichtlichen? Auch die Frage des Pilatus an Jesus: »Was ist Wahrheit« (Joh. 18,38) stellt sich in unseren Tagen auf eine radikale Weise. Denn mit ihr geht es umfassend um die Begegnung des Menschen mit seiner Wirklichkeit, um sein Erkenntnisvermögen genauso wie seine philosophische Orientierung und schließlich um die Quelle und das Ergebnis vernunftgeleiteter und selbstständiger Lebensgestaltung. Auf allen Ebenen scheint alles gefährdet und im Umbruch. Gerade auch die ethische Frage nach der Verwirklichung eines gelingenden Lebens lässt die Problematik der Orientierung bzw. Orientierungslosigkeit stets wach werden. Die theologische und philosophische Ethik bieten in ihrer klassischen wie modernen Form die Tugenden als Wege des Glücks, Leitbilder gelungenen Menschseins und Anschauungsformen des Guten an 1, um zu einer Lebensführung zu disponieren, die eine Richtung in der unsicheren Existenz geben könnte, und um das »sittliche Können« im Sinne fester Handlungsbahnen ermöglichen zu helfen (vgl. Schockenhoff, 64). Der Tugendbegriff erfährt auch in unserer Darstellung eine Weitung im Sinne der Leitvorstellung des gelingenden Lebens (vgl. Schockenhoff, 51). Wir suchen nach einem Entwurf, der die Verbindung des »Tugendgedankens« mit dem natürlichen Glücksverlangen des Menschen ermöglichen hilft, denn die Sehnsucht nach dem guten

Vgl. Eberhard Schockenhoff: Grundlegung der Ethik. Ein theologischer Entwurf. Freiburg (Herder) 2007, bes. 46 ff. (= Schockenhoff).

1

9 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

Peter Reifenberg

Leben bleibt bei allem postmodernen und postfaktischen Klima bestehen. Wie können Tugend, Glück und gar Sinn zueinander in Beziehung gebracht werden? Können Tugenden auch offene, flexible Verhaltensmuster des Handelns abbilden? Oft stellen der Zweifel und die Verzweiflung, Furcht und Angst die existentielle Grundsituation des Menschen heute dar. Lassen sich aus den Grenzsituationen, die Jaspers in unübertroffener Weise in seiner Existenzphilosophie beschreibt, Haltungen gelingenden Lebens finden? Diesen Fragen stellen wir uns in jedem Akademieprogramm. Dabei wollen wir stets der geistigen Situation der Zeit Rechnung tragen. Zweifel, Verzweiflung und Mut in einen Dialog zu bringen und hieraus Linien zur Gelassenheit und schließlich zur Weisheit ziehen, hierin liegen Ziele der Akademie, die sich in nachfolgender Publikation exemplarisch entfalten. Dieses Ziel kann nur erreicht werden, wenn man auch die Ideengeschichte mit zu Rate zieht: So setzt sich der Neutestamentler Gerd Theißen mit der Überwindung von Furcht und Angst in der Bibel und seiner geistesgeschichtlichen Umwelt auseinander. Er stellt die Frage, ob sich der Glaube ohne Angst leben lässt, und unterscheidet schon in der Bibel wie später Kierkegaard zwischen Angst und Furcht, wobei die Furcht in der Bibel viele Gesichter hat und einzig durch die Liebe überwunden werden kann. Auch die Angst zeigt ein ambivalentes Gesicht in der Bibel und realisiert sich in Gottesfurcht, Offenbarungsfurcht, Lebensfurcht und Gerichtsfurcht. Der religiöse Glaube kann Angst provozieren und verheißt zugleich jedoch auch ihre Überwindung. Mit einem protestantisch geprägten Ansatz der Hermeneutik von Angst setzt sich auch Klaus Viertbauers Beitrag zu Kierkegaard auseinander. Er spiegelt den Kierkegaard’schen Sprung in den Glauben vor dem Hintergrund der neuzeitlichen Subjektphilosophie. Die ästhetische und ethische Existenzform folgen dem Modell des egologischen Selbst, d. h. das Verhältnis im Sinne einer Relation zwischen zwei Polen zum einen und das Verhältnis im Sinne eines Zwischenseins, also im Sinne der Mehrdeutigkeit zwischen diesen beiden Polen von Ich und Du. Das nichtegologische Selbst würde das Verhältnis im Sinne des Verhaltens zum eigenen Grund darstellen. Die religiöse Existenzform, die Kierkegaard in »Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschriften« von 1846 darstellt, markiert den Sprung in 10 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

Einleitung

den Glauben und überwindet die klassische Subjekt-Objekt-Spaltung. Mit dem Mut der Verzweiflung gelingt es dem Menschen, sich vom Geist zu befreien, um sich unmittelbar auf den Nichtanderen, nämlich den Schöpfer direkt zu beziehen. Dieser Akt setzt die Gnade voraus, deren der Sünder bedarf, um seinen unmittelbaren Seinsgrund in Gott zu finden. Philosophisch ist dieser Glaube nicht mehr zu denken; hier eignet sich einzig und allein eine theologische, glaubensgetragene Denkungsart. Gunther Wenz skizziert in seinem konzisen Beitrag die Nichtigkeitsangst und den Mut zum Sein in Paul Tillichs Schrift »The Courage to Be«. Wie bedroht das Nichtsein die Selbstbejahung des Menschen? Zunächst auf einer ontischen Ebene, einmal relativ in Form des Schicksals und absolut in der Form des Todes; dann hinsichtlich der moralischen Selbstbejahung des Menschen, hier relativ in Form der Schuld und absolut in der Form der Verdammung. Und schließlich wird die Selbstbejahung des Menschen in seinem endlichen Sein durch das Nichtsein relativ in der Form der Leere und absolut in der Form der Sinnlosigkeit bedroht. Die pathologische Angst sollte in das Leben integriert werden, durch den Mut zum Sein, durch die Botschaft des Christentums, durch den Geist der Inkarnation, durch das stete Passionszeugnis und durch das Geistzeugnis von Ostern und Pfingsten. Einer der wichtigsten Literaten und Philosophen des französischen Existentialismus, Albert Camus, behandelt die Heimkehr, die Fremde und das Schicksal des Menschen in seinem Drama »Le Malentendu«, das durch den Autor dieser Einleitung (Peter Reifenberg) ausgelegt wird. Missverständnisse erwachsen aus dem Fehlen an Kommunikation. Albert Camus erfährt wie kein anderer biographisch und in seinem Werk das Stummsein und Nicht-reden-Wollen, Ausdruck auch der Absurdität, der mangelnden Sinnerfahrung des Menschen. Die Erfahrungen seiner Zeit bündelt er im wenig bekannten Drama »Le Malentendu«, das noch ein weiterer Versuch der Hermeneutik des »L’Étranger« und von »Le Mythe de Sisyphe« ist. Die Hoffnungsbilder der biblischen Botschaft werden in ihre Negation hineinversetzt, wobei die verzweifelte Suche nach der nicht aufzufindenden Heimat im Zentrum des Gedankenkreises Camus’ steht. Die Gottsuche scheitert, der Mensch ist dem Schicksal gegenüber freigesetzt. Der Sinnsucher und der Sucher nach Liebe und Anerkennung enden im Nichts. Der Mensch bleibt Fremder in einer ihm fremden Welt und gelangt nicht zur Sohnschaft. 11 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

Peter Reifenberg

Der zweite Teil des Buches reagiert auf den existentiellen Zweifel, auf die Verzweiflung und auf die erforderliche Tugend des Mutes mit der Tugend der Gelassenheit. Sie ist nicht nur eine Herausforderung des Alltags und des menschlichen Lebens generell, sondern sie wurde auch in je unterschiedlicher Weise in der philosophisch-theologischen Tradition verstanden. So denken wir an die stoische Gelassenheit (vgl. Stephan Herzberg), die antike Philosophie, an die Zuversicht aus dem Glauben und der Rede vom sich selbst Lassen der mittelalterlichen Mystik (vgl. später den Beitrag von Markus Enders), an die Aufnahme und Aktualisierung der antiken und christlichen Gedanken bei Schopenhauer (vgl. den Beitrag von Matthias Koßler) oder an die Gelassenheit in den Schriften Martin Heideggers (vgl. den Beitrag von Friedrich-Wilhelm von Herrmann). Stephan Herzberg betont, dass die Gelassenheit, die aus der Sprache der Mystik entstammt, das richtige oder vernünftige Verhältnis zu dem, was wir nicht ändern können, zum Schicksal, zum Ausdruck bringt, dass sich beim Menschen der Seelenfrieden einstelle. Herzbergs Untersuchungen behandeln sowohl die Gelassenheit bei Aristoteles als auch in der Stoa wie auch bei Epikur, der die Ataraxia, die Abwesenheit von Unruhe, in einen eudämonistischen Rahmen integriert. Stephan Herzberg legt somit die Grundlagen für ein solides Verständnis der Gelassenheit. Matthias Koßler zeigt bei Schopenhauer, dass die weltverneinende Gelassenheit in Verbindung mit der mystischen Tradition des Christentums wie auch anderer Religionen steht. So zeigt sich die Gelassenheit in der christlichen Mystik weniger in der Negation zur Welt als vielmehr im Gegenteil aus ihrer Bejahung und aus ihrer Affirmation. Koßler weist nach, dass in der Philosophie Schopenhauers ein dritter Weg zur Gelassenheit zu finden ist, »der Bejahung und Verneinung des Willens zum Leben« verbindet und damit Unzulänglichkeiten im Gelassenheitsbegriff zu überwinden in der Lage ist. Hier bildet das besondere Selbstsein im erworbenen Charakter einen Ansatz eines dritten Weges, »der Motive sowohl der unter der Bejahung als auch unter der Verneinung des Willens zum Leben betrachteten Konzeption in sich vereint«. Der letzte Privatassistent von Martin Heidegger, Friedrich-Wilhelm von Herrmann untersucht die Gelassenheit im Denken Martin Heideggers, der mit Meister Eckhart eng ins Gespräch kommt. Er geht aus vom Feldweg-Gespräch, das mit der Einsicht schließt, dass die Gelassenheit ein »In-die-Nähe-hinein-sich-einlassen« ist. »Auf 12 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

Einleitung

dem Gang des Gesprächs wird die Gelassenheit als das Wesen des Denkens erfahren«. Gelassenheit ist selbst auch Absage an alles Wollen und ein Sich-einlassen auf das Wesen des Denkens. Der Horizont für alles Wassein ist ein offener, ein Unverschlossenes. Diese Offenheit kennzeichnet Heidegger als einzigartige Gegend, in der sich die Unverborgenheit und damit die Wahrheit und Lichtung des Seins zeigt. Der dritte Teil des Buches beschäftigt sich mit der Tugend der Weisheit. In der gesamten Kultur- und Ideengeschichte der Menschheit gehört die Weisheit, die sapientia, nicht nur zu den herausragenden Grundbegriffen einer umfassenden und zugleich theoretischen wie praktischen Daseinsorientierung, sondern in ihr drückt sich zugleich auch ein umgreifendes Wirklichkeitsverständnis und eine Lebenspraxis aus. Die Tugend der Weisheit bildet nun den zielführenden dritten Hauptteil unseres Tugendweges. Im Unterschied zum identitätsstiftenden, die Schöpfung interpretierenden Mythos eignet der Weisheit ein universalhumanitärer Charakter: Sie begegnet uns besonders als ausgeprägtes Lebens- und Erfahrungswissen, ja als herausragender Lebensstil, der der biblischen Überlieferung zufolge (vgl. die Beiträge von Hubert Irsigler und Martin Ebner) in Gott seinen Ursprung hat. Die Hl. Schrift kündet in der Weisheitsliteratur von den Wegweisungen hin zu einem gelingenden Gottes- und Weltverhalten. Die christliche Überlieferung hat diese weisheitliche Tradition besonders in der Mystik ausgeprägt und weitergepflegt und entfaltet (vgl. den Beitrag von Markus Enders). In der Weisheit finden auch die menschliche Vernunft und ihre abstrakte Ausdrucksform, die Philosophie, ihren eigentlichen Inhalt. Weisheit und Gelassenheit bilden eine gegenseitig aufeinander hinweisende Einheit. Der Alttestamentler Hubert Irsigler weist v. a. an der Spruchweisheit des Alten Testamentes nach, dass allein die Orientierung an Jahwe und seinen Wegweisungen wie seinem Willen die Weisheit und die Erkenntnis ermöglicht. Dabei spielt »das hörende Herz« eine wesentliche Rolle. Die Lebenserfahrung, gepaart mit Gottesfurcht und der tätigen Gerechtigkeit, beweisen das Leben als Ertrag der Weisheit. Rechtes Hören, Reden und Schweigen sind Handlungsweisen, welche die Weisheit ermöglichen und zum rechten Tun des Menschen führen und damit Überheblichkeit und Maßlosigkeit in allen Formen menschlichen Lebens verhindern. In einem sehr persönlichen Beitrag beleuchtet der Neutesta13 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

Peter Reifenberg

mentler Martin Ebner Jesus von Nazaret als Weisheitslehrer. In seinen Weisheitsworten bietet Jesus, ohne zu belehren, seinen Hörern die Möglichkeit, eine neue, veränderte Perspektive auf ihr Leben und die es bestimmenden Umstände einzunehmen. Ebner bezeichnet diese Worte als ein Angebot, mit »offener Hand«, das man selbst ergreifen muss und das zu einem gelingenden Leben und Gelassenheit helfen kann. Als Weisheitslehrer eröffnet Jesus aber gerade auch für die, die ihm nachfolgen, einen Zugang, zu leben und zu handeln gemäß der schon angebrochenen Wirklichkeit des Reiches Gottes. Der Freiburger Philosoph Markus Enders zeigt, dass im Denken des Mystikers Heinrich Seuse, der eng Meister Eckharts Denken von der Gelassenheit und der Weisheit folgt, sich die lebenspraktische, mystagogische Zielsetzung des Mystikers, der die Vollkommenheit des Menschen als Ziel vor Augen hat, zeigt. Das Gott-Mensch-Verhältnis kulminiert im christusförmigen Menschen, der das göttliche Leben Christi als Formprinzip seines menschlichen Handelns und sich Verhaltens in sich trägt und ausbildet. Christus ist in eigener Person die Weisheit Gottes, die die Gelassenheit als mystagogische Tugend zur Folge hat. Alle Beiträge tragen mit ihrer eigenen Sprache und in ihrem eigenen Stil wie dem spezifischen Gegenstand zur Beschreibung der Tugenden Mut, Gelassenheit und Weisheit bei. Die Weisheit schließlich setzt sowohl den Zweifel als auch die Verzweiflung und den Mut, aber auch die Gelassenheit voraus. Die Weisheit vollendet sich schließlich in der Liebe und so fragt der französische Phänomenologe Jean-Luc Marion, ob die Liebe zur Weisheit letztlich vom Eros her zu finden ist? Die Frage nach dem Begriff der Liebe, die in der modernen Philosophie nur wenig Beachtung findet, kann durch Reduktion »entheiligt« werden, wenn die Liebe zum bloßen Begriff erhoben wird. Geht der Primat des Begriffs oder der Primat der Liebe über den Begriff hinaus? Marion geht von einer Reduktion der Liebe zu einer Reduktion durch Liebe, d. h. zu einer »erotischen Reduktion« über. Aber wie führt sich die erotische Reduktion selbst in Raum und Zeit, in der Definition der Selbstheit durch? Die Bestätigung, dass das Ich geliebt wird, setzt eine äußere Instanz voraus, die der inneren Gewissheit vorausgeht. Es stellt sich nun die Frage, wie diese erotische Reduktion stattfindet, ja, wie sie konkret aussieht, wenn das Lieben eine gegenseitige Identifizierung des einen durch den anderen ist und wenn die 14 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

Einleitung

Liebe wie ein Begriff, eine Bestimmung der Anschauung in Raum und Zeit und im Kontext der Individuation ist. Jean-Luc Marion geht davon aus – wie Heidegger –, dass die Liebe als grundlegendes Motiv des phänomenologischen Verstehens angesehen werden soll. Eros wird deshalb nicht nur als denkendes Geschehen, sondern insbesondere als liebendes interpretiert, denn man tritt nur durch die Liebe in die Wahrheit ein. Zweifel und Verzweiflung zu überwinden erfordert Mut, was zur Gelassenheit führen kann, die sich in der Weisheit vollendet. Die Weisheit vollendet sich in der Liebe. Diese Schritte aufzuzeigen, bemüht sich die nachfolgende Veröffentlichung.

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Zweifel, Verzweiflung und Mut

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»Anfang der Weisheit ist die Gottesfurcht« (Sir 1,14) oder »Vollkommene Liebe vertreibt die Furcht«? (1 Joh 4,18) Provokation und Überwindung von Furcht in der Bibel und ihrer Umwelt Gerd Theißen

Bei der Arbeit an diesem Artikel stieß ich auf das Bekenntnis eines Technikers, der die Frage: »Kann uns Religiosität von Ängsten befreien?« so beantwortet: »Davon bin ich aus eigener Erfahrung fest überzeugt. In einer ›agnostischen Phase‹ vor dem Jahr 1986 infolge nicht tragfähigen Kinderglaubens nach naturwissenschaftlicher Orientierung wurde ich regelmäßig von Angstträumen eines Atomkrieges heimgesucht. Welch unverbrüchliches Gottvertrauen spricht aus Psalm 23: ›Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue …‹.« Es ist gut, dass moderne Menschen Weltuntergangsängste durch Glauben bewältigen. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass Glaube Weltuntergangsängste provoziert hat. Die Johannesapokalypse ist eine Folterkammer voll Furcht und Angst. Das Matthäusevangelium verbreitet durch Androhung von »Heulen und Zähneklappern« Panik. Andererseits verheißt der 1. Johannesbrief: »Die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus«. Unsere Frage ist daher: Wie verhalten sich Furchtprovokation und Furchtüberwindung zueinander? In einem ersten Teil mache ich darauf aufmerksam, dass Angst in unserer Kultur, in Wissenschaft und Philosophie, nicht nur negativ bewertet wird. Furchtüberwindung und Furchtprovokation finden sich auch hier nebeneinander. In einem zweiten Teil will ich zeigen, dass die Furcht auch in der Bibel viele Gesichter hat – ohne Vollständigkeit oder eine strenge Systematik anzustreben. Manchmal ruft die Bibel zur Furchtüberwindung durch Liebe auf. Wir müssen aber auch die Gegenfrage stellen: Macht nicht die Überzeugung von der Liebe Gottes das Dunkle und Böse in dieser Welt erst recht unerträglich und »furchtbar«? In einem dritten Teil ziehe ich zum Kontrast eine andere 19 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

Gerd Theißen

antike Lebenseinstellung heran: den Epikureismus. Er hat sich zum Ziel gesetzt, Menschen durch Aufklärung von religiös bedingter Furcht zu befreien. Er ist eine Philosophie der Freude und Freundschaft. Er war nicht irreligiös, sondern lehrte eine aufgeklärte Religion: Götter sind reine Glückseligkeit. Sie sind ein Wert in sich. In einem vierten Teil frage ich durch die Furchtüberwindung bei den Epikureern inspiriert: Ist Furchtbewältigung auch in der Bibel möglich, weil Gott ein Wert in sich selbst ist? Dabei stehen das Johannesevangelium und seine Theologie der Liebe im Zentrum. Es gibt keine einfache Antwort. Die Liebe Gottes hat im Johannesevangelium nämlich einen dunklen Schatten – den Teufel; und der verursacht Angst und Furcht. Wir stoßen hier auf das unlösbares Problem der Theodizee.

1. Teil: Die Ambivalenz von Furcht und Angst in unserer Kultur So viel ist klar: Angst wird in der Religion nicht nur negativ bewertet. Das gilt auch von modernen Theorien der Angst: – Für Biologen ist Angst ein überlebenswichtiges Warnsignal. Jene Primaten, die angesichts von Raubtieren keine Angst hatten, schieden bald als unsere potentiellen Vorfahren aus. – Für manche Neurowissenschaftler erschließt Angst neue Verhaltensmöglichkeiten: Angst erschüttert eingefahrene Muster des Denkens, ermöglicht so das Erlernen neuer Verhaltensweisen (G. Hüther). – Für Existenzphilosophen erschließt Angst das eigentliche Sein des Menschen: Die Konfrontation mit dem Nichts macht uns das Sein bewusst. Existenzphilosophen unterscheiden dabei gern zwischen Furcht und Angst, zwischen Angst als generalisierte Furcht und Furcht als konkrete Angst. Unser lebendiger Sprachgebrauch hält sich freilich nicht an solche Unterscheidungen. – Ganz anders als in der Existenzphilosophie erschließt für manche Psychotherapeuten eine allgemeine Angst aber keineswegs das wahre Leben, sondern verschließt es – als generalisierte Angststörung. Auch die konkrete Furcht gilt nicht nur als ein positives Warnsignal, sie kann durch Traumatisierung das Leben vergiften. Psychotherapeuten unterscheiden ferner zwischen Phobie und Realangst. Phobien sind erlernte Angstreaktionen auf Situationen, von denen an sich keine Gefahr ausgeht. Real20 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

»Anfang der Weisheit ist die Gottesfurcht« (Sir 1,14)



angst bezieht sich auf reale Bedrohungen. Eine bewährte Methode, phobische Angst zu verlernen, besteht darin, sich der Angst bewusst auszusetzen. Expositionstherapie nennt man das. Man muss erleben, dass man Angst überlebt – und so die irrationale Angstreaktion verlernen oder löschen. Hier muss man also Angst provozieren, um Angst zu überwinden. Die allgemeine Psychologie sagt freilich auch: ein Minimum von Angst aktiviert und kann Leistung steigern. Sie ist für die Moral unerlässlich. Kriminelle müssen Angst als Warnsignal nachlernen. Man kann daher vielleicht sagen: Panik lähmt, Angst lenkt, manchmal beflügelt sie sogar.

Ich habe nicht den Ehrgeiz, eine allgemeine Theorie der Angst zu entwickeln – sicher ist nur: Sie ist nicht nur etwas Negatives. Sie bewirkt auch Überleben, Verhaltensänderung, Leistungssteigerung und moralische Steuerung. Sie wirkt aber destruktiv als Trauma, Panik und Phobie. All diese Unterscheidungen sind freilich nicht nur sachlich bedingt, durch sie wird auch kulturelle Macht ausgeübt – oft auch in der Verschleierung objektiver Wissenschaft. Die Angst vor dem Jüngsten Gericht gilt vielen als aufzulösende Phobie, anderen als poetischer Ausdruck von Angst um die eigene moralische Identität, anderen als schlichte Realangst. Angst und Frucht haben in jeder Kultur verschiedene Gesichter. Angstdiskurse sind auch Machtdiskurse. Das ist in der Bibel nicht anders.

2. Teil: Die vielen Gesichter der Furcht in der Bibel An erster Stelle nenne ich die »Gottesfurcht«. Sie ist etwas Positives. Sie gilt in den Weisheitsbüchern als »Anfang der Weisheit« (Sir 1,14). Denn sie bewahrt vor Übertretungen (Sir 1,21), aber ist noch sehr viel mehr: Denn sie begründet eine positive Beziehung zu Gott. In einem (handschriftlich nur schwach bezeugten Vers) heißt es in Jesus Sirach: »Die Furcht des Herrn ist der Anfang der Liebe zu ihm und das Vertrauen der Anfang der Gemeinschaft mit ihm« (Sir 25,12). War vielleicht Martin Luther von diesem Vers inspiriert, als er die Auslegung der 10 Gebote immer mit der doppelten Forderung begann: »Wir sollen Gott fürchten und lieben«? Auf jeden Fall greift er hier eine Tradition »weisheitlicher Furcht« auf. Doch der 1. Johannesbrief kennt eine noch weit höhere Gottesbeziehung als die Furcht. 21 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

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Er schreibt: »Vollkommene Liebe vertreibt die Furcht. Denn die Furcht rechnet mit Strafe« (1 Joh 4,18). Zweitens gibt es immer wieder in der Bibel »Offenbarungsfurcht«. Göttliches Handeln bricht als außernormale Erscheinung in die alltägliche Lebenswelt ein. Menschen reagieren mit Furcht und Entsetzen. Engel treten mit dem Zuspruch »Fürchte dich nicht« in diese Welt. Nach der Verkündigung der Auferstehung durch einen Engel am leeren Grab fliehen die Frauen im MkEv, gepackt von »Zittern und Entsetzen« (16,8). Das ist »numinose Furcht«: eine tiefe Erschütterung angesichts des Einbruchs göttlichen Handelns in unsere Alltagswelt. Deren Ordnung erhält einen Riss. Gelegentlich wird auch dieses »Fürchte dich nicht« mit der Liebe Gottes begründet. So sagt Deuterojesaja im Namen Gottes: »Fürchte dich nicht, denn ich erlöse dich; ich rufe dich bei deinem Namen, du bist mein!« (Jes 43,1). Er begründet das damit, »weil du teuer bist in meinen Augen, wertgeachtet, und weil ich dich liebe …« (43,4). Drittens gibt es in der Bibel »Lebensfurcht« in vielen Formen, d. h. nicht nur als Furcht vor Strafe, sondern als Furcht vor den Gefährdungen des Lebens durch Krankheit, Katastrophen, Gewalt und Unrecht. Lebensfurcht ist insofern immer auch Todesfurcht. Paulus schildert sie in seinen »Leidenskatalogen«. Er war »oft in Todesnöten« (2 Kor 11,23), »in Bedrängnis, in Not, in Angst, unter Schlägen, in Gefängnissen, in Zeiten der Unruhe, unter der Last der Arbeit, in durchwachten Nächten, durch Fasten …« (2 Kor 6,4 f.). Für Paulus ist klar: Angst und Furcht sind eine Folge seines Einsatzes für den Glauben. Er erfährt hier elementare »existenzielle Furcht«. Paulus setzt dieser Lebensfurcht die Liebe entgegen, wenn er sagt: »Wer will uns scheiden von der Liebe Christi? Bedrängnis oder Not oder Verfolgung, Hunger oder Kälte, Gefahr oder Schwert?« (Röm 8,36). Und er antwortet: »Nichts kann uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn« (8,39). Viertens gibt es »Gerichtsfurcht«. Alle müssen am Ende vor Gottes Richterstuhl treten. Dort droht ewiges Verderben mit »Heulen und Zähneklappern« (Mt 8,12; 13,42.50; 22,13; 24,51; 25,30). Oder nach Paulus »Not und Bedrängnis für jeden Menschen, der das Böse tut« (Röm 2,9). Jahrhundertelang wurde das Leben vieler Menschen durch die Angst vor Höllenqualen verdunkelt, durch »eschatologische Furcht«. Die Kirche hat sie oft in ihrem Interesse kultiviert. Der Anfangserfolg der Reformation lag darin, dass sie ein System kirchlich verwalteter Lebensangst zum Einsturz brachte. Die ein22 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

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fachen Menschen verstanden als ihre Botschaft: Angstmachen gilt nicht vor Gott! Einmal sagt Paulus sehr direkt, dass am Ende nicht die Furcht bleiben wird, sondern die Liebe. »Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.« (1 Kor 13,13) Angesichts dieser vielen Formen von Furcht kann man kaum die These aufrechterhalten, dass Religiosität von Angst befreit. Religion verpflichtet zu ethischer Gottesfurcht, provoziert numinose Offenbarungsfurcht, vermehrt existenzielle Lebensfurcht und qualvolle eschatologische Gerichtsfurcht. Auch wenn diese dunkle, angstbesetzte Seite religiösen Glaubens in den Gottesdiensten und Predigten der Gegenwart verschwunden ist – in der Bibel ist sie präsent. Religiöser Glaube provoziert Ängste, verheißt aber auch ihre Überwindung. Umso nachdenklicher macht die Aussage der johanneischen Theologie: Gott ist Liebe. Für sie gilt: Vollkommene Liebe treibt die Furcht aus. Aber näher betrachtet könnte man auch sagen: Die Zunahme von Liebe verstärkt auch die Furcht. Je mehr die Menschen von der Liebe Gottes überzeugt sind, umso mehr müssen sie nämlich unter der Lieblosigkeit der Welt leiden. Nirgendwo liegt die Welt so im Argen (1 Joh 5,19 LÜ) oder »in der Gewalt des Bösen« (ZÜ) wie in den johanneischen Schriften. Nirgendwo leuchtet das Licht der Offenbarung in eine so große Finsternis. Man kann auch sagen: Je mehr Gott als Liebe vorgestellt wird, umso größer wird das Theodizeeproblem. Wenn es nur einen einzigen Gott gibt, der für alles verantwortlich ist, dann widerspricht seine Allmacht seiner Güte, seine Güte seiner Allmacht. 1 Wenn man nicht die Existenz des Bösen überhaupt als Mangel an Sein oder als Nichtiges leugnen will, dann arbeiten Versuche, das Theodizeeproblem erträglich zu machen, mit verschiedenen Kausalattributionen des Bösen, d. h. sie fragen: »Was ist für das Böse verantwortlich?« Darauf gibt es im Prinzip nur drei Antworten: Entweder wird das Böse Gott, dem Menschen oder der Welt zugeschrieben. Dabei wird das Böse in der Welt oft personifiziert als A. Laato/ J. C. de Moor, Theodicy in the World of the Bible, 2003. In ihrer Einführung, S. i–liv, zeigen sie, dass das Theodizeeproblem vier Voraussetzungen hat: (1) Es existiert ein Gott. (2) Er hat die Macht zu intervenieren. (3) Er ist voll Güte. (4) Das Leiden ist real. In manchen nicht-biblischen Religionen entfällt die erste und letzte Prämisse: Wenn z. B. eine neutrale Gesetzlichkeit auch die Götter regiert, ist die Existenz Gottes nicht gegeben. Wenn das Leiden ein trügerischer Schein ist, muss man es nicht rechtfertigen.

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Satan. Dieser Satan ist im Johannesevangelium der dunkle Schatten der Liebe Gottes. Er bewirkt vor allem eins: Angst und Schrecken. Wenn Jesus im Johannesevangelium sagt: »In der Welt habt ihr Angst. Ich aber habe die Welt überwunden«, so heißt das in der mythologischen Sprache des Johannesevangelium: In der Welt leidet ihr unter dem Herrscher dieser Welt, dem Satan. Ich aber habe den Satan überwunden. Worin ist diese Furchtüberwindung begründet? Das zeigt sich vielleicht, wenn wir die Bibel mit einer ganz anderen religiösen oder philosophischen Strömung in der Antike vergleichen, die Furchtüberwindung zu ihrem Programm gemacht hatte: mit dem Epikureismus, auch wenn wir nur einen kurzen Blick auf ihn (und die Stoa als Alternative zum Epikureismus) werfen können.

3. Teil: Die Überwindung religiöser Furcht im Epikureismus Für Epikur und Lukrez ist die Befreiung von abergläubischer Religion der Schlüssel zur Überwindung von Furcht. Das Weltbild der Epikureer war sehr modern. Die Wirklichkeit besteht aus Atomen und Leere zwischen ihnen. Die Atome verbinden sich in verschiedener Weise. Die Seele ist eine vergängliche Kombination von Atomen. Gott und die Götter existieren in Gestalt feinstofflicher Atome. Aber sie sind im Unterschied zu den Menschen erstens unvergänglich und zweitens selig in sich selbst. Epikur lehrte: »Erstens halte ich Gott für ein unvergängliches und glückseliges Wesen, entsprechend der gemeinhin gültigen Gottesvorstellung und dichte ihm nichts an, was entweder mit seiner Unvergänglichkeit unverträglich ist oder mit seiner Glückseligkeit nicht in Einklang steht. … Gottlos aber ist nicht der, welcher mit den Göttern des gemeinen Volkes aufräumt, sondern der, welcher den Göttern die Vorstellungen des gemeinen Volkes andichtet«. (D.L. 123)

Der Mensch hat bei den Epikureern in dieser atomistischen Welt eine hohe Würde. Weil die Atome nicht determiniert sind, sondern Zufall zulassen, besitzt er Freiheit. Sein Lebensziel ist ein verborgenes Leben im Kreis seiner Freunde. Er interveniert so wenig wie die Götter in dieser Welt, er verzichtet darauf, um Macht, Besitz und Einfluss zu ringen. Es ist also nicht allein ein aufgeklärtes atomistisches Weltbild, das die Epikureer von Furcht befreien sollte, sondern auch die Ge24 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

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wissheit, dass es Götter gibt, die in sich selbst selig und sinnvoll sind: ein Modell ihres eigenen Lebensziels. Damit besiegen sie die Furcht. Das lässt sich an den vier Formen von Furcht zeigen, die wir in der Bibel unterschieden haben. Was die ethische Gottesfurcht angeht, sagen die Epikureer: Wir bilden uns nur ein, dass die Natur durch rachsüchtige himmlische Wesen gelenkt wird, die uns für unsere Untaten bestrafen. Wir entwürdigen uns selbst, wenn wir sie durch Gebete, Kniefälle und Opfer beeinflussen wollen. Die existentielle Lebens- und Todesfurcht bekämpfen sie durch Aufklärung: Den Tod fürchten nur die, die unaufgeklärt sind. Mit dem Tod löst sich nämlich die Seele auf. Sie kann nichts mehr empfinden, keine Angst und keine Qualen. Natürlich sind Schmerzen zu vermeiden. Aber sie werden durch Furcht vor ihnen noch schlimmer. Denn entweder sind sie groß – dann werden wir bald durch den Tod von ihnen erlöst. Oder sie lassen uns leben – dann muss es noch immer etwas geben, das wir positiv erleben können. Die numinose Furcht basiert auf Unaufgeklärtheit: Wir sollten uns nicht durch Blitze und Erdbeben erschüttern lassen, als zeigten sie den Einbruch des Göttlichen in diese Welt. All das sind natürliche Phänomene. Und was viertens die eschatologische Furcht angeht, so ist sie ein schlimmer Aberglaube: Nach dem Tod erwartet uns nicht das große Gericht, mit dem uns religiöser Aberglaube das Leben schwer macht. Interessant ist: Einige Epikuräer sehen sehr deutlich die Schattenseiten des Lebens und der Welt. Nach Lukrez haben die Götter diese Welt nicht geschaffen. Sie ist auch nicht zum Nutzen der Menschen angelegt. Denn die Erde ist oft unbewohnbar, Früchte und Ernten müssen mit Mühsal erarbeitet werden, Krankheit und Tod beenden oft vorzeitig das Leben. Die Schreie der Säuglinge zeigen, dass sie etwas davon ahnen: »Wie der Schiffer, den wütende Wellen ans Ufer Werfen, so liegt am Boden der Säugling, nackt und zum Leben Jeglicher Hilfe entbehrend. Sobald die Natur aus der Mutter Wehenerschüttertem Schoß ihn bringt in des Lichtes Gefilde, Füllt er mit kläglichem Wimmern den Raum: das ist ja natürlich: Hat er doch soviel Leids in dem Leben dereinst zu erwarten.« (RN V,222–227 Übs. H. Diels; Düsseldorf 1994)

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In dieser dunklen Welt, die im Argen liegt, sind die Götter eine Insel der Seligen ebenso wie der Freundeskreis der Epikureer. Zwar wurden die Epikureer von den mit ihnen konkurrierenden Stoikern als Atheisten angesehen. Das ist ungerecht. Sie haben zutreffend ein Merkmal des Göttlichen klar erkannt: Was göttlich ist, muss ein Wert in sich selbst sein, ein Selbstzweck. Schon die Existenz des Göttlichen ist für den Menschen ein Wert – auch wenn diese Götter ihm nicht in der Not helfen, nicht durch Drohungen die soziale Ordnung aufrechterhalten. Denn hier begegnen Menschen einem Selbstzweck, der allein durch seine Existenz dem Leben Sinn verleiht. Aber die Götter lebten getrennt von der irdischen Welt. Denn nur in Distanz zu ihr war Glück und Glückseligkeit vorstellbar. Die Stoiker dachten anders – Gott war für sie in der rationalen Struktur der Welt präsent. Seine Vorsehung durchdringt den Kosmos. Die Stoiker erlebten Gott in dem, was als sinnvoll in dieser Welt erfahren werden kann. Und entsprechend formulierten sie auch ihre Ethik: Wie Gottes Vernunft die Welt durchdringt, so soll jeder sein Leben von Vernunft durchdringen lassen und die unvernünftigen Leidenschaften in sich unter Kontrolle bringen. Der Weg zur Furchtüberwindung war bei einem Stoiker wie Epiktet einerseits die Erkenntnis, dass nicht die Dinge selbst uns beunruhigen, sondern nur unsere Meinungen von ihnen. Andererseits vertraute er auf die Sinnhaftigkeit der Welt, auf Gott. Das Vertrauen in die Vernunft in uns wird bei ihm unterstützt durch ein Vertrauen in die Vernunft in der ganzen Welt. Von Epikureern und Stoikern kann man über Gott lernen: Das Göttliche ist einerseits Selbstzweck in sich, andererseits Sinn in der Welt. Die Epikureer trennen die Götter von dieser Welt. Die Stoiker verbinden Gott eng mit ihr. Wie aber ist es in den johanneischen Schriften?

4. Teil: Die Überwindung von Furcht im Johannesevangelium Für die Gemeinde des Johannesevangeliums war Gott reine Liebe. »Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm« (1 Joh 4,16). Weil auch der Mensch an dieser Liebe Gottes teilnimmt, kann er Furcht überwinden. Denn die vollkommene Liebe vertreibt die Furcht. Drei Merkmale hat die Liebe Gottes in den johanneischen Schriften: 26 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

»Anfang der Weisheit ist die Gottesfurcht« (Sir 1,14)

a) b) c)

Diese Liebe ist Zweck in sich selbst. Sie will in der Welt präsent sein. Sie hat einen dunklen Schatten, den Satan.

a)

Liebe als Selbstzweck: Das Bleiben in der Liebe

In den Abschiedsreden entfaltet der johanneische Christus seine Liebesbotschaft: »Wie mich mein Vater liebt, so liebe ich euch. Bleibt in meiner Liebe. Wenn ihr meine Gebote haltet, so bleibt ihr in meiner Liebe, wie ich meines Vaters Gebote halte und bleibe in seiner Liebe. Das sage ich euch, damit meine Freude in euch vollkommen werde« (15,9 f.). Das Modell der Liebe untereinander ist die Liebe zwischen Vater und Sohn. Von ihr sagt Jesus am Ende der Abschiedsreden: »Du hast mich geliebt, ehe der Grund der Welt gelegt wurde« (17,25). Er will, dass diese »Liebe, mit der du mich liebst, in ihnen sei und ich in ihnen« (17,26). Auch wenn es nicht mit Begriffen gesagt wird: Diese Liebe hat ihren Zweck in sich selbst. Sie existiert ganz unabhängig von der Welt. Sie hat nicht das Ziel, diese Welt zu verbessern. Sie hat nicht einmal das primäre Ziel, die von ihr ergriffenen Menschen moralisch zu bessern. Zwar sagt Jesus: In seiner Liebe bleiben, heißt Gottes Gebote halten. Aber im ganzen Johannesevangelium macht er nie deutlich, worin denn Gottes Gebote bestehen – außer an einer Stelle, wo er sagt: »Das ist mein Gebot, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch liebe« (15,12). Wenn Bleiben in der Liebe heißt, die Gebote zu erfüllen, so ist das tautologisch: Denn es gibt im Johannesevangelium nur ein einziges konkretes Gebot, einander zu lieben. Diese Liebe, die in sich selbst genug hat, ist oft kritisiert worden. Juden sprachen von Nächstenliebe, Jesus radikalisierte sie zur Feindesliebe, die johanneische Theologie kennt nur die Bruderliebe, die dem gilt, der schon immer in der Liebe Gottes lebt. Zwar werden nebenbei durchaus konkrete Liebesakte sichtbar: – Einander lieben heißt, sich um Hungernde kümmern. Niemand darf seinen Bruder hungern lassen (1 Joh 3,17). – Einander lieben heißt, sich um Fremde kümmern. Deshalb kann ein Ritus der Gastfreundschaft, die Fußwaschung, als Ausdruck von Liebe gedeutet werden (Joh 13) – Einander lieben heißt, sich um Witwen zu kümmern – so wie der Lieblingsjünger sich um Maria kümmern soll.

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Aber das Wesentliche dieser Liebe ist: in Gott und in Christus zu bleiben. Das Wesentliche ist ein Sein, kein Tun. Auch Paulus macht einmal diese Unterscheidung, wenn er im hohen Lied der Liebe sagt: »Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und ließe mein Leib verbrennen, und hätte die Liebe nicht, so wäre mir’s nichts nütze.« Liebe ist hier weit mehr als Caritas. Halten wir aufgrund des Vergleichs mit dem Epikureismus fest: Weil die Liebe im Johannesevangelium unabhängig von der dunklen Welt ein Selbstwert ist, darum ist sie vielleicht geeignet, Furcht zu überwinden.

b)

Die Liebe Gottes will in der Welt präsent sein

Wir hatten gesehen: Die Stoiker aktivieren auch ein Vertrauen in die Sinnhaftigkeit der Welt, um Angst und Furcht zu überwinden. Gibt es auch dazu eine Analogie im Johannesevangelium? Im Johannesevangelium wird die Liebe, die in sich Selbstzweck ist, die unabhängig von der Welt schon immer als göttliche Realität existierte, nur in den geheimen Abschiedsreden an die Jünger (also in Joh 13–17) offenbart. Vorher ist nur ein einziges Mal im öffentlichen Teil des Wirkens Jesu von der Liebe Gottes die Rede – und auch da charakteristischerweise nur im Geheimen, im nächtlichen Gespräch mit Nikodemus. Ihm gegenüber fasst Jesus das Wichtigste zusammen, wenn er sagt: »Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.« (3,16)

Gottes Liebe wird hier durch seine Inkarnation in Jesus in dieser Welt präsent. Aber verborgen ist Gott als Sinn dieser Welt schon immer in ihr da, als ihr Licht und ihr Leben. Denn Gottes Logos hat diese Welt geschaffen. Und nichts anderes wird durch Inkarnation in dem einen Menschen Jesus sichtbar als dieser universale Sinn in allen Dingen. Das Licht, das in ihm schon immer scheint, leuchtet in eine große Dunkelheit hinein. Und diese Dunkelheit wird im Satan symbolisiert.

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»Anfang der Weisheit ist die Gottesfurcht« (Sir 1,14)

c)

Die Liebe Gottes und ihr dunkler Schatten

Meine These ist: Je mehr Gott als reines Licht und vollkommene Liebe konzipiert wird, umso mehr leidet der Mensch unter allem, was dieser Liebe widerspricht – unter der Welt, aber auch unter sich selbst. Das ergibt sich aus einer schlichten Balanceregel. Das Übel kann grundsätzlich nur drei Faktoren angelastet werden: Gott selbst, der alles geschaffen hat, dem Menschen, der sich verfehlt hat, oder der Welt, die unvollkommen geraten ist. Diese drei Unheils-Faktoren, Gott, Mensch und Welt, bilden ein »soteriologisches Dreieck«. Die Balanceregel sagt: Wenn man einen Faktor entlastet, muss man umso mehr die anderen belasten. Wenn Gott ganz und gar Liebe ist, muss entweder der Mensch oder die Welt umso finsterer dastehen. Gott

Mensch

Welt

Wenden wir einmal diese Überlegung auf das Johannesevangelium an: Hat Gott selbst hier eine dunkle und unmoralische Seite, die der Mensch nicht begreifen kann? Wird er zum deus absconditus? Diese Lösung entfällt im Johannesevangelium. Denn Gott ist hier Geist, Licht und Liebe. 2 Kann man also das Böse auf den Menschen zurückführen? Dann wird der Mensch zum homo absconditus, der mit seinem Fehlverhalten die Welt ins Unglück stürzt. Sünde ist im Johannesevangelium aber im Grunde nur die eine Sünde: die Ablehnung des Offenbarers. In der Geschichte vom Blindgeborenen vollzieht sich eine bemerkenswerte Uminterpretation dessen, was Sünde ist. Ausdrücklich wird am Anfang betont: Weder der Blindgeborene noch seine Eltern haben gesündigt (Joh 9,3). Aber nach seiner Heilung sagt Jesus zu den Pharisäern, die meinen, sehend zu sein: »Wärt ihr blind, so hättet ihr keine Sünde; weil ihr aber sagt: Wir sind sehend, bleibt eure Sünde« Auch sonst finden wir dieses helle Gottesbild im Urchristentum. Man denke nur an die Aussage im Jakobusbrief von Gott dem »Vater des Lichts, bei dem keine Veränderung ist noch Wechsel des Lichts und der Finsternis« (Jak 1,17). In Gott ist keine Finsternis.

2

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(Joh 9,41). Dieselbe Definition von Sünde wird Joh 15,22 wiederholt: »Wenn ich nicht gekommen wäre und hätte es ihnen gesagt, so hätten sie keine Sünde, nun aber können sie nichts vorwenden, um ihre Sünden zu entschuldigen« (vgl. Joh 15,24). Schließlich kann man einen dritten Faktor für das Böse verantwortlich machen, die Feindseligkeit der Welt, die als »Gott dieser Welt« (2 Kor 4,4) personifiziert wird. Hier wird der Satan für das Böse verantwortlich gemacht. Der Satan erscheint in der Tat im Johannesevangelium als Inbegriff der feindseligen Welt, die sich dem Offenbarer widersetzt und von ihm überwunden wird. Er gilt als der »Herrscher dieser Welt« (12,31; 14,30; 16,11). Während im Markusund Mattäusevangelium der Satan und die Dämonen am Anfang des Wirkens Jesu erscheinen, tritt er im Johannesevangelium erst in der Mitte des Evangeliums als Feind Jesu auf, um seinen Tod zu betreiben (Joh 8,44). Exorzismen fehlen ganz. Der Satan monopolisiert das Böse. Charakteristisch ist für das Johannesevangelium also, dass dem Satan alles Böse aufgebürdet wird; das ist umso mehr möglich, weil er überwunden wird. Der Satan rückt deshalb im Johannesevangelium in alle drei Positionen des soteriologischen Dreiecks ein. Er wird dabei – erstens als »Herrscher der Welt« politisiert, – zweitens als Verführer der Menschen psychologisiert – und drittens als Zerrbild Gottes theologisiert. 1) Er ist (schon von seinem charakteristischen johanneischen Namen her) der »Herrscher dieser Welt«. Leicht erkennbar ist, dass dahinter die Römer als die faktischen Herrscher dieser Welt stehen. Dieser Herrscher wird durch Judas aktiv: Jesus kündigt den Satan in Joh 14,30 an, er erscheint dann als Judas, der eine Soldatenabteilung befehligt (Joh 18,3). Am Ende wird Jesus hingerichtet, weil Pilatus sonst illoyal gegenüber dem Kaiser wäre: Dieser Kaiser ist der »Herrscher dieser Welt«, dessen Willen mit der Hinrichtung Jesu vollzogen wird. Ihm und seinem Beamten Pilatus ist »von oben« (d. h. von Gott) vorübergehend Macht über Jesus eingeräumt worden (Joh 19,11)! Im Johannesevangelium wird der Satan insofern »politisiert«. 2) Der Satan wirkt im Johannesevangelium nur durch Menschen (wie Judas). Ihm stehen keine Dämonen zur Verfügung und er begegnet auch nicht wie in der synoptischen Versuchungsgeschichte in leibhaftiger Gestalt. In den Lauf der Geschichte greift der johannei30 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

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sche Teufel vielmehr immer nur durch Menschen ein. Er hat Macht über sie, weil er ihr Inneres beeinflussen kann. Der Satan wird daher nicht nur politisiert, sondern noch sehr viel mehr auch »psychologisiert«. 3 – Er hat eine kognitive Dimension, die sich darin zeigt, dass er ein Lügner ist und durch Blindheit gegenüber der göttlichen Wahrheit wirkt. Er verhindert die Erkenntnis des Evangeliums. – Sein Wirken hat zweitens eine ethische Dimension: Die Menschen sündigen, weil sie unter dem Einfluss der teuflischen Lüge stehend glauben, dem Willen Gottes zu entsprechen. – Er hat drittens eine affektive Dimension mit drei Emotionen: Hass, Angst und Trauer: • Der Teufel bewirkt Hass und Aggression: Er sorgt dafür, dass die Menschen Jesus und die Christen hassen und mit tödlicher Gewalt gegen sie vorgehen. • Der Teufel ruft in den Christen, die der Hass der Welt trifft, tarachē oder Todesangst hervor und versucht durch diese Todesangst, sogar Jesus in Gethsemane ins Straucheln zu bringen. • Schließlich bewirkt der Satan in den Jüngern lypē oder Trauer. Das entspricht frühjüdischen Teufelstraditionen. Durch den Parakleten wird diese Trauer in Freude verwandelt. Diese enorme Psychologisierung des Satans ist m. E. eine Folge dessen, dass Gott als reine Liebe erscheint. Die Menschen werden dadurch belastet – und doch auch wiederum entlastet, weil nicht sie, sondern der Satan in ihnen aktiv ist. 3) Unheimlich ist im Johannesevangelium vor allem, dass der Satan auch an einer Stelle an die Stelle Gottes treten kann. Er wird einmal »theologisiert«. Im Gespräch mit »den Juden«, die von sich sagen, dass Gott ihr Vater ist, sagt Jesus: »Ihr habt den Teufel zum Vater, und nach seines Vaters Gelüste wollt ihr tun. Der ist ein Mörder von Anfang an und steht nicht in der Wahrheit; denn die Wahrheit ist nicht in ihm« (8,44). Hier schiebt sich der Teufel vor den einen und einzigen Gott. Er verdunkelt völlig den, der doch nach den johanneischen Schriften Licht und Liebe ist. Diese Theologisierung entF. Theobald hat in seiner Arbeit »Teufel, Tod und Trauer. Der Satan im Johannesevangelium und seine Vorgeschichte« (2015) drei Dimensionen seines Wirkens im Menschen herausgearbeitet. Vgl. 153 ff.

3

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spricht einem charakteristischen Zug des biblischen Satans, wie er sich in nachalttestamentlicher Zeit ausgebildet hat: Dieser Satan will an die Stelle Gottes treten. Die synoptische Versuchungsgeschichte zeigt das in anschaulicher Weise. Wir müssen also für das Johannesevangelium unser soteriologisches Dreieck noch einmal neu zeichnen: Gott Satan in der Rolle Gottes als Vater Sturz des Satans

Mensch Satan als innere Macht Sturz des Satans

Welt Satan als Herrscher dieser Welt Sturz des Satans

Der Satan wirkt umfassend, um Gottes Liebe zu verdunkeln. Das aber mildert manche anstößige Aussage. Er wirkt nicht nur in den Juden, die Jesus töten wollen – er wirkt genauso in den Römern, die für seinen Tod verantwortlich sind; und er wirkt sogar noch als Anfechtung in den Christen, in ihrem Leiden, ihrer Trauer und Todesangst. Er wird aber auch auf allen Ebenen besiegt. Der Teufel ist der dunkle Schatten der Liebe Gottes im Johannesevangelium. Wir können so sagen: Das mythische Bild vom Satan ist Furchtprovokation. Die Überwindung des Satans im Johannesevangelium ist daher Überwindung von Furcht und Angst – dargestellt in mythischen Bildern. Überwindung von Furcht geschieht hier nicht durch »Entmythologisierung« und Aufklärung über den Satan, sondern innerhalb der mythischen Bilderwelt – durch die Verkündigung von der Überwindung des Satans. Die Epikureer boten hier eine Alternative: Sie hätten die Angst vor dem Satan durch Aufklärung überwunden, ihn als eine Projektion religiöser Angst »entmythologisiert«. Da stellt sich die Frage: Ist es ein so großer Unterschied, ob man den Satan in der Wirklichkeit beseitigt und stürzt – oder ihn als Projektion der Angst durchschaut? Der Satanssturz ist freilich nur die negative Seite der Überwindung des dunklen Schattens der Liebe Gottes. Ihm entspricht auch ein positiver Weg: Der dunkle Schatten ist verschwunden, wenn Jesus die 32 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

»Anfang der Weisheit ist die Gottesfurcht« (Sir 1,14)

Menschen zu sich zieht, wenn sie eins werden mit ihm. Jesus verheißt: »An jenem Tage werdet ihr erkennen, dass ich in meinem Vater bin und ihr in mir und ich in euch« (14,20). Jesus sagt: »Bleibt in mir und ich in euch« (15,4 vgl. 15,5). Das hohepriesterliche Gebet Jesu läuft auf diese Einheit Jesu mit den Seinen hinaus, »damit sie eins seien, wie wir eins sind, ich in ihnen und du in mir« (17,22 f.). Diese Einheit wird durch die Liebe geschaffen. Das hohepriesterliche Gebet endet mit der Bitte, dass »die Liebe, mit der du mich liebst, in ihnen sei und ich in ihnen« (17,26). Wollten wir das in unser soteriologisches Dreieck einzeichnen, so müsste es so aussehen: Gott ist durch Liebe eins mit Jesus

Mensch ist durch Liebe eins mit Jesus

Welt erkennt die Einheit der Jünger in der Liebe

Der dunkle Mythos vom Satan wird durch die helle Mystik der Liebe ersetzt. Wird dadurch die Theodizeeproblematik verändert? Meine Antwort: Sie lässt sich m. E. nicht lösen, sie lässt sich nur ertragen. – Die Theodizeeproblematik ringt mit der Rechtfertigung Gottes. Eine Antwort der Bibel ist die Hoffnung auf Änderung der Welt. Weil wir das Ganze nicht kennen, worauf alles hinausläuft, lässt sich die Dunkelheit des deus absconditus ertragen und damit alles, was Furcht und Angst in der Welt macht. – Die Theodizeefrage ringt ebenso mit der Rechtfertigung des Menschen. Die Antwort der Bibel ist der Glaube. Der Glaube rechtfertigt den Sünder. Er lässt die Unerlöstheit des homo absconditus ertragen und damit alles, was in seinem Leben durch Versagen und Schuld Angst macht. – Die Liebe aber hat eine Sonderstellung. Sie muss sich nicht rechtfertigen. Hier muss die unlösbare Theodizeefrage nicht mehr ertragen werden, sie verstummt. Sie verstummt – oft nur vorübergehend, wenn der Mensch Kontakt mit einer Wirklichkeit hat, die einen Wert in sich darstellt – und daher durch keinen Unwert in Frage gestellt werden kann. »Liebe« ist Kontakt mit einer unbedingten Wirklichkeit, die in sich wertvoll ist.

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Glaube und Hoffnung helfen, die unlösbare Theodizeefrage zu ertragen, die Liebe lässt sie verstummen. Der dunkle Schatten der Liebe Gottes verschwindet, wenn der Mensch eins mit Gott ist und wenn er als Wahrheit erfahren wird. Meine Antwort auf die Theodizeefrage, die Frage nach der Rechtfertigung Gottes, habe ich in einem Buch (Glaubenssätze, Nr. 193) so formuliert: Glaube, Hoffnung, Liebe sind Gottes Gegenwart im Menschen. 4 Glaube rechtfertigt den Menschen. Hoffnung rechtfertigt Gott. Nur die Liebe rechtfertigt sich nicht. Sie ist die größte unter ihnen. Denn »Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.« (1 Joh 4,16)

4

Vgl. 1 Kor 13,13.

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Mit dem Mut der Verzweiflung Eine Einordnung von Kierkegaards ›Sprung in den Glauben‹ Klaus Viertbauer

Der vorliegende Beitrag versucht Kierkegaards These vom »Sprung in den Glauben« vor dem Hintergrund der neuzeitlichen Subjektphilosophie zu diskutieren. Zunächst wird der Leserschaft der Kontext in Erinnerung gerufen (1.), ehe dieser unmittelbar auf Kierkegaards Selbst (2.) bezogen wird. Sodann erfolgt die Einordnung in Kierkegaards Existenzstadien (3.) im Allgemeinen und die Unterscheidung von Religiosität A und Religiosität B (4.) im Besonderen.

1.

Der Kontext: Subjektivität und Selbstbewusstsein

Mit Fug und Recht darf man konstatieren, dass das Subjekt als die Denkform der Moderne gilt. Im dritten Band seiner Geschichte der Philosophie beschreibt Hegel, was den neuzeitlichen Subjektbegriff ausmacht: »[…] Frei im Denken sich und die Natur zu fassen und eben damit die Gegenwart der Vernünftigkeit, das Wesen, das allgemeine Gesetz selbst zu denken, zu begreifen. Denn dies ist unser, Subjektivität; und sie als denkend unendlich frei, unabhängig, keine Autorität anerkennend«. 1

Subjektivität erscheint in Form eines aktiven Prinzips: Autonom, d. h. selbst gesetzgebend, erschließt es sich die Welt und ordnet diese denkerisch gemäß seinen Vorstellungen. Damit tilgt der Subjektbegriff den »blinden Fleck« der realistischen Metaphysik, die alles, was ist, als ein Seiendes in die Seinsordnung einfügt, ohne dabei diesen Prozess selbst zum Gegenstand einer Reflexion zu erheben. Traditionell setzt man mit René Descartes diese Zäsur an. In seinen Meditationes de Prima Philosophia (1641) arbeitet er dieses Subjekt-Prinzip in Hegel, Gottfried Wilhelm, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Bd. III (stw 620), Suhrkamp, Frankfurt am Main 1986, S. 65.

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Form einer res cogitans heraus. Um diese Substanz freizulegen, bedient er sich in der Meditatio Prima der Methode des methodischen Zweifels. In einem ersten Schritt bezweifelt Descartes alle Erkenntnis a posteriori: »Alles nämlich, was ich bis heute als ganz wahr gelten ließ, empfing ich unmittelbar oder mittelbar von den Sinnen; diese aber habe ich bisweilen auf Täuschungen ertappt, und es ist eine Klugheitsregel, niemals denen volles Vertrauen zu schenken, die uns auch nur ein einziges Mal getäuscht haben«. 2

Damit ist der Bereich der Erkenntnisse a posteriori, nicht aber jener der Erkenntnisse a priori in den Blick genommen: »Somit können wir hieraus wohl zu Recht schließen, daß die Physik, die Astronomie, die Medizin und alle anderen Wissenschaften, die von der Betrachtung der zusammengesetzten Körper abhängen, wenigstens zweifelhaft seien, während die Arithmetik, Geometrie und vergleichbare, die lediglich die einfachsten und allgemeinsten Dinge behandeln und sich darum wenig kümmern, ob diese in Wirklichkeit da sind oder nicht, etwas Sicheres und Unzweifelhaftes enthalten. Denn ob ich nun schlafe oder wache: zwei und drei geben zusammen fünf, und das Quadrat hat nicht mehr als vier Seiten«. 3

In einem zweiten Schritt dehnt er seinen Zweifel auf die Erkenntnis a priori aus. Dazu führt Descartes die Figur eines deus malingus ein: »Ich will also annehmen, daß nicht der allgütige Gott, der die Quelle der Wahrheit ist, sondern ein ebenso böser wie mächtiger und listiger Geist all sein Bestreben darauf richtet, mich zu täuschen«. 4

Die Auflösung, die Descartes in der Meditatio Secunda liefert, besteht in Form eines transzendental retorsiven Arguments. Dabei wird der Akt des Täuschens selbst zum Gegenstand der philosophischen Reflexion erhoben. In diesem Akt wird sich ein Subjekt als Getäuschtes selbst durchsichtig, sodass Descartes zur Schlussfolgerung ansetzt: »Zweifellos bin also auch Ich, wenn er mich täuscht; mag er mich nun täuschen, soviel er kann, so wird er doch nie bewirken können, daß ich nicht sei, solange ich denke, ich sei etwas. Nachdem ich so alles genug und überDescartes, René, Meditationes de Prima Philosophia, übersetzt von Gerhart Schmidt, Reclam, Stuttgart 1986, Meditatio Prima, Absatz 3 (= Med. I/3). 3 Med. I/8. 4 Med. I/12. 2

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genug erwogen habe, muß ich schließlich festhalten, daß der Satz ›Ich bin, Ich existiere‹, sooft ich ihn ausspreche oder im Geiste auffasse, notwendig wahr sei«. 5

Dieses cogito-Subjekt führt Descartes als res cogitans in die Debatte ein. So setzt sich Descartes’ Menschenbegriff notwendigerweise aus einer physischen (res extensia) und einer psychischen Substanz (res cogitans) zusammen. Da die Unterscheidung dieser beiden anthropologischen Komponenten in Form von Substanzen erfolgt, handelt es sich um einen ontologischen Substanzdualismus. Mit diesem Argument »hat Descartes [… allerdings] nur eine Insel der Gewißheit erreicht, die mit keinem anderen Wissen in irgendeiner festen Beziehung steht«. 6 Der entscheidende Schritt vollzieht sich, über die Vermittlung der britischen Empiristen, erst bei Immanuel Kant. Kant bestimmt im Anschluss an Descartes das Selbstbewusstsein als das Prinzip allen Wissens: »Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können; denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was garnicht gedacht werden könnte, welches ebensoviel heißt, als die Vorstellung würde entweder unmöglich, oder wenigstens für mich nichts sein«. 7

Die Rolle des cogito-Subjekts wird bei Kant zu einer Synthesis-Funktion weiterentwickelt. Versuchte Descartes mit dem cogito eine letzte, unbezweifelbare Instanz im Denken freizulegen, so zielen Kants Bemühungen zudem auf eine sich in den Apperzeptionsakten durchhaltende Identität. Kants ich denke ist derart konzipiert, dass es sich mit jedem beliebigen Gedanken verbinden lässt und dadurch dessen Einheit sicherstellt. 8 So ist seit Descartes die Gewissheit und seit Kant die Einheit des Subjekts verbürgt. Was das Subjekt aber eigentlich ist, blieb bis dato hinter dessen Funktionalitätsbestimmungen zurück. Es war Dieter Henrich, der sich gemeinsam mit Denkern wie Ulrich Pothast, Konrad Cramer und Manfred Frank – denen Ernst Med. II/3. Henrich, Dieter, »Kant und Hegel«, in: Ders. Selbstverhältnisse. Gedanken und Auslegungen zu den Grundlagen der klassischen deutschen Philosophie, Reclam, Stuttgart 2001, S. 173–208, hier: S. 176. 7 KrV AA 3, 108. 8 Vgl. Cramer, Konrad, »Über Kants Satz: Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können«, in: Theorie der Subjektivität. Festschrift für Dieter Henrich (stw 862), hg. von Konrad Cramer u. a., Suhrkamp, Frankfurt am Main1990, S. 167–202. 5 6

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Tugendhat den Namen »Heidelberger Schule« verlieh – eingehend, in überwiegend historisch orientierten Arbeiten, der Aufdeckung dieser Fragestellung, nämlich der Analyse von Form und Struktur von Selbstbewusstsein verschrieb.9 Dabei bezeichnete Henrich den oben herausgestellten Prozess, der von Descartes bis Kant anhielt, als sogenanntes »Repräsentationsmodell von Bewußtsein«. Denn dieses »Modell nimmt an, Bewußtsein sei […] stets Vorstellung von einem Gegenstand, der gleichsam […] vor die Augen des Bewußtseinssubjektes gestellt wird [… und] so sieht sich die Bewußtseins-Beziehung geteilt in einen Subjekt- und einen Objekt-Pol der Vorstellung […, wobei] jede Vorstellung […] einen, der vorstellt, und eines, das vorgestellt wird« 10 verlangt. Somit beugt sich der Subjektpol auf die Wahrnehmung des affizierten Gegenstands und sieht diesen als Objektpol. Das Selbstbewusstsein fungiert dabei als Träger dieses Prozesses. Unklarheit besteht somit in der anknüpfenden Frage nach der Beschaffenheit des Wesens von Subjektivität. Zwar erklärt dieses Modell wie das Subjekt Erkenntnis von einem Gegenstand erlangt, bleibt aber in der grundlegenderen Frage, was das Subjekt überhaupt sei, im Dunkeln. Anders formuliert: Der Gegenstand bleibt dem Bewusstsein stets transzendent, was sich im Fall des Selbstbewusstseins in einer unüberbrückbaren Spannung entlädt. So beschreibt Wolfgang Cramer den kantischen Subjekt- oder Ich-Gedanken als einen sich selbst verborgenen, wobei zwar »alle Ist-Gedanken [… diesen] begleiten […,] er dem Denken [selbst aber] das Unwesentliche« ist. 11 Zwar begegnet einem der Subjekt- oder Ich-Gedanke als Instanz in allen Reflexions- und Apperzeptionsakten. Dessen Annahme ist auch konstitutiv für solche Prozesse. Trotzdem verharrt der Subjekt-Gedanke im formalen Status eines Postulats, dessen Annahme ein unverzichtbares Prinzip für die logisch nachgeordnete Beschreibung von Reflexions- und Apperzeptionsakten ist. Die Beantwortung der Frage, wie das Subjekt wirkt, trägt demnach nichts zur Auflösung der Frage, was das Subjekt überhaupt ist, bei. Tugendhat, Ernst, Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung. Sprachanalytische Interpretation (stw 211), Suhrkamp, Frankfurt am Main 1978, S. 10. 10 Frank, Manfred, »Fragmente einer Geschichte der Selbstbewußtseins-Theorie von Kant bis Sartre«, in: Selbstbewußtseinstheorien von Fichte bis Sartre (stw 964), Suhrkamp, hg. von Manfred Frank, Frankfurt am Main 1991, S. 413–599, hier: S. 434. 11 Cramer, Wolfgang, »Das Denken und der Gedanke ›Ich denke‹«, in: Ders. Die absolute Reflexion. Schriften aus dem Nachlaß, hg. von Konrad Cramer, Klostermann, Frankfurt am Main 2012, S. 109–121, hier: S. 109. 9

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Den Zusammenhang zwischen der wie- und der was-Frage bezeichnete Dieter Henrich als »Selbstregistrierungs-Mechanismus«. Demnach kann man mit der funktionalen Frageperspektive des wie nie auf die ontologischen Ebene des was gelangen: »Bewußtsein ist ein Sachverhalt, der allen zielgerichteten Leistungen vorangehen muß und der deshalb auch dem selbstbewußten Ich vorausliegt. [… Denn] die Vertrautheit mit Bewußtsein kann überhaupt nicht als das Resultat eines Unternehmens verstanden werden. Sie liegt ja schon vor, wenn Bewußtsein eintritt. Und niemand wird sagen, er habe in der Weise versucht, zu Bewußtsein zu kommen, in der er sich um Introspektion, Reflexion und Beobachtung bemühen kann«. 12

Im Hintergrund steht nun die alles entscheidende Frage, welchen Weg man einschlägt, um das grundlegendere Phänomen des »Selbstbewusstseins« zu analysieren: Entweder man setzt den Akzent auf das »Selbst« des »Selbstbewusstseins« oder man betont die Ebene des »Bewusstseins«. 13 Der erste Vorschlag, der das »Selbst« oder »Ich« als Ausgangspunkt der weiteren Analyse wählt, ist der verbreitetste: John Locke, Gottfried Wilhelm Leibniz, Immanuel Kant, Johann Gottlieb Fichte oder Edmund Husserl, um nur ein paar Namen aufzurufen, schließen sich dieser Lesart an. Es handelt sich um die sogenannten egologischen-Theorien, da sie beim »Ich« oder »Selbst« ansetzen. Ihre These lautet: Um zu erfahren, was Selbstbewusstsein bedeutet, gilt es bei dessen sprachlicher Repräsentation des »Ichs« oder des »Selbst« anzusetzen. Ein derartiges Vorgehen verfängt sich allerdings in Zirkelstrukturen. Wenn ich »ich« sage, dann will ich »das Subjekt, das ich bin, in seiner absoluten Subjektivität. Aber indem ich es fixiere (durch Reflexion), wird es mir zum Gegenstand und hört auf, lauteres Subjekt zu sein«. 14 Mit anderen Worten: Im Moment, in dem ich »Ich« bzw. »Selbst« sage oder denke, setzte ich immer schon eine Identität zwischen dem gesprochenen Indexikalbegriff (»Ich«, »Selbst«) und dem

Henrich, Dieter, »Selbstbewusstsein. Kritische Einleitung in eine Theorie«, in: Hermeneutik und Dialektik. Festschrift für Hans-Georg Gadamer, hg. von Rüdiger Bubner, Konrad Cramer, Reiner Wiehl, Mohr Siebeck, Tübingen 1970, Bd. 1, S. 257–284, hier: S. 275; S. 271. 13 Vgl. Frank, Manfred, Präreflexives Selbstbewusstsein. Vier Vorlesungen, Reclam, Stuttgart 2015, S. 14 ff. 14 Frank, Manfred, Auswege aus dem Deutschen Idealismus (stw 1851), Suhrkamp, Frankfurt am Main 2007, S. 415. 12

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korrespondierenden Bewusstseinsphänomen voraus. Dieses Identitätspostulat markiert den »blinden Fleck« der egologischen-Theorien, wie Dieter Henrich in seinem bekannten Aufsatz Fichtes ursprüngliche Einsicht (1966) vorführte. 15 Dieses Bewusstseinspostulat lässt sich im Paradigma der egologischen-Theorien nicht mehr begründen. Fichte, der durch seinen Hörer Hölderlin mit dieser Aporie vertraut gemacht wurde, versuchte das egologische-Konzept zu verteidigen: »Kein Gedanke kann in uns sein außer der Tätigkeit unseres Denkens. […] Bei der Vorstellung meines Ichs ist das Denkende und Gedachte ebendasselbe – im Begriff des Ichs. Ich bin das Denkende und Gedachte«. 16

Warum sich diese Identität von Denkendem (qua Subjekt-Pol) und Gedachtem (qua Objekt-Pol) im Indexikalbegriff von »Ich« und »Selbst« manifestiert, dies muss konsequenterweise unbegründet bleiben. 17 An dieser Stelle setzen die nicht-egologischen-Theorien an. Dabei verschiebt sich der Akzent vom »Selbst« des »Selbstbewusstseins« auf die Bewusstseinsebene. Damit legt man eine Bewusstseinsebene frei, die allen Reflexionsakten, sprachlichen wie gedanklichen, a priori vorausliegt und diese fundiert. Jeder Rekurs auf einen Indexikalbegriff der ersten Person Singular lässt sich demnach als ein Reflexionsakt beschreiben, der auf eine Explikation des Postulats des präreflexiven Bewusstseins zielt. Eine derartige Argumentation findet sich bei David Hume, allen Romantikern (einschließlich der Schriften Friedrich Schleiermachers) sowie Jean-Paul Sartre. Mit anderen Worten: Während die egologischen-Theorien von einer Selbstbegründung von Subjektivität ausgehen, begründen die nichtegologischen-Theorien Subjektivität mit dem Phänomen von Selbstbewusstsein. Im Folgenden versuche ich den Beleg zu erbringen, dass – gegen die Interpretation von Dieter Henrich – auch Søren Kierkegaard eine nicht-egologische-Theorie vertritt.

Vgl. Henrich, Dieter, »Fichtes ursprüngliche Einsicht«, in: Subjektivität und Metaphysik (FS für Wolfgang Cramer), Suhrkamp, hg. von Dieter Henrich und Hans Wagner, Frankfurt am Main 1966, S. 188–232. 16 Fichte, Johann Gottlieb, »Wissenschaftslehre nova methodo«, in: Gesamtausgabe der Bayrischen Akademie der Wissenschaften, hg. von Reinhard Lauth, Hans Gliwitzky, Reihe IV, Bd. 2, S. 28–32, hier: 29 (= GA IV/2, 29). 17 Fichte, der diese Kritik Hölderlins kannte, versuchte im Folgenden die Konstitution des Ich als Tathandlung zu fassen und somit als performativen Akt zu deuten. 15

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2.

Die These: Kierkegaards reflexives und präreflexives Selbst

In seinem unpublizierten Aufsatz Selbstsein und Bewußtsein (1971) ordnet Dieter Henrich, wenngleich auch zögerlich, Kierkegaards Selbst den egologischen-Theorien zu: »Die synthetische Verfassung des Bewußtseins konnte nicht mehr so verstanden werden, wie Kant sie – scharfsinnig und folgenreich – analysiert hatte: Als geordnete Mannigfaltigkeit, die dem Prozeß einer Zusammennahme unverbundener Elemente nach Regeln der Zusammensetzung entstammt. Jeder solcher Akt der Synthesis hält sich vielmehr in einem Bezugssystem, dessen Struktur wohl angegeben, gelegentlich auch in Entstehen erfahren werden kann, aber nicht als geregelte Erzeugung durch eine Aktivität, sondern im Gegenteil als ein Prozeß des Auftauchens bereits strukturierter Mannigfaltigkeit. … An diesem Umstand würde [… das egologische] Modell scheitern, das die Beziehung von Selbstsein und Bewußtsein beschreiben soll. Von niemanden ist es ohne Zweideutigkeit vorgeschlagen worden. Aber man kann sagen, daß Kierkegaard ihm am nächsten kommt«. 18

Diese Einschätzung von Dieter Henrich trifft m. E. nur bedingt zu. Bedingt deshalb, weil Kierkegaard in seiner Schrift Die Krankheit zum Tode (1849) gleich zwei Selbst-Begriffe entwickelt. Der erste Selbstbegriff entspricht dem egologischen-Modell und wird als aporetisch widerlegt. Der zweite Selbstbegriff verfährt gemäß dem nichtegologischen-Modell und ist folglich in der Lage, die Aporie des ersten Selbstbegriffs zu überwinden. Kierkegaard führt zunächst mit »Mensch«, »Geist« und »Selbst« drei unterschiedliche Termini zur Konstruktion von Subjektivität ein: »Der Mensch ist Geist. Aber was ist Geist? Geist ist das Selbst. Aber was ist das Selbst«? 19 Der erste Eindruck, Kierkegaard bestimmte die Begriffe von »Mensch«, »Geist« und »Selbst« als Synonyme, lässt Henrich, Dieter, »Selbstsein und Bewußtsein«, unpublizierter Aufsatz 1971, (Nachdruck im e-journal Philosophie der Psychologie 2007, online im WWW unter http://www.jp.philo.at/texte/HenrichD1.pdf (Stand: 15. März 2017). 19 Die Zitation Kierkegaards wird zweisprachig angegeben: Zunächst wird die Stelle gemäß den von Bent Rohde, Niels Jørgen Cappelørn, Joakim Garff, Johnny Kondrup, Tonny Aagaard Olesen und Steen Tullberg im Gads Forlag besorgten 28 Bände umfassenden Søren Kierkegaards Skrifter (1997 ff.) im dänischen Original zitiert. Sodann wird die deutsche Übersetzung gemäß der bei Eugen Diederichs in 36 Abteilungen erschienenen und von Emanuel Hirsch, Hans Martin Junghans und Hayo Gerdes (1950 ff.) verantworteten Gesamtausgabe angeführt. Bei der deutschen Übersetzung wird ein Sigel mit der jeweiligen Seitenzahl angegeben. – SKS, 11,129 / KT, 8. 18

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sich durch einen genaueren, zweiten Blick nicht stützen. Die semantischen Nischen, die sich zwischen den Termini auftun, markieren dabei nicht die gemeinsame Referenzmarke, auf die man sich bezieht, sondern die unterschiedlichen Einstiegspunkte. An dieser Stelle benötigt man eine älteres Fragment, um mit »Geist« die erste Instanz in der Kierkegaard’schen Trinität näher auszuleuchten. Es handelt sich um den Text De omnibus dubitandum est (1843), in dem Kierkegaard den »Geist« als die kognitive Fakultät des Menschen definiert, die in der Tradition für gewöhnlich unter dem Etikett »Vernunft« inseriert. In den Fokus rückt dabei § 1, der mit der Frage »Wie die Existenz beschaffen sein muß, damit das Zweifeln möglich werde?« betitelt ist. 20 Kierkegaard behandelt die titelprägende Fragestellung an zwei antagonistischen Bewusstseinsformen, nämlich jenen der Unmittelbarkeit und der Mittelbarkeit: »Die Unmittelbarkeit ist eben die Unbestimmtheit. In der Unmittelbarkeit ist keine Beziehung; denn sobald die Beziehung vorhanden ist, ist die Unmittelbarkeit aufgehoben […, sodass gilt:] Unmittelbar ist […] alles wahr, aber diese Wahrheit ist im nächsten Augenblick Unwahrheit«. 21

Die unmittelbare Bewusstseinsform korrespondiert dabei der Realität, da diese weder in sensuell affizierter noch begrifflich reflektierter Form vorliegt. Die mittelbare Bewusstseinsform hingegen korrespondiert der Sprache, da man dabei eine Instanz einzieht, die erst eine mediale Vermittlung gewährleistet. In Abgrenzung zum Begriff der Realität bedient Kierkegaard dafür den Terminus der Idealität. Erst in der Idealität liegt die Möglichkeit einer Kriteriologie vor, wie sie durch die Sprache repräsentiert wird. Denn die Idealität ermöglicht eine Reflexion, d. h. die Möglichkeit einer Verhältnisbildung. Diese weist aber keine dichotomische, sondern eine trichotomische Struktur auf. Mit den Worten Kierkegaards: »Denn wenn ich sage: ›Ich werde mir dieses Sinneseindrucks bewußt‹, so sage ich eine Dreiheit«. 22 Das Bewusstsein operiert stets mit der Reflexion, die einen Sinneseindruck nicht einfachhin erfasst, sondern diesen immer zugleich auch mit dessen Gegenteil konfrontiert. Diese Dichotomie erfasst nun der Geist. Die durch die Dichotomie eingezogene Differenz lässt sich als Interessensstruktur identifizieren. Dabei wird »Interesse

20 21 22

SKS, 15,53–15,59 / DO, 153–159. SKS, 15,54 / DO, 154. SKS, 15,56 / DO, 156.

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[…] ausdrücklich zweifach verstanden [… :] Als Beschreibung der notwendigen Beziehung von Realität und Idealität, die das Bewußtsein selber ist, [also] als Zwischen-Sein […, aber] auch [in] Bezug auf einen Sich-Interessierenden, so wie Bewußtsein bzw. Geist Bezug auf einen Dritten«. 23 Zur Konstruktion des Selbst als eine abgeleitete Identität bevorzugen wir die zweite Bedeutung des Interesse-Begriffs. Denn wie man sich in den Dichotomien und damit jeweils zwischen den beiden einander exkludierenden Polen positioniert, markiert die konkreten Interessenskonstellationen. Das Selbst des Menschen lässt sich nunmehr in einem ersten Schritt als die Summe dieser Interessen identifizieren. Mit Kierkegaard gesprochen: »Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder ist das im Verhältnis, daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält; das Selbst ist nicht das Verhältnis, sondern daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält«. 24

Das Selbst wird in Form eines Zirkelschlusses, als Akt einer radikalen Selbstbezüglichkeit, vorgestellt. Das eingangs als Selbstverhältnis identifizierte Selbst soll dabei in Form von ad infinitum laufenden Selbstreflexionen sich selbst erfassen. Ein solches Vorgehen entspricht allerdings einer aporetischen Begründungsform gemäß dem »Münchhausen-Trilemma«: Dabei strebt die Begründung entweder nach außen und steuert auf einen infiniten Regress zu oder wendet sich nach innen und bildet somit einen logischen Zirkel aus oder bricht drittens den Argumentationsgang in Form einer Dezision gänzlich ab. 25 Folgt man diesem Selbst-Begriff, so wird der Mensch als Synthese bestimmt: »Der Mensch ist eine Synthese [… und] eine Synthese ist ein Verhältnis zwischen Zweien«. 26 Damit ist der erste Selbst-Begriff umrissen. Es handelt sich um ein egologisches-Modell, da die Bestimmung des Subjekts nicht vom Bewusstseinsphänomen her einsetzt, sondern vom Indexikalbegriff des Selbst seinen Ausgang nimmt. Solange ich aber mit dem Indexikalbegriff beginne, solange verstricke ich mich entweder in ad infinitum laufende Verhältnisstrukturen oder ich breche (wie wir es bei Fichte sahen) den Reflexionsprozess in Form einer Dezision ab. Beide Auswege entsprechen Schmidinger, Heinrich, Das Problem des Interesses und die Philosophie Sören Kierkegaards (Symposion 67), Karl Alber, Freiburg im Breisgau 1983, S. 215. 24 SKS, 11,129 / KT, 8. 25 Vgl. Albert, Hans, Traktat über kritische Vernunft, Mohr Siebeck, Tübingen 21969, S. 13. 26 SKS, 11,129 / KT, 8. 23

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Formen des »Münchhausen-Dilemmas«. Dieter Henrich schien diesen Selbst-Begriff vor Augen zu haben, wenn er Kierkegaard zu den egologischen-Theorien zählt. Kierkegaard erkannte die Aporetik dieses Selbstmodells und konfrontierte es mit einem nicht-egologischen Gegenentwurf: »So betrachtet ist der Mensch noch kein Selbst. [… Denn] ein solches Verhältnis, das sich [positiv] zu sich selbst verhält, ein Selbst, muß sich entweder selbst gesetzt haben oder durch ein Anderes gesetzt worden sein«. 27 Kierkegaard entscheidet sich für die zweite Variante, wenn er am Ende der Passage den Selbst-Begriff als ein »Sich-zu-sich-selbst-Verhalten« gepaart mit einem »Es-selbst-sein-Wollen« definiert, wobei sich das Selbst durchsichtig in der Macht, die es setzt, gründet. 28 Ich fasse zusammen: Innerhalb der Anfangspassage gebraucht Kierkegaard den Begriff des Verhältnisses für drei voneinander abweichende Konstellationen. Eine Unterscheidung dieser Verhältnistypen soll bei der Begründung von Kierkegaards These helfen. Wie sehen diese drei Verhältnisse aus? Ich stelle die drei Typen kurz vor und versuche sie dabei zu systematisieren: Der erste Typ beschreibt ein Verhältnis in Form einer Relation zwischen zwei Polen. Augenscheinlich hat Kierkegaard dabei das dichotomische, d. h. unbewusste Verhältnis vor Augen. Es handelt sich um ein negatives Verhältnis, das die Pole in Form einer Antinomie zueinander ins Verhältnis setzt, ohne dabei eine bewusste Bezugnahme auf das Verbindende zu leisten. Umgelegt auf den Menschen, entspricht es dessen anthropologischer Bestimmung: Es geht um eine Relationierung eines Seienden »zwischen Unendlichkeit und Endlichkeit, Zeitlichem und Ewigem, Freiheit und Notwendigkeit.« 29 Dabei wird der Mensch als das Seiende definiert, dessen Parameter einer bestimmten Konfiguration entspricht. Der zweite Typ bezieht sich auf ein Verhältnis im Sinn eines Zwischenseins, also als Ambiguität zwischen diesen beiden Polen. Bei diesem zweiten Verhältnistyp handelt es sich offenkundig um ein trichotomisches, d. h. bewusstes Verhältnis. Es geht um ein positives Verhältnis, das sich zwischen den Polen als Interesse positioniert und sich auf diese Weise seiner selbst bewusst ist. Beide Typen folgen dem reflexiven Selbst. Gemeinsam mit Fichte beschreiben sie ein Verhältnis im Sinn eines Repräsentationsmodelles. Mit diesen Metho27 28 29

SKS, 11,129 / KT, 9. SKS, 11,130 / KT, 10. SKS, 11,129 / KT, 8.

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den, so Kierkegaards Einwand, lässt sich aber nicht der eigene Grund einholen. Vor diesem Hintergrund spricht sich Kierkegaard für einen dritten Typen aus, nämlich ein Verhältnis im Sinn eines Verhaltens zu seinem eigenen Grund. Damit ist Kierkegaards Kritik an Fichtes Tathandlung hinreichend umrissen: Zwar vermag Fichte mit seiner Tathandlung das handelnde Selbst eines Menschen zu beschreiben, nicht allerdings kann er begründen, wie dieses sich zu seinem Grund verhält, der es ins Sein setzt. Während die beiden ersten Verhältnistypen, respektive Fichtes Tathandlung, in der Zeit stehen und auf das Sosein gerichtet sind, thematisiert der dritte Verhältnistypus das Sein. Sein »Ich«

t1

t2

=

t3

»Ich«

t4

t5

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Sein

Gesagtes lässt sich mit Manfred Franks Unterscheidung eines egologischen und eines nicht-egologischen Selbst in Übereinstimmung bringen.

8 > > > >
> > > :

1) Verhältnis im Sinn einer Relation zwischen zwei Polen

3) Verhältnis im Sinn eines Verhaltens zu seinem eigenen Grund

egologisches Selbst

nicht-egologisches Selbst

Im Folgenden versuche ich zu zeigen, dass die ästhetische und ethische Existenzform gemäß dem egologischen Selbst erfolgt und somit an den beiden ersten Verhältnistypen orientiert ist. Die religiöse Existenzform, die Kierkegaard in seinen Abschließende unwissenschaftlichen Nachschriften (1846) nochmals in Religiosität A und Religiosität B unterteilt, markiert den Sprung in den Glauben.

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3.

Die Ausformung: Ästhetische und ethische Existenzform

3.1. Ästhetische Existenzform Ein Mensch »ist zum einen auf die […] Natur, zum anderen jedoch, sofern es sich um ein menschliche[s] Individu[um] handelt, auf das Selbst, das sich im Selbstverhältnis der existierenden Person geschichtlich je konkretisiert«, zurückzuführen. 30 Der Ästhetiker beschränkt sich ganz auf seine Natur und widmet sich seinen Bedürfnissen. Damit entspricht er seinem Naturwesen, wonach er ganz auf »bestimmte Bedürfnisse, die zu befriedigen er nicht umhin kommt« und die sein »materielles Apriori« bilden, bezogen bleibt. 31 In diesem Sinn nimmt Kierkegaard »ästhetisch« im Wortsinn des griechischen Substantivs αἴσθησις auf, in dem die beiden Bedeutungen, »Wahrnehmung der Welt durch die Sinne« einerseits und »handwerklichkünstlerisches Eingreifen in das welthafte Geschehen zwecks Befriedigung der natürlichen Bedürfnisse« andererseits, noch eng miteinander verknüpft sind. 32 Demnach steht die ästhetische Lebensform bei Kierkegaard grundsätzlich für keine moralisch anrüchige Lebensweise. Vielmehr bildet sie die Basis einer jeden Lebensform, da sie auf die Bedürfnisse des menschlichen Individuums als natürlichem Organismus reflektiert. Das eigentliche Problem entsteht erst dann, wenn man auf diesem Wege versucht, ein Selbst auszubilden. Denn aus der Befriedigung der natürlichen Bedürfnisse lässt sich kein Sinn ableiten. Dies ist eine notwendige, keinesfalls allerdings eine hinreichende Bedingung, um ein Selbst zu sein. In seiner populärsten Schrift Entweder/Oder (1843) widmet sich Kierkegaard eingehend der literarischen Ausgestaltung der ästhetischen Lebensform. Im ersten Abschnitt, dem sogenannten Diapsalmata, nähert er sich fragmentarisch der ästhetischen Sinnsuche: »Meine Betrachtung des Lebens ist ganz und gar ohne Sinn. Ich nehme an, ein böser Geist hat ein Paar Brillen mir auf die Nase gesetzt, dessen eines Glas in ungeheuerlichen Maßstäben vergrößert, dessen andres Glas im gleichen Maßstab verkleinert«. 33

30 31 32 33

Pieper, Annemarie, Søren Kierkegaard, C. H. Beck, München 2010, S. 60. Ebd. S. 62. Ebd. S. 62. SKS, 2,33 / EO I, 25.

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Dabei nimmt er eine dezidiert pessimistische Haltung ein: »Was wird geschehen? Was wird die Zukunft bringen? Ich weiß es nicht, ich ahne nichts. Wenn eine Spinne von einem festen Punkt sich herniederstürzt in ihre notwendigen Folgen, so sieht sie fort und fort vor sich einen leeren Raum, in dem es ihr unmöglich ist, festen Fuß zu fassen, und wenn sie sich noch so sehr spreizte. Ebenso ergeht es mir; nach vorne fort und fort ein leerer Raum, und was mich vorwärts treibt, ist eine Folgerichtigkeit, die hinter mir liegt. Dies Leben ist nach rückwärts gekehrt und grauenhaft, nicht auszuhalten.« 34

Den zweiten Abschnitt bildet Kierkegaards Mozart-Interpretation. Dazu greift er auf unterschiedlichen Figuren aus Mozartopern zurück, um Stufen einer reflexiven Bearbeitung des Lebenssinns innerhalb der ästhetischen Lebensform zu verdeutlichen. Der Page Cherubino aus Mozarts Figaro bildet das erste Stadium, in dem sich das Begehren noch keinem konkreten Objekt zugeordnet weiß. Es scheint »noch nicht erwacht […,] sondern nur geahnt, ersehnt, erträumt« zu sein. 35 So beschreibt Kierkegaard diesen Begehrens-Zustand mit den Worten: »Dieses Gewecktwerden, mit dem das Begehren erwacht, diese Erschütterung scheidet das Begehren und den Gegenstand, gibt dem Begehren einen Gegenstand. Dies ist eine dialektische Bestimmung, die man scharf festzuhalten hat: erst, indem das Begehren ist, ist der Gegenstand; das Begehren und der Gegenstand sind ein Zwillingspaar, von dem das eine Teil auch nicht den Bruchteil eines Augenblicks vor dem andern zur Welt kommt«. 36

Das dritte Stadium zeigt sich in der Figur des Don Juan aus Mozarts Oper Don Giovanni. Dieser ist »sich seiner selbst als eines Begehrenden nicht nur bewußt, sondern er bejaht sich auch bedingungslos« als ein solcher. 37 Dabei ist das Begehren nicht einem bestimmten Objekt zugeordnet, sondern zelebriert sich gleichsam selbst. Denn »Don Juan begehrt nicht wie Cherubino […] unbestimmt ›androgynisch‹, er begehrt auch nicht wie Papageno eine bestimmte Frau [, … sondern er] begehrt das Weibliche schlechthin«. 38 So setzt Don Juan »seine qualitative Vorstellung von Liebe quantitativ« um. 39 Kierkegaard be34 35 36 37 38 39

SKS, 2,33 / EO I, 25. A. Pieper, Søren Kierkegaard, S. 64. SKS, 2,85 / EO I, 85. A. Pieper, Søren Kierkegaard, S. 64. Ebd. 64. Ebd. 65.

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zeichnet ihn als »die Inkarnation (Einfleischung) des Fleisches oder die Begeisterung des Fleisches aus des Fleisches eigenem Geist«. 40 Dadurch zeigt sich die radikale Fixierung auf den jeweiligen Augenblick: »Sie sehen und sie lieben ist Eins, dies ist im Augenblick so, und im gleichen Augenblick ist alles vorüber, und das Gleiche wiederholt sich ins Unendliche«. 41 Damit reduziert Don Juan die Liebe auf bloße Sinnlichkeit und führt die erotische Dimension als Spielart der Liebe ein. Es »offenbart sich die reine Logik des Begehrens, die sich an ihrer eigenen Dynamik zu entzünden weiß […, was] Reflexionslosigkeit, aber nicht Bewußtlosigkeit« meint. 42 Diese Sinnlichkeit ist auf das Objekt der Weiblichkeit schlechthin gerichtet, sodass »es keinen bestimmten Gegenstand« gibt und damit eine »Reziprozität der Gefühle – Liebe – unmöglich« wird. 43 Die Begierde bleibt im Augenblick verhaftet und lässt sich nur mehr quantitativ steigern. Damit ist aber der Höhepunkt der ästhetischen Lebensform noch nicht erreicht. Im dritten Abschnitt, dem Tagebuch des Verführers, entwirft Kierkegaard die Figur eines »intensiven Verführers«, dem er Don Juan als Prototypen eines »extensiven Verführers« gegenüberstellt. Dabei wird »der [Erstere …] nicht so dargestellt, daß er mit einem Schlag in den Besitz seines Gegenstandes gelangt, er ist der reflektierte Verführer […, der sich mit] Falschheit [… und] Hinterlist … in ein Mädchenherz einzuschmeicheln weiß, die Herrschaft, die er sich darüber zu verschaffen weiß, die heimtückische, planmäßige Schritt für Schritt voranschreitende Verführung«. 44 So erzielt er einen dreifachen Genuss: »Erstens die Freude an seinen Listen, mittels welchen er das Mädchen in sich verliebt macht […]; zweitens die Lust der wirklich vollzogenen sexuellen Vereinigung; drittens die im Rückblick auf die gelungene Verführung sich einstellende Befriedigung«. 45 Im Stil von Tagebucheinträgen eines Johannes und Briefkorrespondenzen mit dessen Geliebter Cordelia liefert Kierkegaard eine eingehende literarische Darstellung dieses Prozesses. Er erzählt darin eine Geschichte von der Eroberung, die ein junger Mann unternimmt. Der Horizont

SKS, 2,93 / EO I, 94. SKS, 2,99 / EO I, 101. 42 Liessmann, Konrad Paul, Ästhetik der Verführung. Kierkegaards Konstruktion der Erotik aus dem Geist der Kunst, Anton Hain, Frankfurt am Main 1991, S. 38. 43 Ebd. S. 39. 44 SKS, 2,111 / EO I, 115. 45 A. Pieper, Søren Kierkegaard, S. 65. 40 41

48 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

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der Erzählung reicht ausgehend von der ersten Begegnung über die Verlobung bis hin zur Trennung. So stellt »der Verführer […] durch einen Willensakt, der eigentlich eine Wahl ist, ein Machtgefälle her – denn die Gewählte weiß nicht, daß sie sich in einer Situation befand, in der sie gewählt werden konnte und auch gewählt wurde«. 46 Dabei zielt die Begierde des Verführers nicht auf das Mädchen als Objekt, sondern auf die Reflexion der eigenen Gefühle im Akt des Eroberns, Begehrens und wieder Loslassens. Denn »das reflektierte Verhältnis zu einem Mädchen kann interessant sein – das Mädchen selbst darf [allerdings] nicht interessant sein«. 47 Darin zeichnet sich auch der Unterschied zwischen einem »extensiven« und einem »intensiven« Verführer ab. Kierkegaard beschreibt dies wie folgt: »Die meisten genießen ein Mädchen wie sie ein Glas Champagner genießen, in einem schäumenden Augenblick, nun ja, das ist ganz schön, und bei manchem jungen Mädchen ist es wohl auch das Höchste, dazu man es bringen kann; hier aber ist mehr. […] Je mehr Hingebung man in der Liebe aufwecken kann, umso interessanter wird es. […] Wenn man es dahin bringen kann, daß ein Mädchen für seine Freiheit nur ein einzige Aufgabe sieht; nämlich die, sich hinzugeben, daß sie ihre ganze Seligkeit darin findet und empfindet, daß sie sich diese Hingabe nahezu erbettelt und dennoch frei ist, dann erst ist da Genuß«. 48

Während der »extensive Verführer« ein Mädchen gleich einem Glas Champagner genießt und dabei die Steigerung des Genusses mit der Steigerung der Zahl verknüpft, bemüht sich der »intensive Verführer« um eine Reflexion dieses Aktes, sodass er den Genuss aus unterschiedlichen Perspektiven auskosten kann. So genießt der eine die Frauen und der andere genießt das Genießen. Dazu versucht er, die Erwählte derart zu beeinflussen, »daß sie ihn [selbst] zum Objekt ihrer uneingeschränkten Begierde macht« und somit »der Verführer zum Verführten und die Verführte zur Verführerin wird«. 49 Aber auch in dieser Verfeinerung bleibt der Ästhetiker ganz auf seine Natur fokussiert.

46 47 48 49

K. P. Liessmann, Ästhetik der Verführung, S. 58. Ebd. 60. SKS, 2,331 / EO I, 368. K. P. Liessmann, Ästhetik der Verführung, S. 76 f.

49 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

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3.2. Ethische Existenzform Genauso wie sich die Steigerung des Genusses innerhalb der ästhetischen Lebensform als Zunahme der Reflexivität dargestellt hatte, genauso lässt sich die ästhetische Lebensform im Ganzen überwinden: »Mein Entweder/Oder bezeichnet zuallernächst nicht die Wahl zwischen Gut und Böse, es bezeichnet jene Wahl, mit der man Gut und Böse wählt, oder Gut und Böse abtut. Die Frage geht hier darum, unter welchen Bestimmungen man das ganze Dasein betrachten und selber leben will. [… Das] Ästhetische ist nicht das Böse, sondern die Indifferenz, und deshalb habe ich ja gesagt, daß das Ethische die Wahl gründet. […] Hier siehst du abermals, wie wichtig es ist, daß da gewählt werde, und daß es nicht so sehr auf die Überlegung ankommt als vielmehr auf die Taufe des Willens, welche diesen in das Ethische aufnimmt«. 50

Die ethische Lebensform entwickelt Kierkegaard in Abgrenzung zur ästhetischen Existenz: »Das Ästhetische in einem Menschen ist das, dadurch er unmittelbar das ist, was er ist; das Ethische ist das, dadurch er das wird, was er wird«. 51 So ist der Ästhetiker auf den gegenwärtigen Augenblick fixiert, den er unmittelbar über die Sinne wahrnimmt. Folglich versteht er moralische Ansprüche als präskriptiv, die ein bestimmtes Verhalten als verbindlich diktiert. Dies entspricht einer freiwilligen Einschränkung der eigenen Freiheit. Indem man sich von sich aus an bestimmte moralische Vorschriften bindet, beschränkt man sich immer auch zugleich auf ein vorgefertigtes Verhaltensmuster. Denn Personen, die in der ästhetischen Lebensform verhaftet sind, verwechseln Willkürfreiheit mit ethischer Freiheit und geben prima facie einem dezisionistischen Zustand von beliebigen Tun- und Lassenkönnen gegenüber einem Zustand moralischer Selbstbestimmung den Vorzug. Die Aufforderung, sein Leben gemäß einem moralischen Leitgedanken zu gestalten, stößt dabei auf Ablehnung. Denn ebendies wird als Einschränkung der eigenen Freiheit missverstanden. Allerdings ist der Ästhetiker dabei nicht in der Lage zu erkennen, dass »die Freiheit, die er so überaus hochschätzt, […] sich nämlich bei genauer Hinsicht als Unfreiheit« enttarnt. 52 Die Unfreiheit besteht gerade darin, dass der Ästhetiker zwar auf eine Wahlfreiheit rekurriert, diese allerdings vollständig von seinen Sinnen ab50 51 52

SKS, 3,165 / EO II, 180. SKS, 3,174 / EO II, 190. A. Pieper, Søren Kierkegaard, S. 72.

50 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

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hängig macht. Deswegen handelt es sich um Willkürfreiheit, da diese Freiheit der Willkür der menschlichen Natur geschuldet ist. Aber auch die ethische Existenz orientiert sich an einer fremden Größe. Zwar abstrahiert der Ethiker sinnliche durch ideelle Bedürfnisse, doch bleibt die Logik dieselbe. Ästhetiker und Ethiker orientieren ihr Leben gemäß einem fremden Ideal.

4.

Die Pointe: Der Sprung in den Glauben

4.1 Religiosität A: Grenze des Ethischen Erst im religiösen Existenzstadium entwickelt der Mensch ein Bewusstsein seiner Fremdbestimmung. Davon ist ein serener Don Juan ebenso wie ein mürrischer Biedermann betroffen. Dieses Bewusstsein ereilt einen Menschen in Religiosität A, also jener Existenzform, die den Höhepunkt des ethischen Stadiums markiert. Religiosität A wird als die immanente Religion vorgestellt, weil sich in diesem existenziellen Stadium ein Selbst als defizitär erfährt. Besagte Defizienz artikuliert sich in Form von Resignation sowie Leid- und Schulderfahrungen. Diese Erfahrungen konfrontieren ein Selbst mit seiner Kontingenz und führen ihm vor Augen, dass sowohl die ästhetische als auch ethische Lebensführung bedingt ist. Indem das ethische Selbst sein Leben unter die Auspizien einer Leitidee stellt, versucht es nicht nur, diese zu verwirklichen, sondern dadurch zugleich sein eigenes Leben aus der Faktizität des Daseins zu befreien und zu sublimieren. In diesem Sinn stellt der Ethiker sein Leben in den Dienst einer höheren Sache. Vordergründig erscheint es als gleichgültig, in welche Richtung diese Leitidee ausbuchstabiert wird. Ob ethische Forderungen, politische Prinzipien oder religiöse Gebote, es handelt sich, so unterschiedlich die inhaltliche Nuancierung auch ausfallen mag, lediglich um Variablen in einer Gleichung. 53 Was bedeutet das nun für die Konstitution des Selbst aus Die Krankheit zum Tode (1849)? Ich fasse zusammen: Die ästhetische,

Diese arbeitet Kierkegaard in seiner Schrift Furcht und Zittern (1843) als Unterscheidung von »tragischem Held« versus »Ritter des Glaubens« heraus. – Vgl. Viertbauer, Klaus, Gott am Grund des Bewusstseins? Skizzen einer präreflexiven Interpretation von Kierkegaards Selbst (ratio fidei 61), Friedrich Pustet, Regensburg 2017, Kap. 7.

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ethische und religiöse Existenzform korrespondieren, so meine These, unisono mit dem Selbstmodell 1. Denn beim Selbstmodell 1 wird die Provenienz der Selbstdefinition, gemäß der sich ein Mensch selbst zum Gegenstand der Reflexion erhebt, direkt aus dem eigenen Handeln abgeleitet. Verfährt man auf diese Weise, verstrickt man sich unvermeidlich in die Regresse der klassischen Subjekt-Objekt-Dichotomie: Das Selbst, das sich selbst zum Gegenstand der Reflexion erhebt, begegnet sich zweimal: einmal als Subjekt und einmal als Objekt der Reflexion. Während die Subjektstelle in der ästhetischen, ethischen und religiösen Lebensform gleich bleibt, tritt die Objektstelle in unterschiedlichen Gestalten auf. Bei diesen Gestalten handelt es sich um Interessen. Ein Interesse ist eine vom Geist initiierte Disposition, die angibt, wie sich ein Selbst zwischen unterschiedlichen Neigungen positioniert. Umgelegt auf die lebensweltlich akzentuierten Existenzformen bedeutet dies, dass das ästhetische Selbst sich vor dem Hintergrund der Befriedigung sinnlicher Bedürfnisse deutet und das ethische Selbst vor dem Hintergrund ideeller Bedürfnisse. Das ethische Selbst, das durch die bewusste Umgestaltung seiner Interessen sein Leben einer hehren Idee verschreibt, glaubt Einblick in die Verfasstheit des Menschen zu erlangen und bereits dadurch der Subjekt-Objekt-Dichotomie zu entkommen. Mit Kierkegaard lässt sich an dieser Stelle eine Demarkation einziehen: Mit der Transformation, so meine Deutung, von sinnlichen Genüssen hin zu hehren Prinzipien lässt sich die ursprüngliche Gleichung nämlich gerade nicht auflösen. Demnach befindet sich das ethische Selbst in derselben Situation wie das ästhetische. Beide laborieren an ein und derselben Subjekt-Objekt-Dichotomie. Dabei handelt es sich um die Aporie des Selbstmodells 1.

4.2 Religiosität B: Paradoxe Existenz Vor diesem Hintergrund führt Kierkegaard die Unterscheidung von Religiosität A und Religiosität B ein. Der Grund liegt – theologisch gesprochen – in Kierkegaards hamartiologischem Verständnis, gemäß welchem der Mensch stets der Sündigkeit ausgesetzt ist. Damit knüpft Kierkegaard an die lutherianische Interpretation des Sündenfalls aus Gen 3 an. Der Mensch erwirbt durch den Verzehr der verbotenen Frucht die Kompetenz, Gutes von Bösem zu unterscheiden, und verfügt damit über die Fähigkeit, sein Leben autonom, d. h. nach 52 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

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eigenen Regeln, zu gestalten. Der Mensch glaubt, sich durch den Gewinn von Autonomie von seinem Schöpfer emanzipieren zu können. In diesem Sinn verfährt das Selbstmodell 1. Es beschreibt einen Menschen, der sein Selbst durch autonomes Handeln ausbildet. Diese Handlungen können sowohl ästhetischer als auch ethischer Form sein. Dabei bemerkt der Mensch zunächst nicht, dass er in seinem autonomen Streben das Telos seiner Handlungen in einem äußeren Zweck verankert und dabei seine erlangte Freiheit wieder abtritt. Dies vermag der Mensch erst dann zu erkennen, wenn er mit dem Grund seines Daseins konfrontiert wird. Dabei handelt es sich um Grenzsituationen, die durch Krankheit, Leid sowie Todeserfahrungen ausgelöst werden. In diesen Zusammenhängen erfährt der Mensch schmerzlich, dass es sich bei seiner Autonomie nur um scheinbare Freiheit handelt. So erstreckt sich die Freiheit gerade nicht auf den Existenzgrund: Zwar ist der Mensch in der Lage, sein Sosein zu modellieren, das Sein seiner Existenz bleibt ihm aber strikt entzogen. Drastisch formuliert handelt es sich bei der Autonomie um ein Unwesen, das im Mythos von Gen 3 als Emanzipationsversuch des Menschen von Gott thematisiert wird. Theologisch gesprochen handelt es sich um die Ursünde. Die Ursünde bezieht sich auf die Sündigkeit bzw. die Disposition zur Sünde, also auf die Neigung zum Bösen, in der sich der Mensch als Gattungswesen befindet. Deshalb setzt Kierkegaard an die Stelle von Hegels Aufhebung das Paradox. Damit ist die Grenzmarke zwischen Religiosität A und Religiosität B erreicht. Das Paradox selbst bleibt dabei Element von Religiosität A. Es handelt sich um eine Kategorie, mit der die Aporetik des Menschseins nach dem Sündenfall zum Ausdruck gebracht wird. Das religiöse Selbst verstrickt sich in Paradoxien, wenn es versucht, mit Hilfe des Geistes den eigenen Grund zu bestimmen. Der eigene Grund ist somit für ein Selbst nicht mehr erreichbar. Bei Religiosität A handelt es sich folglich um eine »negative Theologie in der Weise, daß das Denken an eine Grenze kommt und sein Positum als ein Negatives erfährt.« 54 Das Positum der Religiosität A existiert zwar, liegt aber außerhalb ihrer selbst und kann vom Selbst nicht mehr reflexiv eingeholt werden.

Vetter, Helmuth, Stadien der Existenz. Eine Untersuchung zum Existenzbegriff Sören Kierkegaards, Herder, Freiburg im Breisgau 1979, S. 152.

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53 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

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4.3 Mit dem Mut der Verzweiflung: Zur Legitimierung des Sprungs in den Glauben Verkommt aber nicht spätestens damit der titelprägende »Sprung in den Glauben« zum reinen Willkürakt? Die Antwort lautet: Nein! Unter die Metapher des Sprungs wird die begründete Loslösung von der Instanz des Geistes subsumiert. Dass ein Mensch aufgrund seines Geistes ein Selbst ausbaut, ist zwar logisch gültig, aber deshalb noch lange nicht logisch wahr. Mit den Mitteln des Geistes verstrickt es sich vielmehr in Regresse und Zirkel, wie wir anhand des ästhetischen und ethischen Selbst gezeigt haben. Auf diesem Weg verzweifelt der Mensch: Zunächst lehnt er sein vorfindliches Selbstbild ab und gleicht dabei dem Beispiel eines betrunkenen Bauern, der an einem Tag soviel Geld verdiente, dass er sich in der benachbarten Stadt nicht nur neue Schuhe und Strümpfe kaufte, sondern sich obendrein ordentlich betrank. Als er dann in seinem Rausch am Rande einer schmalen Gasse lümmelte und ein Fuhrwerk passieren wollte, wachte er auf, blickte auf seine neuen Strümpfe und Schuhe, erkannte sie nicht sogleich und antwortete, auf die Aufforderung seine Beine einzuziehen: »fahr er nur zu, das sind nicht meine Beine!« 55 Sodann versucht der Mensch, wider besseres Wissen verzweifelt ein anderes Selbst auszubilden. Dabei erkennt er seine Gesetztheit, ist sich seiner Kontingenz, theologisch gesprochen: seiner Geschöpflichkeit, vollauf bewusst und trotzt dem Schöpfer, gleich einem Schreibfehler, der sich nicht ausradieren lässt: »Nein, ich will nicht ausgestrichen werden, ich will stehen bleiben als Zeugnis wider dich, ein Zeugnis davon, daß du ein mäßiger Schriftsteller bist.« 56 Einzig mit dem Mut der Verzweiflung gelingt es einem Menschen – so Kierkegaards Pointe –, sich vom Geist loszureißen und sich unmittelbar auf das Andere seines Selbst, theologisch gesprochen, auf seinen Schöpfer zu beziehen. Dies schafft ein Mensch als Sünder nicht aus eigener Kraft. Es bedarf, so der Lutheraner Kierkegaard, der Gnade. Diese wird aber in dieser Intensivität nur wenigen zuteil. 57 Dennoch ist diese Annahme notwendig. Theologisch handelt es sich um Heilige, also Vorbilder im Glauben, die ihre Existenz, also ihren Seinsgrund unmittelbar in Gott SKS, 11,169 / KT, 52. SKS 11, 187 / KT, 74. 57 Konkret attestiert Kierkegaard dies Abraham, Maria und Christus. – Vgl. dazu: K. Viertbauer, Gott am Grund des Bewußtseins?, Kap. 7 u. 8. 55 56

54 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

Mit dem Mut der Verzweiflung

und nicht in partikularen Bedürfnissen oder hehren Vorstellungen und Ideen verankern. Ihr Handeln erscheint paradox, also wider alle Erwartung zu verlaufen. Ein solcher Glaube lässt sich philosophisch nur mehr als Postulat denken. Er suspendiert den Geist, überführt die Auto- in die Theonomie, wechselt vom Selbstmodell 1 zum Selbstmodell 2 und koinzidiert folglich mit der These einer präreflexiven Selbstvertrautheit. Indes verharrt der Gläubige in aller Regel staunend über das Glaubenszeugnis der Heiligen in Religiosität A.

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Nichtigkeitsangst und Mut zum Sein Paul Tillichs Schrift »The Courage to Be« Gunther Wenz

Wovor ängstigt sich die Angst? Die präziseste Antwort auf diese Frage lautet nach Maßgabe von Paul Tillichs Schrift »The Courage to be« 1: vor nichts, vor dem Nichts. Während Furcht auf ein bestimmtes Objekt bezogen ist, bekommt es die Angst mit dem »nihil« zu tun, in dessen unbestimmtem Dunkel alles zunichte zu werden droht. Mit Tillich zu reden: »Die Angst ist der Zustand, in dem ein Seiendes der Möglichkeit seines Nichtseins gewahr wird, oder kürzer gesagt: Angst ist das existentielle Gewahrwerden des Nichtseins.« Indem das Endliche seiner Endlichkeit als solcher gewahr wird, ängstigt es sich und wird vom nihilistischen Schauder drohenden Nichtseins erfasst. Dabei kann die Frage nicht sein, ob man sich ängstigt oder nicht. Diese Alternative steht nicht zur Wahl, denn Angst ist mit dem Bewusstsein des Endlichen als eines Endlichen alternativlos verbunden. Ob diese Verbindung den Charakter einer Zwangsläufigkeit hat, die auf fatale Weise die conditio humana determiniert, um in hoffnungslose Verzweiflung oder in nicht minder hoffnungslose Hybris zu führen, oder ob existentiale Angst in jenen Mut zu transformieren ist, in welchem ein Endliches sein Endlichsein anzunehmen und zu affirmieren vermag, das ist das bewegende Problem von Tillichs gesamter Untersuchung.

Das Buch ist aus einer Vorlesungsreihe entstanden, die der infolge der nationalsozialistischen Herrschaft in die USA emigrierte Tillich vom 30. Oktober bis zum 2. November 1950 an der Yale-Universität gehalten hat: 1952 ist es in der Yale University Press auf Englisch erschienen. Diesen Urtext (»The Courage to Be«) finden Sie heute am leichtesten in der von C. H. Ratschow herausgegebenen kritischen Ausgabe der Hauptwerke Paul Tillichs (Main Works, Vol. 5, Berlin/New York 1988, 141–230). Eine deutsche Übersetzung wurde 1953 und dann wieder 1965 aufgelegt. In überarbeiteter Form liegt die erste Version der deutschen Textedition im XI. Band von Tillichs Gesammelten Werken (1969), 11–139, vor. Hiernach wird zitiert.

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Nichtigkeitsangst und Mut zum Sein

Typologie der Angst Um es nicht bei der abstrakten Behauptung der Angst als eines zeitlosen Existentials zu belassen, unterscheidet Tillich entsprechend den Formen, in denen das Nichtsein das Sein des Menschen bedroht, drei Typen der Angst, um diese sodann als Charakteristika einzelner Epochen der abendländischen Kulturgeschichte auszuweisen. Das Nichtsein bedroht zum einen die ontische Selbstbejahung des Menschen, relativ in Form des Schicksals, absolut in Form des Todes. Dieser mit dem menschlichen Bewusstsein der Sterblichkeit gegebene Haupttyp der Angst, in welchem sich das Endliche von seinem physischen Nichts bedroht weiß, ist nach Tillich kennzeichnend für die Spätantike und damit für den sozio-kulturellen Kontext des frühen Christentums. Das Nichtsein bedroht zum Zweiten die moralische Selbstbejahung des Menschen als eines die bloße Natur transzendierenden sittlichen Subjekts, relativ in Form der Schuld, absolut in Form der Verdammung. Dieser mit dem menschlichen Bewusstsein sittlicher Verkehrtheit gegebene Haupttyp der Angst, in welchem sich das Endliche von seinem moralischen Nichts bedroht wisse, sei in der mittelalterlichen Lebenswelt vorherrschend gewesen und habe auch noch das Zeitalter der Reformation bestimmt, was sich u. a. an Luthers theologischer Leitfrage »Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?« erkennen lasse. Die dritte Bedrohung des endlichen Seins durch das Nichtsein schließlich betreffe die geistige Selbstbejahung des Menschen, relativ in Form der Leere, absolut in Form der Sinnlosigkeit. Sie und der mit ihr gegebene Haupttyp der Angst sind nach Tillich in der Neuzeit und namentlich in der Spätmoderne – wir können auch sagen: Postmoderne – epochal geworden. »Die Angst vor der Sinnlosigkeit ist die Angst vor dem Verlust dessen, was uns letztlich angeht, dem Verlust eines Sinnes, der allen Sinngehalten Sinn verleiht. Diese Angst wird durch den Verlust eines geistigen Zentrums erzeugt, durch das Ausbleiben einer Antwort auf die Frage nach dem Sinn der Existenz, wie symbolisch und indirekt diese Antwort auch sein mag.« (43) Trifft diese Analyse auch heute noch zu, dann hätte unsere Zeit vornehmlich als eine Zeit der Angst vor Leere und Sinnlosigkeit zu gelten. Ich glaube, manches spricht für diese Annahme. Dabei sind in der Angst vor Leere und Sinnlosigkeit die beiden anderen Haupttypen, nämlich Todesangst und Angst vor sittlicher Verdammung, 57 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

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gewiss mit enthalten. Aber sie sind nicht ausschlaggebend oder zutreffender gesagt: Sie sind in die Angst der Sinnlosigkeit eingegangen, die in bestimmter Weise abgründiger ist als die beiden vormaligen Ängste, wobei mit Abgründigkeit weniger die Vorstellung der Tiefe als jene der Bodenlosigkeit zu assoziieren ist. Denn zeigt sich in der Todesangst noch ein vitales Interesse am eigenen Leben und seinem Erhalt, in der Angst vor Schuldverdammnis ein entwickeltes Bewusstsein des moralisch Geschuldeten, so droht in der Sinnlosigkeitsangst auch dieses beides zugrunde zu gehen und schlechterdings alles im nihilistischen Nichts aufgelöst zu werden.

Nihilismussog Das Ganze ist das Unwahre, hatte Adorno einst notiert. Ist das Ganze nicht sinnlos? Das wird heute von nicht wenigen im Blick auf ihr individuelles und gesellschaftliches Leben gefragt, und zwar trotz eines Lebensstandards, der im Weltvergleich und im Vergleich zu vorhergehenden Generationen nach wie vor mehr als beachtlich ist. Und auch wo diese Frage nicht explizit gestellt wird, ist sie in nihilistischen Zeittendenzen, in denen die verdrängte Sinnlosigkeitsangst manifest pathologische Gestalt annimmt, mehr oder minder offenkundig vorhanden. »Die pathologische Angst«, sagt Tillich, »tritt auf, wenn das Selbst nicht fähig ist, seine Angst auf sich zu nehmen.« Wo solches statthat, tritt Furcht auf, wo nichts zu fürchten ist, wohingegen waghalsige Risiken eingegangen werden, wo Vorsicht am Platze wäre; da wird eilfertig Schuld aufgedeckt, wo keine ist, und nachsichtig entschuldigt, wo offenkundig Böses ins Werk gesetzt wird; da werden schließlich – um von den pathologischen Formen der Angst vor Leere und Sinnlosigkeit zu sprechen – ideologische Festungen unbezweifelbarer Gewissheit in den Sand gesetzt, um den tragenden Grund des Verlässlichen und Bewährten mutwillig zu sprengen. Was kann angesichts solch pathologischer Ängste helfen und heilen? Nach Tillich allein der Mut, der die Angst in ihrer ontischen, moralischen und geistigen Erscheinungsform zu integrieren vermag und auf diese Weise ihre Pathologisierung verhindert. Doch wie kann solcher Mut begründet werden? Das, so meine ich, ist die wichtigste Frage, auf die wir Christen unserer heutigen Welt Antwort schulden, weil diese Frage hineinverweist in das Zentrale der christlichen Existenz. Woher den Mut nehmen, wenn die Signatur der Welt und des 58 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

Nichtigkeitsangst und Mut zum Sein

menschlichen Lebens in ihr die Angst ist? Um ein letztes Mal Paul Tillich zu referieren: Begründeten und beständigen Mut zum Sein kann nichts Seiendes, sondern nur das Sein selbst vermitteln. Wo Menschen sich ängstigen, ist daher von Gott zu reden. Ich will dies – Tillich Ihrer Eigenlektüre überlassend – mit eigenen Worten und um der gebotenen Kürze willen unter Konzentration auf drei Grundsätze tun, die unmittelbar auf die drei Hauptformen der Angst nach Maßgabe Tillich’scher Typologie bezogen sind.

Zeugnis des Christentums 1. Mut zum Sein im Sinne ontischer Selbstbejahung des Menschen, in welcher die Angst vor Schicksal und Tod überwunden ist, vermittelt der Geist der Inkarnation, wie er von dem im Menschensohne Jesus offenbaren göttlichen Vater ausgeht, der Himmel und Erde erschaffen hat. Was heißt das? Es heißt in Sonderheit dies, dass es Mut zum Sein unter der Bedingung einer vom Nichtsein bedrohten Endlichkeit nur geben kann in der Gewissheit, dass der Schöpfergott seiner endlichen Kreatur ein unvergängliches und unveräußerliches Gedächtnis gestiftet hat in ihm selbst. Die Unendlichkeit des allmächtigen Schöpfergottes ist nicht durch den Gegensatz zur Endlichkeit seiner Geschöpfe und seiner Schöpfung bestimmt, sondern erweist sich darin in ihrer göttlichen Wahrheit, dass sie das Endliche bergend umfängt. Entsprechend ist die gewisse Hoffnung, in Gott verewigt zu werden, die Voraussetzung dafür, die irdische Zeitlichkeit segnen zu können. Wo uns und unserer Zeit der Glaube entschwindet, für den der inkarnierte Jesus Christus als lebendiges Wirkzeichen einsteht, dass nämlich Gott ins Endliche eingegangen ist und selbst den Tod nicht scheute, um seiner mächtig zu werden, da verlässt uns auch der Mut zum Sein angesichts unserer endenden Endlichkeit. Das Christentum schuldet der Welt daher das beständige Weihnachtszeugnis von der Menschwerdung Gottes. 2. »Viel grosser ist schuld denn peyn, sund denn todt« (WA 10 1,718), heißt es bei Luther. Die Höllenangst schuldiger Verdammnis ist abgründiger als die Angst vor dem Grab. Um sie zu überwinden und zu einem Mut der Selbstbejahung angesichts eigener Verkehrtheit und schuldigen Versagens zu finden, bedarf es des Geistes, welcher von dem im Gekreuzigten offenbaren Gott der Gerechtigkeit und Liebe ausgeht, der uns am Kreuz trotz unserer Sündenschuld 59 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

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versöhnt hat mit sich selbst. Wo die Verkehrtheit der Sünde als Schuld wahrgenommen wird und das Bewusstsein der Schuld das Gewissen peinigt und ängstigt, da kann nur der Crucifixus helfen, in dessen Zeichen sich das ganze Christentum zusammenfasst. Wo uns und unserer Zeit der Glaube entschwindet, dessen Sakrament der gekreuzigte Gottmensch ist, dass nämlich Gott seine verlorenen Menschenkinder nicht lassen, sondern sie in die Geistgemeinschaft des Sohnes mit seinem göttlichen Vater reintegrieren will, da verlässt uns auch der Mut zum Sein angesichts unserer in der Verkehrtheit der Sünde sich selbst zugrunderichtenden Endlichkeit. Das Christentum schuldet der Welt daher das beständige Passionszeugnis vom Kreuz Jesu Christi. 3. Kein heilsames Passionswort vom Kreuz, keine weihnachtliche Frohbotschaft der Inkarnation ohne Ostern! Nur im österlichen Geiste, der sich an Pfingsten eine Kirche schafft, ist der gekreuzigte Jesus von Nazareth als der Christus lebendig, welcher – auferstanden und gen Himmel gefahren – zur Rechten Gottes sitzt und wiederkommen wird, zu richten die Lebenden und die Toten. Nur wo die eschatologische Zukunft des Gekommenen im lebendigen Geiste Osterns und Pfingstens zur Gewissheit wird, weichen die Trauergeister der vanitas, weicht der Ungeist der Sinnleere, und an die Stelle unserer Geistlosigkeit und Geistwidrigkeit tritt jene Begeisterung, welche der Glaube bedeutet, der sich – exzentrisch – auf Gott in Christus verlässt. Ohne solchen begeisterten und begeisternden Glauben, wie er von dem österlich-pfingstlichen Gottesgeist der Verherrlichung des auferstandenen Gekreuzigten ausgeht, kann es dauerhaften Mut geistiger Selbstbejahung nicht geben. Trifft es aber zu, dass unsere Zeit vor allem an der Angst vor Leere und Sinnverlust zu leiden hat, dann schulden wir Christen unserer Welt das Geistzeugnis von Ostern und Pfingsten derzeit wohl am meisten. Der in Jesus Christus in der Kraft seines Hl. Geistes offenbare Gott vermag Sinnloses und Sinnwidriges in Sinn zu transformieren und aus denjenigen, die nichts haben, solche zu machen, die alles besitzen (vgl. 2. Kor 6,10).

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Heimkehr in die Fremde – und das Schicksal des Menschen Das Drama »Le Malentendu« von Albert Camus Peter Reifenberg I. Mißverständnisse entstehen durch Fehlleistungen des Verstandes oder gar der Vernunft dann, wenn das »Vernehmen« im Kommunikationsprozeß irre läuft, dann, wenn Worte fehlinterpretiert werden, wenn das Schweigen den aufrechten Austausch blockiert. Dem Mißverstehen können Fehlhandlungen folgen, die zunächst nicht absehbar waren und sich dann fatal auswirken können, die Handelnden unsicher werden lassen, so daß Mißgunst und Mißtrauen überhand nehmen, ja die konkrete Wirklichkeit sich nur noch verzerrt und undurchschaubar darstellt. Nicht selten entfachen Kriege durch Mißverständnisse. Was aber, wenn das Mißverständnis umfassend das Dasein, ja die Existenz in ihrem Innersten bedroht und das Leben infrage stellt, wenn der Mensch verzweifelt und durch das schlecht Vernommene die Freiheit verliert und – ohne Not – sein Leben aufs Spiel setzt?

II. Albert Camus, einer der ganz Großen unter den französischen Literaten und intellektuellen Köpfen des 20. Jahrhunderts, dessen 100. Geburtstag im Jahr 2013 durch zahlreiche Tagungen begangen wurde 1, verleiht dem Mißverstehen in seinem Werk eine breite SymIm Gedenkjahr erschienen mehrere Monographien, u. a.: Radisch, Iris, Camus. Das Ideal der Einfachheit. Hamburg (Rowohlt) 2013 (= Radisch 2013); Meyer, Martin: Albert Camus. Die Freiheit leben. München (Hanser) 2013. (= Meyer, 2013); Onfray, Michel, Im Namen der Freiheit. Leben und Philosophie des Albert Camus. München (Knaus) 2013; Jung, Willi, Albert Camus oder der glückliche Sysyphos – Albert Camus ou Sysyphe heureux. Bonn (University Press) 2013; vgl. auch zu weiteren Neuerscheinungen: Altwegg, Jürg: Revolte und Revanche, in: FAZ Nr. 253 v.

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boltiefe, ja das Mißverstehen betrifft sowohl den absurden Helden Meursault im L’Étranger wie die handelnden Personen in der Tragödie »Le Malentendu«, die Camus im Kriegsjahr 1942, wenige Monate nach Erscheinen des »Étranger« unter dem direkten Eindruck der deutschen Besatzung im »Panelier«, einer historischen Burg bei Chambon-sur-Lignon parallel zum Roman »La Peste« ausarbeitet. Im Vorwort zur deutschen Ausgabe der Dramen 2 datiert Camus das Drama in das Jahr 1941 und lokalisiert es ins besetzte Frankreich: »Ich lebte damals unter dem Zwang der Umstände in den Bergen Mittelfrankreichs. Schon allein diese historische und geographische Lage genügte, um die Art Klaustrophobie zu erklären, an der ich damals litt und die sich in diesem Stück spiegelt« (Dramen, 10).

Im Oktober 1942 erscheint bei Gallimard »Le Mythe de Sisyphe«, seit Ende 1943 arbeitet Camus als Lektor bei Gallimard und beteiligt sich als Redakteur an der Zeitschrift »Combat«, die im Untergrund arbeiten muß und Sprachrohr der Résistance ist. Im Juni 1944 findet die Uraufführung des Dramas »Le Malentendu« am Pariser »Théâtre des Maturins« mit mäßigem Erfolg bei Kritik und Publikum statt. Francine Camus, die zweite Frau Camus’, hält sich noch in Algier auf, die Rolle der Martha spielt die Geliebte Camus’, Maria Casarès, die hernach auch bereitwillig das in ihrem Besitz befindliche OriginalManuskript des Stücks an den Bearbeiter der Pléiade-Ausgabe, Roger Quilliot, weitergibt (vgl. OC II, XXIII).

III. Untersuchen wir im Folgenden drei bedeutende Selbstaussagen Camus im Blick auf sein Drama: Die französische wie deutsche Druckfassung verraten etwas von der negativen Aufnahme des Stücks beim Publikum, da Camus sich einmal verdeutlichend, dann wieder verdunkelnd erklärt. Bereits im Vorwort der französischen Druckfassung des Dramas taktet Camus deutlich auf und zeichnet eine oszillierende Atmosphäre zwischen Absurdität und Revolte: 28. 10. 2013. S. 28; Radisch, Iris, »Er sagte: Hab keine Angst!«, in: Die Zeit Nr. 43 v. 17. 10. 2013. S. 55–97. Fuchs, Gotthard, Jenseits von Lästerung und Gebet, in: CIG Nr. 44 (65. Jg.) v. 8. 11. 2013. S. 505–506. 2 Vgl. Albert Camus. Dramen. Autorisierte Übersetzung aus dem Französischen von Guido G. Meister. Hamburg (Rowohlt) 1959. S. 10 f. (= Dramen).

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»Gewiß ist ›Das Mißverständnis‹ ein finsteres Stück. Es wurde 1943 (sic!) geschrieben, inmitten eines eingekreisten und besetzten Landes, weit abseits von allem, was ich liebte. Es trägt die Farben des Exils. Doch, so glaube ich, es ist kein trostloses Theaterstück. Das Unglück hat nur ein einziges Mittel, um sich selbst zu überwinden, nämlich indem es durch die Tragödie verklärt wird. ›Die Tragödie‹, so Lawrence, ›muß wie ein großer Fußtritt gegen das Unglück wirken‹. Das Mißverständnis versucht durch eine zeitgenössische Stoffsammlung die alten Themen des Schicksals wieder aufzunehmen. Das Publikum hat darüber zu entscheiden, ob diese Übertragung gelungen ist. Aber am Ende der Tragödie wäre es falsch zu glauben, daß dieses Stück für eine Unterwerfung unter das Schicksal plädierte. Im Gegenteil: Als ein Stück der Revolte könnte es eine Moral der Aufrichtigkeit freisetzen. Wenn der Mensch als solcher wiedererkannt werden will, muß man ihm einfachhin nur sagen, wer er ist. Wenn er verstummt oder wenn er sich belügt, stirbt er allein, und alles um ihn herum ist dem Unglück geweiht. Wenn er hingegen Wahres sagt, wird er ohne Zweifel sterben, aber nachdem er den anderen und sich selbst geholfen hat zu leben.« 3

Dunkel also sei das Stück und doch nicht ohne Trost, das Leben des Menschen in der Fremde vom Unglück bestimmt und zugleich mit der Möglichkeit versehen, dieses im Tragischen der Revolte auf die Weise der Verklärung überwinden zu können. Dies bestätigt Camus auch im Vorwort der deutschen Ausgabe und tröstet den Leser nach den desaströsen Erfahrungen der Uraufführung mit folgenden Worten: »Die Atmosphäre ist erstickend …, aber zu jener Zeit fiel das Atmen uns allen schwer. Dennoch stört die Düsterkeit des Stücks mich ebensosehr, wie sie das Publikum gestört hat. Um den Leser zu ermutigen, sich mit diesem Stück zu befassen, möchte ich ihm vorschlagen, einerseits Das Mißverständnis als Versuch einer modernen Tragödie zu betrachten und andererseits zuzugestehen, daß die Moral des Dramas nicht restlos negativ ist« (Dramen, 10).

Was aber verbirgt sich hinter dem Wort von der »Verklärung durch das Tragische?« Jedenfalls ist das Stück in der Folge des Mythe de Sisyphe und des Étranger eine Konfirmation des Mißverhältnisses von Mensch und Welt, die Camus im Begriff des Absurden einfängt, sowie eine radikale Absage an die Erlösungsvorstellung des ChristenIm Manuskript Bruckberger findet man »Stück mit einem Prolog und drei Akten«. Das Wort »Stück« wurde dann ausgestrichen und ersetzt durch »Tragödie«. Der Prolog setzt sich zusammen aus einem Dialog zwischen Jan und Martha »in einem kleinen Kloster von Budweiß«, (die Szenen III und IV nehmen dann diese Elemente wieder auf). (OC II, 1793; Übers. PR).

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tums, dessen Botschaft stets auf die Weise einer Negativfolie über dem Stück liegt: Nicht durch die gnadenhafte Selbstmitteilung Gottes in Jesus Christus wird das Unheil der Welt überwunden, sondern mittels der in Le Malentendu noch in den Anfängen aufkeimenden Anschauung von der Revolte gegenüber dem Unheil durch dessen Transfiguration im Tragischen der Tragödie. Immerhin leuchtet wenigstens ein Funke Positivität auf, wenn überhaupt von der Möglichkeit einer Überwindung des Unheils gesprochen wird. Der Begriff des Exils verweist stets auf Camus’ eigene biographische Befindlichkeit, auf die bedrückende Besatzung und Belagerung durch fremde Mächte, hier die deutsche Besatzungsmacht, wie auf ein Fehlen und einen Verlust von Heimat, nach der Camus ohne Unterlaß auf der Suche ist. Camus erweist sich in der französischen »Préface« wie auch im deutschen Vorwort einmal mehr als Moralist mit Aussagen von hoher Moralitätsbewandtnis: Von ideengeschichtlicher Bedeutung ist der Hinweis auf die Möglichkeit einer »Moral der Aufrichtigkeit«, ein literarischer Topos, der die französische Philosophiegeschichte des 19. Jahrhunderts wesentlich mitbestimmt (vgl. Boutroux, OlléLaprune, Blondel), der sich jedoch nicht sofort aus dem Verlauf des Dramas ableiten läßt, wie überhaupt das Dunkle, Sinnferne und Negative überwiegt. Von Trost der Selbsterkenntnis und der Verklärung durch Atmosphäre und Handlungsverlauf kann zunächst keine Rede sein. Die Ermutigung zur Aufrichtigkeit zielt zunächst auf Jan, dem Camus durchgehend messianische Züge verleiht und der durch das Schweigen sein Leben aufs Spiel setzt und es verliert, aber auch auf Martha, den Typos der im Absurden versinkenden Revoltierenden. Dann erstreckt sich die Lehraussage objektiv an die Allgemeinheit: Die Anerkennung und das Wiedererkennen des Menschen (vgl. Ricoeur) gelingt nur, wenn der Mensch sagt, wer er ist, wenn er sich authentisch zu erkennen gibt, nicht im Schweigen verharrt, nicht lügt und vielmehr dem Wahren Raum gibt. Ein zentrales Thema des Dramas bildet – wie in der Kurzgeschichte Les Muets – wiederum das Unvermögen, zum rechten Zeitpunkt das rechte Wort zu finden, das Schweigen in der Namenlosigkeit, der Mangel an Kommunikation, die, wäre sie gelungen, das Mißverständnis verhindert hätte. So läßt Camus Maria ausrufen: »Ein Wort hätte genügt« (M, 81) und kommentiert hierzu: »Denn eigentlich will das besagen, daß alles anders gekommen wäre, wenn der Sohn gesagt hätte: ›Ich bin’s, dies ist mein Name‹«. Die Bereitschaft zur einfachen Sprache ist für den Moralisten Camus eine unverzichtbare Tugend seiner Ethik der »sincérité«. 64 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

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»Er will besagen, daß der Mensch in einer ungerechten oder gleichgültigen Welt sich selbst und seine Mitmenschen erretten kann, wenn er sich an die einfachste Aufrichtigkeit, das treffendste Wort hält« (Dramen, 11). An der unbeantwortbaren Frage nach dem Letztsinn durch das einsame Sterben im Tod kommt niemand vorbei, allerdings auch nicht an der guten Tat gegenüber sich selbst und den anderen. Vielleicht mit Blick auf die Reaktion des Publikums kommentiert Camus im Vorwort zur deutschen Ausgabe auf die Weise einer das Stück rettenden Lese- und Interpretationshilfe: »Gewiß verrät es eine sehr pessimistische Auffassung des menschlichen Daseins, die aber sehr wohl mit einem gemäßigten Optimismus in Bezug auf den Menschen vereinbar ist« (Dramen, 11). Camus verlegt die Handlung in den Nordosten Europas, fern von der eigentlichen Heimat Algerien, in die Tschechoslowakei, eine Richtung, die der Südmensch Camus ohnehin verabscheut. In einem Klappentext einer Ausgabe von Le Malentendu und Caligula schreibt Camus den von ihm nicht unterzeichneten, nicht in allen Aussagen klaren Text »Prière d’insérer (1944)« / »Bitte um Einfügung« (OC II, 1744; Übers. PR): »Mit Le Malentendu und Caligula greift Albert Camus zurück auf die Technik des Theaters, um ein Denken zu präzisieren, wie es in L’Étranger und im Le Mythe de Sisyphe unter den Aspekten des Romans und des Essays Platz greift, um damit die Ausgangspunkte zu markieren. Muß man nun sagen, daß das Theater Albert Camus’ als ein ›philosophisches Theater‹ angesehen werden muß? Nein – wenn man damit fortfahren möchte, diese veraltete Form der dramatischen Kunst kenntlich zu machen, wo die Handlung unter der Schwere der Theorien erschlafft. Keines ist weniger Thesenstück als Le Malentendu, das sich einzig und allein auf der Ebene des Dramatischen bewegt und jedwede Theorie verabscheut. Keines ist dramatischer als Caligula, das seinen Reiz lediglich aus der Geschichte entleiht. Aber das Denken ist zugleich immer auch Handeln und unter dieser Hinsicht bilden diese Stücke ein Theater der Unmöglichkeit. Dank einer unmöglichen Situation (Le Malentendu) oder einer Person (Caligula) versuchen sie, den scheinbar unlösbaren Konflikten Leben einzuhauchen, welches jedes aktive Denken zunächst durchzustehen hat, bevor es zu gültigen Ergebnissen findet. Dieses Theater läßt z. B. erfahren, daß jeder einen Teil Illusionen und ein Stück Mißverständnis in sich trägt, das dazu bestimmt ist, getötet zu werden. Einfach gesagt, dieses Opfer befreit vielleicht einen anderen, besseren Teil des Individuums, welcher der der Revolte und

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der Freiheit ist. Doch um welche Freiheit handelt es sich? Caligula, von der Unmöglichkeit heimgesucht, versucht eine gewisse Freiheit zu vollziehen, von der einfachhin gesagt wird, sie sei da, um zu beenden, ›daß es das Gute nicht gibt‹. Deshalb entvölkert sich das Universum um ihn herum und die Bühne leert sich, bis er selbst stirbt. Man kann nicht frei sein gegen die anderen Menschen. Aber auf welche Weise kann man frei sein? Das wurde bisher noch nicht gesagt.«

Halten wir aus der »ipsissima vox« Camus’ noch einmal die Fakten zusammenfassend fest: Es handelt sich bei Le Maltenendu um eine dramatische und plastische, vom Mißverhältnis der Absurdität erfahrunsggetränkte Illustration und Präzisierung des Gedachten, um eine Kommentierung des Étranger und des Mythe, ohne eine eigene »Theaterphilosophie« implementieren zu wollen. Die Theorie ereignet sich als Handlung, denn diese holt jedwede abstrakte Theorie ein. Denken ist auch Handeln, Camus betont den Primat des Handelns der Unmöglichkeit vor dem Denken des Unmöglichen, zeigt das Mißverstehen auf, das jede Vernunft befällt. Es geht wesentlich um die Möglichkeit des Vollzugs von Freiheit. Gegen Caligula, aber gerade auch gegen Martha reklamiert Camus ein persönliches Freiheitsverständnis, das nicht gegen den anderen vollzogen werden kann, das aber letztlich nicht auslotbar ist. Das Stück ist Camus ein Herzensanliegen und verrät etwas von seiner Sicht auf das Theater, das für ihn kein Spiel ist, sondern Wirklichkeit, diese nicht einfachhin abbildet, sondern Wirklichkeit in seiner ganzen Breite und Unmöglichkeit selbst ist: »Ich halte das Mißverständnis auch heute noch für ein leicht zugängliches Werk, vorausgesetzt, daß man seine Sprache hinnimmt und anerkennt, daß der Autor sein eigenstes Wesen hineingelegt hat. Das Theater ist kein Spiel – dies ist meine feste Überzeugung« (Dramen, 11).

IV. Mit dem Inhalt des Dramas bezieht sich Camus auf eine Agenturmeldung vom 6. Januar 1935 4, der sowohl in »L’Écho d’Alger« als auch in der »La Dépêche algérienne« als »entsetzlicher Mord« gekennzeichnet wurde (vgl. OC II, 1788). Der Inhalt ist schnell erzählt und ohne große Dichte, nachfolgend in der vereinfachenden Form aus L’Étran4

Vgl. Meyer, Camus (2013) 330 FN. 27.

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ger. Denn im Roman zitiert Camus die ihn offenbar beeindruckende Geschichte sich selbst. Hier wird Meursault in der Todeszelle auf einem Zeitungsblatt den obskuren Vorfall immer und immer wieder lesen, den Camus in unverwechselbar karger und schlichter Sprache, mit einfachen, unprätentiösen Worten dem Fremden in den Mund legt: »Zwischen Strohsack und Pritsche hatte ich … ein altes Stück Zeitung gefunden, das fest am Stoff klebte, vergilbt und durchsichtig war. Es berichtete von einem Ereignis, … das sich in der Tschechoslowakei zugetragen haben mußte. Ein Mann hatte sein tschechisches Dorf verlassen, um sein Glück zu machen. Nach fünfundzwanzig Jahren war er als reicher Mann mit Frau und Kind zurückgekommen. Seine Mutter betrieb mit seiner Schwester in seinem Heimatdorf einen Gasthof. Um sie zu überraschen, hatte er Frau und Kind in einem anderen Gasthaus untergebracht und war zu seiner Mutter gegangen, die ihn nicht erkannte. Aus Jux verfiel er auf den Gedanken, in dem Gasthaus ein Zimmer zu mieten. Er hatte sein Geld gezeigt. In der Nacht hatten Mutter und Schwester ihn mit Hammerschlägen ermordet, um ihn auszurauben, und hatten die Leiche in den Fluß geworfen. Am Morgen war die Frau gekommen und hatte ganz ohne Absicht verraten, wer der Reisende war. Die Mutter hatte sich erhängt. Die Schwester hatte sich in einen Brunnen gestürzt. Ich las die Geschichte wohl tausendmal. Einerseits war sie unwahrscheinlich, andererseits aber ganz natürlich. Jedenfalls war ich der Meinung, daß der Reisende sein Los in gewisser Weise verdient hatte; denn solche Scherze macht man nicht« (F, 80 f.).

Kafkaesk und unprätentiös faßt Camus im Vorwort der »Dramen« den Inhalt des Dramas in nur einen Satz: »Ein Sohn, der erkannt werden will, ohne seinen Namen nennen zu müssen, und der infolge eines Mißverständnisses von Mutter und Schwester umgebracht wird – das ist das Thema des Stücks« (Dramen, 10 f.). Das Drama, das auch als groß angelegte Parabel gelesen werden kann, entspinnt freilich den Verlauf in drei Akten (I. Akt: Jans Rückkehr; II. Akt: Jans Ermordung; III. Akt: Die Entdeckung des Mißverständnisses) wesentlich filigraner. Durch die Einführung des alten Hausdieners im Stück besetzt Camus die Schlüsselrolle eines »Deus ex machina«, die in ihrer Bedeutung gar nicht hoch genug angesetzt werden kann. Im Vorwort zur deutschen Ausgabe flacht Camus allerdings wiederum dessen Bedeutung ab und justiert ihn einerseits in die charakterliche Richtung der Gleichgültigkeit Meursaults, andererseits hin auf die letztliche Einsamkeit jedes Menschen in Schmerz und Leid: »Was nun die Gestalt des alten Knechts betrifft, so verkör67 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

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pert er nicht unbedingt das Schicksal«. 5 Als die Überlebende dieser Tragödie Gott anruft, gibt der Knecht ihr Antwort. Aber das ist vielleicht nur ein zusätzliches Mißverständnis. Und sein »Nein« auf ihre Bitte um Hilfe bedeutet einzig, daß er in der Tat nicht die Absicht hat, ihr zu helfen, und daß von einem bestimmten Grad des Leidens oder der Ungerechtigkeit an kein Mensch mehr etwas für den anderen vermag und der Schmerz einsam ist (Dramen, 11). Doch hinter allen handelnden Personen verbirgt sich eine tiefe dramatische Auseinandersetzung zwischen dem für Camus nicht existierenden Gott in Form des die Unmöglichkeit vertretenden Schicksals, zwischen Leben und Tod, von Lebenswelten, Charakteren und Überzeugungen, die m. E. in der Literatur noch nicht hinreichend beachtet werden. Auch der Formenreichtum, den Camus literarisch zum Einsatz bringt, Metaphern, Parabeln, Klagepsalmen, Gebete etc., aber auch die Komplexität der Auseinandersetzung mit theologischen und philosophischen Grundproblemen des Daseins, die dialektisch und quer zu den Grundüberzeugungen des Christentums komponiert werden, wie die Frage nach Glück und Sinn, nach Freiheit und Vollendung, nach Schuld und Erlösung, verraten, wieso das schwierige Stück praktisch bei Publikum und Kritik durchfiel: Der Anspruch, den Camus an Vorbildung und situationeller Präsenz stellt, ist hoch, die geforderte Aufmerksamkeit an einem Erholung suchenden Feierabend im Kriege kaum zu leisten. »Le Malentendu« eignet sich nicht zum Abschalten, sondern empört, wirkt bedrückend und rüttelt auf. Allerdings wird die lapidare, die innere Kohärenz wie das Problemgespinst überhaupt verkennende Exegese Iris Radischs, die Weise, wie sie das Drama in der Bedeutung herunterzuspielen versucht, der Tragweite der Tragödie mitnichten gerecht. Sie erkennt die Symboltiefe nicht, die Martin Meyer zumindest entfernt ahnt. Das sonst gut zu lesende, journalistisch brillant geschriebene und recht gut informierte Buch fokussiert seine flache Interpretation allein auf »die menschliche Gleichgültigkeit der Handelsgesellschaft in der Warengesellschaft, in der es keinen anderen Wert als das Geld gibt« (Radisch 2013, 197). In absolut verkürzender Weise schwingt Radisch auf die allgemeine Kritik ein, ohne ihre TheDamit widerspricht Camus der Interpretation seines Freundes Morvan Lebesque, in dessen gültiger ro-ro-ro Monographie: Albert Camus in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Hamburg (Rowohlt Monographie Bd. 50) 1960. S. 48: »das Schicksal selber, das von einem alten, stummen Knecht verkörpert wird«.

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sen zu begründen, wenn sie beschließt: »Das Missverständnis ist ein Lehrstück, das einzige, das Camus geschrieben hat. Doch weil dem Autor, anders als zu Caligula, dieser verrücktesten und shakespearehaftesten unter allen seinen Figuren, zu den zwei raffgierigen Wirtinnen nicht viel mehr einfällt, als sie besonders raffgierig und furchtbar sein zu lassen, bleibt das Stück vergleichsweise blass. Es variiert noch einmal die Motive des Frühwerks – das Glück am Meer unter der Sonne des Südens, die Niedergedrücktheit im Norden Europas, die sprachlose Mutter-Sohn-Beziehung, den sinnlosen Mord, die Gleichgültigkeit der Mörderin –, um sie schnell wieder in den Kulissen verschwinden zu lassen. Paris hat andere Sorgen« (Radisch 2013, 197). Was aber charakterisiert das Stück als (einziges?) Lehrstück? Sind die Hauptpersonen lediglich mit dem Prädikat »verrückt« zu kennzeichnen? Inwiefern bleibt das Stück »vergleichsweise blass«? Keine Antwort der Fragen in Radischs Buch. Wir wollen mit unseren Ausführungen das Gegenteil aufzeigen, ein wohl durchdachtes, brillantes Stück anfanghaft analysieren. Auch die Sprache Camus’, der äußerst empfindlich auf Kritik reagiert, ist gerade für den literarturbegeisterten Franzosen eine Prüfung. Dies gesteht Camus freimütig ein: »Auch die Sprache hat Anstoß erregt. Ich wußte es im Voraus. Aber wenn ich meine Personen in Peplen gekleidet hätte, wäre vielleicht von jedermann Beifall gespendet worden. Ich hatte jedoch viel mehr die Absicht, in der heutigen Zeit lebende Gestalten die Sprache der Tragödie sprechen zu lassen. Dies ist ein äußerst schwieriges Unterfangen; denn es gilt, eine Sprache zu finden, die natürlich genug klingt, um von Menschen unserer Zeit gesprochen zu werden, und dennoch hinreichend ungewöhnlich ist, um die tragische Note anzutönen. Um mich diesem Ziel anzunähern, habe ich versucht, den Gestalten eine gewisse Entrücktheit und dem Dialog etwas Vieldeutiges zu verleihen. Der Zuschauer sollte sich also gleichzeitig heimisch und fremd fühlen. Der Zuschauer – und der Leser. Ich bin indessen nicht sicher, die richtige Dosierung getroffen zu haben« (Dramen, 11).

V. In den handelnden Personen leuchtet die Tragweite wie die Ereignistiefe des Dramas auf: Wir versuchen, sie anfanghaft und in Auswahl in ihren gegenseitigen Relationen paarweise zu dechiffrieren: 69 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

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Jan und die Mutter Das neutestamentliche Gleichnis vom Verlorenen Sohn (Lk 15,11– 32) steht wie eine (positive) Rahmenparabel hinter dem (negativ besetzten, dramatischen) Geschehen. Überhaupt finden sich eine Reihe von biblisch-liturgischen Wortkombinationen und Gebetsanrufen, die jeweils in der entgegengesetzten Sinnrichtung gebraucht werden (M, 81 »Ein Wort hätte genügt; sprich nur ein Wort«). Jan sucht seine einstige böhmische Heimat wieder auf, findet sie jedoch nicht mehr. Zu Reichtum gekommen, möchte er Glück bringen, Mutter und Schwester aus der Armut und der Bedrückung herausführen. »Ich möchte meine Heimat wiederfinden und alle, die ich liebe, glücklich machen« (M, 84). Insofern will er – unerkannt – dem Wunsch der Schwester entgegenkommen, da er sein Glück im Süden gefunden hat: Liebe und Vermögen. Beides möchte er verantwortungsvoll zurückführen an Mutter und Schwester, die er vor vielen Jahren verlassen hat. Camus verleiht Jan quasi-messianische Züge, denn er soll Rettung und Heil bringen (M, 93). Wie Martha sehnt sich Jan nach der Zärtlichkeit der Mutter (vgl. M, 80). Und ist überrascht, enttäuscht, ja erschüttert über den gefühllos-gleichgültigen Empfang: »… während ich eigentlich den Empfang des verlorenen Sohnes erwartete, erhielt ich Bier gegen Bezahlung« (M, 81). Der parabelhafte Inhalt erinnert sehr stark an das Gleichnis vom verlorenen Sohn aus dem Lukasevangelium, allerdings mit unterschiedlichen Vorzeichen. Der (jüngere) Sohn zieht aus, um Welt und Leben kennenzulernen, fordert sein Erbteil und kommt als gebrochene, arme und verlorene Existenz zurück. Er ist ganz auf das Erbarmen des Vaters angewiesen, der ihm entgegengeht, ihn offenbar schon erwartet hat, ohne Vorbedingung annimmt und als Sohn durch eindeutige Insigien wieder einsetzt (Ring, Mastkalb, Fest). Der Sohn spricht das Schuldbekenntnis, das der Vater in der Freude gar nicht recht wahrnimmt, sondern er empfängt ihn ohne jeden Vorbehalt in totaler Liebe und Barmherzigkeit. Der Vater gibt dem Sohn Würde und Leben zurück. Jan seinerseits kommt in die Heimat zurück und findet die Fremde, auch die ihm Nahestehendsten sind ihm Fremde geworden: »Ich habe den schmerzlichen Eindruck, hier nicht daheim zu sein« (M, 100); »ich fühle mich noch fremd« (M, 101). Er will das gewonnene Glück des Südens Mutter und Schwester weitergeben, wird nicht als Sohn (an-)erkannt, gibt sich nicht zu erkennen. Nach und nach gerät 70 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

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er unbewußt aus einer Täter- in eine Opferrolle. Das Weitergebenwollen und die Unfähigkeit zur Sprache werden ihm zum Verhängnis. In einer Anwandlung von verzweifelter Ratlosigkeit ruft er vergeblich in einem beeindruckenden Gebet, das später durch sein Lachen wieder relativiert wird, den persönlichen Gott an. Die Ereignisse nehmen allerdings ohne jegliches Zutun ihren Lauf: »Ach Gott! Mach, daß ich die rechten Worte finde oder aber dieses eitle Unterfangen aufgebe, um zu Marias Liebe zurückzukehren. Dann gib mir die Kraft, zu wählen, was ich am liebsten habe, und dabei zu bleiben« (M, 99). Es folgt eine direkte – von Jan ironisierte – Anspielung auf das Verhalten des Vaters bei der Heimkehr des verlorenen Sohnes, der anordnet, das Mastkalb zu schlachten: »Nun gut, tun wir dem gemästeten Kalb die Ehre an« (M, 99.).

Das Leben wird ihm durch das Mißverständnis des Nichterkennens genommen. Die Aussage, daß das Leben selbst Mißverständnisse und Unmöglichkeiten beinhaltet, ja selbst mißverständlich sei, liegt nahe. Martin Meyer erkennt zumindest den Hintergrund, dem Radisch verschlossen bleibt: »Doch mehr noch aus den Tiefen existenzieller Geworfenheit schöpft das Thema des verlorenen Sohns. Anders als in der biblischen Geschichte bleibt er unerkannt, paradigmatisch ein Fremder, doch wieder anders als Meusault im ›Étranger‹ ohne die Attribute des Täters: Jan trägt das Zeichen des Opfers, ohne darüber aufgeklärt worden zu sein. Bis zuletzt weiß er nicht, was und wie ihm geschieht …« (Meyer 2013, 39).

Die lebensmüde Mutter besetzt im Drama die Position des barmherzigen Vaters des Lk-Evangeliums, allerdings auch unter entgegengesetztem Vorzeichen: Sie ist müde, vergangenheits- und liebesvergessen (M, 89.90 »Ein Sohn! Ach, ich bin zu alt! Die alten Frauen verlernen es sogar, ihren Sohn zu lieben. Das Herz nützt sich ab …« M, 90), blind, spürt diffus ihr Gewissen, sehnt sich nach dem Religiösen (M, 77). In einem Leben des permanenten Vergessens (vgl. M, 93) hat sie sich (wie die Tochter Martha) in einer »wohlwollenden Gleichgültigkeit« – auch gegenüber ihrer eigenen Schuld – eingerichtet, doch immer mehr sehnt sie sich nach dem Tode (vgl. M, 80). Sie lebt in einer diffusen Erwartung der Rückkehr des Sohnes, was sich bereits in der anfänglichen Einlassung des Ersten Auftritts des Ersten Aktes andeutet: »Er kommt zurück« (M, 77). Doch sie erkennt den Sohn nicht, eine Unmöglichkeit, die Maria auch als solche deutlich benennt: »Eine 71 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

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Mutter erkennt ihren Sohn immer« (M, 81). Die Mutter versucht noch den Mord zu verhindern (vgl. M, 99 f.: »Eigentlich war dieser Tee nicht für Sie bestimmt. … Es handelt sich nur um einen Irrtum«.), hat stets eine unausdrückliche, wortlose Ahnung von der Heimkehr des Sohnes und eine stille Ahnung von dem bevorstehenden Unheil, das sich dann lapidar als Mißverständnis offenbart. Sie will sich nach anfänglicher Entschlossenheit, die Tat zu begehen, dann doch von ihr zurückziehen (»Du treibst mich zu dieser Tat«, M, 102). Nach der Tat – das Mißverständnis kündigt sich erst an, ahnt sie für sich, daß es für sie keine Zukunft mehr gibt: »Aber mir schien, daß der Morgen niemals kommen wird« (M, 104). An einer einzigen Stelle schöpft man Hoffnung, wenn die Mutter abwehrend Jan als »Sohn« bezeichnet (»Lassen, Sie, mein Sohn, ich bin kein Krüppel«, M, 91), allerdings ebenfalls wiederum unbewußt und unausausdrücklich, Jan fragt nach und erhält eine ausweichende Antwort (ebd.). Unter dem Verdikt des Zu-spät (vgl. Meyer, 213, 39) erklärt sie sowohl gegenüber dem schon toten Sohn als auch ihrer Tochter ihre Mutterliebe: »Die Liebe einer Mutter zu ihrem Sohn ist heute meine Gewißheit« (M, 106); zu Martha: »Aber ich habe nicht aufgehört, dich zu lieben. … Jetzt weiß ich es, denn mein Herz hat die Sprache wiedergefunden, ich lebe von neuem, und zwar im Augenblick, da ich es nicht mehr ertragen kann, zu leben« (M, 108). Die Mutter geht in eine andere Dimension von Liebe und Leben ein.

Maria und Martha Es ist schon erstaunlich, daß die ins Auge springende biblische Parallele der zentralen weiblichen Gestalten »Maria und Martha« in der Literatur keinen Widerhall gefunden hat. 6 Zentrale biblische Hintergrundtexte sind Lk 10,38–42 (Martha und Maria) sowie Joh 11,1–44 (Auferweckung des Lazarus). Die erste biblische Perikope findet sich zwischen dem Gleichnis vom Barmherzigen Samariter (Lk 10,25–37) und dem Vater unser

Vgl. auch Sändig, Brigitte, Marie, Martha, la mère … Camus’ Frauengestalten, in: Schlette, Heinz-Robert, Herzog, Markwart (Hg.), »Mein Reich ist von dieser Welt«. Das Menschenbild Albert Camus’. Stutttgart/Berlin/Köln (Kohlhammer) 2000. S. 89–109. Bedauerlicherweise ist offenbar manchen Romanisten jedes Gespür für (oder das Wissen um) biblische Reminiszenzen verlorengegangen.

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(Lk 11), also zentralen neutestamentlichen Texten: Lukas ist der einzige Evangelist, der die Episode überliefert. Ein Teil des lukanischen Sondergutes könnte schon neben der Geschichte des Samaritaners gestanden haben. François Bovon, der eine schöne Exegese der Episode betreibt 7, unterteilt die bekannte Szene in drei kleine Abschnitte: 1. Der Empfang des eingeladenen Jesus (v.38), 2. Die Haltungen Marias und Marthas (vv.39–40a), 3. Der Vorwurf Marthas an die Antwort Jesu (vv.40b–42). Martha (aram. Herrin) ist die Schwester der Maria und Eigentümerin des Hauses. Sie wird nicht aufgefordert, die Gastfreundschaft oder das Dienen bei Tisch aufzugeben, sondern sie trägt die Hauptlast, verrichtet die Arbeit bei der Bewirtung Jesu. Durch ihre Klage und ihre Unzufriedenheit ist sie in ihrer Existenz bedroht, was Jesus Anlaß gibt, ihr freundschaftliche und wohlgemeinte Ratschläge zu geben. Jesus wird sie nicht vom Dienst befreien, sondern von dem, was ihr ihre Freude, ihr Strahlen, ihr Glück nimmt. Sie hat Angst, in ihrer Arbeit alleine gelassen zu werden, und den Eindruck, das ganze Gewicht laste auf ihren Schultern, während Jesus und auch Maria ihrer Meinung zufolge untätig zuschauten. Anders als im Drama Camus’ ist im neutestamentlichen Text Maria die zentrale Person: Hier wird der Glaube, die Zuwendung und die Liebe gegenüber Jesus über das Dienen als der bessere Teil gewürdigt. Der gute Teil ist die Gegenwart des Herrn und das Hören auf sein Wort. Jesus setzt der Betriebsamkeit Marthas Marias gleichmütige Ruhe entgegen: Sie zeigt sich mit Wenigem, Einem, nämlich der Sorge um Jesus, zufrieden, ihre Aufmerksamkeit ist ganz auf sein Wort gerichtet; sie rückt die Sorgen der Welt an den rechten Platz und verwandelt sie in Rücksichten der Liebe. Solcher Art ist das Eine, das zählt. Martha wird zwar nicht herabgesetzt, doch die Valenz ihrer exzessiven Geschäftigkeit wird ein- und damit nachgeordnet. Martha sieht ihren Dienst mißverstanden, nur wenig anerkannt (wie im Drama) und fühlt sich von ihrer Schwester im Stich gelassen. Sie tritt deshalb aus ihrer Isolierung heraus, ruft um Hilfe, nicht etwa, um mit Maria zu sprechen, sondern sich bei Jesus zu beklagen. Jesus zeigt ihr gegenüber eine gewisse Gleichgültigkeit, was sie ebenfalls moniert: »Herr, kümmert es Dich nicht …« (Lk 10,40). Er versucht vielmehr, Martha auf das Wesentliche hin zu orientieren, das Maria Vgl. Bovon, François, Das Evangelium nach Lukas (Lk 9,51–14,35). EKK III/2 Düsseldorf 1996. S. 99–117.

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spontan gewählt hat. Martha und Maria repräsentieren als zwei Typen des Christseins. Die theologische Verwandtschaft mit 1 Kor 7 läßt Bovon an ein hellenistisch-christliches Milieu denken. Daß Martha die ältere Schwester war, läßt sich aus Lk 10,38 schließen. Auch der beschriebene Charakter bestätigt dies; sie war die geschäftige, verantwortliche Hausfrau, die eventuell eine Hauskirche begründete. Wenn Maria, die übrigens kein Wort spricht, zu Füßen des Rabbis Jesus sitzt, nimmt sie die Haltung einer treuen Jüngerin ein. Mit ihrem ganzen Sein hört sie auf das Wort Jesu, der authentisch und mit Vollmacht das Wort Gottes kommemoriert. Die Begegnung der beiden Schlüsselfiguren des Dramas im dichten dritten Auftritt des dritten Aktes bildet einen thematischen Höhepunkt der Auseinandersetzung zwischen Gleichgültigkeit und Liebe, Glück und Unglück, Vereinsamung im Unglück, Mitleid und Herzenskälte. Maria steht als Anwältin von Liebe, Glück und Eintracht der absurd-revoltierenden Martha, nach außen hin vollkommen kalt, Berührung und jede persönliche Anrede vermeidend, gegenüber. Bereits im dritten und vierten Auftritt des ersten Aktes erfährt man: Maria ist die Liebende, sie ist aber auch die klarsichtig-nüchtern-pragmatisch Sehende 8, die Frau der einfachen Logik (»es braucht nur einfache Worte«, M, 82), die in der Vorahnung der ungesunden Atmosphäre ihren geliebten Mann von seinem Vorhaben abbringen will und nichts mehr fürchtet als eine Trennung. Sie hat in Afrika schon Heimat und Glück gefunden (vgl. M, 82.84) und ahnt nichts Gutes im fremden Land. (Jan kontrapostiert das gefundene Glück mit der zu erfüllenden Pflicht, ebd.). Sie fühlt sich nach der Trennung entblößt und spricht den Wunsch aus: »Dann lebe wohl, und möge meine Liebe dich beschützen« (M, 85). Die Antwort des Schicksals ist negativ, die Einstellung des Autors zum wohlmeinenden Wunsch ebenfalls. Die traurige Botschaft Camus’ lautet: Liebe beschützt nicht. Nach der Theodizee-Anklage Marthas im erschütternden Schlußauftritt, die ein blasphemisch-absurdes (Negativ-)Gebet spricht (M, 115), ruft Maria in ihrer Verzweiflung ihren Gott an und Offensichtlich erkennt Camus sich selbst in Marias Worten: »Männer wissen nie, wie die Liebe sein muß. Nichts befriedigt sie. Sie vermögen nichts anderes, als zu träumen, neue Aufgaben zu ersinnen, neue Länder und neue Heimstätten zu suchen. Wir hingegen wissen, daß wir uns beeilen müssen, zu lieben, daß es darauf ankommt, das gleiche Lager zu teilen …, das Fernsein zu fürchten. Wer richtig liebt, hängt keinen Träumen nach … (M, 83 f.)«

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faßt ihre Klage ins Bittgebet – ähnlich wie zuvor Jan – ohne Folge (vgl. M, 99): »O mein Gott, in dieser Wüste kann ich nicht leben! Zu dir will ich sprechen, und ich werde die richtigen Worte zu finden wissen. Sie fällt auf die Knie. Ja, dir vertraue ich mich an. Hab Mitleid mit mir, kehr dich mir zu! Erhöre mich, reich mir deine Hand! Hab Mitleid, Herr, mit denen, die sich lieben und Trennung erleiden!«.

In dramatischer Steigerung wiederholt Maria die Bitte angesichts des Knechts, der sich (an-)gerufen fühlt: »Haben Sie Mitleid und helfen Sie mir!« Der Alte gibt mit seinem trost- und erbarmungslosen »Nein« die Antwort Camus’ auf die Gottesfrage. Martha, die eigentliche tragische Hauptfigur des Dramas, nimmt die Rolle des älteren Sohnes im Gleichnis vom verlorenen Sohn ein, der sein Schicksal beklagt und neidgeplagt um die Anerkennung und die Liebe des Vaters, hier der Mutter, ringt (»Andere haben mehr Glück … ich hasse ihn, weil er bekommen hat, was er begehrte!«) In ihrer Person vermischt sich das Gleichnis mit der alttestamentlichen Geschichte vom Brudermord aus Gen 4 (Kain und Abel): »es war nicht meine Aufgabe, meines Bruders Hüter zu sein« (M, 109, vgl. Gen 4, 9b). Ihre Heimat bleibt »der zähe Ort mit dem horizontlosen Himmel« (M, 109), das Unglück, das Exil und die Sinnlosigkeit; das Meer und die Sonne bleiben eine Traumwelt: »und doch bin ich in meiner eigenen Heimat eine Verbannte« (M, 109), während ihre Sehnsucht sich allein auf das Verlassen der ungeliebten Heimat (vgl. M, 80; vgl. M, 96) hin zu dem Land, in dem sie wieder lächeln kann (vgl. M, 78) und in dem ihr Bruder lebte, fokussiert. Sie sehnt sich nach Freiheit (ebd.), nach dem Land »jenseits des Meeres« (M, 86), »wo die Sonne alle Fragen vertilgt«. Sie brennt für ein Leben in Freiheit, nahe dem Meer, 9 ihr Herz ist demnach nicht erkaltet: »In meinem Herzen jedoch sind nicht alle Wünsche meiner zwanzig Jahre erloschen, und ich will auf immer fort von hier, selbst wenn ich dafür noch ein bißchen tiefer in das Leben eindringen muß« (M, 92). Erzählt der Bruder ihr von Glück, Natur, Sonne und Meer (vgl. M, 94): »Drüben sind die Abende eine Verheißung von Glück«, so spricht er unwissentlich das Urteil über sich selbst. Die Mutter ist unfähig, ihr ihre Liebe in Worte zu fassen – Vgl. den schönen Abschnitt 4 »Das Meer«, insbesondere die Exkurse 1 und 2 bei Radisch 2013, 73–101.

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Camus’ Biographie leuchtet wieder hindurch –, sie möchte das Unaufschiebbare verschieben: »… ich will diesen Augenblick nützen, um dir zu sagen, was ich dir schon die ganze Zeit zu sagen versuche; nicht heute Abend …« (M, 93). Das Schweigen siegt. Martha muß jedoch einsehen, daß das Heil nicht in ihrer Hand, sondern in einer anderen liegt (ebd.). Erst am Ende des Dramas, im tragischen Zu-spät findet die Mutter das liebende, erlösende Wort. Auch Martha sehnt sich nach Anerkennung und nach der Liebe der Mutter (vgl. M, 78), die im Strudel der Umstände verdunkelt ist. Im Umgang mit Jan, der von sich behauptet »ein treues Herz« zu haben, bevorzugt sie die klare, nüchtern-apersonale Distanz, »daß kein Mißverständnis« aufkommt (vgl. M, 88), das dann doch zentral den Handlungsablauf bestimmt. In ihren Außenbeziehungen hat das Herz nichts zu suchen (vgl. M, 89), sondern hier waltet nur die Gleichgültigkeit (vgl. M, 88). »… reden wir nicht mehr von Ihrem Herzen. Für das Herz vermögen wir nichts …« (M, 90) … »was wir Ihnen bieten, hat nichts zu tun mit den Leidenschaften des Herzens« (M, 91). Denn nach außen hin ist Martha unnachgiebig, hart, unbarmherzig ohne Gefühlsneigung und in der Abwehr gegen jedes private Wort seitens ihres Bruders; dieser versucht, mit ihr durch die Schilderung des »gelobten Landes« (M, 96.97) näher in Kontakt zu kommen, einigt sich jedoch lediglich auf ein »Abstandsübereinkommen« mit ihr. Deshalb versucht Martha, alles Menschliche in ihr zum Schweigen zu bringen. Eine entlarvende Selbsteinsicht Marthas, kafkaesk und auch an Nietzsche erinnernd, wirft wiederum einen selbstkritischen Blick Camus’ auf den eigenen Charakter: »Das Menschliche an mir ist nicht mein bester Teil. Menschlich an mir ist, was ich begehre, und um es zu erlangen, was ich begehre, würde ich wohl alles auf meinem Weg in den Staub treten« (M, 97). In einem vielsagend-sarkastischen Ton spricht sie Jan gegenüber das Urteil: »Sie haben das Menschliche in mir angesprochen, und nun wünsche ich, daß Sie bleiben. Meine Sehnsucht nach dem Meer und den Ländern voll Sonne wird dabei auf ihre Rechnung kommen« (M, 97). Der erschütternde Schlußdialog zwischen den beiden Verzweifelten, Martha und Maria offenbart zugleich zwei Lebenswelten: Maria will mit dem Recht ihrer Liebe (M, 111) wissen, warum die Schwester zu einer solchen Tat fähig war. Martha wird lapidar nur das »Mißverständnis« verantwortlich machen (M, 112), die Anklage Marias fällt genauso hart gegen Martha und ihre Mutter aus (M, 112), wie Martha jedes Schuldeingeständnis und jede Reue ablehnt. 76 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

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Ihre absurde Existenz läßt Marias Argumentation nicht zu: »Ich habe eine andere Vorstellung vom Herzen des Menschen, und Ihre Tränen stoßen mich offengestanden ab« (M, 113). Martha ist die Figur der Uneinsichtigen, Verstockten, Unerlösten, Unversöhnten und zur Erlösung Unfähigen (vgl. 110). Camus schreibt somit das Gleichnis vom verlorenen Sohn auf seine Weise zu Ende. Während Lukas das Schicksal des älteren Sohnes im Unbestimmten offen beläßt, scheitert die absurde Existenz der Martha in ihrer »fremden Heimat« ohne Zuversicht, ohne Rettung, ohne Gott.

Der Alte Auch wenn Camus im deutschen Vorwort die Bedeutung des alten Knechts relativiert, läßt sich rein aus dem Textbefund folgendes ablesen: Das Schicksal ist flüchtig und stumm, regungs- und teilnahmslos (vgl. M, 79), taucht als Faktum auf, ohne einen mitleidigen Eingriff in den Handlungsablauf einzugeben. Der Einzelne hat im Grunde keine Beziehung zu ihm. Der alte Knecht ist der stumme Schatten im Leben des Menschen, verschwindet stets, wenn ein Dialog, eine Beziehung sich anbahnt (vgl. M, 80), und trotzdem ist er der fatalistisch-schweigende Bezugspunkt der Handelnden. Nähere Charakterisierung erfährt er durch Martha im fünften Auftritt des vierten Aktes (M, 85): er sei ganz gewissenhaft, rede so wenig wie möglich, verstehe nur hin und wieder falsch (vgl. ebd.). Allein, daß Camus ihm das letzte Wort gibt, das eine Totalnegation zum Ausdruck bringt, zeigt seine Bedeutung und ihn in der Rolle eines demiurgisch handelnden Schicksals.

VI. Die Pascalsche Philosophie/Theologie des Herzens, die im Drama ausführlich diskutiert wird 10, ist der kalten Realistik der Absurdität

Raffelt, Albert/Reifenberg, Peter, Universalgenie Blaise Pascal. Eine Einführung in sein Denken. Würzburg (Echter) 2011. Vgl. Knapp, Markus, Herz und Vernunft – Wissenschaft und Religion. Blaise Pascal und die Moderne. Paderborn (Schöningh) 2014.

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von Welt und Mensch unterlegen; die Gleichgültigkeit steht dem Herzen und der Liebe entgegen. Die Sehnsucht nach Gott bleibt unerfüllt. Im Leben hat die Liebe keine Sprache, sie bleibt in der Form einer »Liebe des Zu-spät«. Das Herz findet die Sprache ebenso im »Zu-spät« des Lebens. Camus beschreibt seine eigene Lebensgeschichte und überträgt diese auf ein allgemeines Zeitempfinden hin: Das Heimat-Thema der verzweifelt Suchenden bestimmt das Drama. Mit dem Christentum teilt Camus die Auffassung, daß es selbst für den Heimkehrer keine Heimat gibt, sondern er letztlich immer in der Fremde bleibt. Von der eigentlichen, stets innerweltlich geprägten Heimat, die von Camus stark mit den mediterranen, genauer algerischen Bildern gefüllt wird und in die es keine Rückkehr gibt, träumt er in der Fremde, in die er zurückkehrt und dort voller Sehnsucht alleine lebt und stirbt. Er kehrt je in die Fremde zurück, ohne Trost und aufrichtige Liebe. Trost und Liebe gibt es in der Einsamkeit des Vereinzelten nicht. Eine Erlösung gibt es für ihn nicht, auch wenn er ohne bewußte Schuld in ausweglose Situationen gerät. Die Hoffnungsbilder des Christentums verblassen und verlieren im 20. Jahrhundert für Camus ihre Bedeutung und ihre Kraft. Der lebendige, persönliche Gott Pascals weicht einem blassen Demiurgen, der mit dem Leben des Menschen nichts zu tun hat. Das Schicksal des Menschen ist freigesetzt, nicht auf der Spur der Vollendung. Es ist letztlich nicht der Mensch, der verantwortlich handelt, sondern das Schicksal, die Welt, die Natur. Das Schicksal handelt an und vielleicht durch ihn: »das Leben ist grausamer als wir« (M, 79) – Camus legt Martha seine endgültige Absage an einen transzendenten Sinn in den Mund.

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Gelassenheit

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Vom vernünftigen Umgang mit dem Schicksal Perspektiven der antiken Philosophie Stephan Herzberg

1.

Gelassenheit – ein Thema der (antiken) Ethik?

Das Wort »Gelassenheit« entstammt bekanntlich der Sprache der deutschen Mystik. In den Tugendkatalogen der antiken Ethik suchen wir vergeblich nach einer speziellen Tugend, d. h. einer lobenswerten Haltung, die das zum Inhalt hat, was gemeinhin unter dem Begriff »Gelassenheit« verstanden wird: das richtige oder vernünftige Verhältnis zu dem, was wir nicht ändern können, zum Schicksal. 1 Dass ein spezieller Titel fehlt, ist aber noch kein hinreichender Grund dafür, dass die Sache unbekannt war; oft ist es so, dass man die Sache auch ohne den speziellen Namen hat. Vielmehr dürfen wir gerade aufgrund des Zuschnitts der antiken Ethik als einer Lehre vom höchsten Gut oder letzten Ziel (to ariston; summum bonum) 2 – im Sinne einer objektiven Lehre vom Glück oder vom gelungenen menschlichen Leben (eudaimonia) – erwarten, dass sie uns eine Antwort darauf gibt, welches Gut am ehesten dazu in der Lage ist, eine Weise des Daseins hervorzubringen, in der man frei von falschen, d. h. vernunftwidrigen, Emotionen ist und sich im Zustand des Seelenfriedens befindet (tranquillitas animi). 3 Menschliches Handeln ist immer ein Handeln in und mit der Wirklichkeit; es steht immer schon in einem bestimmten Rahmen. Diese Wirklichkeit ist für uns nur begrenzt überschaubar und nur begrenzt beeinflussbar. Einmal kann eine gute Absicht überhaupt verHierzu R. Spaemann, Moralische Grundbegriffe, München 61999, 98–109, 104: »Unter Gelassenheit verstehen wir die Haltung dessen, der das, was er nicht ändern kann, als sinnvolle Grenze seines Handelns in sein Wollen aufnimmt, der die Grenze akzeptiert.« 2 Vgl. etwa Aristoteles, Nikomachische Ethik I 1, 1094a18–26; I 2, 1095a16–20; Stobaeus 2, 77, 16–27 (= SVF III, 16); Epikur, Brief an Menoikeus 128; Boethius, Trost der Philosophie III 2.p. 3 Vgl. Seneca, De vita beata XV 2. 1

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eitelt werden, ein andermal erreicht die Handlung nicht das beabsichtigte Resultat, schließlich kann eine Handlung Folgen haben, die wir nicht voraussehen konnten. Auch wenn wir als Menschen nicht nur Ursprung unserer Handlungen sind 4, sondern auch eine Handlungsleitung ausüben 5, müssen wir unsere Initiativkraft immer auch ein Stück weit aus der Hand geben und es dem Geschick überlassen, ob wir tatsächlich unser Ziel erreichen. Gerade als Handelnde werden wir uns nicht nur retrospektiv der Grenzen unseres gewordenen Soseins bewusst, d. h. desjenigen, zu dem wir uns gemacht haben, sondern auch prospektiv der Grenzen desjenigen, was wir zustande bringen können. Robert Spaemann bemerkt hier zu Recht, »daß der Handelnde auch die Zukunft nicht im Griff hat, daß er vielmehr nur handeln kann, wenn er bereit ist, sich auch mit Bezug auf die Zukunft in das Erleiden des Schicksals zu fügen […] Handeln heißt deshalb immer: sich loslassen, sich selbst und seine Intentionen aus der Hand geben. Insofern ist endliches Handeln immer zugleich eine Einübung des Sterbens. Es gibt in Wirklichkeit gar nicht eine klare Grenze zwischen Handeln und Leiden. Handeln selbst schließt das Erleiden unmittelbar ein.« 6

Sinnvolles Handeln und ein gelungenes Leben überhaupt sind daher nicht möglich, ohne sich in ein positives Verhältnis zu derjenigen Wirklichkeit zu setzen, die den Rahmen unseres Handelns bildet, ohne den eigenen Grenzen zuzustimmen. 7 Da gerade die antike Ethik das menschliche Handeln niemals bloß isoliert betrachtet, sondern stets als eingebettet in das Ganze des Seienden ansieht 8, ist eine genuin praktische Reflexion der Grenzen des durch den Menschen VerVgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik III 7, 1113b18 f. Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik III 8, 1114b31 f. In der Philosophie der Gegenwart wird dieser Punkt besonders hervorgehoben von H. G. Frankfurt, Das Problem des Handelns, in: C. Horn/G. Löhrer (Hg.), Gründe und Zwecke. Texte zur aktuellen Handlungstheorie, Frankfurt a. M. 2010, 70–84. 6 Spaemann, Moralische Grundbegriffe, 101. 7 Spaemann, Moralische Grundbegriffe, 103. Vgl. auch O. Höffe, Lebenskunst und Moral, München 2007, 145. 8 Nach der Vorstellung der antiken Ethik ist der Mensch Teil einer umfassenden Ordnung. Er zeichnet sich gegenüber anderen Lebewesen dadurch aus, diese Ordnung selbst und seinen Platz in ihr zu erkennen. Will er sein Leben nicht verfehlen, muss er sich in sie einfügen. Vgl. F. Buddensiek, Augustinus über das Glück, in: C. Mayer/ A. Eisgrub/G. Förster (Hg.): Augustinus – Ethik und Politik. Zwei Würzburger Augustinus-Studientage, Würzburg 2009, 63–85, hier: 76: »Glück ist ›Selbstverwirklichung‹ in dem Sinn, dass ein Individuum genau dann gut lebt und dass es ihm genau dann gut geht, wenn es in der ihm eigenen Beschaffenheit in die Ordnung der Welt 4 5

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änderbaren, d. h. eine Erörterung des richtigen Verhältnisses zu diesen Grenzen, von ihr zu erwarten. Wenn »Gelassenheit« eine Haltung meint, in der sich ein Mensch in das richtige Verhältnis zu dem setzt, was er nicht ändern kann, dann stellt sich allerdings die Frage, wovonher bzw. woraufhin eine solche Haltung 9 möglich ist, d. h., es stellt sich die Frage nach dem Grund, der einem Menschen im Hinblick auf ein bestimmtes Widerfahrnis Halt oder einen Stand bietet und infolgedessen sich bei diesem Menschen der Seelenfrieden einstellt. 10 Hier lassen sich grundsätzlich zwei Formen unterscheiden: (a) Gelassen-Sein auf einen transzendenten Bezugspunkt hin (z. B. auf Gott), und (b) Gelassen-Sein auf etwas hin, was »von dieser Welt« ist (z. B. auf sich selbst). 11 Schon im Deutschen Wörterbuch der Gebrüder Grimm werden diese beiden Formen unterschieden 12; als Beispiel für ein Gelassen-Sein, das den Halt innere Ruhe nicht in Gott, sondern in sich selbst sucht, wird hier die sog. »stoische Ruhe« oder Gelassenheit eingefügt ist.« Vgl. auch M. Forschner, Über das Glück des Menschen, Darmstadt 21994, 22 f. 9 Eine solche Haltung wie die Gelassenheit ist nichts Statisches, sondern muss (je nach Widerfahrnis) immer wieder neu errungen werden. 10 Vgl. E. Tugendhat, Egozentrizität und Mystik. Eine anthropologische Studie, München 2003. Tugendhat spricht von einem ›Sichsammeln auf etwas hin‹ : »Religion und Mystik sind Formen des Gesammeltseins mit Bezug auf das Wie des Lebens.« Es geht um eine »Haltung, in der man hinsichtlich des Wie des Lebens einen Stand findet, der es einem ermöglicht, den Tod und die anderen durch das Zeitbewußtsein sich ergebenden Erschwernisse des egozentrischen Lebens zu ertragen« (111). Alle Mystik ist, so Tugendhat, von einem bestimmten Motiv her zu verstehen, dem Bedürfnis nach Seelenfrieden: »alle Mystik hat zu ihrem Motiv, von der Sorge um sich loszukommen oder diese Sorge zu dämpfen«; »Mystik besteht darin, die eigene Egozentrizität zu transzendieren oder zu relativieren« (7). 11 Vgl. Tugendhat, Egozentrizität und Mystik, 112. Nach Tugendhat ist der Bezugspunkt, auf den hin man sich sammeln kann, entweder transzendent wie in der Mystik oder in der Religion oder er ist immanent wie in der Liebe zu einer anderen Person/ Sache etc. oder in der Selbstwahl. Ein immanenter Bezugspunkt scheidet für Tugendhat aufgrund seiner Verlierbarkeit aus; da die Religion (im engeren Sinn) für ihn keine rational vertretbare Möglichkeit ist, bleibt nur die Mystik übrig und hier das »mystisch gedeutete Universum« als Bezugspunkt, auf den hin der Mensch von seinem egozentrischen Wollen zurücktritt (124). Vgl. auch E. Tugendhat, Anthropologie statt Metaphysik, München 2007, 176–190. 12 Vgl. J. Grimm und W. Grimm, Deutsches Wörterbuch. Vierter Band, erste Abteilung, Leipzig 1897, Sp. 2864: »gelâʒen heiszt eigentlich der, welcher die welt und sich selbst gelassen und sich gott gelassen hat, also der begriff nach zwei seiten gerichtet, eigentlich auch nach zwei verschiedenen bedeutungen von lassen, von denen bald die eine bald die andere mehr hervortritt.«

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angeführt. 13 Ob diese Auffassung (v. a. für die alte Stoa) zutreffend ist, sei hier erst einmal offengelassen; mir kommt es einzig auf die Unterscheidung an. Schon in der antiken Ethik begegnen wir, wie ich im Folgenden zeigen werde, beiden Formen von Gelassenheit in jeweils unterschiedlichen Ausprägungen. 14

2.

Aristoteles

Eine Haltung, die darin besteht, die Widerfahrnisse des Schicksals anzunehmen und nicht daran zu verzweifeln, findet sich schon bei Aristoteles, wenn auch nicht als eine spezielle Tugend. »Gelassenheit«, wie man eine solche Haltung durchaus nennen kann, ist hier eine Folge der ethischen Tugend der Seelengröße (megalopsychia, magnanimitas), d. h., die Seelengröße äußert sich in der richtigen Haltung gegenüber den Widerfahrnissen des Schicksals. Konstitutiv für das menschliche Glück ist, so Aristoteles, eine bestimmte Art von Tätigkeit: »die Tätigkeit der Seele gemäß der Tugend, und wenn es mehrere Arten der Tugend gibt, gemäß derjenigen, welche die beste und am meisten abschließende ist. Hinzufügen müssen wir: ›in einem ganzen Leben‹.« 15 Das heißt: Die Betätigung Sie zitieren aus dem berühmten Gedicht von Christian Fürchtegott Gellert auf den Stoiker Epiktet. Darin heißt es: »Verlangst du ein zufriednes Herz: So lern die Kunst, dich stoisch zu besiegen, Und glaube fest, daß deine Sinnen trügen. Der Schmerz ist in der Tat kein Schmerz, Und das Vergnügen kein Vergnügen. Sobald du dieses glaubst: so nimmt kein Glück dich ein, Und du wirst in der größten Pein Noch allemal zufrieden sein. […] Und willst du stets zufrieden sein: So bilde dir erhaben ein, Lust sei nicht Lust, und Pein nicht Pein. Allein, sprichst du, wenn ich das Gegenteil empfinde, Wie kann ich dieser Meinung sein? Das weiß ich selber nicht; indessen klingts doch fein, Trotz der Natur sich stets gelassen sein.« 14 Es versteht sich von selbst, dass im Folgenden weder eine vollständige Darlegung dessen, was die antike Ethik zum Thema »Gelassenheit« zu sagen hat, geboten werden kann, noch die auf die Sache hin befragten Philosophen(schulen) umfassend dargestellt werden können. 15 Aristoteles, Nikomachische Ethik I 6, 1098a16–18. Vgl. auch I 11, 1100b9 f.: »ver13

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einer bestimmten Tugend über einen längeren Zeitraum hinweg macht unser Leben zu einem guten oder glücklichen (eu zên). Aristoteles vertritt einen aktiven und präsentischen Glücksbegriff. Eine solche Tätigkeit der Seele gemäß der Tugend, sei es nun die betrachtende Tätigkeit (theôria) des Weisen oder das tugendhafte Handeln (eupraxia) des Bürgers, ist allerdings für Aristoteles noch nicht hinreichend für das Glücklichsein. Das Glück bedarf zusätzlich auch der äußeren Güter: Das sind die lebensnotwendigen Güter sowie die für die Betätigung der Tugenden notwendigen äußeren Güter im Sinne von Hilfsmitteln und Werkzeugen (Freunde, Reichtum, politische Macht). 16 Aber auch so etwas wie gute Herkunft, wohlgeratene Kinder und Schönheit: »denn wer sehr hässlich aussieht oder von niedriger Herkunft oder einsam und kinderlos ist, den kann man wohl nicht glücklich nennen, und noch weniger vielleicht den, der gänzlich schlechte Kinder oder Freunde hat oder gute, die gestorben sind.« 17 Das menschliche Glück ist also für Aristoteles – bei aller Betonung der eigenen Aktivität – auch auf günstige Umstände oder den guten Zufall (eutychia) angewiesen; es ist nicht gänzlich dem Schicksal und seinen Launen entzogen. 18 Dem menschlichen Glück eignet eine spezifische Fragilität. Angesichts dieser Bedrohtheit ist es die Betätigung der Tugend, die dem menschlichen Leben eine Beständigkeit verleiht. Die moralisch-charakterliche Stabilität befähigt den Menschen dazu, mit den Widerfahrnissen des Lebens richtig umzugehen, d. h. gelassen zu sein, und nicht am Leben zu verzweifeln. Der Tugendhafte wird immer das Beste aus einer Situation machen: »Wenn aber, wie wir gesagt haben, für die Beschaffenheiten des Lebens die Tätigkeiten entscheidend sind, dann kann keiner, der glückselig ist, unglücklich werden; denn niemals wird er tun, was verhasst und schlecht ist. Denn wir meinen, dass der wahrhaft Gute und Verständige die Wechselfälle des Lebens alle in guter Haltung trägt und immer das Angemessenste aus der Situation macht, wie ein guter Stratege die vorhandene Armee auf die beste Weise zur Kriegsführung gebrauchen wird, und wie ein guter Schus-

antwortlich für das Glück sind die Betätigungen gemäß der Tugend«; 1100b33: »für die Beschaffenheiten des Lebens sind die Tätigkeiten entscheidend«. 16 Aristoteles, Nikomachische Ethik I 9, 1099a31–b2; I 10, 1099b27 f. 17 Aristoteles, Nikomachische Ethik I 9, 1099b2–8 (Übers. Wolf). 18 Aristoteles, Nikomachische Ethik X 9, 1178b33 f.: »Der Glückliche wird aber, da er ein Mensch ist, auch der äußeren günstigen Umstände bedürfen.« (Übers. Wolf)

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ter aus dem gegebenen Leder den passendsten Schuh macht und ebenso alle anderen, die eine Kunst ausüben.« 19

Durch das tugendhafte Tätigsein erwirbt man eine ›Kern-eudaimonia‹ 20, eine Art Sicherheitsnetz; dies zu erreichen liegt bei uns selbst. Glückselig ist man hier zwar noch nicht, denn hierfür fehlen äußerliche und körperliche Güter bzw. der gute Zufall (eutychia), man ist aber auch nicht unglücklich oder elend, sondern findet durch das eigene tugendhafte Tätigsein Halt in einem transitorischen Bereich zwischen Seligkeit und Elend: »Wenn dem so ist, dann wird der Glückliche niemals unglücklich werden können; er wird allerdings auch nicht selig (makarios) sein, wenn ihn Schicksalsschläge treffen, wie sie Priamos erlitten hat. Er wird daher auch nicht vielfarbig und leicht veränderlich sein. Denn er wird weder leicht aus seinem Glück zu vertreiben sein – nicht durch beliebige Unglücksfälle, sondern durch große und zahlreiche –, noch wird er aus solchen schweren Unglücksfällen heraus in kurzer Zeit wieder glücklich werden, sondern, wenn überhaupt, dann erst nach Ablauf einer langen Zeitspanne, in der er große und schöne Dinge erreicht.« 21

Die spezielle Tugend, die den wahrhaft Guten zum souveränen Umgang mit den von ihm nicht beeinflussbaren Umständen befähigt, ist die Seelengröße: »Immer nämlich oder mehr als alles andere wird er [der Tugendhafte; S. H.] die Dinge tun und betrachten, die der Tugend entsprechen; er wird die Wechselfälle am schönsten und in jeder Hinsicht ganz angemessen tragen, der wahrhaft Gute und ›Vierkantige, ohne Tadel‹. Da aber viele Dinge durch Zufall geschehen, Dinge, die sich an Größe und Kleinheit unterscheiden, werden geringe Glücks- ebenso wie Unglücksfälle das Leben eines Menschen nicht beeinflussen, während große und häufige Glücksfälle das Leben glückseliger machen werden […], die entsprechenden Unglücksfälle hingegen das glückselige Leben zerdrücken und trüben. Denn sie bringen UnAristoteles, Nikomachische Ethik I 11, 1100b33–1101a6 (Übers. Wolf). Vgl. C. Schwaiger, Wie glücklich ist der Mensch? Zur Aufnahme und Verarbeitung antiker Glückstheorien bei Thomas von Aquin, München 1999, 10: »Mag das Gelingen menschlichen Daseins auch auf zuträgliche Bedingungen angewiesen sein, im Kern beruht es ihm zufolge doch auf eigener Tätigkeit und Tüchtigkeit. Letzten Endes bilden nicht äußere Faktoren, sondern die ethische Substanz eines Menschen das Fundament seines Glücks.« Zur Rede von einer »Kern-eudaimonia« vgl. auch F. Buddensiek, Art. Eudaimonie/ Glück(seligkeit), in: C. Schäfer (Hg.), Platon-Lexikon, Darmstadt 22013, 116–120, hier: 118. 21 Aristoteles, Nikomachische Ethik I 11, 1101a6–13 (Übers. Wolf). 19 20

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lust mit sich und behindern viele Tätigkeiten. Doch selbst unter diesen Umständen scheint das Schöne durch (dialampei to kalon), wenn jemand gelassen (eukolôs) viele und große Unglücksfälle erträgt, nicht aus Unempfindlichkeit, sondern weil er edel und großgesinnt (megalopsychos) ist.« 22

Was versteht Aristoteles unter »Seelengröße«? Die Seelengröße (megalopsychia) setzt alle anderen ethischen Tugenden voraus und »macht sie größer« 23; man kann nicht großgesinnt sein, ohne ein edler und guter Mensch (kalokagathia) zu sein. 24 Die Seelengröße »scheint eine Art Schmuck (kosmos) der Tugenden zu sein; denn sie macht sie größer und entsteht nicht ohne sie.« 25 Genauer gesagt, bildet diese Tugend die Mitte zwischen Kleinmut (mikropsychia) und Aufgeblasenheit (chaunotês), disponiert also zu einem angemessenen Selbstbewusstsein. 26 Der Großgesinnte kann seinen eigenen charakterlichen Wert richtig einschätzen; er weiß, wie viel Ehre ihm in Wahrheit gebührt, und verhält sich im Hinblick auf Ehre und Unehre, wie man soll. Er hält sich selbst großer Dinge für wert und ist dies tatsächlich auch. 27 Die Ehre ist hier einzig an eigene Leistungen gebunden (»sittlicher Adel«). 28 Er hat ein richtiges Verhältnis zu den Gütern, d. h., er misst den seelischen Gütern den höchsten Wert zu. 29 Das bedeutet, dass er vor allem die tugendhaften Handlungen schätzt und sich gegenüber körperlichen und äußeren Gütern maßvoll verhält; er erkennt sie als das, was sie sind, d. h. als lebensnotwendig bzw. als notwendige Hilfsmittel für die Ausübung tugendhafter Handlungen, wobei gilt, dass man auch mit bescheidenen Mitteln Gutes voll-

Aristoteles, Nikomachische Ethik I 11, 1100b19–33 (Übers. Wolf mit Änderungen). Aristoteles, Nikomachische Ethik IV 7, 1124a2. 24 Aristoteles, Nikomachische Ethik IV 7, 1124a1–4. Hierzu M. Liatsi, Aspekte der Megalopsychia bei Aristoteles (EN IV 3), in: Rheinisches Museum 154 (2011) 43– 60, hier: 51 f. 25 Aristoteles, Nikomachische Ethik IV 7, 1124a1–3. 26 Aristoteles, Nikomachische Ethik III 5, 1133a4–16. 27 Aristoteles, Nikomachische Ethik IV 7, 1123b15 f., b21 f. 28 Vgl. O. Höffe, Art. megalopsychia / Großgesinntheit, Großmut, in: ders. (Hg.), Aristoteles-Lexikon, Stuttgart 2005, 338: »Wer diese Tugend besitzt, konzentriert sich im Bewußtsein des eigenen Wertes auf weniges, aber Bedeutsames, liebt mehr die an sich guten Dinge als jene, die Gewinn und Nutzen einbringen, und verhält sich deshalb in bezug auf Reichtum und Macht maßvoll. Weder freut er sich im Glück übermäßig, noch jammert er im Unglück, er trägt nicht nach, bringt sich nicht wegen Kleinigkeiten in Gefahr, schont aber in großen Dingen sein Leben nicht.« 29 Aristoteles, Nikomachische Ethik I 8, 1098b12–15. 22 23

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bringen kann. 30 Er weiß, dass das tugendhafte Handeln die Beschaffenheit des eigenen Lebens wesentlich ausmacht, aber für die Glückseligkeit allein nicht hinreichend ist. Deshalb freut er sich nicht übermäßig im Glück, weil er die Schicksalsabhängigkeit und damit die Gefährdung menschlichen Glücks kennt, noch jammert er im Unglück, weil er weiß, dass er auch in größter (äußerer) Not als Tugendhafter niemals gänzlich unglücklich oder elend werden kann. Das Schöne seines Charakters, so Aristoteles im obigen Textabschnitt, scheint auch in widrigen Situationen noch durch. Die Tugenden, die ihm keiner nehmen kann, verleihen seinem Leben eine Stabilität; die sie krönende megalopsychia verleiht ihm dazu eine eigentümliche Souveränität und Gelassenheit. Eine solche Haltung, so lässt sich das in diesem Abschnitt Gesagte zusammenfassen, ist durch eine Anerkenntnis des Nicht-ändernKönnens von bestimmten äußeren Umständen gekennzeichnet. Diese Anerkenntnis beruht auf der richtigen Einschätzung des Werts des eigenen Charakters und dem Wissen, dass das Glück nicht vollkommen in unserer Hand liegt. Damit einher geht die Gewissheit, das jeweils Beste in einer bestimmten Situation getan zu haben. Der Einzelne bezieht die Kraft der Gelassenheit, d. h. die richtige Haltung gegenüber den Widerwärtigkeiten des Schicksals, sein Standgewinnen, allein aus der Tugend, die eine Vollkommenheit der Seele ist.

3.

Stoa

Auch die stoische Ethik ist eine eudaimonistische Ethik; sie geht aus vom Begriff eines höchsten Guts im Sinne eines letzten Ziels, das als das Glück bezeichnet wird. Im Unterschied zu Aristoteles und dem Peripatos, für den das tugendhafte Handeln nur eine notwendige Bedingung des Glücks ist, sehen die Stoiker die Tugend als zugleich hinreichend an (Suffizienzthese). 31 Einzig und allein die Tugend ist es, die das Glücklichsein hervorbringt: »Als höchstes Gut bezeichnen die Stoiker das Glücklichsein (to eudaimonein), um dessentwillen alles getan werde, während es selbst um keines anderen willen getan werde. Dies aber bestehe im tugendhaften Leben, im einstimmigen Leben, ferner, was dasselbe sei, im naturgemäßen Leben 30 31

Aristoteles, Nikomachische Ethik X 9, 1179a5 f. DL VII, 127 (= SVF 3,49).

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(kata physin zên). Die Glückseligkeit definierte Zenon auf folgende Weise: ›Glückseligkeit ist der Wohlfluss des Lebens (euroia biou) 32.‹ Diese Definition hat auch Kleanthes in seinen Schriften verwendet und Chrysipp und alle ihre Nachfolger«. 33

Das gelungene Leben ist für die Stoiker ein Leben in Übereinstimmung mit der Natur. Der Seelenfrieden (apatheia; seit Epiktet auch ataraxia; tranquillitas) als ein bestimmter Zustand des menschlichen Geistes ist dabei nicht selbst das Glück und auch nicht ein Teil von diesem, sondern eine Konsequenz des Erreichens des höchsten Guts. 34 Das tugendhafte Leben bringt notwendig einen solchen Zustand mit sich: »Auch die Freude (gaudium), die aus der sittlichen Vollkommenheit (virtus) entsteht – obwohl sie gut ist –, ist dennoch nicht ein Teil des vollkommenen Guten, ebensowenig wie Fröhlichkeit (laetitia) und Ruhe (tranquillitas), obwohl sie aus den erfreulichsten Anlässen hervorgehen; denn das sind [durchaus] Güter, aber dem höchsten Gut folgend, nicht sein Wesen ausmachend (sed consequentia summum bonum, non consummantia).« 35

Wenn bei den Stoikern von Apathie (apatheia; im Unterschied zur metriopatheia im Peripatos) die Rede ist, dann meint das nur die Abwesenheit vernunftwidriger Affekte 36, also von solchen, die auf einem falschen Werturteil beruhen; nach altstoischem Verständnis sind Leidenschaften (pathê) nichts anderes als Urteile (kriseis) 37, genauer: sie sind falsche Urteile, Perversionen der Vernunft. 38 Und weil sie durch falsche Urteile zugezogen wurden, meinen sie, so Laktanz, M. Hossenfelder (Antike Glückslehren, Stuttgart 22013, XXIX) merkt zu Recht an, dass mit dem Bild vom »Wohlfluss des Lebens« sein ungehinderter Lauf ohne Strudel, Wellen etc. betont wird; es geht also nicht um eine Stillstellung des Lebens. 33 Stobaeus 2, 77, 16–27 (= SVF III, 16) (Übers. Hossenfelder mit Änderung). 34 Vgl. G. Striker, ATARAXIA: Happiness as Tranquillity, in: The Monist 73 (1990), 97–110, hier: 99. 35 Seneca, De vita beata XV 2 (Übers. Rosenbach). 36 Stobaeus 2,88,6 (= SVF 3,378). 37 Hierzu M. Forschner, Die stoische Ethik. Über den Zusammenhang von Natur-, Sprach- und Moralphilosophie im altstoischen System, Stuttgart 1981, Darmstadt 21995, 138 f. 38 Themistius, Paraphr. in Aristot. de anima 90 b (= SVF 1,208). Nach Zenon gibt es vier Gattungen von Leidenschaften (DL VII 110–114): (a) Schmerz (= unvernünftiges Verzagen; Arten: Mitleid, Neid, Missgunst, Eifersucht, Beschwerde, Bedrängnis, Betrübnis, Wehleid, Bestürzung), (b) Furcht (= Erwartung eines Übels; Arten: Schrecken, Bedenklichkeit, Scham, Betäubung, Verwirrung, Beängstigung), (c) Begierde (= unvernünftiges Verlangen; Arten: Bedürftigkeit, Hass, Ehrgeiz, Zorn, Liebe, Groll, 32

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»sie ließen sich von Grund auf ausrotten, wenn die falsche Meinung über Güter und Übel getilgt werde«. 39 Doch der stoische Weise, der von allen Leidenschaften (gleichsam wie von Krankheiten) frei ist 40, darf nicht als gefühllos vorgestellt werden; er ist »affektlos« (apathês), aber nicht hartherzig. 41 Vielmehr kennt die Stoa »gute Affektionen«, d. h. vernünftige Emotionen, die keinem Tadel ausgesetzt sind (eupatheiai; constantia). Der stoische Weise hat also durchaus Seelenregungen, nur eben solche, die in der Vernunft ihren Ursprung haben; sie ergeben sich aus dem Tun, sind also gerade nicht etwas, was uns widerfährt. 42 Der stoische Weise ist »mit einer unerschütterlich heiter-gelassen-zuversichtlichen Gemütsverfassung« ausgestattet. 43 Doch worauf basiert diese Unerschütterlichkeit und Immunität des Weisen? 44 Zum einen auf dem Wissen, dass das einzig wahre Gut die Tugend ist, die einem nicht genommen werden kann, zum anderen auf der Indifferenz gegenüber den außermoralischen, d. h. körperlichen und äußeren Gütern. 45 Jähzorn), (d) Lust (= unvernünftiges Frohgefühl über eine scheinbar begehrenswerte Sache; Arten: Entzücken, Schadenfreude, Ergötzung, Zerstreuung). 39 Laktanz, div. inst. 6,14 (= SVF 3,444). 40 Cicero, Acad. Post. 1,38 (= SVF 1,207). 41 Vgl. Forschner, Die stoische Ethik, 139. 42 Ebd. Hier gibt es drei Gattungen vernünftiger Affektionen (DL VII 116): (a) Freude (= gerechtfertigte Gemütserregung; Arten: Ergötzung, Frohsinn, Gleichmut), (b) Vorsicht (= begründetes Ausweichen gegenüber Gefahren; Arten: Scham, Keuschheit), (c) guter Wille (= vernünftiger Trieb; Arten: Wohlwollen, Freundlichkeit, Gefälligkeit, Herzlichkeit). 43 M. Forschner, Die ältere Stoa, in: F. Ricken (Hg.), Philosophen der Antike, Bd. II, Stuttgart 1996, 24–39, hier: 37. 44 Vgl. Cicero, De finibus bonorum et malorum, III 29; III 75: »Wie eindrucksvoll, großartig und unerschütterlich in ihrer Standhaftigkeit ersteht hier die Persönlichkeit in der Gestalt des Weisen! Ihn hat die Vernunft gelehrt, dass einziges Gut das sittlich Gute ist. Stets muss er daher glücklich sein […] er wird allein der Freie sein, der keinem Zwingherrn gehorcht, noch auf den Lockruf irgendwelcher Leidenschaft hört. Unbesiegbar ist er, da er, mag man auch seinen Leib in Fesseln legen, die freie unbändige Seele in sich trägt.« (Übers. Atzert) 45 Vgl. DL VII, 101: »Von den Dingen, die es gibt, sagen die Stoiker, seien die einen Güter, die anderen Übel, die dritten keines von beiden [Adiaphora]. Güter seien die Tugenden: Einsicht, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Besonnenheit usw.; Übel die Gegenteile [Laster]: Uneinsichtigkeit, Ungerechtigkeit usw.; keines von beiden alle Dinge, die weder nützten noch schadeten, wie Leben, Gesundheit, Lust, Schönheit, Stärke, Reichtum, Ruhm, Adel sowie deren Gegenteile: Tod, Krankheit, Unlust, Häßlichkeit, Schwäche, Armut, Unehre, niedere Herkunft und dergleichen« (DL VII, 101 [= SVF 3,117]). Vgl. auch Stobaeus 2,54,18 (= SVF 3,70).

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»Der Weise aber kann nichts verlieren: alles hat er in sich geborgen, nichts dem Schicksal anvertraut, seine Güter hat er in Sicherheit, zufrieden mit seiner sittlichen Vollkommenheit, die auf Zufälliges nicht angewiesen ist und deswegen weder vergrößert noch gemindert werden kann […] Daher wird [der Weise] nichts verlieren, dessen Verlust er empfinden wird; einzig nämlich im Besitz sittlicher Fähigkeit ist er, aus dem man ihn niemals vertreiben kann.« 46

Von Demetrius Poliorketes, der aufgrund einer militärischen Niederlage all seiner Habe beraubt wurde, seine Töchter verloren hat und dessen Vaterstadt unter fremde Herrschaft gekommen war, überliefert Seneca die Aussage: »Nichts« habe er verloren, »alles Meine habe ich bei mir«. Nach Seneca hatte er »die wahren Güter in sich, auf die es keinen Zugriff gibt. Aber was zerstreut und geraubt davongetragen wurde, hielt er nicht für sein Eigentum, sondern für dem Schicksal unterworfen und dem Wink des Schicksals gehorchend: deswegen hatte er es, als sei es nicht sein Eigentum, geliebt. Denn Besitz an allem, was von außen zufließt, ist schlüpfrig und ungewiss.« 47

Die Unerschütterlichkeit basiert auf der Einsicht in den richtigen Wert der Dinge: Nur die Tugend hat einen absoluten Wert und ist daher in jeder Hinsicht vorzugswürdig, alles andere ist in Bezug auf die Tugend indifferent, in Bezug auf die Natur oder naturgemäßes Verhalten aber von einem relativen Wert. 48 Insofern wird sich der Stoiker durchaus um sein leibliches Leben, seine Gesundheit, seinen Besitz etc. kümmern, aber immer im Bewusstsein, dass es ihm jeder-

Seneca, De constantia sapientis V 4–5 (Übers. Rosenbach). Seneca, De constantia sapientis V 6–7 (Übers. Rosenbach). Zur Lehre von den Adiaphora (= [a] weder gut noch schlecht, d. h. weder wählenswert noch meidenswert, also nicht glücksrelevant; [b] was weder einen positiven noch einen negativen Trieb erregt) vgl. DL VII, 104 (= SVF 3,119); Stobaeus 2,79,4 (= SVF 3,118). Von den Adiaphora werden die einen aufgrund ihrer Naturgemäßheit bevorzugt (z. B. Leben, Gesundheit), die anderen aufgrund ihrer Naturwidrigkeit zurückgesetzt (z. B. Tod, Krankheit), die dritten weder bevorzugt noch zurückgesetzt (z. B. das Krümmen des Fingers). Die vorgezogenen und zurückgesetzten Dinge haben einen relativen Wert bzw. Unwert; der Mensch ist immer auch ein Naturwesen, er ist Geist in Leib. In Bezug auf das sittliche Leben, so Stobaeus, sind die körperlichen und äußeren Dinge Adiaphora, nicht aber in Bezug auf das naturgemäße Verhalten (Stobaeus 2,80,8 [= SVF 3,140]). 48 An dieser Stelle müsste eigentlich genauer auf die Oikeiosislehre eingegangen werden. Ich verweise auf Forschner, Über das Glück des Menschen, 50–66. 46 47

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zeit wieder vom Schicksal genommen werden kann. Er hat diese Dinge so, als habe er sie nicht. 49 An dieser Stelle darf nicht unerwähnt bleiben, dass eine solche Haltung gegenüber dem Schicksal und seinen ›Leihgaben‹, den Glücksgütern, eingebettet ist in eine umfassende theistische Teleologie. Der Logos, von dem schon Heraklit sagt, dass er das All verwaltet und dem sich jeder vernünftige Mensch anzuschließen hat 50, ist auch für die Stoa in allem gegenwärtig. Die Stoa vertritt ein pantheistisch-monistisches Weltbild: Die Welt wird als ein einziges Lebewesen vorgestellt, als eine einzige lebendige und vernünftige Substanz, in welcher der Logos und die Materie, das Tätige und das Leidende, untrennbar und vollkommen miteinander vermischt anwesend sind und die das periodische Geschehen von Weltentfaltung und Weltauflösung konstituieren. 51 Da der Logos als Prinzip der Weltverwaltung mit Gott identifiziert wird, gibt es keine getrennte Sphäre des Transzendenten, keinen platonischen Chorismos 52; der göttliche Weltkörper wird, so Forschner, dem stoischen Weisen zur Heimat. 53 Für die Stoa sind Physik und Ethik aufs Engste miteinander verbunden: »Auch der Physik ist nicht ohne Grund dieselbe Ehre zuteilgeworden, und zwar deshalb, weil jeder, der naturgemäß leben will, vom Weltall und der in ihm waltenden Ordnung ausgehen muss. In der Tat kann ja niemand über Gut und Böse richtig urteilen, wenn er keine genaue Kenntnis von der Planung der Natur hat, vom Leben der Götter und davon, ob die Natur des Menschen mit der des Universums übereinstimme. Niemand kann die alten Lehren der Weisen: ›den Augenblick ergreife‹, ›folge den Göttern‹, ›erkenne dich selbst‹, ›übertreibe nichts‹ ohne Physik erfassen und verstehen, welche Bedeutung ihnen zukommt – und diese ist sehr groß.« 54

Vgl. 1 Kor 7,29–31. DK 22 B 1, B 2, B 72. 51 Vgl. DL VII 134: »Ihrer Lehre zufolge hat das Weltall zwei Prinzipien, das Tätige und das Leidende. Das Leidende sei die qualitätslose Wesenheit, die Materie, das Tätige sei die Vernunft in ihr, die Gottheit; denn diese, ewig in ihrem Bestand, walte schöpferisch über alle Gestaltungen der Materie. Diesen Lehrsatz stellt Zenon von Kition auf in seiner Schrift vom Sein, Kleanthes in seiner Schrift von den Atomen, Chrysipp im ersten Buch seiner Physik« (Übers. Apelt). Vgl. auch DL VII 137. Hierzu genauer Forschner, Die stoische Ethik, 25 f. 52 Forschner, Die ältere Stoa, 34. 53 Forschner, Die stoische Ethik, 29. 54 Cicero, De finibus bonorum et malorum III 73 (Übers. Atzert). 49 50

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Der Mensch, so könnte man sagen, ist geborgen im Logos, Teil eines vernünftigen, teleologisch geordneten Ganzen, in das er sich einzufügen hat. Der Mensch wurde von Gott in die Welt gesetzt, so Epiktet, um ein Betrachter und auch Interpret seiner und seiner Werke zu sein. 55 Was uns äußerlich widerfährt, müssen wir letztlich als von diesem Logos gewollt und bestimmt annehmen, d. h., wir müssen uns mit dem göttlichen Willen der Allnatur identifizieren. »Die Freiheit des Menschen«, so Pierre Hadot, »hat ihren Sitz in seinem inneren Gespräch, welches ihm erlaubt, dem, was ihm geschieht, und dem, was er tut, Sinn und Wert zu geben.« 56 Die Rolle des Menschen liegt primär nicht darin, »Ereignisse zu initiieren, sondern sich ihnen einzuordnen und zu fügen«. 57 »Wenn er auch den äußeren Fluß der Ereignisse nicht zu beeinflussen vermag, so kann er doch seine eigene Stellung zu den Ereignissen bestimmen und ein Bewußtsein der Freiheit jenen Widerfahrnissen, Handlungen und Handlungswirkungen gegenüber gewinnen, die er erfährt, ausführt und intendiert oder die er auszuführen gezwungen ist. Was immer dem Menschen vorgegeben ist und ihm widerfährt, kann und soll durch die Affirmation des Fatums seines Zwangscharakters entledigt und damit zu etwas werden, demgegenüber das Subjekt in Freiheit sich verhält.« 58

Der Bezugspunkt für die Haltung der Gelassenheit ist in einem gewissen Sinn ein transzendenter, und zwar in Form einer immanenten Transzendenz. Es ist das Universum selbst, allerdings als ein vernünftiges, vom göttlichen Logos verwaltetes, das dem Weisen Halt inmitten der Wirrnisse seines Lebens gibt. Alles, was geschieht, hat seinen Platz in der von der göttlichen Vorsehung (pronoia) geordneten Wirklichkeit. Im berühmten Zeus-Hymnus des Kleanthes lesen wir: »Keine Tat geschieht auf der Erde, Gott, deinem Machtbereich entzogen, auch nicht im göttlichen Äther des Himmels und nicht im Meer, bis auf all das, was schlechte Menschen in ihrem Unverstand tun. Du jedoch weißt auch Krummes gerade zu machen und das Ungeordnete zu ordnen, und was nicht geliebt wird, liebst du. So nämlich fügtest du in eins alle Dinge

Epiktet, Dissertationes I, 6, 19 f. P. Hadot, Mark Aurel, in: F. Ricken (Hg.), Philosophen der Antike, Bd. II, Stuttgart 1996, 199–215, hier: 203. 57 Forschner, Die stoische Ethik, 110. 58 Ebd. 111. 55 56

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zusammen, die guten mit den schlechten, so dass sie alle an einer einzigen Vernunft teilhaben, die ewig existiert.« 59

Die »stoische Gelassenheit«, so möchte ich diesen Abschnitt zusammenfassen, hat also nichts mit Passivität oder Fatalismus zu tun. Worauf es der Stoa ankommt, ist die Souveränität des Tugendhaften gegenüber den äußeren Widerfahrnissen, auf die er keinen Einfluss hat. Eine solche Souveränität ist nur dem möglich, der in Übereinstimmung mit der göttlichen Allnatur lebt; er weiß, dass in allem, worauf er keinen Einfluss hat, die göttliche Vernunft tätig ist. Gerade aufgrund dieser inneren Unabhängigkeit bzw. Distanz ist der stoische Weise in der Lage, vernünftig zu handeln. »Die Stoa«, so Forschner, »hat niemals einer Haltung quietistischer Fügsamkeit in Veränderbares noch einem Rückzug aus der Sphäre des gesellschaftlich-politisch tätigen Lebens das Wort geredet«, vielmehr wird die reine theoria abgelehnt. »Der stoische Weise ist in der Welt tätig – die Tugend äußert sich, wo immer dies möglich ist –, er verselbständigt nur die Tugend als inneren Habitus und macht sich so unabhängig von allen unverfügbaren Momenten des Lebens.« 60 Unglücksfälle oder überhaupt Widerwärtigkeiten sind für den Stoiker Gelegenheiten zur Tugendübung. Die Gelassenheit gegenüber allem, worauf wir keinen Einfluss haben, wird also nicht als Resignation oder Rückzug gedacht, »sondern als willentliches Sicherheben zum Schicksal als ganzem, das den Zusammenhang und den Wechsel der Dinge und Ereignisse verfügt«; der »Wohlfluss des Lebens« (euroia biou) ist nur möglich, »wenn das Streben des einzelnen Menschen seine Partikularität transzendiert und zusammenstimmt mit dem Wollen dessen, der das Ganze verwaltet.« 61

4.

Epikur

Epikur kann als der Erste betrachtet werden, der die ataraxia, die Abwesenheit von Unruhe (tarachê), in einen eudaimonistischen Rahmen integriert hat, nämlich als eine Art von Lust. 62

59 60 61 62

Stobaeus 1,25,3 (= SVF 1, 537). Forschner, Die stoische Ethik, 24. Forschner, Die stoische Ethik, 215 f. Vgl. Striker, Ataraxia, 99.

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»Denn die unbeirrte Betrachtung dieser Zusammenhänge weiß, dass jedes Wählen und Meiden auf die Gesundheit des Körpers und die ungestörte Ruhe (ataraxia) der Seele zurückgeführt werden muss, weil dies das Ziel des glücklichen Lebens ist. Um dessentwillen nämlich tun wir alles, damit wir weder Schmerz noch Unruhe empfinden. Sobald dies aber einmal eintritt, löst sich jeglicher Sturm der Seele, weil das Lebewesen nicht umhergehen muss wie auf der Suche nach etwas, dessen es bedarf, und nicht nach etwas anderem suchen muss, das das Gut der Seele und des Körpers erfüllen würde.« 63

Wenn gesagt wird, dass die Lust das Ziel sei 64, dann, so Epikur, ist nicht die Lust des Ausschweifenden, nicht die im Genuss gelegenen Lüste gemeint, sondern »dass man weder am Körper Schmerzen noch an der Seele Unruhe spürt«. 65 Ein solches Glück liegt in unserer Macht. Aufgabe der Philosophie ist es, mit den ihr eigentümlichen Mitteln, d. h. auf kognitiv-rationale Weise, alle Faktoren zu identifizieren und zu beseitigen, die einen solchen Zustand des Seelenfriedens verhindern bzw. stören. Philosophie ist daher in ihrem Kern eine Form von Therapie: Sie klärt den Menschen auf über unbegründete Ängste und Sorgen, über falsche Meinungen und überzogene Bedürfnisse und macht so den Weg frei für einen heiteren und gelösten Daseinsvollzug. 66 Für Epikur sind es die falschen Meinungen bzw. Wünsche, die in der Seele Unruhe verursachen; daher ist das größte Gut das Vernünftigsein (phronêsis). 67 Im Mittelpunkt dieser rationalen Therapie steht die Beseitigung folgender störender Faktoren: (a) Furcht vor den Göttern und den Erscheinungen am Himmel, (b) Furcht vor dem Tod, (c) Furcht vor einer Unstillbarkeit und Rastlosigkeit der eigenen Be-

Epikur, Brief an Menoikeus 128 (Übers. Rapp). Die Tugenden sind für Epikur unverzichtbare Mittel zur Erreichung des Glücks: Kein lustvolles Leben ohne Tugenden, aber auch das Umgekehrte gilt »Es ist nicht möglich, angenehm zu leben, ohne vernünftig, anständig und gerecht zu leben, und es ist unmöglich, vernünftig, anständig und gerecht zu leben, ohne angenehm zu leben.« (Kyriai Doxai V; vgl. auch Brief an Menoikeus 132). 65 Epikur, Brief an Menoikeus 131 (Übers. Rapp). 66 Vgl. C. Rapp (Hg.), Epikur. Ausgewählte Schriften. Übersetzt und herausgegeben von C. Rapp, Stuttgart 2010, XIX: »Indem wir die Dinge erkennen und richtig verstehen lernen, überwinden wir die entsprechenden Befürchtungen und Beunruhigungen, die, wie gesagt, die wichtigste Hürde für das glückliche Leben im Zustand der ataraxia darstellen.« 67 Epikur, Brief an Menoikeus 132. 63 64

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gierden, (d) Furcht vor maßlos großen Schmerzen. 68 Ihre kürzeste Form findet die epikureische »vierfache Medizin« (tetrapharmakos) in den folgenden Sätzen: »Gott braucht man nicht zu fürchten. Der Tod ist ohne Empfindung. Das Gute ist leicht zu beschaffen. Das Schreckliche ist leicht zu ertragen.« 69 Auf diese vier Punkte ist kurz einzugehen: Ad (a): Himmelserscheinungen werden von Epikur konsequent entmythologisiert (z. B. sind sie nicht als göttliche Zornesausbrüche zu verstehen). Eine göttliche Determination des Weltlaufs, wie die Stoiker annehmen, gibt es nicht. Die Götter, deren Existenz Epikur gerade nicht leugnet, kümmern sich nicht um die menschlichen Angelegenheiten, sie teilen dem Menschen weder Lohn noch Strafe zu. Die Götter werden als vollkommen desinteressiert und irrelevant für die natürliche Wirklichkeit verstanden: »Götter gibt es nämlich; denn es gibt eine klare Kenntnis von ihnen. So wie aber die Menge meint, so sind sie nicht.« 70 Ein Gott ist »ein unvergängliches und seliges Wesen«; nichts darf einem solchen zugeschrieben werden, was mit seiner Unvergänglichkeit und Seligkeit unvereinbar wäre (z. B. Affekte wie Zorn oder Dankbarkeit). 71 Die Götter haben weder die Welt eingerichtet noch verwalten sie diese; sie sind »unsterbliche Wesen von unbeirrbarer Heiterkeit und teilnahmsloser Gelassenheit«. 72 Das menschliche Glück liegt daher gerade nicht in einem Sich-Einfügen in einen von der Vorsehung der göttlichen Allnatur eingerichteten und verwalteten Kosmos, sondern in der autarken Selbstgestaltung. Der Weise, der die epikureischen Lehrsätze Tag und Nacht bedenkt und schließlich verinnerlicht hat, wird niemals beunruhigt werden, sondern leben »wie ein Gott unter Menschen. Denn in keiner Hinsicht gleicht der Mensch, der mit unsterblichen Gütern lebt, einem sterblichen Lebewesen.« 73 Ad (b): Die Seele ist etwas Materielles; sie ist zusammengesetzt aus Seelenatomen, die beim Tod zusammen mit dem Körper zugrunde gehen. Der Tod kann uns gleichgültig sein: Aufgrund seiner Nicht-

Vgl. C. Horn, Philosophie der Antike. Von den Vorsokratikern bis Augustinus, München 2013, 70. 69 Zitiert nach Rapp, Epikur, XX. 70 Epikur, Brief an Menoikeus 123 (Übers. Rapp). 71 Epikur, Brief an Menoikeus 123; Kyriai Doxai I. 72 Horn, Philosophie der Antike, 71. 73 Epikur, Brief an Menoikeus 135 (Übers. Rapp). 68

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erfahrbarkeit kann ihm weder ein positiver noch ein negativer Wert zugeschrieben werden. 74 Deshalb ist die Furcht vor ihm unbegründet: »Gewöhne dich aber daran, zu glauben, dass der Tod keine Bedeutung für uns hat, weil alles Gute und Schlechte in der Wahrnehmung liegt. Der Tod aber ist gerade die Aufhebung der Wahrnehmung. Daher macht die richtige Erkenntnis, dass der Tod keine Bedeutung für uns hat, die Sterblichkeit des Lebens erst zu etwas, das wir genießen können, nicht indem sie eine unendliche Zeit (zum Leben hinzufügt), sondern indem sie das Streben nach Unsterblichkeit aufhebt. Denn es gibt nichts Schreckliches im Leben für den, der vollständig erfasst hat, dass nichts Schreckliches in dem Nichtleben liegt. Daher redet der einfältig, der sagt, dass er den Tod nicht fürchte, weil er Schmerzen bringen werde, wenn er da ist, sondern dass er ihn fürchte, weil er jetzt als ein in der Zukunft bevorstehender schmerzt. Denn was keine Beschwerden bereitet, solange es gegenwärtig ist, das bereitet, wenn man es erwartet, allenfalls überflüssigen Schmerz. Das furchterregendste Übel, der Tod, hat also keine Bedeutung für uns, denn wenn wir existieren, ist der Tod nicht anwesend, wenn aber der Tod anwesend ist, dann existieren wir nicht. Daher ist er weder für die Lebenden noch für die Toten von Bedeutung. Denn für die einen hat er keine Bedeutung, und die anderen existieren nicht mehr. Aber die Menge flieht den Tod bald als das größte der Übel, bald erstrebt sie ihn als Erholung von den Übeln im Leben.« 75

Epikurs Argument liegt eine sensualistische Theorie des Guten zugrunde: Alles Gute und Schlechte liegt in der Wahrnehmung oder Empfindung; nichts ist gut außer der Lust und alles andere hat nur einen Wert für uns, wenn es mit einer Lustempfindung verbunden ist. Nun aber ist der Tod die Aufhebung der Wahrnehmung. Also kann der Tod kein Übel für uns sein. Mehr noch: Er hat überhaupt keine Bedeutung für uns 76 und folglich weder einen negativen noch einen positiven Wert für uns, weil er kein möglicher Gegenstand einer Wahrnehmung oder Empfindung ist: Solange wir als empfindungsfähige Wesen da sind, ist der Tod nicht da. Wenn aber der Tod da ist, sind wir mit unserer Empfindungsfähigkeit nicht mehr da, also kein Subjekt, das Schmerz oder Lust, Qualen oder Freuden empfinden könnte. 77 Leben und Tod verpassen sich gewissermaßen. Epikurs Epikur, Kyriai Doxai II. Epikur, Brief an Menoikeus 124–125 (Übers. Rapp). 76 Vgl. auch Lukrez, De rerum natura III 830: »Nichts geht also der Tod uns an und reicht an uns nirgends.« (Übers. Büchner) 77 Vgl. auch Lukrez, De rerum natura III 884 ff.: »Daher entrüstet er sich, daß sterblich er wurde geschaffen, und sieht nicht, daß im wahren Tod kein anderes Ich ist, das 74 75

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Argument basiert auf der Annahme, dass sich der Mensch im Tod ins Nichts auflöst: Mit der Auflösung des Gesamtaggregats löst sich auch die Seele, so die atomistische Annahme, in ihre Seelenatome auf und verliert ihre Wahrnehmungs- und Empfindungsfähigkeit. 78 Epikurs Argument ist also in seine atomistische Physik eingebettet und letztlich von deren Plausibilität abhängig; auch die epikureische Ethik kennt also einen bestimmten metaphysischen Rahmen. Dieser wird hier durch die Atomistik (Leukipp, Demokrit) bereitgestellt, der Kosmos ist im Unterschied zur Stoa vollkommen entgöttlicht. 79 Ad (c): Grenzenlose Begierden sind offensichtlich mit der Seelenruhe unvereinbar. Das Maximum an Lust ist nach der vollständigen Befreiung von Unlust erreicht: »Die Beseitigung der gesamten schmerzlichen Empfindung ist die Grenze der Größe der Lust.« 80 Wenn einmal dieser Zustand, die Freiheit von körperlichem Schmerz und seelischer Unruhe, erreicht ist, kann die Lust im Fleisch nicht mehr gesteigert, sondern nur noch variiert werden. 81 Daher wäre es unvernünftig, ein noch höheres Maß zu erstreben. Es geht um eine Bedürfniskritik, die darauf hinausläuft, genau das zu wollen, was man erreichen kann; außerdem ist ein schädlicher Lebensstil zu meiden. In diesem Zusammenhang spricht Epikur von der Haltung der Selbstgenügsamkeit (autarkeia): Die Gewöhnung an das Notwendige sensibilisiert uns für andere, über das Notwendige hinausgehende Genüsse; außerdem gewährt sie uns eine innere Freiheit gegenüber dem Nicht-Notwendigen, was uns vor dem Leiden an ihrer Abwesenheit bewahrt. 82 Ad (d): Müssen wir uns vor großen Schmerzen fürchten? Während die Götter als selige Wesen permanent ohne Schmerzen sind, lässt sich im menschlichen Leben nicht mehr erreichen, als dass die Lust die Unlust überwiegt. Entweder dauert ein großer Schmerz nur

zu trauern imstand wär’ lebend, daß es vernichtet und das stehend hat Schmerz, daß es liegend zerfleischt und verbrannt wird.« (Übers. Büchner) 78 Vgl. Rapp, Epikur, XXIV. 79 Vgl. Forschner, Über das Glück des Menschen, 30: »Epikur neutralisiert den Kosmos zu einem ziellosen Spiel von Atomen und zieht das menschliche Dasein auf eine Form individueller Selbsttätigkeit und Selbstempfindung zusammen.« 80 Epikur, Kyriai Doxai III. 81 Epikur, Kyriai Doxai XVIII. 82 Epikur, Brief an Menoikeus 130.

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kurze Zeit, oder wenn er längere Zeit dauert, dann ist er ein kleiner Schmerz. 83 Der epikureische Weise, d. h. derjenige, der nach den Lehrsätzen lebt 84, zeichnet sich durch Selbstgenügsamkeit aus. Er findet sein Glück in heiterer Gelöstheit; er tritt in ein »distanziert-spielerisches Verhältnis« zu seinem eigenen Leben. 85 Seine Seelenruhe resultiert letztlich aus der Anerkennung seiner eigenen Endlichkeit und der Ausrichtung auf die Gegenwart. »Der Weise […] verschmäht weder das Leben noch fürchtet er das Nichtleben; denn weder ist ihm das Leben abstoßend noch meint er, dass das Nichtleben ein Übel sei. Wie er aber nicht unbedingt die größte Speise wählt, sondern die angenehmste, so genießt er auch nicht die längste Lebenszeit, sondern die angenehmste.« 86

Epikur, Kyriai Doxai IV. Vgl. Epikur, Brief an Menoikeus 133: Der Weise hat demnach (a) fromme Auffassungen über die Götter, (b) verhält sich gegenüber dem Tod furchtlos, (c) weiß, dass die Grenzen des Guten leicht zu erfüllen sind und leicht zu beschaffen sind, (d), weiß, dass die Grenze des Schlechten entweder nur kurz andauert oder geringe Mühen erfordert. 85 Forschner, Über das Glück des Menschen, 24. 86 Epikur, Brief an Menoikeus 126. 83 84

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Formen der Gelassenheit bei Schopenhauer 1 Matthias Koßler

Auch wenn man Schopenhauer wegen seines sowohl biographisch als auch im Stil seiner Schriften zutage tretenden heftigen Charakters als Person kaum mit Gelassenheit in Verbindung bringen möchte, ist unübersehbar, daß Gelassenheit, sofern dieser Begriff für eine vielfältige philosophische und theologische Tradition steht, eine bedeutende Rolle auch in seiner Philosophie spielt. Dabei sind innerhalb seiner Lehre zunächst zwei Standpunkte zu unterscheiden, in denen das Motiv der Gelassenheit auftaucht und entsprechend unterschiedliche Bezüge zur Tradition aufweist. Auf der einen Seite ist von Gelassenheit auf dem Standpunkt der »Bejahung des Willens zum Leben« die Rede, die an antike, v. a. stoische Konzeptionen anknüpft. Auf der anderen Seite spricht Schopenhauer von der »wahren« Gelassenheit, die nur auf dem Standpunkt der Verneinung des Willens zum Leben zu finden ist bzw. mit dieser zusammenfällt. Diese weltverneinende Gelassenheit steht in Verbindung mit der mystischen Tradition des Christentums, aber auch anderer Religionen, wie der des Buddhismus oder dem Sufismus. Im folgenden werde ich die beiden Richtungen in Auseinandersetzung mit den jeweiligen Traditionen betrachten und im dritten Teil einen sich aus dieser Auseinandersetzung ergebenden Ansatz zu einer ›modernen‹ Variante von Gelassenheit verfolgen. Zuvor sollte aber in aller Kürze erläutert werden, was unter Bejahung und Verneinung des Willens zum Leben bei Schopenhauer zu verstehen ist. Für Schopenhauer ist der Wille das Wesen des Menschen und auch der Welt, auf die die Wesensbestimmung in Analogie zum Selbstbewußtsein übertragen wird. Damit geht eine bewußte

Leicht überarbeitete Version des Aufsatzes Wege zur Gelassenheit in der Philosophie Schopenhauers, in: Schopenhauer-Jahrbuch 90 (2009), 99–115. Zum Thema vgl. auch die gesamte Dokumentation der Tagung »Schopenhauer und die Tradition der Gelassenheit«, ebd., 87–188.

1

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»Erweiterung« 2 des Willensbegriffs einher: »Wille« bezeichnet nicht nur das bewußte, zweckgerichtete Wollen, sondern alles, was in der Natur sich als Streben im weitesten Sinne äußert, bis hinab zu den allgemeinen Naturkräften. In dieser erweiterten Bedeutung ist das Wesen der Welt ein blinder Drang, der im Ganzen kein Ziel hat als seine eigene Erhaltung und Steigerung. Da alles Streben mit Mangel und Bedürftigkeit verknüpft ist und die Individuen in ihrem Streben konkurrierend sich gegenseitig zu unterdrücken suchen, ist das vom Willen dominierte Leben wesentlich leidvoll – sowohl hinsichtlich der physischen als auch der moralischen Übel. Wer die Erkenntnis vom Willen als Wesen der Welt und damit von der entsprechenden Beschaffenheit des Lebens erlangt hat, kann nun dieses Leben, das er bis dahin ohne diese Erkenntnis geführt hat, bewußt wollen, oder er kann sich von ihm abwenden, den Willen zum Leben verneinen. Das sind im Groben die Standpunkte der Bejahung und der Verneinung des Willens zum Leben, wobei die Bejahung zwar im strengen Sinne die bewußte Affirmation bedeutet, im weiteren Sinne aber auch den unreflektierten Lebensdrang mit einschließt. Denn der Intellekt steht natürlicherweise im Dienst des Willens (als Mittel zur Befriedigung und Steigerung der Bedürfnisse), und wenn er beginnt, über den Willen zum Leben selbst zu reflektieren, tritt er bereits in Distanz zu ihm. Das Problem der Reflexivität bei der Bejahung und Verneinung des Willens ist auch in Beziehung auf die Gelassenheit von durchgängiger Bedeutung.

1.

Gelassenheit in der Bejahung des Willens zum Leben

Schopenhauer verwendet das Wort »Gelassenheit« nicht als philosophischen Terminus. Häufig spricht er von Gelassenheit im Sinne von Gleichgültigkeit, die sich einfach aus »Phlegma und Stumpfheit« 3 erklärt. Philosophisch interessanter wird der Begriff dort, wo er im ZuW I, 132. Schopenhauers Werke werden zitiert nach der Ausgabe: Arthur Schopenhauer, Sämtliche Werke (Hrsg. Arthur Hübscher), Wiesbaden 21946–1950. Für die einzelnen Werke werden die im Schopenhauer-Jahrbuch angegebenen Abkürzungen verwendet: W I/II = Die Welt als Wille und Vorstellung (Bd. 2/3); P I/II = Parerga und Paralipomena (Bd. 5/6). Zur im folgenden grob umrissenen Grundlegung der Willensmetaphysik vgl. das zweite, zur Lehre von der Bejahung und Verneinung des Willens zum Leben das vierte Buch der Welt als Wille und Vorstellung. 3 W II, 238. 2

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sammenhang mit der den Menschen vor den Tieren auszeichnenden Vernunft fällt. Die Vernunft verschafft dem Menschen eine Distanzierung von der anschaulichen Gegenwart und ermöglicht ihm ein »Leben in abstracto, … wie es vor seinem vernünftigen Besinnen steht« 4. Aus der Fähigkeit zur Besonnenheit geht »jene von der thierischen Gedankenlosigkeit sich so sehr unterscheidende menschliche Gelassenheit hervor, mit welcher Einer nach vorhergegangener Ueberlegung, gefaßtem Entschluß oder erkannter Nothwendigkeit das für ihn Wichtigste, oft Schrecklichste, kaltblütig über sich ergehn läßt: Selbstmord, Hinrichtung, Zweikampf, lebensgefährliche Wagstücke jeder Art und überhaupt Dinge, gegen welche seine ganze thierische Natur sich empört. Da sieht man dann, in welchem Maaße die Vernunft über die thierische Natur Herr wird …« 5. Diese Form der Gelassenheit ist Ausdruck von »praktische[r] Vernunft« 6, aber Schopenhauer wendet sich vehement gegen die von Kant prominent vertretene Auffassung von einer ethischen Bedeutung der praktischen Vernunft. »Praktische Vernunft« bedeutet für Schopenhauer die pragmatische Verwendung der Fähigkeit zur besonnenen Überlegung unabhängig davon, ob der Zweck gut, böse oder moralisch neutral ist. Schon in einer frühen Aufzeichnung aus dem Jahre 1812 hatte er die praktische Vernunft in diesem Sinne gefaßt und das vernünftige dem moralischen, dem »bessre[n] Bewußtseyn« 7 entgegengesetzt, das jenseits aller theoretischen und praktischen Vernunft zu finden ist. Zu dieser frühen, sogenannten ›Lehre‹ vom besseren Bewußtsein wird im nächsten Abschnitt mehr zu sagen sein. Bei den Beispielen zur Gelassenheit angesichts des Todes dachte Schopenhauer an die Stoiker, und unmittelbar anschließend setzt er sich mit dieser Richtung auseinander, die in seinen Augen praktische Vernunft im echten Sinne lehrt, aber fälschlicherweise als ursprünglich ethische Position bezeichnet werde. Die Tugend komme hier erst als Mittel zur Vermeidung des Leidens, d. h. des Strebens nach Glück in Betracht; das Streben nach Glück ist aber in den Augen Schopenhauers Ausdruck des Egoismus, der die Tendenz zur Schädigung anW I, 101. W I, 102. 6 Ebd. 7 HN I, 23. Schopenhauers nachgelassene Schriften werden zitiert nach der Ausgabe: Arthur Schopenhauer: Der Handschriftliche Nachlaß (Hrsg. Arthur Hübscher), 5 Bde. München 1985 (HN). 4 5

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derer hat und damit grundsätzlich unmoralisch ist. Es ist jedoch die Frage, inwieweit Schopenhauer die Stoiker damit trifft. Seneca etwa, den Schopenhauer in diesem Sinne zur Stoa zählt 8, betont in De vita beata den Vorrang der »virtus« vor dem Genuß 9. Das Ziel ist nicht die Vermeidung des Leidens, sondern umgekehrt ist das zu ertragende Leiden nicht zu achten um der sittlichen Vollkommenheit willen: »Was immer aufgrund der Verfassung der Welt zu erdulden ist, nehme man mit hohem Mut auf sich: diesen Fahneneid haben wir geleistet, zu ertragen die Verhältnisse der Sterblichkeit und uns nicht verwirren zu lassen durch das, dem zu entgehen nicht in unserer Macht steht« 10. Die Kritik Schopenhauers am Stoizismus ist damit nicht ganz hinfällig, liegt doch für Seneca in der Tugend selbst das wahre Glück (vera felicitas), das Freiheit und Unversehrtheit verspricht 11. Durch den Vergleich mit der historischen Stoa wird der Blick aber auch auf etwas gerichtet, das für das Verständnis der Position Schopenhauers aufschlußreich ist: Jedes Streben nach Glück, sei es im Genuß oder durch die Tugend, ist illusionär angesichts der Beschaffenheit der Welt als Wille und Vorstellung. Die Stoiker unterliegen nach Schopenhauer der Illusion, die Vernunft könne durch die Fähigkeit zur Besonnenheit die »thierische Natur« völlig beherrschen und aus sich heraus einen Zustand hervorbringen, der als Glück zu bezeichnen wäre. Das »Leben in abstracto« bleibt aber immer sekundär und auf das durch Begehren und Leiden bestimmte konkrete Leben bezogen. Der Wille läßt nicht mit sich spielen, der Mensch genießt nicht, ohne die Genüsse zu lieben 12; und es liegt für Schopenhauer »ein vollständiger Widerspruch darin, leben zu wollen, ohne zu leiden …« 13. Das Glück, das in Aussicht gestellt wird, ist de facto doch nur »das gelassene Ertragen der Leiden,

Vgl. z. B. W II, 165 ff., 172 ff. Lucius Annaeus Seneca: De vita beata, IX, 1 – XV, 4 (23–39), in: Philosophische Schriften, Bd. 2: Dialoge VII-XII, Darmstadt 1971, 3–77. 10 De vita beata XV, 4: »Quicquid ex universi constitutione patiendum est magno suscipiatur animo: ad hoc sacramentum adacti sumus, ferre mortalis nec perturbari iis quae vitare non est nostrae potestatis«. 11 De vita beata XVI, 1: »Ergo in virtute posita est vera felicitas … Quod tibi pro hac expeditione promittit? Ingentia et aequa divinis: nihil cogeris, nullo indigebis; liber eris, tutus, indemnis; nihil frustra temptabis, nihil prohibeberis; omnia tibi ex sententia cedent, nihil adversum accidet, nihil contra opinionem et voluntatem.« 12 Vgl. W II, 171. 13 W I, 108. 8 9

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die man als unvermeidlich vorhergesehn hat« 14, dem, wie eine Phiole mit Gift, immer die Empfehlung des Selbstmordes beigemischt ist. Mit der illusorischen Macht der Vernunft über den Willen macht der Stoiker aus der praktischen Vernunft eine theoretische Sache, die auch nur eine unwahre Gelassenheit zeitigen kann 15. Daher bleibt das Ideal des stoischen Weisen leblos, »ein steifer Gliedermann« 16, eine poetischer Veranschaulichung unfähige Figur. Immerhin aber kann sich Schopenhauer der »Geistesgröße und Würde« 17 dieses Ideals nicht ganz verschließen. Die mit der Stoa in Verbindung gebrachte »unwahre« Gelassenheit ist zwar unter die Bejahung des Willens zu rechnen, denn sie strebt das Glück in diesem Leben an, und die Vernunft steht somit im Dienst des Willens zum Leben; aber der Standpunkt der Bejahung ist hier noch unbewußt, eine natürliche Einstellung, der die Verneinung des Willens als Alternative gar nicht in den Sinn kommt. Diese Alternative kommt erst mit dem Christentum in das europäische Denken, und dementsprechend sind nach Schopenhauer alle Moralsysteme der Antike, mit Ausnahme Platons, eudämonistisch, weil ein Zweck der Tugend »jenseits des Todes« 18 gar nicht in Betracht kommt. Wird dagegen die Bejahung im eigentlichen Sinne als Entscheidung angesichts der Alternative der Verneinung verstanden, so zeigt sich noch eine andere Form von Gelassenheit, die nicht illusionär ist, weil sie das mit dem Lebenwollen verbundene Leiden nicht zu vermeiden sucht, sondern begrüßt: Ein Mensch, der »bei ruhiger Ueberlegung, seinen Lebenslauf, wie er ihn bisher erfahren, von endloser Dauer, oder von immer neuer Wiederkehr wünschte, und dessen Lebensmuth so groß wäre, daß er, gegen die Genüsse des Lebens, alle Beschwerde und Pein, der es unterworfen ist, willig und gern in Kauf nähW II, 174. Der Gedanke einer theoretischen Gelassenheit, d. h. einer gleichmütigen Haltung gegenüber den Leiden und Genüssen, die das Leben nur begleitet, ohne sich praktisch in der Abwendung vom Leben zu äußern, wird den Stoikern von Schopenhauer besonders scharf angekreidet, weil er eine Form von Verneinung des Willens in der Bejahung nahe legt, die er für ausgeschlossen hält. In dieser Hinsicht sind ihm die Stoiker »bloße Maulhelden, und zu den Kynikern verhalten sie sich ungefähr, wie wohlgemästete Benediktiner und Augustiner zu Franziskanern und Kapuzinern« (W II 172). 16 W I, 109. 17 W II, 174. 18 W II, 166. 14 15

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me; ein solcher stände ›mit festen, markigen Knochen auf der wohlgegründeten, dauernden Erde‹ und hätte nichts zu fürchten: gewaffnet mit der Erkenntniß, die wir ihm beilegen, sähe er dem auf Flügeln der Zeit heraneilendem Tode gleichgültig entgegen, ihn betrachtend als einen falschen Schein, ein ohnmächtiges Gespenst, Schwache zu schrecken, das aber keine Gewalt über den hat, der da weiß, daß er ja selbst jener Wille ist, dessen Objektivation oder Abbild die ganze Welt ist […]« 19.

Ob diese Art von Gelassenheit, die Nietzsche später ins Zentrum stellen wird, beständig sein kann, ist zweifelhaft; denn sie käme nur dem Menschen zu, der »nicht … zugleich durch eigene Erfahrung, oder durch eine weitergehende Einsicht, dahin gekommen wäre, in allem Leben dauerndes Leiden als wesentlich zu erkennen« 20. Was in der Regel die Bejahung charakterisiert, ist daher nicht die Inkaufnahme, sondern die Verdrängung des Leidens, und zwar sowohl des eigenen Leidens in Vergangenheit und Zukunft als auch das der anderen, wodurch die Souveränität, mit der »wie auf einem tobenden Meer … mitten in einer Welt von Quaalen, ruhig der einzelne Mensch« 21 in seinem Kahn zu sitzen meint, nicht nur als Trug, sondern auch als unmoralisch demaskiert wird. Auf der Basis der Schopenhauerschen Lehre vom Primat des Willens im Selbstbewußtsein und in der Welt scheint wahre Gelassenheit nur durch Verneinung des Willens zum Leben, nicht aber durch Vernunft und Erkennen zu erreichen zu sein.

2.

Gelassenheit in der Verneinung des Willens zum Leben

Nicht solange das Leben gewollt wird, solange der Genuß – und sei es auch nur als Begleiterscheinung der Sittlichkeit – angenommen wird, sondern nur wenn der Wille sich vom Leben abwendet, wenn ihm »vor dessen Genüssen [schaudert], in denen er die Bejahung desselben erkennt«: erst dann gelangt der Mensch »zum Zustande der freiwilligen Entsagung, der Resignation, der wahren Gelassenheit und gänzlichen Willenlosigkeit« 22. Die Wendung des Willens gegen das Leben – und damit gegen sich selbst – ist wiederum die Folge einer Erkenntnis, aber diese soll nicht Erkenntnis der Vernunft sein (wie in 19 20 21 22

W I, 334 f. Ebd. W I, 416. W I, 448 (Hervorhebung M. K.).

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der Bejahung und in der Stoa), sondern ein Erkennen ganz anderer Art. Um den Zusammenhang von Erkennen und wahrer Gelassenheit zu verstehen, ist es angebracht, einen Blick auf die Entwicklung im Denken des jungen Schopenhauer zu werfen. Die Ursprünge sind in Schopenhauers früher ›Lehre vom besseren Bewußtsein‹ 23 zu finden. Das bessere Bewußtsein, so notiert sich Schopenhauer zu Beginn seiner Arbeiten am Hauptwerk (1814), »gehört ja eben nicht zur Welt, sondern steht ihr entgegen, will sie nicht« 24. Die frühen Aufzeichnungen sind deswegen interessant, weil sie sowohl die Wurzeln der späteren Lehre als auch die Abgrenzung von der stoischen Gelassenheit dokumentieren. Im ersten Entwurf von 1812 (HN I 22 f.) wird das bessere Bewußtsein der praktischen Vernunft entgegengesetzt, die das »sinnliche Daseyn beförder[t]« 25. Schon in den Jugendgedichten Schopenhauers war es als ein über dem zeitlichen Treiben, Begehren und Leiden schwebender Zustand vorbereitet. Wie wär’ es schön, mit leichtem leisen Schritte Das wüste Erdenleben zu durchwandeln, Daß nirgends je der Fuß im Staube hafte, Das Auge nicht vom Himmel ab sich wende 26

Die sich hier aussprechende Abwendung von der Welt und Sehnsucht nach dem »Reich Gottes« 27 hat durchaus Bezüge zur Gelassenheit und Weltüberwindung im Sinne des Pietismus, in dem Schopenhauer erzogen wurde 28. In Auseinandersetzung mit Fichtes System der Sittenlehre entwickelt Schopenhauer die Idee des besseren Bewußtseins zunächst als

Der Begriff des besseren Bewußtseins taucht häufiger in den handschriftlichen Aufzeichnungen Schopenhauers zwischen 1812 und 1814 auf. Ob sich die Stellen zu einer Konzeption fügen, die als Lehre zu bezeichnen wäre, ist umstritten. Vgl. Yasuo Kamata: Der junge Schopenhauer. Genese des Grundgedankens der Welt als Wille und Vorstellung. München 1988; Tomas Bohinc: Die Entfesselung des Intellekts. Frankfurt/M. 1989, S. 50 ff.; Nicoletta De Cian: Redenzione, Colpa, Salvezza. All’Origine della Filosofia di Schopenhauer. Trento 2002, S. 131 ff. 24 HN I, 120. 25 HN I, 22 f. 26 HN I, 2. 27 HN I, 10. 28 Vgl. dazu und zum folgenden meinen Aufsatz »›Nichts‹ zwischen Mystik und Philosophie bei Schopenhauer«, in: Philosophien des Willens. Böhme, Schelling, Schopenhauer (Böhme-Studien Bd. 2), Berlin 2008, 65–80, hier 67 f. 23

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ein solches, das infolge der gänzlichen Verneinung des Eigenwillens dahin kommt, daß sein Handeln »durch ein übersinnliches Princip« 29, d. h. das Sittengesetz, bestimmt wird. In einer Anmerkung zu dem Werk Fichtes, in der er sich vom Bezugstext löst und eigene Gedanken fortspinnt, formuliert Schopenhauer um 1811, also kurz bevor der Begriff des »besseren Bewußtseins« zum ersten Mal im Nachlaß auftaucht, einen Ansatz zur späteren Entgegensetzung von Gelassenheit im Sinne der praktischen Vernunft und wahrer Gelassenheit: »[…] – die Willkühr d. i. die Wahl mit Besonnenheit unter Gegenständen des Begehrens, hat zum Hauptkarakter daß sie die Beschränkung durch die Zeit abgeworfen hat, dieserhalb hat sie der Mensch vor dem Thier voraus …, ich würde sie deshalb praktische Vernunft nennen (so sehr auch die Kantianer schreien mögen). Die Freiheit des Willens aber ist die Fähigkeit der Vernichtung des Ganzen Eigenwillens, und ihr oberstes Gesetz ist »du sollst nichts wollen«. Ist sie eingetreten, so wird mein Handeln durch ein übersinnliches Princip bestimmt, das so feste Gesezze hat, daß Jeder weiß, was es in jedem möglichen Fall bewirken wird, und, nachdem ein Mal der Eigenwille vernichtet ist, Jeder durchaus auf die selbe Weise handelt als der Andre, d. h. alle Individualität aufgehört hat, deshalb Kant dies als ein objektives Sittengesetz aufstellt […]« 30

Das »übersinnliche Princip«, das vermutlich auch von Schellings späterer Fassung der intellektuellen Anschauung angeregt worden war 31, und das kantische Sittengesetz wurden später von Schopenhauer im Zusammenhang mit seiner Kritik an der Religion und an der kantischen Ethik drastisch zurückgewiesen. Damit ging die Trennung von Verneinung des Willens und Tugend und damit auch die Distanzierung zu einer Auffassung von Gelassenheit einher, die, wie in der Stoa, mit der aktiven sittlichen Lebensführung zusammenhängt. Die Askese, die anfangs noch wie in der Stoa die Funktion hatte, die Tugend zu befördern, verselbständigt sich als Verneinung des Willens HN II, 349. Ebd. 31 Vgl. F. W. J. Schelling: Briefe über Dogmatismus und Skeptizismus, achter Brief, in: Schellings Werke (ed. Manfred Schröter), 1. Hauptband. München 1927, 242: »Diese [intellektuale – M. K.] Anschauung ist die innerste, eigenste Erfahrung, von welcher allein alles abhängt, was wir von der übersinnlichen Welt wissen und glauben.« Sie tritt ein, »wo wir für uns selbst aufhören Objekt zu sein« (242) und wird als das »bessere Selbst« (S. 245) bezeichnet. In seinen Studienheften merkt Schopenhauer – ebenfalls 1811 – zu der betreffenden Passage an: »steht große lautere Wahrheit«. Vgl. dazu auch Yasuo Kamata: Der junge Schopenhauer. München 1988, 119 ff. 29 30

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zum Leben; sie ist nicht mehr der Weg zur Tugend für den »schwerbeweglichen« 32 Menschen, sondern der Weg in die »Heiligkeit«, der für uns auf dem Standpunkt der Bejahung des Willens Stehenden aber »ein Uebergang ins Nichts ist« 33. Mit der Heiligkeit ist die Tradition angesprochen, aus der bekanntlich der Begriff der Gelassenheit stammt: die christliche Mystik. Schopenhauer zieht neben Jeanne Marie Guyon und dem Buddhismus v. a. Meister Eckhart, die Theologia Deutsch und Johannes Tauler zur Bestätigung seiner Lehre von der Verneinung des Willens zum Leben heran, und es scheint, als verwende er hier, wo es um die »wahre Gelassenheit« geht, den Begriff auch terminologisch im Sinne der Mystik. Andererseits legen die bisherigen Ausführungen und insbesondere die Betrachtung der Entwicklung seit den Frühschriften nahe, daß diese Lehre bei einem modernen Verständnis von Gelassenheit bzw. der antiken Ataraxie ihren Ausgang genommen hätte; denn warum sonst wäre die Erkenntnis des dem Leben wesentlichen Leidens so unabdingbar für die Erlangung der wahren Gelassenheit, wenn die Aufhebung des Leidens nicht von zentraler Bedeutung wäre? Weil dem zur Selbsterkenntnis Gelangten »die leidende Menschheit und die leidende Thierheit, und eine hinschwindende Welt … so nahe« liegen, »wendet [er] sich nunmehr vom Leben ab« 34 und gelangt zur Resignation und Entsagung von der Welt. Die Gelassenheit in der christlichen Mystik ist aber weniger aus der Negation der Welt und ihrer Leiden zu begreifen als vielmehr im Gegenteil aus ihrer Affirmation. Gelassenheit ist hier das Ver-lassen der geschaffenen Welt und des Eigenwillens und das Zu-lassen des Seins und des Willens Gottes. 35 »Hat« der Mensch seinen eigenen Willen, sein Streben nach etwas (selbst nach Gott) »gelassen«, so fällt er nicht ins Nichts, sondern in die Einheit mit Gott, und auf diese Weise »ist« er von Gott »gelassen« worden: »Der Mensch, der gelassen hat und gelassen ist und der niemals nur einen Augenblick auf das sieht, was er gelassen hat, und beständig bleibt, unbewegt in sich HN I, 39. HN I, 245. 34 W I, 448. 35 Vgl. dazu Günther Zöller: »Anfang und Ende der Gelassenheit. Kritische Überlegungen im Hinblick auf die philosophische Moderne von Kant bis Schopenhauer«, in: Schopenhauer-Jahrbuch 90 (2009), 87–97, der »die Separation (›gelassen von‹) und die Dedikation (›gelassen zu‹) als die beiden konsekutiven Phasen des mystischen Prozesses)« (88) bei Meister Eckhart unterscheidet. 32 33

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selbst und unwandelbar – der Mensch allein ist gelassen« 36, heißt es bei Meister Eckhart. Der wesentliche Punkt der Mystik ist, daß im Lassen der Welt, das durchaus als Verneinung der Welt der geschaffenen Dinge zu verstehen ist, keine Leere entsteht, sondern im Gegenteil die Fülle des Seins erst freigelassen wird. In den neuplatonischen Anfängen der christlichen Mystik ist bereits in aller Deutlichkeit gesagt, daß sich die Rede vom Nichts nicht der Inhaltslosigkeit verdankt, sondern der Unaussprechlichkeit der Fülle. Proklos schreibt in seiner Theologie Platons über Negationen, mit denen er sich dem Einen zu nähern sucht: »… diese Verneinungen sind nicht beraubend in Hinsicht auf ihre Gegenstände, sondern erzeugend …« 37, und in der negativen Mystischen Theologie des von Proklos stark beeinflußten PseudoDionysius Areopagita heißt es am Ende, daß das Ziel des verneinenden Verfahrens »die vollkommene und einende Ursache von Allem« ist, die »sowohl über alle Bejahung als auch über alle Verneinung erhaben ist … jenseits des Ganzen«. 38 Durch die christliche Religion kommt der Gedanke hinzu, daß das im Unterschied dazu leere Nichts das Geschaffensein der Dinge ausmacht, das sie von Gott trennt 39. Der Schöpfergott und die Güte seiner Schöpfung sind also Voraussetzungen der christlich-mystischen Gelassenheit, und diese Voraussetzungen lehnt Schopenhauer in einer Weise ab, die ihm den Namen eines »Fürsten des Atheismus« 40 eingebracht hat. In einer handschriftlichen Notiz von 1827 (also lange nach Fertigstellung des Hauptwerks), in der er die Mystik des Dionysius Areopagita als »die einzig wahre« Theologie bezeichnet, werden die daraus resultierenden Schwierigkeiten offenbar. Schopenhauer erwägt hier, ob man das, was sowohl der Bejahung als auch der Verneinung des Willens zugrunde liegt, »Gott« nennen könne. Abgesehen davon, daß es dem Meister Eckhart: Predigt 12: Qui audit me, in: Werke Bd. 1, Frankfurt/M 2008, 142–151, hier 150: »Der mensche, der gelâzen hât und gelâzen ist und der niemermê gesihet einen ougenblik ûf daz, daz er gelâzen hât, und blîbet stæte, unbeweget in im selber und unwandelliche, der mensche ist aleine gelâzen.« 37 Proklos: In Platonis Theologiam Libri sex. Frankfurt 1518 (Nachdr. 1960), II, 4, (108): »… iste negationes non sunt privatrices ipsorum subjectorum, sed generatrices …« 38 Dionysius Areopagita: De Mystica Theologia (in: Corpus Dionysiacum Bd. II (ed. G. Heil / A. M. Ritter). Berlin / New York 1991, 139–150), II, 1025 A. 39 Vgl. z. B. Augustinus: De civitate Dei XIV, 13. 40 Fritz Mauthner, Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande Bd. 4. Stuttgart 1923 (Nachdr. Hildesheim 1963), S. 176. 36

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Begriff Gottes widersprechen würde, die Welt nicht zu wollen, wäre das schon deshalb zu verwerfen, weil der Begriff völlig leer wäre. »Wir würden von solchem Gott keine andre Theologie haben, als gerade die, welche Dionysius Areopagita giebt in seiner Theologia mystica, die bloß in der Auseinandersetzung besteht, daß von Gott sich alle Prädikate verneinen, aber keines bejahen läßt, weil er über allem Seyn und aller Erkenntniß hinausliegt, welches Dionysius epekeina, ›jenseits‹ nennt und als ein unserer Erkenntniß durchaus Unzugängliches bezeichnet. Diese Theologie ist die einzig wahre. Nur hat sie gar keinen Inhalt. Sie sagt und lehrt eingeständlich nichts: und besteht bloß in der Erklärung, daß sie Dies wohl wisse und Dem nicht anders seyn könne.« 41

Daß der Gottesbegriff, da er über die menschliche Fassungskraft hinausgehe, auch gleich inhaltslos wäre, würde Dionysius allerdings nicht folgern, für den das Nichts »überseiendes Sein und überwesentliches Wesen« ist; er kann daher aus der Fülle des Negativen auch eine ergänzende affirmative Theologie entfalten 42. Wenn Schopenhauer hingegen an die christliche Mystik und deren Begriff von wahrer Gelassenheit anknüpfen will, gerät er in die Not einer immanenten Begründung von Transzendenz. Denn nachdem der Glaube an Gott, der gewährleistet, daß das Jenseits der Welt als die Fülle ihres Seins gelten kann, weggefallen ist, kommt Schopenhauer auch in der Metaphysik nicht über den Willen zum Leben hinaus, und das Jenseits, das er im Schlußkapitel der Welt als Wille und Vorstellung anders als bloß negativ zu denken versucht, wird immer nur vom Seienden im Sinne des Geschaffenen her gefaßt. »Ein umgekehrter Standpunkt, wenn er für uns möglich wäre, würde die Zeichen vertauschen lassen und das für uns Seiende als das Nichts und jenes Nichts als das Seiende zeigen« 43. Lehnt Schopenhauer Gott als Person und als Schöpfer des Guten ab, so greift er dennoch merkwürdigerweise an zentraler Stelle auf die Gnadenwirkung zurück: »Denn eben Das, was die Christlichen Mystiker die Gnadenwirkung und Wiedergeburt nennen, ist uns die einzige unmittelbare Aeußerung der Freiheit des Willens« 44. Der Gedan-

HN III, 344. Dionysius Areopagita: De Divinis Nominibus (Corpus Dionysiacum Bd. I (ed. B. R. Suchla). Berlin / New York 1990, S. 107–231) I, 588 B; vgl. ders.: De Mystica Theologia, a. a. O., III. 43 W I, 485. 44 W I, 478. 41 42

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ke der Wirkung der göttlichen Gnade verhilft der mystischen Auffassung dazu, daß der Widerspruch einer vorsätzlich gewollten Gelassenheit vermieden wird. So wird z. B. in Jakob Böhmes Schrift Von wahrer Gelassenheit die Entsagung vom eigenen Willen dadurch aufgefangen, daß Gott in seiner Gnade den Menschen zum Werkzeug seines Willens macht. »Wann der eigene Wille der Selbheit abstirbet, so ist er der Sünden frey: Dann er begehret nichts, als nur dieses, was Gott von seinem Geschöpf begehret; Er begehret nur das zu thun, dazu ihn Gott geschaffen hat, das Gott durch ihn thun will. Und ob er wol das Thun ist, und seyn muß, so ist er doch nur als ein Werckzeug des Thuns, mit deme Gott thut was er will.« 45 Die Gelassenheit in diesem Sinne bedeutet alles andere als eine Abwendung vom Leben und Wirken; sie ist »Gottes Liebe-Willen«, der »aus Gnaden wieder in die Menschheit« eingegangen ist. »Wer da gedencket etwas Vollkommenes und Gutes zu wircken … der gehe aus der Selbheit, als aus eigener Begierde, in die Gelassenheit in Gottes Willen ein, und wircke mit Gott.« 46 Natürlich nimmt Schopenhauer die Rede von der Gnade nicht wörtlich: er will sie gleichnisweise verstanden wissen, um anzudeuten, daß auch in seiner Lehre von der wahren Gelassenheit die Verneinung des Willens nicht vorsätzlich zu erringen ist. Was aber bleiben außer dieser wiederum negativen Bestimmung für Möglichkeiten, die positive Wirkung, nämlich die Wendung zum heiligen Asketen, die »plötzlich und wie von außen angeflogen« 47 kommt, als etwas in dieser Welt Geschehendes, zu erklären? Es bleibt in dieser Gedankenlinie als Ursache für die Gnadenwirkung wieder nur der Wille, der so in Widerspruch zu sich selbst tritt: »die Gnadenwirkung aber ist unsere eigene« 48. Ein aufschlußreicher Briefwechsel mit Julius Frauenstädt aus dem Jahr 1852 dokumentiert, wie Schopenhauer noch im hohen Alter mit diesem Problem zu kämpfen hat 49. Immerhin stellt er hier, durch Jacob Böhme: De Aequanimate, oder Von der Wahren Gelassenheit, I, 19, in: Sämtliche Schriften (Hrsg. Will-Erich Peuckert), Stuttgart 1957, Bd. 4, S. 85–108, hier S. 94. 46 Ebd., II, 1 (S. 97) und 15 (S. 100). 47 W I, 478. 48 W I, 481, Anm. Zur Problematik der Rede von der Gnadenwirkung vgl. Rudolf Malter: Arthur Schopenhauer. Transzendentalphilosophie und Metaphysik des Willens. Stuttgart-Bad Cannstatt 1991, S. 438 ff. 49 Arthur Schopenhauer: Gesammelte Briefe (Hrsg. A. Hübscher), Bonn 21987 45

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die Nachfragen Frauenstädts gedrängt, klar, daß seine Metaphysik keinen Raum läßt für irgendeine Version einer »resignatio in divinam voluntatem«, wie sie in vorkantischen Ethiken geläufig war: Es gibt außer dem subjektiven Willen keinen metaphysischen Ur- oder Weltwillen, der an die Stelle des göttlichen Willens treten könnte. Zugleich wird in dem Briefwechsel aber auch deutlich, daß damit die Konzeption einer mystischen Gelassenheit fragwürdig wird. Die Verneinung des Willens, so heißt es in dem letzten Versuch, ist als »nolle« ein »actus« des Subjekts, wie das Wollen selbst; die Stelle 50 ist fast wörtlich in die zweite Auflage der Parerga und Paralipomena aufgenommen worden: »Die Bejahung und Verneinung des Willens zum Leben ist ein bloßes Velle et Nolle. – Das Subjekt dieser beiden actus ist Eines und das Selbe, wird folglich als solches weder durch den Einen, noch den andern Akt vernichtet. Sein Velle stellt sich dar in dieser anschaulichen Welt, die eben deshalb die Erscheinung ihres Dinges an sich ist. – Vom Nolle hingegen erkennen wir keine andere Erscheinung, als bloß die seines Eintritts und zwar im Individuo, welches ursprünglich schon der Erscheinung des Velle angehört: daher sehn wir, so lange das Individuum existirt, das Nolle stets noch im Kampf mit dem Velle: hat das Individuum geendigt und in ihm das Nolle die Oberhand behalten; so ist dasselbe eine reine Kundgebung des Nolle gewesen (dies ist der Sinn der päpstlichen Heiligsprechung): von diesem können wir bloß sagen, daß seine Erscheinung nicht die des Velle seyn kann, wissen aber nicht, ob es überhaupt erscheine, d. h. ein sekundäres Daseyn für einen Intellekt erhalte, den es erst hervorzubringen hätte, und da wir den Intellekt nur als ein Organ des Willens in seiner Bejahung kennen, sehn wir nicht ab, warum es, nach Aufhebung dieser, ihn hervorbringen sollte; und können vom Subjekt desselben auch nichts aussagen; da wir dieses nur im entgegengesetzten Actus, dem Velle, positiv erkannt haben, als dem Ding an sich seiner Erscheinungswelt.« 51

Ganz anders als in der Resignation liegt das nolle im Kampf mit dem velle, »so lange das Individuum dauert«; der Asket, den Schopenhauer gegen Ende des Hauptwerks schildert, paßt mit seiner »vorsätzlichen Brechung des Willens«, der »Kasteiung und Selbstpeinigung« 52 so wenig zur Ruhe und Beständigkeit der Gelassenheit, (GBr.), Nr. 277 (S. 283 ff.) und Nr. 279 bis Nr. 281 (S. 288–293); vgl. die dazugehörigen Erläuterungen Arthur Hübschers in GBr. S. 567 ff. 50 GBr. Nr. 281 (S. 293). 51 P II, 331 f. 52 W I, 451.

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daß der von der Lehre des besseren Bewußtseins aus zur Verneinung des Willens führende Gedankengang als zumindest fragwürdig erscheinen muß 53. Die Lehre vom besseren Bewußtsein hatte Schopenhauer bereits zu Beginn der Arbeiten an der Welt als Wille und Vorstellung fallen lassen. An die Stelle des der Vernunft entgegengesetzten besseren Bewußtseins tritt eine Konzeption, die zwar die Verneinung des Willens beibehält, diese aber zugleich als Resultat einer Erkenntnis, nämlich der Selbsterkenntnis des Willens, zu fassen sucht. Die Voraussetzung dieser Erkenntnis ist, wie Schopenhauer zunächst in einer Notiz von 1816 54 und dann in allen Auflagen des Hauptwerks schreibt, »die Besonnenheit der Vernunft, welche, unabhängig vom Eindruck der Gegenwart, das Ganze des Lebens übersehn läßt« 55. Damit geht die Gelassenheit der Willensverneinung auf dieselbe Quelle zurück, aus der auch die Formen der Gelassenheit in der Bejahung des Willens hervorgingen. Es ist daher zu untersuchen, ob sich in der Philosophie Schopenhauers ein dritter Weg zur Gelassenheit finden läßt, der Bejahung und Verneinung des Willens zum Leben verbindet und damit die Unzulänglichkeit der beiden bisher betrachteten Formen überwindet. Diese Suche ist durchaus im Sinne der Systematik Schopenhauers, nach der die verschiedenen in seiner Lehre eingenommenen Standpunkte in einem »einzigen Gedanken« 56 zusammenfließen müssen.

Auch bei Böhme gibt es den Aspekt des Kampfes des »ewigen« Willens, bei dem das Gemüt »nicht mehr will« mit dem »irdischen« Willen, der sich in das Leiden und den Tod Christi »einersencken« soll: »Will er nicht so muß er wol; so setze Feindschaft wieder das wollüstige, irdische Fleisch, gib ihm nicht das was es haben will, laß es fasten und hungern, bis der Kitzel aufhöret. Achte des Fleisches Willen für deinen Feind, und thue nicht was die Begierde im Fleische will, so wirst du dem Tode im Fleische einen Tod einführen« (a. a. O., 103 f.). Bei Eckhart dagegen finden sich derartige Ansätze zu einer Brechung des Willens nicht; im Gegenteil verhindert die Askese die Entleerung der Seele für die Aufnahme Gottes (vgl. Predigt 1: Intravit Jesus in templum, in: Werke Bd. I, a. a. O., 10–23 und Predigt 52: Beati pauperes spiritu, ebd., 550–563, bes. 552). 54 HN I, 356. 55 W I, 478. 56 W I, VII f. Zum Problem der Systematik in Schopenhauers Hauptwerk vgl. Schopenhauer-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung (Hrsg. D. Schubbe / M. Koßler). Stuttgart 2014, 36–43. 53

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3.

Ein dritter Weg

Wenn Schopenhauer die mit der Willensverneinung gleichgesetzte »wahre Gelassenheit« aus der Besonnenheit hervorgehen läßt, so ist er dennoch darauf bedacht, sie von der gewöhnlichen und der stoischen Gelassenheit abzugrenzen. Er tut dies, indem er sie auf ein besonders hohes Maß an Besonnenheit, auf eine »abnorme« Erkenntniskraft, zurückführt 57. Diese Ausnahmeerscheinung ist das Genie, das ursprünglich und eigentlich beim Künstler zu finden ist, gelegentlich überträgt Schopenhauer den Begriff aber auch auf den Heiligen und den Philosophen 58. Daß die Ästhetik Aufschluß über die wahre Gelassenheit geben kann, wird auch dadurch nahegelegt, daß Schopenhauer neben den Heiligenlegenden und Berichten über mystische Erfahrungen vor allem Zeugnisse der Kunst als »empirische« Belege für die Verneinung des Willens heranzieht: Die Kunst führt uns – im Unterschied zu Berichten und Legenden »mit dem Stämpel innerer Wahrheit« – den »Frieden, der höher ist als alle Vernunft, jene gänzliche Meeresstille des Gemüths, jene tiefe Ruhe, unerschütterliche Zuversicht und Heiterkeit« 59 vor Augen, die in der Schilderung sich selbst kasteiender Asketen so wenig zum Ausdruck kommt wie in der Vorstellung des steifen stoischen »Gliedermanns«. In der ästhetischen Kontemplation tritt nun auch das auf, was die christlich-mystische Gelassenheit im Gegensatz zur Verneinung des Willens zum Leben kennzeichnete, nämlich die Einswerdung mit dem Sein. Denn in der ästhetischen Betrachtung »verliert« sich das individuelle Selbst völlig in den Gegenstand, den es betrachtet und wird zum »bloßen Spiegel« des Objekts »so daß es ist, als ob der Gegenstand allein dawäre, ohne Jemanden, der ihn wahrnimmt, und man also nicht mehr den Anschauenden von der Anschauung trennen kann, sondern Beide Eins geworden sind, indem das Bewußtseyn von einem einzigen anschaulichen Bilde gänzlich gefüllt und eingenommen ist […]«. 60 Als reines Subjekt des Erkennens »ist« der W II, 230, 444, 479, P II, 103 u. ö. Ein Zusammenhang zwischen dem, was in der Ethik durch die Gnadenwirkung ausgedrückt werden soll, und der Genieauffassung zeigt sich darin, daß die Abnormität, die das Genie ausmacht, darauf zurückgeführt wird, »daß hier ein dem Willen, d. i. dem eigentlichen Ich, Fremdes, gleichsam ein von außen hinzukommender Genius, thätig zu werden scheint« (W II, 431). 58 W I, 468, W II, 429 f., 432. 59 W I, 486. 60 W I, 210. 57

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Mensch »alle Dinge, sofern er sie anschaut, und in ihm ist ihr Daseyn ohne Last und Beschwerde … Wohl ist Jedem in dem Zustande, wo er alle Dinge ist; wehe da, wo er ausschließlich Eines ist« 61. Aus der Ästhetik erfährt man auch, wie sich dieser gleichsam mystische Zustand aus einer abnormen Steigerung der Besonnenheit ergibt. Im gewöhnlichen Erkennen und Anschauen werden die Dinge in Relation zueinander und in letzter Instanz immer in Relation auf den eigenen Willen aufgefaßt. Dieses nach dem Satz vom Grunde verfahrende und im Dienst des Willens stehende Erkennen charakterisiert gleichermaßen Verstand und Vernunft. Die Besonnenheit der Vernunft schafft allerdings eine gewisse Distanz zu den Objekten und kann bei extremer Steigerung dazu führen, daß die Beziehung auf den eigenen Willen ganz abgeschnitten wird und die Dinge dann objektiv aufgefaßt werden, wie sie an sich selbst sind 62. Wenngleich im ästhetischen Zustand Parallelen zur unio mystica zu sehen sind, kann Schopenhauer doch nicht unmittelbar für eine Theorie der Gelassenheit in Anspruch genommen werden. Da in der angeschauten Idee eine Einigung nur mit der Welt als Vorstellung, nicht mit dem Willen stattfindet, ist der Zustand passiv und dauert nur so lange an, wie der Wille »vergessen« wird. Aus der Kontemplation gerissen findet sich der Mensch um so mehr von Leiden und Begehren getrieben, als die Steigerung der Besonnenheit auf der anderen Seite auch eine stärker ausgeprägte Individualität und damit Leidenschaftlichkeit des Genies zur Folge hat 63. Die ästhetische Kontemplation kann also nur als Beleg für die Möglichkeit einer Erkenntnis dienen, die aus der Abhängigkeit vom Willen befreit ist und so Welt- und Selbsterkenntnis in einem sein kann. Aus den Augenblicken der Betrachtung des Schönen »können wir abnehmen, wie sälig das Leben eines Menschen seyn muß, dessen Wille nicht auf Augenblicke, wie beim Genuß des Schönen, sondern auf immer beschwichtigt, ja gänzlich erloschen, bis auf jenen letzten glimmenden Funken, der den Leib erhält und mit diesem erlöschen wird. Ein solcher Mensch, der, nach vielen bitteren Kämpfen gegen seine eigene Natur, endlich ganz überwunden hat, ist nur noch als rein erkennendes Wesen, als ungetrübter Spiegel der Welt übrig. Ihn kann nichts mehr ängstigen,

W II, 425. Vgl. W II, 415 ff., 437. 63 Vgl. Matthias Koßler: »Zur Rolle der Besonnenheit in der Ästhetik Arthur Schopenhauers«, in: Schopenhauer-Jahrbuch 83 (2002), 119–133. 61 62

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nichts mehr bewegen […]. Er blickt nun ruhig und lächelnd zurück auf die Gaukelbilder dieser Welt, die einst auch sein Gemüth zu bewegen und zu peinigen vermochten […]«. 64

Eine durch die Vorstellung hindurch in den Willen reichende Erkenntnis der Einheit des Subjekts mit den Dingen findet sich bei Schopenhauer in der Durchschauung des principium individuationis. Anders als bei der Askese, die im beständigen Kampf die »vorsätzliche Brechung des Willens« 65 verfolgt, stellt die Durchschauung des principium individuationis, die sich in der freiwilligen Gerechtigkeit und in den uneigennützigen Werken der Menschenliebe als unmittelbares »Wiedererkennen« des eigenen Wesens im Anderen zeigt, eine Weise des oben zitierten »Durchschimmerns der Wirklichkeit« dar, die nicht durch Vorsatz zu erringen, »nicht wegzuräsonniren und nicht anzuräsonniren« ist, sondern die »Jedem selbst aufgehn muß« 66. Daß die aus dem Bewußtsein der Einheit des Wesens aller Dinge resultierende Gesinnung auch eine Art von Gelassenheit mit sich bringt, nämlich die »Gleichmäßigkeit und selbst Heiterkeit« eines guten Gewissens, wird von Schopenhauer nur ganz am Rande angedeutet. Infolge des mit der Durchschauung des principium individuationis einhergehenden »verminderten Antheil[s] am eigenen Selbst wird die ängstliche Sorge für dasselbe in ihrer Wurzel angegriffen und beschränkt: daher die ruhige, zuversichtliche Heiterkeit, welche tugendhafte Gesinnung und gutes Gewissen giebt, und das deutlichere Hervortreten derselben bei jeder guten That, indem diese den Grund jener Stimmung uns selber beglaubigt. Der Egoist fühlt sich von fremden und feindlichen Erscheinungen umgeben, und alle seine Hoffnung ruht auf dem eigenen Wohl. Der Gute lebt in einer Welt befreundeter Erscheinungen: das Wohl einer jeden derselben ist sein eigenes.« 67

Dieser Aspekt bleibt bei Schopenhauer marginal, weil demgegenüber mit der Gleichsetzung von Menschenliebe und Mitleid der Leidenscharakter der aus der Durchschauung hervorgehenden Erkenntnis in den Vordergrund tritt. Da gemäß der Metaphysik des Willens das Leben im Ganzen wesentlich durch Leiden bestimmt ist und Glück und Wohlsein allenfalls als vorübergehende Minderung des allgegen64 65 66 67

W I, 461 f. W I, 463. W I, 437 f. W I, 441 f.

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wärtigen Leidens vorkommen, ist das, was die Werke der Gerechtigkeit und Menschenliebe hervorruft, »immer nur die Erkenntniß des fremden Leidens, aus dem eigenen unmittelbar verständlich und diesem gleichgesetzt«; daher ist die »reine Liebe […] ihrer Natur nach Mitleid« 68. Das Gleichsetzen des fremden Leidens mit dem eigenen führt nun nach Schopenhauer dazu, daß der Mitleidige sich aufgrund des Übermaßes an Leiden, das ihm so gegenwärtig wird, vom Leben abwendet, daß das Motiv des Handelns aus Liebe zum »Quietiv« wird und zur »wahren Gelassenheit« der Resignation hinleitet: »wie sollte er nun, bei solcher Erkenntniß der Welt, eben dieses Leben durch stete Willensakte bejahen und eben dadurch sich ihm immer fester verknüpfen, es immer fester an sich drücken?« 69 In diesem von der Menschenliebe zum Mitleid und von der Tugend zur Askese 70 führenden Gedankengang wird die Seite der Durchschauung des principium individuationis, nach der aus der Erkenntnis der Nichtigkeit des individuellen Selbst und der Einheit mit den Dingen eine nicht-resignative Gelassenheit hervorgeht, vollständig zugunsten der Konzeption der Verneinung des Willens zum Leben unterdrückt 71. Es gibt aber noch ein Lehrstück aus der Philosophie Schopenhauers, in dem eine Einheit von Erkennendem und Erkanntem vorkommt, nämlich die Charakterlehre. Die Charakterlehre – auch wenn sie weniger prominent ist als Mitleidsethik und Verneinung des Willens –, hat eine zentrale Stellung in der Ethik; denn der Charakter des Menschen ist der Ort, an dem die Selbsterkenntnis des Willens und die Freiheit zur Bejahung und Verneinung des Willens zu betrachten sind. Die Selbsterkenntnis des Menschen als Erkenntnis des eigenen Charakters kann hier nur ganz grob skizziert werden 72. W I, 444. W I, 448. 70 Vgl. W I, 449. 71 Auch wenn diese Wendung aus gutem Grund im Zusammenhang damit gesehen werden kann, daß die mit der Durchschauung erfaßte metaphysische Einheit bei Schopenhauer nicht mehr ein gütiger und weiser Gott, sondern der blinde Wille ist, so bleibt doch seine logische Unstimmigkeit bestehen, daß einerseits das Individuationsprinzip für die Entzweiung des Willens und das daraus resultierende Leiden verantwortlich gemacht wird, andererseits die Durchschauung desselben aber keinen leidensmindernden, sondern -verstärkenden Effekt haben soll. 72 Ausführlicher habe ich die Erfahrung des Charakters dargelegt in: »Schopenhauers Philosophie als Erfahrung des Charakters«, in: Schopenhauer im Kontext. Deutschpolnisches Schopenhauer-Symposium 2000 (Hrsg. D. Birnbacher / A. Lorenz / L. Miodonski). Würzburg 2002, 91–110; »Life is but a Mirror: On the Connection 68 69

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Der Mensch fühlt in sich die Anlagen zu allen möglichen Bestrebungen, seine Wünsche sind grenzenlos und umfassen prinzipiell alles, was der »Mensch überhaupt« 73 wollen kann. Erst indem er aus seinen Handlungen erfährt, was er nicht nur wünscht, sondern wirklich will, wird ihm selbst sein bestimmter individueller Charakter nach und nach klar. Diese nur aus der Erfahrung zu erschließende individuelle Handlungsweise ist der »empirische Charakter«, der mittelbar Aufschluß gibt über das eigene Wesen, den »intelligiblen Charakter« 74. Der intelligible Charakter ist die individuelle Idee des Menschen und als solche unwandelbar, konstant. Aber der empirische Charakter ist in der Zeit, er entwickelt sich allmählich; man täuscht sich über seinen eigenen Charakter oder kämpft – freilich vergebens – gegen ihn an. Durch Vernunft ist der Mensch jedoch in der Lage, diese Irrwege, die von Reue und Schmerz gefolgt sind, zu vermeiden, seinen Charakter, soweit er ihn erkannt hat, mit Bewußtsein zu leben und so »mit voller Besonnenheit er selbst [zu] sein« 75. Dieser »erworbene Charakter« 76 wird als ein Sichfügen in die eigene Bestimmung gefaßt, und Schopenhauer verwendet zur Beschreibung des Verhältnisses zum eigenen Charakter Formulierungen, welche die stoische Gelassenheit als Vorbild erscheinen lassen: es gleicht der Ergebung in das Schicksal und dem »gelassenen« Beugen unter das Joch. Aber es handelt sich hier nicht um äußeres Schicksal und Natur, sondern um den eigenen Willen. Bedenkt man, daß uns der intelligible Charakter nicht anders als über den empirischen bekannt werden kann und daß der empirische als erworbener durch Vernunft modifiziert wird, so ist das Sichfügen hier auch zugleich ein Bestimmen des eigenen Charakters, dem man sich fügt, und zwar durch Bejahung und Verneinung der dem Menschen überhaupt möglichen Willensregungen. In einer handschriftlichen Aufzeichnung von 1814 hat Schopenhauer den Gedanken des erworbenen Charakters als einen Ausweg between Ethics, Metaphysics and Character in Schopenhauer«, in: European Journal of Philosophy 16/2 (2008), 230–250. 73 W I, 354, 357 f. 74 W I, 339 ff. Zur Herkunft der Konzeption von intelligiblem und empirischem Charakter vgl. Matthias Koßler: »Empirischer und intelligibler Charakter: Von Kant über Fries und Schelling zu Schopenhauer«, in: Schopenhauer-Jahrbuch 76 (1995) 195– 201. Lore Hühn: »Die intelligible Tat. Zu einer Gemeinsamkeit Schellings und Schopenhauers«, in: Selbstbesinnung der philosophischen Moderne (Hrsg. Ch. Iber / R. Pocai). Cuxhaven / Dartford 1998, 55–94. 75 W I, 360. 76 W I, 359.

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aus dem mit der Konzeption der resignativen Gelassenheit verbundenen Dilemma eingeführt, der den Menschen als Menschen berücksichtigt. Weder das Ideal des stoischen Weisen noch das des Heiligen kann der Mensch als Mensch (ohne die Annahme eines göttlichen Wirkens) erreichen; weder in der Bejahung noch in der Verneinung des Willens zum Leben kann er »innre Einheit seines Wesens, Eintracht mit sich selbst erlangen […]. Denn als Mensch ist innre Zwietracht sein Wesen, durchaus so lang er lebt« 77. Dies liegt eben an der Art und Weise, in der der Mensch sein Wesen im Spannungsfeld zwischen den unbegrenzten Anlagen und Wünschen, die ihm als »Mensch überhaupt« vor Augen stehen, und der individuellen und begrenzten Realisierung seines Charakters, die er sich durch sein Handeln und Nichthandeln gibt, entwickelt und erfährt. Die Ausbildung der Individualität, wie immer sie auch aussehen mag, geht einher mit der gewaltsamen Unterdrückung entgegenstehender Anlagen, mit dem schmerzlichen Verzicht auf die Erfüllung von Wünschen. So macht sich der Stoiker nur vor, er sei über seine »thierische Natur« erhaben, und der Asket muß immer aufs neue gegen die Versuchungen ankämpfen. »Bald mag das Eine, bald das Andere in ihm siegen; er [der Mensch] ist der Tummelplatz. Siegt auch das Eine fortwährend, so kämpft doch das Andre fortwährend: denn es lebt so lang er lebt: als Mensch ist er die Möglichkeit vieler Gegensätze. Wie wäre da Eintracht mit sich selbst möglich? In keinem Heiligen ist sie und in keinem Bösewicht. Oder vielmehr kein ganzer Heiliger und kein ganzer Bösewicht ist möglich. Denn sie sollen Menschen seyn, d. h. unselige Wesen, Kämpfer, Gladiatoren auf der arena des Lebens. Freilich ists am Besten er erkenne welches Theiles Besiegung ihn am meisten schmerzt: diesen lasse er stets siegen, was ihm mittelst der Vernunft, deren Begriffe ihm stets gegenwärtig sind, möglich ist: er entschließt sich freiwillig zu dem Schmerz, den ihm die Besiegung des andern Theiles macht. So hat er Karakter.« 78

Schopenhauer spricht dem erworbenen Charakter eine Bedeutung für die eigentliche Ethik ab 79, aber der soeben beschriebene Vorgang des besonnenen Selbstseins ist gerade das, was im Titel des vierten Buchs der Welt als Wille und Vorstellung, des Buchs über die Ethik, ausgesprochen ist: »Bei erreichter Selbsterkenntniß Bejahung und Ver77 78 79

HN I, 114. Ebd. Vgl. W I, 362.

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neinung des Willens zum Leben«; nur sind hier Bejahung und Verneinung nicht als einander ausschließende Alternativen gedacht, sondern als komplementäre Aspekte. Hinsichtlich der Frage nach der Gelassenheit stellt das besonnene Selbstsein im erworbenen Charakter einen – von Schopenhauer selbst vernachlässigten – echten Ansatz zu einem dritten Weg dar, der Motive sowohl der unter der Bejahung als auch unter der Verneinung des Willens zum Leben betrachteten Konzeptionen in sich vereint. Aus diesem Ansatz heraus ließe sich eine Theorie der Gelassenheit entwickeln, die in ihren Ansprüchen zwar hinter denen der Stoa und der christlichen Mystik zurückbleibt, aber dafür auf metaphysische Voraussetzungen verzichten kann. Sie wäre zu verknüpfen mit der von Schopenhauer nicht weiter verfolgten Tendenz der Durchschauung des principium individuationis zu einer nichtresignativen Gelassenheit, indem das Wiedererkennen des eigenen Wesens im Anderen auf die bleibende Gegenwärtigkeit der Anlagen des »Menschen überhaupt« bezogen würde 80.

Vgl. dazu Matthias Koßler: »Schopenhauers Philosophie als Erfahrung des Charakters«, a. a. O., 108 ff.

80

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1.

Gelassenheit im Gespräch Heideggers mit Meister Eckhart

Άγχιßασίη lautet der Titel eines größeren Textes, den Heidegger in den Jahren 1944/45 verfasst hat in Gestalt eines Gespräches zwischen einem Forscher, einem Gelehrten und einem Lehrer. Dieser Text trägt den Untertitel »Das erste Feldweggespräch« 1. Verkürzt und überarbeitet veröffentlichte er dieses Gespräch zwischen den Dreien 1959 unter dem Titel »Zur Erörterung der Gelassenheit« mit dem abgewandelten Untertitel »Aus einem Feldweggespräch über das Denken« 2. Diese gekürzte Fassung erschien zusammen mit der 1955 zum 175. Geburtstag des Komponisten Conradin Kreutzer gehaltenen Rede »Gelassenheit« 3. Spricht man von der Gelassenheit im Schrifttum und Denken Heideggers, so denkt man zuerst und zumeist nur an die Conradin-Kreutzer-Rede, in der Heidegger von der »Gelassenheit zu den technischen Dingen und der Offenheit für das Geheimnis« handelt. Was er in dieser Rede von der Gelassenheit ausführt, war für den Hörer und ist für den Leser leichter zugänglich als das Feldweggespräch von der Gelassenheit. Wollen wir aber erfahren, wie Heidegger die Gelassenheit in ihren wesentlichen Grundzügen denkt, müssen wir uns an das Feldweggespräch halten. Denn in diesem erarbeitet er den Wesensaufriss dessen, was er die »Gelassenheit zur Gegnet« nennt. Erst von diesem Wesensaufriss her, der in das Grundgefüge seines Denkens hineinzeigt, können wir ermessen, was er in der Conradin-Kreutzer-Rede als Gelassenheit zu den technischen Dingen denkt. M. Heidegger, Άγχιßασίη. Ein Gespräch selbdritt auf einem Feldweg zwischen einem Forscher, einem Gelehrten und einem Weisen, in: Feldweggespräche (1944/45). GA Band 77. Hrsg. von Ingrid Schüssler. Vittorio Klostermann, Frankfurt a. M. 1995. 2 M. Heidegger, Zur Erörterung der Gelassenheit. Aus einem Feldweggespräch über das Denken. In: Gelassenheit, a. a. O., S. 27–71. 3 M. Heidegger, Gelassenheit. In: Gelassenheit, a. a. O., S. 7–26. 1

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Das als Obertitel für das Feldweggespräch gewählte griechische Wort Άγχιßασίη hat Heidegger dem Fragment 122 des Heraklit 4 entnommen. Geläufigerweise wird es übersetzt durch »Annäherung«. Das Feldweggespräch schließt mit der Einsicht, dass die Gelassenheit ein »In-die-Nähe-hinein-sich-einlassen« ist. Auf dem Gang des Gespräches wird die Gelassenheit als das Wesen des Denkens erfahren. Dieses Denken ist aber primär weder das alltägliche Denken noch das Denken in den Wissenschaften, sondern das ausgezeichnete Denken, das Denken der Denker. Gesucht wird jedoch nicht ein allgemeiner Wesensbegriff vom philosophierenden Denken, gesucht wird vielmehr das Wesen des künftigen Denkens, das freilich nur erfahren werden kann im Ausgang von einem Bedenken seines bisherigen Wesens. Das künftige Wesen des Denkens wird sich den Miteinandersprechenden als die »Gelassenheit zur Gegnet« zeigen. Erst wenn das künftige Wesen des ausgezeichneten Denkens als die Gelassenheit zur Gegnet erblickt ist, kann es von diesem aus auch zu einem Wandel kommen, sowohl des wissenschaftlichen Denkens wie auch des Denkens in unserem lebensweltlichen Tun und Lassen. Wenn Heidegger in der Gelassenheit das gewandelte und künftige Wesen des Denkens erblickt, knüpft er für die Struktur dessen, was er als Gelassenheit denkt, an das Gelassenheits-Denken der deutschen Mystik, insbesondere des Meister Eckhart an. Um aber zu verstehen, wie Meister Eckhart die Gelassenheit denkt, dürfen wir nicht an jenen Bedeutungen hängen bleiben, in denen wir heute vom Gelassensein und von der Gelassenheit sprechen. Das gleiche gilt für Heidegger und die Weise, wie er im Anschluss an Eckhart von der Gelassenheit handelt. Um nachvollziehen zu können, wie Heidegger in einer formalen Anknüpfung an Eckhart die Gelassenheit als das künftige Wesen des Denkens fasst, müssen wir uns auch Meister Eckhart und seinem Verständnis von der Gelassenheit als dem wahren Gottesverhältnis des Menschen zuwenden. Dies kann freilich nicht in der Absicht geschehen, eine Abhängigkeit Heideggers von Meister Eckhart nachzuweisen. Vielmehr muss es uns darum gehen, wie Heidegger im denkenden Gespräch mit Meister Eckhart an einen Grundgedanken Eckharts anschließt, um mit dessen Hilfe sein Eigenes zu denken, das sich nicht aus Meister Eckhart herleiten lässt.

Heraklit, Fragment 122, In: H. Diels, W. Kranz (Hg.), Die Fragmente der Vorsokratiker. Zürich, Berlin 111964. 1. Band, S. 178.

4

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2.

Das Fragen nach dem Wesen des Denkens und des Menschen

In der abendländisch-europäischen Philosophie wurde von jeher im Denken die Auszeichnung des Menschenwesens gesehen. Daher lässt sich die Frage nach dem Wesen des Denkens nicht ohne die Frage nach dem Wesen des Menschen fragen. Die eine Frage schließt die andere ein. So beginnt auch das Feldweggespräch mit der Frage nach dem Wesen des Menschen. Auch hier wird nicht nach einem allgemeinen, unwandelbaren Wesen gefragt, sondern nach dem geschichtlich sich wandelnden, künftigen Wesen des Menschen. Das Eigentümliche dieses erfragten Wesens beruht darin, dass es nur im Wegblicken vom Menschen erfahren werden kann. Diese vorläufige Kennzeichnung verliert sogleich ihren Anschein des Paradoxen, wenn sich zeigt, dass sich das künftige Wesen des Menschen aus dem Bezug zu dem bestimmt, was nicht der Mensch ist. Das sich wandelnde Wesen des Menschen ist nur aus diesem Bezug erfahrund erfassbar, d. h. aus jenem Bezug, aus dem der Mensch sein künftiges Wesen empfängt. Dieser Vorgriff auf das künftige Menschenwesen schließt das Verlassen der bisherigen, vor allem neuzeitlichen, mit Descartes einsetzenden Wesensbestimmung des Menschen ein. Descartes war der erste Denker, der das Wesen des Menschen im Ich und dessen Ichheit suchte, die er als das Selbstbewusstsein in seiner Selbstgewissheit fasste. Mit Descartes beginnt die neuzeitliche Geschichte der Wesensbestimmung des Menschen, in der das Menschenwesen in wachsender Radikalität als die Subjektivität des Subjekts gesetzt wird, des maßgeblichen Subjekts, das fortan die Welt im Ganzen als Objekt für das Subjekt setzt. Dieser mit Descartes einsetzende neuzeitliche und unsere geschichtliche Gegenwart prägende Wesenswandel des Menschen schließt einen Wandel in der Wesensbestimmung des Denkens ein. Das Denken wird zu jener klaren und deutlichen Verstandeseinsicht, deren Eingesehenes, d. h. Gedachtes, ihre bzw. seine Wahrheit als Gewissheit aus der Selbstgewissheit des Selbstbewusstseins empfängt. Von jetzt ab bestimmt sich das Wesen des Denkens aus dem Denken und dessen Ich. Das künftige Wesen des Denkens kann aber nur erblickt werden im Wegsehen vom Denken in dieser neuzeitlichen Prägung und im Hinsehen auf den Bezug des künftig Zudenkenden zum Denken, aus dem sich das künftige Wesen des Denkens bestimmt.

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Aus demselben Bezug bestimmt sich auch das künftige Wesen des Menschen. Das aus dem neuzeitlichen, in der Subjektivität gründenden Menschenwesen sich bestimmende Wesen des Denkens kennzeichnet Heidegger als ein Vorstellen, und zwar als jenes Vorstellen, das in sich ein Wollen ist. Der erstmals durch Descartes mitgesetzte Willenscharakter zeigt sich besonders deutlich in der Wesensbestimmung des Denkens durch Kant, auf den Heidegger im Feldweggespräch eigens verweist. Kant fasst in der »Kritik der reinen Vernunft« den Wesensgrund des Denkens als die Spontaneität des Selbstbewusstseins. Die Spontaneität des Selbstbewusstseins (als Wesen des reinen Verstandes) ist Selbsttätigkeit, d. h. jenes Handeln des Denkens, das in seinen Funktionen der Einheit (Kategorien) die innerräumlich-innerzeitlich erscheinenden Dinge unter seine Einigungsformen bringt. Somit erhalten die erscheinenden Dinge ihre Objekt- oder Gegenstandsstruktur aus dem kategorialen Vorstellen. Was dieses Denken denkt, sein Gedachtes, ist die reine Objektivität oder Gegenständlichkeit, die aus der Subjektivität des reinen Selbstbewusstseins entspringt. Die kategoriale Objektivität ist die Weise, wie das Erscheinende durch das Subjekt und für das Subjekt gegenständlich wird. Die Objektivität ist die kategoriale Vorgestelltheit des vom Subjekt vorgestellten Seienden. Diese Vorgestelltheit ist die aus der Subjektivität entspringende Seiendheit des Seienden. Wird das künftige Wesen des Denkens gesucht im Wegsehen vom Denken und seinem neuzeitlichen Gepräge, so heißt das: Das künftige Wesen des Denkens ist kein vom Wollen, von der subjektiven Selbsttätigkeit her geprägtes Vorstellen, ja überhaupt kein Vorstellen. Demzufolge ist das, was das künftige Denken denkt, nicht von der Art der Vorgestelltheit des vorgestellten Gegenstandes, sondern Jenes, das von ihm aus in einem Bezug zum künftigen Wesen des Menschen steht. Das so in Gang gesetzte Fragen der drei Gesprächspartner nach dem künftigen Wesen des Denkens und des Menschen kennzeichnet sich nun selbst als Absage an das Wollen und als ein Sicheinlassen auf das gesuchte Wesen des Denkens und des Menschen. Statt von Absage können wir auch vom Ablassen sprechen. Damit stoßen wir aber bereits auf die zwei zentralen Wesensmomente dessen, was dann als Gelassenheit erfahren werden soll. Das Ablassen und das dadurch freiwerdende Sicheinlassen sind jene beiden Strukturmomente, in denen Meister Eckhart die Gelassenheit denkt. Dennoch ist es vorerst 124 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

Gelassenheit im Denken Martin Heideggers

nur das Fragen nach dem künftigen Wesen des Denkens, das sich als Ablassen vom Willensgepräge der neuzeitlichen Wesensverfasstheit des Denkens versteht, um sich auf das anders verfasste Wesen des künftigen Denkens einlassen zu können. Weil aber dieses suchende Fragen nach dem künftigen Wesen des Denkens selbst auch ein Denken ist, das nicht mehr ein wollendes Vorstellen ist, trägt es selbst schon die Züge des gesuchten Wesens, das sich als die Gelassenheit erweisen wird. Das suchende Fragen, das geführt ist von einem Vorverständnis dessen, wonach es fragt, versteht sich selbst als ein Wachbleiben für die Gelassenheit. Das will sagen: Die Gelassenheit als das künftige Wesen des Denkens kann nicht primär vom Fragenden erweckt werden. Sie muss sich für das suchende Fragen vielmehr von ihr selbst her zeigen. In diesem Sich-von-ihm-selbst-her-zeigen, für das das Fragen wach bleibt, muss die Gelassenheit Phänomen werden, um die Gelassenheit in ihrem phänomenalen Gehalt denkend aufzuschließen und auszulegen. Damit haben wir jetzt auf den phänomenologischen und hermeneutischen Charakter des suchenden Fragens hingedeutet. Im Vorblick auf das zu erfragende Wesen des Denkens als Gelassenheit kennzeichnet Heidegger das Sich-vonihm-selbst-her-zeigen der Gelassenheit als ein Zulassen. Um vom neuzeitlichen Wesensgepräge des Denkens und des Menschen ablassen und sich auf das künftige Wesensgepräge des Denkens und des Menschen einlassen zu können, bedarf es schon eines Zulassens. Denn das suchende Fragen kann die gesuchte Gelassenheit nur insofern erfragen, als das Erfragte für das Erfragen zugelassen wird. Mit dem Strukturmoment des Zugelassenwerdens meldet sich – in Absetzung gegen das Selbstverständnis des neuzeitlichen Denkens – jene Endlichkeit des hier anhebenden Denkens, die besagt, dass dieses Denken sich sein Zudenkendes vorgeben und zeigen lässt, nicht aber über es verfügt. Das Sichvorgeben und Sichzeigenlassen ist sein hermeneutisch-phänomenologischer Charakter. In den jetzt schon mit Blick auf die Gelassenheit eingeführten Leitworten: Zulassen bzw. Zugelassenwerden, Ablassen und Sicheinlassen ist jeweils das ›lassen‹ das tragende Wort. In dieses Lassen könnte man das Vorherrschende einer Passivität vermuten. Stattdessen zielt das Lassen auf so etwas wie ein höheres Tun. Als solches ist es aber auch keine Aktivität im geläufigen Sinne. Das Lassen im Ablassen und Sicheinlassen hält sich außerhalb der Unterscheidung von Passivität und Aktivität, welcher Unterschied in den Bereich unseres 125 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

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willentlichen Tuns und Lassens gehört. Was dagegen als Gelassenheit erfahren werden soll, ist selbst nicht vom Willen und Wollen bestimmt, weil es als höheres Tun unser willentliches Tun und Lassen allererst möglich macht. Zugleich deuten wir damit an, dass die Wesensbestimmung des Denkens und des Menschen als Gelassenheit nicht etwa darauf aus ist, dem menschlichen Willen überhaupt eine Absage zu erteilen. Vielmehr geht es einzig darum, das Wesen des Menschen und seines Denkens nicht wie in der neuzeitlichen Überlieferung aus dem Wollen und der Subjektivität zu denken. Nachdem wir Wesensstrukturen der Gelassenheit, das Ablassen und das Sicheinlasssen, aber auch das Zulassen kennengelernt haben, diese Strukturmomente von Heidegger aber dem Gelassenheits-Denken des Meister Eckhart entlehnt sind, ist es nunmehr geboten, bevor wir in der Entfaltung von Heideggers Gelassenheits-Denken fortfahren, uns erst einmal dem Gelassenheits-Denken Eckharts zuzuwenden.

3.

»lassen« und »gelassen« im Denken des Meister Eckharts

Unter den lateinischen und deutschen Schriften Meister Eckharts (1260–1327) sind es vor allem die vor 1298 verfassten deutschen »Reden der Unterscheidung« 5, auf die Heidegger zurückgreift, wenn er sich dem Gelassenheits-Denken Eckharts zuwendet. Von den 23 längeren oder kürzeren Reden sind es insbesondere jene, in denen Eckhart vom Lassen und Gelassensein handelt, die in den erhaltenen Handexemplaren Heideggers mit deutlichen Lesespuren, wie farbigen Anstreichungen und Randbemerkungen, versehen sind. Im Feldweggespräch fasst Heidegger den Sinn dessen, was für Meister Eckhart Gelassenheit besagt, zusammen als »das Abwerfen der sündigen Eigensucht und das Fahrenlassen des Eigenwillens zugunsten Meister Eckhart, Reden der Unterscheidung (mhd. Text). Hg. von Ernst Diederichs. Bonn 1925 (anastatischer Neudruck von 1913). Handexemplar Martin Heideggers. Die Seitenzahlen hinter den Auszügen aus den »Reden« sind folgender Ausgabe (zitiert unter RUw) entnommen: Meister Eckhart, Reden der Unterweisung. In: Deutsche Mystiker. Band III: Meister Eckhart. Ausgew. u. übers. von J. Bernhart. Verlag der Jos. Kösel’schen Buchhandlung Kempten u. München 1914, S. 76–131. Handexemplar Martin Heideggers. Die Kursivierung einzelner Worte stammt in den meisten Fällen vom Verf.

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Gelassenheit im Denken Martin Heideggers

des göttlichen Willens« (Gelassenheit, S. 34). In der Gelassenheit denkt Eckhart das wahre Verhältnis des Menschen zu Gott, das dann ein wahres ist, wenn es vom Gott-fernen, in sich selbst verstrickten Eigenwillen ablässt und sich dem göttlichen Willen und dessen Gewolltem ganz überlässt. So heißt es in der 3. Rede »Von ungelassenen Leuten, die voll Eigenwillens sind«: »Da sagen die Leute oft: ›Ach ja, Herr, ich wollte gerne, ich stünde mit unserem Herrgott auch so gut und hätte so viel Andacht und Friede mit Gott, wie andere Leute haben, und dass ich’s auch so hätte und so arm sein könnte‹. Oder sie sagen: ›Mit mir wird’s nimmer recht, ich sei denn da oder dort und tue so oder so, muss weg von daheim in Klause oder Kloster sein‹. Wahrhaftig, an all dem bist du selber schuld, und weiter nichts. Es ist nur dein Eigenwille. Und wenn du’s auch nicht weißt oder einsiehst: nimmer steht ein Unfriede auf in dir, er komme denn vom Eigenwillen, ob man das nun merke oder nicht. Was wir da meinen: der Mensch solle das eine fliehen, das andere suchen (…) – nicht das ist schuld, dass die Weise oder die Dinge dich hindern. Vielmehr: du selber in den Dingen bist es, was dich hindert, denn du hältst dich zu den Dingen nicht in der rechten Weise. Darum fang zuallererst bei dir selber an und lasse dich! (…) Ja, was soll er aber tun? Vor allem, er soll sich selber lassen, so hat er alle Dinge gelassen. Wahrlich, ließe ein Mensch ein Königreich, ja die ganze Welt und behielte doch sich selber, so hätte er nichts gelassen. Gibt er aber sich selber auf – er mag dann behalten was er will, es sei Reichtum oder Ehre oder was es sei, er hat doch alles aufgegeben. (…) Denn wer seinen Willen und sich selber lässt, der hat alles gelassen« (RUw, S. 78 f.). Das wahre Verhältnis zu Gott erfordert keine Weltflucht, sondern ist ein gewandeltes, vom göttlichen Willen durchstimmtes Weltverhältnis. Während im unwahren Gottesverhältnis der gottferne Eigenwille den menschlichen Weltbezug prägt, wandelt sich das unwahre in ein wahres Gottesverhältnis, wenn der Mensch seinen eigensinnigen Eigenwillen aufgibt, sich ganz dem göttlichen Willen überlässt und aus diesem allein sein Weltverhältnis bestimmen lässt. Denselben Grundgedanken der Gelassenheit finden wir auch in der 4. Rede »Vom Segen der Gelassenheit, die man innerlich und äußerlich üben soll«: ›Merke wohl, dass noch nie ein Mensch im Leben sich so überwand, dass ihm nicht noch etwas zu überwinden übrig blieb. Der Leute sind wenig, die das recht wahrnehmen und darin bestehen. Es ist ein gerechter Tausch und Handel: soweit du ausgehst 127 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

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aus den Dingen und des Deinen dich begibst, soweit (…) geht Gott ein in dich mit all dem Seinen‹ (a. a. O., S. 80). Aus der 10. Rede »Wie der Wille alles vermag und wie alle Tugend am guten Willen liegt« können wir entnehmen, dass auch für Meister Eckhart im Ablassen vom Eigenwillen nicht etwa das Wollen und Wünschen überhaupt aufgegeben werden soll: ›Nun wirst du fragen, wann der Wille denn ein rechter Wille sei? Da ist der Wille ganz und recht, wo er ohne alle Eigenheit ist, wo er sich selber verlassen und in den Willen Gottes eingebildet sich in ihn umgeformt hat‹ (a. a. O., S. 91). Nicht das Wollen und Wünschen als solches soll fahrengelassen werden, sondern der Eigensinn im menschlichen Willen und Wünschen. Ähnlich lesen wir in der 21. Rede »Von geistlicher Beflissenheit«: Solange lerne man, von sich selber zu lassen, bis dass man nichts Eigenes mehr behält. Alles Gestürms Unfriede kommt allein vom Eigenwillen, ob man’s merke oder nicht. Man soll sich selber mit seinen Kräften allen, allem Wunsch und Begehrentwerden, in Gottes guten lieben Willen begraben, mit dem allein man wollen und wünschen darf hinfort« (a. a. O., S. 120). Die 23. Rede »Von den Werken innerlich und äußerlich« schließt mit den Worten: »Wer allein seinen (Gottes) Willen hat und seinen (Gottes) Wunsch, der hat Frieden. Und das hat niemand, als wessen Wille ganz und gar eins ist mit Gottes Willen. Die Einigung gebe uns Gott« (a. a. O., S. 131). Das »lassen« hat für Meister Eckhart – so können wir zusammenfassen – zwei zusammengehörige Momente: 1. das Lassen als das Fahrenlassen der Eigensucht und des Eigenwillens und 2. Das sich Gott Überlassen, umwillen dessen sich das Fahrenlassen vollzieht. Das ebenfalls von ihm verwendete »gelassen« meint als Partizip Perfekt von »lassen« jene Haltung und Verhaltung des Menschen, in der dieser von seinem Eigenwillen abgelassen und sich Gott überlassen hat. Dieselbe Bedeutung hat das Substantiv »Gelassenheit«; Gelassenheit meint bei Meister Eckhart die Wesensverfasstheit dessen, der sich selber gelassen und sich Gott gelassen hat. Von diesen zwei ursprünglichen und zusammengehörigen Bedeutungen in denen Meister Eckhart und seine Schüler Heinrich Seuse (1300–1366) sowie Johannes Tauler (1300–1361) von der Gelassenheit als dem wahren Gottesverhältnis handeln, heben sich die späteren, insbesondere neuhochdeutschen Bedeutungen von »gelassen« und »Gelassenheit« ab. Sprechen wir von einem gelassenen 128 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

Gelassenheit im Denken Martin Heideggers

Menschen, so meinen wir, er sei beherrscht, ruhig und gefasst, unerschütterlich leidenschaftslos oder gleichmütig. Jemand zeichnet sich durch die Haltung der Gelassenheit aus, wenn er in allen Lebenslagen ein gelassenes Wesen, d. h. Gleichmut an den Tag legt. Zwar scheint auch hier noch die Bedeutung des Ablassens-von durch, aber diese und die des Sicheinlassens-auf bilden nicht mehr den tragenden Sinn. Wenn wir bei Meister Eckhart und bei Heidegger der Gelassenheit begegnen, dürfen wir uns nicht von der heutigen Bedeutung leiten lassen. Sowohl Eckhart wie Heidegger denken, wenn sie von der Gelassenheit handeln, nicht an die Bewahrung des Gleichmutes und der ruhigen Gefasstheit, sondern – und darin kommen beide in formaler Hinsicht überein – an ein Ablassen umwillen eines Sichüberlassens.

4.

Das Bedenken von Transzendenz und Horizont für den Übergang in das künftige Wesen des Denkens und seines Zudenkenden

Das künftige Wesen des Denkens (und des Menschen) wird von Heidegger im Ablassen von der bisherigen Wesensdeutung erfragt als die Gelassenheit. Doch das Ablassen kann hier nicht von der Art sein, dass wir der überlieferten, insbesondere der neuzeitlichen Wesensbestimmung des Denkens und seines Gedachten schlechthin den Rücken zukehren. In der Vermutung, dass das bisherige Wesen des Denkens und seines Gedachten in einem sachlichen Zusammenhang steht mit dem erfragten künftigen Wesen, können wir auf dem Wege eines Bedenkens des Überlieferten in das Künftige gelangen. Während Heidegger im Feldweggespräch bislang das neuzeitliche Denken und sein Gedachtes vor Augen hatte, weitet sich nunmehr sein geschichtlicher Rückblick aus auf die mit Platon beginnende Überlieferung, die er jetzt als das transzendental-horizontale Vorstellen kennzeichnet. Jetzt hat das Vorstellen nicht nur die engere Bedeutung des neuzeitlichen Vorstellens, das in sich ein Wollen ist, sondern die weite Bedeutung, die auch das Denken der Antike und der mittelalterlichen Denker einschließt. In diesem weiten Sinne ist das Denken ein Vorstellen, sofern sein Vorgestelltes und Gedachtes das Sein als das Wassein des Seienden und dieses die Seiendheit des Seienden ist. Im neuzeitlichen Denken bestimmt sich das Wassein des Seienden aus der Subjektivität des Subjekts. Das Wassein in der Wei129 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

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se der platonischen Ideen hat dagegen den Charakter eines Gesichtskreises oder Horizontes. Der Horizont des Wasseins eines Seienden ist die Aussicht, in die wir denkend immer schon hineinsehen, wenn wir die Erfahrungsdinge in ihrem aus der Aussicht bestimmten Aussehen wahrnehmen. Der Horizont des Wasseins übertrifft das Seiende in seinem Aussehen, ist immer schon über das Seiende hinaus. Das denkende Hineinsehen in den Wesenshorizont (Ideenhorizont) hat aber das Wahrnehmen der Dinge je schon überholt; das Hineinsehen in den Wesenshorizont ist früher als das Wahrnehmen der Dinge, insofern das Wahrnehmen schon vom Hineinsehen in den Wesenshorizont geführt wird. Das jegliche Wahrnehmen je schon überholende denkende Hineinsehen in den Wesenshorizont hat das wahrnehmbare Seiende im Vorhinein überstiegen auf den Wesenshorizont hin. Übersteigen heißt aber lat. transcendere, so dass das vorstellende Hineinsehen in den Wesenshorizont ein transzendentales Vorstellen ist. Wenn wir nur sagen, das bisherige Denken sei verfasst als ein vorstellendes Hineinsehen in den Wesenshorizont für das Seiende, dann ist dieser Horizont für das Wassein ein Offenes, Unverschlossenes. Was aber ist dieses Offene selbst in seiner Offenheit? Mit dieser Frage, die weder Platon noch Kant gestellt hat, fragt Heidegger über die Grenze des überlieferten transzendental-horizontalen Denkens (Vorstellens) hinaus. Zunächst kann gesagt werden: Der für das Wesensdenken je schon offene Horizont ist »nur die uns zugekehrte Seite eines uns umgebenden Offenen« (Gelassenheit, S. 37), das in dieser Zukehrung hinsichtlich dessen, was es an ihm selbst ist, für das Denken noch abgekehrt ist. Was ist dieses Offene selbst, wenn wir es nicht nur als den offenen Horizont denken?

5.

Das Gegnen der Gegnet und die Gelassenheit

Die Antwort auf die entscheidende Frage, was das Offene selbst sei, lautet: Das Offene selbst ist die einzigartige Gegend, »durch deren Zauber alles, was ihr gehört, zu dem zurückkehrt, worin es ruht« (a. a. O., S. 38). Was Heidegger jetzt die Gegend nennt, heißt sonst bei ihm die Unverborgenheit, die Wahrheit oder die Lichtung des Seins. Das Offene selbst, die Gegend als die Lichtung für das Sein selbst, zeigt sich nun mehr als das gesucht Zudenkende des künftigen Denkens, das kein transzendental-horizontales Vorstellen mehr ist. 130 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

Gelassenheit im Denken Martin Heideggers

Erfahren wir im Denken das Sein des Seienden nicht mehr nur als den Wesenshorizont und nicht mehr aus der Subjektivität des Subjekts, sondern aus der Gegend als der Lichtung, dann denken wir auch das Seiende nicht mehr als Objekt, das seine Objektstruktur aus der Subjektivität empfängt. Vielmehr erfahren wir das Seiende nunmehr als ein solches, das statt dem Subjekt der Gegend als der Lichtung des Seins gehört und aus dieser Lichtung zu seinem in ihm selbst beruhenden, weil in ihm geborgenen Was- und Wie-sein zurückkehrt. Der Zauber der Gegend nennt die Weise ihres Waltens. Um dieses Walten in seinem Bezug zum Seienden wie zum Menschen und dessen Denken sprachlich fassen zu können, greift Heidegger auf die ältere Sprachform für Gegend zurück: die Gegnet. Das Walten der Gegend oder Gegnet geschieht als ihr Gegnen. Aus dem Gegnen als dem Sichöffnen des Offenen denkt Heidegger das Wesen der Wahrheit, des Seins, der Zeit, des Raumes und der Welt. Aus diesem Gegnen empfängt das Seiende seine Entborgenheit oder Offenbarkeit, seine Seinsverfassung, seine Zeitlichkeit, seine Räumlichkeit und seine Weltzugehörigkeit. Dieses Gegnen geschieht aber nicht ohne das Wesen des Menschen und seines Denkens. Das suchende Fragen, das sich zu Beginn des Gespräches als ein Wachbleiben für das gesuchte Wesen des Denkens, für die Gelassenheit verstand, – dieses suchende Fragen erfährt jetzt, da es in einem ersten Anlauf das Offene selbst als die gegnende Gegend erblickt, sich selbst, sich selbst als aus der Gegnet in die Gegnet eingelassen. Es erfährt sein Eingelassensein in die Gegnet, um sich als so eingelassen auf die Gegnet und deren Walten einlassen zu können. Das eingelassene Sicheinlassen ist aber die Verfasstheit der Gelassenheit. Insofern der Einblick in die Gelassenheit herkommt aus einem zugelassenen Ablassen von der bisherigen Wesensbedeutung des Denkens und seines Gedachten, gehören zur Gelassenheit auch die Momente des Zugelassenwerdens und des Eingelassenwerdens. Das Zugelassenwerden kommt wie das Eingelassenwerden nicht aus dem Fragenden selbst, sondern aus dem Gesuchten und nunmehr Gefundenen des Fragens. Darüber hinaus kommt es darauf an, dass das aus der Gelassenheit sich bestimmende Denken sich nicht nur gelegentlich auf die Gegnet einlässt, sondern sich dem Gegnen der Gegnet überlässt und ihm überlassen bleibt. Die volle Wesensstruktur der Gelassenheit umfasst daher: das

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Zugelassenwerden, das Ablassen, das eingelassene Sicheinlassen auf die Gegnet und das Überlassenbleiben der Gegnet. Das sich aus der neuzeitlichen Wesensdeutung loslassende und somit das künftige Wesen des Denkens ist die Gelassenheit, deren Zudenkendes das Walten der Gegnet ist. Wie ist nun der einlassende Bezug der Gegnet zum Denken, das sich auf die Gegnet einlässt, zu fassen? Das Denken kann sich nur auf das Gegnen der Gegnet einlassen, sofern es dafür aus der Gegnet in sie eingelassen wird. Doch auch für jeden weiteren Schritt des Denkens in der Gegend muss das Denken in das in diesem neuen Gedankenschritt Zudenkende eingelassen werden. Jeder Wesenszug aus dem Walten der Gegend muss dem Denken vorgegeben werden, damit das Denken sich auf den Wesenszug einlassen kann. Das Vorgegebenwerden, die Vorgabe, geschieht aus der Gegend selbst in der Weise des Sichöffnens und Sichzeigens. Damit blicken wir erneut in den hermeneutisch-phänomenologischen Charakter des Gelassenheits-Denkens. Phänomenologisch ist das als Gelassenheit sich vollziehende Denken, sofern es sich nur an das Sichzeigende hält, und zwar so, wie dieses sich an ihm selbst und von ihm selbst her zeigt und d. h. Phänomen wird. Hermeneutisch ist das Denken als das eingelassene Sicheinlassen, weil es sich in den drei Vollzugsbedingungen der Hermeneutik vollzieht: Das aus der Gegnet sich je und je Zeigende ist die hermeneutische Vorhabe des Gelassenheits-Denkens. Dieser Vorhabe entnimmt das Denken die hermeneutische Vorsicht, d. h. jene Hinsicht, auf die hin das in der hermeneutische Vorhabe Sichzeigende denkend ausgelegt werden soll. Das so in der hermeneutischen Vorhabe und Vorsicht sich vollziehende Denken bewegt sich zugleich in einem Vorgriff auf jene sprachliche Begrifflichkeit, die aus dem denkend Auszulegenden geschöpft werden soll. Die Gelassenheit als das jetzige und künftige Wesen des Denkens ist von ihr selbst her hermeneutisch-phänomenologisch. Der Ursprung des Weges, den das Gelassenheits-Denken geht, sowie der Ursprung der Bewegung des Weges und des Gehens liegt nicht im Denkenden selbst, sondern in dem von ihm Zudenkenden. Das Zudenkende, das Offene des Seins selbst, lässt das Denken in es selbst ein, so, dass das Denken sich auf das jeweils sich öffnende Offene einlassen kann. Der Wesensaufriss der von Heidegger gedachten Gelassenheit schließt in sich fünf Strukturen des Lassens zu einer Einheit zusammen: das aus der Gegnet geschehende Zulassen des Ablassens vom vorstellenden Denken umwillen des aus der Gegnet geschehenden 132 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

Gelassenheit im Denken Martin Heideggers

Eingelassenwerdens des Denkens in sein Sicheinlassen auf das Gegnen der Gegend im Überlassenbleiben des Denkens diesem Gegnen der Gegend.

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Weisheit

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»Jeder Tag hat genug eigene Plage« (Mt 6,34) Ein persönlicher Zugang zur jesuanischen Weisheit Martin Ebner

»Jeder Tag hat genug eigene Plage« (Mt 6,34). Das war der Spruch aus dem Matthäusevangelium, der mich in der Zeit vor meiner Priesterweihe direkt angesprungen hat. Ich fand ihn in der Bergpredigt, am Ende der Sprüche über das Sorgen. Mein Lebensgefühl war damals bedrückend; ständig von der Sorge überschattet: Ist das die richtige Entscheidung, wenn du dich zum Priester weihen lässt? Werde ich sie ein Leben lang durchtragen können? Werde ich wenigstens einigermaßen glücklich sein können – oder bleibe ich so dauerdepressiv wie in diesen Jahren im Priesterseminar, als die Entscheidung immer näher gerückt ist? »Sorgt euch nicht um morgen; denn der morgige Tag wird für sich selbst sorgen. Jeder Tag hat genug eigene Plage« (Mt 6,34). Das hat mir geholfen. Das hat mich meine trüben Tage in einem neuen Licht sehen lassen. Ich habe mir sagen lassen: Es bringt nichts, sich um die ferne Zukunft Sorgen zu machen. Schau auf den heutigen Tag! Jeder Tag hat genug eigene Plage. Morgen sieht die Welt anders aus. Morgen gibt es andere Sorgen zu bewältigen. Was morgen ist, kannst du heute nicht wissen. Also: Konzentriere dich auf das Heute, auf die momentane Stunde, auf das Jetzt. Und vertrau darauf: Hast du diesen heutigen Tag bestanden, wirst du auch den morgigen Tag bestehen können. »Jeder Tag hat genug eigene Plage« – dieser Satz aus der Bergpredigt hat mir geholfen. Ich habe seiner Weisheit vertraut, nicht nur weil er in der Bibel steht. Hinter diesem Satz, wie hinter jedem Weisheitsspruch, steckt eine durch Generationen hindurch eingestampfte Erfahrung. Das Konzentrat, das in diesem kurzen Satz vermittelt wird, haben viele Generationen vor mir erlitten und durchlitten, aber zugleich auf einen Nenner gebracht, der der Sorge um morgen die Wucht nimmt. Diesen Satz vor Augen habe ich gespürt: Du bist mit deiner Sorge um die Zukunft nicht allein. Viele Generationen vor dir teilen 137 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

Martin Ebner

sie mit dir. Aber die Vielen vor dir sagen dir auch: Es hat keinen Sinn, sich verrückt zu machen wegen der Probleme, die vielleicht morgen oder übermorgen anstehen. Nimm das Heute in die Hand – und du wirst besser und sorgloser leben. Nimm das Heute in die Hand – und du wirst die Kraft spüren, die in dir steckt. Nimm das Heute in die Hand – und du wirst dem Gott vertrauen, der dir auch morgen die Kraft gibt, den morgigen Tag zu bestehen.

Zwischenreflexion Liebe Freunde der Weisheit, mit dieser Beleuchtung eines Weisheitsspruches aus der Bergpredigt haben wir schon viel über Weisheit überhaupt gelernt. Das Entscheidende ist: Ein Weisheitsspruch legt eine neue Folie über einen Tatbestand und lässt ihn in einem neuen Licht erscheinen. Ein Weisheitsspruch ist verdichtete Erfahrung von Generationen. Ich spüre: Schon viele vor mir haben an dem gleichen Problem geknabbert – und gespeichert, was ihnen geholfen hat. Das spüre ich bei einem guten Weisheitsspruch auf Anhieb. Aber es ist noch mehr, was Weisheitssprüche so anziehend macht. Und es ist deshalb besonders entscheidend, dass viele Worte Jesu Weisheitsworte sind, ja, dass man sagen kann: Wenn wir irgendwo auf sicherem Boden stehen, was den historischen Jesus angeht, dann sind es seine weisheitlichen Worte und seine Weisheitsgeschichten. Besondere Charakteristika dieser Weisheitsworte und -geschichten möchte ich mit Ihnen anhand von typischen Beispielen besprechen – und zwar im Kontrast zu anderen Redeweisen, die bei Jesus auch vorkommen, aber bei weitem nicht so bekannt sind (und vielleicht auch nicht von ihm selbst stammen). Auf diese Weise können wir typische Züge des Mannes aus Nazareth kennenlernen – und von ihm vielleicht auch lernen, was uns heute helfen könnte, nicht nur in unserem persönlichen Leben, sondern auch in der schwierigen Situation unserer Kirche.

Weisheitsworte – anders als Mahnworte In jedem Weisheitswort steckt eine Aufforderung, aber sie wird nicht ausgesprochen. Ein Weisheitswort verdichtet eine Erfahrung, die auf eine bestimmte Situation neues Licht wirft, aber ich muss den Hand138 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

»Jeder Tag hat genug eigene Plage« (Mt 6,34)

lungsimpuls selbst entschlüsseln. Das Weisheitswort sagt: »Jeder Tag hat genug eigene Plage« – und überlässt es mir, ob ich daraus einen Handlungsimpuls entnehme oder nicht. Ob ich mir sage: »Martin, nimm das Morgen nicht zu ernst!« Oder ob ich sage: »Guter Spruch! Geht mich aber nichts an.« Das Großartige an Weisheitsworten ist also: Jeder darf für sich selber frei entscheiden, ob er ein Weisheitswort für sich akzeptiert – oder nicht. Ob er einen möglichen Handlungsimpuls für sich daraus entnimmt – oder nicht. Ein Weisheitswort hält einen Ratschlag mit offener Hand hin – und lässt den Anderen entscheiden, ob er diesen Ratschlag für sich entschlüsseln, annehmen und in die Tat umsetzen will – oder nicht. Grammatikalisch gesagt: Ob er den Indikativ für sich in einen Imperativ umsetzt – oder nicht. Das ist der Unterschied zu einem Mahnwort. Wir kennen diese Gattung aus dem Alltag nur zu gut: »Mach dies!« »Mach das!« »Sei pünktlich!« »Gib nicht so viel Geld aus!« Natürlich will auch das Mahnwort einen guten Ratschlag geben. Natürlich ist auch das Mahnwort gut gemeint. Natürlich will das Mahnwort nur das Beste für den andern. Aber: Es schreibt dem Anderen klipp und klar vor, was er tun und was er lassen soll. Dabei gibt sich das Mahnwort gewöhnlich als vernünftig und pragmatisch. Oft wird eine Begründung angehängt: »Räum dein Zimmer auf, dann findest du auch deine Sachen wieder!« »Gib nicht so viel Geld aus, dann brauchst du am Ende des Monats nicht zu sparen!« Keine Frage: Das Mahnwort ist vernünftig. Das Mahnwort hat sicher recht. Aber das Mahnwort schreibt vor. Das Mahnwort spricht von oben nach unten. Das Mahnwort lässt deutlich werden: Ich weiß besser als du, was für dich gut ist; und deshalb solltest du auf meinen Rat auch hören! Auch von Jesus sind Mahnworte überliefert. Aber wenn die Forschung die Überlieferungslage korrekt beurteilt, dann hat er Mahnworte nur an diejenigen gerichtet, die ihn bereits als Lehrer anerkannt haben. Die ihm nachgefolgt sind. Die sich für ihn und seine Lebensweise entschieden haben – vielleicht gerade aufgrund seiner Weisheitsworte, also aufgrund der offen hingehaltenen Hand, mit der er angeregt hat, das Leben und die eigenen Probleme in einem neuen Licht zu sehen. Und wer gespürt hat: Die Deutungsangebote, die dieser Jesus mit offener Hand hinhält, die tragen im Leben, der war dann auch bereit, ihn als Lehrer anzuerkennen; und der war dann auch bereit, von ihm Mahnworte zu akzeptieren; sich von ihm klipp 139 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

Martin Ebner

und klar sagen zu lassen, was gut ist für sein Leben. Eines der wirkmächtigsten und bekanntesten Mahnworte Jesu ist vermutlich das folgende: »Was siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem eigenen Auge bemerkst du nicht? Wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Lass mich den Splitter aus deinem Auge herausziehen – und siehe: Der Balken ist in deinem Auge? Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem eigenen Auge heraus – und dann wirst du deutlich genug sehen, um den Splitter aus dem Auge deines Bruders herauszuziehen« (vgl. Lk 6,41 f.; Mt 7,3–5).

Aber selbst in diesem Mahnwort ist die Handlungsanweisung doppelt verpackt: erstens metaphorisch. Statt: »Bessere dich erst selbst, bevor du andere kritisierst!«, verwendet das Wort ein starkes Bild: »Zieh zuerst den Balken aus deinem eigenen Auge!« In unserem Kulturraum lautet die analoge Aufforderung: »Kehr’ zuerst vor deiner eigenen Tür.« Damit wird zweitens zugleich etwas ganz Wichtiges erreicht: Die Aufforderung wird indirekt begründet und einsichtig gemacht: Jedem ist klar, dass derjenige, der in seinem Auge einen Balken stecken hat, besser nicht am Auge des anderen herumoperieren sollte. Das wäre fahrlässig. So wird unter der Hand aus dem durchaus angezielten Tadel geradezu Vorsorge, Fürsorge für den, der beinahe einen großen Fehler begehen würde …

Weisheitsworte – anders als Offenbarungsworte Eine andere Kategorie von Worten, die den besonderen Charakter der Weisheitsworte erkennen lassen, sind Worte der Offenbarung. Dazu eine Anekdote aus meiner Familiengeschichte. Meine Oma hat sie uns oft erzählt. Es geht um Heroldsbach, einen kleinen Ort in Oberfranken, nahe Forchheim. Wenige Jahre nach dem Krieg war Heroldsbach in aller Munde: Die Muttergottes soll dort in einer Waldlichtung vier Mädchen erschienen sein – und mit ihnen geredet haben. Bald ergossen sich richtige Pilgerströme nach Heroldsbach. Auch meine Oma ist hingefahren, teils aus Neugier, teils aus frommem Sinn. Vor Ort angekommen, haben sie die kleine Kapelle, die man 1949 auf eigene Faust an der Stelle der Erscheinung zu errichten begonnen hatte, schon von weitem gesehen – jenseits der Äcker des Dorfes. Und weil die Feldwege, die dorthin führten, einen Umweg be140 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

»Jeder Tag hat genug eigene Plage« (Mt 6,34)

deutet hätten, eilten die eifrigen Pilger schnurstracks mitten durch die Äcker zum heiligen Ort. Im Rahmen der feierlichen Rosenkranzandacht, während der gewöhnlich die Gottesmutter den Mädchen erschien und mit ihnen redete, was dann sogleich den Pilgern verkündet wurde, soll – so erzählte es meine Großmutter – an jenem Tag die Gottesmutter verkündet haben: Die Leute sollen beim Rückweg nicht mehr quer durch die Felder gehen, sondern auf den Wegen bleiben! Und damit war’s aus bei meiner Großmutter. Sie ist nie mehr hingefahren und hat nur mit Spott von dieser angeblichen heiligen Stätte und den dort live stattfindenden himmlischen Offenbarungen erzählt. Denn das war schon meiner Großmutter, einer einfachen Bauersfrau, klar: Respekt vor der Feldfrucht ist selbstverständlich. Dazu braucht es keine himmlische Offenbarung. Und wenn jemand so tut, als hätte die Gottesmutter just diese Selbstverständlichkeit geoffenbart, dann versucht er, seine eigene Anweisung hinter einer größeren Autorität zu verstecken; anders gesagt: Er lässt die Gottesmutter sprechen, was er selbst den Leuten sagen möchte, hofft aber, dass die Leute besser und schneller darauf hören, wenn es angeblich die Gottesmutter gesprochen hat. An diesem Beispiel wird deutlich: Offenbarungsworte, Worte, die angeblich aus der andern Welt kommen, stehen immer in der Gefahr, das Heilige zu instrumentalisieren, die Stimme Gottes für menschliche Zwecke einzusetzen. Natürlich gibt es Prophetenworte; den Anspruch von Propheten, im Namen Gottes zu sprechen. Aber Propheten »offenbaren« nichts Banales. Und echte Propheten »offenbaren« nicht, wovon sie selbst Nutzen haben. Echte Propheten sprechen das aus, was sie am liebsten nicht aussprechen möchten, was sich ihnen aufdrängt: was in dieser Welt kritisiert werden muss oder was getan werden müsste, um diese Welt zum Besseren zu verändern. Ein Wort wird nicht einfach dadurch wahr, dass man behauptet, es käme von Gott, sondern: Ein Wort, das sich im Alltag bewährt, sich also in der Lebenspraxis bewahrheitet, das ist ein wahres Gotteswort. Es ist auffällig: Jesus benutzt die typische alttestamentliche Prophetenformel »Spruch des Herrn« nie. Das hochtheologisch reflektierte Johannesevangelium lässt Jesus zwar sagen: »Ich und der Vater sind eins«, aber die einfachen Worte Jesu, wie sie uns die synoptischen Evangelien überliefern, lassen Jesus diese hohe Autorität für seine Worte nie in Anspruch nehmen. Es scheint fast so: Weil sich die oft ganz einfachen Worte Jesu im Leben bewährt haben, deswegen wurden sie von seinen Nachfolgern als göttlich legitimierte Worte 141 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

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eingestuft – und deshalb kann das spät entstandene, theologisch reflektierte Johannesevangelium Jesus selbst in den Mund legen: Was ihr von mir hört, ist Gottes Wort. Lassen Sie es mich im Blick auf die einfachen Weisheitsworte Jesu so formulieren: Es sind Alltagserfahrungen, die Jesus auf den Punkt bringt. »Wenn das Salz seine Kraft verliert, womit sollte man es wieder salzen?« »Man stellt doch den Leuchter nicht unter den Scheffel, sondern auf den Tisch!« usw. In all diesen bekannten Worten ist von Gott mit keinem Wort die Rede. Geschweige denn, dass Jesus sagen würde: »Gott lässt mich zu euch sagen: Niemand stellt den Leuchter unter den Scheffel …« Es scheint mir vielmehr so: Bei Jesus ist Gott hinter den Dingen. In der ganzen Schöpfung, in den banalsten Dingen des Alltags kann sein Wille erkannt werden. Wie ein guter Regisseur zeigt Gott uns ganz genau in der Schöpfung, in seinem Werken, wie das Leben geht, und was wichtig ist für uns. Sozusagen eine creatio continua – für uns zum Lernen. In manchen Weisheitsworten Jesu findet sich sogar die unmittelbare Aufforderung, die Natur, die Tiere und Pflanzen genau zu beobachten, um bei ihnen sich etwas abzuschauen fürs eigene Leben. So etwa in den Sprüchen von den Raben und den Lilien: »Betrachtet die Raben! … Lernt von den Lilien! …« (Mt 6,26.28). Anders gesagt: Schaut in die Welt – und ihr werdet erkennen, wie sich Gott das Leben und die Kommunikation seiner Geschöpfe vorgestellt hat.

Jesus als ständiger Dissident Und doch muss man bei Jesus aufpassen. Nicht alle seine Weisheitsworte sind von Generationen eingestampft und geprägt. Es ist sogar so, dass uns gerade in den besonders bekannten Jesusworten ein junger Mann entgegentritt, der gegen die Tradition aufsteht. Und das betrifft gleich die Raben und die Lilien, die man genau beobachten und von denen man lernen soll. Denn worauf soll man achten? Was soll man bei ihnen abschauen? Und: Wer ist überhaupt angesprochen? Hören wir genau hin: »Beobachtet die Raben: Sie säen nicht und ernten nicht und sammeln nicht in Scheunen, und Gott ernährt sie. Seid ihr nicht mehr wert als die Vögel?« (Q 12,24.27 f.)

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Jetzt einmal Hand auf’s Herz! Würden Sie Raben zutrauen, zu säen und zu ernten – oder gar: Scheunen zu bauen? Raben machen das generell nicht. Jesus ist schlau: Er verneint diese Tätigkeiten bei den Raben – im Blick auf die jungen Männer, die ihm nachgefolgt sind, mit ihm von Ort zu Ort ziehen, die wie er Beruf und Familie hinter sich gelassen haben, um in seiner Nähe in der Wirklichkeit des Reiches Gottes zu leben. Mit nichts im Beutel. Und nur mit dem auf dem Leib, was sie gerade als Kleidung tragen. Wir sprechen in der Jesusforschung von »Wanderradikalen«, d. h. von Menschen, die der alten Welt, also ihrer normalen Umgebung, den Rücken gekehrt haben – um schon jetzt in der neuen Welt Gottes zu leben. Das heißt aber auch: Täglich darauf angewiesen zu sein, dass man etwas zu essen bekommt; dass man gelegentlich, wenn einem die alten Fetzen vom Leib fallen, ein neues Kleidungsstück geschenkt bekommt. Und da werden sich im Jesuskreis ab und zu Verzagen und ängstliche Sorge breitgemacht haben. Und in diese Situation hinein spricht Jesus: »Betrachtet die Raben. Denn sie säen und ernten nicht (wie ihr jetzt bei mir, die ihr das Säen und Ernten und das Horten in die Scheunen hinter euch gelassen habt). Aber seht doch: Gott ernährt auch die Raben. Jeden Tag finden sie etwas zum Essen. Was macht ihr euch Sorgen: Seid ihr nicht viel mehr wert als die Vögel?« Kurz: Es geht um das Gottvertrauen, das gelernt werden soll – im Blick auf die Raben. Aber Jesus spricht nicht nur Männern Mut zu. Denn auch von den Lilien kann man etwas lernen. Hören Sie nochmal genau hin, wer sich von den Lilien etwas abschauen soll: »Lernt von den Lilien, wie sie wachsen: Sie spinnen nicht und weben nicht« (Q 12,27).

Damit sind die Frauen angesprochen, deren typische Aufgaben in der Antike darin bestanden haben, zu spinnen und zu weben, also Kleidung herzustellen. Wenn Jesus auch ein Anschauungsbeispiel für Frauen wählt, die – wie die Männer – ihre typischen Hausfrauentätigkeiten aufgegeben haben, dann waren offensichtlich auch Frauen im engsten Kreis um ihn, eben die Ehefrauen jener ängstlichen Männer. Und auch unter ihnen hat sich scheinbar ab und zu ängstliche Sorge breitgemacht. Und ihnen sagt Jesus: »Lernt von den Lilien, wie sie wachsen: Sie spinnen nicht und weben nicht. Ich sage euch aber: Nicht einmal Salomo in all seiner Pracht war gekleidet

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wie eine von ihnen. Wenn aber Gott das Gras auf dem Feld, das heute dasteht und morgen in den Ofen geworfen wird, so kleidet – um wie viel mehr euch, ihr Kleingläubigen?«

Was in diesen Worten von den Raben und den Lilien auf den ersten Blick vielleicht fast etwas blauäugig klingt, wird schnell provozierend, wenn man weiß, was die heiligen Schriften Israels zu diesem Problemfeld raten – und welches Tier sie als Vorbild vor Augen stellen. Im Sprüchebuch lesen wir: »Geh zur Ameise, du Fauler, betrachte ihr Verhalten, und werde weise! Sie hat keinen Meister, keinen Aufseher und Gebieter, und doch sorgt sie im Sommer für Futter, sammelt sich zur Erntezeit Vorrat. Wie lang, du Fauler, willst du noch daliegen, wann willst du aufstehen von deinem Schlaf? Noch ein wenig schlafen, noch ein wenig schlummern, noch ein wenig die Arme verschränken, um auszuruhen. Da kommt schon die Armut wie ein Strolch über dich, die Not wie ein zudringlicher Bettler« (Spr 6,6–11).

Das ist es, was man in Israel »in der Schule lernt«, was einem von den Alten gesagt und von den Eltern ans Herz gelegt wird: Sei fleißig! Lege dir rechtzeitig Vorräte an! Spare in der Zeit, dann hast du in der Not. Sorge vor! Schau auf die fleißige Ameise! Jedoch: Das ist für Jesus offensichtlich passé. Jesus verkehrt die Schulweisheit geradezu ins Gegenteil. Auch er gibt einen Beobachtungsauftrag – wie seine Lehrer. Aber er als Lehrer will seine Leute etwas ganz anderes beobachten und etwas ganz anders lernen lassen: nicht den Fleiß der Ameise. Seine Leute sollen auf die offensichtlich untätigen Raben schauen und von den faulen Lilien lernen – aber nicht, weil Jesus ein Faulenzer wäre, sondern weil er die Gewissheit vermitteln will: Gott sorgt für uns. Wir leben in seiner Gegenwart. Wir können uns auf seine Fürsorge verlassen. Und wir werden spüren: Dieses Gottvertrauen nimmt dem Leben den Druck von außen. Dieses Gottvertrauen befreit von der Fixierung auf Selbsterhaltung, vom selbst auferlegten Wettbewerb um immer mehr; vom Zwang, sich vor anderen aufbauen zu müssen. Jesu Weisheitswort von den Raben und Lilien möchte uns motivieren, in die Schule der Gelassenheit zu gehen und unsere Maßstäbe anders zu setzen: Auf die Menschen, die mich begleiten, und auf Gott, dem ich viel mehr wert bin, als ich denke, mehr zu setzen als darauf, gut vor den anderen dazustehen, andere auszustechen. Denn oft ist ja das eigentliche Ziel der ängstlichen Sorge um mich selbst vor allem: mithalten zu können mit den anderen – und nach Möglichkeit besser dazustehen als sie. 144 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

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Jesus rechtfertigt sein deviantes Verhalten Das berühmte Wort von den Raben und Lilien zeigt es deutlich: Jesus setzt andere Akzente als seine Zeitgenossen – und als seine eigene Schultradition. Davon zeugen auch die vielen Weisheitsworte, mit denen Jesus versucht hat, sein ungewöhnliches Verhalten zu rechtfertigen. Ja, bestimmte Verhaltensweisen Jesu sind wirklich aus dem Rahmen gefallen und haben seine Zeitgenossen sehr geärgert. Und die haben mit anklagenden Vorwürfen nicht gespart. Aber Jesus wäre nicht verstanden, wenn man in ihm nur einen Aussteiger, nur einen Opponierer sehen würde. Denn letztlich resultiert sein ungewöhnliches, öffentliches Ärgernis erregendes Verhalten aus nichts anderem als aus seiner Grundüberzeugung: Die Gottesherrschaft ist schon da. Gott lässt uns jetzt schon in seiner neuen Welt leben. Wir müssen nur die Gelegenheit dazu ergreifen – in unserem Handeln. Kurz: Jesus verhält sich so, als wäre die neue Welt Gottes, die eigentlich erst für das Ende der Zeit versprochen ist und in ferner Zukunft erwartet wird, jetzt schon da, mitten in Galiläa. Und das merkt man bei ihm nicht daran, dass er besonders viel beten oder gar seine Frömmigkeit zur Schau stellen würde (diesbezüglich rät er ja: Geh dafür in dein Kämmerlein, wo dich niemand sieht – außer deinem himmlischen Vater); nein, die Überzeugung, dass Gottes neue Welt jetzt schon begonnen hat, merkt man bei Jesus daran, dass er anders mit den Menschen umgeht. Und das ist es, was Anstoß erregt. Dass er die üblichen Grenzziehungen zwischen Sündern und Gerechten nicht mitmacht. Nicht die Menschen einteilt in fromm und unfromm, gut und böse, sündig und gerecht – sondern in jedem Menschen ein Schäfchen der großen Herde Gottes sieht. Und erfahrungsgemäß brauchen gerade die schwachen und kranken Schafe besondere Fürsorge. Ein (wirklich) guter Hirte hätte keine ruhige Minute mehr, wenn eines seiner Schafe fehlen würde. Und beim Propheten Ezechiel ist sogar zu lesen, dass Gott am Ende der Zeit – wie ein wirklich guter Hirte – alle verirrten und verlorengegangenen Schafe einsammelt, damit seine Herde wieder vollständig wird (Ez 34). Und da soll man sich von bestimmten Leuten fernhalten? Nur weil sie sich im Leben verirrt haben? Auf den falschen Weg, die falsche Seite geraten sind? Zur Zeit Jesu etwa in die verlockenden Klauen Roms, die allen, die für den Kaiser Tribut und Steuer eintreiben, guten Profit verheißen: Was sie über die im Voraus vereinbarte Summe hinaus aus den Menschen herauspressen, dürfen sie in ihre eigene Ta145 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

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sche stecken. Wenn das kein Angebot ist! Und als Kehrseite: wenn derartiges Verhalten (bei den braven Leuten) nicht unbeliebt machen muss! Solche »Sünder« meidet man. Man macht einen großen Bogen um sie. Verräter sind das! »Zöllner« werden sie beschimpft! Jesus jedoch hat keine Scheu, sich ausgerechnet mit solchen »Zöllnern«, mit solchen verirrten Schafen, an einen Tisch zu setzen, mit ihnen – unter Gottes Augen – Tischgemeinschaft zu pflegen. Die »Frommen« jedoch sehen das ganz anders. Sie beschimpfen ihn in aller Öffentlichkeit. Sie werfen Jesus vor: »Seht: Dieser Fresser und Weinsäufer, dieser Freund der Zöllner und Sünder!« (Lk 7,34 par. Mt 11,19).

Das Gleichnis, mit dem Jesus Leute, die solches denken und sagen, zum Nachdenken bringen will, ist hinreichend bekannt. Es beginnt, wie viele Rechtfertigungsworte und -geschichten Jesu, mit einer Frage: »Wer unter euch, der hundert Schafe hat und eines von ihnen verliert, wird nicht die neunundneunzig in den Bergen lassen und losgehen – und das verlorene suchen, bis er es findet? Und wenn er es gefunden hat, nimmt er es nicht voll Freude auf seine Schultern? Und wenn er nach Hause kommt, ruft er nicht seine Freunde und Nachbarn zusammen und sagt zu ihnen: Freut euch mit mir, denn ich habe mein Schaf wiedergefunden, das verloren war?« (Lk 15,4–6)

Jesus ist der Überzeugung: Gott selbst als guter Hirte sucht nach den Verlorenen, ist voller Freude, wenn er sie findet, holt sie heim in seine Herde – und dann sollen wir uns etwa nicht mitfreuen, nicht mitfeiern, sondern motzen, wenn es welche gibt, die in diese Freude Gottes miteinstimmen? Auch das Weisheitswort vom Arzt und den Kranken gehört in dieses Problemfeld der Sünder und Gerechten. Es wendet sich einfach an den gesunden Menschenverstand. Im Markusevangelium wird dazu auch die entsprechende Szene erzählt: »Und es geschieht, dass er zu Tisch liegt in seinem Haus, und viele Zöllner und Sünder lagen zusammen mit Jesus und seinen Schülern bei Tisch. Es waren nämlich viele. Und sie folgten ihm nach. Und als die Schriftgelehrten der Pharisäer sahen, dass er mit den Sündern und Zöllnern isst, sagten sie seinen Schülern: Dass er mit den Zöllnern und Sündern isst? Und Jesus hörte es und sagt ihnen: Nicht nötig haben die Starken einen Arzt, sondern die, denen es schlecht geht.« (Mk 2,15–17a).

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In einem nachgeschobenen Satz wird dann die Metaphorik aufgelöst: »Nicht bin ich gekommen, zu rufen Gerechte, sondern Sünder« (Mk 2,17b).

Der Sitz im Leben der aufsehenerregenden Tischgemeinschaft Jesu Im Blick auf das, was wir für die Wanderradikalen gelernt haben, muss man jetzt noch zuspitzen: (1) Es scheinen gerade die (durch Tribut und Steuereintreibung) reich gewordenen Zöllner gewesen zu sein, bei denen Jesus und seine Leute sich wenigstens ab und zu richtig die Bäuche haben vollschlagen können. Es sind also ausgerechnet diese unfrommen Menschen, eben die »verlorenen« Schafe, die Gott in die Hand arbeiten, indem sie denen, die sich ganz auf Gott verlassen, die nötige Nahrung und Unterstützung zukommen lassen. (2) Die braven Bauern und Fischer vom See Genezareth haben diese Zöllner natürlich gekannt, vermutlich viel zu gut: Das sind die, die ihnen, als sie noch säten und ernteten, noch auf Fischfang gingen, die Marktsteuer abgeknöpft haben, die Salzsteuer fürs Einpökeln, die Wege- und Brückensteuer, wenn sie ihre Waren im nächsten Ort verkaufen wollten. Mit diesen Kerlen sollen sie sich jetzt an einen Tisch setzen, sich als Gäste bewirten lassen, freundlich zu ihnen sein? Wir können die gegenseitigen Aversionen, die es bei diesen Zöllnermählern gegeben haben muss, nur erahnen. Fest in der Hand haben wir wiederum Weisheitsworte Jesu, mit denen er auch in diesem Fall zum Nachdenken bringen wollte. Dazu gehört: »Den Baum erkennt man an seiner Frucht« (Mt 12,33; Lk 6,44).

Oder noch konkreter: Sammelt man etwa von Dornengestrüpp Feigen? Oder von Disteln Weintrauben? (Lk 6,44).

Anders gesagt – und in die Situation dieser ungleichen Tischgemeinschaft versetzt: Wenn die Zöllner (scheinbar Disteln und Dornengestrüpp) uns bewirten mit guten Speisen, uns damit beschenken, gastfreundlich zu uns sind, dann kann doch ihr innerer Kern, auch wenn man ihnen von außen nichts Gutes zutraut, nicht ganz so schlecht sein. Oder?

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Integrative Tischgemeinschaft als Urzelle der Eucharistie Diese integrative Tischgemeinschaft Jesu ist in sich zugleich hoch explosiv. Und, wie die Weisheitsworte Jesu bezeugen, musste er immer wieder für Ent-Spannung sorgen. Da sitzen nicht nur Frauen und Männer an einem Tisch, sondern auch brave Bauern und Fischer neben schlitzohrigen Zöllnern, Kranke und ehemals Besessene neben Top-Gesunden, religiöse Aussteiger neben systembeflissenen Halsabschneidern; von außen betrachtet und ökonomisch gesehen: Faulenzer neben Geschäftstüchtigen; religiös betrachtet: Gerechte neben Sündern. Und es ist diese Tischgemeinschaft, die das große Vermächtnis Jesu von Nazaret ausmacht. Denn bei seinem letzten Mahl mit seinen Leuten trägt er den Seinen auf: »Tut dies in Erinnerung an mich!« Diese integrative und zugleich hoch explosive Tischgemeinschaft ist die Urzelle dessen, was wir heute – je nach Konfession und Frömmigkeitstyp – »Eucharistiefeier« oder »Abendmahl«, »Herrenmahl« oder »heilige Messe« nennen.

Jesus und die politischen Verhältnisse seiner Tage Jesus traut der guten Schöpfung Gottes zu, dass sie uns lehren kann, was uns besser, d. h. seinem Willen entsprechender leben hilft. Jesus ist sensibel für religiöse Urteile, die soziale Verwerfungen zur Folge haben. Und er durchschaut auch, was politisch in seinem Land läuft, das ja von den Römern besetzt ist bzw. (in Galiläa) von einem romtreuen Vasallenkönig beherrscht wird. Wenn ich die Kurzgeschichten Jesu, die wir alle kennen, ernst nehme, dann schaue ich geradezu in einen Spiegel der politischen Verhältnisse seiner Tage. Ob nun Jesus von einem Thronanwärter erzählt, der in ein »fernes Land« reist, um sich dort die Königswürde geben zu lassen, womit natürlich einer der Herodessöhne gemeint ist, die sich von Roms Kaisern mit der Klientel-Königschaft über Israel belehnen lassen – um dann zuhause (mit der Rückendeckung Roms) kräftig Tribut einzuziehen, damit sie sich Paläste bauen und in Luxus leben können (Lk 19,12–27). Oder ob es die Kurzgeschichte vom betrügerischen Verwalter ist (Lk 16,1–8), der von seinem Herrn gefeuert wird, weil er in die eigene Tasche gewirtschaftet hat – und dann in einem Selbstgespräch durchspielt, welche Chancen ihm noch bleiben. 148 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

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Sie wissen, was er macht: Kurzerhand vernetzt er sich ausgerechnet mit denen, die eigentlich auf der anderen Seite stehen: mit den Schuldnern seines Herrn. Einen nach dem anderen lässt er antanzen, fragt nach der Höhe seiner Schuld – und lässt die Höhe der Schuld umschreiben. Schuld-Teil-Erlass nennen wir das heute. Die Schulden werden es ihm nicht vergessen haben. Mach dir – rät Jesus mit dieser Beispielgeschichte – solange dir noch Zeit bleibt, Freunde mit dem ungerecht (eingezogenen) Mammon! Jesus lobt diesen Verwalter »der Ungerechtigkeit«, des »ungerechten Systems«. Denn er hat noch rechtzeitig die Kurve gekriegt: nach unten! Und Jesus ist offensichtlich auch das religiös begründete Vorurteil gegen die Samaritaner nicht verborgen geblieben, also derjenigen Juden, die nördlich von Judäa in den Bergen Samarias leben. In deren Adern fließt doch Ausländerblut, sagt man. Assyrische Siedler sind dort angesiedelt worden, nach der Eroberung durch die Assyrer 722 v. Chr. Und die haben sich mit der Bevölkerung vermischt. Und nicht nur das: Sie haben ihre eigenen Götter mitgebracht, die man dort noch immer verehrt, sagt man. Außerdem haben sie sich einen eigenen Tempel gebaut – neben dem viel älteren Tempel von Jerusalem. Eine Unverschämtheit, sagt man. Recht hatte unser König Johannes Hyrkan, als er diesen Tempel 111/110 v. Chr. brutal zerstörte. Es gibt nur einen Tempel, in dem unser Gott verehrt werden darf. Hütet euch vor solchen Häretikern! Schließlich, nicht zu vergessen, sind die Samaritaner gewalttätig, sagt man. Sie fallen über die frommen Pilger her, die von Galiläa nach Jerusalem ziehen, wohlgemerkt zum einzig wahren Tempel. Einmal hätten sie sogar die Frechheit besessen, in der Nacht vor dem Paschafest menschliche Knochen in den Tempel einzuschleusen, um ihn zu verunreinigen – und die fromme Liturgie zu verhindern. Hütet euch vor diesen Samaritanern!, sagt man. Aber Jesus erzählt: »Ein Mensch stieg von Jerusalem nach Jericho hinab – und fiel Räubern in die Hände. Die zogen ihn aus, versetzten ihm Schläge machten sich davon und ließen ihn halbtot liegen. Zufällig aber stieg ein Priester auf demselben Weg hinab. Und er sah ihn – und ging auf der anderen Seite vorüber. In gleicher Weise kam aber auch ein Levit an den gleichen Ort. Und er sah – und ging auf der anderen Seite vorüber. Ein Samaritaner aber, der unterwegs war, kam zu ihm. Und sah – und es schlug ihm in die Magengrube. Und er ging hin zu ihm, verband seine

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Wunden, goss Öl und Wein darauf, setzte ihn auf sein eigenes Reittier und brachte ihn in eine Herberge und sorgte für ihn. Und am nächsten Tag holte er zwei Denare hervor, gab sie dem Wirt und sagte: Sorge für ihn, und was du etwa zusätzlich aufgewendet hast, werde ich dir auf der Rückreise erstatten.« (Lk 10,30–35)

Ob die Samaritaner wirklich alle so schlecht sind, wie man uns weismachen will, fragt Jesus seine Hörer.

Abschluss Dieser Jesus, der mit offenen Augen in die Welt schaut und aufgrund seiner Beobachtungen den Willen Gottes zu erkennen meint, dieser Jesus hat Geschichte gemacht; die Worte dieses Jesus haben sich den Menschen eingeprägt; und es wird dieser Jesus sein, der die entscheidenden Fragen stellt, der zum Beobachten anregt, der mit seinen Weisheitsworten neue Perspektiven aufzeigt, aber die Entscheidung über Tun und Lassen in die Hände des anderen legt; der selbst angstlos lebt und allergrößtes Gottvertrauen zeigt, der ständiger Dissident ist gegenüber dem politischen wie religiösen System; dieser Jesus wird es sein, der denen, die auch in unserer Welt noch auf den einen und einzigen Gott setzen, den Weg weisen wird. 1

Die Ausführungen beruhen auf folgenden eingehenden Studien des Autors: Jesus – ein Weisheitslehrer? Synoptische Weisheitslogien im Traditionsprozeß (HBS 15), Freiburg i. Br. (Herder) 1998; Jesus von Nazaret. Was wir von ihm wissen können, Stuttgart (Katholisches Bibelwerk) 2. Aufl. 2012 (auch als Taschenbuch-Sonderausgabe 2016).

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Durch Gelassenheit zur göttlichen Weisheit Die Weisheit Gottes und die Gelassenheit des Menschen in der mystagogischen Spiritualität Heinrich Seuses (1295–1366) Markus Enders

Einleitung: Die menschliche Weisheit als praktisches Vernunftwissen und die Weisheit Gottes als eine göttliche Person Die Weisheit in der mönchischen Lebensregel des hl. Benedikt wird als ein Wegweiser zu einem menschlich und spirituell gelingenden Leben vorgestellt. Daher dürfte man von dem Autor, dessen Weisheitslehre im Folgenden entfaltet werden soll, vermutlich eine ähnlich geartete Wegweisung, d. h. eine Lehre praktischer, vielleicht auch spiritueller Lebensweisheit als Anleitung zu einem gelingenden Leben erwarten. Doch eine solche Erwartung muss leider enttäuscht werden. Denn ein Verständnis von Weisheit als praktischer Lebensklugheit bzw. als ein reflektiertes menschliches Erfahrungswissen von dem, was wirklich bedeutsam ist in unserem Leben und wie wir es erreichen können, ein solches Verständnis von Weisheit vertritt Heinrich Seuse nicht. Für ihn ist die Weisheit weder eine sittliche noch eine intellektuelle Tugend des Menschen, sie ist weder eine ethische Verhaltensdisposition noch ein praktisches Vernunftwissen von dem, was wir tun und lassen sollen, sie ist überhaupt keine menschliche Tugend und kein menschliches Wissen, sondern eine göttliche Eigenschaft, ja mehr noch: eine göttliche Person. Bevor ich dieses uns Heutigen prima facie äußerst fremd anmutende Weisheits-Verständnis Heinrich Seuses zu erklären versuche, möchte ich zunächst einige in die Biographie und die grundlegenden Gedanken des Protagonisten meines Beitrags einführende Worte verlieren. Mit anderen Worten: Wer war Heinrich Seuse?

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Grundzüge der Biographie Heinrich Seuses (1295–1366) und seines mystischen Wissens (dessen theoretische und dessen praktische Seite)

Heinrich Seuse (lat. Suso), war ein mystisch begnadeter Dominikaner, der als Heinrich von Berg am 21. März 1295 oder (wahrscheinlicher) 1297 in Überlingen (am Bodensee) oder in Konstanz geboren wurde und am 25. Januar 1366 in Ulm starb. 1 Seine Eltern sind weitgehend unbekannt; aus Verehrung für seine ihn religiös prägende Mutter nannte sich Heinrich nach deren Geschlecht Sus oder Süs. Eine Schenkung der Eltern ans Inselkloster St. Nikolaus in Konstanz anlässlich der vorzeitigen Aufnahme Heinrich Seuses in das Kloster – wahrscheinlich schon im Alter von 13 Jahren – hat in ihm eine langjährige Gewissensnot hervorgerufen, dass er auf Grund von Simonie in das Kloster gekommen sei, von der ihn erst Meister Eckhart befreite. Seuse trat also mit dreizehn Jahren, d. h. ca. 1308/10 n. Chr., ins Dominikanerkloster in Konstanz ein und durchlief die ordensübliche Ausbildung: ein Jahr Noviziat mit anschließender Profess, ca. 2–3 Jahre Elementarunterricht in Latein und Ordensspriritualität (Hl. Schrift, Offizium, Ordensregel und Ordenssatzungen, aszetische Literatur und Praxis); anschließend (ca. 1313/14–1318/19) etwa 5 Jahre philosophische Studien, und zwar zuerst 2–3 Jahre philosophia rationalis (aristotelische Logik), danach 2–3 Jahre Studium der philosophia realis (Physik, Geometrie, Astronomie, aristotelische Metaphysik). Es schloss sich das Studium der Theologie – der Bibel und der Sentenzen des Petrus Lombardus – an (ca. 1319–22). Danach wurde der intellektuell als begabt geltende Seuse zum Weiterstudium ans Studium generale der Dominikaner nach Köln geschickt (ca. 1323/ 24–1327), wo Meister Eckhart lehrte, der ihn entscheidend und maßZur Biographie Seuses vgl. A. M. Haas/K. Ruh (II.), »Art. Seuse, Heinrich, OP«, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 8, Berlin/New York 1992, Spp. 1109–1129; M. Enders (= Verfasser, im Folgenden »Vf.«), »Art. Seuse, Heinrich«, in: Metzler Lexikon christlicher Denker, herausgegeben v. Markus Vinzent, Stuttgart/Weimar 2000, Spp. 627 f.; Vf., »Art. Seuse, Heinrich«, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. VII, Tübingen 42004, Sp. 1238–1239; Vf., »Art. Seuse, Heinrich«, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 24, hg. v. d. Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Berlin, 2010, Spp. 283 f.; Vf., »Art. Suso, Henri, Biographie, Trad. Yannick Grosieux«, in: M.-A. Vannier (Hg.), Encyclopédie des Mystiques Rhénans d’Eckhart à Nicolas de Cues et leur Réception, Paris 2011, Spp. 1123–1125.

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geblich prägte und beeinflusste. 1326/27 kehrte Seuse für die nächsten 20 Jahre als Lektor in seinen Heimatkonvent nach Konstanz zurück. Wahrscheinlich wurde Seuse bereits um 1330 anläßlich des vom General- und Provinzkapitel seines Ordens in Maastricht gegen ihn erhobenen Häresievorwurfs sein Lektorenamt entzogen. Mit 40 Jahren erlebte Seuse gemäß seinem eigenen autobiographischen Bericht insbesondere im 20. Kap. seiner Vita, eine für sein geistliches Leben entscheidende Wende, die ihn mit der Einsicht in die Heilsnotwendigkeit alleine des von Gott gegebenen Leidens von seinen zuvor über 20 Jahre lang exzessiv betriebenen körperlichen Selbstzüchtigungen abbrachte. 2 Von nun an führte Seuse nicht mehr ein einsiedlerisches Klosterleben, sondern er widmete sich einer aktiven Missions- und Seelsorgetätigkeit vor allem in der Rheingegend, im Elsass und in der Schweiz, die ihn allerdings neuen inneren wie äußeren Leiden aussetzte. Seit 1347/48 n. Chr. bis zu seinem Tod lebte er im Ulmer Konvent seines Ordens, wo er sein deutschsprachiges literarisches Vermächtnis in Form des sog. Exemplars 3 redigierte und von dem aus er zahlreiche Pastorationsreisen unternahm. 1831 wurde er von Papst Gregor XVI. selig gesprochen. Sein drei Monographien und einen Briefkorpus umfassendes Exemplar – eine Ausgabe seiner deutschsprachigen Schriften letzter Hand, die er ca. 1362/63 zusammengestellt hat – schließt das als eine Apologie, d. h. als eine Verteidigungsschrift, der mystischen Lehre Meister Eckharts konzipierte Büchlein der Wahrheit (zwischen 1327 und 1329 verfasst) ein, in dem Seuse die theoretische Seite seines mystischen Wissens darlegt. Hierzu gehören: 1. Die metaphysischen Voraussetzungen der mystischen Einung als der innerzeitlichen Erfahrung einer unmittelbaren Anwesenheit des Mystikers bei Gott; 2. Die Struktur des zu beschreitenden mystischen Weges, der zu dieser mystischen, d. h. unmittelbaren, Gotteserfahrung hinführt, sowie der Inhalt dieser Erfahrung; weil die genuin mystische Erfahrung aber nach Seuse wie überhaupt nach der christlichen Mystik durch die Person Jesu Christi vermittelt ist, besitzt der mystische Weg den Hierzu vgl. ausführlich Vf., Das mystische Wissen bei Heinrich Seuse (Veröffentlichungen des Grabmann-Institutes, Neue Folge, Bd. 37), Paderborn/München/Wien/ Zürich 1993, 140 ff. 3 Zum genauen Umfang und zur Bedeutung des Exemplars Seuses vgl. M. Gruber, »Art. Exemplar«, in: M.-A. Vannier (Hg.), Encyclopédie des Mystiques Rhénanes d’Eckhart à Nicolas de Cues, Paris 2011, Spp. 484–488. 2

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Charakter einer radikalen Nachfolge der menschlichen und zugleich göttlichen Person Jesu Christi. Zur theoretischen Seite des mystischen Wissens bei Seuse gehört 3. auch die Wirkung der mystischen Erfahrung als die Herrschaft des göttlichen Willens im Leben eines mystisch begnadeten Menschen. Seuse hat aber auch die lebenspraktische Seite seines mystischen Wissens ausführlich beschrieben, und zwar vor allem in der Vita als seiner autobiographischen Gleichnisrede vom mystischen Weg. Im ersten Teil der Vita (Kap. 1–32) gibt er eine lebensgeschichtliche Beschreibung seines eigenen Weges zu einer mystischen Lebensform. Seine exemplarische Hingabe für das Heil anderer am Beispiel seines Wirkens als Seelenführer der Dominikanerin Elsbeth Stagel 4 beschreibt er im zweiten Teil der Vita (Kap. 33–45), deren dritter und letzter Teil (Kap. 46–53) das theoretische Wissen von der Struktur des mystischen Weges präzisiert und vertieft. Die lebenspraktische mystagogische Zielsetzung eines Dienstes an der Vervollkommnung und dem Heil anderer führt Seuse in seinem zwischen ca. 1328 und 1330 entstandenen Büchlein der ewigen Weisheit fort, und zwar durch Betrachtungen der vorbildlichen Leidenshaltung Jesu Christi und im Zwiegespräch mit der Ewigen Weisheit, der in diesem Buch die literarische Dialog-Rolle einer Lehrerin der Weisheit als eines herausragenden Lebenswissens bzw. einer spirituellen Lehre zufällt, 5 auf welche die Spiritualität des frühen christlichen Mönchstums, der sog. Wüstenväter, einen bemerkenswerten Einfluss ausgeübt hat. 6 Darüber hinaus führt Seuse im Büchlein der

Zur Biographie Elsbeth Stagels vgl. Alois M. Haas, Art. Stagel (Staglin), Elsbeth OP, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 9, Berlin/New York 1995, Spp. 219–225; S. Bara Bancel/Vf., Art. Stagel, Elsbeth, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 25, hg. v. d. Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2013, Spp. 29 f. 5 Zur Bedeutung der Dialog-Form im Werk Seuses vgl. Vf., Von der Wahrheits- zur Weisheitssuche im Dialog. Anmerkungen zur Entwicklung der Dialogform im Werk Heinrich Seuses, in: K. Jacobi (Hg.), Gespräche lesen. Philosophische Dialoge im Mittelalter, Tübingen 1999, 359–378. 6 Hierzu vgl. L. Gnädinger, Arsenius. Ein bevorzugter geistlicher Lehrmeister Heinrich Seuses, in: J. Kaffanke OSB (Hg.), Heinrich Seuse – Diener der Ewigen Weisheit (Heinrich-Seuse-Forum, Bd. 1), Münster 22013, 69–137; dies., Zum Altväterzitat im Predigtwerk Johannes Taulers, in: J. Brantschen/P. Selvatico (Hgg.), Unterwegs zur 4

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ewigen Weisheit eine betrachtende Aneignung der Leidenshaltung Jesu Christi als eines Mitleidens mit Christus durch. Eine erweiterte Neuredaktion dieses Büchleins stellt das zwischen 1331 und 1334 verfaßte Horologium Sapientiae, Seuses einzige lateinischsprachige Schrift, dar, die insbesondere in der Devotio Moderna sowie in der Imitatio Christi des Thomas von Kempen eine bedeutende Wirkungsgeschichte entfaltet hat. 7 Charakteristisch für Seuses Mystik im Ganzen und darin exemplarisch für christliche Mystik überhaupt ist deren dreifache Christusförmigkeit: bezüglich der Voraussetzungen der mystischen Einung als Nachfolge des Menschseins Christi; bezüglich des Inhalts der mystischen Erfahrung als Widerspiegelung der Gottheit Christi in der Einung mit dem alleinheitlichen Selbstbewußtsein Gottes; und bezüglich der Wirkung dieser Erfahrung als Widerspiegelung des Gott-Mensch-Seins Christi, sofern der christusförmige Mensch das göttliche Leben Christi als Formprinzip seines menschlichen Handelns und Sichverhaltens verborgen in sich trägt. Diese kurze Einführung in die Biographie und die Mystik Heinrich Seuses, des neben Johannes Tauler bedeutendsten Schülers des großen Meister Eckhart, möge hier genügen.

2.

Zu den biblischen Quellen für Seuses Allegorie der »Ewigen Weisheit«

Wir hatten bereits die Fremdheit festgestellt, die Seuses Verständnis der Weisheit als einer göttlichen Person für unser heutiges Verständnis von Weisheit als einem lange und tief reflektierten, lebenspraktischen Erfahrungswissen des Menschen besitzt. Wir müssen uns daher fragen: Wie kommt Seuse zu der für sein Verständnis von Weisheit charakteristischen Identifikation der Weisheit im Ausdruck der sog. »ewigen Weisheit« bzw. Sapientia aeterna mit Jesus Christus als der nach christlichem Glauben Mensch gewordenen zweiten göttlichen Person? Dabei können wir konstatieren, dass Seuse den Termi-

Einheit. Festschrift für Heinrich Stirnimann, Freiburg/Schweiz 1980, 253–267, für Seuse besonders 256–260. 7 Hierzu vgl. Vf., Die Rezeption des Horologium Sapientiae Heinrich Seuses in der Nachfolge Christi (De imitatione Christi) des Thomas von Kempen, in: M.-A. Vannier (Hg.), Mystique rhénane et Devotio Moderna, Paris, 2017, 20 Seiten (im Druck).

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nus der »ewigen Weisheit« für Christus in seiner Vita und im Büchlein der ewigen Weisheit sowie das lateinischsprachige Pendant der Sapientia aeterna im Horologium Sapientiae verwendet, weil sich in diesen Schriften die Weisungen Christi auf die praktisch-geistliche Lebensführung des Menschen beziehen, während er in seinem Büchlein der Wahrheit Christus »die Wahrheit« nennt, weil sich seine Aussagen in dieser Schrift auf die Gegenstände der »theoretischen Seite« seines mystischen Wissens beziehen. Für seine Allegorie der Weisheit bzw. genauer seine göttliche Personifikation der Weisheit kann Seuse auf biblische Vorbilder zurückgreifen: Denn schon in der alttestamentlichen Weisheitsliteratur finden wir quasigöttliche Personifikationen der Weisheit: So etwa in Spr 8,22–31 als Erstling und Instrument der Schöpfungswerke Gottes oder in Jesus Sirach 24,1–22, wo die Weisheit als schöpferische Ordnungsmacht Gottes zugleich mit der Thora identifiziert wird; oder in Weisheit 7,22–8,18, wo die Weisheit nicht nur als Lebensgefährtin und Lehrerin der Tugend, sondern auch als Hauch und ungetrübter Spiegel der Kraft Gottes, als Bild seiner Vollkommenheit und als Widerschein des ewigen Lichts bezeichnet und in eine Präexistenz gegenüber der Schöpfung gerückt wird. 8 Diese Theologisierung und Divinisierung der Weisheit bzw. auch der Allegorie der »Frau Weisheit« finden wir dann immer häufiger in der frühjüdischen Weisheitsliteratur, die in dem Schöpfergott die Quelle aller Weisheit und in seiner Offenbarung, der Thora, die göttliche Weisheit der gesamten Schöpfungsordnung sieht. 9 Dabei wird die Gleichsetzung von Weisheit und Thora sowie die Vergöttlichung der Weisheit in der Weisheitsliteratur des hellenistischen Judentums fortgesetzt, und zwar vor allem bei dem jüdischen Religionsphilosophen Philo von Alexandrien, bei dem die Weisheit wie der Logos zu einer Art Hypostase wird, welche die Wirksamkeit Gottes in dieser Welt gleichsam verkörpert. 10 Von hier aus ist der Schritt zur christologischen BestimZur alttestamentlichen Weisheits-Spekulation vgl. H.-D. Preuß, Einführung in die alttestamentliche Weisheits-Literatur, Stuttgart 1987; J. Marböck, Weisheit im Wandel: Untersuchungen zur Weisheitstheologie bei Ben Sira; mit Nachwort und Bibliographie zur Neuaufl. (Beihefte zur Zeitschrift für alttestamentliche Wissenschaft, Bd. 272), Berlin/New York 21999; ders., Jesus Sirach 1–23, übers. und ausgelegt von J. Marböck, Freiburg/Basel/Wien 2010. 9 Hierzu vgl. J. J. Collins, Jewish Wisdom in the Hellenistic Age, Edinburgh 1998. 10 Hierzu vgl. B. L. Mack, Logos und Sophia, Göttingen 1973; M. Küchler (digitalisiert und optisch nachbearbeitet von Florian Lippke), Frühjüdische Weisheitstraditio8

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mung der Weisheit in frühchristlichen Hymnen des Neuen Testaments wie etwa in Phil 2,6–11, in Kol 1,15–20 und in dem Prolog zum Johannes-Evangelium (vgl. Joh 1,1–18) nicht mehr weit. In diesen christologischen Hymnen werden daher die typischen Merkmale der hypostasierten Weisheit, nämlich Präexistenz und Schöpfungsmittlerschaft, unmittelbar auf Jesus Christus bezogen. Seuses Allegorie der »Ewigen Weisheit« bzw. Sapientia aeterna, seine literarische Personifizierung der Weisheit mit dem inkarnierten göttlichen Logos, d. h. mit Jesus Christus, in seiner Vita, vor allem aber in seinem Büchlein der Ewigen Weisheit sowie im Horologium Sapientiae, kann sich daher auf eine große biblische Tradition berufen: Jesus Christus ist selbst, in eigener Person, die Weisheit Gottes, die ihre spirituelle Weisheitslehre ihrem Diener mitteilt, als der sich Seuse im Büchlein der Ewigen Weisheit und im Horologium Sapientiae literarisch selbst stilisiert, 11 um sie in ihrem Auftrag und mit ihrer Autorisierung verbreiten zu können. Worin besteht nun der Kern dieser von Seuse bewusst und absichtlich göttlich autorisierten Weisheitslehre der Ewigen Weisheit? Wie sollen wir Menschen gemäß dieser Lehre leben? Darauf könnte man mit Seuse kurz und bündig antworten: Wir sollen gelassen werden. Doch was versteht Heinrich Seuse genau unter der »Gelassenheit«? Er versteht sie, kurz gesagt, als eine mystagogische Tugend, d. h. als eine Tugend, die uns für eine mystische Gotteserfahrung und eine dieser entsprechenden mystischen Lebensform empfänglich macht. Doch diese eher formale Antwort hilft uns zunächst nicht viel weiter. Denn wir wüssten gerne, was das Wesen dieser sog. mystagogischen Tugend ausmacht und in welchem Zusammenhang es zu unserem heutigen umgangssprachlichen Verständnis von Gelassenheit im Sinne einer ruhigen, besonnenen und überlegten Verhaltens- und Handlungsweise steht. Lassen wir also unseren Gewährsmann selbst zu Wort kommen.

nen: Zum Fortgang weisheitlichen Denkens im Bereich des frühjüdischen Jahweglaubens, Tübingen 2014 (gedruckte Erstausgabe 1944). 11 Zur literarischen Selbststilisierung Seuses als des »Dieners« bzw. »Jüngers« der »Ewigen Weisheit« vgl. G. Baldus, Die Gestalt des ›Dieners‹ im Werk Heinrich Seuses, Diss. Köln 1966.

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3.

Der gelassene Mensch im Verständnis Heinrich Seuses

3.1 Durch Gelassenheit zur Gleichförmigkeit mit Christus nach dem Büchlein der Wahrheit Im vierten Kapitel seines Büchleins der Wahrheit, in dem Seuse, wie wir bereits sahen, die mystische Lehre Meister Eckharts verteidigt, bestimmt er im Gefolge seines Meisters die Gleichförmigkeit des Menschen mit Christus bzw. die Sohnwerdung des Menschen in Christus als das Ziel des mystischen Weges. Doch wie gelangt man zu diesem Ziel? Die Antwort Seuses, der sich auch darin als ein getreuer Schüler Meister Eckharts erweist, ist eindeutig: Nur durch wahre Gelassenheit gelangt der Mensch zu dieser Gleichförmigkeit mit Christus. 12 Wahre Gelassenheit aber ist ein Zustand vollkommenen Gelassenseins, der aus einem gänzlichen Gelassenhaben resultiert. Was aber bzw. wovon ist zu lassen, um diese Gelassenheit und mit ihr die Gleichförmigkeit mit Christus zu erreichen? 3.1.1 Der »Gegenstand« des »Sich-Lassens«: Der maßlose Eigenwille des Menschen Es ist der individuelle, jemeinige, selbstbezogene Eigenwille, den jeder lassen muss, der von Gott mit Gott in Jesus Christus vereinigt werden, der christusförmig werden will. Denn der Eigenwille führe den Menschen in die Irre und beraube ihn seiner Seligkeit. 13 Diese Vgl. Das Buch der Wahrheit. Daz buechli der warheit. Kritisch herausgegeben von Loris Sturlese und Rüdiger Blumrich. Mit einer Einleitung von Loris Sturlese. Übersetzt von Rüdiger Blumrich. Mittelhochdeutsch – Deutsch (Philosophische Bibliothek, Bd. 458, zit. mit Seiten- und Zeilenzahl; auf die Zitation der mittelhochdeutschen Texte wird aus Gründen der leichteren Lesbarkeit des Textes verzichtet und stattdessen eine neuhochdeutsche Übersetzung dieser Zitate präsentiert, die in der Verantwortung des Vfs. liegt) 18,45–51. »Denn es steht geschrieben, dass er alle, die er ausersehen hat, dazu vorherbestimmt hat, dass sie mit dem Bild des Gottessohnes gleichgestaltet würden, so dass er der Erstgeborene unter vielen anderen sei. Und wer darum eine rechte Rückkehr haben und Sohn in Christus werden will, der wende sich mit rechter Gelassenheit von sich ab und zu ihm hin, dann gelangt er dorthin, wohin er soll.« Das biblische Zitat im Zitat ist nach Röm 8,29; vgl. hierzu auch Vf., Das mystische Wissen bei Heinrich Seuse (wie Anm. 2), 44 f. 13 Vgl. Das Buch der Wahrheit, 20,65–73 (»Das fünfte [sc. Ich], das nur ihm [sc. dem Menschen] eigen ist, ist sein persönliches Ich, und zwar sowohl hinsichtlich seines Adels wie seiner Zufälligkeit. Was führt nun den Menschen in die Irre und beraubt ihn seiner Seligkeit? Das ist ausschließlich das letzte Ich, in dem der Mensch sich von 12

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Auskunft läßt uns zunächst einigermaßen ratlos zurück. Soll hier der eigene Wille des Menschen schlechthin als etwas Aufhebenswertes verurteilt und verdammt werden? Nein, denn es gibt auch einen gesunden, einen sein-sollenden Eigenwillen des Menschen, der, wie wir nicht erst seit Adam Smith wissen, durch seine Tendenz zur Ausbildung von Eigentum der Motor unseres wirtschaftlichen Wohlergehens ist, sofern er nicht auf Kosten des Allgemeinwohls durchgesetzt wird. Die unternehmerische Eigennutz-Orientierung ist innerhalb bestimmter Grenzen durchaus sinnvoll und wünschenswert, sofern sie dem Allgemeinwohl dient. Und daher ist auch bei Seuse nicht der eigene natürlich-kreatürliche Wille jedes einzelnen Menschen als solcher verwerflich, sondern nur seine übertrieben und maßlos gewordene Orientierung am eigenen Nutzen. Und wann genau wird der menschliche Eigenwille selbstsüchtig und egoistisch? Wenn er, so lautet die Antwort Heinrich Seuses, sich selbst bzw. genauer sein eingebildetes, wesenloses Ich zum Maßstab seines eigenen Wollens, zur einzig gültigen Instanz seines Handelns macht und damit zumindest intentional an die Stelle Gottes setzt, dessen vollkommener Wille doch die einzig gültige normative Instanz unseres Wollens, Handelns und Verhaltens sein sollte. Deshalb muss ein maßlos gewordener Eigenwille gelassen werden. Doch wir fragen uns sofort: Wie aber geht das? Nach Seuse durch die drei folgenden Einblicke, die der Mensch in sein Inneres tun sollte. 3.1.2 Die Weise des rechten Sich-Lassens – der Zusammenhang der drei »Einblicke« Der erste, sich in das eigene Innere versenkende Einblick vergegenwärtigt die wesenhafte Nichtigkeit 14 des eigenen Ichs wie aller Dinge, sofern sie als kreatürlich Vereinzelte »von dem allein wirksamen Sein Gottes hervorgebracht und ausgeschlossen« 15 sind. Mit der Lehre, Gott ab- und auf sich selbst hinwendet, während er doch zurückkehren sollte, und sich selbst in seiner Zufälligkeit ein eigenes Ich verleiht, d. h. aus Blindheit sich selbst zuschreibt, was Gott zugehört, und danach strebt und mit der Zeit in sittliche Gebrechen zerfließt.« 14 Vgl. Das Buch der Wahrheit, 20,75–79 (»Mit dem ersten, sich in das eigene Innere versenkenden Einblick soll er auf die Nichtigkeit seines eigenen Ichs blicken und erkennen, dass sein Ich und das aller Dinge ein Nichts ist, entfernt und ausgeschlossen von dem Etwas, das die allein wirkende Kraft ist.«). 15 Vgl. Das Buch der Wahrheit, 20,77 f.; vgl. hierzu Alois M. Haas, Nim Din Selbes

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dass alle Kreaturen als solche, d. h. in ihrer kreatürlichen Vereinzelung, wesenhaft nichtig bzw. »nichts« sind, gibt Seuse das univoke Seins-Verständnis Meister Eckharts 16 wieder: Dieses besagt nicht, dass die Geschöpfe überhaupt nicht existieren, sondern, dass sie von dem mit dem vollkommenen Sein selbst identischen Gott wesenhaft verschieden und dass sie von ihm hinsichtlich ihrer Entstehung und ihrer Erhaltung für die Dauer ihrer weltlichen Existenz völlig abhängig sind. Die Einübung in die rechte Gelassenheit muss nach Seuse mit der Vergegenwärtigung dieser wesenhaften Nichtigkeit der eigenen, vereinzelten Existenz beginnen: Denn die vollkommene Einsicht in die Armseligkeit der eigenen, individuellen Existenz führt zur Aufhebung ihrer Eigenwirksamkeit, ihrer »Selbstsetzung« durch die Selbstbewegung ihres eigenen Willens. Der zweite Einblick (ins eigene Innere) zeigt dem Menschen, War. Studien zur Lehre von der Selbsterkenntnis bei Meister Eckhart, Johannes Tauler und Heinrich Seuse, Freiburg/Schweiz 1971, 164 f.: »Man hat auf die Nichtigkeit des eigenen Ichs zu blicken, das eben angesichts der Tatsache, dass es aus dem eigentlichen ichte entlassen, ja ausgeschlossen ist, in sich ein nîht ist. Denn das icht, für einmal Gott in kataphatischer Umschreibung, ist dem Nichts des Geschöpfes die einzig wirkende, d. h. haltende Kraft. Ohne Gottes Seinsunterlage wäre das Geschöpf, dessen exemplarischer Fall der Mensch ist, dem Nichts verfallen«. 16 Mit der Lehre, dass alle Kreaturen in ihrer kreatürlichen Vereinzelung wesenhaft nichtig bzw. »nichts« sind, gibt Seuse das univoke Seins-Verständnis Meister Eckharts wieder. Vgl. zu Eckhart DW (= Deutsche Werke) I, 69 f., 8 ff.: »Alle creaturen sint ein luter nîht. Ich spreche niht, daz sie kleine sin oder iht sin: sie sint ein luter nîht. Swaz niht wesens enhat, daz enist niht. Alle creaturen hant kein wesen, wan ir wesen swebet an der gegenwerticheit gottes« (»Alle Geschöpfe sind ein reines Nichts. Ich sage nicht, dass sie klein oder etwas sind; sie sind ein reines Nichts. Was kein Sein hat, das ist nichts. Alle Geschöpfe haben kein (sc. eigenes) Sein, denn ihr Sein hängt an der Gegenwart Gottes«); vgl. auch Meister Eckhart, Joh. n. 20 (LW III, 17, 10 f.): »Res omnis creata sapit umbram nihili.« (»Jedes geschaffene Wesen schmeckt den Schatten des Nichts«); zu Eckharts Rechtfertigungsschrift (Daniels) vgl. 4,15; 20,23: »Omnes creaturae sunt unum purum nihil.« (»Alle Geschöpfe sind ein reines Nichts«); vgl. auch DW I, 80,12: »alle creaturen sint ein luter nîht.« (»alle Geschöpfe sind ein reines Nichts«); die wesenhafte Nichtigkeit alles Außergöttlichen (Kreatürlichen) ist bereits im (Gottes-)Begriff einer absoluten Einheit impliziert, die gegen nichts begrenzt sein kann und damit nichts »außer sich« hat: Wenn (eine) absolute Einheit ist, dann kann es nichts außerhalb ihrer geben. Daraus folgt aber, dass nicht nur das »esse virtuale« (das exemplarursächliche Sein) der Geschöpfe, sondern auch ihr »esse formale« (ihre kreatürliche Seinsweise), »in« Gott sein muss, vgl. K. Kremer, Gott und Welt in der klassischen Metaphysik. Vom Sein der Dinge in Gott, Stuttgart 1969, 27: »Nicht nur die Ideen der ›Dinge‹, sondern auch die ›Dinge‹ selber sind in Gott«. Folglich müssen alle Kreaturen als Kreaturen, d. h. sofern sie von Gott verschieden sind, wesenhaft nichts sein.

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dass er auch im äußersten Sich-Lassen bzw. Sichgelassenhaben 17 »nicht ganz und gar vernichtet« 18 und mit Gott selbst identisch wird, sondern sein eigenes (kreatürliches) Sein auch während seiner mystischen »Versunkenheit in Gott« behält. Dieser Einblick lehrt also das Fortbestehen des geschöpflichen Seinsstandes des Menschen auch in der unio mystica, in der mystischen Vereinigung. Daher führt dieser »Einblick« – als Einsicht in die bleibende Differenz des eigenen geschöpflichen Seins zum göttlichen Sein auch in der mystischen Vereinigung – zur »Verdemütigung« des Menschen vor Gott, d. h. zur Zurücknahme des menschlichen Selbstseinwollens und damit des (selbstbezogenen) Eigenwillens. Der dritte Einblick schließlich führt zur Vollendung des rechten Sich-Lassens: Er ist ein »Entwerden und freies Aufgeben seiner selbst«, d. h. eine Selbstentäußerung durch ein Lassen der Tätigkeit und Wirksamkeit des eigenen Willens. 19 Was aber geschieht mit mir, wenn ich vor und gegenüber Gott gar keinen eigenen Willen mehr entfalte? Dann wird der Mensch von der gewaltigen Kraft Gottes mit Christus (mystisch) vereint und eins, dann wird Gott in Jesus Christus selbst zum Subjekt meines Willens und Wirkens, so dass ich gleichsam mit den Augen Christi Gott in allen Dingen, die mir begegnen, sehen lerne. 20 Die »Botschaft« dieses dritten Einblicks, der die »rechte (innere) Rückkehr« des Menschen zu Gott vollendet, lautet kurz gefasst: Ein (wahrhaft und vollkommen) gelassenes, d. h. ein seinem (eigenen) Willen »gestorbenes«, Ich wird zwangsläufig zu einem »christusförmigen Ich«, 21 das – nach Gal 2,20 (»nicht mehr ich lebe,

Im »gelezse« (Das Buch der Wahrheit, 20,80). Vgl. Das Buch der Wahrheit 20,79–82 (»Der zweite Einblick besteht darin, nicht zu übersehen, dass sein eigenes Ich immer in seiner geschöpflichen Seinsverfassung verbleibt, in die es hervorgegangen ist, und nicht ganz und gar vernichtet wird.«). 19 Vgl. Das Buch der Wahrheit 20,82–87 (»Der dritte Einblick besteht in einem Entwerden und freiwilligen Aufgeben seiner selbst hinsichtlich alles dessen, wie er sich bisher verhalten hat: In seiner eigenen, eingebildeten Geschaffenheit, in unfreier Mannigfaltigkeit gegenüber der göttlichen Wahrheit, in Lieb oder im Leid, im Tun oder im Lassen«). 20 Vgl. Das Buch der Wahrheit, 20,87–22, 91 (»dann wird er mit gewaltiger Kraft in weiseloser Weise seiner selbst entäußert und entwird seiner selbst unwiderruflich und wird mit Christus in Einheit eins, so dass er nach diesem Eingehen in Christus aus ihm allzeit wirkt, alles empfängt und in dieser Einfachheit alles betrachtet«). 21 Vgl. Das Buch der Wahrheit 20,92; dieses »christusförmige Ich« nennt Seuse auch 17 18

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sondern Christus lebt in mir«) 22 – durch den Willen und das Wirken Christi selbst (wie ein Instrument) bewegt wird, in dem Christus sein »Leben«, seine Wirksamkeit ungehindert entfaltet. Damit dürfte die mystagogische Bedeutung des »Lassens« als Aufgabe nicht nur der Selbstbezogenheit, sondern darüber hinaus auch der Selbstbewegung und Tätigkeit des eigenen Willens deutlich geworden sein. Noch einmal: Nicht die Individualität unseres jeweiligen Personseins können und sollen wir Menschen aufheben; wohl aber die Selbstbezogenheit und – in mystagogischer Absicht mehr und darüber hinaus noch – die Aktivität und Wirksamkeit unseres je eigenen Willens als solche. Doch um nicht missverstanden zu werden: Nur Gott selbst bzw. Christus gegenüber dürfen und sollen wir unseren eigenen, natürlichen Willen aufheben, nicht einem menschlichen Guru gegenüber, weil dieser uns sonst total manipulieren könnte. Der wirklich gelassene Mensch ist also der Christus ähnliche, der christusförmige Mensch in dem radikalen Sinne dieses Wortes, dass Christus selbst zum alleinigen Bestimmungsgrund seines ganzen Wollens, Handelns und Verhaltens geworden ist. Und weil der gelassene Mensch mit seinem eigenen Willen auch die Quelle aller Unruhe aufgegeben hat, ist seine Gemütsverfassung vollkommen ruhig und ausgeglichen, eben gelassen. Was aber ein wahrhaft gelassener, christusförmiger Mensch erlebt und erfährt – die sog. mystische Einung mit Christus –, beschreibt Seuse anschließend mit einem längeren Zitat aus Bernhard von Clairvaux’ Schrift De diligendo Deo (»Über die Gottesliebe«). 23 Demnach werden die mit Christus mystisch vereinten Menschen unter Beibehaltung ihres geschöpflichen Wesens mit einer anderen (als ihrer geschöpflichen) Seinsform, und zwar mit der göttlichen Natur selbst, überformt, so dass sie im göttlichen Licht verklärt und verherrlicht und mit göttlicher Kraft begabt werden. Diesen seligen Glückszustand erreichen die mystisch begnadeten Menschen in diesem irdischen Leben auf Grund der ihnen noch ein »wohl abgewogenes«, d. h. für gut, gemäß und geordnet befundenes, Ich, vgl. Das Buch der Wahrheit 22,94. 22 Vgl. Das Buch der Wahrheit 22,91–94: »Und dies gelassene Ich wird ein christusförmiges Ich, von dem die Schrift bei Paulus sagt: ›Ich lebe, aber nicht mehr ich, Christus lebt in mir‹«). Dieses Pauluswort – nach Gal 2,20 – hat in der Geschichte der christlichen Mystik eine reiche Tradition, vgl. z. B. Ps.-Dionysius Areopagita, De div. nom. IV 13, PG 712 A. 23 Vgl. Das Buch der Wahrheit 22,101–24,147.

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anhaftenden leiblichen Seinsweise jedoch nur in eingeschränkter Weise und nicht in vollkommener Weise, so dass noch ein Unterschied zwischen der Seligkeit der Seligen im himmlischen Paradies und der Seligkeit der mystischen Lebensweise auf Erden besteht. 24

4.

Seuses Vita: Die eine, einzig notwendige Übung: Die vollkommene Aufhebung der Wirksamkeit des eigenen Willens

4.1 Die eine, einzig notwendige Übung: Die vollkommene Aufhebung der Wirksamkeit des eigenen Willens »in Gelassenheit« Heinrich Seuse weist seine mystagogische Lehre von der zentralen Bedeutung der Gelassenheit eindeutig als ein spirituelles Erbe Meister Eckharts aus. Denn im sechsten Kapitel seiner Vita lässt Seuse den zum Zeitpunkt der Abfassung der Vita längst verstorbenen Meister Eckhart in einer Vision erscheinen und dabei zum Erweis der Rechtgläubigkeit seiner Lehre und Heiligkeit seiner Lebensführung zunächst sagen, dass er, Meister Eckhart, »in überströmender Herrlichkeit [sc. lebe], in der seine Seele ganz in Gott vergottet sei« 25. Dann bittet der Diener den »Meister« darum, ihn zwei Dinge wissen zu lassen: Erstens, »wie die Menschen sich in Gott befinden, die der höchsten Wahrheit mit rechter Gelassenheit ohne alle Falschheit gerne entsprechen möchten« 26. Dieser Menschen »Eingenommenheit in die weiselose Abgründigkeit« 27 Gottes ist – so die Auskunft Meister Eckharts – unaussagbar. 28 Die zweite Frage des Dieners an den Meister betrifft die für diesen höchsten Zustand gelassener Gottunmittelbarkeit »förderlichste Übung«. Die Antwort Meister Eckharts lautet: Vgl. Das Buch der Wahrheit, 24,149–26,168. Die Vita und das Büchlein der ewigen Weisheit Seuses werden zitiert nach der folgenden Ausgabe: Heinrich Seuse. Deutsche Schriften im Auftrag der Württembergischen Kommision für Landesgeschichte herausgegeben von Karl Bihlmeyer, Stuttgart 1907 (Unveränderter Nachdruck 1961), im Folgenden abgk. mit »B« sowie Angabe der Seiten- und Zeilenzahl; vgl. hier B 23,1–3. 26 Vgl. B 23,4–6. 27 Vgl. B 23,6 f. 28 Vgl. B 23,6 f. 24 25

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»Er soll sich selbst nach seiner Selbstheit mit tiefer Gelassenheit entsinken und alle Dinge als von Gott, nicht von der Kreatur, kommend nehmen, und sich in eine stille Geduld gegen alle wölfischen Menschen fassen.« 29

Seine eigene willentliche Eigenwirksamkeit aufzuheben, alle (gegebenen) Dinge als eine Willensäußerung Gottes und damit unter dem Aspekt des eigenen Gottesverhältnisses zu betrachten und sich gegen »wölfische« Menschen, die von einem zügellosen Eigenwillen bewegt sind, in Geduld zu fassen, dies zusammen macht im Verständnis Seuses die geistliche Weisung Meister Eckharts aus. Ihr stellt Seuse aber noch eine zweite Weisung an die Seite, die er dem ihm gleichfalls visionär erschienenen Bruder Johannes Futerer d. Älteren aus Straßburg 30 in den Mund legt: »Nichts Schmerzvolleres und Nützlicheres gibt es für den Menschen, als dass der Mensch in Gelassenheit vor Gott in Geduld den eigenen Willen aufgebe und so sich Gott durch Gott überlasse«. 31

Jene »Übung«, die in sich allen »geistlichen Nutzen« vereinigt, die aber – weil sie gegen die natürliche Selbstbehauptung des menschlichen Willens gerichtet ist – zugleich das Schwerste und »Schmerzvollste« darstellt, das der Mensch aus eigenem Vermögen heraus tun kann, jene einzig notwendige Übung also ist die Aufhebung (der Wirksamkeit) des eigenen Willens »in Gelassenheit«. Denn die Aufhebung der Selbstbewegung des eigenen Willens ist zugleich die vollständige Selbstübergabe des Menschen an Gott, der im ihm gegenüber willenlos gewordenen Menschen seinen Willen und sein Wirken entfaltet. In Abwandlung des bekannten Schriftwortes kann daher gesagt werden: Eines nur tut dem Menschen not: dass er vollkommen gelassen, d. h. willenlos, werde gegenüber Gott und dessen Willen für sich und die anderen geschehen lasse. Diese Selbstübergabe, das Sichüberlassen des Menschen an Gott, aber ist nur, wie diese geistliche Weisung formuliert, »durch Gott« möglich: Denn nach der noch im äußersten Vermögen des Menschen stehenden Aufhebung seines eigenen Willens vor Gott ist es allein Gottes Wirken und »Aktivität«, dass sein (Gottes) Wille – anstelle

Vgl. B 23,9–12. Zur Person des Johannes Futerer vgl. Bihlmeyers Anmerkung zu B 23,1 und H. Neumann, Art. Johannes Futerer, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 3, Berlin 1980, Sp. 1034. 31 Vgl. B 23,18–20. 29 30

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des eigenen menschlichen Willens – zum bewegenden Subjekt des menschlichen Handelns und Verhaltens wird. Damit ist die entscheidende Bedeutung der Gelassenheit im Sinne einer Unterordnung und Aufgabe des eigenen Willens gegenüber dem Willen Gottes und damit gegenüber Gott selbst für das Erreichen des Ziels des mystischen Weges klar ausgesprochen.

4.2 Der Wendepunkt des geistlichen Lebens des Dieners nach dem 19. Kapitel der Vita: Das Einschreiten der Ewigen Weisheit – Christus wird zum Lehrmeister in der »Kunst wahrer Gelassenheit« – die gegebene Selbsterkenntnis des Dieners Von dessen 40. Lebensjahr an, nachdem sich der Diener 22 Jahre lang in falscher Selbstanmaßung fruchtlos selbst gezüchtigt hat, »übernimmt« die Ewige Weisheit, d. h. Christus selbst, die Lebensführung des Dieners, indem sie ihn zunächst in jene »vernünftige Schule« 32 einweist, die »zu der Kunst wahrer Gelassenheit« führt. Jene »hohe Schule« der Gelassenheit und »ihre Kunst«, deren Lehrmeister Christus selbst ist, »ist nichts anderes als ein gänzliches, vollkommenes Lassen seiner selbst, so dass ein Mensch in solcher Entwordenheit (seiner selbst) steht, dass – wie Gott sich auch gegen ihn erzeige oder durch seine Geschöpfe sich ihm gegenüber verhalte in Lieb oder Leid – er sich darum bemühe, allzeit gleich zu bleiben in einer völligen Preisgabe des Seinen, soweit es denn menschliche Schwachheit zu erreichen vermag, und allein auf Gottes Lob und Ehre zu sehen, so wie der liebe Christus es seinem himmlischen Vater gegenüber bewies.« 33

Christus will den Diener die (Lebens-)Kunst wahrer Gelassenheit bzw. willentlicher Indifferenz gegenüber allem Gegebenen (»allzeit gleich zu bleiben in einer völligen Preisgabe des Seinen«) und damit die »Kunst« einer völligen Aufhebung (der Wirksamkeit) des eigenen Willens als den einzig zielführenden Weg zur »Übereignung« der eigenen Existenz an den göttlichen Willen lehren, in dessen ungehinderter Entfaltung das Heil für den Menschen beschlossen liegt. Der Diener aber versteht die Bedeutung des Gesagten noch nicht richtig, Nach der Überschrift des 19. Kapitels (B 53,6 f.), mit dem ein dritter Abschnitt innerhalb der Vita beginnt. 33 Vgl. B 54,2–8. 32

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da er glaubt, zur Erlangung dieser Kunst selbst – unter Aufbietung all seiner Kräfte – tätig werden zu müssen. 34 Dieses Missverständnis des Dieners fordert den himmlischen Boten zum Widerspruch heraus: »›Diese Kunst [sc. der Gelassenheit] bedarf einer ledigen Müßigkeit. Je weniger man hier [selbst, eigenwirksam] tut, umso mehr hat man in Wahrheit getan‹ ; und damit meinte er ein solches Tun, bei dem der Mensch sich selbst setzt und nicht das lautere Gotteslob meint.« 35

Erst diese Belehrung befähigt den Diener zu wahrer Selbsterkenntnis, die am Anfang des heilenden Erziehungsprozesses stehen muss: zur Einsicht in die seinen Selbstzüchtigungen zugrundeliegende Fehleinstellung im Willen, zur Einsicht in seinen noch vorhandenen Eigenwillen bzw. Unwillen, sich dem Gotteswillen ganz anheimzugeben, und damit zur Einsicht in sein faktisches Ungelassensein, in seine Bedürftigkeit nach Unterweisung in der »hohen Schule der Gelassenheit«: »›Er begann in sich und mit sich selbst zu sprechen: Schaust du eifrig in dich selbst, so findest du da noch eigentlich dich selbst und erkennst, dass du mit all deinen äußeren Übungen, die du dir selbst aus dem Grund deiner eigenen Seele angetan hast, [zu] ungelassen bist, fremde, von außen kommende Widerwärtigkeiten auf dich zu nehmen. Du bist noch wie ein furchtsames Häschen, das sich in einem Busch versteckt hat und vor jedem fliegenden Blatt erschrickt. So ist es mit dir bestellt: Trifft dich ein Leid, so erschrickst du immer wieder. Beim Anblick deiner Widersacher entfärbst du dich. Sollst du dich Gottes Willen unterordnen, so fliehst du; sollst du dich offen zeigen, so verbirgst du dich; lobt man dich, so lachst du [freut dich das]; wenn man dich tadelt, so macht dich das traurig; es ist wohl wahr, dass du einer hohen Schule bedarfst‹ ; und mit einem innerlichen Seufzen blickte er [sc. der Diener] auf zu Gott und sprach: ›Ach, Gott, wie ist mir die Wahrheit doch so unverblümt gesagt worden!‹ und fügte hinzu: ›Owe, wann soll ich jemals ein recht gelassener Mensch werden?‹« 36

Das – nicht zufällig – 40. Lebensjahr 37 markiert einen Wendepunkt im geistlichen Leben des Dieners: Christus, die »Ewige Weisheit«, Vgl. B 54,8–11: »Als der Diener dieses hörte, gefiel es ihm gar wohl, und er meinte, dieser Kunst leben zu wollen; und es könnte nicht so schwer sein, dass ihn etwas davon abbringen könnte; und da wollte er bauen (dieses ›Feld wolle er bestellen‹) und unausgesetzt tätig sein.« 35 B 54, 12–15. 36 B 54, 18–32. 37 Die symbolische Bedeutung dieses Alters wird von Tauler in seiner mystischen Lebensalterlehre entfaltet, vgl. hierzu A. M. Haas, Gottleiden – Gottlieben. Zur volks34

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wird selbst zum Lehrer und mehr noch zum Form- und Wirk-Prinzip, zum Regenten seines geistlichen Lebens, und er, der Diener, wird zum Empfänger dessen, was ihm von Gott durch und in Christus zu seinem geistlichen Heil gegeben wird. Mit dem Ende der selbstgewirkten Selbstschädigungen des Dieners ist aber keineswegs das Ende seines Leidensweges erreicht; vielmehr hat sich gleichsam am Negativbeispiel, am fehlerhaften Unterschied, Seuses Einsicht in die Heilsnotwendigkeit des Leidens für seinen wie überhaupt für jeden menschlichen Lebensweg vertieft und verschärft: Demnach gereicht nicht das selbstgewirkte, das sich selbst mutwillig auferlegte, sondern allein das von Gott einem Menschen gleichsam gegebene bzw. richtiger für einen Menschen zugelassene Leid diesem zu seinem Heil; es wird ihm von Gott mit dem pädagogischen Ziel gegeben, ähnlich bzw. gleichförmig mit Christus zu werden, wenn und sofern dieses Leiden den von ihm betroffenen Menschen gelassen werden, wenn es ihn die Tugend der Gelassenheit als der völligen Ergebenheit in den Willen Gottes lernen lässt. Christus aber ist der Erzieher, ist der vollkommene und vorbildliche Lehrund Zuchtmeister in dieser Schule der Gelassenheit, in der die Lebenskunst wahrer Gelassenheit erlernt werden soll.

4.3 Der innerzeitliche Nutzen und Gewinn einer mystischen Lebensform: Die drei göttlichen Wirkweisen des wahrhaft gelassenen Menschen Im 32. und letzten Kapitel des ersten Teils von Seuses Vita findet die exemplarische Schilderung von Seuses geistlichem Weg als der Geschichte seines Gottesverhältnisses ihren Abschluss. Erreichte der Leidenscharakter dieser Geschichte bereits im 30. Kapitel mit der dort berichteten restlosen Aufhebung der eigenen Willenstätigkeit des Dieners und deren Ersetzung durch den göttlichen Willen seinen Höhe- und zugleich Schlusspunkt, so ist diese vollkommene Läuterung sprachlichen Mystik im Mittelalter, Frankfurt a. M. 1989, 87: »Die Integration der theologischen Gehalte der Heilsgeschichte in die menschliche Wirklichkeit hat ihre lebensgeschichtliche und anthropologische Auswirkung. Lebensgeschichtlich verweist das Evangelium ›uf den aller edelsten, nútzesten, sichersten, wesenlichesten ker den man in der zit haben kann‹ (V 41,1 f.), der biographisch um das 40. Lebensjahr herum einsetzt und um die 50 den Menschen in die Einheit mit dem Ursprung führt (V 80,5–14).«

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des Dieners die sachliche Voraussetzung dafür, dass sein Leben – in christusähnlicher Stellvertretung – einen Opfer- und Hingabecharakter für alles menschliche Leben und Leiden erhält, wie das 31. Kapitel der Vita zeigt. Doch Nutzen und Fruchtbarkeit einer im mystischen Sinne des Wortes gelassenen, nur noch vom Willen Gottes geleiteten Existenz erstrecken sich nicht nur auf die menschlich Anderen, sondern ergeben sich auch für die durch vielfältiges Leiden gelassen gewordenen Menschen selbst. Diesen innerzeitlichen Gewinn und Nutzen einer vollkommen gelassenen, einer mystischen Lebensweise für ihren Träger zeigt Seuse im letzten Kapitel des ersten Teils seiner Vita auf: Dieses Kapitel setzt mit dem Wunsch des Dieners ein, »von Gott zu erfahren, welchen Lohn die Menschen in dieser Zeit von Gott empfangen sollen, die durch ihn vielfach gelitten haben«. 38 Gottes Antwort verheißt allen leidenden, gelassenen Menschen: »sie sind mit mir gestorben, sie werden auch mit mir freudig auferstehen.« 39 Das innerzeitliche »Auferstehen mit Christus« liegt im Empfang von drei besonderen Gaben, deren Reihenfolge ihrer gesteigerten Bedeutung entspricht: 1. Gelassene Menschen erhalten »Wunschesgewalt« 40 »im Himmel und auf Erden, so dass alles, was immer sie wünschen, geschieht.« 41 2. Gott schenkt den gelassenen Menschen seinen »göttlichen Frieden, den ihnen weder Engel noch Teufel, weder Mensch noch irgendein Geschöpf nehmen kann.« 42 Die dritte und höchste Gabe schließlich ist die Liebesvereinigung mit Gott selbst: 3. »Ich will sie so innig durchdringen und so liebevoll umfangen, dass ich sie [sei] und sie ich sei, und wir beide ein einig Eines in alle Ewigkeit bleiben werden.« 43 Diese von Gott selbst als Folge wahrer Gelassenheit genannten »Gaben« aber wandeln deshalb das Leid des Menschen in Freude, tilgen deshalb alles menschliche Leid, weil sich in und mit ihnen Gott, Vgl. B 93,6–8. Vgl. B 93,12 f.; vgl. hierzu Röm 6,4. 40 Zur Bedeutung dieses Ausdrucks vgl. Bihlmeyer, 92, Anm.: »wúnsches gewalt (optio omnium) = Vermögen, alles Heil und Segen zu schaffen (Lexer III, 997)«. 41 Vgl. B 93,15 f. 42 Vgl. B 93,17 f. 43 Vgl. B 93,18–20. 38 39

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der Leidensfreie und Leidlose, selbst dem gelassenen Menschen »schenkt« und das heißt: Seinen leidensfreien Willen und sein leidloses Wirken »im« Menschen entfaltet. Daher kann der für den gelassenen Menschen exemplarische Diener ausrufen: »Wer gelitten hat, der trete hervor und klage! Weiß Gott, das will ich mir versprechen, dass mich dünkt, dass ich auf Erden nie zu leiden gehabt habe; ich weiß nicht, was Leiden ist, wohl [aber], was Wonne und Freude ist. Wunschesgewalt ist mir gegeben, deren manches verirrte Herz entbehren muss; was will ich [noch] mehr?« 44

Die drei dem gelassenen Menschen von Gott verliehenen Gaben sind selbst genuin göttliche Wirkweisen, dies wird – auf Anfrage des Dieners – von der Ewigen Wahrheit 45 zunächst am Beispiel der sog. Wunschesgewalt aufgezeigt. Die genuin göttliche Wunschesgewalt als das Vermögen, alles zum Heil zu führen, und das heißt, dem Willen und Wirken Gottes dienstbar zu machen, wird nur in einem gelassenen Menschen wirksam: »Gelassene Menschen besitzen Wunschesgewalt« heißt folglich nichts anderes, als dass sich in ihnen das Wollen und Wirken Gottes (das alles zum Heil führt) vollzieht. In diesem Sinne kann, ja muss von ihnen gesagt werden, dass »ihnen Himmel und Erde dienen, und ihnen alle Geschöpfe gehorsam sind«. Mit der Wirksamkeit des eigenen Willens haben gelassene Menschen auch jedes innere Leid, bzw. in Seuses Sprache jedes »Herzeleid« verloren – denn dieses Leid ist in Wahrheit nur die notwendige Folge einer selbst verschuldeten Selbstentzweiung im Willen: einer Entzweiung zwischen dem vom menschlichen Willen wesenhaft und in Wahrheit Gewollten, Gott selbst, und jenen endlichen und vergänglichen Dingen, auf die sich der einzelne Wille in seinen faktisch-empirischen Akten hin ausrichtet. Diese Gegenstrebigkeit, dieser spannungsvolle Widerstreit im Willen aber erzeugt Leid. Daher muss jeder auf Endliches, mithin Vergängliches ausgerichtete Wille leidbringend und in der Folge sogar selbstzerstörerisch sein, sofern die sich steigernde Selbstentzweiung zur Selbstauflösung des Entzweiten führt. Doch auch jener Wille, der noch selbst, kraft eigenen Vermögens und Wirkens, Gott bzw. seinen Willen (erfüllen) will, ist noch entzweit und damit leidbringend. Denn ein endliches Vermögen Vgl. B 93,29–94,4. Vgl. B 94,5 f.; Christus wird an dieser Stelle wieder die »Ewige Wahrheit« genannt, weil er eine primär theoretische Belehrung – nämlich die Begründung der sog. »Wunschesgewalt« als einer göttlichen Wirkweise – gibt.

44 45

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– und der (menschliche) Wille ist ein solches – kann nichts Unendliches (selbst) hervorbringen, der Wille kann kraft eigenen Vermögens keine unmittelbare Anwesenheit bei Gott erreichen; diese aber ist gleichsam der geheime Zug seines Wesens, seine tiefste Sehnsucht, sein größtes Verlangen. Solange also der Wille, der – einfach gesagt – unmittelbar bei Gott sein will, zum Erreichen dieses Zieles sich noch selbst setzt und selbst wirkt, solange wird er dieses eigentliche und wahre Ziel all seines Strebens notwendigerweise verfehlen. Er darf gerade nicht mehr selbst danach streben, sich selbst setzen, selbst wirken wollen, er darf überhaupt nicht mehr selbst wollen, damit sein (tiefstes) Verlangen erfüllt wird. Mit anderen Worten: Nur jener (kreatürliche) Wille befreit von allem Leid, der aufgehört hat, zu wollen! Allein der aufgehobene, der erloschene Wille ist am Ziel seiner Sehnsucht: Er ist zur rein passiven, zur puren Form des Selbstvollzugs des göttlichen Willens geworden; erst der seiner Eigenwirksamkeit entäußerte und in diesem Sinne aufgehobene Wille steht jenseits allen (Herze-)Leids, weil er zum Vollzugsort des einzig nicht-entzweiten und leidlosen, des göttlichen Willens geworden ist. Die vollständige Aufhebung der Wirksamkeit des eigenen Willens aber ist das »Tor« zum göttlichen Frieden und deshalb das »Land« ohne Leid, ohne Entzweiung und Widerstreit. Zu diesem »Reich« des göttlichen Friedens, »zu Gottes Willen und seiner Gerechtigkeit«, treibt die Menschen ein »peinvoller Durst«, nämlich das wahre, wesenhafte Verlangen ihres Willens, das nur in dessen vollkommener Selbstübergabe, in der unmittelbaren Aufnahme des göttlichen Willens Erfüllung findet. Der Untergang des (menschlichen) Eigenwillens ist zugleich der »Aufgang« des göttlichen Willens (»im« Menschen), dessen Selbstvollzug von einheitlicher, mithin gegensatzloser »Qualität« und damit identisch mit dem göttlichen Frieden ist. Darum ist jenen wahrhaft gelassenen Menschen, in denen Gottes Wille geschieht, »all das, was Gott über sie verhängt, so angenehm, dass sie nichts anderes wollen noch begehren«. 46 Wie aber kommt man zur zweifelsfreien Gewissheit, worin der Wille Gottes jeweils liegt? Diese Frage bzw. ihr Gefragtes nennt die »Ewige Wahrheit« »ein verborgenes Hindernis, das viele Menschen anficht und behindert« 47; mit der Beantwortung dieser Frage endet das 32. Kapitel der Vita: 46 47

Vgl. B 94,26–95,9. Vgl. B 95,13 f.

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»Schau, Gott ist eine überwesentliche Sache, die einem jeglichen Ding innerlicher und gegenwärtiger ist als das Ding sich selbst [ist] und gegen dessen Willen kein Ding [auch nur] einen Augenblick lang geschehen noch bestehen kann.« 48

M. a. W.: Gottes mit seinem Wesen identischer Wille ist absolut einheitlich (»überwesentlich«), damit zugleich universell gegenwärtig (einheitlich mit allem verbunden) und als solcher konstitutiv für alles Erscheinende. Deshalb zeigt sich zumindest der zulassende Wille Gottes gerade in dem, was dem Menschen unverfügbar und unabänderlich gegeben bzw. vorgegeben ist, was tatsächlich geschieht. Darin, in dem tatsächlich Gegebenen, muss daher für jeden etwas liegen, was ihm zum Guten dienen und verhelfen kann, wenn es nur in der rechten Weise, nämlich gelassen, angeeignet wird. Denn das unabänderlich Gegebene muss angenommen, d. h. als Gegebenes bejaht werden. Wer aber sich frei gemacht hat von seinem egoistischen Eigenwillen und mehr noch von jeder Tätigkeit seines eigenen Willens, erfährt die Allgegenwart Gottes, die Anwesenheit des göttlichen Willens in allen Dingen, er sieht und »empfindet« überall nur Gottes eigenes Wirken, da in ihm Gott selbst erkennt, will und handelt. Für einen gelassenen Menschen verliert daher alles Gegebene seinen gegensätzlichen, entzweienden und damit leidbringenden Charakter und verwandelt sich in reine, ungetrübte Freude, in vollkommenen Frieden. Darüber hinaus vereinigt Gott seine leidenden Freunde auf geheimnisvolle Weise mit sich selbst, indem er sie teilhaben lässt an seiner ewigen Liebe zu sich selbst. Diese beiden größten göttlichen Gaben an einen wahrhaft gelassenen Menschen, der göttliche Friede und die mystische Vereinigung mit Gott, dem Einen, sind in Wahrheit identisch. Denn der göttliche Friede, der jede Träne trocknet und alles Leid (das durch den Eigenwillen erzeugt wird) tilgt, ist Gott selbst in seiner unmittelbaren Zuwendung zum Menschen, in der Entfaltung seines Willens und Wirkens in ihm und durch ihn. »Eingetaucht« in die trinitarische Selbsterkenntnis Gottes, macht der gelassene Mensch

Vgl. B 95,15–18; Gott ist allem Erscheinenden »innerlicher« als dieses sich selbst, vgl. zu diesem augustinischen Gedanken Conf. III 6,11: »Tu autem eras interior intimo meo et superior summo meo«; zum »Enthaltensein« aller Dinge in Gott als deren totaler Seinsabhängigkeit von Gott (vgl. z. B. Conf. IV 12,18: »non enim fecit atque abiit, sed ex illo in illo sunt« – ausgesagt von dem Verhältnis zwischen Gott und allem Geschaffenen) vgl. ausführlich K. Kremer, Gott und Welt in der klassischen Metaphysik (wie Anm. 14), 47 ff., 60 ff.

48

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jene authentische Erfahrung des Gottesreiches, die ihn schon hier glauben lässt, »im Himmel« zu sein. Ihm, dem gelassenen Menschen, gereicht alles Gegebene zum Guten, da er, von dem göttlichen Willen bewegt, der das Gute ist und wirkt, selbst nur Gutes wollen und wirken kann. Wer daher »gut leiden kann«, 49 wer sich – wie ein Instrument – vom göttlichen Willen »gebrauchen«, führen und bestimmen lässt, dem wird für sein erlittenes Leiden, d. h. für jene von Seuse am eigenen Lebensweg veranschaulichte leidensvolle Einübung in den »Tod« des eigenen Willens, bereits in dieser Zeit ein großer Gewinn, nämlich »Friede und Freude in allen Dingen« 50, zuteil, »nach dem Tode« 51 aber folgt ihm der größte Gewinn, »das ewige Leben« 52. Diese unaussprechliche Freude und dieser unwandelbare Friede sind also denen verheißen, die das Examen in der »höchsten Schule des Lebens« erfolgreich abgelegt und den inneren Zustand wahrer Gelassenheit erreicht haben. In diesen drei göttlichen Gnadengaben oder Wirkweisen eines wahrhaft gelassenen Menschen – seiner »Wunschesgewalt«, seinem unwandelbaren inneren Frieden und seiner mystischen Vereinigung mit Gott selbst – dürfen wir gewiss auch eine Reminiszenz Seuses an Meister Eckharts Beschreibung des wahrhaft gelassenen Menschen in dessen Predigt Qui audit me sehen: hatte Eckhart doch von dem gelassenen Menschen, der ganz in Gottes Liebe steht und mit Gott selbst vereint ist, gesagt, dass er beständig bleibe, unbewegt in sich selbst und unwandelbar. 53

4.3 Die »Entbildung«, »Bildung« und »Überbildung« eines gelassenen Menschen Im sog. »mystischen Spruchkapitel« (Kap. 49) seiner Vita fasst Seuse seine Lehre von der Struktur des mystischen Weges in die Erfahrung einer unmittelbaren Anwesenheit bei Gott in Jesus Christus in die folgende, berühmt gewordene Sentenz zusammen:

49 50 51 52 53

Vgl. B 95,31. Vgl. B 95,32. Vgl. B 95,33. Vgl. B 95,34. Vgl. hierzu Meister Eckhart, DW I, 201,9–203,7.

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»Ein gelassener Mensch muss entbildet werden der Kreatur, gebildet werden mit Christus und überbildet [werden] in der Gottheit.« 54

Dieser Sentenz zufolge besteht der mystische Weg in einem Dreischritt: Den ersten Schritt beschreibt Seuse anschaulich als eine »Entbildung« des Menschen von der Kreatur. Unter dieser »Entbildung« versteht er den (freiwilligen) Rückzug des eigenen Willens von allem Geschaffenen, allen weltlichen »Bildern« und damit von allem, was nicht Gott selbst ist. Bereits mit diesem ersten Schritt muss also derjenige, der den mystischen Weg gehen will, so weit kommen, dass sein Wille von nichts Kreatürlichem mehr bewegt und beeinflusst wird – und daher auch nicht von sich selbst. Der Welt und sich selbst gleichsam zu sterben bzw. tot zu werden für alles Weltliche – darin besteht der erste, vom Menschen selbst noch Leistbare, wenn auch extrem schwierige Schritt auf dem mystischen Weg. Dessen zweite Stufe besteht darin, mit Christus »gebildet zu werden«. Das aber bedeutet: durch eine möglichst vollkommene imitatio des Menschseins Jesu Christi eine unmittelbare Anwesenheit bei seiner »göttlichen Natur«, bei ihm als (wesensidentischem) Bild des Vaters zu erreichen. Und das »Überbildetwerden in der Gottheit« als die dritte und letzte Stufe des mystischen Weges bezeichnet schließlich jenen letzten Erfahrungsdurchbruch des Menschen durch die innertrinitarischen, relational-personalen Differenzen Gottes in den relationslosen, ununterschiedenen Wesensabgrund der Gottheit, den Seuse als die letzte, äußerste Gotteserfahrung des Menschen zumindest andeutet. Dabei handelt es sich um das reine Gott-Erleiden des Menschen, um dessen gänzlich passive Erfahrung seines Vereinigtwerdens mit dem vollkommen einfachen Wesen des trinitarischen Gottes. Von dem Inhalt dieser unmittelbaren und gegenstandslosen Erfahrung der »Gottheit« aber kann, da sie mit dem Bildverhältnis jede, auch die innergöttlich-trinitarische Relation und Differenz übersteigt, angemessen nur noch geschwiegen werden. 55

Vgl. B 168,9 f. Zu den für das mystische Wissen bzw. die mystische Sprache charakteristischen »Schweigegeboten« vgl. G. Lüers, Die Sprache der deutschen Mystik des Mittelalters im Werke der Mechthild von Magdeburg, Darmstadt 1966, 1–8.

54 55

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4.4 Die höchste Stufe der Gelassenheit nach dem Büchlein der Ewigen Weisheit: »Gelassensein in Gottverlassenheit ist höchste Gelassenheit« Der krönende Schlussstein von Seuses Lehre der Gelassenheit aber ist seine im Büchlein der Ewigen Weisheit vorgenommene Bestimmung der höchsten Stufe der Gelassenheit als »Gelassensein in Gottverlassenheit«: »Die höchste Stufe der Gelassenheit ist Gelassensein in Gottverlassenheit«. 56 Wer auch in der ungemein schmerz- und entsagungsvollen Erfahrung des eigenen Verlassenseins von Gott dennoch der für ihn unbegreiflichen Verfügung des göttlichen Willens übereignet und damit Gott selbst restlos hingegeben bleibt, hat die höchste, von jeder Selbstbezogenheit reine Stufe menschlicher Gottesliebe erreicht und ist darin dem Gottessohn in die Finsternis seines inneren Leidens an der Erfahrung seines eigenen Verlassenseins vom göttlichen Vater am Kreuz gefolgt. Doch angesichts dieses kaum noch vorstellbaren Höchstmaßes an Gelassenheit ist für uns leider meist nur mittelmäßige Schüler in dieser höchsten Schule des Lebens, die uns die Kunst wahrer Gelassenheit vermitteln will, das auch von Seuse geteilte Wissen Meister Eckharts um die faktische Unvollkommenheit aller menschlichen Gelassenheit auf Erden trostvoll: »Du musst wissen, dass sich noch nie ein Mensch in diesem Leben so weitgehend gelassen hat, dass er nicht gefunden hätte, er müsse sich noch mehr lassen.« 57

5.

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Zusammenfassend können wir festhalten, dass nach Heinrich Seuses dezidiert mystagogischem Verständnis von Gelassenheit diese jene höchste mystagogische Tugend des Menschen darstellt, durch die er die mystische Sohnwerdung und damit den Zustand der gnadenhaften Gleichförmigkeit mit Christus erreicht, weil Gott selbst den wahrhaft gelassen gewordenen Menschen in die Erfahrung einer unmittelIm Mittelhochdeutschen handelt es sich um ein Wortspiel, vgl. B 232,16 f.: »Ein gelazenheit ob aller gelazenheit ist gelazen sin in gelazenheit«. 57 Meister Eckhart, DW V, 196,6 f. 56

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baren Anwesenheit bei sich selbst führt. Da aber im Christentum diese unmittelbare Anwesenheit des Menschen bei Gott nur in und durch Christus möglich ist und da in der christlichen Mystik Heinrich Seuses Christus die Weisheit selbst ist, führt nach ihr die wahre, d. h. die vollkommene, Gelassenheit den Menschen zur Weisheit, ja mehr noch: Sie macht den Menschen gleichförmig mit der Weisheit, die Christus selbst ist, so dass er deren göttliche Kräfte und Vermögen wie die Wunschesgewalt, den vollkommenen Frieden und die Liebesvereinigung mit Gott selbst gnadenhaft erhält. Wir können daher die Verhältnisbestimmung zwischen der Weisheit Gottes und der Gelassenheit des Menschen in der mystagogischen Spiritualität Heinrich Seuses auf die folgende Kurzformel bringen: Durch Gelassenheit zur göttlichen Weisheit.

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»Weit über Perlen geht der Weisheit Besitz« – Aus der Weisheit der Hebräischen Bibel Hubert Irsigler

Besonnene Geister in unserer Zeit erinnern immer wieder einmal an die Notwendigkeit einer Erziehung zu Grundwerten in den Familien und in unserer Gesellschaft insgesamt: Menschenwürde, gleiche Würde von Mann und Frau, Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz, aber auch Charakterbildung, Verlässlichkeit, Ehrlichkeit, Wahrheitsliebe, Einfühlungsvermögen, Rücksichtnahme, Bescheidenheit, Verzicht auf Gewaltanwendung und Rache, Zivilcourage, soziale Kompetenzen usw. Solche Grundwerte sind fundamentale Elemente von »Lebensweisheit« bis heute. Durchaus in die Richtung solcher Grundwerte weist die Bildungstradition im alten Israel, in der Bibel und weit darüber hinaus in praktisch allen Kulturen der Menschheit. Einen Zugang zu dem, was wir mit Lebensweisheit aus der Bibel meinen, sind zweifellos Sprichwörter, wie sie sich vorrangig im Buch der Sprichwörter oder Sprüche-Buch/Proverbienbuch in der Bibel finden. Das sind allerdings nicht mehr einfache Volkssprichwörter, sondern in der Regel stilistisch geformte Weisheitssprüche. Sie wurden offensichtlich in königlichen Schulen schon der Zeit vor dem babylonischen Exil gesammelt und geformt. Es sind erkenntnisbindende Redeformen, die auf langer Erfahrung beruhen. Sprichwörter sind international, in allen Kulturen beheimatet. In der Bibel kennen wir über das Buch der Sprichwörter mit seinen reichen Sprichwortsammlungen und ganzen Lehrreden hinaus solche Spruchbildungen im Buch Kohelet und im Buch Jesus Sirach, hebr. Ben Sira. Volkssprichwörter stammen aus der alten Familien- und Sippenweisheit. Überwiegend sind es aber Lehrsprüche, Kunstsprüche, die durchaus aus den Schulen für Beamte am Königshof, aus der höfischen Weisheitstradition stammen, wie wir das von den ägyptischen Lebenslehren kennen (Dschedefhor, Ptahhotep, Amenemope u. a.). Sprichwörter scheinen in unserem Lebenskreis heute nicht mehr sehr lebendig. Und doch verwenden wir eine Menge von Redensarten, 176 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

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die auf langer Erfahrung gründen. Das Gespür dafür, dass in Sprichwörtern und Redensarten viel Lebenserfahrung und Lebensklugheit steckt, ist durchaus bewusst: Morgenstund hat Gold im Mund. Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein. Gottes Mühlen mahlen langsam. Hunde, die viel bellen, beißen nicht. Stille Wasser sind tief. Gegen Dummheit kämpfen selbst Götter vergeblich, etc. Sprichwörter gehören primär dem kulturellen Gedächtnis von Völkern und Gesellschaften an, in denen die Formen mündlicher Kommunikation gegenüber der Schrift dominieren. Aber selbst dort, wo die Gedächtniskultur durch eine ausgebildete Schriftkultur und Literatur nicht nur in Sonderbereichen wie Bürokratie und Kult zurückgedrängt wird, bleiben das Sprichwort und seine Variationen in gesprochener und auch in geschriebener Sprache eine immer noch wirksame Redeform. 1 Wenn wir von Lebensweisheit sprechen, sollten wir zunächst fragen, was denn eigentlich »Weisheit« ist, und zwar im biblischen Kontext und eingebettet in einen weiten kulturellen Hintergrund im ganzen Alten Orient. Denn Weisheitslehre, grundlegend, wenn auch nicht nur in der Form von Spruchsammlungen und Spruchliteratur, ist international und interkulturell. Für die Bibel sind zum Vergleich besonders Spruchsammlungen der Sumerer, der Akkader, d. h. Babylonier und Assyrer, aber besonders auch der alten Ägypter interessant. So findet sich geradezu ein Text einer ägyptischen Lebenslehre, der Lehre des Amenemope, in religiös adaptierter Form im biblischen Buch der Sprichwörter wieder (Spr 22,17–23,11). Aus der direkten nordwestlichen Nachbarschaft Israels, nämlich von den südsyrischen Aramäern, stammt die Überlieferung von dem weisen Achikar, von seiner Geschichte und seinen Weisheitssprüchen, etwa aus dem 8./ 7. Jh. v. Chr. Dieser weise Achikar war in der alten Welt weithin bekannt. Seine Geschichte und seine Sprüche sind in verschiedenen Fassungen überliefert (altaramäisch, syrisch, arabisch, äthiopisch, altslawisch, türkisch). Das spätalttestamentliche aus dem 2. vorchristlichen Jh. stammende biblische Buch Tobit von dem frommen Tobit in Assyrien und seinem Sohn Tobias hat diese alte Geschichte vom weisen

Von dieser Grundannahme geht die praktisch-theologische Dissertation von Alphonse Ndabiseruye aus: »IBUKUNZI NTIBWIRA« (Es wird nie Nacht bei einem wahren Freund). Burundische und biblische Sprichwörter über den Frieden. Ihr Beitrag und ihre Verwendung im Religionsunterricht in Burundi [Diss. Univ. Freiburg 2001], erschienen 2002. Online unter http://www.freidok.uni-freiburg.de.

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Achikar aufgenommen. Achikar erscheint da als oberster Verwalter unter dem Assyrerkönig Asarhaddon im 7. Jh. v. Chr. Das Tobitbuch macht Achikar zum Neffen des Israeliten Tobit (aus dem Stamm Naftali), so in Tobit 1,21 f.; vgl. Tobit 14,10–11. Wenn wir jetzt fragen, was denn Weisheit im biblischen Sinne sei, sollten wir uns dieses weiten Horizonts und Hintergrunds biblischer Weisheitstradition bewusst sein. 2

A. Was ist »Weisheit«? Wer ist »weise«? 1.

Zum Verständnis von »Weisheit« in der Spruchliteratur

Wenigstens grundrisshaft müssen wir eine Antwort versuchen. Es genügt nicht, die Basis ḤKM und das Subst. ḥoḵmā (σοφία bzw. sapientia) zu befragen. Der Terminus ḥoḵmā, gewöhnlich mit »Weisheit« wiedergegeben, ist ziemlich vieldeutig. Er bezeichnet handwerklich-künstlerisches Können (Ex 31,3 u. a.), Magie und Mantik (Gen 41,8 u. a.) ebenso wie Regierungskunst (Jer 50,35 u. a.), Einsicht in die Regeln der praktischen Lebensführung (Ijob 33,33; Spr 2,2), des ethischen Verhaltens (Spr 8,33; 19,20; 4,11) und ist bekanntlich auch das Ergebnis von »Gottesfurcht« (Spr 1,7; Ps 111,10). Weisheit ist eine Qualität und ein thematischer Bereich, der mit intellektueller und praktischer Kompetenz, mit Lebensberatung und politischem Rat, mit Erziehung und Bildung bis hin zur Naturwissenschaft zu tun hat. All dies kann in der Bibel mit dem Terminus »Weisheit« (ḥoḵmā bzw. σοφία) bezeichnet werden. »Weisheit« im biblischen Sinn trennt nicht zwischen Kultur und Wissenschaft, auch nicht zwischen Geistes- und Naturwissenschaften. In allem wirkt dieselbe Weisheit, auch wenn die Erkenntnisfelder und Erkenntniswege unterschiedlich sind. »Weisheit« bildet einen komplexen Traditionsstrom, tief verankert in der Weisheitswelt der Völker, der sich zumal, aber nicht ausschließlich in sog. weisheitlichen Schriften der Bibel niederschlägt, also doch Heilige Schrift geworden ist. Im engeren Sinne steht »Weisheit« für eine Kompetenz, die über Einen Überblick über Merkmale, Literaturen und Traditionen der »Weisheit« im Alten Testament bietet H. Irsigler, »Art. Weisheit. (I) AT«, in: Neues Bibel-Lexikon, hrsg. v. M. Görg und B. Lang, Bd. III, Düsseldorf und Zürich 2001, 1076–1084.1085 f.; ebd. E. Kamlah, »Art. Weisheit. (II) NT«, 1084 f.1086 f.

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bloßes fachliches Wissen hinausgreift, Ordnungen des Lebens und der Welt entdeckt und sie für eine gelingende Lebensgestaltung und Lebensbewältigung einsetzt. »Weisheit« im engeren terminologischen Sinn von Erfahrungsweisheit, Lebensweisheit wird die ḥoḵmā also dort, wo sie nicht auf irgendwelche Einzelfähigkeiten gerichtet ist, sondern wo diese »Weisheit« als selbstwertig auftritt und umfassend lebenskundlich zu verstehen ist. In der Weisheitstradition im biblischen Israel geht es zuerst und wesentlich um den Menschen, sein Selbstverständnis, seine Lebenserfahrung und die Wege zu einem gelingenden guten Leben. Dies ist eine substantielle, typische literaturprägende Bedeutung von ḥoḵmā in der sog. Weisheitsliteratur, die sich wesentlich von diesem umfassend lebenskundlichen Begriff von ḥoḵmā her definiert. Zu dieser lebenskundlichen Weisheit gehören: das Buch der Sprichwörter, Ijob, Kohelet (»Versammler«, nicht »Prediger«), sodann Ben Sira / Jesus Sirach und das Buch der Weisheit / Sapientia Salomonis; auch das Hohelied wird traditionell dazu gezählt, weil man es in der Tradition von Salomo herleitete oder einfach seiner Autorität als dem exemplarischen Weisen zugeordnet hat. Weisheit ist fundamental die Kunst der klugen Führung und Steuerung des Lebens, Spr 1,5b: Der Verständige (nabōn) erwerbe kluge Führung (hebr. taḥbulōt = Septuaginta/LXX: κυßέρνησις; Kunst der Lebenssteuerung und -führung; ebenso Spr 11,14 u. a.). Diese Steuermannskunst des Lebens will zu einem gelingenden Leben führen, sie sucht Lebensglück/Lebensqualität zu sichern angesichts der vielfältigen Gefährdungen. Dazu ist es notwendig, Einsicht in wesentliche Erfahrungszusammenhänge zu gewinnen, Ordnungen und Regeln des Lebens und der Welt aufzuspüren und sie zu nutzen, sich in sie einzufügen. Daher hat weisheitliches Denken und Sprechen eine innere Affinität zu Schöpfungsvorstellungen, vor allem zur Vorstellung von Schöpfungsordnungen bzw. einer Schöpfung als Ordnung und Architektonik der Welt. Weisheit ist das Bemühen, Lebens- und Welterkenntnis in sprachlich tradierbaren Formen (z. B. dem Spruch) zu binden und den Menschen in die erkannten Ordnungen und Regeln einzuweisen. Es geht also nicht nur im engeren Sinn um die eudämonistische Frage: Wie komme ich ich-zentriert zu einem glücklichen Leben (Koh 1,3: Welchen Vorteil hat der Mensch von all seiner Mühe …). Vielmehr ist diese Frage nach dem gelingenden Leben eingebunden in die Suche nach Erkenntnis von Ordnungen des Lebens und der Welt überhaupt und in die Bereitschaft, gemäß den erkannten Ordnungen 179 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

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zu handeln und zu leben. Die lebenskundliche Weisheit ist nicht eine Sache des Intellekts und des vielen Wissens, sondern eher eine Sache des gebildeten Charakters und der klugen Lebensführung. Lebenskundliche Weisheit ist alttestamentlich und biblisch insgesamt nicht nur menschliche Fähigkeit, sondern zugleich auch Gabe Gottes, die auch erbeten sein will. So ist z. B. die Weisheit des Bauern, der die rechte Zeit für seine Arbeit auf dem Feld kennt, durchaus eine Gabe und Lehre »seines Gottes« (Jes 28,26). Der König gilt ideal als der exemplarisch Weise, in dem sich die Weisheit Gottes kundtut und kundtun soll (Spr 16,10; 2 Sam 14,20; 1 Kön 3,12.28). Kategorisch sagt Jesus Sirach: »Alle Weisheit stammt vom Herrn, und ewig ist sie bei ihm. … Den Menschen ist sie unterschiedlich zugeteilt, er [Gott] spendet sie denen, die ihn fürchten« (Sir 1,1–10). Diese Vorstellung, dass Weisheit zuerst Gabe Gottes ist und so erst menschliche Fähigkeit, kennt auch das Neue Testament ausdrücklich. So ist Weisheit die Gabe und Bewährung einer sittlich guten und frommen Lebensführung z. B. in Kol 1,9–10, ausdrücklich kommt wahre Weisheit zur rechten Lebensführung von oben nach dem Jakobusbrief 3,13–18. Und diese Weisheit »ist heilig, friedlich, freundlich, gehorsam, voll Erbarmen und reich an guten Früchten, sie ist unparteiisch, sie heuchelt nicht« (Jak 3,17). Bevor wir auf einzelne Kernthemen der Lebensweisheit in der Bibel, vor allem in der Spruchtradition eingehen, möchte ich zwei Kurztexte vorstellen, die uns an das Wesen und die wichtigsten Aspekte der lebenskundlichen Weisheit heranführen. Der eine Text ist der enge Zusammenhang des schon zitierten Worts von der Steuermannskunst des Lebens (Spr 1,5), nämlich die einführenden Aussagen über den Sinn und Zweck der Sprichwörter am Beginn des Sprichwörterbuchs.

2.

Spr 1,1–6.7: Buchtitel und Vorspruch mit Mottovers

1 2 3

Sprichwörter Salomos, des Sohnes Davids, des Königs von Israel: um Weisheit zu lernen und Zucht, um kundige Rede zu verstehen, um Zucht und Verständnis zu erlangen, Gerechtigkeit, Rechtssinn und Redlichkeit, um Unerfahrenen Klugheit zu verleihen, der Jugend Kenntnis und Umsicht. Der Weise höre und vermehre sein (überkommenes) Wissen, der Verständige lerne kluge Führung (hebr. taḥbulōt, griech. κυßέρνησις),

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um Sinnspruch und Gleichnis zu verstehen, die Worte und Rätsel der Weisen. Gottesfurcht (»Furcht JHWHs«) ist Anfang der Erkenntnis, nur Toren verachten Weisheit und Zucht.

Die Überschrift »Sprichwörter Salomos« (mišlē šlōmō(h)) V. 1 ordnet das gesamte Proverbienbuch der Autorität des Salomo als eines paradigmatischen Weisheitslehrers und Inbegriffs des weisen Königs zu. Der Vorspruch in den Versen 2–6 verfolgt wesentlich vier Ziele: 1.) Die charakterliche Kompetenz der Adressaten des Sprüche-Buches stärken: durch die Aneignung von Weisheit und Zucht als kluge Selbstleitung des Lebens und Selbstbeherrschung, Selbstreinigung. 2.) Die kundige Rede verstehen und fördern: sprachliche Kompetenz, um die vielfältigen Phänomene des Lebens treffend erfassen und mitteilen zu können. 3.) Gerechtigkeit und Rechttun fördern als Grundpfeiler einer solidarischen Gesellschaft. 4.) Zentrum aller weisheitlichen Kompetenzen: die Führungskunst des Lebens (hebr. taḥbulōt, griech. κυßέρνησις). Selbst Weise und Verständige müssen durch Hören und Lernen sich diese »Kunst der klugen Lebensführung« aneignen. Sie ist zum einen die Fähigkeit, das eigene Leben richtig zu organisieren, so dass es in der Gemeinschaft der Menschen gelingen kann, zum anderen ist sie aber auch die Kompetenz, andere in die Lebensordnungen einzuführen und das Miteinander der Menschen zu gestalten. Mit einem Wort, es geht um die rechte »Kybernetik«, die »Steuermannskunst« des Lebens. Es ist immer wieder aufgefallen, dass gerade die ältere Weisheitstradition im Sprüche-Buch (etwa Kap. 25–29) nicht häufig von Gott redet. Ja, die Weisen schauen in die Welt hinein, ins Kleine und ins Große, sie wollen ihre Ordnungen entdecken. Aber die »Weltlichkeit« der Weisen ist nicht das, was wir heute unter Weltlichkeit verstehen. Vielmehr: »… es ist die totale Weltlichkeit einer total von Gott umgriffenen Welt.« 3 Ganz eindeutig wird dies, wenn wir auf das freilich jüngere Motto achten, das Spr 1,7 formuliert.

Gerhard von Rad, Weisheit in Israel, in: Ders., Gottes Wirken in Israel, hrsg. v. O. H. Steck, Neukirchen-Vluyn 1974, 233.

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Spr 1,7 führt nach dem ganz anthropologisch, allgemein menschlich-weisheitlich geprägten Vorspruch von V. 2–6 das eigentliche religiöse Motto des Sprüche-Buches ein: »Die Furcht JHWHs ist Anfang(/Summe) der Erkenntnis« (yirʾ at YHWH rē(ʾ )šīt daʿ at). Die unmittelbare Fortführung bzw. Erklärung dieses Mottospruchs hebt wiederum den spezifisch weisheitlichen Lehrkontext hervor, indem von der Furcht JHWHs als der Gottesfurcht schlechthin die Rede ist: »Nur Toren verachten Weisheit und Zucht« – ein Satz, der inkludierend den Beginn des Vorspruchs in V. 2 (»um Weisheit und Zucht zu lernen«) aufnimmt. Dieses Motto von der Furcht JHWHs als dem Anfang aller echten Erkenntnis umschließt inkludierend die Kapitel Spr 1–9 insgesamt: Spr 1,7 – 9,10. Ganz entsprechend findet sich der Mottovers in ähnlichen weisheitlichen bzw. weisheitlich-theologischen Kontexten in Ps 111,10; Sir 1,14; Ijob 28,28, wo allerdings die Furcht Adonais direkt mit der Weisheit identifiziert wird. Ähnlich formuliert Spr 15,33: »Die Furcht vor JHWH ist Zucht zur Weisheit.« Der Mottovers von der JHWH- bzw. Gottesfurcht beantwortet die Frage nach dem Ort, nach der Verankerung der Weisheit, nicht die Frage nach dem Ort von Gottesfurcht: Gottesfurcht als »JHWH-Furcht« ist aller Weisheit vorgeordnet. Sie ist die Vorbedingung für den Weisheitserwerb und er zieht zu ihr hin. In der Rede von der rē(ʾ )šīt der Erkenntnis oder der Weisheit schwingt konnotativ beides mit: primär doch der Sinn »Anfang«, aber auch »Hauptsache« oder »Hauptstück« der Erkenntnis bzw. Weisheit. Spr 9,10 akzentuiert allerdings eindeutig den Anfang, die Priorität der Erkenntnis: »Anfang / Beginn von Weisheit« (tḥillat ḥoḵmā) ist die Furcht JHWHs. 4 – Das Buch Jesus Sirach aber beschreibt die Gottesfurcht als Wurzel, Anfang von Weisheit und zugleich als Krone und Summe der Weisheit in Sir 1,11–20. a)

Was bedeutet »JHWH-Furcht«?

Gewiss bedeutet »JHWH-Furcht« in den genannten weisheitlichen Kontexten und insbesondere in Spr 1,7 (und 9,10) nicht »Furcht« als Erschrecken vor dem mysterium tremendum et fascinosum, sondern allgemein Gehorsam gegenüber dem göttlichen Willen und ständige Vgl. zu diesem Themenbereich des Mottoverses Gerhard von Rad, Weisheit in Israel, Neukirchen-Vluyn 1970, S. 91–95.

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Orientierung an JHWH. Kurz gesagt: konsequente Bindung an Gott und seinen Willen, wie auch vertrauensvolle Hingabe an ihn. Erst das Wissen um Gott, die Bindung an Gott setzt den Menschen in das richtige Verhältnis zur Welt und zu allen Dingen. Der Glaube an Gott behindert nicht Erkenntnis, sondern ermöglicht sie in einem tieferen umfassenden Sinn. Glaube und Vernunft gehen im weisen Menschen eine höchst positive Synthese ein. 5 Trotz der Verwendung des Namens »JHWH« stellt das SprücheBuch nicht spezifische israelitische Traditionen und Erfahrungen mit JHWH als dem Gott Israels in den Blick, vielmehr steht in diesen Kontexten JHWH schlechthin für »Gott«, ohne jedoch die Assoziationen, die sich mit dem Namen JHWH in Israel verbinden, abzustreifen. Mit anderen Worten, der Name JHWH bedeutet so etwas wie eine »Israelitisierung« einer allgemein weisheitlichen Rede von Gottesfurcht. Weisheitstexte des Alten Orient wie auch Israels stimmen ja darin überein, dass sie bevorzugt allgemeine Termini für die »Gottheit« verwenden oder spezifische Gottesnamen in einem unspezifischen Sinn für die Gottheit gebrauchen. Erst solche Gottesfurcht, von der der Mottovers Spr 1,7 handelt, ermöglicht all die Ziele der Weisheitsbelehrung, die der Vorspruch in Spr 1,2–6 präsentiert. Israel wagt mit dem Mottovers im Kontext der Weisheitstraditionen des Alten Orients, Ägyptens, Mesopotamiens und Kanaan-Syriens eine kühne Aussage: Allein Orientierung an JHWH, an seiner Wegweisung und seinem Willen eröffnet, ermöglicht Weisheit und Erkenntnis. Für Israel ist diese Wegweisung und Bindung an JHWH grundgelegt in der Tora des Pentateuchs und gewiss auch in der Weisung der Propheten Israels. Die Weisheitslehrer im nachexilischen Israel, denen wir Spr 1–9 insgesamt verdanken, setzen jedoch voraus, dass der Wille Gottes und damit in diesem Sinne »JHWH-Furcht« grundsätzlich allen Menschen zugänglich ist. Es ist die personhaft vorgestellte Weisheit, die nach Spr 8,22–30 jeden Menschen aus der Schöpfung anspricht. Konkret kann diese personifizierte Weisheit in der Gestalt von Weisheitslehrern auch an Straßen und Plätzen der Stadt und an Wegkreuzungen ihre Stimme erheben (vgl. Spr 8,1–3).

Vgl. dazu Gerhard von Rad, Weisheit in Israel, in: Ders., Gottes Wirken in Israel, hrsg. v. O. H. Steck, Neukirchen-Vluyn 1974, S. 232 f. (230–237).

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b)

Welches Gottesbild setzt diese Rede von Weisheit und Gottesfurcht voraus?

(1.) Gott ist die eigentliche Quelle aller Erkenntnis und Weisheit und aller Kunst der Lebensführung, von der Spr 1,2–6 und das SprücheBuch insgesamt spricht. Alle Erkenntnis des Menschen wirft ihn auf die Frage nach seiner Selbsterkenntnis zurück und mit ihr auf die Frage nach seiner Bindung an Gott. Wenn so sehr betont wird, dass aller Weisheit Anfang und Essenz die Gottesfurcht ist, so ist sehr wohl auch bewusst, dass Menschen andere Erkenntnisquellen suchen und behaupten. Der Mottosatz aber betont: »Sachverständig, kundig in den Ordnungen des Lebens wird man erst, wenn man vom Wissen um Gott ausgeht« 6. Israel hat der Gottesfurcht, der Bindung an JHWH eine eminent wichtige Funktion für das menschliche Erkennen insgesamt zuerkannt. (2.) Gott, benannt als JHWH, jedoch ohne Erwähnung heilsgeschichtlicher Bezüge, ist im Sprüche-Buch jedenfalls nicht explizit der Gott der besonderen Erwählungsgeschichte Israels, obwohl die weisen Lehrer in ihrer Rede von JHWH eine solche geschichtliche Kenntnis doch voraussetzen. Vorrangig aber wird JHWH verstanden als der weltumgreifende, ordnungsschaffende und durch seinen Willen lebensweisende Gott. Er fordert ein wahrhaft humanes Ethos ein. Er will in Gerechtigkeit, Recht und Redlichkeit ein geordnetes menschliches Zusammenleben ermöglichen, in Solidarität, Klugheit und weiser Lebensführung des Einzelnen wie auch der Gemeinschaft.

3.

1 Kön 3,9–13: Salomos Bitte an Gott um Weisheit

Nach Spr 1,1–7 möchte ich als zweiten Text, der uns zum Kern, zum Ursprung und zur tragenden Mitte der Weisheit als Lebensweisheit führt, 1 Kön 3,9–13 vorstellen: In Gibeon, nördlich von Jerusalem, bringt Salomo am Beginn seiner Königszeit Opfer dar. Im nächtlichen Traum erscheint ihm JHWH und fordert ihn auf, eine Bitte an ihn zu richten (das uralte Vorrecht des Königs, an Gott eine besondere Bitte zu richten):

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Verleih daher deinem Knecht ein hörendes Herz (leb šōmeăʿ ), damit er dein Volk zu regieren und das Gute vom Bösen zu unterscheiden versteht. Wer könnte sonst dieses mächtige Volk regieren? Es gefiel dem Herrn, dass Salomo diese Bitte aussprach. Daher antwortete ihm Gott: Weil du gerade diese Bitte ausgesprochen hast und nicht um langes Leben, Reichtum oder um den Tod deiner Feinde, sondern um Einsicht gebeten hast, um auf das Recht zu hören, werde ich deine Bitte erfüllen. Sieh, ich gebe dir ein so weises und verständiges Herz, dass keiner vor dir war und keiner nach dir kommen wird, der dir gleicht. Aber auch das, was du nicht erbeten hast, will ich dir geben: Reichtum und Ehre, so dass zu deinen Lebzeiten keiner unter den Königen dir gleicht.

Was den weisen Menschen auszeichnet, ist sein hörendes Herz. Nur das hörende Herz ist ein weises und verständiges Herz. Herz ist in Israel, wie auch sonst im Alten Orient, keineswegs nur oder zuerst das Gefühl wie bei uns, sondern die Personmitte, Zentrum geistiger Wahrnehmung und Entscheidung, Verstand, Vernunft, Wille und auch das Gewissen des Menschen, es ist Empfangsorgan für Gottes Weisung (vgl. Ps 16,7; Ps 51,8) wie in ägyptischen Lebenslehren (Amenemope). Das hörende Herz ist menschliche Eigenschaft und zugleich Gottes Gabe. Salomo erbittet ja von Gott ein hörendes Herz! Gottes Gabe geht der menschlichen Kompetenz voraus, ähnlich wie nach Spr 1,7 die Gottesfurcht Grundlage und Voraussetzung der Weisheit des Menschen ist. Das Herz, die Personmitte mit Verstand und Wille, ist dann hörend und weise, wenn es offen ist für die Wahrnehmung der Wirklichkeit, wenn es Realitätssinn hat und nicht Realitätsverlust, wenn es zugleich mit der Offenheit für die Lebens- und Weltwirklichkeit offen ist für Gott. Denn letztlich gibt er, Gott, die Fähigkeit zum hörenden und verstehenden und weisen Herzen. Deshalb soll man auf sein Inneres, auf seine Personmitte, auf sein Wollen und Streben, kurz auf sein eigenes Herz achten, weil nur das rechte, hörende und verstehende Herz zum Leben führt und Leben bewahrt, wie es Spr 4,23 sagt: »Mehr als alles achte auf dein Herz, denn von ihm geht Leben aus!« »Herz-los«, ohne Herz, ist im Hebräischen nicht etwa der Hartherzige in unserem Sinn, sondern der Unvernünftige, der Unverständige, also der, dem »Herz«, also Verstand und Vernunft und Weisheit fehlt, es ist der Unwissende und Unweise (Spr 9,4.16). Mit einem Wort: »herz-los« ist der Tor, der in den Spruchreihen so oft plakativ dem hörenden Weisen gegenübergestellt wird. Torheit ist eben nicht 185 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

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Mangel an Intelligenz, Torheit reicht tiefer, sie kommt aus einer Unordnung im Innersten des Menschen, in seiner Personmitte, aus einer Unordnung im Denken, Planen und Wollen, also aus einer Unordnung im »Herzen«. Deshalb heißt es in Spr 15,7: »Die Lippen der Weisen streuen Erkenntnis aus, das Herz der Toren ist verkehrt.« So ist z. B. nach Spr 6,32 wer Ehebruch treibt ḥasar leb »ohne Herz«, d. h. ohne Verstand und Vernunft. Immer gilt: Nur das hörende, d. h. für die Wirklichkeit und für Gott offene, wahrnehmungsfähige, aufgeschlossene Herz ist das weise Herz. Nun ist das hörende Herz, das offen ist, nicht in sich selbst verstockt, sondern offen für die Lebenswirklichkeit und in ihr für Gott, nicht erst eine Erfindung Israels. Wir hören Ähnliches schon in der Lebenslehre des weisen Ägypters Ptahhotep gegen Ende des Alten Reiches in Ägypten, etwa um 2200 v. Chr.: »Einer, den Gott liebt, ist der Hörende, nicht hört der, den Gott hasst. Es ist das Herz, das seinen Herrn zum Hörenden oder nicht Hörenden macht, Leben, Heil und Wohlergehen eines Mannes ist sein Herz.« (Z. 545–552) 7

Dieses Wort sollte nicht als Ausdruck von Vorherbestimmung des Menschen durch Gott verstanden werden. Der freie menschliche Wille zur Entscheidung wird da wie in Israel nicht geleugnet. Eher ist vom Ende her, von der wahrgenommenen Wirklichkeit her gedacht: Ein hörender, hörfähiger, für die wahre Wirklichkeit offener Mensch, das muss ein von Gott geliebter Mensch sein. Wer aber verstockt ist, wer die Wahrheit und Wirklichkeit nicht sehen will, wer sich selbst etwas vormacht, das muss ein Mensch sein, den Gott nicht mag, den er verwirft. Wenden wir uns nun in Auswahl einigen Kernthemen der Lebensweisheit in der Weisheitstradition Israels zu.

Zitiert im Anschluss an Günter Burkard, »Die Lehre des Ptahhotep«, in: TUAT III/ 2, Gütersloh 1991, 217 f. Vgl. auch Hellmut Brunner, Das hörende Herz, hrsg. v. Wolfgang Röllig: OBO 80, Freiburg/Schweiz, Göttingen 1988, 415.

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B.

Kernthemen der Lebensweisheit

1.

»Leben« als Ertrag von Weisheit, Gottesfurcht und Gerechtigkeit

Ganz grundsätzlich gilt in der gesamten Spruchweisheit: Weisheit bringt Leben, ja langes Leben. So z. B. Spr 3,13–18: »Wohl dem Menschen, der Weisheit gefunden … Denn sie zu erwerben ist besser als Silber, sie zu gewinnen ist besser als Gold. Sie übertrifft die Perlen an Wert. … Langes Leben birgt sie in ihrer Rechten, in ihrer Linken Reichtum und Ehre; ihre Wege sind Wege der Freude, all ihre Pfade führen zum Glück. Wer nach ihr greift, dem ist sie ein Lebensbaum, wer sie festhält, ist glücklich zu preisen.«

Gleiches kann ganz positiv und optimistisch von der Gottesfurcht gesagt werden: Sie bringt Leben und Glück. Spr 10,27–28: »Gottesfurcht (›JHWH-Furcht‹) bringt langes Leben, doch die Jahre der Frevler sind verkürzt. Die Hoffnung der Gerechten blüht auf, die Erwartung der Frevler wird zunichte« (vgl. auch Spr 19,23; 22,4; Sir 1,12.20). Weisheit und Gottesfurcht sind verwirklicht in umfassender »Gerechtigkeit«. Daher gilt das Gleiche, was vom Gewinn der Weisheit und Gottesfurcht gesagt wurde, auch von der Gerechtigkeit des Menschen: Spr 11,19: »Wer in der Gerechtigkeit feststeht, erlangt das Leben, wer dem Bösen nachjagt, den Tod.« Oder Spr 11,30: »Die Frucht der Gerechtigkeit ist ein Lebensbaum, Gewalttat raubt die Lebenskraft« (vgl. Spr 12,28; 21,21). Diese Vorstellung und Erwartung, dass Weisheit und mit ihr Gottesfurcht und Gerechtigkeit als Frucht wahres Leben bringen, ja auch langes Leben, ist so fundamental, dass in der Spruchweisheit kaum die Anfechtung laut wird, die aus der Erfahrung von unverschuldeter Krankheit, Leid und Tod erwächst. Auch muss man bedenken, dass der Einzelne sehr stark in der Gemeinschaft von Großfamilie, Sippe und Volk verwurzelt war und in ihr auch in der Regel Halt, Hilfe und Fürsorge fand, so dass die Fragen nach dem heilvollen oder elenden Geschick des Einzelnen nicht mit solcher Wucht auftreten konnten. Es bedurfte in der Geschichte des alten Israel gewaltiger, sehr schmerzlicher Erfahrungen und Umwälzungen, wie sie vor al187 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

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lem im Untergang des Staates Juda und im babylonischen Exil eintrafen, um die Frage nach der Gerechtigkeit im Lebensgeschick des Einzelnen massiv in den Blick zu rücken. Bereits Ezechiel und erst recht das Buch Ijob werden diese Fragen nach der Gerechtigkeit im individuellen Lebensgeschick nachdrücklich aufgreifen.

2.

Rechtes Hören, Reden und Schweigen

a)

Das »Hören« als Grundvoraussetzung von Weisheit

Vom hörenden Herzen als Quelle und Träger der Weisheit war schon die Rede. In der ersten, etwas jüngeren Großsammlung des Buches der Sprichwörter (Kap. 1–9) sind in Kap. 1–7 zehn sog. »Lehrreden« enthalten. In ihnen mahnt ein väterlicher Weisheitslehrer seine Adressaten, primär junge heranwachsende Männer, die er als »Söhne« anspricht, auf die Weisung von Vater und Mutter oder auf seine eigenen Worte, Ratschläge und Weisungen zu achten. Wir sehen: Weisheitliche Lebenserziehung erwächst aus dem allerersten Erziehungsbereich, nämlich der Familie und Sippe. So heißt es schon in Spr 1,8: »Höre, mein Sohn auf die Mahnung des Vaters, und die Lehre deiner Mutter verwirf nicht!« (vgl. die Höraufrufe in Spr 4,1; Spr 6,20; Spr 23,22). Der weise Lehrer versteht sich entsprechend selbst als »Vater«, wenn er seinen Adressaten anspricht, z. B. Spr 5,1–2: »Mein Sohn, merk auf meinen weisen Rat, neige meiner Einsicht dein Ohr zu, damit du Besonnenheit bewahrst und deine Lippen auf Klugheit achten.« Auch Könige und die Großen im Volk und in der Gemeinde müssen zuallererst hören, hinhören auf Gottes Weisung, auf den Rat der erfahrenen Weisen, auf den Willen Gottes im Leben der Menschen, im Hören sollen sie Weisheit lernen – so nach dem Buch der Weisheit 6,1 bzw. Sir 33,19. In dem Weisheitsgedicht Spr 8,22–31 wird die Weisheit personifiziert als Frau vorgestellt, als ersterschaffenes Werk Gottes, als Zeugin in Gottes gesamtem Schöpfungsprozess, als mit Gott vertrautes Wesen, das freudig spielend da ist vor ihm in der ganzen Schöpfung. Ihre Wonne ist es zugleich, bei den Menschen zu sein. Eben diese Weisheit ruft im Anschluss an das Gedicht zum Hören auf in Spr 8,32–36: »Nun, ihr Söhne, hört auf mich! Wohl dem, der auf meine Wege achtet … Wer mich findet, findet Leben, … doch wer mich 188 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

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verfehlt, der schadet sich selbst, alle, die mich hassen, lieben den Tod!« Zweierlei ist da bemerkenswert: Zum einen: Das Hören auf die von Gott in die Welt hinein geschaffene Weisheit ist umfassend zu verstehen: Hören auf die Ordnungen des Lebens und der ganzen Schöpfung, hören auf alles Geschehen in der Schöpfung, auf das Kleine und auf das Große, auf Situationen und Ereignisse in der Welt, bei den Menschen und in ihrer Lebensgeschichte. Zum anderen: Das Hören auf diese Weisheit Gottes in allen Dingen, in allem Geschaffenen, auch in den Menschen selbst, dieses Hören auf die Weisheit oder das Nicht-Hören entscheidet letzten Endes über Leben und Tod, um nichts weniger geht es. Aber kehren wir vom Hören auf die Schöpfungsweisheit wieder in die Niederungen des Umgangs der Menschen miteinander zurück. Wichtig ist natürlich, worauf man hören soll und tatsächlich hört. Nicht jedes Geschwätz, nicht Schmeichelei und schon gar nicht Verleumdung verdienen es, gehört zu werden. Es muss auch ein kritisches Hören geben. Sehr nüchtern sagt es Kohelet, der »Versammler«, der skeptische und nüchterne Philosoph in der Bibel, in Koh 7,21–22: »Hör nicht auf all die Worte, die man so sagt. Denn niemals wirst du einen Untergebenen über dich schimpfen hören, und doch bist du dir bewusst, dass auch du sehr oft über andere geschimpft hast.« Und der hebräische Ben Sira oder griechische Jesus Sirach mahnt in Sir 19,15: »Stell den Freund zur Rede, denn oft gibt es Verleumdung; trau nicht jedem Wort!« b)

Die Macht der Zunge zum Guten und zum Bösen

Die Macht der Zunge, d. h. der Rede, zum Guten wie zum Bösen ist ein Thema, das nicht oft genug eingeschärft werden kann. So Spr 15,4: »Eine sanfte Zunge ist ein Lebensbaum, eine falsche Zunge bricht das Herz.« Spr. 21,23: »Wer seinen Mund und seine Zunge behütet, der behütet sein Leben vor Drangsal.« Der weise Jesus Sirach komponiert eine ganze Lehrrede über die Zucht des Mundes in Sir 23,7–15. Er warnt darin vor allen Formen lästerlichen überheblichen Redens, vor schnellem Schwören und vor Unbedachtheit im Umgang mit dem Namen Gottes und stellt am Ende resigniert und warnend zugleich fest: »Hat sich einer an schändliche Reden gewöhnt, nimmt er sein Leben lang keine Zucht mehr an« (Sir 23,15). Das rechte und auch heilsame Reden des verständigen Menschen 189 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

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ist ein Dauerthema in der Spruchliteratur 8 – und zwar im plakativen Kontrast zum Gerede des Toren und des Frevlers, der aus innerer Unordnung, aus Unbeherrschtheit, Zorn und Ärger drauflosredet, Spr 12,18–19: »Mancher Leute Gerede verletzt wie Schwertstiche, die Zunge der Weisen bringt Heilung. Ein Mund, der die Wahrheit sagt, hat für immer Bestand, eine lügnerische Zunge nur einen Augenblick.« Ferner: »Ein kluger Mensch verbirgt sein Wissen, das Herz des Toren schreit die Narrheit hinaus« (V. 23). Noch der neutestamentliche Jakobusbrief beschreibt die Macht der Zunge und warnt eindringlich vor ihr in Jak 3,1–12: »… die Zunge kann kein Mensch zähmen, dieses ruhelose Übel, voll von tödlichem Gift. Mit ihr priesen wir den Herrn und Vater, und mit ihr verfluchen wir die Menschen, die als Abbild Gottes erschaffen sind. Aus ein und demselben Mund kommen Segen und Fluch. Meine Brüder, so darf es nicht sein …« (3,8–10). c)

Reden und Schweigen zur rechten Zeit

Es ist ein Grundmerkmal des weisen, des verständigen Menschen, dass er zur rechten Zeit reden, aber auch schweigen kann. Wie unglaublich wichtig es ist, dass das rechte Wort, die der Situation angemessene kluge Rede auch zur rechten Zeit gesprochen wird, das schärft der Spruch in Spr 25,11 ein: »Wie goldene Äpfel auf silbernen Schalen ist ein Wort, gesprochen zur rechten Zeit.« Und ganz ähnlich Spr 15,23: »Jeden freut es, wenn er (kluge) Antwort geben kann, und wie gut ist doch ein Wort zur rechten Zeit.« Von der richtigen Antwort, zur rechten Zeit, sachlich richtig und mit trefflichen Worten formuliert, sagt Spr 24,26: »Einen Kuss auf die Lippen gibt, wer mit richtigen/verlässlichen Worten Antwort gibt.« Ein Wort kann von der Sache her noch so richtig sein. Es muss auch zur rechten Zeit in die richtige Situation hineinfallen, dann kann es Gutes wirken und dann ist es schön »wie goldene Äpfel auf silbernen Schalen«. Zum rechten Reden gehört auch das Schweigen 9 zur rechten Zeit und in der richtigen Situation. So z. B. Spr 11,12–13: »Wer den Nächsten verächtlich macht, ist ohne Herz (d. h. unvernünftig!), doch ein kluger Mensch schweigt. Wer als Verleumder umhergeht, gibt Geheimnisse preis, der Verlässliche behält eine Sache für sich.« 8 9

Vgl. nur Spr 10,20 f.; 13,2; 15,1 f.4.7; 16,21.23 f.; 18,4; 20,15; 22,11; 24,26 u. a. Vgl. nur Spr 12,23; 13,3; 17,27; 20,19; 30,32 u. a.

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»Weit über Perlen geht der Weisheit Besitz«

Spr 12,16: »Der Tor zeigt sogleich seinen Ärger, klug ist, wer Schimpfworte einsteckt.« Ein erstaunlicher Satz! Klug ist demnach, wer Schmähung hinnimmt, wer schweigen kann, wenigstens zunächst, um nicht Öl ins Feuer zu gießen!

3.

Die rechte Zeit für alles menschliche Tun – Kohelet 3,1–8

Mit diesem Motiv von der »rechten Zeit« (hebräisch ʿ et, griechisch καιρός / Kairos) stoßen wir auf einen Bereich weisheitlicher Lebenslehre, der weit über das Thema Reden und Schweigen zur rechten Zeit hinausreicht. Es ist die einfache Erfahrung, die doch in allen Feldern menschlichen Handelns zutrifft, dass erfolgreiches Handeln an eine bestimmte günstige Zeit gebunden ist. Diese rechte Zeit für alles Tun herauszufinden, darauf verwenden die weisen Lehrer Israels alle Mühe. Denn wer die rechte Zeit kennt, der kann daraus Nutzen ziehen, eben erfolgreich handeln. Ein berühmtes Gedicht im Buch Kohelet handelt von der rechten Zeit und Stunde für alles Geschehen, Koh 3,1–8: 1 2 3 4 5 6 7 8

Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit: eine Zeit zum Gebären und eine Zeit zum Sterben, eine Zeit zum Pflanzen und eine Zeit zum Abernten der Pflanzen, eine Zeit zum Töten und eine Zeit zum Heilen, eine Zeit zum Niederreißen und eine Zeit zum Bauen, eine Zeit zum Weinen und eine Zeit zum Lachen, eine Zeit für die Klage und eine Zeit für den Tanz; eine Zeit zum Steinewerfen und eine Zeit zum Steinesammeln, eine Zeit zum Umarmen und eine Zeit, die Umarmung zu lösen, eine Zeit zum Suchen und eine Zeit zum Verlieren, eine Zeit zum Behalten und eine Zeit zum Wegwerfen, eine Zeit zum Zerreißen und eine Zeit zum Zusammennähen, eine Zeit zum Schweigen und eine Zeit zum Reden, eine Zeit zum Lieben und eine Zeit zum Hassen, eine Zeit für den Krieg und eine Zeit für den Frieden.

In dem Gedicht werden nach dem Mottovers 1 in den Versen 2–8 vierzehn Gegensatzpaare entfaltet: Für alles Tun und auch für das jeweils gegenteilige Tun gibt es eine bestimmte, dem Tun angemessene, günstige und richtige Zeit. Die Weisen meinen, die richtige Zeit

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herausfinden zu können. Kohelet ist skeptisch. Er schließt an das Gedicht eine rhetorische Frage an: 9 10 11

»Wenn jemand etwas tut – welchen Vorteil hat er davon, dass er sich anstrengt? Ich sah mir das Geschäft an, für das jeder Mensch durch Gottes Auftrag sich abmüht. Gott hat das alles zu seiner Zeit auf vollkommene Weise getan (›schön gemacht‹). Überdies hat er die Ewigkeit in ihr Herz hineingelegt, doch ohne dass der Mensch das Tun, das Gott getan hat, von seinem Anfang bis zu seinem Ende herausfinden (/begreifen) könnte.«

Für Kohelet ist alles von außen, d. h. bei ihm von Gott her bestimmt. Also warum soll man angestrengt handeln? Und der Mensch kann doch die rechte Zeit für sein Tun kaum recht erkennen (vgl. Koh 8,6–7). Aber die Frage hält das Denken offen. Am Ende des Buches wird Kohelet doch zu tatkräftigem Handeln aufrufen, gerade weil man nicht sicher sein kann, welches Tun zum echten Erfolg führt.

4.

Warnung vor Überheblichkeit und Maßlosigkeit in jeder Form

Dass in Hochmut, Überheblichkeit und uneinsichtiger Starrköpfigkeit größte Gefahren für den Menschen liegen, wird immer wieder eingeschärft. So z. B. in Spr 11,2: »Kommt Übermut, kommt Schande, doch bei den Bescheidenen ist die Weisheit zu Hause.« Unser Sprichwort »Hochmut kommt vor dem Fall« stammt ja direkt aus Spr 16,18: »Hoffart kommt vor dem Sturz, und Hochmut kommt vor dem Fall« (vgl. auch Spr 13,10; 16,5.19; 21,24; 29,23). Torheit, so sagten wir, kommt nicht aus mangelnden intellektuellen Fähigkeiten, sondern nach Spr 15,6 aus einem verkehrten Herzen, also einem verkehrten Denken, Urteilen, aus verkehrter Selbsteinschätzung. Torheit hat immer etwas mit Maßlosigkeit zu tun. Erstes Heilmittel gegen solche Maßlosigkeit, Selbstüberschätzung und Überheblichkeit ist nüchterne Einsicht in die eigenen Grenzen und Selbstbeherrschung, gepaart mit Langmut. Daher heißt es in Spr 16,32: »Besser ein Langmütiger als ein Kriegsheld, besser, wer sich selbst beherrscht, als wer Städte erobert.« Denn, so sagt Spr 25,28: »Eine Stadt mit eingerissener Mauer ist ein Mann, der sich nicht beherrscht.«

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»Weit über Perlen geht der Weisheit Besitz«

Drastisch warnt Jesus Sirach vor maßloser Begierde in Sir 18,30– 19,2: »Folg nicht deinen Begierden, von deinen Gelüsten halte dich fern! … Freu dich nicht über ein wenig Lust; doppelt so schwer wird dann die Armut sein. Sei kein Fresser und Säufer, denn sonst bleibt nichts im Beutel … Wein und Frauen lassen das Herz leichtfertig werden, und starke Begierde richtet den, den sie beherrscht, zugrunde.«

5.

Das Zusammenleben im Volk – das Verhältnis zu den Mitmenschen

a)

Arme und Reiche 10

In den älteren Spruchsammlungen in Spr 10–29 aus der Königszeit des alten Israel (10. bis 6. Jh. v. Chr.) und hier sogar noch aus der älteren und mittleren Königszeit (etwa 9. und 8. Jh. v. Chr.) finden sich Sprüche von Armen und Reichen, die betonen, dass beide in gleicher Weise und mit der gleichen Würde von Gott erschaffen sind. Daher darf der Reiche den Armen nicht verachten, sondern soll Erbarmen ihm gegenüber zeigen. Sozialrevoluzzer sind die alten weisen Lehrer nicht. Sie fordern nicht den gleichen Besitz für alle, sondern betonen die von Gott gegebene Würde aller und die Folgerungen, die sich daraus für das Verhältnis zu den Armen ergeben. 11 So Spr 14,31: »Wer den Geringen bedrückt, schmäht dessen Schöpfer, ihn ehrt, wer Erbarmen hat mit dem Bedürftigen.« Und ganz entsprechend Spr 17,5: »Wer den Armen verspottet, schmäht dessen Schöpfer, wer sich über Unglück freut, bleibt nicht ungestraft.« Oder Spr 22,2: »Reiche und Arme begegnen einander, doch der Herr hat sie alle erschaffen.« Ähnlich auch Spr 29,13. Hier wird nichts weniger gesagt als dies: Du Starker, du Reicher bedenke: Dein Verhalten zum Armen ist in Wirklichkeit dein Verhalten zu Gott selbst. Dass dies ein mächtiger Impuls ist, die Würde des Armen zu achten und ihm solidarisch zum Leben zu helfen, liegt auf

Vgl. zu dem ganzen Themenkomplex Reichtum und Armut in den älteren Spruchsammlungen von Spr 10–29 P. Doll, Menschenschöpfung und Weltschöpfung in der alttestamentlichen Weisheit: SBS 117, Stuttgart 1985, 16–29. 11 Zur Rede von Menschenschöpfung in den Sprüchen von Armen und Reichen vgl. bes. P. Doll, ebd., 16–19. 10

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der Hand. Meist sind mit den Armen in diesen Sprüchen die armen Kleinbauern gegenüber den Großgrundbesitzern gemeint. Wohltätigkeit, solidarisches Handeln trägt seinen Lohn in sich: Spr 11,24– 25: »Mancher teilt aus und bekommt immer mehr, ein anderer kargt übers Maß und wird doch ärmer. Wer wohltätig ist, wird reich gesättigt, wer andere labt, wird selbst gelabt.« Wie das negative Verhalten zum Armen, so ist auch das positive Verhalten zu ihm, die erwiesene Hilfe und Mildtätigkeit direkt auf Gott bezogen. Spr. 19,17: »Dem Herrn (JHWH) leiht, wer sich des Geringen erbarmt, ja, seine Wohltat vergilt er ihm.« Aber die Verhältnisse von Reichen und Armen und ihr Zusammenleben sind in der Erfahrung vielgestaltig und facettenreich. Keineswegs tadeln die Weisen den Fleißigen, der durch seine Arbeit Wohlstand und Reichtum erwirbt, ganz im Gegenteil. Ehrlich erworbener Reichtum wird gelobt, weil er Sicherheit gibt, Faulheit in jeder Form wird aufs Korn genommen. So z. B. in Sprüchen vom Bauern: Spr 28,19: »Wer seinen Acker bestellt, wird satt an Brot, wer nichtigen Dingen nachjagt, wird satt von Armut.« Spr 20,4: »Im Herbst pflügt der Faule nicht, sucht er in der Ernte, so ist nichts da.« Und besonders sarkastisch wird der Faule gezeichnet in Spr 22,13: »Der Faule spricht: ›Ein Löwe ist draußen, mitten auf der Straße käme ich ums Leben‹.« Freilich wissen die Weisen auch, dass Armut keineswegs immer selbst verschuldet ist, dass Reichtum soziale Sicherheit und viele Freunde verschafft, die dem Armen fehlen (Spr 19,4), aber auch, dass Reichtum mit unlauteren Mitteln erworben werden kann und dann die Armut und jedenfalls ein Leben in bescheidenen Verhältnissen unbedingt dem unlauteren Reichtum vorzuziehen ist (Spr 21,6). Daher gilt z. B. Spr 16,8: »Besser wenig und gerecht als viel Besitz und Unrecht.« Und Spr 15,16–17: »Besser wenig in Gottesfurcht (JHWHFurcht) als reiche Schätze und keine Ruhe. Besser ein Gericht Gemüse, wo Liebe herrscht, als ein gemästeter Ochse und Hass dabei.« 12

Vgl. Amenemope (übers. von Irene Shirun-Grumach in TUAT III/2 [1991], 222– 250) 6. Kap. IX, 5–6–7–8: »Besser ist Armut aus der Hand des Gottes als Reichtum im Vorratshaus. Besser sind Brote, wenn das Herz vergnügt ist, als Reichtum mit Unrast.«

12

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»Weit über Perlen geht der Weisheit Besitz«

b)

Zum Umgang mit »schwierigen« Mitmenschen und mit einem persönlichen Feind

Der »Nächste« oder einfach »Nachbar« muss gewiss kein »schwieriger« Mensch sein. Wenn man allerdings zu oft zu ihm kommt, kann er das als lästig empfinden, so dass Groll und Hassgefühle in ihm aufsteigen. Daher mahnt Spr 25,17: »Mach dich rar im Haus deines Nächsten, sonst wird er dich satt und beginnt dich zu hassen.« Immer schon schwierig war der Umgang mit dem Choleriker, dem jähzornigen Hitzkopf, auch mit dem rücksichtslos Ehrgeizigen. In einem Spruch der Sammlung Spr 22,17–23,11, die enge Verwandtschaft mit der berühmten ägyptischen Lebenslehre des Amenemope (um 1100 v. Chr.) zeigt, wird er wie im ägyptischen Text (Amenemope 2. Kap. IV, 17, 3. Kap. IV, 10.15, 4. Kap. VI, 1–4) »der Hitzige / Heiße« genannt (im Gegensatz zum »Schweiger«), so in Spr 19,19: »Der maßlos Jähzornige muss büßen; denn willst du (rettend) schlichten, machst du es noch ärger.« Spr 22,24 mit Begründung in V. 25 warnt: »Befreunde dich nicht mit dem Jähzornigen, verkehre nicht mit einem Hitzkopf, damit du dich nicht an seine Pfade gewöhnst und dir eine Schlinge legst für dein Leben.« 13 Nicht besser als der Hitzige ist der Unmäßige, der Säufer und Schlemmer, vor dem Umgang mit ihnen wird gewarnt, so nach Spr 23,20–21: »Gesell dich nicht zu den Weinsäufern, zu solchen, die im Fleischgenuss schlemmen; denn Säufer und Schlemmer werden arm …« c)

Gerechte und Frevler

Der althergebrachte Gegensatz von Weisen und Toren wird zunehmend ergänzt und auch ersetzt durch den Kontrast von Gerechten und Frevlern; vor allem seit dem Propheten Maleachi (Anfang 5. Jh. v. Chr.) lässt sich das bemerken, ist aber schon älter. Diese Frevler sind oft keine armen Schlucker, sondern Ellenbogenmenschen, die mit Rücksichtslosigkeit, Falschheit und Unrecht zum Erfolg und zu Reichtum gekommen sind. Das erzeugt Neid, Eifersucht. Dieses Problem des Glücks der Frevler gegenüber denen, die sich redlich mühen, wird seit der Exilszeit Judas im 6. Jh. zunehmend zu einer schweren Vgl. dazu Amenemope 9. Kap. XI, 13–14: »Verbrüdere dich nicht mit dem Heißen, und tritt nicht an ihn heran, um zu reden«. Auch Amenemope 3. Kap. IV, 10–11 warnt: »Fang keinen Streit an mit dem Heißmaul, und stichle ihn nicht mit Worten«. Vgl. ebd. 235.229, s. o. Anm. 12.

13

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Anfechtung für die Redlichen, die Gerechten, wie sie in der Weisheitstradition freilich plakativ genannt werden. Diese Anfechtung wegen des Glücks der Frevler begegnet charakteristisch schon in Jer 12,1–6, in Mal 3; sodann in Ps 37, Ps 73 und Ps 49 in der frühjüdischen nachexilischen Zeit. Auch im SprücheBuch stoßen wir auf diese Anfechtung. Es ist nicht nur etwa eine Eifersucht auf den Reichtum der Frevler, sondern einfach schon eine Anfechtung wegen ihrer Existenz und ihres ungehinderten Lebens. Daher warnt z. B. Spr 24,19–20: »Erhitze dich nicht wegen der Übeltäter, ereifere dich nicht wegen der Frevler! Denn für den Bösen gibt es keine Zukunft, die Lampe [das Lebenslicht!] der Frevler erlischt.« Ähnlich behauptet Spr 24,16: »Ja, siebenmal fällt der Gerechte und steht wieder auf, doch die Frevler stürzen ins Unglück.« Es erstaunt, mit welcher Sicherheit, mit welchem Optimismus diese Aussagen daherkommen. Sie können gewiss nicht absolut überzeugen, es sind Erfahrungswerte, die da ausgedrückt werden und die auch konterkariert werden können. Aber es sind Anfragen: Überleg dir’s, bleib gerecht in deinem Tun, lass dich nicht durch den scheinbaren Glanz der Frevler verführen. Aber nun leben die plakativ typisierten Gerechten und Frevler ja nicht nur nebeneinander her. Es kann ganz unabhängig von dem Schema ›Gerechte und Frevler‹ den persönlichen Feind eines Menschen geben oder eben einen Menschen, den ein Adressat der Weisheitssprüche als einen solchen Feind betrachtet. Für den Umgang mit einem solchen Feind raten die Weisen Folgendes: Spr 24,17–18: »Freu dich nicht über den Sturz deines Feindes, dein Herz juble nicht, wenn er strauchelt, damit nicht der Herr es sieht und missbilligt und seinen Zorn von ihm abwendet.« Also, keine Schadenfreude! Sie wird von Gott missbilligt. Sie kann sogar dazu führen, dass Gott das Unglück, das den Feind getroffen hat, von diesem abwendet. Das Mahnwort Spr 25,21–22 aus der alten königszeitlichen Teilsammlung Kap. 25–27 geht noch weiter: »Hat dein Feind Hunger, gib ihm zu essen, hat er Durst, gib ihm zu trinken; so sammelst du glühende Kohlen auf sein Haupt, und der Herr (JHWH) wird es dir vergelten.« Der Apostel Paulus zitiert dieses Wort im Römerbrief 12,20 und schließt in V. 21 konsequent die Mahnung an, die durchaus dem Weisheitsspruch konform geht: »Lass dich nicht vom Bösen besiegen, sondern besiege das Böse durch das Gute!« Das Bild von den glühenden Kohlen ist deutungsoffen. Es kann auf Gewissensbisse, Scham, 196 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

»Weit über Perlen geht der Weisheit Besitz«

Reue, Buße, Umkehr bei diesem Feind verweisen, dem Gutes widerfährt. Wichtig ist: Feindschaft soll durch Guttat besiegt werden. Das Alte Testament kennt auch in einer alten Rechtssammlung, in Ex 21– 23, dem sog. »Bundesbuch«, einen eindringlichen Appell, seinem Feind oder Gegner in Unglücksfällen zu helfen, so in Ex 23,4–5. In der entsprechenden Verordnung im deutlich jüngeren Buch Deuteronomium in Dtn 22,4 wird erstaunlicherweise aus der Hilfe für den Feind die Hilfe für den Bruder im Volk: Das Deuteronomium zielt eine solidarische Brudergesellschaft an, in der es keine persönlichen Feinde untereinander geben soll. Mit diesen Weisungen zur Hilfe für den Feind oder den zum Bruder mutierten Volksgenossen sind wir nicht mehr weit von dem ausdrücklichen Gebot der Feindesliebe Jesu entfernt, das auf Überwindung aller Feindschaft zielt (Mt 5,43–48; Lk 6,27 f.32–36). d)

Zum Verhältnis von Mann und Frau in der jüngeren Spruchliteratur

Wie steht es mit dem Verhältnis von Mann und Frau in der Spruchliteratur? In der älteren Spruchweisheit ist es kein Hauptthema. Wohl aber geht es aus der Sicht der Männerwelt um das Finden einer guten Frau. So stellt Spr 18,22 lapidar fest: »Wer eine Frau gefunden, hat Gutes / Glück gefunden und Wohlgefallen vom Herrn erlangt.« Und Spr 19,4: »Haus und Habe sind das Erbe der Väter, doch eine verständige Frau kommt vom Herrn.« Allerdings weiß Spr 21,9 auch: »Besser in einer Ecke des Daches wohnen als eine zänkische Frau im gemeinsamen Haus.« Dass das umgekehrt auch von einem zänkischen, unbeherrschten und unverständigen Mann gilt, betonen die weisen Lehrer in anderen Zusammenhängen gewiss ebenso (Spr 14,7; 25,28; Sir 6,1). Wir dürfen nicht vergessen, dass das Buch der Sprichwörter und später im 2. Jh. v. Chr. das Buch Jesus Sirach zuallererst sich an junge Männer, auch schon an Verheiratete, richtet. In der Zeit nach dem babylonischen Exil, nach dem 6. Jh. v. Chr., setzt sich im alten Israel die Einehe endgültig durch. Umso mehr gilt es, diese Ehe zu schützen und vor allem die Männerwelt vor Untreue zu warnen. Aus dieser Absicht erklärt sich, dass da kein gutes Bild von der verführerischen Frau entworfen wird. Das ändert nichts an der Hochschätzung der Frau, freilich besonders der Ehefrau. Im Lob der tüchtigen Frau in

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Spr 31,10–31 hat sich diese Hochschätzung der tüchtigen, klugen Frau in einem wunderbaren Gedicht niedergeschlagen. Aber, wenn es um die jungen Männer und ihre Erziehung und Bildung zu wertvollen Gliedern der Gemeinschaft geht, da wird kein Blatt vor den Mund genommen. Eindringlich wird gewarnt, sich mit einer »fremden Frau« (zārā) einzulassen. Die weisheitlichen Lehrreden Spr 5 sowie 6,20–35 und Kap. 7 enthalten kräftige Warnungen vor Ehebruch und konkret vor der Frau des Nächsten sowie vor der hurerischen Frau, der Dirne und Verführerin, aber auch in Spr 7 vor der landfremden Frau als einer Dienerin der heidnischen Liebesgöttin, die zu einer sog. kultischen »Hochzeit« einlädt; sehr irdische Begierden werden da nur religiös verbrämt. Aus Spr 5,1–6: »Mein Sohn, merk auf meinen weisen Rat, neige meiner Einsicht dein Ohr zu. … Denn die Lippen der fremden Frau triefen von Honig, glatter als Öl ist ihr Mund. Doch zuletzt ist sie bitter wie Wermut, scharf wie ein zweischneidiges Schwert. Ihre Füße steigen zur Totenwelt hinab, ihre Schritte gehen der Unterwelt zu« (vgl. auch Spr 6,28–29). Im Zusammenhang des Sprüche-Buches erscheint die für den jungen Mann verführerische Frau als Inbegriff der personifizierten »Frau Torheit« (Spr 9,13–18), dem krassen Gegenstück zur personifizierten »Frau Weisheit«, die Gott nahesteht (Spr 9,1–6; zu Spr 8,22–31 vgl. Jesus Sirach 24,1–22; Baruch 3,15–4,4; Weish 8,2–4; 9,1–19). Dabei wird die personale und erotische Liebe von Mann und Frau, wie sie so herrlich im Hohenlied besungen wird, auch von den Weisheitslehrern durchaus voll bejaht. So, wenn sie den Mann zur Liebe zu seiner Ehefrau herausfordern oder eben einem jungen noch nicht verheirateten Mann die Liebe zu seiner jungen geliebten Frau, die seine Ehefrau werden soll, als Gegengift gegen alle Verführung einschärfen. Dabei werden gerne Metaphern wie Brunnen, Zisterne, Quelle, auch Bilder aus dem Tierreich für die geliebte Frau gebraucht. Aus Spr 5,15–19: »Trink Wasser aus deiner eigenen Zisterne, Wasser, das aus deinem Brunnen quillt … Dein Brunnen sei gesegnet; freu dich der Frau deiner Jugendtage, der lieblichen Gazelle, der anmutigen Gämse! Ihre Liebkosung mache dich immerfort trunken, an ihrer Liebe berausch dich immer wieder!«

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»Weit über Perlen geht der Weisheit Besitz«

6.

Der fundamentale Zusammenhang von Tun und Ergehen und die Wirksamkeit Gottes im menschlichen Tun und Planen

Nicht ein Kernthema unter anderen, sondern ein fundamentales aus der Erfahrung vieler Generationen gewonnenes Ordnungsprinzip des Lebens ist der Entsprechungszusammenhang von Tun und Ergehen, Verhalten und Geschick. Dieses Tun-Ergehen-Denken, d. h. die Anschauung, dass alles, was wir tun, wie immer wir Menschen uns verhalten, ein diesem Tun und Verhalten entsprechendes Ergehen hervorbringt, dieses Denken durchdringt alle weisheitlichen Lehren. Es ist keineswegs nur in der Weisheitslehre zu Hause, hier aber wird es ausgebaut, ausdrücklich formuliert. Jede für unser konkretes Leben irgendwie bedeutsame oder bestimmende Tat erzeugt, wie man mit einem Begriff von Klaus Koch sagen kann, eine »schicksalwirkende Tatsphäre« 14, d. h. das Tun erzeugt gewissermaßen eine diesem Tun entsprechende schicksalhafte Sphäre um den Täter. Aus der Qualität des Tuns selbst entspringt das entsprechende Ergehen, Spr 22,8a: »Wer Unrecht sät, erntet Unheil.« Und Spr 26,27: »Wer eine Grube gräbt, fällt selbst hinein, wer einen Stein hochwälzt, auf den fällt er zurück.« Das gilt genauso wie die positive Sentenz »Wer ein gütiges Auge hat, wird gesegnet« (Spr 22,9a). 15 Natürlich ist das die Verdichtung vieler Einzelerfahrungen. Das beginnt schon bei so banalen und allgemeinen Erfahrungen wie den bösen Folgen von unmäßigem Weingenuss, die ein kleines Gedicht vom Trunkenbold in Spr 23,29– 35 humorvoll beschreibt: »Wer hat Ach?, wer hat Weh? … Wer hat Wunden wegen nichts? Wer hat trübe Augen? Jene, die bis in die Nacht beim Wein sitzen. … Er trinkt sich so leicht! Zuletzt beißt er wie eine Schlange. … Deine Augen sehen seltsame Dinge, Dein Herz redet wirres Zeug …« Genauso leuchtet jedem ein, dass Faulheit zu Armut führen kann (Spr 24,30–34). Solange das Tun-Ergehen-Denken Erfahrungen sammelt und mahnend oder ermunternd weitergibt, wird jeder seinen Sinn und Zweck bejahen. Problematisch wird es erst dann, wenn dieses Denken zum Vergeltungsprinzip schlechthin erhoben wird. Denn dass die Erfahrung nicht selten auch keine Entsprechung von Tun und Ergehen lehrt, wird dann zum Anfechtungsgrund, wenn man ein festes Vergeltungsprinzip voraussetzt, so dass man nicht nur aus dem Tun ein erwartetes Ergehen ableiten kann, 14 15

Klaus Koch in: ZThK 52 (1955) 1–42. Vgl. z. B. auch Spr 12,21; 26,27; 29,6.

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sondern umgekehrt aus dem tatsächlichen Ergehen auf ein bestimmtes Tun zurückschließt. Das tun die sog. Diskussionsfreunde des Ijob im Ijobbuch. Das tun jene, die – schlimm genug – aus der schweren Krankheit eines Menschen auf sein sündiges Tun schließen wollen, wie das noch im Neuen Testament z. B. bei der Heilung des Blinden durch Jesus nach dem Johannesevangelium Kap. 9 von den Zeitgenossen vorausgesetzt wird. Als ein Erfahrungswert hat sich diese Anschauung von einer Tun-Ergehen-Entsprechung allerdings bewährt, so dass die weisen Lehrer immer wieder darauf zurückkommen. Welche Rolle spielt JHWH / Gott in diesen Zusammenhängen? Läuft der Zusammenhang von Tun und Ergehen nicht wie von selbst ab? Nein, sagen die Weisen. Gott ist es, der diese Erfahrungsordnungen in Kraft setzt und zur Auswirkung kommen lässt. Vor allem aber wird doch Gott als urteilende Instanz vorausgesetzt, wenn gesagt wird, was Gott ein Gräuel ist oder sein Gefallen findet (Spr 11,20.27.31; 12,22 u. a.), oder wenn gesagt wird, dass die Wohltat JHWH selbst geschieht (Spr 19,17), oder wenn die Freiheit Gottes in seinem Wirken an Menschen betont wird (Spr 21,1.30 f.). Vor allem aber betonen die Weisen, dass niemand aus eigenen Stücken einem anderen vergelten soll, denn die Vergeltung steht allein Gott zu, z. B. Spr 20,22: »Sag nicht: Ich will das Böse vergelten. Vertrau auf den Herrn, er wird dir helfen« (vgl. Spr 24,29; Sir 28,1 ff.). Entsprechendes lehrt schon die auch religiös bedeutsame ägyptische Lebenslehre des Amenemope: Der wahre »Schweiger« lässt sich nicht zu zornigen Vergeltungsaktionen gegen seine Gegner hinreißen und lässt sich auch nicht von Zukunftsangst beherrschen, vielmehr setzt er sich in die Arme des Gottes, wie es wörtlich heißt: »Wahrlich du kennst nicht die Pläne des Gottes, und so solltest du nicht weinen wegen des Morgen. Setze dich in die Arme des Gottes; dein Schweigen wird sie öffnen« (Amenemope 21. Kap. XXII, 5–6.7–8, ebenso 22. Kap. XXIII, 8–9.10–11). Ein schönes Bild: Das schweigende Vertrauen öffnet die schützenden Arme des Gottes! Die Rolle und Wirksamkeit Gottes erfährt der Mensch auch in den Grenzen seiner Weisheit 16. Die Weisen wissen sehr wohl, dass ihre Erfahrungsweisheit Grenzen hat, Grenzen, die das Tun-Ergehen-Denken und alles menschliche Wissen und Planen einschränken. Ja, das eigene Denken und Planen und Wollen des Herzens stößt 16

Vgl. dazu bes. G. von Rad, Weisheit in Israel, Neukirchen-Vluyn 1970, 132–148.

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an Grenzen. Zwischen menschlicher Planung und tatsächlicher Verwirklichung tut sich manchmal ein erheblicher Unterschied auf. Spr 16,1: »Dem Menschen eigen sind die (vielen) Pläne des Herzens, aber von Gott kommt die (rechte) Antwort der Zunge.« Zwischen dem, was du rastlos im Herzen, in deinen Gedanken erwägst und planst, und dem guten, richtigen, treffenden Wort zur rechten Zeit liegt ein Weg, etwas Unwägbares, das du nicht voll im Griff hast. Genau in dieser Grauzone bis zur richtigen Antwort sieht der Weise Gott am Werk, wenn wirklich eine gute und treffende Antwort, das in die Situation treffende Wort zustande kommt. Aber das empfinden die weisen Lehrer im Sprüche-Buch nicht als Einengung, nicht als etwas, das menschlichen Gestaltungswillen eingrenzt und stört, sondern eher als etwas Heilsames, als fürsorgliche Führung Gottes: Spr 16,9: »Des Menschen Herz plant seinen Weg aus, aber der Herr lenkt seinen Schritt.« [Daher das Sprichwort: Der Mensch denkt und Gott lenkt.] Vgl. auch Spr 10,22; 19,21; 20,24. Radikal formuliert die Grenze menschlicher Weisheit Spr 21,30–31: »Keine Weisheit gibt es, keine Einsicht, keinen Rat gegenüber dem Herrn. Das Ross wird gerüstet für den Tag der Schlacht, doch der Sieg steht beim Herrn.« Der Mensch muss sich immer für das Handeln Gottes, das er nicht berechnen und verrechnen kann, offenhalten. 17 Aber darin liegt für die Weisen nichts Resignatives, nichts Deprimierendes, es ist vielmehr etwas Befreiendes, etwas, das Gelassenheit und Vertrauen ermöglicht. Anders wird das erst später im 3. Jh. v. Chr. bei Kohelet sein, der alles Geschehen von Gott her bestimmt sieht und die Fragwürdigkeit aller menschlichen Anstrengung um Erfolg und Reichtum aufdeckt. Allerdings sagt auch er, dass von Gott her alles zu seiner bestimmten Zeit »schön« gemacht ist (Koh 3,11) und dass trotz aller Determiniertheit, aller Festlegung des Geschehens in der Welt, der Mensch doch zu aktivem Handeln kommen soll (Koh 11,4–6). Wer erkennt, dass in allem menschlichen Planen und Handeln immer noch Gott im Spiel ist, so sagen die Weisen im Sprüche-Buch, der wird sich nicht selbst als weise vorkommen. Es ist vielmehr ein sicheres Zeichen von Torheit, wenn einer sich selbst als weise darstellt und damit angibt. Spr 26,12: »Siehst du jemand, der sich selbst für weise hält – mehr Hoffnung gibt es für einen Toren als für ihn.« Vgl. auch Spr 3,5.7; 28,26. Ob menschliches Planen und Wollen zum Gu17

Vgl. G. von Rad, ebd., 136 f.

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ten führt oder zum Schlechten, weiß am Ende nur Gott. Denn, so sagt Spr 15,11: »Totenreich und Unterwelt liegen offen vor dem Herrn (JHWH), wie viel mehr die Herzen der Menschen.«

7.

Die Einsicht in die Begrenztheit und Vergänglichkeit des menschlichen Lebens

Das Thema Begrenztheit und Vergänglichkeit des Menschenlebens und allen kreatürlichen Lebens überhaupt und ein Leiden an dieser Vergänglichkeit ist zumindest in der älteren Spruchweisheit Israels kaum bedeutsam. Freilich das Rätselhafte, ja fast Unheimliche, dass das Totenreich unersättlich ist, konnte schon in der älteren Spruchweisheit formuliert werden, aber nicht so sehr selbstwertig, sondern als Vergleich mit der Unersättlichkeit der Augen, so Spr 27,20: »Unterwelt und Totenreich werden nicht satt, und unersättlich sind die Augen des Menschen.« Erst in den Jahrhunderten nach dem babylonischen Exil (6. Jh.), in der Perserzeit und frühen hellenistischen Zeit Palästinas vor der Zeitenwende tauchen im Ijobbuch, in einzelnen Psalmen und massiv im Buch Kohelet Klagen bis hin zu skeptischen und resignativen Äußerungen über Kürze und Vergänglichkeit des Lebens auf. Hier nur einige Beispiele aus Ijob 14,1–22: 1–2 »Der Mensch, von einer Frau geboren, knapp an Tagen, unruhvoll, er geht wie die Blume auf und welkt, flieht wie ein Schatten und bleibt nicht bestehen.« 7 »Denn für den Baum besteht noch Hoffnung, ist er gefällt, so treibt er wieder, sein Sprössling bleibt nicht aus. 10 »Doch stirbt ein Mann, so bleibt er kraftlos, verscheidet ein Mensch, wo ist er dann?«

Eine wehmütige Klage über das so vergängliche Wesen Mensch! Eigenartig aber doch: in V. 10 ist es eine echte Frage, nicht nur eine rhetorische: Wo bleibt er Mensch, wo ist er, wenn er gestorben ist? Das Fragen wird auch in Ijob nicht zur Ruhe kommen. In der weisheitlichen Einsicht in die Kürze und Vergänglichkeit des Menschenlebens geht es aber vorrangig darum, zu erkennen, was diese für mein Leben hier und jetzt bedeuten! Für den weisen Skeptiker und Philosophen Kohelet im 3. Jh. v. Chr. erscheint der Tod als absoluter Schlusspunkt menschlichen Lebens, allerdings kehrt der von Gott gegebene Lebensatem im Tod wie202 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

»Weit über Perlen geht der Weisheit Besitz«

der zu Gott zurück (Koh 12,7). Aus Koh 9,5–6: »… die Toten aber erkennen überhaupt nichts mehr. … Auf ewig haben sie keinen Anteil mehr an dem, was unter der Sonne geschieht«. Daher seine Schlussfolgerung: freudige Annahme des einem jeden von Gott her zufallenden Anteils an Lebensglück und aktive, tätige Gestaltung des eigenen Lebens, Koh 9,7.10: »Also: Iss freudig dein Brot, und trink vergnügt deinen Wein; denn das, was du tust, hat der Gott längst so festgelegt, wie es ihm gefiel. … Alles, was deine Hand, solange du Kraft hast, zu tun vorfindet, das tu! Denn es gibt weder Tun noch Rechnen noch Können noch Wissen in der Unterwelt, zu der du unterwegs bist« (vgl. Koh 2,18.21 f.; 5,14 f.). Ich muss erkennen, wie sehr ich vergänglich bin, und darf und soll doch nicht resignieren, nein, im Gegenteil. Ich darf mich auch nicht beirren lassen und resignieren, wenn andere reich und mächtig geworden sind. Keiner kann etwas mitnehmen im Tod. Selbst Kohelet, der wie kein anderer im 3. Jh. v. Chr. den Tod als Grenze des Lebens einschärft, ruft nicht nur dazu auf, den von Gott her einem jeden zufallenden Anteil an Lebensglück anzunehmen und auszukosten, vielmehr ruft er auch zu tatkräftigem Handeln auf, gerade wenn und obwohl wir den Erfolg des Handelns nicht sicher absehen können (Koh 11,4–6). Sehr eindringlich meditiert der 90. Psalm die Todverfallenheit des Menschen. Welche Folgerungen wird er daraus ziehen? Ich zitiere aus der weisheitlichen Betrachtung Ps 90,2–12: 1b

»ADONAI, Hilfe bist du für uns gewesen von Geschlecht zu Geschlecht. 2a Ehe noch Berge geboren wurden, b und Erde kreißte und Festland: c von Ewigkeit zu Ewigkeit bist du, o GOTT! 3a Du hast den Menschen (noch immer) zum Staub zurückkehren lassen, b indem du sprachst: c Kehrt zurück, Menschenkinder! 5a [Du hast sie ausgesät, Jahr um Jahr]; b sie sind … wie das Gras, c das nachwächst. 6a Am Morgen blüht es b und wächst nach, c am Abend welkt es d und verdorrt. 10a Die Zeit unserer Lebensjahre sind siebzig Jahre, b und wenn (wir) bei Kräften (sind),

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c 10d e f 11a b 12a b

(sind es) achtzig Jahre. Doch ihr Gepränge ist Mühsal und Trug; eilends geht es dahin, und schon sind wir fortgeflogen. Wer versteht die Macht deines Zorns? und [wer fürchtet die Wucht] deines Grimms? Zu zählen unsere Lebenstage, das lehre (uns), damit wir ein weises Herz gewinnen«.

Salomo hatte um ein hörendes Herz gebeten und von Gott ein überaus weises und verständiges Herz erhalten nach 1 Kön 3,9–12 (siehe oben). Die betende Gemeinde in Psalm 90 bittet darum, Gott möge sie ihre Lebenstage zu zählen lehren, damit sie gerade durch die Einsicht in die begrenzte geschenkte Lebenszeit eine weises, verständiges und so ein hörendes Herz gewinnen, auch hier keineswegs, um zu resignieren! Die Gemeinde bittet ja im weiteren Verlauf des Psalmgebets um neue Lebensfreude (V. 13–15), um ein Aufscheinen des Wirkens, des Herrlichkeitsglanzes und der Freundlichkeit Gottes über ihnen und ihren Kindern in der Zukunft und um eine Kräftigung und Förderung des menschlichen Werks und Wirkens auf dieser Erde. Noch aber wird die Todesschwelle nicht überschritten.

C. Ein Ausblick auf Psalm 73: von der Anfechtung zur Lebenshoffnung durch den Tod hindurch Die Sehnsucht nach Leben und Glück angesichts des so begrenzten und unausweichlich dem Tod zustrebenden Menschenlebens wie in Psalm 90 und dann beim Skeptiker Kohelet – vor allem aber der Ruf, ja der Schrei der Bedrängten auf dieser Erde nach Gerechtigkeit angesichts so ungleich verteilten Lebensglücks und angesichts von unerklärlichem und unverschuldetem Leid wie im Buch Ijob – wird zum Schrei nach der Gerechtigkeit Gottes, einer Gerechtigkeit auch über den Tod hinaus. Dieser Ruf und diese Hoffnung werden in späteren Texten der hebräischen und griechischen Bibel laut. Einmal als Hoffnung einzelner Frommer gerade in weisheitlich geprägten Psalmen, nämlich in Ps 73 und etwas später auch in Ps 49. Zum anderen wird dieser Ruf nach Gerechtigkeit und Leben laut in spätprophetischen Texten und im engeren Sinn apokalyptischen Texten aus den Notzeiten Israels in den beiden Jahrhunderten vor der Zeitenwende als Hoffnung auf ein Endgericht, das endlich den Unterdrückten und 204 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

»Weit über Perlen geht der Weisheit Besitz«

Bedrängten Gerechtigkeit bringt, verbunden mit einer Hoffnung auf eine universale Auferstehung zum ewigen Leben (vgl. 2 Makk 7; 12,32–45 Jes 26,19; Dan 12,1–3, hier in V. 2 ist auch die Rede von einer Auferweckung der Frevler zur ewigen Schmach). Psalm 73 wird mit Recht ein Ijobpsalm genannt. 18 In Ps 73, einem durch weisheitliche Reflexion geprägten Danklied (nach V. 1!), findet ein Beter aus bitteren quälenden Fragen wegen des Glücks der Gottfernen und seines eigenen Geschlagenseins zu einem der intimsten Gottesbekenntnisse der ganzen Bibel, und zwar aus der Suche nach der Gegenwart Gottes, wohl konkret im Tempel zu Jerusalem, einer Gegenwart, in die er sich ganz hineinstellt: Zunächst muss der Psalmist seine eigene Torheit erkennen, als er so voller Eifersucht und voll von Gefühlen war, dass sein Bemühen um Reinheit »umsonst« sei, Ps 73,21–22: »Als mein Herz sich verbitterte / und ich in den Nieren ein scharfes Stechen fühlte, da war ich (in Wirklichkeit) dumm, ohne zu begreifen, / (wie) ein Riesenvieh war ich vor dir.« Die unerhört neue Erkenntnis überstrahlt alles, Ps 73,23–26: »Ich bin doch immer bei dir. Du hältst mich an meiner Rechten. Du leitest mich nach deinem Ratschluss und nimmst mich auf Ehre / Herrlichkeit hin zu dir. Was habe ich im Himmel außer dir? Neben dir erfreut mich nichts auf der Erde. Mag mir auch Leib und Herz verschmachtet sein, Gott ist mein Anteil auf ewig!« In der Gemeinschaft mit Gott erfährt dieser Beter das ganze Glück seines Lebens, weit über alle irdischen Glücksgüter hinaus. Und er erfährt im Glück, doch immer bei Gott zu sein, die Gewissheit, dass ihn diese Gemeinschaft auch über die Todesschwelle hinaustragen wird. Modell dieser Hoffnung über den Tod hinaus ist die dem Verfasser des Psalms aus der Tradition bekannte Entrückungsvorstellung (Gen 5,24; 2 Kön 2,3.5.9.10). Es ist ein Vorstellungsmodell für etwas, was wir uns nicht vorstellen können. Das Modell hinkt. Denn die Tradition spricht von Entrückten, die aus dem Leben direkt herausgenommen werden, nicht durch das Sterben hindurch. Entscheidend für den Psalmisten ist der Gedanke, personal angenommen zu werden von Gott im Tod und durch das Sterben hindurch. Gewiss, ein

Zu Psalm 73 vgl. H. Irsigler, »Quest for Justice as Reconciliation of the Poor and the Righteous in Psalms 37, 49 and 73«, in: Zeitschrift für Altorientalische und biblische Rechtsgeschichte 5 (1999) 258–276; ders., Psalm 73 – Monolog eines Weisen. Text, Programm, Struktur: ATSAT 20, St. Ottilien 1984.

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Hubert Irsigler

ganz und gar nicht billig zu habendes, sondern ein persönlich errungenes Gottesbild. Äußerlich hat sich für den Beter nichts geändert, er hat nicht mehr Besitz, keine bessere Gesundheit als vorher, seine äußere Not mag sogar fortdauern wie bei Ijob, und doch hat sich durch die Erfahrung von Gottes Gegenwart und die Einsicht, die der Beter darin erfahren hat, alles für ihn gewandelt. Deshalb kann er schon zu Beginn des Psalms, der wie ein Danklied gestaltet ist, verkünden: »Doch gut ist Gott zum Redlichen, JHWH zu denen, die rein sind am Herzen« (V. 1). Deshalb kann er am Ende vor Gott bekennen: »Ja, sieh also, die sich von dir entfernen, gehen zugrunde … Ich aber – Gott zu nahen ist mir Glück. Ich habe beim HERRN meine Zuflucht genommen, will all deine Taten verkünden« (Ps 73,27–28).

Von der quälenden Frage nach der Gerechtigkeit Gottes als Güte für den bedrängten, geschlagenen Beter, der eifersüchtig war auf das Lebensglück der Gottlosen, ist dieser Psalmist ein für alle Mal befreit.

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D’un phénomène érotique Jean-Luc Marion

La philosophie, dans son nom même, porte la trace de quelque chose que nous traduisons encore par référence à l’amour, philein, « aimer, aimer bien ». En quel sens cet « amour de la sagesse » relève-t-il vraiment de l’amour, et même de l’eros, cela reste à examiner. En tous les cas, la question de l’eros devrait apparaître comme centrale, bien que ou plutôt parce que tel n’est pas toujours le cas en philosophie, du moins en philosophie moderne. Nietzsche a pu dire, dans un fragment de 1886: « Je n’ai jamais blasphémé le nom saint de l’amour » – ich habe den heiligen Namen der Liebe niemals entweiht » 1 – je ne l’ai jamais désacralisé, pourraiton aussi traduire. D’une certaine façon, on ne peut pas dire que la philosophie soit restée toujours, sur ce point, dans la ligne de la piété de Nietzsche. Il y a une façon, en effet, de désacraliser la question de l’amour. Elle consiste toujours, en dernière analyse, à reconduire, autrement dit à réduire, l’amour à une instance différente de lui-même. Les manières d’opérer cette réduction peuvent différer, mais le résultat reste toujours identique, à savoir que l’amour doit se trouver élevé au concept. Et ici s’impose une très célèbre phrase de Hegel, dans la Préface à la Phénoménologie de l’Esprit, qui devrait nous frapper, et il est intéressant de constater qu’elle ne nous frappe peut-être pas autant qu’il conviendrait. Je traduis Hegel : « La vie de Dieu et de l’intelligence divine, doit, si l’on veut, être exposée comme l’amour qui joue avec lui-même. Mais cette idée tombe dans l’édification, et même dans la fadeur, s’il lui manque le sérieux, la souffrance, la patience, et le travail du négatif, der Ernst, der Schmerz, die Geduld und Arbeit des Negativen ». 2 Cette phrase sonne de manière tout à fait extraordinaire. Elle est extraordinaire puisqu’elle suppose que, bien entendu, Fragments posthumes, 1 [216], Werke, éd. Colli & Montinari, Bd. VIII/1, Berlin, 1974, p. 54. 2 Phänomenologie des Geistes, éd. J. Hoffmeister, Hambourg, 61926, p. 20. 1

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s’il s’agit de parler de l’intelligence divine et de la vie de Dieu, l’amour constituerait certes le lexique approprié, mais que pourtant ce lexique laissé à lui-même sombre dans « …l’édification et la fadeur« – discours purement rhétorique d’un sermon bien-pensant – parce que lui manque le propre du négatif, c’est-à-dire, pour Hegel, du concept: le concept seul devient sérieux, parce que lui seul sait souffrir, sait endurer sa souffrance et en fait son travail, alors que l’amour non seulement manque de la rationalité du concept, mais surtout du sérieux de la souffrance. Alors cette formulation est tout à fait étonnante, parce que d’une certaine façon – et il n’est pas besoin d’être ici un lecteur attentif de Kierkegaard et de ce que Kierkegaard appelait les travaux de l’amour – pour comprendre que l’une des caractéristiques de l’amour, c’est qu’il connait la patience de la souffrance et le sérieux du travail. Comment Hegel a-t-il pu laisser supposer que le concept en savait plus que l’amour à propos de la douleur, du sérieux, de la patience et du travail du négatif ? Si l’on regarde Kierkegaard, lorsqu’il parle, contre Hegel, des œuvres de l’amour, on constate qu’il se réfère évidemment à saint Paul, exposant que l’amour (ici nommé agapê) déploie justement l’équivalent des quatre caractères prêtés par Hegel au négatif: « La charité endure tout (stregei, Ernst), elle croit tout (pisteuei, Schmerz?), elle espère tout (elpizei, Arbeit?) et supporte tout (upomenei, Geduld) » (1 Corinthiens 13, 7). Comment la philosophie a-t-elle pu tenir pour allant de soi que l’amour ne sache rien de ce que c’est que la souffrance, la patience, la douleur du négatif, en sorte qu’il faille passer au concept pour les rencontrer? Comment peut-on sérieusement méconnaître que l’amour, eros ou agape peu importe ici, n’ait aucune expérience de ces dimensions du négatif et que, plus étrange encore, ce soit le concept, dans l’abstraction de la théorie, qui en porte témoignage? Mais, plus étonnant encore, comment se fait-il que la philosophie, sous la figure de Hegel – car, après tout, Hegel bien peut parler au nom de toute la philosophie, qu’il prétend avoir accomplie – ait l’audace de présupposer comme une évidence dispensée de toute démonstration que lorsqu’il y a de l’amour, il n’y a pas de concept? Va-t-il à ce point de soi que l’amour reste au pieds du concept et que le concept seul sache ce que le négatif implique de sérieux, de travail, de patience et de douleur? Face à ces intenables prétentions, je soutiendrai la possibilité d’une approche d’une pensée argumentée, rationnelle et donc conceptuelle de l’amour; ce qui présuppose de poser la question de savoir si l’amour peut s’élaborer lui-même, si je puis m’exprimer ainsi, son 208 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

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propre concept plutôt que de recevoir sa détermination conceptuelle d’ailleurs. Recevoir sa détermination conceptuelle d’ailleurs semble en effet le sort que la philosophie moderne a, dans le meilleur des cas (celui où elle lui en concèdait un, de concept), réservé à l’amour. Comme je l’ai indiqué assez souvent ailleurs, on peut dire que, dans la philosophie moderne pour une large part, l’amour ne brille que par son absence, ou ce qui revient au même, par l’absence du concept en lui. Un indice, sans aucun doute très significatif, a été fourni par la traduction française de Descartes. Lorsque les Meditationes de prima Philosophia définissent ce qu’est le « je » qui pense, à savoir une chose pensante, elles le définissent comme une chose qui pense, c’est-à-dire « dubitans, affirmans, negans, parva intelligans, multa ignorans, volans, imaginans quoque, et sentians » 3, ce qui se traduit naturellement « une chose qui pense, c’est à dire qui doute, qui affirme, qui nie, qui connait peu de choses, en ignore beaucoup, qui veut, qui imagine aussi, et qui sent ». Or il est remarquable que le duc de Luynes, traducteur français, complète cette liste de modalités de la chose pensante sans qu’on lui demande rien, en interposant, au milieu de la séquence, « qui aime et qui hait ». 4 Cet ajout capital fait apparaître que Descartes n’avait pas compté l’amour et la haine parmi les modalités primitives de la res cogitans; autrement dit, la chose qui pense, l’ego du cogito, n’a pas pour Descartes la détermination fondamentale d’aimer. Et ceci constitue un bon indice de la question qui nous occupe: pour construire le concept de la chose qui pense, la philosophie n’a pas besoin de l’hypothèse d’une détermination de l’amour. C’est une autre question de savoir jusqu’où Descartes restera fidèle à cette omission de 1641. Nous pourrions soutenir en effet que Descartes a eu une doctrine de l’amour. 5 Ou plutôt nous pourrions discuter quelle a été la centralité de cette doctrine. Je ne prends ici l’ajout de la traduction française au texte latin que comme un indice que le texte latin lui-même ne mentionnait pas l’amour et la haine comme l’une des modalités originelles de la res cogitans qui confirme (comme chez Hegel) l’écart que la philosophie moderne tend à instaurer entre l’amour et son concept. Quand je dis la philosophie moderne, j’entends bien sûr aussi l’ensemble des sciences humaines Oeuvres, éd. Adam & Tannery, t. VII, p. 34, lg. 118–21. Oeuvres, t. IX-1, p. 27. 5 On trouve en effet, dans une lettre de 1645 ou 46, cette note: « Ita amor, odium, affirmatio, dubitatio etc. sunt veri modi in mente… » (AT IV, p. 349, lg. 8-9). 3 4

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développées par la pensée strictement contemporaine. Car le discours le plus commun sur la question de l’amour y revient la plupart du temps à considérer que ce que nous appelons l’amour – cet ensemble d’émotions, de passions et de pulsions – se résume en une conséquence, transcrite dans l’indétermination de la représentation psychologique, de jeux de déterminismes qui relèvent de la biologie, de la chimie, de la physique, bref dans un ensemble de déterminations qui trouvent leur vérité dans les enquêtes et formulations proprement scientifiques. Nous sommes en effet prêts à admettre que l’amour se résume dans l’effet non identifié de nécessités dont le concept n’apparaît jamais clairement à celui qui éprouve l’amour. L’amour, en quelque manière, devient le résultat inadéquatement connu des processus qui, eux-mêmes, ne relèvent pas de l’érotique. C’est devant cette situation que, je pense, la philosophie se trouve prise en défaut, prise en défaut par le fait qu’elle ne peut penser l’amour qu’en le réduisant à un autre que lui-même. Mais cette entreprise peut pourtant s’inverser. Et c’est ce que je voudrais rapidement indiquer en essayant de montrer comment pourrait se substituer à la réduction du phénomène de l’amour un concept qui, lui-même, ne relève pas de l’érotique, voire comment s’établirait une réduction de l’ensemble de l’expérience par le phénomène amoureux lui-même. Passer d’une réduction de l’amour à une réduction par l’amour, une réduction érotique. Pour ce faire, nous procèderons en plusieurs temps. – Premièrement, tentons de montrer comment la question de l’amour peut devenir une question théorique pourvu qu’on prenne au sérieux la détermination contemporaine du nihilisme. Ensuite j’essaierai de montrer comment la réduction érotique s’exerce elle-même dans l’espace, dans le temps et dans la définition de l’ipséité. Premier point : pourquoi la question érotique peut-elle jouer un rôle conceptuel et théorique ? Pourquoi la question de savoir si je suis aimé, la question « m’aime-t-on d’ailleurs », dépasse-t-elle l’expérience propre de tel ou tel individu dans sa subjectivité anecdotique et inessentielle ? Pourquoi cette question peut-elle endosser le poids de l’universel ? La réponse tient à ce que l’on peut thématiser sous le titre du nihilisme. Qu’est-ce que le nihilisme ? On désigne sous ce titre, depuis au moins Nietzsche, l’époque de la pensée rationnelle où les plus hautes valeurs se dévalorisent. Ceci signifie que tout énoncé, autrement dit tout énoncé certain, se trouve soumis à l’interrogation qui demande, devant cette certitude même « à quoi bon ? ». Pour entendre ce qu’elle 210 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

D’un phénomène érotique

signifie, il suffit de songer à l’objection de Pascal à l’encontre de Descartes: « Descartes inutile et incertain ». 6 Car, à l’origine, la copie écrite disait plutôt « Descartes inutile et certain », 7 comme si la certitude – et non pas l’incertitude, ce qui resterait banal et presque trivial – ellemême se révélait inutile. Il s’agit, dans le cas de cette formulation rectifiée, d’une formulation strictement nihiliste, d’une définition du nihilisme: même et surtout la certitue ne sert de rien face au soupçon de sa dévalorisation: « a quoi bon? ». Le nihilisme ne met en effet pas en cause la vérité des énoncés scientifiques ou philosophiques ; il les surdétermine et les disqualifie en les condamnant pour inutilité. « A quoi bon ? », en allemand « umsonst », disqualifie au motif d’inutilité, et donc de vanité, ce qui est certain. Les transcendantaux du vrai, du bon, du bien, de l’être, ne sont pas réfutés parce qu’ils ne seraient pas véritablement ce qu’ils énoncent, ni parce qu’ils devraient recevoir une fondation plus radicale par une instance plus transcendante et plus certaine encore; ils sont disqualifiés en tant même que bons, en tant que biens, en tant qu’étants. Ce qui disqualifie les transcendantaux ne tient ni à ce qu’ils sont, ni aux limites de ce qu’ils sont, ni aux conditions de leur validité, mais au simple fait que, à propos de chacun d’eux, on peut toujours encore demander « à quoi bon ? ». A quoi bon être plutôt que n’être pas, à quoi bon le bien plutôt que pas le mal? La réponse à ces questions pour Nietzsche ouvre en effet elle-même un chemin de renvoi à une autre instance, autrement menaçante, par exemple le renvoi de la vérité à la volonté de vérité. Car la vérité de la vérité signifie que la vérité reste un simple effet de la volonté de puissance. Nous ne recherchons jamais la vérité pour elle-même, mais comme l’un des visages possibles, l’un des outils disponibles et l’une des armes disponibles de la volonté plus radicale de la puissance ellemême. Il s’agit de comprendre la vérité à partir de la volnté en elle, de la volonté qui ne veut par elle que son propre accroissement, sa montée en puissance, son passage à la puissance. La vérité doit, pour se comprendre, se réduire à la volonté de puissance. Tel est le nihilisme, quand il pose la question « à quoi bon ? ». Or cette question, et son universalisation dans le nihilisme global, paradoxalement rend à la question érotique sa force et son uniPensées, éd. Lafuma, § 887. Littéralement « Descartes inutile et certenne », Copie 9.203, éd. L. Lafuma, Pensées sur la religion et quelques autres sujets, Paris, Editions du Luxembourg, Paris, 1954, t. 1, p. 472.

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versalité. Car à la question « à quoi bon ? » ne peut répondre – telle serait du moins mon hypothèse – que ce qui répond à une autre question, la question « m’aime-t-on ? ». La réponse à cette question, réponse encore indéterminée, constitue la seule réponse qui permette de résister à l’interrogation radicale imposée par le soupçon nihiliste. « A quoi bon ? » ne peut pas recevoir une réponse ni recevoir la moindre résistance par un surcroit de certitude théorique, car la certitude dans la théorie reste elle-même par excellence susceptible de tomber sous le coup du soupçon nihiliste. Au contraire, le fait de dire (croire ou constater, ou croire constater) que « l’on m’aime d’ailleurs » suffit (seul) à établir une réponse et dresser une résistance à la question « à quoi bon ? ». L’affirmation que « l’on m’aime d’ailleurs » instaure en effet une instance externe antérieure à la certitude interne elle-même, à savoir précisément qu’un autre que moi m’aime d’ailleurs. Antérieure à la certitude elle-même, antérieure au cercle des transcendantaux se convertissant l’un dans l’autre, antérieur à l’illusion ou pire à la réalité de l’autonomie cerclée. La certitude se retrouve toujours disqualifiée par la question « à qui bon ? », mais cette question ne peut disqualifier le fait que, quoi qu’il arrive, je me trouve aimé d’ailleurs. Je ne peux jamais répondre à l’interrogation « à quoi bon faire ceci, à quoi bon être soi-même, à quoi bon vivre ? » en disant « parce que je le veux », mais seulement en constatant, sans aucun pourquoi, « qu’un autre le veut pour moi ». Cette réponse « qu’un autre m’aime » apparaît la seule qui me permette de ne pas sombrer devant l’« à quoi bon ? » du nihilisme. On peut le redire autrement, en imaginant une contre-épreuve à la question posée par Méphisto à Faust. Soit le contrat fantasmé où j’aurais à choisir entre rester ce que je suis, mortel, ou bien, en échange de mon âme, recevoir la possession de toutes les puissances et richesses du monde. Transposons ce marché supposé dans cet autre contrat où l’on m’offrirait non pas donner mon âme (car je n’en ai peut-être pas et mon interlocuteur n’aurait peut-être aucune envie de s’en approprier les irréalités), mais d’abandonner simplement, en échange d’une vie aussi longue que je voudrais, avec toute la puissance et toute la richesse de la terre, la possibilité pour moi d’aimer ou d’être aimé. Bref acheter tout au prix de la possibilité d’aimer et de me faire aimer. Qui accepterait ? Renoncer à la possibilité, ne fût-ce que la possibilité, d’aimer ou d’être aimé, pour en échange vivre une éternité de temps, de jouissance et de pouvoir ? Il n’est pas certain qu’aucun d’entre nous n’accepte ce marché, qui implique une ma212 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

D’un phénomène érotique

nière de castration transcendantale par quoi je devrais vivre une éternité sans l’amour – et peut-être même que n’aurai-je pas même le courage de vivre cette éternié, puisque, comme le dit Woody Allen, l’éternité c’est très long, surtout vers la fin, surtout une éternité à aucun moment érotisable, sans que la possibilité de son érotisation n’en soit pas maintenue. Est-ce qu’une telle vie serait encore humaine, ou animale, ou angélique, ou simplement robotique? La possibilité d’une vie sans aucun phénomène érotique peut-elle même s’envisager et se concevoir? D’une certaine manière, en posant la question ainsi, on comprend comment le nihilisme doit se trouver confronté à rien de moins qu’à la question érotique, et pourquoi celle-ci peut trouver une pertinence universelle. L’instance érotique n’y reste plus simplement subjective, close dans la sphère individuelle, préconceptuelle ; elle surgit radicale, universelle et rationnelle. Elle le devient aussitôt qu’elle s’affronte à l’interrogation nihiliste, où elle prend rang d’une opération théorique. L’instance érotique, la question qui demande « m’aime-t-on d’ailleurs? » opère en effet, ainsi vue, une réduction, qui devient visible tout naturellement pourvu qu’on la confronte à cette autre réduction qu’est le nihilisme. Comment donc opère la réduction érotique ? Il y a un principe de phénoménologie évident, que tout le monde connaît, mais qu’il vaut de le rappeler : il ne peut pas y voir de phénomène (ni de phénoménologie) que l’on puisse décrire, donc voir, si l’on ne procède pas à une réduction. La réduction consiste à tenter de déterminer ce qui se trouve effectivement donné à la conscience. Aucun phénomène ne peut se déployer sans, d’abord, s’assurer un vécu de conscience. La grande difficulté vient alors de savoir ce que nous ignorons dans l’attitude naturelle – l’ampleur et les limites du donné. Il faut donc, pour dégager les limites du donné, c’est-à-dire de ce à partir de quoi un phénomène peut se constituer, soumettre le donné supposé sans critique à une réduction critique. Comment le phénomène érotique, s’il y en a un, satisfait-il donc à la logique de la réduction ? Quelle réduction permet le phénomène érotique ? Bref, y-a-t-il une réduction érotique ? Cette réduction érotique, on peut de fait la décrire. Esquissons-la rapidement. La réduction érotique joue d’abord évidemment dans les deux dimensions du donné, c’est-à-dire, pour parler comme Kant, dans la dimension d’abord de l’intuition, puisque l’intuition seule est donatrice. Le donné se joue donc dans les formes de l’intuition, dans l’espace et dans le temps. – Comment la réduction érotique s’exerce213 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

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t-elle dans l’espace ? Soit la situation érotique élémentaire qui se décrit dans la formulation de la première question « m’aime-t-on d’ailleurs ? », en d’autres termes, la situation érotique dans laquelle je suis amoureux. Comment cette situation érotique opère-t-elle une réduction de l’espace ? Le point tout à fait essentiel tient à ce que, dans l’espace érotique, je ne suis jamais à l’endroit où je suis, au contraire de la situation non érotique, où, dans l’espace comment, je définis le centre parce que je l’occupe. En situation érotique, dans l’espace, je suis toujours et essentiellement décentré. Dans l’espace de l’attitude naturelle, qui est en même temps l’espace de l’expérience quotidienne et de l’expérience scientifique, je suis au centre de l’espace empirique. Je suis à titre d’observateur privilégié celui à partir duquel l’espace se déploie et se mesure. Mais dans la situation de réduction érotique, la réduction de l’espace fait que je ne suis jamais au centre: au centre de cet espace se trouve le centre érotique pour moi, qui par définition n’est pas moi. Pour moi, le centre de l’espace érotique désigne toujours celui dont je suis amoureux. Il y a donc un décentrement fondamental de l’espace, qui fait que la description de l’espace phénoménologique que Husserl élabore, par exemple, avec sa doctrine de l’intersubjectivité dans la Méditation cartésienne V, se trouve en quelque manière contredit. Husserl explique, ce qui semble aller de soi, que, dans l’intersubjectivité habituelle pour lui non érotique, je suis toujours ici et l’autre toujours là-bas. Je pourrais certes, par une variation imaginative, me mettre au point de vue de l’autre, c’est-àdire me mettre là-bas et imaginer que lui est ici; mais quand je renverse l’écart, bien entendu, il en reste toujours un, où le je, quelqu’il soit, a encore en propre d’être ici, tandis qu’un autrui, quelqu’il soit, a en propre d’être là-bas. Je peux imaginer que c’est autrui qui tient le rôle de je, et moi qui tient le rôle d’autrui, mais dans ce cas, nous échangeons seulement les déterminations spatiales, sans les détruire. Tel n’est pas le cas dans la réduction érotique. Là, le je, à savoir moi, est toujours là-bas. Et autrui est toujours ici. Donc il me reivent à moi de dire que, essentiellement, « je ne suis pas là où il est ». C’est toujours moi qui suis là-bas; ce n’est pas l’autre qui est absent, mais c’est moi qui ne suis pas là où je devrais être. Je perçois toujours l’espace érotique à partir d’un centre que je n’occupe jamais. L’espace érotique a toujours un centre où je ne suis jamais et une périphérie où je suis toujours, parce qu’il se définit à partir d’autrui que je ne serai jamais. Il suffit que l’autrui privilégié se déplace pour que le centre se déplace aussi pour moi, et je suis plus ou moins proche de l’autre, je suis plus 214 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

D’un phénomène érotique

ou moins ailleurs et parti selon ma distance par rapport au centre, que je ne suis jamais. Il ne suffit plus, comme dans l’attitude naturelle (non érotique) que je sois quelque part pour être au centre, car, si dans l’expérience empirique, non érotique et « normale », le centre, reste l’endroit où je suis, dans la situation érotique, autrui possède le centre et le déplace avec lui. Et c’est pourquoi, moi qui ne suis pas au centre, même si je suis en (peut-être joyeuse) compagnie, je peux pourtant dire que là où je suis, il n’y a, ou n’y avait, personne. Et ceci non pas parce que j’étais seul comparé à d’autres individus empiriques, mais parce que le centre ne se trouvait pas au milieu de la foule qui m’entourait. Le centre manquait, et tout était dépeuplé. Donc quand je dis : il n’y avait personne parce qu’il ou elle n’était pas là, je définis bien le fait qu’il y ait quelqu’un dans un centre, où je ne me trouve jamais. Il y a donc bien un espace érotique dont la règle fondamentale édicte que je n’en constitue jamais le centre et je n’occupe jamais le « ici » de cet espace érotique. Nous pouvons répéter la même analyse si nous nous situons dans le temps érotique. Le temps érotique déroule un flux dans lequel je peux parfaitement dire qu’au milieu des mille occupations d’un emploi du temps très chargé, il ne se passe rien. Pendant un laps de temps d’un jour, d’un mois, d’un an, il ne s’est rien passé. C’est entièrement faux pour l’attitude naturelle non érotique, car bien entendu la vie a continué à se passer: j’ai continué à dormir, à voir des gens, à me nourrir, etc., et pourtant je dis justement qu’il ne s’est rien passé. Car il y a un ennui érotique. Ce qui ne veut pas dire que je ne fais rien et que j’ai du temps pour m’ennuyer, mais veut dire que rien n’arrive. Que rien n’arrive depuis le centre érotique. Et de la même manière que je ne suis jamais au centre de l’espace érotique mais toujours à sa périphérie, il ne suffit pas que je sois dans l’instant érotiquement présent pour qu’il se passe vraiment quelque chose. Il ne suffit pas que le monde continue à se dérouler pour que je me trouve en une situation où arrive un événement érotique, qui fait qu’il se passe quelque chose, c’est-à-dire qu’il y ait du présent. Pour qu’il y ait du présent, il faut que le présent me fasse le cadeau de la présence de celui qui, ou celle qui, constitue l’origine du flux érotique. A ce moment-là, dans ce flux érotiue, le temps devient présent. Il faut qu’il ou elle m’appelle, vienne, surgisse, arrive, bref se manifeste et qu’il intervienne dans mon temps. Alors seulement, je pourrais dire que tout ce qui adviennit sans signification érotique se trouve annulé et qu’il se passe quelque chose: il ne se passera que ce qui n’est plus annulé 215 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

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érotiquement, à savoir l’événement de celui ou celle qui ouvre mon flux temporel érotique. Et donc le passé ou le futur se détermineront par rapport à cet événement érotique. C’est ainsi par exemple que je comprendrai la nécessité de la répétition du discours érotique. Supposons que je sois distinct de celui ou celle qui peut répondre à la question « m’aime-t-on ? », celui dont nous dirons vulgairement que je suis amoureux. Il ne se passe quelque chose que si celui-ci me dit « je t’aime ». Et le présent ne se trouve accompli qu’à chaque fois qu’il me dit « je t’aime ». Mais comme, par définition, le « je t’aime » ne dure pas, il faut donc que le présent se répète, et le présent se répète à chaque « je t’aime » qui est répété. Le temps lui-même se répète par l’événement érotique fondamental qui consiste à dire ou à entendre « je t’aime ». Donc je peux parfaitement dire « il ne s’est rien passé », bien que tout se passe autour de moi, parce que le « je t’aime » n’a pas été performé. Et il se passera quelque chose aussi souvent et aussi longtemps que le « je t’aime » sera performé. Nous avons un cas tout à fait caractéristique de réduction, puisqu’ici le présent ne dépend pas de la succession psychologique du flux des vécus, mais il dépend de l’intervention dans le flux du vécu d’un événement qui ne subsiste pas à ma disposition, ni d’ailleurs à la disposition du flux lui-même, car il provient de celui qui joue, dans ce flux, le rôle de centre érotique dans l’espace. Il y a donc une réduction de l’espace par l’ailleurs érotique ; et il y a une réduction du temps par le maintenant érotique. Dans les deux cas, l’espace et le temps de l’attitude naturelle se trouvent annulés. L’espace galiléen, ou newtonien est suspendu, et le temps du flux est lui aussi considéré comme ne se passant pas puisqu’il n’est pas scandé par le « je t’aime ». – Bien entendu il est possible de poursuivre cette réduction en la faisant porter sur l’ipséité. Car il y a une réduction de l’ipséité, de l’identité du je (éventuellement de son identité à lui-même) dans sa singularité absolue, son haeccitas, par la réduction érotique. En effet, comment puisje définir ce qui en moi serait absolument moi ? Je ne peux le définir qu’en écartant tout ce qui en moi peut advenir par quiconque d’autre que moi. On peut envisager ici la thématique du sujet transcendantal – qui n’est aucun d’entre nous et peut être mis en œuvre par n’importe lequel d’entre nous, dans les conditions, dirait Husserl, de la normalité. Mais on peut dire aussi que nous avons affaire ici au je de la pensée, à l’entendement agent universel, et ce je de la pensée peut s’accomplir en n’importe lequel d’entre nous. N’importe lequel d’entre nous peut vérifier que « ego sum, ego existo », chaque fois 216 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

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que je performe cet énoncé dans ma pensée. Nous pouvons aussi penser à ce je quiconque et quelconque sous le titre de ce que Heidegger appelait le On (das Man), c’est-à-dire celui qui peut être remplacé par n’importe qui. En effet, dans les règles de la vie sociale et de sa fonctionnalité (je crois que chez les gens qui gèrent les ressources humaines, c’est-à-dire qui mettent en oeuvre le chômage, on parle d’employabilité), l’employabilité indique très bien que chaque individu peut être remplacé par n’importe quel autre à la mesure de l’universelle norme de l’employabilité : celle-ci veut donc bien dire, dans sa violence, qu’il s’agit pour chacun de se faire à son emploi, au sens presque théâtral. Cet emploi devient le nom commun d’un nombre indéfini d’individus. Il y a donc des emplois qui font que chacun peut être substitué à n’importe qui et réciproquement. Ce que quiconque peut faire à ma place n’est justement pas ce qui définit mon ipséité ou mon haeccéité absolue. Inversement, qu’est-ce que personne ne peut faire à ma place ? Vivre, penser, sans doute d’autres peuvent-ils le faire à ma place. Après tout, penser, toute chose pensante peut le faire à ma place et penser les mêmes choses. L’une des règles fondamentales de l’objectivité édicte d’ailleurs la possibilité pour des individus différents de faire la même opération de pensée, et le fait que ces même opérations de pensée, même subjectivement ordonnées de manière différente, arrivent au même résultat, permet de vérifier la vérité de ce qui est pensé. Donc l’interprétation intersubjective de la vérification présuppose que chacun peut penser tout ce que tout le monde pense. Par conséquent, penser ne m’individualise précisément pas. Quoi donc m’individualise ? Comment se manifeste le plus propre en moi ? Sans doute, par le vouloir, l’usage de mon libre-arbitre. Et éventuellement le bon usage de mon libre-arbitre. « …le libre arbitre est de soi la chose la plus noble qui puisse être en nous […] le plus grand de tous nos biens […]; il est aussi celui qui est le plus proprement nôtre ». 8 Mais mon libre-arbitre s’avère-t-il toujours proprement mien du simple fait que c’est moi qui veux, et qu’un autre pourrait vouloir autrement ? Tout dépend de ce que le libre-arbitre lui-même veut. Il y a sans doute une forme de la volonté qui m’identifie, c’est la volonté en tant qu’elle permet d’aimer, c’est-à-dire de m’unir de volonté à ce qui m’apparaît comme un bien. Sans doute aimer ou me Descartes, Lettre à Christine, 20 novembre 1647, AT V, p. 85. voir: « … il n’y a rien qui véritablement lui [sc. le généreux] appartienne que cette libre disposition de ses volontés » (Passions de l’âme, § 93).

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faire aimer par un autre définit-il mon propre. Et cela se vérifie par le fait que (du moins par hypothèse) nul ne peut aimer à la fois deux personnes sous le même rapport et au même moment. Donc l’individuation résulte d’une réduction érotique. La réduction érotique permet précisément d’individualiser celui que l’on aime, qu’il le veuille ou non, que ce soit pour son bien ou pour son malheur. La réduction érotique permet à l’amant, par cristallisation, par destin, par mauvaise habitude, par arbitraire, d’identifier à lui-même celui qu’il aime. Le propre de la situation érotique tient à ce que je ne peux pas, dans la posture érotique stricte, je ne peux pas me tromper sur celui que j’aime. Il est celui que j’ai identifié, pour de bonnes ou de mauvaises raisons, peu importe, l’unique, dégagé par la situation érotique et qui, en retour, m’identifie. C’est l’identification réciproque de l’un à l’autre, c’est-à-dire l’individuation, caractérise le phénomène érotique. On peut se demander d’ailleurs si le problème classique de l’individuation – y a-t-il une individuation par la matière, par la forme, etc. – ne conduit pas, au bout du compte, à ce résultat que l’individuation est érotique ou n’est pas. Dès lors, nous aurions atteint les trois dimensions d’une réduction érotique. L’amour ici produit comme un concept une détermination de l’intuition dans l’espace, dans le temps et une détermination du concept de celui qui aime et de celui qu’il aime dans la problématique de l’individuation. Ce que je soutiens et ce qui peut être discuté, tient en ceci que, loin que l’amour reste l’effet non conceptuel d’une détermination conceptuelle étrangère, et loin que l’amour soit réduit par un autre concept, il devient lui-même ce qui opère la réduction de l’ensemble des dimensions de l’expérience. Pour dire ceci, il faut supposer que l’amour, comme disposition érotique, puisse déterminer la totalité de l’expérience. Ceci a-t-il un sens ? Cela a sûrement un sens si nous prenons au sérieux une thèse qui a été pour la première fois formulée, non par Heidegger, comme celui-ci le laisse parfois supposer, mais par saint Augustin. Cette thèse dit que l’amour ne se résume ni à un sentiment, ni à une passion, mais constitue une détermination permanente de l’ego. Il n’y a pas d’ego qui ne se trouve pas dans une situation déjà érotique. C’est ce qu’indique clairement un célèbre passage de saint Augustin: « Nemo est qui non amet. Sed quaeritur quid amet. Non ergo admonemur ut non amemus, sed ut eligamus quid amemus ». 9 Autrement dit, il n’y a personne qui n’aime pas; à chacun, 9

Sermon 34, 2, P.L. 38, col. 210. Voir Hugues de Saint-Victor: « Vita tua dilectio est,

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l’on demandera donc pas s’il aime, mais seulement ce qu’il aime. La question demande de choisir ce que nous aimons, non pas de savoir si nous aimons, ou non, car nous ne pouvons pas ne pas aimer. L’amour n’a rien d’une passion, mais ouvre l’horizon de la subjectivité ellemême. donc, si la question ne veut pas savoir si nous aimons ou si nous n’aimons pas, puisque nous nous trouvons toujours en situation d’aimer, mais veut savoir ce que nous aimons, et comment, alors la réduction érotique s’avère toujours au moins latente. L’expérience pour nous s’organise par une réduction qui ouvre le champ du donné selon des limites érotique. En d’autres termes, notre expérience est aussi large que notre capacité à entrer en situation érotique. Nous ne vivons que ce que nous envisageons comme une expérience possible, dont les limites se trouvent fixées par la réduction érotique. Plus nous aimons, plus nous ouvrons le possible. Plus nous restreignons la réduction érotique, plus le champ de l’expérience possible se trouve luimême déterminé. Heidegger à sa façon, expressément en le reprenant de saint Augustin, 10 avait posé la thèse que le Dasein n’était jamais sans une détermination, une tonalité affective (Stimmung). Il n’y a jamais de Dasein neutre, puisqu’il se trouve toujours déjà orienté vers le monde à la mesure de sa préoccupation. De la même manière que Heidegger ne peut guère interprèter la situation amoureuse que comme tonalité affective, nous pouvons prétendre que la tonalité affective par excellence revient évidemment à l’amour. L’amour constitue la tonalité affective fondamentale, et dans la mesure où je suis en réduction érotique, un monde s’ouvre pour moi. Ici joue à plein la formule de saint Augustin: « Non intratur in veritatem nisi per caritatem ». 11 Proposition épistémologiquement presque évidente: on n’entre dans la vérité

et scio quod sine dilectione esse non potes » (De Arrha Animae, 25–26, Opera omnia, Brepols, Turnhout, 1997, p. 226 et Thomas d’Aquin: « Respondeo dicendum quod nulla alia passio est, quae non praesupponat aliquem amorem. Cujus ratio et quia omnis alia passio animae importat motum ad aliquid, vel quietem in alio » (Summa theologiae Ia IIae, q. 27, a. 4, resp.). 10 Le cours Phänomenologie des religiösen Lebens (1921, GA 60, p. 204) cite le Sermon 198, 2 (P.L. 38, col. 1024): « Nemo quippe vivit in quacumque vita, sine tribus istis animae affectionibus, credendi [vertrauend zugreifen, irgendwie ein Ende festmachen], sperandi [erwartend, sich offenhalten für], amandi [liebende Hingabe, für wert halten] ». 11 Contra Faustum, 32,18, P.L. 42, col. 507. Cité et commenté par Heidegger, Sein und Zeit, § 29, p. 139, note 1.

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que par la charité veut dire que nous n’entrons dans l’expérience du monde qu’à la mesure de la réduction érotique qui nous l’ouvre. Ainsi posée la question du phénomène érotique change de nature: elle devient une question théorétique et non pas une simple question pratique, morale, ni éthique, ni évidemment religieuse ou ni érotique au sens étroit de ces termes. Mais une question théorétique à la mesure de la réduction érotique par quoi l’expérience mondaine se détermine et se délimite. Dans ce contexte où l’espace, le temps et l’individuation résultent de la situation érotique et non pas à l’inverse, la question de la réduction érotique et du phénomène érotique ne désignent plus une région particulière de l’expérience, mais le lieu d’une phénoménologie, y compris au sens hégélien du terme, c’est-à-dire une description des figures de la conscience. La situation érotique produit les figures de la conscience. Ou, dit autrement, il faut concevoir l’ « …amour en tant que le motif fondamental du comprendre phénoménologique ». 12 Ces figures, on se bornera ici à les énumérer; elles dépendent de trois questions successives qui scandent l’odyssée de la conscience érotique : la première question, demande « m’aime-t-on, d’ailleurs ? » ; la seconde question, qui intervient parce que la première ne peut trouver dans ses termes de réponse, demande « puis-je moimême aimer le premier ? »; et la troisième question, qui répond à la deuxième question consiste en fait en une constatation : « j’ai toujours déjà été aimé avant d’avoir aimé ». Tels apparaissent les trois moments de la réduction érotique, qui permettent de dégager les figures de la conscience, et parmi ces figures, la plus fondamentale – l’interprétation de l’ego lui-même, non pas seulement comme pensant, mais bien comme aimant. C’est-à-dire l’amant, l’ego amans, comme on dit la res cogitans. C’est à partir de l’amant ainsi défini que se met en place la logique de la conscience érotique, à savoir qu’elle aime la première. Le propre de la conscience érotique, imitant et réfutant à la fois la spontanéité de l’aperception transcendantale, revient toujours à ceci, que l’amant – dans l’avance – aime le premier. Il anticipe et cette anticipation même le constitue comme l’amant, celui qui aime sans savoir si on l’aime en retour.

Heidegger: « Liebe als Grundmotiv ders phänomenologischen Verstehens » (GA 58, p. 185). Ou: « In der Liebe ist Verstehen » (ibid., p. 168).

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Die Philosophie enthält schon in ihrem Namen etwas, das wir beim Übersetzen mit der Liebe in Verbindung bringen: philein, »lieben, recht lieben«. In welchem Sinne diese »Liebe zur Weisheit« wirklich von der Liebe, sogar vom Eros herkommt, bleibt zu untersuchen. Jedenfalls sollte die Frage nach dem Eros im Mittelpunkt stehen, obwohl oder vielmehr weil das in der Philosophie, zumindest in der modernen, nicht der Fall ist. Nietzsche hat in einem Fragment von 1886 sagen können: »Ich habe den heiligen Namen der Liebe niemals entweiht« 1, ich habe ihn niemals entheiligt, könnte man auch sagen. In gewisser Weise muss man sagen, dass sich die Philosophie in dieser Angelegenheit nicht immer an Nietzsches Frömmigkeit gehalten hat. Denn es gibt eine Art, die Frage nach der Liebe zu entheiligen. Sie beruht stets darauf, die Liebe auf eine von ihr selbst verschiedene Instanz zurückzuführen, anders gesagt zu reduzieren. Die Durchführungsweisen dieser Reduktion können verschieden sein, das Ergebnis bleibt immer dasselbe: die Liebe soll zum Begriff erhoben werden. Hier drängt sich der berühmte Satz von Hegel im Vorwort zur Phänomenologie des Geistes auf, der uns überraschen könnte, es aber interessanterweise nicht in dem Grad tut, wie er es sollte. Hegel sagt: »Das Leben Gottes und das göttliche Erkennen mag also wohl als ein Spielen der Liebe mit sich selbst ausgesprochen werden; diese Idee sinkt zur Erbaulichkeit und selbst zur Fadheit herab, wenn der Ernst, der Schmerz, die Geduld und Arbeit des Negativen darin fehlt«. 2 Dieser Satz klingt auf jeden Fall außergewöhnlich. Er ist außergewöhnlich, weil er voraussetzt, dass, wenn man vom göttlichen Erkennen und vom Leben Gottes sprechen will, die Liebe dafür den angemessenen Wortschatz bereitstellt und dennoch dieses Sprechen, wenn man Fragments posthumes, 1 [216], Werke, hrsg. v. Colli & Montinari, Bd. VIII/1, Berlin, 1974, S. 54. 2 Phänomenologie des Geistes, hrsg. v. J. Hoffmeister, Hamburg, 61926, S. 20. 1

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es sich selbst überläßt, in »… Erbaulichkeit und Fadheit« versinkt – ein bloß rhetorisches Reden in wohlmeinender Predigt – da ihm das Merkmal des Negativen, das heißt bei Hegel, des Begriffs fehlt«. Nur durch den Begriff wird es ernst, weil er allein leiden kann, das Leiden aushält und darin fortschreitet, während der Liebe nicht nur die Rationalität des Begriffs, sondern speziell auch der Ernst des Leidens fehlt. Diese Formulierung ist nun ganz und gar erstaunlich, denn in gewisser Weise – dazu muss man kein aufmerksamer Leser Kierkegaards und dessen, was Kierkegaard die Werke der Liebe nannte, sein – um zu verstehen, dass eines der Merkmale der Liebe gerade das ist, dass sie die Geduld des Leidens und den Ernst der Arbeit kennt. Wie konnte Hegel annehmen, dass der Begriff mehr als die Liebe über den Schmerz, den Ernst, die Geduld und die Arbeit des Negativen wissen könnte? Wenn man Kierkegaard liest, wenn er gegen Hegel von den Werken der Liebe spricht, stellt man fest, dass er sich offenbar auf den heiligen Paulus bezieht, der für die Liebe (hier agapê genannt) genau die vier Merkmale entwickelt, die Hegel dem Negativen zuspricht: »Die Liebe erträgt alles (stregei, Ernst), glaubt alles (pisteuei, Schmerz?), hofft alles (elpizei, Arbeit?), sie duldet alles (upomenei, Geduld)« (1. Korinther 13,7). Wie konnte die Philosophie es für selbstverständlich halten, dass die Liebe nichts vom Leiden, der Geduld, dem Schmerz des Negativen weiß, so dass sie zum Begriff übergehen müsse, um sie zu erfahren? Wie konnte man ernsthaft zu erkennen glauben, dass die Liebe – egal ob Eros oder Agape – keinerlei Erfahrung dieser Dimensionen des Negativen hätte und, noch befremdlicher, dass es der Begriff sei, der in abstrakter Theorie davon Zeugnis ablegen könnte? Aber noch erstaunlicher ist, dass die Philosophie in der Gestalt von Hegel – denn wir können Hegel im Namen der ganzen Philosophie sprechen lassen, da er ja behauptet, sie vollendet zu haben – von der jedes Beweises enthobenen Selbstverständlichkeit auszugehen wagt, dass, wenn Liebe geschieht, kein Begriff ist? Ist es selbstverständlich, dass die Liebe dem Begriff zu Füßen liegt und dass nur der Begriff weiß, was das Negative an Ernst, Arbeit, Geduld und Schmerz mit sich bringt? Im Hinblick auf solche unhaltbaren Annahmen vertrete ich die These, dass man sich der Liebe in argumentativem, rationalem und also begrifflichem Denken annähern kann; das setzt voraus, dass man sich auch die Frage danach stellt, ob man wissen kann, ob die Liebe sich selbst ihren eigenen Begriff zu erarbeiten fähig ist – wenn ich mich so ausdrücken darf –, statt ihre begriffliche Bestimmung an222 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

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derswoher zu erhalten. Denn das hat die moderne Philosophie bestenfalls der Liebe (falls ihr vom Begriff überhaupt ein Fall zugestanden wird) übrig gelassen, dass sie ihre begriffliche Bestimmung von anderswoher erlangt. Wie ich übrigens schon öfter gesagt habe, glänzt die Liebe in der modernen Philosophie größtenteils durch Abwesenheit oder was auf dasselbe hinausläuft, durch Abwesenheit des Begriffs in ihr. Ein dafür sehr aufschlußreicher Hinweis findet sich in der französischen Übersetzung von Descartes. Wenn in den Meditationes de prima Philosophia definiert werden soll, was das »Ich« ist, das denkt, also das denkende Ding, dann wird es als ein Ding definiert, das denkt, das heißt »dubitans, affirmans, negans, pauca intelligans, multa ignorans, volans, imaginans quoque et sentians« 3, was man natürlich übersetzen würde: ein Ding, »das zweifelt, das bejaht, verneint, wenig versteht, vieles nicht weiß, das will, auch vorstellt und empfindet« 4. Bezeichnenderweise ergänzt der französische Übersetzer, der Herzog von Luynes, die Aufzählung der Modalitäten des denkenden Dinges von sich aus und fügt in die Mitte »das liebt und das hasst« 5 ein. Diese wesentliche Ergänzung lässt erkennen, dass Descartes die Liebe und den Hass nicht zu den ursprünglichen Seinsweisen des denkenden Dinges zählte; zu den grundlegenden Bestimmungen des denkenden Dinges, des Ich des cogito, gehört für Descartes das Lieben also nicht. Und das bringt uns zu der Überlegung, mit der wir uns hier beschäftigen, zurück: Um den Begriff des denkenden Dinges zu bilden, braucht die Philosophie keine Hypothese einer Bestimmung der Liebe. Es ist eine andere Frage zu wissen, wieweit Descartes dieser Auslassung von 1641 treu bleibt. Wir könnten nämlich behaupten, dass Descartes doch eine Doktrin der Liebe hatte. 6 Oder vielmehr könnten wir darüber diskutieren, was die Zentralität dieser Doktrin gewesen ist. Ich will hier die Ergänzung zum lateinischen Text in der französischen Übersetzung nur als Hinweis behandeln, dass der lateinische Text selbst Liebe und Hass nicht als ursprüngliche Modalitäten der res cogitans erwähnte, was bestätigt, dass die moderne Philosophie (wie bei Hegel) einen Abstand zwischen der Liebe und ihrem Begriff Oeuvres, hrsg. v. Adam & Tannery, Bd. VII, S. 34, Zeilen 118–21. Descartes, Rene, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, Hamburg, Meiner 1977, S. 60–61. 5 Oeuvres, Bd. IX-1, S. 27. 6 In einem Brief von 1645 oder 1646 findet sich nämlich diese Notiz: »Ita amor, odium, af firmatio, dubitatio etc. sunt veri modi in mente …« (AT IV, S. 349, Zeile 8–9). 3 4

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zu errichten versucht. Wenn ich von moderner Philosophie spreche, verstehe ich darunter selbstverständlich auch alle Wissenschaften vom Menschen, so wie sie vom zeitgenössischen Denken entwickelt wurden. Denn die weit verbreitete Redeweise (discours) über die Frage der Liebe besteht meistenteils darin, dass das, was man Liebe nennt – das Ganze von Gefühlen, Leidenschaften und Antrieben – sich in einer Konsequenz zusammenfassen lässt, die man in die Unbestimmtheit der psychologischen Vorstellungsweise als Spiel von Determinanten überträgt, die aus der Biologie, Chemie und Physik stammen, kurz: ein Ganzes von Bestimmungen, die ihre Wahrheit in den eigentlich wissenschaftlichen Untersuchungen und Formulierungen finden. Wir sind bereit zuzugeben, dass sich die Liebe in der nicht identifizierbaren Wirkung von Notwendigkeiten zusammenfassen lässt, deren Begriff demjenigen, der Liebe fühlt, niemals klar erscheint. Die Liebe wird in gewisser Weise das unangemessen erkannte Ergebnis von Prozessen, die selbst nicht aus dem Erotischen stammen. In dieser Situation glaube ich, dass die Philosophie einen Fehler begeht, dass man sie bei einem Fehler ertappt wegen der Tatsache, dass sie die Liebe nicht anders denken kann, als sie auf etwas Anderes als sie selbst zu reduzieren. Dieses Unternehmen kann man dennoch umkehren. Und das möchte ich in aller Kürze zu zeigen versuchen: Wie kann an die Stelle der Reduktion des Phänomens der Liebe ein Begriff treten, der nicht selbst aus dem Erotischen stammt, das heißt, wie könnte sich eine Reduktion des Ganzen der Erfahrung durch das Phänomen der Liebe selbst etablieren? Ich will von einer Reduktion der Liebe zu einer Reduktion durch Liebe, zu einer erotischen Reduktion übergehen. Wir gehen dazu in mehreren Schritten vor. – Zuerst versuchen wir zu zeigen, wie die Frage nach der Liebe eine theoretische Frage werden kann, vorausgesetzt, dass man die zeitgenössische Bestimmung des Nihilismus ernst nimmt. Dann versuche ich zu zeigen, wie die erotische Reduktion sich selbst im Raum, in der Zeit und in der Definition der Selbstheit (l’ipséité) durchführt. Erster Punkt: Warum kann die erotische Frage eine begriffliche und theoretische Rolle spielen? Warum überschreitet die Frage danach, ob ich geliebt werde, ob man mich von anderswo her (übrigens) liebt, die eigene Erfahrung dieses oder jenes Individuums in seiner anekdotischen und unwesentlichen Subjektivität? Wie kann diese Frage das Gewicht des Universellen bekommen? Die Antwort beruht auf dem, was man unter der Überschrift Nihilismus thematisieren kann. Was ist Nihilismus? 224 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

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Man bezeichnet unter diesem Titel spätestens seit Nietzsche die Epoche des rationalen Denkens, in der sich die höchsten Werte entwerten. Das bedeutet, dass jede Aussage, besser gesagt, jede gewisse Aussage dem Fragen, das selbst in der Gewissheit nachfragt: »Wozu ist es gut?«, unterworfen bleibt. Um die Bedeutung dieses Fragens zu verstehen, kann man an den Einwand Pascals gegen Descartes denken: »Descartes nutzlos und ungewiss.« 7 Das schriftliche Original sagte aber vielmehr: »Descartes nutzlos und gewiss.« 8, als ob die Gewissheit – und nicht die Ungewissheit, was banal und fast trivial wäre – sich selbst als nutzlos enthüllen würde. In dieser verbesserten Formulierung geht es um eine streng nihilistische Formulierung, um eine Definition des Nihilismus: Sogar und gerade die Gewissheit dient, wenn man sie dem Verdacht der Entwertung »Wozu ist es gut?« aussetzt, zu nichts: Denn der Nihilismus stellt die Wahrheit wissenschaftlicher oder philosophischer Sätze gar nicht in Frage: er fügt eine (Ober-)Bestimmung hinzu und qualifiziert sie ab, indem er sie für nutzlos erklärt. »A quoi bon?«, auf Deutsch »umsonst«, wertet das, was gewiss ist, als nutzlos und also eitel ab. Die Transzendentalien des Wahren, des Schönen, des Guten und des Seins werden nicht abgelehnt, weil sie nicht wirklich das seien, was sie aussagen, noch weil sie eine noch radikalere Grundlegung durch eine noch transzendentere und gewissere Instanz erhalten müssten; sondern sie sind gerade als das Gute, das Wahre und Seiende abqualifiziert. Was die Transzendentalien disqualifiziert, bezieht sich weder auf das, was sie sind, noch auf die Grenzen dessen, was sie sind, noch auf die Bedingungen ihrer Gültigkeit, sondern auf die einfache Tatsache, dass man immer in Bezug auf jede von ihnen fragen kann: »Wozu dient das?«. Wozu ist es gut, eher zu sein als nicht zu sein, wozu eher das Gute als das Böse? Die Antwort auf diese Fragen öffnet für Nietzsche den Weg, sich auf eine andere und auf andere Weise bedrohliche Instanz zurück zu beziehen, zum Beispiel die Wahrheit auf den Willen zur Wahrheit. Denn die Wahrheit der Wahrheit bedeutet, dass die Wahrheit eine einfache Wirkung des Willens zur Macht ist. Wir suchen niemals nur die Wahrheit an sich selbst, sondern Wahrheit als eines der möglichen Gesichter, eines der verfügbaren Werkzeuge und eine der zur Pensées, hrsg. v. Lafuma, § 887. Wörtlich »Descartes inutile et certenne«, Copie 9.203, hrsg. v. L. Lafuma, Pensées sur la religion et quelques autres sujets, Paris, Editions du Luxembourg, Paris, 1954, Bd. 1, S. 472.

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Verfügung stehenden Waffen des radikaleren Willens zur Macht selbst. Es geht darum, die Wahrheit vom Willen an sich aus zu verstehen, vom Willen, der nur sein eigenes Erstarken will, seine Machtzunahme, seinen Übergang zur Macht. Das ist der Nihilismus, wenn er die Frage: »Wozu ist es gut?« stellt. Aber diese Frage und ihre Verallgemeinerung im globalen Nihilismus gibt der erotischen Frage paradoxerweise ihre Kraft und Allgemeinheit zurück. Denn auf die Frage »Wozu dient es?« gibt es nur eine Antwort – das wäre zumindest meine Hypothese – nämlich die, die auf eine andere Frage antwortet, auf die Frage: »Werde ich geliebt?« Die Antwort auf diese Frage, eine noch unbestimmte Antwort, bildet die einzige Antwort, die der radikalen Befragung, die sich durch den Nihilismusverdacht ergibt, widerstehen kann. »Wozu dient es?« kann eine Antwort weder durch ein Übermaß an theoretischer Gewissheit erhalten, noch kann sie dadurch den geringsten Widerstand erfahren, denn gerade die Gewissheit in der Theorie kann selbst unter den Nihilismusverdacht fallen. Im Gegenteil, die Tatsache zu sagen (zu glauben oder festzustellen, oder festzustellen glauben), dass »man mich übrigens liebt«, genügt (allein), um eine Antwort zu erstellen und Widerstand gegen die Frage »Wozu dient es?« zu erzeugen. Die Bestätigung, dass »man mich übrigens liebt«, setzt nämlich eine äußere Instanz ein, die vor der inneren Gewissheit selbst vorhergeht und die genau darin besteht, dass ein anderer als ich mich übrigens liebt. Sie besteht vor der Gewissheit, vor dem Zirkel der Transzendentalien, die sich eine in die andere konvertieren, vor der Illusion oder schlimmstenfalls der Realität der zirkelhaften Autonomie. Die Gewissheit kann immer durch die Frage »Wozu dient es?« disqualifiziert werden, aber diese Frage kann nicht die Tatsache disqualifizieren, dass, was auch immer geschehe, ich mich anderswo/übrigens geliebt finde. Ich kann auf das Fragen »wozu nützt es, dieses zu machen, wozu nützt es, ich selbst zu sein, wozu nützt es, zu leben?« niemals damit antworten, dass ich sage »weil ich es will«, sondern nur indem ich feststelle, ohne jedes Warum, dass »ein anderer es für mich will«. Diese Antwort, dass »ein anderer mich liebt«, scheint die einzige zu sein, die verhindert, dass ich vor dem »Wozu dient es?« des Nihilismus untergehe. Man kann es auch anders sagen, indem man sich einen Gegenbeweis für die an Faust von Mephisto gestellte Frage vorstellt. Nämlich den erdichteten Vertrag, nach dem ich die Wahl hätte, sterblich zu bleiben, wie ich bin, oder im Tausch gegen meine Seele in den 226 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

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Besitz aller Macht und Reichtümer der Erde zu gelangen. Nehmen wir einmal einen anderen Vertrag an, in dem man mir anbieten würde, nicht meine Seele zu verkaufen (denn ich habe vielleicht keine und mein Partner hätte vielleicht gar keine Lust, sich deren Irrealitäten einzuhandeln), sondern nur im Tausch gegen ein Leben von unbegrenzter Dauer und mit aller Macht und allen Reichtümern der Erde die Möglichkeit zu lieben oder geliebt zu werden aufzugeben. Also alles zu bekommen im Tausch gegen die Möglichkeit zu lieben oder geliebt zu werden. Wer würde diesen Handel annehmen? Auf die Möglichkeit, auch wenn es nur eine Möglichkeit wäre, zu lieben oder geliebt zu werden, um dafür für ewige Zeit das Leben und die Macht zu genießen? Es ist nicht sicher, dass niemand unter uns diesen Handel akzeptieren würde, der eine Art transzendentaler Kastration bedeutet, durch die ich eine Ewigkeit ohne Liebe leben würde – und vielleicht hätte ich nicht mal den Mut, diese Ewigkeit zu leben, da sie – wie Woody Allen sagt, sehr lang ist, besonders zum Ende zu, besonders eine in keinem Moment erotisierbare Ewigkeit und ohne dass die Möglichkeit ihrer Erotisierbarkeit beibehalten werden könne. Wäre ein solches Leben noch menschlich, oder tierisch, den Engeln gleich oder einfach nur den Robotern? Kann man die Möglichkeit eines Lebens ohne jedes erotische Phänomen überhaupt ins Auge fassen und begreifen? Wenn man die Frage so stellt, kann man in gewisser Weise begreifen, wie sich der Nihilismus mit nichts weniger als mit der erotischen Frage konfrontiert sieht und wieso diese eine universelle Relevanz bekommen kann. Die erotische Instanz bleibt hier nicht bloß subjektiv, in die individuelle Sphäre beschlossen, vorbegrifflich; sondern sie ersteht auf radikale, universelle und rationale Weise. Sie wird es, sobald sie dem nihilistischen Befragen ausgesetzt wird, für das sie den Rang einer theoretischen Operation einnimmt. Denn die erotische Instanz, die Frage »Liebt man mich übrigens?« führt so gesehen eine Reduktion aus, die ganz natürlich sichtbar wird, vorausgesetzt, dass man sie mit dieser anderen Reduktion konfrontiert, die im Nihilismus enthalten ist. Wie findet also die erotische Reduktion statt? Es gibt ein einleuchtendes Prinzip der Reduktion, das alle kennen, und das ich dennoch hier ins Gedächtnis rufen will: Es kann kein Phänomen geben (und also auch keine Phänomenologie), das man beschreiben, also sehen könnte, wenn man nicht eine Reduktion vornimmt. Die Reduktion besteht darin, zu versuchen, dasjenige zu bestimmen, was dem Bewusstsein tatsächlich gegeben ist. Kein Phäno227 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

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men kann sich entfalten, ohne dass in ihm schon ein Erlebtes des Bewusstseins enthalten ist. Die große Schwierigkeit besteht nun darin, die Ausdehnung und Grenzen des Gegebenen – die wir in der natürlichen Haltung nicht kennen – zu erkennen. Um das Gegebene in seinen Grenzen aufzudecken, das heißt dasjenige, von dem aus sich ein Phänomen bilden kann, muss man also das Gegebene, so wie man es kritiklos zu Grunde legt, der kritischen Reduktion unterziehen. Wie also genügt das erotische Phänomen, wenn es ein solches gibt, der Logik der Reduktion? Welche Reduktion lässt das erotische Phänomen zu? Kurz: Gibt es eine erotische Reduktion? In der Tat, eine solche erotische Reduktion kann man beschreiben. Wir wollen sie kurz skizzieren. Die erotische Reduktion erfolgt offensichtlich zunächst in den zwei Dimensionen des Gegebenen, mit Kant gesprochen in der Dimension der Anschauung, denn nur in der Anschauung kann etwas gegeben werden. Das Gegebene spielt sich also unter den zwei Formen der Anschauung, dem Raum und der Zeit, ab. – Wie führt sich die erotische Reduktion im Raum durch? Das heißt die elementare erotische Situation, die sich in der Formulierung der ersten Frage: »Liebt man mich übrigens?« ausdrückt, in anderen Worten, die erotische Situation, in der ich verliebt bin. Wie findet in dieser erotischen Situation eine Reduktion des Raumes statt? Der wesentliche Punkt beruht darauf, dass ich im erotischen Raum niemals an dem Ort bin, an dem ich bin, im Unterschied zur nicht erotischen Situation, in der ich im Raum das Zentrum definiere, weil ich es einnehme. In der erotischen Situation bin ich im Raum immer und wesentlich dezentralisiert. Im Raum der natürlichen Haltung, der zugleich der Raum der täglichen Erfahrung und des wissenschaftlichen Experiments ist, befinde ich mich im Zentrum des empirischen Raums. Ich nehme den Platz des privilegierten Beobachters ein, von dem aus der Raum sich entfaltet und messen lässt. In der Situation der erotischen Reduktion bin ich durch die Reduktion des Raumes niemals im Zentrum: im Zentrum dieses Raumes befindet sich für mich das erotische Zentrum, das per definitionem nicht Ich ist. Für mich bedeutet das Zentrum des erotischen Raumes immer derjenige, in den ich verliebt bin. Hier hat eine grundlegende Entzentrierung des Raumes statt, die der von Husserl zum Beispiel in seiner Doktrin von der Intersubjektivität in der Fünften Cartesianischen Meditation erarbeiteten Beschreibung des phänomenologischen Raumes gewissermaßen widerspricht. Husserl erklärt, was selbstverständlich zu sein scheint, dass in der 228 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

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gewohnten Intersubjektivität, die für ihn nicht erotisch ist, ich immer hier und der andere dort ist. Ich könnte diese Situation natürlich variieren und mich in den Blickpunkt des andern versetzen, mich also dorthin versetzen und mir vorstellen, dass der andere hier ist; aber wenn ich auch die Distanz vertausche, bleibt doch die Distanz, in der ein Ich, welches auch immer, die Eigenschaft hat, hier zu sein, während ein Anderer, welcher auch immer, die Eigenschaft hat, dort zu sein. Ich kann mir vorstellen, dass der Andere die Rolle des Ich einnimmt und ich die Rolle des Anderen, aber da sind die räumlichen Bestimmungen nur vertauscht, ohne aufgehoben zu sein. Das ist in der erotischen Reduktion nicht der Fall. In ihr ist das Ich immer dort. Und der Andere ist immer hier. Von mir kann man also sagen, dass wesentlich »ich nicht da bin, wo der Andere ist«. Es bin immer ich, der dort ist; es ist nicht der Andere, der abwesend ist, sondern ich bin es, der nicht da ist, wo er sein sollte. Ich nehme den erotischen Raum immer von einem Zentrum aus wahr, das ich niemals einnehme. Der erotische Raum hat immer ein Zentrum, in dem ich niemals bin, und eine Peripherie, in der ich immer bin, denn er bestimmt sich im Ausgang vom Anderen, der ich niemals sein werde. Es genügt, dass der privilegierte Andere sich woandershin begibt, damit sich auch das Zentrum für mich bewegt, und ich bin dem Anderen mehr oder weniger nahe, anderswo oder weg je nach der Entfernung zum Zentrum, das ich niemals selbst bin. Es genügt nicht mehr wie in der natürlichen (nicht-erotischen) Haltung, dass ich irgendwo bin, um mich im Zentrum zu befinden, denn wenn in der empirischen, nicht erotischen und »normalen« Erfahrung das Zentrum da bleibt, wo ich bin, nimmt in der erotischen Situation der Andere das Zentrum ein und bewegt sich mit ihm. Deshalb kann ich, der ich nicht im Zentrum bin, selbst wenn ich in (vielleicht erfreulicher) Gesellschaft bin, dennoch sagen, da, wo ich bin, gibt oder gab es niemand. Und nicht, weil ich in Bezug auf andere empirische Individuen allein war, sondern weil das Zentrum sich nicht mitten in der mich umgebenden Menge befand. Das Zentrum fehlte, und alles war entvölkert. Wenn ich also sage: Es war niemand da, weil er oder sie nicht da war, bestimme ich sehr wohl als Faktum, dass es jemanden in einem Zentrum, in dem ich mich niemals befinde, gäbe. Es gibt also sehr wohl einen erotischen Raum, dessen grundlegende Regel lautet, dass ich niemals sein Zentrum bilde und dass ich niemals das »hier« dieses erotischen Raums einnehme. Wir können dieselbe Analyse durchführen, wenn wir uns in die erotische Zeit stellen. Die erotische Zeit läuft in einem Fließen ab, 229 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

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innerhalb dessen ich mit voller Berechtigung sagen kann, dass inmitten der tausenderlei Beschäftigungen eines sehr gefüllten Tagesprogramms nichts geschieht. In der Spanne eines Tages, eines Monats, eines Jahres hat sich nichts ereignet. Dies ist für die natürliche, nicht erotische Haltung ganz falsch, denn natürlich ist das Leben weitergegangen: ich höre nicht auf zu schlafen, Leute zu sehen, mich zu ernähren usw., und dennoch sage ich zu Recht, dass nichts passiert ist. Weil es einen erotischen Verdruss gibt. Das bedeutet nicht, dass ich nichts mache und dass ich Zeit hätte, mich zu langweilen, sondern dass nichts vorkommt. Dass mir nichts aus dem erotischen Zentrum widerfährt. Und dass es genau so, wie ich nie im Zentrum, sondern immer in der Peripherie des erotischen Raumes bin, nicht genügt, dass ich im erotisch gegenwärtigen Augenblick bin, damit wirklich etwas passiert. Es genügt nicht, dass die Welt sich weiter dreht, damit ich mich in einer Situation vorfinde, in der ein erotisches Ereignis vorkommt, durch das sich etwas, und das meint etwas Gegenwärtiges ereignet. Damit ein Gegenwärtiges sei, muss mir die Gegenwart die Anwesenheit desjenigen oder derjenigen schenken, der/die den Ursprung des erotischen Fließens bildet. Im Augenblick dieses erotischen Fließens wird die Zeit gegenwärtig. Es ist nötig, dass er oder sie mich ruft, kommt, auftaucht, kurz: sich zeigt und in meine Zeit eintritt. Nur dann werde ich sagen können, dass alles, was ohne erotische Bedeutung geschehen möge, nichtig geworden ist und dass etwas geschieht: denn es geschieht nur das, was nicht durch das Erotische vernichtet ist, das heißt das Ereignis dessen oder derer, die mein erotisches Fließen der Zeit eröffnet hat. Von nun an bestimmen sich Vergangenheit und Zukunft in Bezug auf dieses erotische Ereignis. Dadurch erst begreife ich die Notwendigkeit der Wiederaufnahme des erotischen Diskurses. Nehmen wir an, ich sei verschieden von dem oder der, der/die auf die Frage »Werde ich geliebt?« antworten kann, von dem oder der man gewöhnlich sagt, ich sei in ihn/sie verliebt. Es geschieht nur etwas, wenn er/sie mir sagt: »Ich liebe dich.« Und die Gegenwart ist nur dann erfüllt, wenn er/sie zu mir sagt: »Ich liebe dich«. Weil aber das »Ich liebe dich« per definitionem nicht dauert, muss sich also das Gegenwärtige wiederholen, und das Gegenwärtige wiederholt sich bei jedem erneut ausgesprochenen »Ich liebe dich«. Die Zeit selbst wiederholt sich in diesem grundlegenden erotischen Ereignis, das darin besteht, »Ich liebe dich« zu sagen oder zu hören. Ich kann also mit Recht sagen: »nichts ist passiert«, wenn das »Ich liebe dich« nicht vollbracht wurde, obwohl alles um mich her 230 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

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weitergeht. Und es geschieht so oft und so lange etwas, wie das »Ich liebe dich« erbracht wird. Wir haben einen ganz und gar charakteristischen Fall von Reduktion, da hier das Gegenwärtige nicht von der psychologischen Sukzession des Erlebnisflusses abhängt, sondern vom Eintritt eines Ereignisses in diesen Erlebnisfluss, über das ich nicht verfüge, und worüber der Fluss selbst übrigens auch nicht verfügt, denn es kommt von dem her, was im Fließen die Rolle des erotischen Zentrums im Raum spielt. Es gibt also eine Reduktion des Raumes durch das erotische Anderswo; und es gibt eine Reduktion der Zeit durch das erotische Jetzt. In beiden Fällen sind Raum und Zeit der natürlichen Haltung nichtig geworden. Der Galilei’sche oder Newton’sche Raum ist aufgehoben und auch der Zeitfluss wird als ein sich nicht ereignender angesehen, wenn er nicht durch das »Ich liebe dich« skandiert ist. – Natürlich kann man diese Reduktion fortsetzen und sie auf die Selbstheit (l’ipséité) übertragen. Denn es gibt eine Reduktion der Selbstheit, der Identität des Ich (eventuell seiner Identität mit sich) in ihrer absoluten Singularität, ihrer haeccitas, durch die erotische Reduktion. Denn wie kann ich das in mir, das absolut Ich ist, definieren? Ich kann es nur definieren, indem ich alles das in mir ausschließe, was von jemand anderem als mir herkommt. Hier kann man das Thema des transzendentalen Subjekts ansprechen – das transzendentale Subjekt ist keiner unter uns und kann von jedem unter uns unter den Bedingungen – wie Husserl sagen würde – der Normalität ins Werk gesetzt werden. Man kann aber auch sagen, dass wir hier mit dem Ich des Denkens zu tun haben, mit dem Verstand als universell handelndem, und das Ich des Denkens kann sich in jedem von uns ausführen. Jeder von uns kann das »Ich bin, ich existiere« prüfen, jedesmal wenn das Ich diese Aussage im Denken durchführt. Wir können an dieses Ich, wer und was auch immer es sei, auch unter der Benennung des von Heidegger sogenannten Man denken, das meint derjenige, welcher durch jeden Beliebigen ersetzt werden kann. In den Regeln des sozialen Lebens und seiner Funktionalität bedeutet Verwendbarkeit (employabilité) (ich glaube bei den Leuten, die Personalpolitik machen, was soviel bedeutet wie Arbeitslosigkeit organisieren, spricht man von Verwendbarkeit) sehr wohl, dass jedes Individuum durch ein beliebiges anderes im Rahmen der universellen Norm der Verwendbarkeit ersetzt werden kann: Diese will in seiner Brutalität wohl sagen, dass sich jeder daran gewöhnen muss, sich mit seiner Verwendbarkeit abzufinden, in einem fast theatralischen Sinn. 231 https://doi.org/10.5771/9783495813270 .

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Die Verwendbarkeit wird der Allgemeinbegriff für eine unbestimmte Anzahl von Individuen. So gibt es also Arbeitsplätze, bei denen jeder durch jeden ersetzt werden kann. Das, was irgendwer an meiner Stelle machen kann, ist aber gerade das nicht, was meine absolute Selbstheit oder meine haeccitas bestimmt. Umgekehrt gefragt: was kann niemand an meiner Stelle tun? Leben, denken, das können andere an meiner Stelle wahrscheinlich auch. Schließlich kann jedes andere denkende Ding an meiner Stelle denken und dieselben Sachen denken. Eine der grundlegenden Regeln der Objektivität schreibt übrigens vor, dass die Möglichkeit für verschiedene Individuen dieselbe Denkoperation durchzuführen, und die Tatsache, dass diese selben Denkoperationen, auch wenn sie subjektiv auf verschiedene Weise angeordnet sind, zum selben Ergebnis kommen, es erlauben, die Wahrheit dessen, was gedacht wird, zu prüfen. Die intersubjektive Interpretation der Verifikation setzt also voraus, dass jeder alles denken kann, was jeder denkt. Infolgedessen individualisiert mich das Denken gerade nicht. Was aber macht mich zum Einzelnen? Wie manifestiert sich das mir Eigene? Ohne Zweifel durch den Willen, den Gebrauch des freien Willens. Und möglicherweise den guten Gebrauch meines freien Willens. »… der freie Wille ist bei weitem das Edelste, was es in uns gibt … unser höchstes Gut … er ist auch dasjenige, was uns eigentlich ausmacht«. 9 Aber gehört mir mein freier Wille nur deshalb zu, weil ich es bin, der will, und ein anderer anderes wollen könnte? Alles hängt davon ab, was der freie Wille selbst will. Es gibt ohne Zweifel eine Form des Willens, der mich identifiziert, das ist der Wille, insofern er zu lieben erlaubt, das heißt mich dem willentlich zu vereinigen, was mir als ein Gut erscheint. Ohne Zweifel definiert lieben oder von einem andern geliebt werden mein Eigenes. Und das bewahrheitet sich durch die Tatsache, dass (zumindest in der Hypothese) niemand zwei Personen im selben Verhältnis und im selben Moment lieben kann. Die Individuation ergibt sich also durch eine erotische Reduktion. Die erotische Reduktion gestattet genau den zu individualisieren, den man liebt, ob er will oder nicht, und ob es für ihn zum Guten oder Schlechten ausschlägt. Die erotische Reduktion erlaubt dem Liebenden, durch Kristallisation, Schicksal, schlechte Gewohnheit, Willkür für sich selbst den zu identifizieren, Descartes, Brief an Christiane, 20. November 1647, AT V, Seite 85: »… es gibt nichts, was ihm (dem Großzügigen) wirklich zugehöre, wenn nicht das freie Verfügen über sein Wollen.« Passions de l’ame, § 93.

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den man liebt. Das Eigentliche der erotischen Situation beruht darauf, dass ich, in der eigentlich erotischen Haltung, mich nicht über den täuschen kann, den ich liebe. Er ist derjenige, den ich identifiziert habe, aus guten oder schlechten Gründen, wie auch immer, der Einzige, in der erotischen Situation freigemachte, der umgekehrt auch mich identifiziert. Es ist die gegenseitige Identifizierung des Einen durch den Anderen, das heißt Individuation, die das erotische Phänomen charakterisiert. Man kann sich übrigens fragen, ob das klassische Problem der Individuation – geschieht die Individuation durch die Materie, durch die Form etc. – nicht letztlich zu diesem Ergebnis führt, dass die Individuation entweder erotisch ist oder gar nicht ist. So hätten wir nun die drei Dimensionen einer erotischen Reduktion erreicht. Die Liebe produziert hier wie ein Begriff eine Bestimmung der Anschauung im Raum, in der Zeit und im Kontext der Individuation eine Bestimmung des Begriffs dessen, der liebt, und dessen, den er liebt. Was ich hier behaupte und was diskutiert werden kann, besteht darin, dass die Liebe weit entfernt davon ist, nicht begreifbare Wirkung einer ihr fremden begrifflichen Bestimmung zu sein, und davon, dass sie durch einen anderen Begriff reduziert werden kann, sondern dass sie selbst dasjenige wird, das die Reduktion des Ganzen der Dimensionen der Erfahrung durchführt. Um das sagen zu können, muss man annehmen, dass die Liebe als erotische Neigung die Totalität der Erfahrung bestimmen könne. Hat das einen Sinn? Dies hat sicher einen Sinn, wenn wir eine These ernst nehmen, die nicht von Heidegger, wie dieser es manchmal annehmen lässt, sondern vom heiligen Augustinus aufgestellt wurde. Diese These besagt, dass sich die Liebe nicht in einem Gefühl noch in einer Leidenschaft zusammenfassen lässt, sondern eine bleibende Bestimmung des Ich ist. Es gibt kein Ich, das sich nicht in einer schon erotischen Situation befindet. Das sagt der heilige Augustin in der berühmten Passage ganz klar: »Nemo est qui non amet. Sed quaeritur quid amet. Non ergo admonemur ut non amemus, sed ut eligamus quid amemus.« 10 Anders gesagt, es gibt niemanden, der nicht liebt; man wird daher jeden nicht danach fragen, ob er liebt, sondern wen er liebt. Die Sermon 34, 2, P.L. 38, col. 210. Siehe Hugo von Sankt-Viktor: »Vita tua dilectio est, et scio quod sine dilectione esse non potes« (De Arrha Animae, 25–26, Opera omnia, Brepols, Turnhout, 1997, S. 226; und Thomas von Aquin: »Respondeo dicendum quod nulla alia passio est, quae non praesupponat aliquem amorem. Cujus ratio et quia omnis alia passio animae importat motum ad aliquid, vel quietem in alio« (Summa theologiae Ia IIae, q. 27, a. 4, resp.).

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Frage fordert dazu auf, zu wählen, was wir lieben, nicht zu wissen, ob wir lieben oder nicht lieben, denn wir können nicht nicht lieben. Die Liebe hat nichts von einer Leidenschaft, sondern sie öffnet den Horizont der Subjektivität selbst. Wenn also die Frage nicht danach fragt, ob wir lieben oder ob wir nicht lieben, da wir uns immer schon in der Situation des Liebens befinden, sondern danach fragt, was wir lieben, und wie, dann erweist sich die erotische Reduktion als zumindest latent vorhanden. Die Erfahrung organisiert sich für uns durch eine Reduktion, die das Feld des Gegebenen innerhalb der erotischen Grenzen eröffnet. In anderen Worten, unsere Erfahrung geht ebenso weit, wie unsere Fähigkeit, in eine erotische Situation einzutreten. Wir leben nur das, was wir als mögliche Erfahrung, deren Grenzen durch die erotische Reduktion fixiert werden, in Betracht ziehen. Je mehr wir lieben, desto mehr öffnen wir das Mögliche. Je weiter wir die erotische Reduktion einschränken, desto mehr ist das Feld möglicher Erfahrung selbst eingegrenzt. Heidegger hat auf seine Weise und indem er es vom heiligen Augustin übernommen hat, die These aufgestellt, dass das Dasein niemals ohne Bestimmung, ohne affektive Tonalität (Stimmung) sei. Es gibt kein neutrales Dasein, denn es ist im Ausmaß der Sorge immer schon zur Welt hin orientiert. In derselben Weise, wie Heidegger die Situation der Liebe nur als Stimmung interpretieren kann, können wir behaupten, dass offensichtlich die Liebe die Stimmung par excellence ausmacht. Die Liebe bildet die fundamentale Stimmung und in dem Maß, in dem ich in der erotischen Reduktion bin, öffnet sich für mich eine Welt. Hier trifft die Formulierung des heiligen Augustin ganz zu: »Non intratur in veritatem nisi per caritatem.« 11 Ein epistemologisch fast selbstverständlicher Satz: man tritt nur durch die Liebe in die Wahrheit ein, will heißen: wir treten in die Erfahrung der Welt nur im Maß der erotischen Reduktion ein, die sie uns öffnet. So gestellt, ändert sich die Natur der Frage des erotischen Phänomens: Sie wird eine theoretische Frage und nicht nur eine praktische moralische Frage, weder ethisch, noch offensichtlich religiös, noch erotisch im engen Sinn des Wortes. Aber eine theoretische Frage im Rahmen der erotischen Reduktion, durch welche die weltliche Erfahrung sich bestimmt und begrenzt. In dem Kontext, in dem Raum, Zeit und Individuation aus der erotischen Situation resultieren und Contra Faustum, 32,18, P.L. 42, col. 507. Zitiert u. kommentiert von Heidegger, Sein und Zeit, § 29, S. 139, note 1.

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nicht umgekehrt, bezeichnet die Frage nach der erotischen Reduktion und dem erotischen Phänomen nicht mehr ein besonderes Gebiet der Erfahrung, sondern den Ort einer Phänomenologie auch im Hegel’schen Sinn des Wortes, das heißt eine Beschreibung der Gestalten des Bewusstseins. Die erotische Situation produziert Gestalten des Bewusstseins. Oder, anders gesagt, man muss »… die Liebe als grundlegendes Motiv des phänomenologischen Verstehens« 12 verstehen. Ich begnüge mich damit, die Gestaltungen aufzuzählen; sie hängen von den drei aufeinander folgenden Fragen ab, die die Odyssee des erotischen Bewusstseins skandieren: die erste Frage will wissen: »Liebt man mich übrigens?«; die zweite Frage, die sich stellt, weil die erste in ihren Begriffen keine Antwort finden kann, fragt: »Kann ich selbst als Erster lieben?«; und die dritte Frage, die auf die zweite antwortet und eigentlich eine Feststellung ist: »Ich bin schon immer geliebt worden, bevor ich selbst geliebt habe«. Das scheinen die drei Momente der erotischen Reduktion zu sein, durch die man die Gestalten des Bewusstseins freilegen kann, und unter diesen Gestaltungen die grundlegendste – die Interpretation des Ego selbst nicht nur als denkendes, sondern sehr wohl als liebendes. Das heißt liebend, ego amans, so wie man res cogitans sagt. Von diesem so definierten Liebenden aus erstellt sich die Logik des erotischen Bewusstseins, nämlich zu wissen, wer zuerst liebt. Das Eigene des erotischen Bewusstseins, das die Spontaneität der transzendentalen Apperzeption gleichzeitig imitiert und zurückweist, kommt immer darauf zurück, dass der Liebende – von vorneherein – zuerst liebt. Er nimmt es vorweg und diese Vorwegnahme konstituiert ihn selbst als liebend, den, der liebt, ohne zu wissen, ob man ihn wieder liebt. (Übersetzung: Margit Kopper)

Heidegger: »Liebe als Grundmotiv des phänomenologischen Verstehens« (GA 58, p. 185). Oder: »In der Liebe ist Verstehen« (ibid., S. 168).

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Autorenverzeichnis

Dr. Martin Ebner, geb. 1956, Prof. für Exegese des Neuen Testament an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität, Bonn DDr. Markus Enders, geb. 1963, Prof. für Christliche Religionsphilosophie an der Theologischen Fakultät der Albert-LudwigsUniversität, Freiburg. Dr. Stephan Herzberg, geb. 1978, Prof. für Geschichte der Philosophie und Praktische Philosophie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule St. Georgen, Frankfurt. Dr. Hubert Irsigler, geb. 1945, Prof. (em.) für Alttestamentliche Literatur und Exegese an der Albert-Ludwigs-Universität, Freiburg. Dr. Margit Kopper, geb. 1956, Paris. Matthias Koßler, geb. 1960, Dr., Prof. für Philosophie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und Präsident der Schopenhauer Gesellschaft. Dr. Jean-Luc Marion, geb. 1946, Prof. für Philosophie an der Sorbonne, Paris sowie an der University of Chicago, Académie Française, Paris. Dr. Peter Reifenberg, geb. 1956, Prof. für Moraltheologie, Direktor des Tagungszentrums und der Akademie des Bistums Mainz, Erbacher Hof, Mainz. Dr. Ralf Rothenbusch, geb. 1963, Prof. für Altes Testament, stv. Akademiedirektor, Erbacher Hof Mainz. DDr. h. c. mult. Gerd Theißen, geb. 1943, Prof. für Neutestamentliche Theologie der Ruperto-Carola, Heidelberg.

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Autorenverzeichnis

Dr. Klaus Viertbauer, geb. 1985, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Christliche Philosophie der Leopold-Franzens-Universität, Innsbruck. Dr. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, geb. 1934, Prof. (em.) für Philosophie an der Albert-Ludwigs-Universität, Freiburg. DDr. h. c. Gunther Wenz, geb. 1949, Prof. (em.) für Systematische Theologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät der LudwigMaximilians-Universität München.

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